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German Pages 372 Year 2019
Debora Frommeld Die Personenwaage
KörperKulturen
Für BB – merci für die Farben & deinen Mut.
Debora Frommeld (Dr. phil.) ist Soziologin am Institut für Sozialforschung und Technikfolgenabschätzung (IST) an der OTH Regensburg und forscht zu (ästhetischen) Alltagspraktiken an der Schnittstelle von Technik, Digitalisierung, Gesundheit und Körper.
Debora Frommeld
Die Personenwaage Ein Beitrag zur Geschichte und Soziologie der Selbstvermessung
Diese Veröffentlichung wurde als Dissertation im Jahr 2017 unter dem Titel »Die Personenwaage: Das Wissensregime eines technischen Instruments. Eine diskursanalytische Untersuchung von Patentdokumenten von 1888 bis 2015« an der Universität Ulm angenommen. Dissertation, Universität Ulm, 2017.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Debora Frommeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4710-5 PDF-ISBN 978-3-8394-4710-9 https://doi.org/10.14361/9783839447109 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Abkürzungen | 7 Vorwort | 9 1
Mit der Personenwaage Schönheit und Gesundheit messen? | 11 (K)Eine Geschichte der Personenwaage? | 19 Fragestellungen und Quellen | 38 Aufbau der Untersuchung | 49
2
Methodologie und Forschungsdesign der diskursanalytischen Studie | 51
Im Diskurs verbunden: Historische und Wissenssoziologische Diskursanalyse | 53 Die Erhebungs- und Auswertungsstrategie | 60 3
Von der Idee zur Personenwaage | 75
Die Welt der Patente | 78 Von der Datenbank zum Korpus | 98 Ein modernes Artefakt in einer modernen Gesellschaft | 107 4
Die Vorgeschichte eines Wissensregimes: Messen und Wiegen von Individuen bis 1918 | 143
Die anthropometrische Vermessung | 144 Ein Diskurs um Standardardisierung | 152 Die Einführung von ersten öffentlichen Waagen | 163
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Das Wissensregime von Zeiger und Display: Die Personenwaage wird privat (1919–1989) | 175
Ausnahmen sind nicht die Regel! | 180 Das Paradigma eines intimen Messinstruments | 206 6
Das Wissensregime von Apps und Sensoren: Die Personenwaage 24/7 am Körper tragen (seit 1990) | 249
Das Körpergewicht analysieren | 249 Selbstvermessung 2.0 – smart und grenzenlos | 254 7
Die Regierung der (Selbst-)Vermessung | 259
Zwischenresümee: Eine Genealogie der Personenwaage | 260 Ein folgenreiches Spiel um Wahrheit | 272 8
Die vernetzte Macht der Personenwaage | 299
Verzeichnis der Patentdokumente | 307 Literaturverzeichnis und weitere Quellen | 313
Abkürzungen
AAL B. v. BLE BGBl. BMI BMJV BRD DDR DPMA G. v. GebrMG GTM HDA IASO PatG RMI RGBl. Rn. V. u. WDA WHO
Ambient Assisted Living Bekanntmachung vom Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung Bundesgesetzblatt Body-Mass-Index Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz Bundesrepublik Deuschland Deutsche Demokratische Republik Deutsches Patent- und Markenamt Gesetz vom Gebrauchsmustergesetz Grounded-Theory-Methodologie Historische Diskursanalyse International Association for the Study of Obesity Patentgesetz Reichsministerium des Innern Reichsgesetzblatt Randnote Vornamen unbekannt Wissenssoziologische Diskursanalyse World Health Organization
Vorwort
In den überaus interessanten, zahlreichen Gesprächen während der Arbeit an dieser Studie bemerkte ich im akademischen und außerakademischen Bereich ein wiederkehrendes Phänomen: Erstens, die Personenwaage ist kein unbekanntes technisches Instrument. Zweitens, gegenüber diesem Gerät gibt es gewisse Vorbehalte. Drittens, in manchen Fällen erregt die Waage die Gemüter. Auf Nachfrage durfte ich persönliche Geschichten und Erfahrungen kennenlernen, die zu dem Eindruck führten, dass das Instrument nicht besonders beliebt zu sein scheint. Eher schafft es Leiden oder wird aus Überzeugung ignoriert. Mit Freude wurde jedoch über die Selbstvermessung und Diäten gesprochen, wenn diese mit einem erfolgreichen Verlust von Körpergewicht verbunden waren. Trotzdem – und vielleicht auch wegen genau dieser Ambivalenz – gehört die Personenwaage zu einer durchschnittlichen Haushaltsausstattung. Das Instrument sitzt bei dieser Untersuchung nicht auf der Anklagebank, auch wenn manche Stimmen die gegenwärtige Macht der Personenwaage stark kritisieren. Der forschende Blick richtet sich auf einen Diskurs über die Personenwaage, der das Instrument auf eine ganz bestimmte Weise in Deutschland eingeführt hat. Dabei geht es darum, den Trend der Selbstvermessung genealogisch zu erfassen, zu beschreiben und aus dieser Perspektive heraus zu reflektieren. Auf diese Weise wird unter anderem entschlüsselt, dass das Messinstrument nicht immer dazu bestimmt war, das Körpergewicht zu bewerten. Zur Kontextualisierung dieser Dynamik des Messinstruments beginnt der Beitrag mit einem Überblick über die gesellschaftliche Diskussion im Umfeld der Personenwaage. Die Studie schließt mit einer Prognose zur künftigen Rolle des Artefakts. Auf dieser soziologisch-historischen Reise durfte ich in vielfacher Weise Unterstützung erleben. Das Projekt begleiteten Prof. Dr. Christian Lenk (Universität Ulm) und Prof. Dr. Heiner Fangerau (Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf). Die Betreuung war geprägt von inspirierenden und konstruktiven
10 | Die Personenwaage
Gesprächen, die ich über diese Arbeit hinaus als große Bereicherung erlebe. Für die Anregungen und Diskussionen möchte ich mich herzlich bei Prof. Dr. Christoph Lau (Universität Augsburg), PD. Dr. Peter Wehling (Goethe-Universität Frankfurt) und Dr. Willy Viehöver (RWTH Aachen) bedanken. An den Sonderforschungsbereich 536 „Reflexive Modernisierung“ denke ich gerne zurück. Meine Ulmer Kolleg*innen des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, insbesondere Sebastian Keßler, ermutigten zur Analyse von Patentdokumenten. Dafür danke ich euch – Sebastian, unser Michelsberger Denklabor war großartig. Ebenso danke ich den Kolleg*innen des Instituts für Sozialwissenschaften an der Universität Augsburg für das gemeinsame Denken und wertvolle Impulse auch über diese Arbeit hinaus. Dank gilt auch meinen Studierenden an den Universitäten Ulm und Augsburg für interessante Diskussionen über die Personenwaage. Nick Devon und Alex Cruz lieferten die musikalische Untermalung. Markus Faulhaber brachte mich herzlich zum Lachen. Darüber hinaus profitierte das Projekt von vielen weiteren Begegnungen (es ist unmöglich, alle zu benennen). Ich danke für die Motivation und das kompromisslose Verständnis, so dass diese Arbeit werden und wachsen konnte. Ein besonderes Dankeschön geht an meine Mutter und meine Großmutter. Danke für das Salz in der Suppe, liebe Familie und Freund*innen – der innigste Dank gilt jedoch dir, Patrick! Ulm im Jahr 2019, Debora Frommeld
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Mit der Personenwaage Schönheit und Gesundheit messen? „Alles was der Gesundheit nachtheilig ist, schadet auch der Schönheit.“ Georg Friedrich Most, in „Ueber Liebe und Ehe in moralischer, naturhistorischer und diätetischmedizinischer Hinsicht“ (1827: 100)
Die Personenwaage stellt ein erfolgreiches Instrument dar, das sich nicht nur in den meisten Badezimmern befindet, sondern auch in tägliche Körperpraktiken eingewoben ist. Tatsächlich ist die Personenwaage Spitzenreiter bei Health & Beauty Care-Produkten in deutschen Haushalten. So besaßen im Jahr 2009 rund 72 Prozent der befragten Personen dieses Instrument, während auf Platz zwei mit nur rund 10 Prozent das Blutzuckermessgerät folgte (GfK o. J.). Betrachtet man die Vorsätze, die für das Jahr 2018 in einer Umfrage geäußert wurden – mehr Sport machen, mehr Geld sparen, sich gesünder ernähren, sich weniger ärgern und abnehmen (YouGov o. J.) – betreffen diese in auffallender Weise den Körper, das Körpergewicht und die Körperform. Gerade der Wunsch abzunehmen, hält sich seit Ende der 1960er Jahre auf einem konstant hohen Niveau und tritt überaus deutlicher in Erscheinung als eine Gewichtszunahme (IfD Allensbach o. J.a). Der Körper einer Person scheint demnach ein wichtiges soziales Medium darzustellen. Neben dem Gesicht einer Person und der Kleidung sind das Aussehen, der Körper und die Körperform erste Kriterien, die im Rahmen einer sozialen Interaktion von anderen eingeordnet werden. Aber auch der Blick in den Spiegel steuert das individuelle Körperempfinden. Die Körperform einer Person gibt Aufschluss darüber, ob diese dem gesellschaftlichen Ideal entspricht oder wie nahe sie diesem kommt. Das bedeutet heute zum Beispiel, dem Schönheitsideal eines gesunden, fitten und schlanken Körpers zu entsprechen: „Die Stars machen es vor und Deutschlands Teenager machen es nach: Sie hungern für das Idealgewicht, investieren ihr Geld in Cremes und Make-up, quälen sich in Fitnessstudios.
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Zehntausende legen sich zudem vor ihrem 20. Geburtstag unters Messer – alles dem perfekten Aussehen zuliebe.“ (Weiß 2011: Klappentext) So können die Interviews zusammengefasst werden, die eine 16-Jährige mit Gleichaltrigen über Schönheit und ihren Körper führte und ein Buch darüber schrieb (ebd.). Tatsächlich belegen Studien, dass ein großer Anteil unter den Jugendlichen bereits Diäten durchgeführt hat: „Je nach Studie haben 25–63 % von Jugendlichen ab 13 Jahren Erfahrungen mit gewichtsreduzierenden Diäten, bereits ein Drittel der weiblichen und ein Fünftel der männlichen Jugendlichen zeigen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren ein pathologisches Essverhalten im Sinne eines erhöhten Risikos für die Ausbildung einer vollen Essstörung.“ (Karwautz/Wagner 2008: 170)
Vielfach durchgeführte Diäten, bei denen die Personenwaage zum Zweck der strengen Erfolgskontrolle eingesetzt wird, stellen demnach einen Risikofaktor für den Ausbruch oder die Verfestigung einer Essstörung dar(Kiehl 2010: 49–50).1 Verschiedene Untersuchungen zeigen auf, dass bereits im Grundschulalter und kurz vor der Adoleszenz dünne Körper von den Befragten als schön empfunden werden (Karwautz/Wagner 2008: 170). Trotz Normalgewicht wollen fast 30 Prozent der unter 13-Jährigen dünner sein. Deshalb könnte man von einer „Diätgesellschaft“ (ebd.) sprechen oder aber auch von einer Schönheitsgesellschaft. Ein positives Lebensgefühl, gesellschaftliche Akzeptanz und Schönheit scheinen mit dem Körpergewicht zusammenzuhängen und die Kontrolle des Körpergewichts scheint ein Weg zu sein, beides möglich zu machen, schenkt man den Praktiken der Individuen Glauben. So gibt es seit fast fünfzig Jahren die „Brigitte-Diät“ in Deutschland, ein Diät-Konzept, das Teil der Frauenzeitschrift „Brigitte“ ist. Im Jahr 1969 bedankte sich ein Ehepaar, das ein knappes Jahr zuvor an dem Diät-Programm teilgenommen hat, persönlich bei der Zeitschrift: „Liebe Brigitte, in Heft 13/1969 brachtest Du die Diät-Reportage über meinen Mann und mich. Wir möchten uns recht herzlich für Deine Hilfe und Mühe bedanken. Es ist ein unbeschreiblich schönes Gefühl, wieder schlank zu sein – Deine Diät ist ja auch wirklich
1
Kiehl (2010: 49) weist anhand mehrerer Studienergebnisse beziehungsweise Reviews folgende Risikofaktoren für Essstörungen nach, die ein Diätverhalten implizieren: erhöhter
BMI,
wahrgenommener
soziokultureller
Druck,
schlank
zu
sein,
Internalisierung des Schlankheitsideals, Körperunzufriedenheit, negative Emotionalität sowie Perfektionismus.
Schönheit und Gesundheit messen? | 13
einmalig! Dein größtes Geschenk: Mein Mann bekam zu seinem 5. Hochzeitstag eine ‚neue‘ Frau und ich einen ‚neuen‘ Mann. Viele herzliche Grüße Deine ‚dünnen‘ Ecksteins“. (Brigitte 1969d: 38)
Die „Erfolgstabelle der Ecksteins“ illustriert detailliert den Gewichtsverlust des Ehepaars (Brigitte 1969e: 49). Ein weiterer Artikel aus dem Jahr 1974 stellte eine Familie vor und porträtiert deren Gewichtsverlust. Allerdings ist der Ton nun rauher: „Die ganze Familie war viel zu fett“ (Brigitte 1974d: 38). Die beigefügten Fotos dokumentieren den vorherigen und aktuellen Zustand. Bis heute ist diese Diät Teil der Zeitschrift. So titelte die „Brigitte“ im Januar 2017: „DIE NEUE BRIGITTE-DIÄT. Abnehmen 2017: Wie Sie Ihren Körper in den SCHLANKMODUS schalten“ (Brigitte 2017: 1, Herv. i. O.). Das Programm soll den Leser*innen helfen, „schlank, fit & schön ins neue Jahr“ starten zu können (ebd.: 4). Körpergewichtsermittlung 2.0 Neben Diäten gibt es heute entsprechende Apps, die zum Beispiel als eine Art Tagebuch den Gewichtsverlust dokumentieren,2 Apps, die die gelaufenen Schritte messen und die verbrauchten Kalorien errechnen 3 oder Apps, die helfen, das Gewicht zu kontrollieren und an das tägliche Wiegen auf der Waage erinnern4. Sie errechnen sogar, welche Folgen ein Restaurantbesuch auf den Körper hat und bestimmen, wann das Wunschgewicht in der Zukunft erreicht sein wird.5 Die Apps, welche solche Bemühungen im Alltag unterstützen, gibt es in unzähligen Ausführungen. So standen im Jahr 2016 jeweils über 1,2 Millionen solcher Gesundheits-Apps auf Google Play und iTunes zum Download zur Verfügung (vfa o. J.). Auf der jüngeren Generation von Smartphones, die zum Beispiel mit dem Android Betriebssystem ausgestattet sind, ist in den meisten Fällen sogar „Google Fit“ als App vorinstalliert, die ein individuelles Profil der Nutzer*innen erstellt (Google LLC o. J.a; Schroeter 2017; Summers 2014).6 Aus dem Zusammenspiel mehrerer Parameter wie Körpergewicht, Bewegung, Ernährung und Schlaf leitet „Google Fit“ das Befinden ab und dokumentiert und aktualisiert
2
„Gewichtskontrolle Lite“ (digitalsirup GmbH 2016) und „Libra – Weight Manager“
3
„Runtastic Pedometer“ (runtastic 2016).
(Cachapa 2017). 4
„Libra – Weight Manager“ (Cachapa 2017).
5
„Kalorienzähler – MyFitnessPal“ (MyFitnessPal 2017).
6
Eingeführt wurde „Google Fit“ im Jahr 2014 und wurde seither laufend weiterentwickelt (Schroeter 2017).
14 | Die Personenwaage
sich laufend, sofern dies so eingestellt ist. Bereitgestellt werden die Daten über verschiedene integrierte Funktionen wie einen Schrittzähler oder weitere Apps, die solche Informationen aufzeichnen. Teilweise werden die Daten auch selbst eingegeben, vor allem, wenn diese komplex – oder noch zu komplex für eine automatische Erfassung – sind (Ottmann 2015; Schroeter 2017). So wurde es kurz nach der Einführung von „Google Fit“ im Jahr 2015 möglich, in Kombination mit einer Android Wear-Smartwatch Liegestütze, Kniebeugen, Sit-ups und Gewichtheben beim Fitnesstraining automatisch aufzeichnen zu lassen (Google LLC o. J.b; Schroeter 2017). Eingebettet sind diese Apps in einen spezifischen Kontext der Selbstvermessung, das auch als Self-Tracking, Lifelogging oder Tracken bezeichnet wird. Das Individuum selbst und dessen Körper stehen im Mittelpunkt dieser Aktionen, wobei gewisse Ziele gesetzt werden, die dann über die entsprechende Technik erfasst, verwaltet und beaufsichtigt werden (Duttweiler/ Passoth 2016; Frommeld 2015; Lupton 2016; Meidert/Scheermesser 2018; Swan 2013). Die Möglichkeit, Daten in diesem Zusammenhang aufzeichnen zu können, resultiert insbesondere in den letzten Jahren aus der rasanten technischen Weiterentwicklung, die durch die Digitalisierung möglich wurde. Aus diesem Umfeld ging das Self-Tracking als ein relativ neues Phänomen hervor, das durch die Bewegung „Quantified Self“ weltweit bekannt wurde (Frommeld 2015). Diese wirbt mit dem Leitsatz „self knowledge through numbers“7 für neue Mitglieder. Die gemessenen Zahlen und Werte, aufbereitet als Diagramme oder Bilder, fungieren als fundamentales Element des Self-Trackings (Duttweiler 2016). Die junge Strömung aus den USA hat seit 2007 mittlerweile weltweit Ableger, darunter auch in vielen deutschen Großstädten. Betrachtet man zumindest die bisher einbezogenen Apps, scheint es, dass bei der digitalen Selbstvermessung die Ermittlung des Körpergewichts, das Körpergewicht an sich und die Personenwaage im Kontext von Gesundheit, Schönheit und Fitness eine zentrale Rolle einnehmen. Dabei ist vorgesehen, mit der Waage das Gewicht nicht nur temporär, sondern über einen längeren Zeitraum kontinuierlich zu erfassen, zu vergleichen und auszuwerten (Frommeld 2015; Swan 2013). Hinter einem solchen Tracking steckt die Motivation, etwas beobachten, kontrollieren und erreichen zu wollen, sei es ein bestimmtes Körpergewicht oder Fitnesslevel, einen besseren Schlaf oder andere positiv besetzte Veränderungen, die mit minimaler oder weitreichender Veränderung den individuellen Körper, die Lebensführung und das Leben an sich betreffen (z. B.
7
Vgl. die Internetpräsenz von „Quantified Self“ Deutschland, betrieben von Florian Schumacher (o. J.).
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Duttweiler 2016; Frommeld 2015; Google LLC o. J.a; Schumacher o. J.; Swan 2013). Tatsächlich scheint die Verwendung von Apps in den letzten Jahren rasant anzusteigen, wobei Sport, Gesundheit und Fitness eine zentrale Rolle einnehmen (Brandt 2014a, 2014b). So waren im Jahr 2014 nur soziale Netzwerke wie Facebook, Instagram und YouTube beliebter als Sport-Apps. Das Öffnen von Apps und die Nutzungsdauer können die Bedeutung von digitalen Anwendungen im Alltag jedoch nur annäherungsweise wiedergeben (Scheermesser/Meidert 2018: 79). Die wenigen existierenden Studien in Deutschland, Österreich und der Schweiz konzentrieren sich auf das Self-Tracking, das im Umfeld von „Quantified Self“ und professionell betriebenem Sport erfolgt (Duttweiler 2016; Meidert et al. 2018; Zillien/Fröhlich 2018). Betrachtet man das Tracking aus einer medizinischen Perspektive, scheint dieses bei chronischen Erkrankungen etwas häufiger praktiziert zu werden als im Fall von Gesundheit (Scheermesser/Meidert 2018: 82–83). Es ist davon auszugehen, dass die fortschreitende Digitalisierung von Medizin und Gesundheitswesen sowie die Vernetzung von Gesundheitsakteuren (eHealth)8, beispielsweise durch Informations- und Kommunikationstechnik, dazu beiträgt, für die zielgerichtete Prävention und Kontrolle des Gesundheitszustands (Monitoring) künftig verstärkt IT-Lösungen wie Apps heranzuziehen (Amelung et al. 2009: 9–11; Bernnat 2016: 25-27, 36– 37; Hellrung et al. 2009: 112–114; Hessinger 2009: 70; Meidert 2018: 107–108; Meidert/Scheermesser 2018: 48–49). Dazu zählt die regelmäßige Gewichtskontrolle, die zur frühzeitigen Erkennung von Diabetes Typ 2, Adipositas oder Übergewicht bei Risikogruppen medizinisch angeraten wird. Die flächendeckende und vereinfachte Nutzung persönlicher Daten wird gleichzeitig politisch eingefordert, um zum Beispiel Start-ups zu ermöglichen, in Zusammenarbeit mit Unternehmen innovative Lösungen zu entwickeln, ein erhöhtes Körpergewicht mit Hilfe eines Coaching-Programms zu reduzieren (BJDW 2017)9.
8
Die Definition des Begriffs eHealth wird in der Literatur diskutiert (Oh et al. 2005). Dabei wird eHealth als Oberbegriff verstanden, unter den unter anderem mHealth (medizinische IT-Dienstleistungen mit Hilfe von Smartphones), die Telemedizin (konkrete medizinische IT-Dienstleistungen wie die Videotelefonie zwischen Ärztin und Patient) und AAL (Ambient Assisted Living, d. h. technische Assistenzsysteme für eine Unterstützung im direkten Lebensumfeld) untergeordnet werden, vgl. hierzu Meidert/Scheermesser (2018: 48–49) und Bernnat (2016) im Allgemeinen. Zu AAL im Speziellen vgl. Martin/Fangerau (2015) und darüber hinaus Weber et al. (2015).
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Der Beirat „Junge Digitale Wirtschaft“ ist ein beratendes Organ der Bundesministerin oder des Bundesministers für Wirtschaft und Energie zu aktuellen Herausforderungen, welche die Digitalisierung mit sich bringt (BMWI o. J.).
16 | Die Personenwaage
Die Personenwaage im Einsatz Üblicherweise kommt die Personenwaage heute beim Arzt, im Fitnessstudio oder privaten Badezimmer zum Einsatz, misst das Körpergewicht, ermittelt den Körperfett- und Muskelanteil sowie den Body-Mass-Index (BMI). In Zahlen drückt sich die Übereinstimmung oder Abweichung von Durchschnittswerten aus. Den eingangs aufgeführten Studien zufolge kann das psychische Erleben des eigenen Körpers eng an die reflexive Wirkung dieser Mechanismen gekoppelt sein. Demnach besteht auch ein Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung des eigenen Körpers und dem Einfluss der direkten Umgebung. So verknüpfen zahlreiche Untersuchungen Hänseleien der Peergroup im Kindesalter mit dem späteren Ausbruch von Krankheiten wie Essstörungen und Adipositas (Kiehl 2010: 173; Warschburger 2008: 260). Weitere Befunde verweisen auf einen anderen starken Faktor. Dabei wird argumentiert, dass die Massenmedien das Bild, das wir von unserem Körper haben, beeinflussen würden (Egmond-Fröhlich et al. 2007; Jäger 2008; Neuß/Große-Loheide 2007).10 So seien diese entscheidend an der Prägung und Vermittlung von Normal- und Idealvorstellungen über den Körper beteiligt. Über soziale Medien wie Facebook und vor allem Instagram würde eine Art „Social Magerwahn“ (Wulffert 2015) betrieben, der sich insbesondere auf Mädchen, aber auch immer mehr auf Jungen fatal auswirken kann. Daneben kreisen zahlreiche Sorgen von jungen Menschen um den Termin bei Amtsärzt*innen, denn die Eignung für den Polizei- und Schuldienst und später auch die Verbeamtung konnte lange Zeit verweigert werden, wenn der BMI zu hoch war (Frommeld 2012, 2013; Mennen 2013). Erst seit kurzem darf Übergewicht (und damit der BMI) nicht mehr als alleiniges Kriterium für diese Entscheidung herangezogen werden, sondern eine mögliche Dienstunfähigkeit muss im Zusammenspiel mehrerer gesundheitlicher Faktoren beurteilt werden (GEW NRW 2016; Liebenstein 2017). Daneben findet eine fast beiläufige und spielerische Art sich zu wiegen seit einigen Jahren in deutschen Wohnzimmern statt, denn die am meisten verkaufte Personenwaage aller Zeiten ist das Wii BalanceBoard, das als interaktives Element das Körpergewicht und den Fitnessstatus einer Person ermittelt (Guinness
10 Zur Rolle der Medien vgl. die Studien von Kiehl (2010), Mundlos (2011) und insbesondere das Kapitel „Media Effects“ in Grogan (2008). Zur Epidemiologie und soziokulturellen Einflüssen auf Essstörungen und Adipositas vgl. neben Jäger (2008) die weiteren Beiträge in Herpertz et al. (2008).
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World Records o. J.).11 Diese Daten werden als Ausgangsvoraussetzung festgehalten, wenn in der dazugehörigen Spielkonsole das Spiel Wii Fit gestartet wird. Diese kurze Skizze zur Personenwaage und ihre Rolle in einem breiten gesellschaftlichen Diskurs, aber auch die Kritik an den wirkmächtigen Mechanismen, in die das Messinstrument eingebettet zu sein scheint, führt zur diskursiven Arena des Artefakts. Die mit der Personenwaage verbundenen Handlungen, die Messung und Kontrolle des Körpergewichts üben demnach eine bestimmte Wirkung auf den einzelnen Menschen, seinen Alltag und damit auch auf die Gesellschaft als Ganzes aus. Diese Effekte werden in Studien mit millionenfachen Diäten, Fettabsaugungen oder aber auch Erkrankungen wie Magersucht in Verbindung gebracht. Die Beschäftigung mit dem Körper, die damit verbundenen zeitlichen Ressourcen und Geldausgaben von Subjekten, scheinen einen Komplex zu betreffen, der in der Geschichte der westlichen Gesellschaften (mit großer Wahrscheinlichkeit) seine Premiere hat.12 So ist die Ausgabebereitschaft für Wellness, Gesundheit und Sport in der deutschen Bevölkerung seit dem Jahr 2012 kontinuierlich angestiegen (IfD Allensbach o. J.b, o. J.c). Fast 75 Prozent der befragten Deutschen gaben in einer Umfrage auf diesem gleichbleibend hohem Niveau in den Jahren 2014 bis 2018 an, „ich lege großen Wert darauf, immer gepflegt auszusehen“ (VuMA o. J.).13 Seit 2003 ist auch die Anzahl der angemeldeten Personen in deutschen Fitnessklubs auf mehr als das Doppelte angewachsen (DSSV et al. o. J.). Diese Branche verzeichnet in den betreffenden Ländern Umsätze von über 24 Milliarden Euro im Jahr (IHRSA o. J.). In diesem Bereich werden hohe Zuwachsraten prognostiziert (Statista o. J.). Betrachtet man das gesellschaftliche Interesse an Gesundheits-, Sport- und Schönheitsthemen, ist davon auszugehen, dass hier sehr viel Zeit aufgewendet wird. Beispielsweise bejahten fast 60 Prozent der befragten Personen teilweise
11 Der Rekord wurde am 18. November 2010 festgestellt, worüber sowohl der Hersteller der Wii-Produktpalette berichtete (Nintendo of Europe GmbH 2012) als auch die deutschen Medien (z. B. Der Westen 2012). 12 Die jeweiligen Prozentsätze beziehen sich auf die Stichproben der entsprechenden Umfrage. Es kann hier nicht auf jeden Hintergrund der einzelnen Umfragen eingegangen werden. Die Angaben sind als Anhaltspunkte und Richtwerte für gesellschaftliche Trends zu verstehen. 13 Ergänzt werden muss, dass unter den Befragten Jugendliche ab 14 Jahren waren. Aufgrund der Fragestellung ist denkbar, dass diese eine sehr deutliche Zustimmung erreicht hat, beziehungsweise die Befragten einen körperaffinen Querschnitt der deutschen Bevölkerung abbilden.
18 | Die Personenwaage
oder vollumfänglich, dass sie sich gerne viel Zeit für Körperpflege nehmen (Spiegel o. J.). Die Studien fangen den gegenwärtigen und künftigen Trend zu Gesundheit, Schönheit und deren Pflege ein. Diese Praktiken und Routinen können Ausdruck des Wunsches sein, auf gewisse Weise dem Körperideal und einem bestimmten Körpergewicht zu entsprechen. Die Auseinandersetzung mit diesen Phänomenen führte zur Personenwaage, die als zentrales Element in diese Prozesse eingebunden ist. Unde venis et quo vadis, Personenwaage? In einem ersten Schritt wird im folgenden Kapitel der Blick auf die Geschichte der Personenwaage gerichtet und damit auch auf die (Selbst-)Messung von Körpergewicht (Kap. 1.1). Mit der Fokussierung auf dieses Instrument bewegt sich die Untersuchung in aktueller wie historischer Hinsicht zwar in einem Feld von Technik, richtet sich aber auf Wissen sowie Macht und damit auf Zugriffe auf den Körper und das Individuum. Wesentliche Befunde zum Stand der Forschung verorten deshalb das Thema der Studie in diesem Bereich und führten zur Perspektive der Foucaultschen Diskursanalyse, welche die Genealogie der benannten Prozesse in den Blick nimmt (Kap. 1.2). Hieraus resultierte – in Orientierung am Forschungsbedarf – die theoretische Rahmung der Studie. Daran schloss die Überlegung an, welche Quellen das Wissen auszudrücken vermögen, das mit der Erfindung und Etablierung der Personenwaage verbunden ist und in denen auch die Interaktionen, die heute ganz selbstverständlich zwischen Technik und Körper stattfinden, verhandelt werden. Die Reflexion von Forschungsstand, Quellen und Forschungsperspektive erzeugte schließlich die Fragestellungen der Studie. Der einführende Teil der Arbeit schließt mit einem kurzen Überblick über den Aufbau der Arbeit (Kap. 1.3). Als räumlicher Bezugspunkt der Rekonstruktion der Personenwaage und der Selbstvermessung mit dem Instrument wurde Deutschland gewählt.14
14 Vor dem Hintergrund der Untersuchung von Quellen aus Deutschland bezieht sich der Begriff Gesellschaft immer auf Deutschland, beziehungsweise westeuropäisch geprägte Gesellschaften.
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(K)EINE GESCHICHTE DER PERSONENWAAGE? 15 Bei Veröffentlichungen zur Waage handelt es sich meist um Monografien, welche die Entwicklung des Instruments im Allgemeinen behandeln. Zum Teil wird dabei von einer über 10.000 Jahre alten Geschichte der Waagen gesprochen (Haeberle 1967: 1–6; Vieweg 1966: 9–10). Diese Darstellungen widmen sich der Symbolik der Waage und des Wiegens in verschiedenen Kulturen. Dabei werden die technischen Entwicklungen und der generelle Einsatz von Waagen gezeigt. Personenwaagen, die sozialen und historischen Zusammenhänge werden in diesen Arbeiten nicht berücksichtigt. Sie beschreiben eine Kulturgeschichte oder eine Technik- und Wirtschaftsgeschichte.16 Robens et al. (2013: 394-402, 539-541, 606-619) hingegen geben einen Überblick über die Einsatzbereiche der Waage, die Kulturgeschichte der Waage in Nordeuropa, die Geschichte deutscher Waagenfabrikanten und die historische Entwicklung verschiedener Waagen. Die Geschichte des Instruments und ihre Verwendung im Bereich der Gesundheitspflege und der medizinischen Versorgung in Krankenhäusern werden jedoch relativ kurz skizziert (ebd.: 394–400).17 Hauptsächlich listen ebd. (2013) die verschiedenen Ausführungen der Waage auf und definieren diese. Die einzige ausschließliche Hochschulschrift zur Geschichte der Personenwaage ist eine im Fach Industrial Design verfasste Diplomarbeit (Knoop 1986). Diese allerdings
15 Diese Überschrift ist Ergebnis eines Brainstormings mit meiner Augsburger Kollegin Ann Kristin Augst – danke für den Austausch über die Arbeit. 16 Diese Schriften sind unter anderem gebunden an bestimmte Unternehmen, die als Herausgeber fungierten (Haeberle 1967; Vieweg 1966) oder beschreiben eine Firmengeschichte (Jenemann 1992). Ihnen ist auch gemeinsam, dass die Personenwaagen von den jeweiligen Firmen nicht als Produkt hergestellt wurden beziehungsweise werden. Die Produktpalette wurde, soweit möglich, auf den Internetseiten der betreffenden Firmen überprüft (Bizerba Deutschland 2018a, 2018b; Mettler Toledo 2018). Die „Mikrowa-Waagenfabrik“, die von Jenemann (1992: 79) porträtiert wurde, existierte bis zum Jahr 1973 und konzentrierte sich, wie aus der Quelle entnommen wurde, auf das Wiegen von Materialien. Robens et al. (2013: 648, 652, 666) führen zwar in einer Übersicht auf, dass die beiden Hersteller „Bizerba“ und „Mettler Toledo“ alle Waagentypen herstellen, proklamieren allerdings keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder dauerhaft korrekte Angaben. 17 Neben diesen zwei Verwendungsformen der Waage werden auch Waagen vorgestellt, die für Tiere vorgesehen sind, weshalb der Abschnitt mit der Überschrift „Body Scales“ Körperwaagen im Allgemeinen betrifft (Robens et al. 2013: 394–402).
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unveröffentlichte Arbeit18 mit dem Titel „Zur Geschichte der Personenwaage“ behandelt kurz die zentralen, technischen Entwicklungsstufen der Personenwaage. Payer (2012) beschreibt in einem Artikel zur Stadtgeschichte Wiens die Geschichte öffentlicher Personenwaagen. Gierlinger (1989) zeigt in einem kurzen Beitrag die Rolle der Münzautomaten als öffentliche Personenwaage zwischen Ende des 19. Jahrhunderts und bis in die 1930er Jahre. Insgesamt widmet sich dieser Artikel und der dazugehörige Band allerdings der Geschichte von Münzautomaten und berührt das Thema der Untersuchung nur in diesem Bereich. Damit scheinen auch die Automaten an sich bisher kaum untersucht worden zu sein, worauf auch schon König (2000: 342) in seiner Konsumgeschichte verwies. Hinweise auf den Einsatz von Körperwaagen in der Öffentlichkeit, in Arztpraxen oder im Hausgebrauch liefert die Arbeit von Merta (2003: 307–309) für die Zeit von 1880 bis 1930. Die auf eine Dissertation zurückgehende Monografie analysiert, wie der heutige Schlankheitskult entstanden ist und beantwortet sowohl ernährungswissenschaftliche als auch kulturelle Fragestellungen im Bereich von Diät, Lebensreform- und Naturheilbewegungen. Dadurch, dass bei ebd. (2003) Fragestellungen behandelt werden, welche die Personenwaage nicht per se in den Fokus stellen, fehlen systematische Angaben und Nachweise, welche die Einführung der Personenwaage ermitteln lassen. Wird die Personenwaage erwähnt, geht es um die Praxis des Wiegens und die Interpretation eines frühen Diät-Diskurses (ebd.: 307–313). Benson (2007, 2013) setzt mit seinen Arbeiten über das Schlankheitsideal historisch gesehen quasi die Arbeit von Merta (2003) bis zur heutigen Zeit fort. Während ebd. (2003) sehr detailliert und quellenbezogen die historische Entwicklung des Schlankheitskultes schildert, geht es Benson (2007, 2013) um Aspekte einer sozialen Kontrolle, also moralische und medizinisch-gesundheitspolitische Faktoren wie Stigmatisierung und Medikalisierung von Übergewicht. Zentral ist die geschlechtsbezogene Deutung dieses Phänomens. Als Folgen dieser Prozesse interpretiert er das kollektive Diätverhalten und die Kontrolle des Körpergewichts. Als wichtige Maßnahme wird dabei auch das Wiegen genannt, ohne jedoch näher auf die Waage einzugehen (Benson 2007: 42–44, 2013: 64). Arbeiten, die sich in historischer und aktueller Hinsicht mit dem Schlankheitskult beschäftigen (und diesen problematisieren), liegen in großer Zahl und erschöpfend vor, weshalb auf diese
18 Auf Anfrage von Stephanie Schütz wurde die Diplomarbeit von der Hochschule für bildende Künste Hamburg freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Beiden sei an dieser Stelle gedankt.
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Arbeiten lediglich verwiesen sei.19 Diese behandeln aber keine Geschichte der Personenwaage. Außerhalb von Deutschland sind vier Monografien erschienen, die eine Geschichte der Waage behandeln. Sanders „A Short History of Weighing“ (1960) behandelt komprimiert drei verschiedene Arten von Personenwaagen, die vermutlich im Zeitraum Ende des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts verwendet wurden. Präzise Angaben mit Jahreszahlen, Quellen sowie Hintergründe fehlen. Diese Übersicht scheint ein Begleittext zu einer Ausstellung zu sein, die das Firmenmuseum des britischen Industriewaagenproduzenten Avery Weigh-Tronix, vormals W&T Avery beherbergte (Avery Weigh-Tronix o. J.; Sanders 1960: 2). Die bisher unveröffentlichte Dissertation von Deborah Levine „Managing American Bodies: Diet, Nutrition, and Obesity in America 1840–1920“ beschreibt die Einführung von Waagen, sowohl von öffentlichen Personenwaagen als auch von Waagen für den Hausgebrauch in zwei Kapiteln, aber ausschließlich im nordamerikanischen Raum (Levine 2008).20 Ebd. (2008: 84) arbeitet dies an einzelnen Beispielen heraus und weist darauf hin, dass die Personenwaage vor 1920 noch kein fester Bestandteil des US-amerikanischen Badezimmers war. Daneben konzentriert sich ebd. (2008) auf die Arbeiten des Chemikers und frühen Ernährungswissenschaftlers Wilbur O. Atwater und die öffentliche Wahrnehmung des US-amerikanischen Präsidenten William H. Taft. Beide historische Figuren wurden bereits einige Jahre zuvor in einem breiter angelegten Forschungsprojekt aufgegriffen. So beschreibt Peter N. Stearns (2002)
19 Den Zusammenhang zwischen Schlankheitskult und/oder Gesundheitspolitik und/oder Kontrolle des Körpergewichts wurden von Frommeld (2012, 2013, 2015) in vorigen Veröffentlichungen beleuchtet. In diesen Artikeln werden die Ergebnisse der bisher unveröffentlichten Magisterarbeit „Der Body-Mass-Index (BMI) als biopolitisches Instrument“, die im Jahr 2010 an der philosophisch-sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Augsburg eingereicht wurde, zusammengefasst und ergänzt. Daneben zeigt Kessler (2016: 249, 257) anhand historischer, gesundheitspolitischer Debatten unter anderem auf, dass politische Strategien beabsichtigten, das Körpergewicht zu beeinflussen. In diesem Bereich sind zahlreiche andere wissenschaftliche – auch populärwissenschaftliche – Arbeiten zu verorten, exemplarisch Gard/Wright (2005), Gugutzer (2007), Hentschel (2006), Menninghaus (2007a), Menninghaus (2007b), Pollmer (2007), Posch (1999), Renz (2006), Schmidt-Sehmisch/Schorb (2008), Schorb (2009, 2015), Stearns (2002), Thoms (1995, 2000), Waldrich (2004), Walther (2010) sowie Wolf (1992). 20 Deborah Levine stellte auf Anfrage von Stephanie Schütz freundlicherweise ihre Arbeit zur Verfügung. Beiden sei an dieser Stelle gedankt.
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die Sozialgeschichte des Schlankheitskults als Vergleichsstudie zwischen den USA und Frankreich und weitet die zeitliche Dimension bis in die 1990er Jahre aus. Die Entwicklung der Waage spielt kaum eine Rolle, geht es ebd. (2002) doch darum, dem heute fest verankerten Diätregime in der US-amerikanischen Kultur nachzugehen. Die Monografie schließt dadurch an die Studie von Merta (2003) an, die sich auf Deutschland konzentriert. Um den öffentlichen und wissenschaftlichen (Spezial-)Diskurs sichten zu können, nutzt Stearns (2002) historische (Fach-)Zeitschriften sowie Ratgeber- und Sekundärliteratur und führt zwei in den USA historisch bedeutsame Zeitpunkte auf – und zwar die Einführung öffentlicher Waagen in den 1890er Jahren und die allmähliche Verbreitung der Badezimmerwaage in den 1920er Jahren (ebd.: 27, 105). In den 1980er Jahren schien die Waage in Frankreich bereits die Einstellung zum Körper zu bestimmen, so dass sich 90 Prozent der Bevölkerung um ihr Körpergewicht sorgten (ebd.: 184). Der Studie von ebd. (2002) geht diese von Hillel Schwartz (1986) voraus; er analysiert in seiner Kulturgeschichte das gesamte 19. Jahrhundert. Ebd. (1986) arbeitet mit ähnlichen Quellen und kommt dabei zu Ergebnissen, die später auch Stearns (2002) bestätigt. Dabei beschreibt Schwartz (1986: 164–174) in einem Abschnitt drei Momente des Messens, die sich mit der öffentlichen Waage, der Badezimmerwaage und der Küchenwaage im US-amerikanischen Alltag etablierten, und wie sich dadurch der Blick auf den Körper veränderte. Eine enge Rückbindung an die moralische Verpflichtung der Bürger*innen, die sich durch Schlankheit und Diät – oder umgekehrt durch Übergewicht zeigt, konstatieren beide Autoren. Allerdings ist die Forschung zur Personenwaage an sich und ihrer Erfindung damit weder für den deutschsprachigen Raum, noch für den anglo-amerikanischen Raum hinreichend geschlossen. Alle diese Arbeiten verfolgten ein anderes Ziel als die vorliegende Untersuchung. So steht entweder die technische Entwicklung der Waage im Vordergrund oder das Instrument wird zusammen mit dem derzeitigen Schönheitsideal untersucht und dabei meist auch kritisch hinterfragt. Der BMI als Puzzleteil? Weil die Geschichte der Personenwaage einen blinden Fleck darzustellen scheint, wurden Bezugspunkte zur Verwendung der Personenwaage und der Bedeutung des Körpergewichts bei Untersuchungen zur Historie anthropologischer, beziehungsweise anthropometrischer Messungen vermutet. Indizes und Formeln, die unter anderem das normale oder ideale Körpergewicht betrachteten, wie der bekannte BMI oder Broca-Index (BI) stellten um die Wende vom 19. zum
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20. Jahrhundert einen prominenten Forschungsgegenstand dar.21 Merta (2003: 252–256) beschreibt kurz gefasst die historische Diskussion der vielzähligen, um die Jahrhundertwende gebräuchlichen Formeln, aber wie bereits dargestellt, weniger die Rolle der Personenwaage in diesem Zusammenhang. Jaeger et al. (2001) skizzieren in einem Artikel die Einführung des BMI vor dem Hintergrund militärstatistischer Untersuchungen und gehen ansonsten auf die historische Erhebung von Körpergröße und Körpergewicht separat ein. Aus diesen Quellen geht keine Geschichte der Personenwaage hervor, aber dennoch kurz gehaltene Einblicke in die historischen Hintergründe (z. B. Barlösius 1999: 58–69; Spiekermann 2008: 37–52). In Veröffentlichungen zur Geschichte und Methoden der Anthropometrie kann kein grundsätzlicher Bezug zur Personenwaage festgestellt werden (Glowatzki 1973; Theile 2005a). Wie Theile (2005b: 26) anmerkt, wurde in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg kaum noch zur Geschichte der Anthropometrie publiziert, was mit dem Zusammenhang zwischen anthropometrischen Techniken und ihrer missbräuchlichen Verwendung in der Eugenik zusammenhängen könnte. Die Diskussion um eine Darstellung des Normal- und Idealgewichts wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Deutschland zunächst in den Ernährungswissenschaften geführt und verlagerte sich zunehmend in die medizinischen Fächer (Helmert 2008: 86; Klotter 1990: 73; Leppin 1994: 27).22 Insgesamt ist die Rolle der Waage im Zusammenhang mit Körpermassindizes wie dem BMI und mit der Musterung kaum belegt und wird deshalb in Kapitel 4 untersucht. Aus der Studie von Hartmann (2011) zur militärischen Musterung vor dem ersten Weltkrieg können wesentliche Akteure, die den historischen Diskurs im Bereich von Statistik, Medizin und Anthropologie bestimmten, abgeleitet werden. In den bisherigen Arbeiten von Frommeld (2012, 2013, 2015) über den BMI spielt die Waage keine wesentliche Rolle. Allerdings steht diese Formel in einem engen Zusammenhang mit der medizinischen Definition von Unter-, Normal- und
21 Der BMI wird aus dem Verhältnis des Gewichts zum Quadrat der Größe ermittelt (kg/m²), der BI leitet sich aus der Operation Körpergröße minus 100 ab (Bohlen et al. 2015; Pschyrembel et al. 1986: 233; Schöller et al. 2017; WHO o. J., 2004). Zur wissenschaftlichen Rezeption des BMI und seiner Bedeutung für die Gesundheitswissenschaften vgl. Bohlen (2010) und Bohlen et al. (2015). Der BI wurde vor allem Mitte bis Ende des 20. Jahrhunderts verwendet. In den 1950er Jahren wurde das Broca-Idealgewicht eingeführt (Broca-Normalgewicht minus 10 % bei Männern, minus 15 % bei Frauen) (Klotter 2007: 20; Pschyrembel Redaktion 2017; Wied/Warmbrunn 2003: 334). 22 Weiterführend vgl. Rosenbrock (2006) und Thoms (2000).
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Übergewicht sowie der Kontrolle des Körpergewichts – was heute eben auch die Personenwaage zu repräsentieren scheint. In diesen Untersuchungen wurde auf den Entstehungshintergrund des BMI von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute ausführlich eingegangen. Es zeigte sich, dass militärstatistische Untersuchungen den Ausgangspunkt für eine Quantifizierung von Körpern bildeten. Zentrale Elemente stellen die so genannten Körpermassindizes dar, wie der heute populäre und am meisten referierte, aber auch stark kritisierte BMI, der das Körpergewicht und die Körpergröße zueinander in Bezug setzt. Neben der Kritik, dass der BMI zum Beispiel bei einem hohen Muskelanteil Übergewicht suggeriert, besteht diese auch darin, dass die BMI-Werte nicht auf eine rein objektive Beobachtung des Körpergewichts zurückgehen, sondern dass die Auslegung des BMI auch ökonomisch und gesundheitspolitisch angetrieben war (Frommeld 2012, 2013, 2015; Schorb 2009, 2015). Die Grenzen zwischen Normal- und Übergewicht wurden im Zeitverlauf immer enger gefasst (Kuczmarski/Flegal 2000: 1076). Dadurch wurde ein immer größerer Anteil der Bevölkerung krankgemacht. Die Diskussion um eine Fettepidemie war eng mit der Pharmaindustrie verknüpft, welche zum Beispiel die Nichtregierungsorganisation „International Association for the Study of Obesity (IASO)“ finanziert (Schorb 2009: 23–26). Die IASO stand mit der Problematisierung der Adipositas als weltweite Fettepidemie in Verbindung. Aus gesundheitspolitischer Sicht war die Befürchtung von steigenden Gesundheitskosten ein Antrieb, die Daten und Angaben der IASO und damit auch der Pharmaindustrie zu übernehmen. Im professionellen, ernährungswissenschaftlichen Diskurs setzte sich der BMI in den 1970er Jahren durch und wurde zur Beschreibung des Normalgewichts und schließlich auch zur Bestimmung von Adipositas eingesetzt (Billewicz et al. 1962; Florey 1970; Keys et al. 1972; Khosla 1967). Für den BMI sprach unter anderem, dass dieser einfach anzuwenden ist (Keys et al. 1972; WHO 2004). In der Zwischenzeit wird der BMI von (Amts-)Ärzten, Krankenkassen und Lebensversicherungen verwendet, aber auch von Privatpersonen, die auf ihr Körpergewicht achten, Sport treiben oder Diät halten. Der Formel liegt die Gaußsche Normalverteilung zugrunde. Sie spiegelt neben dem Normalgewicht auch ideale Werte wider. Es ist davon auszugehen, dass die zeitgemäßen Vorstellungen von Schönheit mit diesen Werten kohärent sind, da der BMI spätestens seit der offiziellen Einführung durch die WHO im Jahr 1997 allgemein bekannt ist, von der deutschen Gesundheitspolitik aufgegriffen und in den Medien kommuniziert wurde (Frommeld 2012, 2013, 2015).23 Kurz darauf lancierte die deutsche
23 Damit verlor auch der BI in Deutschland seine Bedeutung (WHO 2004). Dies wird allein schon daran deutlich, weil Glowatzki (1973: 114), Krämer/Ulmer (1984) und das
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Bundesregierung mehrere Initiativen, die deutsche Bevölkerung dazu zu bringen, sich mehr zu bewegen und gesünder zu ernähren. Dazu zählen Maßnahmen wie ein „Nationaler Aktionsplan Ernährung und Bewegung IN FORM“, der die Anzahl übergewichtiger Deutscher bis 2020 sichtbar reduzieren sollte (BLE o. J.). In diesem Diskurs über das richtige Körpergewicht steht der BMI und dessen Normal- und Idealgewicht für Gesundheit, Schönheit und beruflichen Erfolg. Die (kritische) Reflexion des BMI verweist auf die soziale Konstruktion der Formel und deren Bedeutung im gesellschaftlichen Alltag. Auf diese Weise greift institutionell gesetztes Wissen machtvoll auf den Körper zu, provoziert körperbezogene Handlungen und begleitet die Körperwahrnehmung von Individuen. Aus diesem Grund wird der BMI als biopolitisches 24 Instrument bezeichnet (Frommeld 2012; 2013, 2015). Self-Tracking als Puzzleteil? Aktuell spielt der BMI – und damit die Personenwaage, das Wiegen und das Körpergewicht – im Self-Tracking eine zentrale Rolle. So beziehen fast alle der bisher erwähnten Apps das Körpergewicht ein. Tatsächlich nähern sich Monografien wie diese von Ajana (2018), Duttweiler et al. (2016), Lupton (2016), Mämecke et al. (2018), Meidert et al. (2018) und Selke (2016b) dem Self-Tracking erstmals und damit auch der gesellschaftlichen Relevanz des Phänomens. Während es bei Ajana (2018) um die ethischen Facetten geht, Lupton (2016) um die Figur des „Quantified Self“, stehen bei Mämecke et al. (2018) die Daten im Vordergrund, die aus dem Self-Tracking hervorgehen. Meidert et al. (2018) arbeiten aus einer interdisziplinären Perspektive Handlungsempfehlungen für die Schweiz heraus, was den Datenschutz und die Medizinprodukteentwicklung angeht. Die Beschäftigung mit dem Thema in Deutschland stand bis vor Kurzem noch am Anfang. Seit den ersten deutschsprachigen Übersichtsarbeiten von Duttweiler et al. (2016) und Selke (2016a) steigt die Zahl der Veröffentlichungen in Deutschland. Dazu zählen Beiträge mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen, wobei unter anderem eine Theoretisierung versucht wird, um der
klinische Wörterbuch „der Pschyrembel“ (Pschyrembel et al. 1986) noch die wichtige Rolle des BI betonen, während Bohlen (2010), Bohlen et al. (2015) sowie Schöller et al. (2017) den BI als überholt einstufen, da dieser bei sehr großen und sehr kleinen Körpergrößen unzuverlässiger als der BMI arbeitet. 24 Der theoretische Begriff der Biopolitik geht auf Michel Foucault (1926–1984) zurück, auf dessen Arbeiten im weiteren Verlauf der Untersuchung eingegangen wird. Sofern bekannt, werden Angaben zur Lebenszeit von bedeutsamen (historischen) Figuren ergänzt.
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digitalen Wende Rechnung zu tragen (Gentzel et al. 2019; Houben/Prietl 2018; Reichert et al. 2018; Rode/Stern 2019; Seyfert/Roberge 2017). Der subjektiven und gesellschaftlichen Brisanz des Trends Self-Tracking wird damit erst seit kurzem Rechnung getragen. Einige Beiträge in Duttweiler et al. (2016) und Selke (2016b) versuchen, das Self-Tracking historisch zu verorten, und stellen dieses in einen Zusammenhang mit der (öffentlichen) Personenwaage, antiken Diätetik, nennen Adolphe Quetelet (1796–1874) in Verbindung mit dem BMI und schneiden den historischen Hygiene- und Ernährungsdiskurs an beziehungsweise den Zusammenhang mit einem gesellschaftlichen Normalisierungsprozess (Duttweiler/Passoth 2016: 15– 16; Gertenbach/Mönkeberg 2016: 33–34; Schmechel 2016a: 144–146, 2016b: 179–184; Wiedemann 2016: 83; Zillien et al. 2016: 128–132). Begutachtet man die Ausführungen zur Geschichte der Personenwaage und der Selbstvermessung, kommt wiederum die bekannte Forschungslücke zum Vorschein. Bei Duttweiler/Passoth (2016) – und bei Ajana (2017) – dient zwar ein im Jahr 2015 erschienener Artikel von Crawford et al. (2015) als Grundlage. Diese kulturhistorische Studie skizziert aber nur in aller Kürze die Hintergründe der Selbstvermessung (ebd.: 481–484) und konzentriert sich ansonsten auf die Überschneidungen zwischen historischen Waagenwerbungen und modernen Fitnessarmbändern. Daraus geht hervor, dass beides auf die Beobachtung und Überwachung des Körpers sowie des Selbst abzielt und damit auf eine Optimierung des Lebens (ebd.: 485–486). Der geographische Schwerpunkt liegt hierbei auf den USA. Auch die sozialtheoretische Analyse von Ajana (2017: 3), die Untersuchung von Whitson (2013: 163, 174–175) zum Anteil spielerischer Elemente bei „Quantified Self“ und die deutschsprachige, phänomenologisch ausgerichtete Studie von Wiedemann (2016: 83) setzen sich mit der „Quantified Self“-Bewegung auseinander, wobei wiederum eine lange Geschichte der Selbstvermessung angedeutet wird. Bei diesem Aspekt wird abermals nicht auf eigene, sondern auf die Ergebnisse Dritter rekurriert. Allerdings steht auch bei diesen Analysen nicht die Personenwaage im Vordergrund, sondern es geht um besondere Aspekte der Selbstvermessung oder die damit verbundene Technik. So ist die Waage bei Pantzar/Shove (2005: 9) Bestandteil einer chronologischen Zeitleiste, der unter anderem auch das Tachometer und der Fahrradcomputer angehören und somit eine Variante eines Messinstruments. Beide erklären, dass sie keine Sozialgeschichte der Waage finden konnten: „We have so far failed to find a good social history of this technology [the bathroom scale; Anm. DF] but it seems that the first personal weighing instruments for everyday use were produced by Salter in the UK 1897“ (ebd.: 5). Sie weisen darauf hin, dass ihre Ergebnisse Vermutungen darstellen: „We conclude this introductory and somewhat
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speculative paper.“ (Ebd.: 9)25 Ebenfalls verwiesen wird auf Rettberg (2014: 9– 11). Dabei werden historische (Tagebuch-)Aufzeichnungen als Vorläufer des Self-Trackings beschrieben. Diese dienten der Selbstbeobachtung, was zum Beispiel von Benjamin Franklin praktiziert wurde. Diesen Zusammenhang analysieren auch die kürzlich erschienenen Arbeiten von Fröhlich (2018, 2019a, 2019b). Auch bei Zillien et al. (2016: 127–132) steht nicht die Geschichte der Personenwaage im Fokus. Diese wird als Teil eines historischen Ernährungsdiskurses betrachtet, der aktuell in Verbindung mit dem so genannten Diet-Tracking zu stehen scheint. Die Badezimmerwaage wird hier als Nachfolger der öffentlichen Waage begriffen, was bereits durch die Untersuchung von Payer (2012) bekannt ist. Aus dieser kurzen Übersicht folgt, dass das generell noch junge Forschungsthema Self-Tracking im angloamerikanischen Raum bereits etwas stärker verortet ist, was vor allem durch die Arbeiten von Lupton (2015, 2016), aber auch durch diese von Swan (2012, 2013) zustande kommt. Beide setzten sich zu einem früheren Zeitpunkt als in Deutschland neben dem Phänomen „Quantified Self“ und auch mit der Digitalisierung auseinander. Tatsächlich skizzieren die genannten Arbeiten zum Self-Tracking mögliche grobe Entwicklungslinien der Personenwaage. Diese stellen aber keine soziologisch-historischen Untersuchungen zur Personenwaage und zur Selbstvermessung dar. Sie verweisen aber auf die aktuelle Relevanz der Waage, wenn es um das Protokollieren und das Kontrollieren des Körpergewichts geht und die enge Beziehung, die dabei zwischen technischem Objekt und Praktik besteht. Der Befund: Eine Forschungslücke Aus dem Forschungsstand zur Geschichte des Instruments folgt, dass im deutschsprachigen, anglophonen und französischsprachigen Raum diese bis dato nicht existiert.26 Jedoch haben sich bestimmte Effekte ergeben, die nicht nur aktuell, sondern mindestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts in Relation zur Personenwaage stehen. Dazu zählt die (Selbst-)Beobachtung, aber auch die
25 Das Konferenzpapier mit dem Untertitel „Draft, do not quote: SASE meeting, Budapest, 30th June – 2nd July 2005“ ist ein Entwurf. Da dieses aber von einigen Autor*innen dennoch als Ausgangsliteratur und Beleg für die Geschichte der Selbstvermessung zitiert wird, die in einem Zusammenhang mit der Waage stehen soll, wird an dieser Stelle darauf hingewiesen. 26 Ergänzend wurde eine Online-Recherche in den entsprechenden Literatur-Datenbanken nach der Geschichte der Personenwaage durchgeführt. Entsprechende Suchaufträge waren „history+scales, history+body+scales, histoire+pèse-personne“, letztmalig mit dieser Systematik im Dezember 2016, danach nur noch ausschnittsweise.
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Optimierung wie Modifikation des Körpers und des Gewichts. Diese Körperpraktiken können mit dem Messergebnis der Waage in Verbindung gebracht werden. In einem, weiter in die Vergangenheit reichenden, historischen Diskurs scheint das Instrument mit dem Messen und Quantifizieren des Körpers – insbesondere im Militär – zusammenzuhängen und damit auch mit der Ernährung sowie der Regulierung oder auch Disziplinierung der Bevölkerung. Im Verlauf der Geschichte des Geräts muss sich eine starke Akzentuierung ergeben haben, denn in gesellschaftlicher Hinsicht werden seit einigen Jahren der Schlankheitskult, die Stigmatisierung und Medikalisierung von Übergewicht kritisiert. Die Personenwaage scheint dadurch negativ assoziiert zu sein und eine Handlungsaufforderung darzustellen, (mehr) auf die Gesundheit und das Äußere zu achten. Der kulturelle und politische Fokus liegt seit dem 20. Jahrhundert verstärkt auf der Reduzierung von Übergewicht (Kap. 1.1.1). Völlig unklar ist, wie es dazu gekommen ist. Auf der Hand liegt aber der enge Konnex zwischen Artefakt und Körper, der nicht nur die Personenwaage selbst, sondern auch die vielfältigen (Wechsel-)Wirkungen auf den Körper in den Mittelpunkt des Interesses rückt (Kap. 1.1.2). Die Quantifizierung des Selbst scheint jedenfalls nicht erst mit der Digitalisierung eingesetzt zu haben. 1.1.1 Eine Annäherung an die Personenwaage als machtvolles Instrument Die Personenwaage ist „eine Waage zum Wiegen von Personen“ und eine Waage wiederum ein „Gerät, mit dem das Gewicht von etwas bestimmt wird“ (Duden Online o. J.d). So lautet die aktuelle Definition des Instruments im Duden. Daraus folgt, dass die Funktion des Geräts den Körper eines Individuums voraussetzt und eine kenntnisreiche Bedienung der Waage. Hierbei begegnen sich Technik und Körper. Ohne den Körper hat das Instrument keinen Sinn – die Personenwaage benötigt einen Körper und das Wissens des Subjekts, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Sozialwissenschaftliche Fragen im Bereich des Körpers richten sich einerseits auf die Mechanismen, die von außen auf diesen zugreifen, ihn zum Objekt machen, ihn sozusagen erziehen (Alkemeyer 2010: 295–297; Gugutzer 2004: 44–45, 2006: 14–20; Keller/Meuser 2011b: 12; List 1997: 171–173). Andererseits richten diese sich aber auch auf den Körper als Medium und Subjekt, der in sozialer Hinsicht sich selbst erlebt, am sozialen Geschehen teilhat und es beeinflusst. Diese Blickrichtungen wurden von der Körper- und Wissenssoziologie vor Kurzem unter dem Begriff Körperwissen zusammengeführt (Alkemeyer 2010; Hirschauer
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2008; Keller/Meuser 2011b).27 Unter diesem Ausdruck können vielfältige, auch interdisziplinäre Forschungsperspektiven zusammengefasst werden, die sich auf den alltäglichen praktischen Einsatz des Körpers, aber auch auf dessen effektvolle Körperlichkeit beziehen. In anderen Worten ist damit die soziale Durchdringung des Körpers gemeint und der Körper als darstellendes, aber auch handelndes Element von Gesellschaft. Dabei wird davon ausgegangen, dass es auf der einen Seite bestimmte Technologien, Informationen, Bilder, Symbole, Strukturen und Erfahrungen sind, die in einer Gesellschaft über den Körper entstehen, verbreitet werden und die diesen beeinflussen (Gugutzer 2006: 14-20; Keller/Meuser 2011b: 11–13). Auf der anderen Seite bedingen sich durch den Körper gesellschaftliche Bezüge. Durch regelmäßige Handlungen werden soziale Ordnungen und Hierarchien geschaffen (z. B. Arbeitsteilung im beruflichen und privaten Umfeld, Geschlechterordnungen); und durch die Art und Weise, wie Körper dargestellt werden oder sich der Körper selbst darstellt, entwickelt sich eine soziale Wirklichkeit (z. B. Körperideale, Mode, Sport). Dadurch, dass der Körper sich aber auch sämtlichen Eingriffen entziehen kann und für sich selbst existiert, steht er der Gesellschaft auch als Entität gegenüber (z. B. körperliche Affekte). Die Auseinandersetzung mit diesen Dimensionen von Wissen und Körper steht in der Soziologie in einer langen Tradition. 28 So nutzte Pierre Bourdieu
27 Dieses Ausdruck wurde vorher von Klinge (2008) im Titel ihrer Habilitationsschrift im Fach Sportpädagogik verwendet. Sie ordnet den Begriff in eine bereits seit den 1980er Jahren bestehende Diskussion in den Sozial- und Kulturwissenschaften ein (Klinge 2008: 5–12). Sie führt dabei auf, dass in der Entwicklungsgeschichte des Begriffs tanzund theaterwissenschaftliche Forschungsarbeiten maßgeblich prägend waren (zum Vgl. Baxmann 2008; Faust 2006). Aktuelle Veröffentlichungen zu Körperwissen sind in diesen Disziplinen, beziehungsweise im transdisziplinären Bereich angesiedelt (z. B. Brandstetter 2016; Dupré 2016; Renger et al. 2016; Steinert 2016; Warstat 2016). In der Körpersoziologie nutzte Alkemeyer (2010) vor Keller/Meuser (2011a) den Ausdruck, um analytische Dimensionen zu explizieren, die das Wissen und den Körper aufeinander beziehen. Dabei schließt Alkemeyer an Hirschauer (2008) an. Vgl. hierzu auch Gugutzer (2006). 28 Vgl. dazu Arbeiten, die ursprünglich aus dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts stammen (Elias 1976a, 1976b; Mauss 1975; Simmel 1992). Für die später sich etablierende Körpersoziologie waren die Arbeiten von Chris Shilling, Mike Featherstone und Bryan S. Turner essenziell (Shilling 2005; Featherstone 2005; Turner 2008). Die Erstausgaben wurden zwischen 1984 und 2000 veröffentlicht und sind seither mehrfach aktualisiert worden (zu deren Rolle vgl. Gugutzer 2004: 46–47; Keller/Meuser 2011b: 11; Schroer 2005: 9). In den 1960er Jahren wurde die Soziologie
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(1930–2002) das Konzept des Habitus, Marcel Mauss (1872–1950) den Ausdruck der Körpertechniken und Alfred Schütz (1899–1959) den Begriff der Routinen im Alltag (Bourdieu 1979; Mauss 1975; Schütz/Luckmann 1979; 1984). Diese Forschungsperspektiven auf den Körper spiegeln sich auch in einer engen Beziehung der sozialen und historischen Wissenschaften zueinander wider, wenn es um Wissen, Alltag und Macht geht. So ist es Michel Foucault (1973, 1976, 1977, 1993b, 1994), der die Historizität des Körpers mit Praktiken und Formen der Machtausübung zusammenstellt. In dieser Tradition wendeten sich nicht nur die Soziologie, sondern auch die historischen Wissenschaften dem Körperwissen zu: „Jedenfalls ist anzunehmen, daß in die situierten Alltagspraktiken historischer Akteure ein implizites Wissen über den Gebrauch des Körpers, über Körperpraktiken ebenso eingeht wie ein durch die umgebende Kultur vermitteltes, explizit artikuliertes Wissenssystem oder Weltbild, in diesem Fall explizites Wissen über den Körper und seinen Ort in der Welt.“ (List 1997: 171)
Zunächst folgt daraus, dass ein bestimmtes historisches Setting Wissensbestände über den Körper hervorbringt. Dazu zählt zum Beispiel medizinisches Wissen oder in den Alltag übergegangenes Wissen über Gesundheit und Krankheit des Körpers (Foucault 1978; 1993a; Foucault 1993b). Im übertragenen Sinne bedeutet
des Körpers, beziehungsweise Körpersoziologie eingeführt, ausführlicher dazu Gugutzer (2006: 12). Vgl. die Ausführungen von Schroer (2005) zu den Hintergründen, die dazu führten, dass der Körper in der Soziologie vorher nur selten explizit thematisiert wurde und zu den späteren Forschungsfeldern. Noch im Jahr 2002 wurden die weiten Forschungslücken zum Körper in der Soziologie bemängelt. Seither sind einige Einführungs- und Grundlagentexte in der deutschen Körpersoziologie erschienen. Dennoch gibt es noch weite Bereiche, die unbesetzt sind (zum Vgl. Abraham 2002: 24–29; Gugutzer 2004: 45–48, 2015: 5–11), auch wenn unzweifelhaft von einem „body turn“ (Gugutzer 2004) in den Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften gesprochen werden kann. An dieser Stelle setzt das „Handbuch Körpersoziologie“ an (Gugutzer et al. 2017a, 2017b). Zur Verknüpfung von Technik und Körper unter techniksoziologischen Gesichtspunkten vgl. Rammert/Schubert (2006b, 2017). Die Wissenssoziologie interessiert sich unter anderem für eine phänomenologische, handlungstheoretische und kommunikative Perspektive auf den Körper, vgl. hierzu Abraham (2002), Bohnsack (2017) oder Knoblauch (2016). Darüber hinaus spielt der Körper auch in der Medizin- und Gesundheitssoziologie sowie in der Soziologie des Sports eine zentrale Rolle.
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dies in der Gegenwart eine medizinische Kategorie des Normalgewichts und ein gesellschaftliches Wissen, dass Übergewicht der Gesundheit schaden könnte. Von Bedeutung ist damit ein Wissen, das sich in verschiedenen Formen verselbstständigt hat. Heutzutage ist es nicht oder nach einigen Wiegevorgängen nicht mehr nötig, die grundsätzliche Verwendung einer Waage zu erklären. So ist es bekannt, dass auf die Waage gestiegen und kurz abgewartet wird, bis das Gewicht angezeigt wird. Technische Dinge wie dieses Messinstrument sind „uns […] im Alltag auf den Leib gerückt“, sie sind „allgegenwärtig in unserem gesellschaftlichen Handeln“, aber deren Handhabung wird nicht mehr bewusst vollzogen (Rammert/Schubert 2006b: 11). Mit der Personenwaage rückt das Zusammenwirken von Untersuchungselementen wie Diskurs und Wissen, Technik und Praktik, Alltag und Situation und deren Verwobenheit mit Gesellschaft und Körper in den Vordergrund (Alkemeyer 2010; Hirschauer 2008; Joerges 1988b; Keller 2011b; Rammert 2007; Rammert/Schubert 2006a, 2017).29 Diese – prinzipiell – facettenreiche Betrachtung des Forschungsgegenstands bestimmt den Rahmen dieser Studie. Auch wenn
29 Die Untersuchung fokussiert auf Technikkonstellationen, die auch den Körper betreffen. Dabei wird der Körper aber nicht als ausschließlicher analytischer Bezugspunkt der Arbeit gesetzt, auch wenn im Rahmen eines so genannten body turn vor Kurzem eine Verschiebung oder Neuausrichtung des wissenschaftlichen Fokus auf den Körper vollzogen wurde. Darüber hinaus sind es einiger Zeit der performative und practice turn, mit denen in den Sozialwissenschaften ein ergänzender Schwerpunkt gelegt wird. Es handelt sich hierbei um sozialkonstruktivistische Denktraditionen, um Überlegungen der phänomenologischen Soziologie und Varianten der Performativitäts-, Performance- und Praxistheorien. Den theoretischen Ausgangspunkt dieser Arbeit bildet eine offene, sozialkonstruktivistische Herangehensweise (Kap. 2). Andere Perspektiven schließen sich dabei nicht aus und werden wie hier einleitend, in impliziter Weise im Verhältnis zum Forschungsgegenstand und den Quellen einbezogen. Eine intensive Auseinandersetzung und Diskussion dieser Theorien findet in der Soziologie des Körpers und des Sports, der Wissens-, Kultur- und Geschlechtersoziologie und weiteren so genannten Bindestrich-Soziologien sowie in der Körpergeschichte statt (z. B. Gugutzer 2004, 2006; Keller/Meuser 2011b; Klein/Göbel 2017b; List 1997; Lorenz 2000). So geht es dieser Arbeit nicht um eine Darstellung und Reflexion der analytischen Dimensionen von Leib und Körper und ihr Bezug zueinander. Dazu sei auf die für diese Diskussion grundlegenden Arbeiten von Maurice Merleau-Ponty und Helmuth Plessner, aber auch auf die Varianten von Ulle Jäger und Gesa Lindemann sowie die bereits erwähnten Veröffentlichungen von Chris Shilling und Bryan S. Turner verwiesen (Jäger 2004; Lindemann 1993; Merleau-Ponty 1966; Plessner 1975). Zur
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nicht alle theoretischen Blickrichtungen, die mit diesen Elementen verbunden sind, in dieser Untersuchung stets zu gleichen Teilen mitgedacht werden können, leitet sich ab, dass nicht nur die Personenwaage für sich analysiert werden kann oder das Wissen, das sich allein auf den Körper bezieht. Es muss der Planungsprozess von Technik mitgedacht werden: „Nun sind Dinge sofern es sich um Artefakte handelt von Menschen hergestellt, um eben mit ihnen bestimmte Handlungen zu vollziehen.“ (Fischer-Lichte 2013: 167) Daraus folgt, dass eine Handlung oder Interaktion zwar von einem Subjekt ausgeht, aber auch durch ein so genanntes Gebrauchsding wesentlich mitbestimmt wird. Die Technikanwendung muss auf eine bestimmte Art und Weise geschehen, die durch den Gegenstand vorgegeben ist (ebd.: 167–168). Einer Technik geht also ein Planungsprozess (doing innovation) voraus, der das Alltagshandeln mit Objekten eigensinnig, vielsinnig und widerständig macht (Hutter et al. 2016: 19; Joerges 1988c: 9). Verwiesen wird damit auch auf den Darstellungscharakter einer Mensch-Technik-Interaktion, die eine Körperpräsenz voraussetzt (Fischer-Lichte 2013; Rammert 1998; Rammert/Schubert 2006a, 2017). Ein Artefakt geht auf eine Idee zurück, die in einer Marktwirtschaft jedoch in beständiger Konkurrenz zu alten und neuen Techniken steht (Rammert 1998: 309). Bei der Analyse der sozialen Hervorbringung und Wirksamkeit eines technischen Messinstruments wie der Personenwaage gilt es daher, mehrere Dimensionen zusammenzudenken. Der Fokus richtet sich dabei auf die Personenwaage im Alltag von Individuen. Auf diese Weise entsteht eine „vernetzte Betrachtungsweise“ (List 1997: 178– 179) von Technik, Wissen, Subjekt, Körper, Gesellschaft und Geschichte, die im Sinne der Untersuchung konkretisiert wird. Technik als Instrument von Normierung und Normalisierung In soziohistorischen Beiträgen kommen der Körper und das beziehungsreiche Geflecht zwischen Körper, Gesellschaft und Technik spätestens ab Ende der 1990er Jahre zum Tragen. So zeigen verschiedene Beiträge in dem Band „Studien zur Verwissenschaftlichung des Körpers im 19. und 20. Jahrhundert“ (Sarasin/Tanner 1998), wie die gesellschaftlichen Umwälzungen im 19. und 20. Jahrhundert einen neuen Blick auf den menschlichen Körper ermöglichten und
Praxistheorie von Andreas Reckwitz vgl. Reckwitz (2003, 2012b, 2015), auf die zum Beispiel auch Alkemeyer (2010, 2015) und Freist (2015b) sowie Gugutzer (2006) verweisen. Zur Performativität s. Fischer-Lichte (2013) und zur Verschränkung von Körper, Diskursen und Artefakten Freist (2015a). Zu den Bezügen zwischen Performativitäts-, Performance- und Praxistheorien vgl. Klein/Göbel (2017a) und ausführlich Klein/Göbel (2017b).
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wie sich Körper und Gesellschaft wechselweise widerspiegelten. Mit diesen Aspekten setzten sich verschiedene, nachfolgende Arbeiten auseinander (z. B. Bielefelder Graduiertenkolleg Sozialgeschichte 1999; Sarasin 2001, 2007). Dabei geht es zum Beispiel darum, wie sich Körperpraktiken konstituieren und anpassen, wenn sich die gesellschaftlichen Bedingungen durch Politik, Arbeit und Medizin verändern. Dies veranschaulicht auch Sarasin (2001) an einer Geschichte des Körpers der letzten 250 Jahre und analysiert öffentliche Diskurse um Hygiene und Gesundheit. Körperliche Regungen sollten so genau wie möglich kontrolliert werden und waren Voraussetzung für eine gesellschaftliche Zugehörigkeit. Die Ernährung in Institutionen, das Rationieren von Nahrung, Zählen von Kalorien und Eiweiß behandelten sowohl Tanner (1999) als auch Thoms (2002). Kleinspehn (1987) geht es in seiner Monografie darum, wie der öffentliche Diskurs über das Essen seit dem späten Mittelalter bis zum Ende des 20. Jahrhunderts zunehmend in den privaten Bereich der einzelnen Person eingriff. „Wie sich in dieser Arbeit am besonderen Beispiel des Essens gezeigt hat, werden immer mehr Bereiche des alltäglichen Lebens dem Prozeß der Vergesellschaftung unterworfen. Neben der Bürokratisierung und Rationalisierung auf der Makroebene tritt immer mehr das Individuum und der Körper selbst in den Vordergrund dieser Prozesse.“ (Kleinspehn 1987: 418)
Daraus formt sich eine Geschichte, die sich auf gesellschaftliche Moralvorstellungen, die Gesundheit sowie die Handlungen und Empfindungen des Körpers bezieht. Diese Untersuchungen bilden die historische Normierung eines Wissens ab, das mit dem Köper zusammenhängt und in diesen überging. In der Kulturgeschichte und der Körpersoziologie spannt sich ebenfalls ein Bogen, der den Körper, das Körpererleben und die Körperlichkeit in den Medien und in Form von Schönheitsidealen widerspiegelt. Die Arbeiten von Merta (2002, 2003) haben in diesem Bereich ernährungswissenschaftliche und kulturelle Fragestellungen bearbeitet und herausgestellt, dass die Debatte um das Körpergewicht, und vor allem der Kampf gegen das Übergewicht und der so genannte Schlankheitskult ein in verschiedenen Diskursen gewachsenes Thema ist und sich im ersten Drittel des letzten Jahrhunderts als Teil der westlichen Kultur ausbuchstabiert hat. Thoms (2000: 306–307) ermittelt im Laufe der letzten 200 Jahre eine „Schlankheitserziehung“ und „Disziplinierung des eigenen Körpers“. Becker (2000) und Zahlmann (2000) zeigen, dass sich insbesondere im Laufe des 20. Jahrhunderts der sportliche, schlanke Körper als Symbol für Leistung, Disziplin und Ausdauer durchgesetzt hat. Die verschiedenen Beiträge in
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Wischermann/Haas (2000) ordnen dem Körper eine elementare Rolle zu, und zwar „als Ort der Selbst- und Weltdeutung“. Der Körper wurde also nach bestimmten Vorbildern geformt und modelliert, gleichzeitig verliehen bestimmte Selbstpraktiken dem Körper gesellschaftliche Zugehörigkeit und Identität (Alkemeyer 2007). Historische Praktiken der Körpervermessung spielen in der Konfektionsgeschichte eine bedeutende Rolle. Döring (2011) berichtet in diesem Zusammenhang von einer Zäsur im 19. Jahrhundert, die durch anthropometrische Untersuchungen und statistisch-arithmetische Berechnungen eingeleitet wurde. Durchschnitts- und Mittelmaße wurden zur Grundlage moderner Konfektionsgrößen. An diesem Beispiel wird sichtbar, wie durch das Messen der Körper und bestimmte Zahlenwerte auf das Engste miteinander verbunden wurden. Ausgehend vom männlichen Körper als Ideal setzten Normalisierungs- und Subjektivierungsprozesse in Gang, was sich heute in Form der idealen Kleidergröße an den schlanken Körper der Frau richtet. Es scheinen Bewertungen von außen zu sein, aber auch die innere Einstellung zum Körper und das Wissen, über das der Körper verfügt, die Überlegungen und Vorhaben lenken, die sich auf den Körper beziehen (Villa 2007). Daneben scheinen Ressourcen wie Geld und Zeit den Zugang zu Schönheitsarbeit zu regeln (Degele 2004; Villa 2007). Dazu zählen beispielweise Mode und/oder tiefgreifende Eingriffe in den Körper wie Schönheitsoperationen, wodurch sich letztendlich auch die soziale Ordnung einer Gesellschaft widerspiegelt. Die Technik nimmt den Körper ins Visier Mehrere soziologische, historische und interdisziplinäre Studien wie diese innerhalb der Science & Technology Studies (STS) beschreiben Maßnahmen der jüngeren Vergangenheit, in gegebene Körperzustände einzugreifen und die Naturgebundenheit des menschlichen Körpers aufzulösen. Hintergrund ist die sprunghafte Weiterentwicklung der Medizin in den letzten beiden Jahrhunderten, insbesondere in den letzten Jahrzehnten und die laufende Erweiterung biomedizinischen Wissens. Keller/Meuser (2011b) verstehen gesellschaftlichen Wandel und die daraus resultierenden Folgen als einen Vorgang, der den Körper, dessen Gesundheit oder Krankheit betreffen. Diese Entwicklungen beeinflussen auch die Idealvorstellungen über den Körper und verschieben Normalität. (Bio-) Medizin setzt dann nicht mehr bei Krankheit, sondern bei Gesundheit an. Durch ästhetische Operationen werden ursprüngliche oder erwünschte Gegebenheiten (wieder-)herstellbar, Alterungsprozesse hinausgezögert oder aufzuhalten versucht (Borkenhagen et al. 2016; Gill 1992; Gilman 2001; Kettner 2009; Pfaller 2016; Schlich 2001; Schweda/Marckmann 2012; Stoff 2004; Viehöver/Wehling 2011;
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Wehling et al. 2007).30 Dazu zählen konkret zum Beispiel glatte Haut und symmetrische Gesichtszüge, die für Jugendlichkeit und Attraktivität stehen (Liessmann 2009: 96). Es wurde medizinisch möglich, menschliches Leben durch Pränataldiagnostik und künstliche Befruchtung zu steuern, mögliche Erkrankungen durch Gentests mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit vorhersagbar zu machen und den Geschlechterkörper umzuwandeln (Dickel et al. 2011; Dülmen 1998; Gill 1992; Kettner 2009; Lenz et al. 2004; Liebsch/Manz 2010; Orland 2005; Rose 2007; Wehling et al. 2007). Körperliches Handeln kann durch Prothesen verändert werden und die Leistungsfähigkeit des Körpers oder des Geistes sowie dessen emotionales Erleben durch Medikamente gesteuert werden (Ruther 2018; Schneider 2005; Synofzik 2006; Wehling 2011). Es geht dabei um eine Verbesserung und Perfektionierung des Menschen von außen sowie Eingriffe in den menschlichen Körper, die unter dem Ausdruck Enhancement behandelt werden (Gesang 2007; Lenk 2002). Theoretisch reflektiert werden diese Beobachtungen im Rahmen der Biopolitik-, Biomacht- und Gouvernementalitätsstudien, die auf den Arbeiten von Foucault begründen (z. B. Foucault 1977; 1994, 2006). Es geht dabei, verkürzt gesprochen, um eine Kontrolle, Selbstdisziplinierung, Regulierung, Regierung und Ökonomisierung des menschlichen Körpers und dessen Handlungen (Bröckling et al. 2000; Bröckling 2007, 2008; Daele 2009; Dickel et al. 2011; Folkers/Lemke 2014; König 1989; Lemke 2007b; Rose 2007; Wehling et al. 2007). Die Verwendung des Begriffs Biopolitik schließt im Folgenden die Konzepte der Biomacht und Gouvernementalität nicht aus. Foucault nutzte diese als fluide Begriffskonzeptionen (z. B. Foucault 2016c: 1134–1135), die er im Verlauf seiner Überlegungen überarbeitete und dabei in ihrer Bedeutung weder eindeutig noch durchgängig voneinander abgrenzte (Lemke 2007a: 48–49, 52–53, 65–67). So zeigt Viehöver (2011b) am Beispiel der ästhetisch-plastischen Chirurgie das Verschwimmen der Grenzen zwischen Therapie und Verbesserung, als Sorge um den Körper und Prinzip einer methodischen Lebensführung. Karsch (2011) bezieht sich auf ADHS, um die (Un-)Eindeutigkeit und Konstruktion von Krankheit zu demonstrieren – oder eben im Fall von Gesundheit die natürlichen Grenzen auszuweiten. Nicht nur im Handeln, das in einer zunehmend technisierten Umgebung zwischen Mensch und Technik stattfindet, erlangt Technik eine gewisse Autonomie, sondern auch in ihrer Bedeutung (Rammert/Schubert 2017; Rammert/Schulz-Schaeffer 2002). Die Monografie von Lachmund (1997), welche die Geschichte des Stethoskops als soziale Konstruktion untersucht, ist in diesem Zusammenhang zu verorten. Neben der Genese des technischen Instruments
30 Zur Medizingeschichte der plastischen Chirurgie vgl. Leven (2006).
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stehen die Arzt-Patient-Beziehung, die konkrete Praktik und Situation im Mittelpunkt der Betrachtung.31. Mit der Durchsetzung des Stethoskops hat sich ein differenziertes und spezielles Wissen über den Körper herausgebildet, über das nur die geschulten Ärzt*innen verfügen. Erst die Einübung und der erfahrene Umgang mit dem Instrument ermöglicht die Deutungsmacht einer medizinischen Diagnose. Das Tragen eines Stethoskops symbolisiert diesen Zusammenhang und unterscheidet zwischen Expert*innen und Laien. Schubert (2011) verweist auf das Zusammenspiel von Körper, Technik und Wissen bei der Erfassung medizinischen Körperwissens, wobei das Abtasten durch das medizinische Fachpersonal, die intensivmedizinische Überwachung mit Apparaten und das Körperwissen der Patient*innen sich wechselseitig aufeinander beziehen. Mit dem Aufkommen von Robotern und künstlicher Intelligenz im Operationssaal verteilt und verlagert sich dieses Wissen auf Maschinen (Schubert 2006). Gleichzeitig wird das Wissen von Individuum, Wissenschaft und Technik (und damit auch die Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit) kleinteiliger und spezialisierter, so untersucht beispielsweise die Biomedizin feinste Gewebsproben und genetische Spuren (Rose 2007). Wenn Technik und Wissen den (medizinischen Arbeits-) Alltag und den Körper durchdringen, werden Wissenschaft und Gesellschaft immer technikaffiner, Technik und Gesellschaft immer stärker mit wissenschaftlichem Wissen besetzt (Lengersdorf/Wieser 2014; Rammert/Schubert 2017). So verändert sich mit dem Eintreten von Technik in den Alltag die Umgebung, für die sie geschaffen wurde. Mit diesen Verschiebungen scheinen machtvolle Dynamiken zusammenzuhängen. 1.1.2 Die Personenwaage als Verschränkung von Wissen, Macht und Körper Bis jetzt kann erstens festgehalten werden, dass Zahlen, Mittel- und Durchschnittsmaße im wissenschaftlichen als auch gesellschaftlichen Diskurs zu gehaltvollen Informationsträgern wurden, die von Anfang an nicht nur rein statistisch gedacht waren.32 Im Laufe der Zeit wurden diese unter anderem auch auf einer breiteren Ebene, also gesellschaftlich und gesundheitspolitisch sowie auf einer individuellen Ebene und im Kontext von alltagsbezogenen Handlungen relevant. Zweitens kamen Körperpraktiken und ein Körperbewusstsein auf, die
31 Vgl. hierzu auch Schubert (2011). 32 Vgl. hierzu die Arbeiten von Frommeld (2012, 2013, 2015). Weiterführend s. zum Beispiel Bonß (1982), Desrosières (2005), Döring (2011), Hess (1997b), Köhler (2008), Nikolow (2015), Spiekermann (2008) sowie Thoms (2000).
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sich mit Schönheit und der Sorge um das Körpergewicht assoziiert zu sein scheinen. Letzteres sollte sich, betrachtet aus dieser Perspektive, nicht im Bereich von Übergewicht befinden. Es bietet sich daher an, die Personenwaage im Zusammenhang von Macht/Wissen und Körper zu betrachten, denn das Gerät scheint nicht nur ein Instrument zum Wiegen zu sein. Vielmehr ist das Objekt eng in Prozesse eingebunden, die nicht nur momentan, sondern auch in der jüngeren Vergangenheit für Individuen, ihre Körper und ihre Lebensführung eine hohe gesellschaftliche Relevanz besitzen. Diese gesellschaftlichen Vorgänge könnten historisch begründet sein und auf der einen Seite mit technischen Entwicklungen zusammenhängen. Auf der anderen Seite scheinen diese sowohl mit Körperhandlungen und entsprechenden Kenntnissen als auch mit dem Erleben von Körper eng in Verbindung zu stehen. Die Personenwaage selbst gibt in Zahlen das Körpergewicht von Individuen an und bezieht sich damit als Messinstrument auf den Körper. Geht man von dem Stellenwert aus, den das Instrument seit einiger Zeit besitzt, kommt dem Wiegeergebnis eine Bedeutung zu, die mit der Identität von Personen assoziiert ist, denn es macht einen großen Unterschied, ob die Waage Unter-, Normal- oder Übergewicht misst. Das Artefakt ist momentan derart stark in den Alltag eingebunden, dass die Vermutung naheliegt, dass sich die Funktionsweisen der Waage aufgrund historischer Macht/Wissenskonstellationen verändert haben. Die Geschichte der Personenwaage soll daher als Wissensgeschichte betrachtet und die historischen Machtverhältnisse analysiert werden, die bei der Entwicklung und Durchsetzung dieses Instruments zum Tragen kommen. Das systematische Aufdecken einer Kombination von Macht/Wissen nennt Foucault (1974, 1976, 1977) Genealogie. Damit ist die Beschreibung sozialer Phänomene gemeint und wie diese sich auf welche Weise im gesellschaftlichen Diskurs durchgesetzt haben. So wie die Personenwaage derzeit von Individuen genutzt wird, liegt es nahe, Foucaults Machtanalytik einzubeziehen und mit wissenssoziologischen Überlegungen zu kombinieren. Foucault (1974) geht von einer Ordnung des Diskurses aus, mit der Macht erzeugt wird und die historischen Veränderungsprozessen unterworfen ist (Foucault 2016d: 730, 924). Der Körper ist politisch zu denken und wird von Macht durchdrungen (Foucault 2003). Hier unterscheidet Foucault in seinen Arbeiten zunächst zwei Machttechnologien, die ab dem 17. Jahrhundert entstanden, voneinander (Foucault 1993b: 32–36, 40-41, 2016c: 1133–1135). Beide haben sich im Entwicklungsprozess moderner Gesellschaften herausgebildet und mit beiden sind konkrete Ziele verknüpft. Während sich bei der einen die subtile Disziplinierung der Individuen im Vordergrund steht, ist die andere Machtform, die im 18. Jahrhundert aufkam, auf die Regulierung der Bevölkerung als Gesamtheit ausgerichtet (Lemke 2007a: 50–53). Es sind also
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sichtbare und unsichtbare Kontrollmechanismen, durch die sich beide Machttypen ausdrücken und in einer Normalisierungsgesellschaft an Geltungskraft gewinnen (Foucault 1993b: 40–41, 2016c: 1104–1106). Foucault konzentriert sich aber nicht ausschließlich auf eine repressive Macht, sondern eine, die produktiv ist: „Der Grund dafür, daß die Macht herrscht, daß man sie akzeptiert, liegt ganz einfach darin, daß sie […] die Körper durchdringt, Dinge produziert, Lust verursacht, Wissen hervorbringt, Diskurse produziert; man muß sie als ein produktives Netz auffassen, das den ganzen sozialen Körper durchzieht.“ (Foucault 1978: 35)
Dabei stehen Taktiken und Strategien im Fokus, die den Diskurs lenken und ihn dadurch verändern: „Machtausübung bezeichnet nicht einfach ein Verhältnis zwischen individuellen und kollektiven Partnern, sondern die Wirkungsweise gewisser Handlungen, die andere verändern.“ (Foucault 1994: 254) In dieser Studie soll nachgezeichnet werden, wie es sich im Diskurs etabliert hat, in einer besonderen Art und Weise über die Personenwaage zu sprechen und wie sich dadurch bestimmte Eigenschaften, Fähigkeiten oder Aufgaben des Instruments konstituierten.
FRAGESTELLUNGEN UND QUELLEN Aus dem Forschungsstand gehen interdiskursive Verflechtungen im Bereich von Technik, Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit hervor, die mit der Entwicklung des Instruments und von Praktiken der Selbstvermessung in Verbindung zu stehen scheinen. Der Foucaultsche Begriff der Praktik wird in der Diskursivität des Diskurses verortet und ist mit Sprechakten, Handlungen wie Interaktionen,33 die nicht nur handelnde Subjekte oder Kollektive, sondern auch Gegenstände wie die Waage einschließen können, dynamisch verwoben. Vor diesem Hintergrund sind Aussagen, die als Handlungsaufforderungen und -anreize zu verstehen sind, von besonderer Bedeutung. Dazu zählt auch der Aspekt, dass Diskurse nicht nur Aussagen hervorbringen, sondern auch die eben genannten Praktiken, Wissen und Dinge: Im Zentrum der Arbeit steht die Personenwaage als Instrument. Ziel ist es, einen Diskurs zu analysieren, in dem sich die Implementierung der Waage widerspiegelt. Es schließt sich deshalb die zentrale Frage an, ob sich aus dem
33 Zentrale Begrifflichkeiten werden in Kapitel 2.1 erklärt.
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untersuchten Diskurs konkrete Hinweise ergeben, wie der Zweck und die Bestimmung der Personenwaage verstanden wurde. Daneben wird vermutet, dass sich mit der Personenwaage früh bestimmte (Macht-)Interessen verbunden haben, die sich als Wissensregime formiert haben. Wie legitimes Wissen über die Personenwaage in spezifischen Teildiskursen entwickelt, verändert und aktualisiert wird, wird als Wissensregime verstanden. Der analytische Blick auf Wissensregime ermöglicht, gesellschaftliche Wissensformen in bestimmten historischen Gegebenheiten zu untersuchen und implizite hierarchische Ordnungen von Wissen herauszuarbeiten (Wehling 2007). Im Anschluss an Foucault geht es einer solchen Untersuchung darum, die „Kontingenz und Historizität etablierter scheinbar selbstverständlicher Regeln und Kriterien der Wissenserzeugung, -verwendung und -bewertung“ sichtbar zu machen (ebd.: 704). Das Vorhaben besteht aus einer offenen Herangehensweise an die Wissensgeschichte des Instruments, welche nach den Regelmäßigkeiten von Macht/Wissen im Diskurs fragt. Wann und wie sich Wissensregime wandeln und Effekte gesellschaftlicher Art bewirken, wenn diese in besonderer Weise in Teildiskursen oder der Öffentlichkeit hervortreten, gehört zum Interesse dieser Diskursanalyse. So machten es beispielsweise Ingenieure in der Vergangenheit möglich, mit einem technischen Instrument das Körpergewicht von Personen zu bestimmen. Jedoch scheint das Wissen über die Waage in verschiedenen diskursiven Konstellationen verarbeitet worden zu sein, so dass das Artefakt zu einem gesellschaftlichen Phänomen wurde. Möglicherweise ergeben sich aus der Genealogie der Personenwaage „Machtverteilungen“ und „Wissensaneignungen“, die das komplexe Zusammenwirken und -handeln von Artefakt, Subjekt, Körper und Gesellschaft zu erklären vermögen (Foucault 2016c: 1103). Aus diesen theoretischen Überlegungen folgt die folgende Forschungsfrage: Lassen sich aus den Aussagen in den Patentdokumenten Hinweise ableiten, welche auf Praktiken, Mechanismen und Ordnungen schließen lassen, die mit der Überwachung des Körpergewichts zusammenhängen? Eine Erfindung, die von einem an sich abstrakten technischen Ding oder Artefakt zu einem essenziellen Instrument im Alltag von Individuen geworden ist, mit dem diese sich scheinbar völlig freiwillig und regelmäßig selbst messen und bewerten, würde dann eine Biopolitik der Personenwaage bedeuten. Mit diesem Begriff wird im Anschluss an Foucault das diskursive Feld des Instruments in Richtung Macht/Wissen analysiert. Im Verlauf der Entwicklung des Artefakts werden die Praktiken ausgelotet, die mit dem Instrument eingeführt wurden. Es geht also
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darum zu fragen, inwieweit die Messung des Körpergewichts mit dem Gerät in einer Beziehung zu einem disziplinierenden und/oder regulierenden Machteingriff steht. Die von Foucault entwickelte Forschungsperspektive wird als Anleitung verstanden, auf ein veralltäglichtes Zusammenspiel von Macht/Wissen zu achten, ohne dadurch jedoch die Sicht auf den Forschungsgegenstand von vornherein zu verstellen. Der wechselhafte und (re-)produktive Charakter von Diskursen wird dabei mitgedacht (ebd.: 1104–1106), wobei die Dynamik der Machtausübung ein besonderes Forschungsinteresse darstellt. Denkbar ist, dass sich diese in der Genealogie der Personenwaage verändert. Das, was über das Artefakt gesagt wird, soll in dieser Untersuchung jedoch nicht erschöpfend behandelt werden, sondern konzentriert sich auf einen Bereich, der in enger Beziehung zur Hervorbringung des Instruments, die Kommunikation über deren Gebrauch und deren gesellschaftlichen Rolle steht. 1.2.1 Drei Teildiskurse im Fokus Um die Genealogie der Personenwaage in historischen und sozialen Wirklichkeiten nachvollziehen zu können, werden verschiedene Quellen herangezogen. Hierzu werden drei interdependente Teildiskurse analysiert, die das Gesamtkorpus der Untersuchung bilden. Wenn diese Diskurse über die Jahre konsistent bleiben, kann sich daraus auch Geltungskraft in der Gegenwart entfalten. In dem Fall lässt sich aus den untersuchten Diskursfeldern die Konstruktion eines gesellschaftlich-allgemeingültigen Wissens über die Personenwaage nachvollziehen und somit auch, weshalb das Gerät heute zu einer durchschnittlichen, modernen Haushaltsausstattung gehört. Es muss betont werden, dass alle einbezogenen Quellen nur einen Teil des Gesamtdiskurses abbilden können. Die Studie, ihre Quellen und die daraus gezogenen Schlüsse dienen als exemplarischer Ausschnitt einer schriftlich (oder bildlich) fixierten Realität. Es werden deshalb mitunter Quellen verwendet, die sich auf den ersten Blick sehr stark von einem allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs über Wissen, Macht und Körper unterscheiden, um zu durchdringen, ob sich darin bestimmte Aussagen und Argumentationsstrukturen über genau diese Dimensionen wiederfinden. Auf diese Weise kann rekonstruiert werden, welches Wissen und welche Macht/Wissen-Komplexe bereits sehr früh an die Personenwaage gebunden waren und ob sich typische Muster ableiten lassen, die möglicherweise auch in weiteren untersuchten Materialien sichtbar werden. Genau dieses Vorgehen unterstützt den Ansatz eines offenen Herangehens. Es wird dabei keine Kategorisierung im Sinne einer Bewertung der Quellen als Sprach- oder Bildquellen vorgenommen, es zählt der inhaltliche Bezug zur
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Fragestellung. Es geht auch nicht darum, eine Kausalität zu beweisen oder den Diskurs der Personenwaage vollumfänglich abzubilden. Das ist aufgrund der Komplexität des Themas und unzureichender Datenlage, vor allem bei den historischen Quellen, nicht möglich. So wird die potentielle Verwendung der Waage im Zeitverlauf nur so weit rekonstruiert, als dass nach den diskursiven Praktiken solcher Akteure gefragt wird, welche in gesellschaftlicher Hinsicht legitimiert sind, das Messinstrument einzuführen und eine Wirkung auf dessen Bedeutung auszuüben. Um aber einem neuen technischen Gerät im Diskurs Geltung und Sichtbarkeit zu verschaffen, müssen gewisse Regeln eingehalten werden (Foucault 2016a: 18–19), wie zum Beispiel die Anmeldung zum Patent. Ein Spezialdiskurs der Erfindungen Mit der Entwicklung eines technischen Geräts wie der Personenwaage ist die Hervorbringung von Wissen verbunden. Patentdokumente gewährleisten den Schutz dieses fundamental neuen Wissens. Im Zuge eines erhöhten Konkurrenzdrucks im globalen ökonomischen Wettbewerb nimmt die Bedeutung von Patenten seit einiger Zeit immer stärker zu (Mersch 2013: 19): „Das Patent scheint demnach – ähnlich wie das Urheberrecht und andere geistige Eigentumsrechte – eng mit wesentlichen Merkmalen und Akteuren der modernen Gesellschaft und deren Entwicklung verflochten zu sein.“ (Ebd.) Patente und andere gewerbliche Schutzrechte wie das Gebrauchsmuster sind als Teil einer Wissensgesellschaft zu begreifen, deren typisches Merkmal die Hervorbringung von (neuem) Wissen darstellt (Stehr 1994, 2001; Willke 1998). Patentdokumente beziehen sich auf Innovationen, die ein hohes Potential haben, in Zukunft erfolgreich vermarktet werden zu können. Gleichzeitig stellen diese Dokumente schriftliche Zeugnisse eines beginnenden öffentlichen Diskurses34 über technische Artefakte ab. Innerhalb des gesamten Lebenszyklus eines Produkts bilden Patentdokumente also dessen Entstehung in einem Spezialdiskurs ab. Bei der Entwicklung von Innovationen stellt die Anmeldung als Patent oder Gebrauchsmuster bereits den zweiten Schritt nach einer Idee oder Entdeckung dar
34 Keller (2011a: 68, 2011b: 235) verortet öffentliche Diskurse stark in den Massenmedien. In dieser Untersuchung werden öffentliche Diskurse zunächst als Teildiskurse eines Gesamtdiskurses verstanden, die potentiell mit einer Öffentlichkeit geteilt werden, also sprachliche Inhalte mit einer bestimmten Absicht den privaten Raum verlassen und öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies trifft auf die Patentdokumente zu. Da Erfindungen allerdings Gegenstand eines sehr speziellen, gesellschaftlichen
Teildiskurses
sind,
werden
die
Spezialdiskurs zugeordnet (Keller 2011a: 68, 2011b: 235).
Patentdokumente
einem
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(Lahner/Erhard 1969: 425–426). Die Erfindung hat damit große Chancen, auf dem Markt eingeführt und in der Zukunft sogar in den Alltag implementiert zu werden. Relevant ist der Zeitpunkt der Anmeldung eines Patents oder Gebrauchsmusters, denn spätestens ab diesem Datum wird ein Produkt in gesellschaftlicher Hinsicht relevant. Dies bedeutet, dass die Hintergründe, Ideen und Begründungen, die einem solchen Dokument zugrunde liegen, mit Dritten, einer Institution und schließlich auch einer (potentiellen) Öffentlichkeit geteilt werden. Foucault geht davon aus, dass bei der Generierung von (neuem) Wissen die Macht der Fixationspunkt ist, der „Wissen hervorbringt (und nicht bloß fördert, anwendet, ausnutzt); daß Macht und Wissen einander unmittelbar einschließen; dass es keine Machtbeziehung gibt, ohne daß sich ein entsprechendes Wissensfeld konstituiert und kein Wissen, das nicht gleichzeitig Machtbeziehungen voraussetzt und konstituiert.“ (Foucault 2016d: 730) In einer Genealogie der Personenwaage spielen Patentdokumente eine elementare Rolle, weil diese den jeweils neuesten Stand der Wissenschaft, Technik und Forschung widerspiegeln. Um herauszufinden, zu welchem Zweck die Personenwaage eingeführt werden sollte und wie sich diese Beweggründe, die hinter den Erfindungen standen über die Zeit hinweg änderten, wurden Patentdokumente als Quellen ausgewählt. Diese repräsentieren die Entwicklung eines technischen Geräts und verkörpern den allgemeinen technischen und ökonomischen Fortschritt in einer Gesellschaft, weshalb die Dokumente Aufschluss über gewisse (Macht-)Verhältnisse geben können. Nach Foucault geht es bei einer Diskursanalyse um die Produktivität des Diskurses, also darum, welche Dynamiken zwischen Macht/Wissen bestehen und die Integration des Diskurses in das gesellschaftliche Geschehen zu einem spezifischen, historischen Zeitpunkt (Foucault 2016c: 1105). Für die Analyse der Vergangenheit der Personenwaage und dem damit verbundenen Wissen eignet sich also umso mehr eine diskursanalytische Herangehensweise, die von der Wissenssoziologie inspiriert ist. Die für diese Studie geeignete Variante der Diskursanalyse wird aus den Weiterentwicklungen der Foucaultschen Diskursanalyse von Keller und Landwehr hergeleitet und wird in Kapitel 2 erklärt. Diese soll mit einem heuristisch-entwickelnden Vorgehen umgesetzt werden. Weitere Quellengattungen, die hinzugezogen werden, haben eine ergänzende Funktion, weshalb diese Teildiskurse nicht den gesamten Untersuchungszeitraum abdecken, den die Analyse der Patentdokumente umfasst. Diese Texte (aber auch Tabellen und Bilder) werden gezielt ausgewählt und flankieren die Analyse der Patentdokumente in verschiedenen Phasen der Studie. So spielt die Verzahnung von Teildiskursen in diskursanalytischer Hinsicht eine essenzielle Rolle, aber gerade im komplexen diskursiven Feld der Personenwaage sind weitere
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Quellenmaterialien von Belang, wenn es darum geht, Zusammenhänge zu erfassen und einzelne Veränderungen sowohl im Spezialdiskurs als auch im Diskurs über das Messinstrument rekonstruieren zu können. Auswahlkriterien sind der jeweilige inhaltliche Bezug sowohl zur Personenwaage als auch zur Fragestellung sowie Bekanntheitsgrad, Rezeption, Auflagenstärke und Verfügbarkeit der Schriftstücke. Bevor jedoch weitere Teildiskurse näher betrachtet werden, bleibt Folgendes festzuhalten: Patentdokumente sind verschriftliche Quellen und greifen das Wissen auf, das mit diesem technischen Instrument zum Zeitpunkt seiner Erfindung verbunden war. Dabei wird zu zeigen sein, ob in diesen formellen Dokumenten über die heute so wichtige Überwachung des Körpergewichts gesprochen wurde und wenn ja, wie diese Körperpraktiken vorgestellt wurden. Gerade diese Aspekte der Personenwaage drängten sich auf, im Rahmen der Genealogie des Instruments analysiert zu werden, denn diese spielen in der anhaltenden Debatte um Übergewicht und Schlankheitskult sowohl im (populär-) wissenschaftlichen Diskurs als auch in den Massenmedien eine bedeutende Rolle. Setzt man die Etymologie des Begriffs Membran (Duden Online o. J.a) und die Überlegungen von Foucault zueinander in Bezug, ergibt sich im übertragenen Sinn folgendes Bild: Die Patentdokumente fungieren als Innovationsdiskurs und nehmen die Funktion einer Wissensmembran ein, die Wissen auffängt, verarbeitet und weitergibt. Membrane können schwingen und dadurch Wissen verteilen, sie grenzen sich als Spezialdiskurs von anderen Teildiskursen ab, bleiben jedoch durchlässig und filtern Wissen. Ein wissenschaftlicher Spezialdiskurs Das charakteristische Spezifikum und Ausgangspunkt der Untersuchung bilden Patentdokumente, deren Sprache jedoch begrenzt ist und deshalb ergänzt wird. Um die diskursiven Vorgänge rund um den Anmeldevorgang, der einer Erfindung folgt und die Patentdokumente als Datenquellen überhaupt verstehbar zu machen, reicht es nicht aus, im Diskursfeld der Personenwaage allein diesen Spezialdiskurs zu untersuchen. Zur Erklärung, wie Wissen im Zuge der Erstellung von Patentdokumenten organisiert, (weiter-)verarbeitet, geordnet und formalisiert wird, werden weitere Quellen hinzugezogen. Ergänzend wird eine Analyse der historischen Gegebenheiten vorgenommen, aus denen heraus erst die Ideen entstehen sollten, welche zur Personenwaage führten. Erfolgreiche Innovationen werden im Zeitverlauf aktualisiert, weshalb die Entwicklungen bis in die Gegenwart hinein betrachtet werden. Dieser wissenschaftliche Teildiskurs, so Foucault, ordnet das Wissen über die Personenwaage über die gesamte Zeitspanne
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und bestimmt die Gültigkeit von richtigem, wahrem Wissen (Foucault 2016c: 1069-1070, 1076-1078). Erfindungen, Patente und Gebrauchsmuster spielen im Diskursfeld von Technik, Recht und Wissenschaft seit jeher eine zentrale Rolle.35 Zunächst wurde eine ausführliche Studie von Primär- und Sekundärliteratur zum Patentwesen durchgeführt. Es sind vor allem die Schriften des Deutschen Patent- und Markenamts (DPMA), die eine sachgerechte Einbettung und Ordnung der Dokumente ermöglichen. Rechtsordnungen wie die Patentgesetzgebung fungieren als Strategien, durch die Patentdokumente eine entscheidende Funktion bei der Erlangung eines Schutzrechtes einnehmen. Diese legen nicht nur den formalen wie inhaltlichen Aufbau der Dokumente fest, sondern auch alle Handlungen, ohne die keine Erteilung eines Patents oder Gebrauchsmusters erfolgt. Die Wirtschaftsund Rechtsgeschichte gibt zudem Aufschluss über die Historie des deutschen Patentrechts, die Boch (1999) sowie Otto/Klippel (2015) behandeln. Die internationalen Entwicklungen zeigt Machlup (1958) auf. Einen allgemeinen Überblick bietet Hering (1982), sowie die kommentierten Gesetzestexte mit ihren Abschnitten zum historischen Patent- und Gebrauchsmusterschutz (Benkard 2015; Busse 2013b). Fachzeitschriften wie GRUR (Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht) erklären die Historie von Schutzrechten (z. B. Bluhm 1952). Diese Ausführungen sind bewusst nicht zu kurzgehalten, um die tatsächlich fachfremde Annäherung und Analyse dieses Teildiskurses überhaupt zu ermöglichen. Insofern geschehen durch institutionelle Vorgaben und Abläufe machtvolle Effekte. Diese ordnen nicht nur die Hervorbringung eines Patents oder Gebrauchsmusters, sondern regeln auch die typischen Merkmale sowie Aussagen des Dokuments an sich und damit das Wissen, das in diskursiver Hinsicht für die Genealogie der Personenwaage von Belang ist. So stellt Kemp (1989: 22) fest, dass es wenige Textquellen und Objekte zu vergangenen Ausführungen von Münzautomaten gibt – unter denen sich auch Personenwaagen befinden –, weshalb Patente und Gebrauchsmuster eine wichtige Quelle für eine Untersuchung von Technik36 darstellen.
35 Vgl. hierzu zum Beispiel die rechtshistorischen Arbeiten von Seckelmann (2006) und Übler (2014). 36 Patente und Gebrauchsmuster werden in dem Sammelband zur Geschichte der Münzautomaten von Kemp/Gierlinger (1989) auch in den Beiträgen von Dering (1989), Haberbosch/Degener-Boning (1989), Hepner (1989) und Gierlinger (1989) herangezogen, stellen aber nur eine ergänzende Quelle dar.
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Aus dem Forschungsstand resultieren spezifische Anknüpfungspunkte, die als Ausgangsbasis für die diskursive Verhandlung der Personenwaage fungieren. Hierzu wird ein Teildiskurs untersucht, in dem messende Verfahren beschrieben werden, mit denen Individuen verglichen werden. Konkret gesprochen, geht es um die wissenschaftliche Bewertung von Körpern, die im Kontext von Anthropometrie, Militär und Medizin erfolgt und als Forschungsliteratur sowie in Form von Lehr- und Handbüchern vorliegt. Die darin präsentierten Abhandlungen, Ergebnisse und Überlegungen dienen einerseits der Rekonstruktion diskursiv bedeutsamer Elemente, so genannter Machtverteilungen und Wissensaneignungen, wodurch bestimmtes Wissen als Wahrheit anerkannt wird (Foucault 2016c: 1103, 1069-1070, 1076-1078). Dazu zählen zum Beispiel medizinische Indikationen, welche diskutiert werden und für bestimmte Zustände wie Krankheiten als notwendig erachtet werden. Andererseits stellt jede wissenschaftliche Literatur ein Zeugnis des Wissensbestands zu einem bestimmten Zeitpunkt dar, in dem die Auseinandersetzung mit einer spezifischen Thematik erfolgt, wodurch sich die Teildiskurse und ein Diskurs verändern können. Eine Zwischenstellung zwischen dem wissenschaftlichen und öffentlichen Teildiskurs nehmen Kataloge zu historischen Warenausstellungen, wissenschaftliche Tabellen, Ratgeberliteratur und Lexika ein. Auch diese Texte führten Neuerungen im Diskurs ein und definierten den Gebrauch von neuen Begriffen, Praktiken und einer Technik, die damit verbunden ist. Ein öffentlicher Diskurs Die Analyse der Patentdokumente kann erstens die Überlegungen und Intentionen der Erfinder*innen, den Stand der technischen Entwicklung sowie den Bedarf und die Nachfrage nach einem technischen Instrument über einen langen Zeitraum wiedergeben. Es wird davon ausgegangen, dass auch der Zweck und die Bestimmung des Geräts in diesen Quellen definiert werden. Zweitens wird angenommen, dass der wissenschaftliche Diskurs, der mit der Personenwaage in Verbindung steht, Wahrheit generiert – etwa, welches Verhalten als normal oder pathologisch gilt (Foucault 2016c: 1079–1080). Diese Diskurse rangieren als Teildiskurse im Diskurs über die Personenwaage und finden innerhalb von Teilöffentlichkeiten statt. Um drittens die Implementierung der Personenwaage auf der Basis eines öffentlichen Diskurses nachzeichnen zu können, werden Presse- und Medieninhalte wie Zeitschriften, die Internetberichterstattung beispielsweise in Form von Blogs und Medientechnologien wie Apps als geeignete Grundlage erachtet. Damit soll die kulturelle Verbreitung des Wissens über die Personenwaage in der Gesellschaft – also die Veralltäglichung des Messinstruments – nachvollzogen werden. In Anlehnung an Foucault können
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öffentliche Diskurse als Schnittmenge verschiedener Teildiskurse aufgefasst werden (Link 2018: 80). Massenmedien stehen unter dem Einfluss öffentlicher und privatwirtschaftlicher Institutionen, sie verarbeiten die Wahrheit anderer Teildiskurse, reproduzieren diese und geben Wissen an die Gesellschaft weiter (Foucault 1978: 51–52). In der Kommunikationsforschung werden Massenmedien als diskursive Elemente aufgefasst, die relativ flexibel auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren und Wissen verbreiten (Straßner 1999: 861–862; Vogel 2002: 12). Dabei wird das Ziel verfolgt, bei den Leser*innen, Rezipient*innen und Nutzer*innen bestimmte Wirkungen zu erreichen. Aus der Reihe der Publikumszeitschriften bieten sich deshalb Zeitschriften an, die einen unterhaltenden und beratenden Auftrag verfolgen. Dazu gehören auch Frauenzeitschriften (Menhard/Treede 2004: 21; Straßner 1999: 862). Bei der Auswahl der Zeitschrift waren darüber hinaus drei Faktoren entscheidend. Zunächst die Popularität, da eine hohe Auflagenstärke prinzipiell auch eine Erreichbarkeit einer großen Leser*innenschaft bedeutet; dann deren Erscheinen über einen längeren Zeitraum hinweg, um die Bedeutung und Verbreitung der Personenwaage bis heute untersuchen zu können und schließlich die tatsächliche wie wiederkehrende Thematisierung der Personenwaage. Aus der Sichtung der verfügbaren Zeitschriften, die im Zeitraum der untersuchten Patentdokumente erschienen sind, erfüllt die „Brigitte“ alle genannten Kriterien. Diese Publikumszeitschrift erreicht seit Ende der 1950er Jahre als auflagenstärkste Frauenzeitschrift die meisten Leser*innen (Feldmann-Neubert 1991: 89; IVW 2016: 199). In der Untersuchung von Richter (2011) wird unter anderem die „Brigitte“ ausgewertet und eine Art „Diät-Regime“ beschrieben, das in der „Brigitte“ zwischen 1954 und 1979 propagiert wurde (ebd.: 23–28). In Arbeiten, die sich auf die visuelle Darstellung in „Brigitte“-Heften beziehen, wird nachgewiesen, dass die Zeitschrift dazu beitrug, das weibliche Schönheitsideal mit einer schlanken Figur zu verbreiten (Horvath 2000: 346–347; Schumacher 1984: 134–136; Ulze 1977: 239–240). Der Verkauf von Werbeanzeigen ist ein zentrales Merkmal von (Frauen-)Zeitschriften (Kill 1957: 87; Menhard/Treede 2004: 267). Die Anzeigen selbst spiegeln die wirtschaftliche und gesellschaftliche Situation wider (Sowinski 2001: 1729, 1733). Dadurch eignen sich diese Bestandteile von Zeitschriften neben Artikeln für eine diskursanalytische Untersuchung. Die Darstellung von Produkten rund um ein „Diät-Regime“ könnte in den Werbebotschaften in der „Brigitte“ an die Personenwaage gekoppelt sein. Dabei fungieren Frauen nicht nur als Hauptadressatinnen der Zeitschrift, sondern das westliche Schlankheitsideal richtete sich bis in die 1970er Jahre hinein hauptsächlich an Frauen (Schorb 2015: 36–37). Es liegt also nahe, dass es in der „Brigitte“ Hinweise gibt, die darauf schließen lassen, dass das Messen des eigenen
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Körpergewichts ein wichtiger Bestandteil für Subjekte (und speziell für Frauen) im Alltag wurde. Auch bei der App „Freeletics“ könnte ein ähnlicher Zusammenhang bestehen. „Freeletics“ ist ein Fitnessprogramm, das über eine App praktiziert wird und bis auf wenige Ausnahmen nur mit dem eigenen Körpergewicht funktioniert. Es richtet sich auf die Modellierung des Körpers von Frauen und Männern, das Abnehmen von Körpergewicht und fokussiert aber auch auf eine Leistungsverbesserung von Körper und Geist der Athlet*innen, wie die Sportler*innen bei „Freeletics“ genannt werden (Freeletics 2017; Freeletics GmbH 2017). Im März 2013 wurde die erste Version der App für Apple-Produkte veröffentlicht, wenige Monate später ging die Homepage online (Penke 2017). Die Anzahl der Nutzer*innen stieg schnell, so betrug diese im März 2016 sechs Millionen und macht die Anwendung seit einigen Jahren zu einer der erfolgreichsten Gesundheits- und Fitness-Apps Deutschlands im Google Play Store (ebd.; Priori Data o. J.). Darüber hinaus fungiert die App als typischer Vertreter eines schnell wachsenden Online-Unternehmens, das aus einem Start-up hervorging, rasch weltweit expandiert und sich flexibel an die Veränderungen auf dem Markt anpasst. Ziel ist es, „Freeletics als stärkste digitale Sport- und Lifestylemarke weltweit zu etablieren sowie das Produktportfolio ständig zu optimieren und erweitern.“ (Gründerszene 2015) Um die verschiedenen Teildiskurse miteinander vergleichen zu können, wurden mit Hilfe einer selektiven Analyse Artikel (und Anzeigen) aus der „Brigitte“ und den InternetAuftritten von „Freeletics“ bestimmt. Diese gingen aus einer systematischen Durchsicht hervor und stehen beispielhaft für die Diskursstrategien, die von diesen Medien ausgehen. 1.2.2 Die konkreten Fragestellungen Es wird davon ausgegangen, dass in dem aufgeführten Quellenmaterial über den Gebrauch der Personenwaage gesprochen wird, dass dieses sinnhaftes, zum Beispiel auf den Körper bezogenes Handeln widerspiegelt und damit das historische und soziale Verhältnis zwischen Instrument, Subjekt und Körper begründet wurde: „All das sind Medien der Objektivierung von Sinn, deren Gebrauch gebunden ist an eine spezifische Form der Materialität, in der die vermittelten Botschaften allein greifbar werden.“ (List 1997: 173) Die vorgestellten Quellen stellen, ausgehend von einem institutionell getragenen Innovationsdiskurs, Akte des sprachlichen Vermittelns dar und werden aufgrund dieser diskursiven Eigenschaft als soziale Handlungen verstanden (Busse 1987: 101–102; Keller 2011b: 266; Landwehr 2009: 114). Daraus geht hervor, dass bestimmte Quellen nicht nur Aufschluss über die Historizität von Dingen, sondern
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auch über deren Einbettung in den Alltag und ein spezifisches Körperwissen geben können. Es geht dabei nicht um die technische Konstruktion des Geräts, sondern um die Aussagen, die eingesetzt werden, um die Erfindung und ihre Eigenschaften, Bestimmung sowie Nutzwert zu beschreiben. Soweit damit Aussagen zum Aufbau und zur Funktion des Instruments verbunden sind, werden auch diese miteinbezogen. Spezifische kommunikative Muster könnten als Wissensregime fungieren und die Kriterien der Personenwaage festgelegt haben. Die Fragen an das Datenmaterial setzen sich aus folgendem ersten Fragekomplex zur Rolle und Funktion der Personenwaage zusammen: x Lässt sich in der Entwicklungsgeschichte der Personenwaage ein Prototyp
bestimmen, der sich nach und nach für den täglichen Gebrauch durchgesetzt hat? x Wie sind Einsatzmöglichkeit und Gebrauchsweisen der Personenwaage definiert? x Welche Vorteile und Nutzen der Personenwaage werden angesprochen? In einer diskursanalytischen Studie geht es auch um die Inszenierung von Aussagen, mit denen Phänomene konstituiert werden (Keller 2011b: 265, 267– 268; Landwehr 2009: 110–111, 117–120). So scheint das Messinstrument eine moralische Aufforderung zu besitzen, dem Normal- oder Optimalgewicht zu entsprechen, um der gesellschaftlichen Vorstellung von Gesundheit und Schönheit zu entsprechen. Eine möglichst dauerhafte Verortung des Körpergewichts in diesem Bereich gilt dabei als Desideratum und ein Gewicht, das sich nicht in diesem Bereich befindet, zieht Konsequenzen wie zum Beispiel Diäten nach sich. Die Teildiskurse werden dazu zueinander in Beziehung gesetzt, um solche Praktiken, die sich der Erfindung der Personenwaage anschließen, zu rekonstruieren. Aus dem Datenmaterial soll erschlossen werden, inwieweit das Instrument gewisse (biopolitische) Botschaften transportiert oder vermittelt. Vermutet wird, dass mit dem Messinstrument die Grundlagen für das gegenwärtige Diät-Regime und den modernen Fitnesskult geschaffen wurden. Der zweite Fragekomplex untersucht deshalb die Einführung der Personenwaage als (machtvolles) Instrument. x Gibt es eine Typologie der Personenwaage? Werden wiederkehrende Alltags-
situationen, Szenarien, Problematiken, Handlungsangebote oder -anweisungen mit der Personenwaage verbunden?
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x Gibt
es Aussagen, die auf eine (systematische) Überwachung des Körpergewichts hindeuten? Wenn dem so ist, wie lassen sich die angesprochenen Botschaften strukturieren? x Wird über die Personenwaage in allen Teildiskursen gleich oder ähnlich gesprochen? Verstärken sich die Effekte, das heißt existiert ein Zusammenhang zwischen den Teildiskursen und den einzelnen Ausschnitten daraus (Samples)? Besteht auch eine Verbindung zwischen dem, was in den Patentdokumenten und in Printmedien wie der „Brigitte“ über die Waage gesagt wird? x Auf welche Weise werden die Benefits der Waage beschrieben? Wie lassen sich die Sprache oder Bilder, die dazu herangezogen werden, deuten? Es geht nicht darum, ein vollständiges Modell der beteiligten Produzent*innen, Adressat*innen und Rezipient*innen des Diskurses zu entwerfen, diese zu beobachten, zu befragen oder gar eine Art Enthüllungsjournalismus zu betreiben, um Schuldige am Schlankheitswahn zu beziffern. Zwar sind Forschende in einem gewissen Rahmen voreingenommen, was spätestens die intensiven Vorarbeiten bewirken, wodurch sich unwillentlich Annahmen über einen möglichen Verlauf der Untersuchung bilden.37 Es geht vielmehr um eine intersubjektive, nachvollziehbare Rekonstruktion von Technik, deren Genese Teil eines vielschichtigen Prozesses und Komplexes ist.
AUFBAU DER UNTERSUCHUNG Nach diesen grundsätzlichen Überlegungen legt das folgende Kapitel 2 den theoretischen Rahmen der wissenssoziologisch inspirierten, diskursanalytischen Untersuchung dar. Die empirisch-analytische Untersuchung entwickelt mit dieser Forschungsperspektive aus Aussagen und Wissensbeständen, die im Datenmaterial fixiert sind, theoretische Kategorien. Das Kapitel erklärt die dazu erforderlichen konkreten Untersuchungsschritte und schließt – was das Forschungsdesign angeht – an die Ausführungen zu den Fragestellungen und Quellen der Studie in diesem Kapitel 1 an. Der nächste Schritt in Kapitel 3 setzt sich aus drei
37 Das Postulat der Unvoreingenommenheit des Forschers wird von verschiedenen Seiten in Frage gestellt beziehungsweise es wird für eine Auflockerung plädiert (Dreißig 2005: 44; Huber 2010: 33–34; Karsch 2015: 17–18). Ein Mittelweg zwischen Offenheit für den Forschungsgegenstand und Vorwissen, das die Forschung nutzbringend leiten kann, scheint in der Praxis besser geeignet zu sein als Annahmen durch Vorarbeiten generell abzulehnen, s. auch Kapitel 2.2.
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Elementen zusammen. Dazu wird im ersten Abschnitt die institutionelle Ordnung innerhalb des Innovationsdiskurses erschlossen und Erfindungen in ihrer gesellschaftlichen Bedeutsamkeit untersucht. Ein spezieller Fokus liegt auf der Darstellung des Anmeldeverfahrens von Erfindungen seit 1877 bis heute. Die Konstruktion des Korpus wird anschließend erklärt. Dabei wird auch dargelegt, mit welcher Systematik neben den Patentdokumenten kursorisch Quellen aus dem wissenschaftlichen und öffentlichen Teildiskurs hinzugezogen werden. Der dritte Abschnitt präsentiert erste Ergebnisse, die aus einer Analyse ausgewählter Patentdokumente und der Gegenüberstellung der verschiedenen Teildiskurse hervorgehen und reflektiert diese Befunde in ihrer gesellschaftstheoretischen Bedeutung. Die Analyse erfolgt chronologisch und erstreckt sich in etwa von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in das junge 21. Jahrhundert. Kapitel 4 untersucht die Vorgeschichte des Instruments und die Vermessung von Individuen. Kapitel 5 setzt die systematische Auswertung und Interpretation der Patentdokumente fort. Dies erfolgt entlang einer Klassifizierung der verschiedenen Ausführungen der Personenwaage und mit Hilfe zahlreicher Belege aus den Patentdokumenten. Dabei zeigt sich, dass sich eine Variante der Personenwaage im Diskurs durchsetzt. Kapitel 6 und 7 setzen die Vorgehensweise von Kapitel 5 fort. Beide Abschnitte verknüpfen die Diskussion eines Wissensregimes mit der Rekonstruktion der jüngeren Genealogie des Instruments. Hier geht es um die Entwicklung des Artefakts ab 1990 bis heute, aber auch darum, ob die Vorgeschichte des Self-Trackings mit der Erfindung der Personenwaage zusammenhängt. Dabei werden die (nicht-)diskursiven Praktiken, die im Zusammenhang mit einem Wissensregime des Artefakts in den Teildiskursen ausgehandelt wurden, in ihrem gegenwärtigen Alltagsbezug diskutiert. Daneben rekapituliert Kapitel 7 die Ergebnisse aus den Kapiteln 4 bis 6 und konkretisiert den Beitrag der Studie zu einer Soziologie und Geschichte der Selbstvermessung. Das abschließende Kapitel 8 resümiert die Genealogie der Personenwaage als Wissensgeschichte, reflektiert die gegenwärtige Rolle des Instruments und nimmt einen Ausblick auf zukünftige Entwicklungen vor.
2
Methodologie und Forschungsdesign der diskursanalytischen Studie
Ziel dieses zweiten Kapitels ist die Entwicklung eines Forschungsdesigns. Um das Phänomen Personenwaage historisch bearbeiten zu können und dabei auch bestimmte gesellschaftliche Problemstellungen zu untersuchen, die mit dem Artefakt assoziiert sind, ist diese Studie in einem interdisziplinären Zusammenhang angesiedelt. Forschung wird interdisziplinär, wenn die Forschungsaktivität mehrere wissenschaftliche Bereiche umfasst (Huutoniemi et al. 2010: 82).1 Für einen erfolgreichen interdisziplinären Austausch gilt es, die Zuständigkeiten der einzelnen Disziplinen innerhalb der Studie darzulegen. Dazu gehört es, den Rahmen des Forschungsprozesses (Kap. 2.1) und die praktische Forschungsarbeit (Kap. 2.2) klar abzustecken. Grundsätzlich meint Interdisziplinarität eine „geregelte Form der Kooperation verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen“ (Berger et al. 2014: 21). Bei interdisziplinären Studien wird also unter einem spezialisierten Fokus zusammengearbeitet und die einzelnen Disziplinen ergänzen sich unter der Prämisse einer gemeinsamen Wissensakkumulation und -analyse gegenseitig (ebd.: 22; Huutoniemi et al. 2010: 83). Die Genealogie der Personenwaage erfordert eine mehrdimensionale Herangehensweise. Für ein solches Vorgehen spricht die dynamische und flexible Praxis, die der interdisziplinären Forschung zu eigen ist (Fischer 2014; Klein 2008). Diese prinzipiell offene Perspektive ermöglicht es, eine auf den Gegenstand ausgerichtete Forschung zu entwickeln (Berger et al. 2014). Das Vorgehen begründet sich allein schon durch den Forschungsgegenstand, der die historischen und sozialen Wissenschaften zusammenbringt. An diesem Schritt, der die Personenwaage, die Patentdokumente, den Körper und das damit
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„Research becomes interdisciplinary whenever the research activity involves several fields.“ (Huutoniemi et al. 2010: 82)
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verbundene Wissen zusammenbringt, sind die Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften, speziell auch die Medizingeschichte sowie die Soziologie beteiligt.2 Diese Zugänge sind seit langer Zeit miteinander verzahnt, was jedoch nicht immer ohne Schwierigkeiten verlief. Bereits 1932 wurde von Vorwahl diese Problematik in dem kurzen Artikel „Medizingeschichte oder Soziologie?“ geschildert, die sich zwischen den beiden Fächern ergeben kann, wenn der Forschungsgegenstand das Ressort und die Forschungsperspektive der Medizingeschichte und der Soziologie berührt: „Weil der Stoff des ungeheuren Gebietes die ganze Aufmerksamkeit der Forscher in Anspruch nahm, ist ähnlich wie bei der Universalgeschichte die Erörterung der Methoden im Hintergrunde geblieben (TH. LITT). Wenn zum Beispiel K. KISSKALT im Arch. F. Geschichte der Medizin, Bd. XVII zur Auswertung der Kirchenbücher für die historische-medizinische Statistik auffordert, so verläßt [sic!]3 er damit die Belange der Geschichte, die nur ‚idiographisch‘ das Individuelle herausarbeitet, und wendet sich der Soziologie zu, die aus den historischen Objekte abstrahiert, was der Form nach gesellschaftlich ist und sich naturwissenschaftlich ‚nomothetisch‘ erfassen lässt (WINDELBAND). Natürlich bedeutet das keine Entwertung des soziologischen Verfahrens, vielmehr ist es von größter Bedeutung, die Struktur des Untergrundes deutlich zu machen, auf dem Forscher, Krankheiten oder sozialhygienische Erscheinungen erwuchsen.“ (Vorwahl 1932: 110, Herv. i. O.)
Gleichermaßen weist Vorwahl auf die Notwendigkeit eines Forschungsdesigns mit Darlegung der Methodologie hin.4 Der Autor meint damit die soziologische
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Im Forschungsgegenstand überschneiden sich daneben und unter anderem die Technik-, Kultur- und Medizingeschichte sowie die Technik-, Körper-, Gesundheits-, und Medizinsoziologie, was bereits aus Kapitel 1 hervorgeht. Vgl. zu den Verflechtungen der Medizingeschichte mit anderen Disziplinen und der interdisziplinären Ausrichtung des Faches Fangerau/Gadebusch Bondio (2015). Vgl. auch Labisch (1996) zu den Verknüpfungen zwischen Geschichte, Sozialgeschichte und Soziologie der Medizin.
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Die Kennzeichnung [sic!] wird lediglich bei auffälligen Divergenzen zur heutigen
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Auffallend ist, dass in soziologischen Studien wie dieser von Karsch (2015), in der er
Schreibweise gesetzt. Wiederholungen im selben Zitat werden nicht markiert. die Kommerzialisierung medizinischer Handlungsfelder untersucht, die Genese einer bestimmten Forschungsperspektive ausführlich beschrieben wird. Diese Herangehensweise mag mit dem Selbstverständnis und der Tradition des Faches, das sich der empirischen Sozialforschung verpflichtet hat, zusammenhängen. Jedoch kritisiert der
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Auswertung und Analyse, die durch eine (medizin-)historische Forschung sinnvoll ergänzt und erweitert wird. Seine Ausführungen implizieren, dass für die Verarbeitung einer großen Menge an historischen Daten, die auch im Rahmen dieser qualitativen Studie vorliegen, eine systematische Herangehensweise unentbehrlich ist. Die Verknüpfung der beiden Disziplinen und ihrer Arbeitsweisen erlaubt vielmehr Rückschlüsse auf historische Zusammenhänge zu ziehen und gesellschaftliche Hintergründe zu analysieren, die bei einer monodisziplinären Arbeit unentdeckt bleiben würden. Aus diesen Vorüberlegungen leitet sich ab, dass eine Wissenssoziologische und historische Diskursanalyse angestrebt wird, mit der die Erfindung und Etablierung der Personenwaage rekonstruiert wird. Dies führt zu einem Forschungsdesign der Studie, das sich aus mehreren Bestandteilen zusammensetzt. Konkret wird dieses in drei Schritten ermittelt. Der erste Teil (Kap. 2.1) knaüpft an die Foucaultsche Forschungsperspektive und die davon abgeleiteten Fragestellungen an, was beides bereits vorgestellt wurde. Es wird davon ausgegangen, dass sich eine bestimmte Kombination aus Wissenssoziologischer Diskursanalyse (WDA) und historischer Diskursanalyse (HDA) als geeigneter Rahmen für die Untersuchung anbietet. Ergänzend zu diesem Abschnitt werden weitere zentrale Begriffe der Untersuchung erklärt. Aufbauend auf den Arbeitsschritten, die sich aus der methodologischen Positionierung ableiten lassen, stellt sich die Aufgabe, wie die Forschungsfragen empirisch aufbereitet werden können (Kap. 2.2). Dazu eignet sich das Kodierparadigma der Grounded-Theory-Methodologie (GTM), welches anschlussfähig an die Arbeitsweise der WDA und HDA ist. Im letzten Teil dieses Kapitels geht es schließlich darum zu zeigen, nach welcher Logik verfahren wird, um das Forschungsmaterial, die Quellen, zu analysieren.
IM DISKURS VERBUNDEN: HISTORISCHE UND WISSENSSOZIOLOGISCHE DISKURSANALYSE Das Kernelement dieser Studie stellen Diskurse dar. Die Quellen, die dazu herangezogen werden, bilden diejenigen Diskurse ab, die sich mit der Personenwaage auseinandersetzen und mit ihrer Genealogie und praktischen Relevanz im Alltag eng verknüpft sind. Foucault hat eine überaus gehaltvolle,
Medizinhistoriker Mildenberger (2012), dass viele Studien, die seiner Forschung zu medikalen Kulturen in einer historischen Publikumszeitschrift voraus gingen, in methododogischer Hinsicht nicht überprüfbar waren.
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kreative – aber auch, was die forschungspraktische Strukturierung einer Studie angeht, sehr offene – Werkzeugkiste hinterlassen (Keller 2008, 2011b), die für die Belange dieser Untersuchung einer spezifischen Akzentuierung bedarf. Es bietet sich aus mehreren Gründen an, die Herangehensweise der WDA von Keller (2011b) mit der HDA nach Landwehr (2009) zu kombinieren. Beide Zugänge schließen an Foucault an und konkretisieren sein Forschungsprogramm. Landwehr und Keller entwickeln dazu eigene Schwerpunktsetzungen mit Vorschlägen für die Auswahl, Auswertung und Analyse des Datenmaterials. Beide intendieren, sprachliche Inhalte – also Diskurse – zu untersuchen. Wie aus dem vorigen Abschnitt hervorgeht, geht es dabei um die Frage, wie Wissen (historisch) produziert, verbreitet und angewendet wird. Diskursanalytische Untersuchungen, die mit der WDA und/oder der HDA arbeiten, fragen unter anderem nach historischen und gesellschaftlichen Prozessen und analysieren eine Geneaologie von Macht/Wissen. Damit greifen beide Foucaultschen Analysewerkzeuge die Fragestellungen dieser Studie auf und eignen sich in genau dieser Verbindung, das Vorhaben des vorliegenden Projektes umzusetzen. Die WDA und HDA liegt eine konstruktivistische Grundannahme zugrunde, mit welcher die Sprache eine elementare gesellschaftliche Rolle spielt. Damit bewegen sich beide Ansätze eng an der Handlungstheorie von Peter L. Berger und Thomas Luckmann (2009: 26, Orig. 1966): „Die Sprache, die im alltäglichen Leben gebraucht wird, versorgt mich unaufhörlich mit den notwendigen Objektivationen und setzt mir die Ordnung, in welcher diese Objektivationen Sinn haben […]. Ich verwende Werkzeuge, von Büchsenöffnern bis zu Sportwagen, deren Bezeichnungen zum technischen Wortschatz meiner Gesellschaft gehören […]. Auf diese Weise markiert Sprache das Koordinatensystem meines Lebens in der Gesellschaft und füllt sie mit sinnhaltigen Objekten.“ (Berger/Luckmann 2009: 24–25)
Damit rückt die selbstverständlich erscheinende „Wirklichkeit der Alltagswelt“ (ebd.: 26) in das Interesse der Wissenssoziologie. Es wird danach gefragt, wie mit Sprache die Muster und Bedeutungen gesellschaftlicher Phänomene hergestellt werden. Wissen und Sprache gelten in dieser Auffassung als dynamische Komplexe, sie erzeugen den Wissensvorrat einer Gesellschaft und beziehen sich auf alltagsweltliche Zusammenhänge (ebd.: 36–43). Daran schließt die HDA an und ordnet Diskursen eine beständige „Konstruktionsarbeit“ zu, denn diese „sind strukturiert und bringen ihrerseits Strukturen hervor“, die von den Subjekten als „Wirklichkeit“ wahrgenommen werden (Landwehr 2009: 98–99, 128). Um sich dieser komplexen Funktionsweise von Gesellschaft und Diskurs analytisch zu nähern, schlägt die HDA konkrete Schritte vor, die für die Konzeption des
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Untersuchungsdesigns der Studie genutzt werden. Damit wird die Forschungsperspektive von Berger und Luckmann ergänzt und ermöglicht, die historische Situiertheit der Patentdokumente zu erfassen. Gleichzeitig schärft diese Kontextanalyse das Verständnis für den Spezialdiskurs, dessen institutionelle Gebundenheit und die Quellengattung an sich. Gleichzeitig schafft die Korpusanalyse die Grundlagen für die Auswahl und forschungspraktische Arbeit mit den Daten. Mit der WDA wird die wissenssoziologische und handlungstheoretische Ausgangsposition von Berger und Luckmann neu gesetzt. Der Untersuchungsradius wird auf das Zusammenspiel institutionell gebundener Diskurse wie den wissenschaftlichen Spezialdiskurs und den Innovationsdiskurs der Erfindungen ausgeweitet und beispielsweise zusammen mit der Diffusion von medizinischem Wissen über Übergewicht im öffentlichen Diskurs untersucht. Die WDA steht damit in einer hermeneutischen Tradition und ist auch im Symbolischen Interaktionismus von Herbert Blumer (1900–1987) verankert (Keller 2011b: 95– 96, 180–194). Mit dieser Position wird ausgedrückt, „daß Menschen ‚Dingen‘ gegenüber auf der Grundlage der Bedeutungen handeln, die diese Dinge für sie besitzen“ (Blumer 1973: 81; Herv. i. O.). Individuen nehmen demnach an einem diskursiven Prozess in Form von Interaktionen aktiv teil. Der Beitrag der WDA zum Forschungsdesign der Studie besteht zum einen in dieser Kategorisierung wie Integration unterschiedlicher gesellschaftlicher Diskurslandschaften, in denen (kollektive) Akteure auch öffentlich wirksam handeln und zum anderen in der Verknüpfung von Diskurs und Zeitdiagnose (Keller 2011b: 15, 187, 279–315). Mit der WDA lässt sich demnach die Genealogie eines technischen Messinstruments im soziologischen Gegenstandsbereich der Gesellschaftstheorien erschließen. Dabei stützt die WDA sich im Sinne des interpretativen Paradigmas der Soziologie auf die analytische Interpretation von Textmaterialien (ebd.: 187– 192). Weder der WDA – noch der HDA – liegt jedoch ein einseitiger Monismus zugrunde, weshalb in ausgewählten Fällen Bilder und Zahlen zur Illustration einbezogen werden (ebd.: 191–192, 258–259; Landwehr 2009: 56–59).5 Auch wenn konstruktivistische Annahmen plausibel erscheinen, soll die Genealogie der Personenwaage aus dem Datenmaterial heraus sukzessive
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Bei der Kombination von Bild- und Textanalyse könnte auch die sogenannte Triangulation zum Einsatz kommen, bei die einzelnen Verfahren allerdings in einem bestimmten Verhältnis zueinanderstehen müssen, vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr (2014: 156). In dieser Studie stehen Textmaterialien im Vordergrund. Nicht nur an dieser Stelle, sondern in der gesamten Arbeit wird auf eine ausführliche Diskussion dieses Begriffes verzichtet. Stattdessen sei auf Flick (2014a, 2014b, 2013a, 2004) verwiesen.
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entwickelt werden. Dabei wird der WDA gefolgt, welche für diskursanalytische Vorhaben die Methodologie der Grounded Theory6 mit ihrem offenen, interpretativen und theoriegenerierenden Ansatz vorschlägt (Keller 2011b: 191– 192, 275). Ergänzend dazu werden die Vorschläge zur diskursanalytischen Arbeitsweise von Keller (2011a) genutzt. Dieses Verständnis von WDA und HDA in Bezug auf die Untersuchungsschritte einer Studie führen zum Forschungsdesign, das in Kapitel 2.2 genauer erklärt wird. Die Materialisierung des Diskurses Der Theoriebegriff des Wissensregimes schließt aus mehreren Gründen an das theoretische Programm der WDA und HDA an. Eine solche analytische Schwerpunktsetzung auf Wissensregime beschreibt, wie eingangs erwähnt, das Wissen, das sich in einem spezifischen Bereich7 – wie zum Beispiel die Verwendung der Personenwaage zur Messung des Körpergewichts im Badezimmer – als gültig erwiesen hat (Wehling 2007: 704–705). In Anlehnung an die Definition von ebd. (2007) wird damit der Umgang mit Wissen untersucht: „Sie [Wissensregime, Anm. DF] legen fest, welche Art (oder Arten) von Wissen, welches Verständnis von Wissen in einem bestimmten Kontext als angemessen, Erfolg versprechend oder notwendig gelten soll, und regeln, wie und von welchen Akteuren dieses Wissen gewonnen, weitergegeben und genutzt werden soll.“ (Ebd.: 705)8
Das Fundament aller Diskurse ist nach der WDA und HDA deren historische Bedingtheit, die in Abhängigkeit von der Legitimierung durch Institutionen ihre
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Eine stark am Sozialkonstruktivismus ausgerichtete Variante der GTM schlägt Kathy Charmaz (2006, 2011) vor. Das konkrete Vorgehen dieses Ansatzes ist sowohl von Glaser als auch von Strauss sowie von Strauss und Corbin inspiriert (Strübing 2014). Dieser spezialisierte Ansatz der GTM würde von vornherein dezidiert von einer Konstruktion der Personenwaage in einem bestimmten Setting ausgehen.
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Im Gegensatz zu Wissensordnungen (Wehling 2007: 706–707).
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Patentdokumente stellen hochgradig formalisierte Quellen dar (Wehling 2007: 708), die aus einem institutionellen Zusammenhang hervorgehen. Gerade weil diese historisch institutionell gebunden sind, sich stark auf technische Details richten und das Instrument definierten, bietet sich der Begriff des Wissensregimes eher an als der Ausdruck Wissensordnungen. Jedoch sollen diese theoretischen Termini im Rahmen dieser Untersuchung nicht künstlich getrennt werden, sondern vielmehr als auf den Körper bezogene Macht/Wissen-Komplexe aufgefasst werden.
Methodologie und Forschungsdesign | 57
Wirkung zeigen (Keller 2011b: 181–190; Landwehr 2009: 82–83, 128)9. Wissensregime bilden sich – unterschiedlich stark – in Abhängigkeit von Institutionen heraus (Wehling 2007: 704–709). Die Materialisierungen des Diskurses10 drücken sich in einem Wissensregime über Artefakte, Regeln, Normen, Richtwerte und Bilder aus. Darüber entfaltet das Wissen im Alltag eine praktische Wirkung. Damit ist die Forschung zu Wissensregimen auch Alltagsforschung und integriert dabei die Überlegungen von Berger/Luckmann (2009). Es wird davon ausgegangen, dass eine enge Verflochtenheit zwischen Diskurs, Macht/Wissen, Wissensregime und gesellschaftlicher Veränderung in Richtung Gegenwartsgesellschaft besteht (Keller 2011b: 192–193; Wehling 2007: 704–707). In so genannten Wissensgesellschaften nehmen Wissensregime beispielsweise per se eine öffentliche Position im Diskurs ein, denn sie stehen für das Wissen, das zwischen wissenschaftlichen Spezialdiskursen und öffentlichen Diskursen zirkuliert. Wissensregime werden als das „(vorübergehend oder dauerhaft) stabilisierte Ergebnis“ von diskursiven Auseinandersetzungen zwischen Teildiskursen verstanden (Wehling 2007: 707). Wie der Diskurs selbst weisen Wissensregime zwei Seiten auf, sie werden reguliert und sie beeinflussen (ebd.: 704).11
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Vgl. hierzu Landwehr (2007).
10 Einige Diskurstheoretiker wie Keller (2011b, 2011a) und Bührmann/Schneider (2008) konzentrieren sich bei der Beschreibung der Wirkmächtigkeit von Diskursen mehr auf den Begriff des Dispositivs, der von Foucault stammt. Damit sind ebenfalls Materialisierungen gemeint. Der noch relativ junge, theoretische Ausdruck des Wissensregimes schließt ebenfalls an Foucault an und wird, wie bereits dargelegt, im Sinne von Wehling (2007: 706–7077) verstanden. In etymologischer Hinsicht bringt der Begriff die Komponente Macht/Wissen stärker zum Ausdruck. Diese beiden Facetten eignen sich für diese Untersuchung. Gleichwohl sollen beide Termini nicht strikt voneinander getrennt werden, denn die Unterschiede sind graduell. So vereint die Dispositivforschung nach Bührmann/Schneider (2008) Perspektiven, die sich auf das Netz zwischen Dispositiven verweisen und zum Beispiel auch auf Körperpraktiken und Normalitätskonzepte beziehen. Dabei geht es darum, die Wissensbestände zu untersuchen, in welche die Dispositive eingebunden waren oder sind. Der „empirische Blick“ richtet sich dabei auf das Diskursive, auf konkrete soziale Praktiken und gesellschaftliche
Verhältnisse,
in
denen
Macht
zum
Ausdruck
kommt
(Bührmann/Schneider 2008: 28, Herv. i. O.). 11 Vgl. hierzu auch die Unterschiede, Abhängigkeiten und Parallelen zum Begriff der Wissenspolitik. Dieser Ausdruck bezieht sich stärker auf Prozesse der Auseinandersetzung (Wehling 2007: 707). In diskursiver Hinsicht spielt dieser Faktor in der Studie
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Aus der Werkzeugkiste Foucaults Es sind Diskurse, die sowohl in den historischen Wissenschaften als auch in den Sozialwissenschaften als wichtige, gehaltvolle Informationsträger und als etablierter Analysegegenstand gelten. In beiden Disziplinen wird der Diskursbegriff anhaltend diskutiert, wie Keller (2011a) für die Sozialwissenschaften und Landwehr (2009) für die historischen Wissenschaften festhalten. Keller (2011a: 16) spricht in diesem Zusammenhang von einer „Konjunktur“ des Diskursbegriffes; Landwehr (2009: 16) von einer wissenschaftlichen Analyseform, die sehr viel weiter geht, als dass diese ein „Modephänomen“ darstellt.12 Foucault entwarf kein monolithisches und exakt ausformuliertes, diskusanalytisches Forschungsprogramm. Während in „Archäologie des Wissens“ und „Die Ordnung des Diskurses“ die Hinwendung zum Diskurs und der Entwurf des analytischen Begriffsrepertoires deutlich wird, werden die damit verbundenen Begrifflichkeiten in „Der Wille zum Wissen“ und in „Überwachen und Strafen“ im Kontext von Macht, Wissen und Individuum gedeutet (Foucault 1973, 1974, 1976, 1977).13 In der vorliegenden Studie werden Diskurse als geordnete Systeme von Aussagen verstanden. Diese liegen in schriftlicher Form vor und werden als diskursive Praktiken verstanden (Keller 2011a: 68, 2011b: 234). Nach Foucault bilden immer wiederkehrende Aussagen bestimmte sprachliche Formeln und Normen und begründen ein bestimmtes Wissen. Den Aussagen untergeordnet sind einmalige Äußerungen, da sie noch nicht an bestimmte Gegebenheiten gebunden sind (Landwehr 2009: 71). Eine Äußerung in einem neuen Umfeld gilt als wichtiger Moment (Ereignis), die Wiederholung im selben Setting nennt Foucault
ebenfalls eine starke Rolle, jedoch geht es dabei stärker um das Ergebnis, die Materialisierung des Diskurses im Artefakt Personenwaage. Auch wenn die Unterschiede je nach Sichtweise minimal sind, eignet sich in dieser Positionierung der Ausdruck des Wissensregimes besser. 12 Es wird in diesem Abschnitt, wenn nicht anders angegeben, den Ausführungen von Keller (2011a: 43–69, 2011b: 233–239, 252–268) zu seiner wissens- beziehungsweise diskurssoziologischen Analyseperspektive und Landwehr (2009: 65–79) zu seiner historischen Analyseperspektive gefolgt. Weitere Spielarten der Diskurstheorie wurden von Chantal Mouffe und Ernesto Laclau, Jürgen Habermas und Pierre Bourdieu entwickelt (Keller 2011a; Landwehr 2009). Allerdings ist Foucaults Beschäftigung mit Diskursen historisch früher anzusetzen. 13 Vgl. auch Landwehr (2009: 72–73). Mit diesen Arbeiten Foucaults sind auch Überlegungen zu einer „Geburt der Biopolitik“ verbunden (Foucault 2006). Diese Veröffentlichung resultierte aus Vorlesungen in den Jahren 1978 und 1979.
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Serie (Busse 2013a: 150). Eine Serie verfestigt sich, wenn durch permanente Wiederholungen eine Regelhaftigkeit nachgewiesen werden kann. Dadurch bilden sich die Möglichkeitsbedingungen für weitere diskursive Ereignisse, in deren Rahmen Aussagen getätigt werden. Auf diese Weise lassen sich die Muster, Linien oder roten Fäden eines Diskurses nachvollziehen (Keller 2011a: 68, 2011b: 235; Landwehr 2009: 128).14 Sie manifestieren sich als spezifische Ordnung, die auf bestimmte Codes, Wissen und Praktiken zurückgeht. Diese Ordnung existiert exklusiv aus „einem bestimmten historischen Moment an einem bestimmten Ort“ heraus (Keller 2011a: 46), worauf auch Landwehr (2009: 98–99) verweist. Auf einer abstrakteren Ebene konstituieren Diskurse über diese Ordnungen die Wirklichkeit. Nicht-diskursive Praktiken wie Handlungen gehören ebenfalls zum Wirkungsbereich des Diskurses, der diese Abläufe hervorbringt (Keller 2011a: 66–68, 2011b: 234, 255–256; Landwehr 2009: 94). Die maßgeblichen Elemente von Diskursen werden ersichtlich, wenn man diese mit Hilfe der Formationsregeln bearbeitet, also die Gegenstände, Begriffe, Äußerungsmodalitäten und Strategien des Diskurses in den Blick nimmt (Keller 2011a: 47–48, 2011b: 134; Landwehr 2009: 71–72).15 Dazu gehört es unter anderem, die äußeren Gegebenheiten eines Diskurses abzuklären, das heißt, danach zu fragen, in welcher sozialen und institutionellen Umgebung (diskursives Feld) findet der Diskurs statt, wie im Diskurs die Dinge und Praktiken definiert werden, über die gesprochen wird, welche Themen behandelt werden, welche Ziele im Diskurs verfolgt werden und wie argumentiert wird. Nach Keller (2011b) und Landwehr (2009) können verschiedene Perspektiven Foucaults unterschieden werden. Ein archäologischer Zugang untersucht den Diskurs innerhalb eines bestimmten historischen Ausschnitts. Das genealogische Verfahren geht einen Schritt weiter, indem der Diskurs als Teil eines sozialen Gefüges beschrieben wird. Durch die Prozesse und Praktiken, die der Diskurs in Bewegung setzt, entstehen Dynamiken mit erheblichen Auswirkungen. Deren machtvolle Seite betrachtet die Genealogie. Ebd. (2009: 73) nennt dies die „Kanalisation“ von Aussagen über „Verbote und Schranken“. Keller (2011b: 137) verweist auf „Sprechakte und Sprachspiele, als strategisch-taktische Auseinandersetzungen und Kämpfe“, denen sich Foucault in seinem Entwurf der Genealogie zuwendet. Auf diese Weise kann nachgezeichnet werden, wie sich in einem
14 Von einem roten Faden sprechen auch Strauss/Corbin (1996: 94, 98–99). Damit sind keine „story lines“ im Rahmen einer Narrationsanalyse gemeint (Keller 2013: 48). In dieser Untersuchung sind damit nicht nur ein zentrales analytisches Ergebnis, sondern regelmäßige Muster gemein, die in einem Diskurs wiederkehren. 15 Die Formationsregeln gehen auf Foucault (1973) zurück.
60 | Die Personenwaage
diskursiven Feld ein Diskurs oder auch mehrere Teildiskurse, zum Beispiel Spezialdiskurse, in einer Teilöffentlichkeit entwickelten. Öffentliche Diskurse stellen, wie bereits thematisiert, eine weitere Spielart eines Diskurses dar. Somit stehen im Fall dieser Untersuchung eine Dreiheit von Teildiskursen im Fokus – zwei Spezialdiskurse, darunter ein Innovationsdiskurs, der Patentdokumente zum Gegenstand hat, und ein öffentlicher Diskurs. Die Bündelung zu „Diskursgefügen“, die sich mit Gegenständen und Praktiken verbunden haben, könnte zu ganz bestimmten Macht/WissenKomplexen (Foucault) geführt haben (Keller 2011a: 50). Im (historischen) Verlauf von Diskursen tragen bestimmte Informationen Bedeutungen mit sich und bilden auf diese Weise die soziale Wirklichkeit ab, weshalb Diskurse Aufschluss über Verhaltensweisen und Regeln geben sowie die Durchsetzung von Gesetzen und Normen zeigen können.
DIE ERHEBUNGS- UND AUSWERTUNGSSTRATEGIE Grundsätzlich entspricht das hier gewählte Vorgehen einem qualitativen Forschungsprozess. Dieses passt sich dem Forschungsgegenstand an, operiert dadurch offener und flexibler als quantitative Methoden, die einem streng standardisierten Ablauf folgen und häufig dem deduktiv-nomologischen Modell, der Untersuchung von Kausalzusammenhängen, verpflichtet sind (Flick 2013b: 24–25; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 196; Strübing 2014: 49–51). Der Rahmen einer quantitativen Studie ist vorher genau abgesteckt und limitiert auf Erkenntnisse, die den Hypothesen zugehörig sind (Mey/Mruck 2011b: 11). Quantitative Untersuchungen können nur im Rahmen ihres Forschungsdesigns agieren und nicht auf die zunehmend komplizierter gestrickten gesellschaftliche Ordnungen, Interaktionen und Probleme reagieren (ebd.). Studien wie die vorliegende profitieren von einem qualitativen und interdisziplinären Zugang, weil komplexe und neuartige Zusammenhänge wie die Genealogie der Personenwaage und ihre Bedeutung aus dem Diskurs heraus erschlossen werden. Die qualitative Sozialforschung ermöglicht das Verstehen gesellschaftlicher Wirklichkeit und reflektiert diesen Ausschnitt als Teil eines größeren Gesamtzusammenhangs, in der alltäglichen Dingen wie der Personenwaage ein bestimmter Stellenwert zugeordnet und als solcher kommuniziert wird (Flick 2013b). Als interdisziplinäre, diskursanalytische Untersuchung richtet sich das Vorgehen nach dem Forschungsgegenstand. Dafür steht die Methodologie der Grounded Theory. Zunächst geht es um die Klärung von zwei grundlegenden Bausteinen einer Diskursanalyse, den Kontext und das Korpus.
Methodologie und Forschungsdesign | 61
2.2.1 Die Annäherung an das Datenmaterial Bei der Untersuchung von historischen Belegen stellt der jeweilige Kontext, zu dem das Material in Bezug steht, eine elementare Referenzgröße dar, worauf im vorigen Kapitel kurz verwiesen wurde (Landwehr 2009: 105–106). Geschichtswissenschaftliche Arbeiten beziehen diese Hintergründe bewusst ein, um die Rekonstruktion bestimmter Forschungsfragen in der Vergangenheit herleiten zu können. Auch Keller (2011a: 99–100) hebt die „Situiertheit und Materialität einer Aussage“ als Elemente einer diskursanalytischen, sozialwissenschaftlichen Studie hervor. Unter konzeptionellen Gesichtspunkten stellt die Kontextanalyse in der WDA eine von mehreren Funktionen dar (Keller 2011b: 256, 259, 263). Gerade die Fachsprache von Teildiskursen oder anderer Disziplinen, genauso wie institutionell geregelte Abläufe in Spezialdiskursen, können hochkomplex sein und bedürfen einer fundierten Einarbeitung. Strauss/Corbin (1996: 31–33) explizieren dieses Kontextwissen in der GTM als „Hintergrundwissen“16, das durch das Studium der Fachliteratur entsteht und als wichtige (Vergleichs-)Quelle fungiert, die neben den Daten zur Auswertung herangezogen werden. Der Kontext Die HDA geht – wie die WDA und die GTM nach ebd. (1996) – davon aus, dass die Literatur eine hilfreiche Unterstützung bei der Rekonstruktion historischer Gegebenheiten bietet (Landwehr 2009: 105–106). In einer Diskursanalyse stellen Quellen das konstitutive Element einer einmaligen historischen Gegebenheit dar (Keller 2011b: 12; Landwehr 2009: 98–99). Kurz gesagt, stellt die Einbeziehung des Kontextes ein signifikantes Merkmal der Analyse dar, ohne die ein mögliches Netz aus Macht/Wissen nicht erfasst werden kann. Die HDA unterscheidet dabei vier Formen (Tab. 1):
16 Das Vor- und Kontextwissen des Forschers wird in der GTM als Hintergrundwissen bezeichnet. Der Ausdruck Kontext ist bei Glaser/Strauss (1998) als situativer Kontext zu verstehen: „Die spezifische Reihe von Eigenschaften, die zu einem Phänomen gehören; das heißt die Lage der Ereignisse oder Vorfälle in einem dimensionalen Bereich, die sich auf ein Phänomen beziehen. Der Kontext stellt den besonderen Satz von Bedingungen dar, in dem die Handlungs- und interaktionalen Strategien stattfinden“ (ebd.: 75).
62 | Die Personenwaage
Tabelle 1: Optionen der Kontextanalyse nach Landwehr Historischer Kontext Die relevanten historischen Gegebenheiten werden bei der Auswertung berücksichtigt. Nach Landwehr können damit konkret gesellschaftliche, kulturelle, politische und ökonomische Bedingungen gemeint sein.
Institutioneller Kontext Die Kopplung historischen Materials an ihre ursprünglichen Entstehungsbedingungen ist ein wichtiger Faktor. Aus welchen Institutionen die Quellen hervorgingen und welche Aufgaben die jeweiligen Dokumente hatten, sind Aspekte, die es zu klären gilt. Nicht alle diese Texte müssen jedoch an Institutionen gebunden sein.
Medialer Kontext Hier ist die Definition des Quellenmaterials gemeint, das zur Analyse herangezogen wird. Da Medien nicht nur Informationen zur Verfügung stellen, sondern Diskurse und Wahrnehmungen steuern können, sollte diesem Umstand besonderes Augenmerk geschenkt werden.
Situativer Kontext Es geht hier um konkrete und spezifische Situationen, die als Umgebungsbedingungen zusammengefasst werden können. Handlungen, Personen und die Örtlichkeit sollen genau beschrieben werden. Für die vorliegende Analyse spielen diese Umstände eine Rolle, wenn das Datenmaterial dazu Informationen bereit enthält.
Landwehr (2009: 109–110) betont, dass diese vier Gesichtspunkte der Kontextanalyse Möglichkeiten sind, die Quellen und den Forschungsgegenstand in einen größeren Zusammenhang einzuordnen. Sie sind als Vorschläge aufzufassen, die je nach Studiendesign anzupassen sind. Die Bearbeitung des Kontextes lässt sich in Bezug auf die Patentdokumente verkürzt wie folgt darstellen (Tab. 2).
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Tabelle 2: Die Kontextanalyse nach Landwehr (2009) in der Anwendung
Spezifizierung des jeweiligen Kontextes
Historischer Kontext Historische Verbindungslinien zur Quelle
Patentdokumente
Laufende Einarbeitung
Institutionel ler Kontext Entstehungszusammenhang, Aufbau und Funktionsweise der Quelle Vorgaben des DPMA
Medialer Kontext Art der Quelle
Situativer Kontext Orte und Personen, die aus der Quelle hervorgehen
Dokument als schriftliche Quelle
Laufende Einarbeitung soweit vorhanden
Um die Eigenschaften und Aussagekraft von Patentdokumenten verstehen zu können, werden in einer frühen Phase der Studie der institutionelle und mediale Kontext untersucht. Diese Aspekte werden in Kapitel 3.1 konkretisiert. Der (historische) gesellschaftliche Kontext und erste theoretische Ergebnisse werden in Kapitel 3.3 präsentiert. Diese Erkenntnisse fließen in die weitere Analyse ein. Der situative Kontext wird, soweit Informationen dazu vorliegen, aus den Quellen rekonstruiert. Der weitere historische Kontext, wie ökonomische oder politische Entwicklungen, werden einbezogen, sofern diese Rückschlüsse die Interpretation vertiefen oder das Quellenmaterial auf externe diskursive Veränderungen hindeutet. Das Korpus Die HDA unterscheidet drei strategische Schritte bei der Korpusbildung. Das übergeordnete Korpus, das sämtliche Äußerungen einschließt, die mit dem Forschungsgegenstand in Berührung kommen, wird als imaginäres Korpus bezeichnet (ebd.: 102–103, Herv. i. O.). Dabei kann es sich um textliche, audiovisuelle, materielle und praktische Zeugnisse handeln, wie ebd. (2009: 102) darlegt. Bei historischen Untersuchungen muss allerdings davon ausgegangen werden, dass ein lückenloser Bestand nicht vorausgesetzt werden kann (ebd.: 103). Denkbar ist, dass die Materialien nicht mehr vorhanden sind, nicht vollständig archiviert sind oder erst gar nicht zugänglich sind. Die tatsächlich zur Auswahl stehenden Quellen bilden das virtuelle Korpus (ebd., Herv. i. O.). Aus der „gezielten Sammlung, Sichtung und Gewichtung“ dieser Daten entsprechend der Fragestellungen der Studie geht das konkrete Korpus hervor (ebd., Herv. i. O.).
64 | Die Personenwaage
Aus dem gesamten, zur Verfügung stehenden Quellenbestand wird das konkrete Korpus der Patentdokumente entwickelt. An dieses Sample schließen sich die Strategien der GTM an, mit denen das Datenmaterial geordnet wird. 2.2.2 Der Beitrag der Grounded-Theory-Methodologie Ursprünglich wurde die GTM von Anselm Strauss und Barney Glaser in den 1960er Jahren begründet und vor allem in den letzten Jahrzehnten zu einem grundlegenden Konzept der empirischen Sozialforschung ausgearbeitet (Corbin/Strauss 1998; Glaser/Strauss 1998; Strauss et al. 1994). Vor allem im USamerikanischen Raum hat sich diese Methode für qualitative Forschungszwecke durchgesetzt.17 Die Studie orientiert sich an der Ausrichtung von Strauss et al. (1994) und Strauss/Corbin (1996, Orig. 1990), weil sie den Standpunkt teilt, dass wissenschaftliche Studien in einem Zirkel entstehen, in dem entsprechende Vorarbeiten vorliegen.18 Mit dem Ausdruck GTM ist also genau diese Sichtweise gemeint. Die Strategie der GTM ist wie die WDA und HDA ein Verfahren, welches für die systematische Auswertung von sprachlichen Inhalten und deren Interpretation herangezogen wird, dem Forschungsprozess aber dennoch relative Freiräume zugesteht. Die GTM stellt das Datenmaterial im Analyseprozess in den Vordergrund (Strauss et al. 1994: 25; Strauss/Corbin 1996: 5) und hat sich darin etabliert, Daten sukzessive zu strukturieren und theoriegenerierend zu verarbeiten (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014). Vor allem bei größeren Datenmengen macht sich die Fülle systematischer und konkreter Hinweise der GTM für die Auswertung bemerkbar (ebd.: 191). Die GTM ist dazu geeignet, theoretische Beziehungen zwischen Teildiskursen im Datenmaterial transparent zu machen und bereitet die Ergebnisse für die diskursanalytische Untersuchung mit der WDA und HDA vor.
17 Strauss et al. (1994, Orig. 1987) selbst haben diese wesentlichen Merkmale der qualitativen Forschung für die GTM aufgearbeitet und beschrieben. Seither wurde die GTM auch im deutschsprachigen Raum behandelt und adaptiert (Hildenbrand 2013: 40). Herangezogen werden können dazu beispielsweise Breuer (2010), Flick (2013a), Mey/Mruck (2011a), Przyborski/Wohlrab-Sahr (2014) sowie Strübing (2014). Auch in der deutschsprachigen Sekundärliteratur spiegelt sich diese wesentliche Rolle der Grounded Theory wider, einvernehmlich ist diese darin als bedeutsame Methode genannt (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 190–191; Hildenbrand 2013: 40–41; Mey/Mruck 2011b: 9–10, 2011a: 11–12). 18 Vgl. Strübing (2014) für weitere Ausführungen zu den beiden Ausrichtungen der GTM.
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Verwurzelt ist die GTM in den Theorien des Symbolischen Interaktionismus und Pragmatismus (Mey/Mruck 2011b: 14; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 199; Strübing 2014: 265).19 Die GTM untersucht unter diesem Fokus soziale Phänomene, die sich im Verlauf der Zeit wandeln, was sich auf das Denken und Handeln von Individuen auswirkt (Flick 2014a: 394; Strübing 2014: 38–39). Mit dieser Nuancierung eignet sich die GTM für diese Untersuchung. Dabei liegt die Annahme zugrunde, dass die Bedeutungen, die beispielsweise der Personenwaage in den Patentdokumenten zugeschrieben werden, auf bestimmte diskursive und nicht-diskursive Praktiken zurückgehen und sich dadurch verändern. Die Arbeitsschritte entsprechen bei der GTM weitestgehend der allgemein üblichen Vorgehensweise, die aus der empirischen Sozialforschung bekannt ist (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014; Strauss et al. 1994: 37; Strauss/Corbin 1996: 3; Strübing 2011: 270–271). Aus den Daten (Sample), die ein möglichst genaues Abbild der Wirklichkeit (Grundgesamtheit) bereitstellen sollen, erschließen sich die Hypothesen, bestimmte übergeordnete Begriffe und Beziehungen im Datenmaterial (Induktion) (Flick 2014a: 394). Der Schritt der Deduktion bearbeitet diese Folgerungen und Verallgemeinerungen. Bei der GTM bilden sich singuläre, theoretische Beziehungen einer spezifischen Untersuchung erst während der eigentlichen Forschung, also innerhalb des Feldes, heraus. 20 Zur Überprüfung werden laufend weitere Materialien herangezogen und geprüft. Die auf diese Weise gewonnen Hypothesen und Theorien sind immer an das Quellenmaterial selbst gebunden und werden laufend auf ihre Robustheit hin geprüft (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 202–203; Strübing 2014: 55, 73).21 Der Prozess von Induktion, Deduktion und Verifikation findet zirkulär statt und ist für die Entstehung von Hypothesen verantwortlich. Die GTM zeichnet sich besonders darin aus, dass die Forschungsphasen gleichzeitig, nebeneinander und überlappend stattfinden (Strauss et al. 1994: 28). Dabei werden die Informationen, die über den Forschungsgegenstand gesammelt werden, sortiert und interpretiert. Eine Studie, welche ein solches Vorgehen anwendet, arbeitet iterativ-zyklisch (Strübing et al. 2018). Folglich stehen das
19 Es wird davon ausgegangen, dass Handeln und Verhalten von Individuen in einen sozialen Prozess eingebettet sind, die auf dem wechselseitigen Schema von Aktion und Reaktion der Umgebung fußt. Die philosophische Komponente betont die ergebnisorientierte, situationsbedingte Ausrichtung des Handelns. 20 Theorien im Sinne von Strauss/Corbin (1996) beziehen sich auf die einzelne Untersuchung und sind nicht als abstrakte Theoreme gemeint. 21 Vgl. dazu auch Strauss et al. (1994) sowie Strauss/Corbin (1996).
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Vorwissen22, die Fragestellungen und der theoretische Zugang in einer engen Beziehung zur Grob- und Feinanalyse in Kapitel 3, in deren Rahmen eine erste Auswahl an Patentdokumenten analysiert wird. Die weitere Untersuchung baut auf diesen Zwischenergebnissen auf. 2.2.3 Die konkreten Untersuchungsschritte Zunächst geht es dieser Studie um das schrittweise Identifizieren, Analysieren und Abstrahieren von Aussagen, die im Zusammenhang mit der Erfindung der Personenwaage regelmäßig im Spezialdiskurs eingesetzt werden. Als Datenmaterial dienen bereits vorliegende, verschriftliche Aussagen in Form der Patentdokumente und ergänzender Texte. Die Verbindung von Theorie und praktischer Annäherung an das Datenmaterial vollzieht die HDA beispielsweise wie folgt: „Grundvoraussetzung für einen Diskurs ist eine kommunikative Situation, ohne die diskursive Zusammenhänge nicht entstehen und nicht funktionieren können. Charakterisiert man den Diskurs vor diesem Hintergrund als die Menge von Aussagen, die einen Aspekt der ‚Wirklichkeit‘ konstituieren, kommt es bei der Analyse der Aussagen wie des Gesamtdiskurses vor allem auf die Frage nach den Grenzziehungen und nach der Etablierung einer legitimen Weltsicht im zeitlichen Wandel an. Anhand hervorstehender Merkmale, die in der Einzelanalyse des Materials eruiert wurden (Argumentationen, Unterscheidungen, Differenzierungen, Konzepte, Worte etc.), können Linien durch das gesamte Korpus gezogen werden.“ (Landwehr 2009: 128, Herv. i. O.)
Diese diskursiven Praktiken, so die Annahme, haben die Kriterien der Personenwaage aufgestellt, welchen in Form von Fragen an das Datenmaterial nachgegangen wird. Auf der theoretischen Basis von WDA und HDA wurden verschiedene forschungsleitende Fragestellungen identifiziert. Diese knüpfen erstens an die Foucaultsche Forschungsperspektive an und sind zweitens von der Forschungsliteratur inspiriert. Dabei vermittelt die GTM beständig zwischen diesem analytischen Programm und den Daten. Allgemein ausgedrückt, besteht die Funktion der GTM in dieser Studie darin, Zusammenhänge im Datenmaterial aufzudecken und Impulse für die Interpretation zu geben. Das Kodierparadigma 22 Anders als Glaser leugnet Strauss – ab den 1980er Jahren in Kollaboration mit Juliet Corbin – die faktische Existenz von theoretischem und praktischem Vorwissen nicht und fordert dazu auf, diese als konstitutiven Bestandteil in die Forschung einzubringen (Strauss et al. 1994: 36–37; Strübing 2014: 273–274). Zu den unterschiedlichen Positionen vgl. ausführlich Strübing (2011, 2014).
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der GTM beschreibt das Muster, nach dem das Datenmaterial interpretiert wird (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 209–210). Dieses wird an die Belange der Untersuchung auf Basis der entwickelten Fragestellungen angepasst (Kap. 1.2). Konkret ist damit ein regelhaftes Vorgehen gemeint, das die im Text erwähnten Kodes als Sinnzusammenhänge, Bedingungen, Konsequenzen, Verbindungen oder Wechselbeziehungen untersucht. Das Auswertungsverfahren ist in einen Ablauf eingebettet, der in Anlehnung an die qualitative Sozialforschung von Flick (2014a) und Keller (2011a) entworfen wurde.23 Die Analyse des Quellenmaterials erfolgt in drei Schritten. 1) Analytische Vorüberlegungen: Systematisierung der Patentdokumente 2) Grobanalyse: Entwicklung eines Analyserasters 3) Feinanalyse: Interpretation und analytische Kombination der Teildiskurse Schritt eins, die Systematisierung, orientiert sich primär an den Untersuchungsschritten der HDA und bezieht sich auf den Kontext und das Korpus der Quellen. Die Grundlage der Untersuchung bilden das Quellenkorpus der Patentdokumente und der theoretisch-analytische Rahmen der WDA und HDA. Dennoch soll damit keine künstliche Trennung zur Arbeitsweise der GTM vollzogen werden, sondern vorrangig zum Ausdruck gebracht werden, dass die WDA und HDA als übergeordnete Forschungsperspektive der Studie verstanden werden. Der einführende Fragekomplex des Kodierparadigmas ist sehr eng an die Personenwaage und die Patentdokumente gebunden. Die Eigenschaften des Instruments werden zunächst in Schritt zwei, der Grobanalyse untersucht und im weiteren Verlauf der Gesamtstudie laufend überprüft. Die diskursanalytische Durchführungsweise der Studie lenkt den Fokus auch auf Informationen, die sich auf den ersten Blick nicht aus dem Datenmaterial und nicht allein aus den Erfindungen erschließen. Ein weiterer Fragekomplex widmet sich demzufolge der Analyse inhärenter Strategien und Taktiken und untersucht Machtbotschaften. Hier schließt die Feinanalyse, der dritte Schritt an. Entsprechend dem Analyseprozess der GTM wird untersucht, ob die Hypothesen, die im Verlauf der Studie aufgestellten werden, robust sind (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 202). Ohne Vorhandensein entsprechender Aussagen in den Quellen werden die entsprechenden Thesen nicht weiterverfolgt und die vorliegende Studie wird einen
23 Flick verwendet die Begrifflichkeiten Grob- und Feinanalyse im Kontext eines anderen Verfahrens, das aber der GTM ähnelt (Flick 2014a: 443). Keller (2011a) nutzt den Ausdruck Feinanalyse, um im fünften Kapitel seines Entwurfs einer Diskursanalyse einen Überblick über die einzelnen Schritte zu geben und greift auf Flick zurück.
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anderen analytischen Weg gehen. Deshalb werden die Fragestellungen als flexibles System verstanden, das sich im Laufe der Untersuchung verfestigt oder ändert (Corbin/Strauss 1998). Diese Auswertungsstrategie und die enge Verknüpfung zwischen WDA, HDA und GTM wird durch die folgende Abbildung (Abb. 1) veranschaulicht. Abbildung 1: Der schematische Ablauf der Untersuchung
Die Bestimmung des Datenkorpus und systematische Eröffnung des Untersuchungsprozesses zeigt der linke Kasten (Abb. 1, Schritt ᬅ). Die Grundauswahl der relevanten Daten wird mit den Vorschlägen der Korpusanalyse der HDA getroffen. Der Forschungsprozess befindet sich damit noch im Entwicklungsstadium und das konkrete Korpus steht im Grundgerüst für die weitere Untersuchung zur Verfügung. Eine Forschungsarbeit, welche die GTM einsetzt, beginnt entsprechend mit der Datenerhebung, woran sich sofort weitere Aktionen und die Datenanalyse anschließen (Strauss et al. 1994: 51, 55–56). Der Vorgang einer solchen theoriegeleiteten Datenerhebung (theoretical sampling) bedeutet zunächst, bestimmte Datentypen gezielt auszuwählen, die als Schlüsselmedien dienen, weil sie einen hohen Informationsgehalt in Bezug auf die Fragestellung besitzen (Strauss/Corbin 1996: XIII, 148–151) (Abb. 1, Schritt ᬆ). Bereits die gezielte Verarbeitung der Daten von einem virtuellen hin zu einem konkreten Korpus steht für den Einsatz erster Sampling-Strategien. Das Sampling im weiteren Verlauf beschreibt das Ziehen von relevanten Samples aus diesem Korpus und den damit verbundenen Prozess des Kodierens. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass in einzelnen Fällen nochmals in den Quellen nachrecherchiert und das Korpus nachjustiert wird, was im Sinne der GTM ist und den Vorgaben des Theoretical Samplings entspricht (Strauss et al. 1994; Strauss/Corbin 1996).
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Die Patentdokumente stammen aus der Datenbank des DPMA. Um theoretische Sensibilität für das Datenmaterial zu erlangen, werden verschiedene Maßnahmen durchgeführt (Strauss/Corbin 1996). Die Kontextanalyse liefert wichtige Erkenntnisse und ordnet die Quellen ein. Dazu gehören unter anderen die institutionell hervorgebrachten Materialien des DPMA und ergänzend Beratungen durch das Fachpersonal des DPMA. Jedoch können weitere Schritte unternommen werden, durch welche die Sensibilität des Forschenden für die Daten vorangetrieben und gesteigert werden kann. Bereits in einer frühen Phase der Studie wurden aus dem virtuellen Korpus zwanglos einige Patentdokumente untersucht und geprüft, ob die Erfindungen neben rein technischen Beschreibungen auch Aussagen enthalten, die im Setting einer diskursanalytischen Untersuchung außerhalb des technischen und juristischen Diskurses verwendet werden können. Die inhaltlichen und argumentativen Beschreibungen in dieser Ausführlichkeit waren bei dieser Quellengattung nicht erwartet worden. Bereits das erste Sample (Kap. 3.3.1) liefert Anhaltspunkte für Strukturierung und Grobanalyse der Daten (Abb. 1, Schritt ᬇ). Diese vorgeschalteten, frühen Zwischenergebnisse geben Hinweise auf erste Indikatoren und mögliche Kategorien. Auf diese Weise kann der Weg für die Interpretation geebnet werden (Abb. 1, Schritt ᬇ). Dadurch, dass „Texte Aussagen transportieren, Diskurse bestimmen und Wirklichkeit herstellen wollen“, werden nach Landwehr (2009: 115, 177) repetitive „Worte, Argumente, Abgrenzungen“ zur Analyse herangezogen. Durch (mehrfaches) Lesen und die Ermittlung der sich wiederholenden Elemente entwickeln sich zentrale Muster (Keller 2011a: 98), worum es bei der Erfindung der Personenwaage geht. Die konkreten Aussagen und Inhalte, die aus den Texten ermittelt werden, werden als Kodes betrachtet und gelten als Indikatoren (Abstraktionsstufe 1) für Konzepte. Die Indikatoren fungieren daher als erste Ordnungskriterien des diskursiven Feldes. Daraus leitet sich ein systematisches Vorgehen ab, das Indikatoren zu Konzepten zusammenfasste („Konzept-Indikator-Modell“) (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 201–202; Strauss et al. 1994: 54–55). Alle weiteren Indikatoren, die aus dem Datenmaterial gewonnen werden, werden damit verglichen. Offenes Sampling und offenes Kodieren bedeutet, möglichst viele Konzepte zu generieren, die dann im weiteren Fortgang verdichtet werden (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 211, 213; Strauss/Corbin 1996: 43, 148). Damit wird ein Vorgang zur Abstrahierung der Begriffe und Zusammenhänge eingeleitet. Diese Prozesse definiert die GTM zusammenfassend als Kodieren (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 211; Strauss et al. 1994: 56–64). Wenn möglich, werden beim Vorgang des Kodierens so genannte in vivo codes verwendet (Strauss 1987: 33, 58). Dabei handelt es sich um Kodes, die direkt aus dem Datenmaterial übernommen werden und die sich
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idealerweise als Überführung auf ein übergeordnetes Konzept oder eine Kategorie eignen (Strauss/Corbin 1996: 50). Das offene Sampling, das mit dem axialen und selektiven Kodieren verbunden ist, orientiert sich eng an den Konzepten (Abstraktionsstufe 2) und an den Kategorien (Abstraktionsstufe 3), die während der gesamten Untersuchung entwickelt werden (ebd.: 75, 94). Über interpretative Vergleiche, die inhaltlich ähnliche Beziehungen und Unterschiede von Aussagen untersuchen, werden die Daten auf immer abstraktere Ebenen gehoben (Flick 2014a: 396; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 210–211). Grundsätzlich wird während des Kodierens so vorgegangen, dass Schlüsselsätze und -worte in ihrem Sinnzusammenhang extrahiert und entlang von Kodes sortiert werden. In einem weiteren Schritt können Umschreibungen, die eine semantische Zusammengehörigkeit zu den bereits entwickelten Indikatoren besitzen, diesen und den entsprechenden Konzepten zugeführt werden. Dies entspricht dem Arbeitsschritt des axialen Kodierens, da neue Konzepte entworfen und bestehende aktualisiert werden (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 211). Allerdings wird so lange auf der Ebene der Indikatoren und Konzepte kodiert und diese geschliffen, bis sich daraus in einem parallelen Interpretations- und Abstraktionsschritt die Kategorien entwickeln lassen. Die ständige Überarbeitung der Konzepte passt diese an die Daten an und erlaubt ein unmittelbares, wiederholtes Überprüfen der Konzepte und Kategorien am Datenmaterial (Strauss/Corbin 1996). Jeder Schritt während der Untersuchung ist an die Kontextanalyse rückgebunden, um unter anderem den historischen Kontext nach und nach im gesamten Auswertungs- und Analyseverfahren zu identifizieren (Abb. 1). Um mit den Begrifflichkeiten der HDA zu sprechen, wird sowohl die Makro- also auch die Mikrostruktur des Diskurses untersucht (Landwehr 2009: 115–124). Diese analytischen Schritte klären im Rahmen der Kontextanalyse auch den speziellen Aufbau von Patentdokumenten und befassen sich mit der textlichen Darstellung von Aussagen in Form von bestimmten Begriffen und Formulierungen. Fokussierung der Feinanalyse und Sättigung Der zirkuläre Kreislauf der Erhebung und Auswertung dieser Studie besteht aus den Bausteinen Sampling, Kodieren, Interpretation und einem wiederholten Durchlauf dieser Elemente. Das Verfahren wird so lange durchgeführt, bis sich aus dem Datenmaterial keine neuen Erkenntnisse mehr ergeben, die eine Veränderung der gewonnenen theoretischen Kategorien bewirken könnten (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 200). Glaser/Strauss (1998: 68–69) sowie Strauss/Corbin (1996: 159) sprechen in diesem Zusammenhang von theoretischer Sättigung (Abb. 1). Das Sample, das in Kapitel 3 systematisch gewonnen wird, bildet den Ausgangspunkt für die weiteren Schritte im Prüfungs- und
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Entwicklungsprozess. Mit dem Durchlauf der Schritte eins bis drei innerhalb des Forschungsdesigns gilt dieses Sample als abgeschlossen (Abb. 1, Schritte ᬅ– ᬆ–ᬇ–ᬈ usw.). Parallel dazu wird ein Auswertungsdokument mit einer bestimmten Struktur generiert, das Angaben zu jedem Dokument enthält. Es wird davon ausgegangen, dass sich zusammen mit den Vorarbeiten nach und nach abstraktere Fragestellungen an das Datenmaterial herausschälen und zur Ergänzung des Forschungsdokuments führen. Dabei werden Rubriken entwickelt, die das Kodierparadigma abbilden sollten. Als Untersuchungskriterien für jedes Patentdokument fungieren x zentrale Stichworte und Zitate, die diesen Zusammenhang benennen oder
Aussagen, die charakteristisch für ein Patentdokument sind, x Vorteile und Nutzen der Erfindung, mit denen argumentiert wird, x der Stellenwert des jeweiligen Patentdokuments in der Entwicklungsgeschichte
der Personen- und Badezimmerwaagen (Stand der Technik) x mögliche, in einem Zusammenhang mit Macht/Wissen stehende Aussagen x sowie Platz für ein Memo 24, damit offene Fragen oder Kommentare zu einem
Patentdokument festgehalten werden können und im Verlauf der Studie nicht unberücksichtigt bleiben, weil damit wertvolle Rückbezüge zu den Daten festgehalten werden. Dazu gehören auch Memos zum offenen, axialen und selektiven Kodierens. Jedes Dokument erhält nicht nur dadurch ein eigenes Profil, sondern auch, weil die jeweiligen Indikatoren mitnotiert werden. Auf diese Weise entstehen verschiedene Gruppen von Konzepten, die zu einzelnen Kategorien verdichtet werden (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 215). Die Feinauswahl kennzeichnet die weitere Untersuchung und bezieht sich nicht nur auf das konkrete Korpus (Abb. 1, Schritt ᬅ): „Die Datenauswahl zur Feinanalyse ist ein offener, kriteriengeleiteter Suchprozess, der nicht vorschnell zur Bildung eines definitiven Teilkorpus innerhalb des Gesamtkorpus führen sollte, sondern sukzessive die Bandbreite des gesamten Datenmaterials durchschreitet und erfasst.“ (Keller 2011a: 92) Dazu gehört auch, die intertextuellen Bezüge innerhalb eines Teildiskurses zu erarbeiten und die Ergebnisse auf einer abstrakter angelegten Stufe untereinander zu vergleichen. Begonnen wird mit Einzelanalysen aller Patentdokumente des konkreten Korpus. Ähnliche oder gleiche Konzepte führen anschließend zur Schärfung der
24 Als schriftliche Protokolle unterstützen sie die analytische Auswertung und sind eng an das Datenmaterial gekoppelt (Strauss/Corbin 1996: 169).
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entwickelten Kategorien. Nach und nach werden daraus Gesamtaussagen über den Diskurs, der als Summe der Teildiskurse über die Personenwaage fungiert, abgeleitet (ebd.: 93). Während das axiale Kodieren auf die analytische Herausbildung von Kategorien und Unterkategorien aus den Konzepten selbst ausgerichtet ist, widmet sich das selektive Kodieren der Schlüsselkategorie und dazugehöriger Unterkategorien (Flick 2014a: 396; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014: 210–211).25 Diese Hauptkategorie ist idealerweise allen im Verlauf der Untersuchung entwickelten Kategorien übergeordnet und bezieht sich auf das „zentrale Phänomen der Studie“, der Moment, in dem sich die Achse, um die sich die Forschungsarbeit dreht, herauskristallisiert (Flick 2014a: 397). Das Herausarbeiten des zentralen Ergebnisses der Untersuchung bedeutet, eine den Daten inhärente Theorie zu entwickeln (Integration der Theorie) (Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2014: 221; Strauss et al. 1994: 51; Strauss/Corbin 1996: 95). Dieser Schritt zielt darauf ab, Verbindungen zwischen den einzelnen Kategorien herzustellen. Besonderheiten und Ziel der Feinanalyse Es zeigt sich bereits in einem frühen Stadium der Untersuchung (Kap. 3.3.1), dass Kategorien herausgearbeitet werden können. Deshalb bilden bereits die Indikatoren den zentralen Dreh- und Angelpunkt der Untersuchung. Darüber hinaus deutete es sich an, dass bestimmte Eigenschaften der Personenwaage häufiger als andere eingesetzt wurden, um das Instrument zu beschreiben. Diese Indikatoren haben als wiederholte Aussagen in verschiedenen Dokumenten eine hohe Aussagekraft über die Personenwaage. Eingangs wurde auf Foucault verwiesen, der wiederkehrenden Aussagen einen besonderen Stellenwert einräumt. Betrachtet man jedes einzelne Patentdokument als Untersuchungseinheit, können Brüche und Kontinuitäten zwischen einzelnen Erfindungen hergeleitet werden. Fasst man diese zu Samples zusammen und vergleicht diese auf Basis der wieder aufgegriffenen Aussagen, führt dies auf einer abstrakteren Ebene zu einer Differenzierung des Spezialdiskurses und Stabilisierung auffälliger Gegebenheiten im Spezialdiskurs. Dieses Vorgehen entlehnt sich zum einen aus den Vorschlägen der HDA zur Analyse des Makro- und Mikrostruktur (Landwehr 2009: 114–115, 122–123; Sowinski 1999: 31–32). Im Zusammenhang mit der
25 Es geht dabei um eine „systematische Datenerhebung für jede Kategorie“ wie Strauss/Corbin (1996: 150) darlegen und um die Benennung derjenigen Kategorien, die im weiteren Verlauf genauer analysiert werden (Flick 2014a: 393). Genauso werden möglicherweise nicht alle Indikatoren und Konzepte weiterverfolgt (Przyborski/ Wohlrab-Sahr 2014: 211).
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Geneaologie der Personenwaage können dabei auch Adjektive 26 eine wichtige Rolle spielen, weil sie die intendierte Bestimmung sowie Eigenschaften des Instruments transportieren (Sowinski 1999: 31–32). Sprache und Rhetorik können eingesetzt werden, um eine machtvolle Wirkung auf Subjekte zu haben und eine gesellschaftliche Ordnung herzustellen, wie Landwehr (2009: 115) als auch Ottmers/Klotz (2007: 12–13) anführen. Zum anderen schlägt die GTM vor, die dimensionale Ausprägung einer einzelnen Eigenschaft zu erfassen (Strauss/Corbin 1996: 108–109). So werden in das Kodierparadigma folgende Fragen mitaufgenommen: „Welche Merkmale stehen im Mittelpunkt, welche Worte, Argumente, Abgrenzungen tauchen immer wieder auf, halten den Diskurs zusammen und sind Kernpunkte von Auseinandersetzungen?“ (Landwehr 2009: 115). Diese strukturierende Maßnahme dient dazu, die zentralen Aussagen als Eigenschaften der Personenwaage, die von den Erfinder*innen im Zeitverlauf geäußert werden, nach einer Systematik anzuordnen. Passt man die Hinweise an die Belange der Studie an, bietet es sich an, mit Hilfe des Untersuchungsdokuments zu strukturieren, welche Aussagen mit derselben Bedeutungsebene besonders häufig, häufig und selten zum Ausdruck kommen. Mit einer solchen Anordnung und der Möglichkeit, die Indikatoren näherungsweise zu gruppieren, entsteht ein spezifisches Profil der Samples und wird in dieser Logik analysiert.27 Hinsichtlich eines theoriegenerierenden Verfahrens werden ausschließlich Vergleiche zwischen Samples mit ähnlichen strukturellen Merkmalen unter Berücksichtigung der Größe des Samples durchgeführt. Neben Ähnlichkeiten werden auf diese Weise auch Unterschiede zwischen Samples mit verwandten Eigenschaften sichtbar. Mit dieser Technik können diejenigen Elemente analysiert werden, die während eines (chronologischen) Gesamtprozesses innerhalb der Genealogie der Personenwaage besonders bedeutsam waren. Hierbei stehen auch die
26 Eine literaturwissenschaftliche Sprachanalyse auf Ebene der Wortarten soll dabei nicht vorgenommen werden, vgl. zu dieser Herangehensweise jedoch Jäger (1993: 33–42) sowie Landwehr (2009: 155, 118, 122–123). 27 Bei den festgestellten Häufigkeiten handelte es sich nicht um absolute Häufigkeiten oder Häufigkeiten im statistischen Sinn. Solche Angaben waren allein deshalb schon nicht möglich, weil die Begriffe nicht ausschließlich einzeln kodiert wurden, sondern unter Berücksichtigung des Sinnzusammenhangs und des Kontexts, was mehrere Wörter einschließen kann. Auch wegen möglicher Missdeutungen wurde nicht auf einzelne Häufigkeiten Wert gelegt, sondern eine näherungsweise Gruppierung der Indikatoren in einer Rangskala. Eine Suche mit Hilfe von so genannten OCR-Algorithmen wäre ungenau, weil die Originaldokumente nicht vollständig ausgelesen werden können.
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argumentativen rhetorischen Elemente mit imperativem und emotionalem Gehalt aufgrund der Fragestellung im Fokus, um Rückschlüsse auf die Bestimmung der Personenwaage ziehen zu können (Keller 2011a: 98; 2011b: 256; Landwehr 2009: 115). Diese Analyse der „formalen und sprachlich-rhetorischen Struktur und die interpretativ-analytische Rekonstruktion der Aussageninhalte“ erlauben, „typisierbare Bestandteile kollektiver Wissensvorräte“ zu erschließen (Keller 2011a: 97–98). Je zahlreicher die Daten, je unterschiedlicher die Belege und je nachdem, wie deren inhaltliche Übereinstimmung ausfällt, desto konsistenter und generalisierbarer werden die Muster und die Theorie, die aus dem Datenmaterial abgeleitet werden können (Flick 2014a: 393, 397; Strauss et al. 1994: 67–68; Strauss/Corbin 1996: 214–215). An dieser Stelle setzt der finale Schritt im Rahmen der Feinanalyse an. Die Theorie, die aus den Daten des Innovationsdiskurses sukzessive entwickelt wird, wird mit dem wissenschaftlichen Spezialdiskurs und dem öffentlichen Diskurs in Beziehung gesetzt (Abb. 1ሻ. Dabei wird analysiert, ob ähnliche oder unterschiedliche diskursive Praktiken (re-)produziert werden. Anschließend werden diese Ergebnisse mit Rückgriff auf bestehende Forschungsliteratur ergänzt. Bei der Herleitung der empirischen und theoretischen Sättigung setzt diese Studie also „auf ein breit aufgestelltes, plural zusammengesetztes Datenkorpus“, wobei Empirie und Theorie in einem symbiotischen Verhältnis zueinander stehen (Strübing et al. 2018: 89, 91–92, Herv. i. O.). Daraus leitet sich eine mögliche Verifikation der Hypothesen (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014) innerhalb des erweiterten Korpus selbst, aber auch anhand weiterer externer Daten, ab. Dadurch ist eine Reproduzierbarkeit der Studie gewährleistet.
3
Von der Idee zur Personenwaage
In diesem Kapitel geht es um die Systematisierung der Patentdokumente und die analytische Annäherung an diese Quellen (Grobanalyse). Der gesellschaftliche Stellenwert und die Bedeutung von Patenten und Gebrauchsmustern wurden bisher nur angedeutet. Der erste Teil dieses Kapitels (Kap. 3.1) konturiert die Besonderheit dieser Schriftstücke in historischer und gegenwärtiger Hinsicht. Dazu gehört es, die Gegebenheiten und Entwicklungen zu verdeutlichen, aus denen diese Aufzeichnungen hervorgehen. Als zentraler Dreh- und Angelpunkt von technischen Innovationen in Deutschland fungiert das DPMA. Diese staatliche Einrichtung gibt das Procedere einer Patent- und Gebrauchsmusteranmeldung vor und strukturiert Aufbau wie Inhalt dieser Dokumente. Die besondere Diskurspraxis von Erfindungen integriert eine juristische Fachsprache mit spezifischen Termini. Das folgende Kapitel macht diesen Teildiskurs mit den relevanten, sprachlichen Elementen und formalen Bestandteilen für die diskursanalytische Untersuchung anschlussfähig, ebenso den (historischen) Prozess, der mit jedem Patent und Gebrauchsmuster zwingend verbunden ist. Der zweite Teil dieses dritten Kapitels (Kap. 3.2) skizziert die Bildung des Quellenkorpus der Patentdokumente, das für diese Untersuchung grundlegend ist und ausgehend auf Basis dieser Daten, die Auswahl ergänzender Materialien. Deren Relevanz leitet sich aus einem Ausschnitt aus dem konkreten Korpus der Erfindungen ab (Kap. 3.3). Tatsächlich führen diese Dokumente zu den gesellschaftlichen Transformationen des letzten Jahrhunderts. Es sind also vielfältige soziale Prozesse, die zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt zusammenwirkten und aus denen heraus die Ideen entstanden, die das Instrument Personenwaage konstituierten. Die verschiedenen Schriftenformen Das Patentgesetz (PatG) unterscheidet verschiedene Schriftenformen, die im Anmeldeprozess zu berücksichtigen sind. Diese unterscheiden sich klassifikatorisch und ergeben sich aus den Informationsschriften des DPMA, die
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öffentlich zugänglich auf den Internetseiten einsehbar sind. Da das Patentgesetz auch das Gebrauchsmuster erwähnt und das Gebrauchsmustergesetz sich wiederum auf das Patentgesetz bezieht, werden Gebrauchsmuster als Schriftenform auch einbezogen.1 Auslegeschriften, Offenlegungsschriften und Patentschriften sowie Gebrauchsmuster werden unter der Bezeichnung Patentdokumente zusammengefasst. Auch wenn das Gebrauchsmuster korrekterweise von einem Patent zu differenzieren ist, wird diese einheitliche Bezeichnung verwendet, um die verschiedenen Dokumentenarten des Korpus sprachlich zusammenfassen zu können.2 Das Patentdokument ist die erste schriftlich fixierte Ausformulierung, die im Ablauf eines Patentprüfungsverfahrens für Außenstehende und die Studie zugänglich ist. Mit diesem Terminus soll nachdrücklich zum Ausdruck gebracht werden, dass die frühen Phasen eines Patents oder ähnlicher Schutzrechte wie das Gebrauchsmuster für die Untersuchung inhaltlich bedeutsam sind. Deshalb eignet sich als Zusammenfassung auch der Ausdruck Erfindung, der auch die
1
Es ist stets das deutsche Patentgesetz gemeint. Die folgende Liste enthält nur die Informationen, die für den Fortgang der Arbeit relevant sind. Eine detaillierte Schilderung über weitere Veröffentlichungen des DPMA, die über die hier aufgezeigte Liste hinausgehen, findet sich zum Beispiel in Schwendy (2003). Zum Gebrauchsmuster vgl. Kapitel 3.1.3.
2
Das DPMA verwendet zum Beispiel in der aktuellen Informationsbroschüre zum Patentschutz die Bezeichnung „Patentveröffentlichung“, um die Dokumente der Datenbank DEPATISnet zu beschreiben (DPMA 2013c: 14). Korrekterweise bezeichnet dieses Dokument den Vorgang, wodurch das Schriftstück öffentlich zugänglich gemacht wird. Da der Begriff Patentdokument aber weitaus bekannter ist und die Patentanmeldung im zeitlichen Ablauf eines Patentschutzverfahrens früher anzusetzen ist, wurde der Ausdruck Patentdokument gewählt. In einer weiteren Informationsbroschüre des DPMA zur Normierung von Patentliteratur – der auch als zusammenfassender Begriff verwendet wird, wird folgender Hinweis vorausgeschickt, der mit meiner Vorgehensweise deckungsgleich ist: „Die Begriffe ‚Patent‘ und ‚Patentdokument‘ innerhalb der nachstehenden Code-Definitionen schließen stets auch Gebrauchsmuster beziehungsweise Gebrauchsmusterdokumente mit ein.“ (DPMA 2014b: 1, Herv. i. O.) Auch eine andere Broschüre des DPMA verwendet eine weitere, einheitliche Bezeichnung: „Ein Patentdokument (Veröffentlichung der Patentanmeldung = Offenlegungsschrift, Patentschrift, Gebrauchsmusterschrift) besteht in der Regel aus diesen Elementen […].“ (DPMA 2015d: 16) Bestätigt wurde diese Vorgehensweise von Evelyn Benke vom DPMA, Zweigestelle Berlin, der ich mich für die freundliche Unterstützung danken möchte.
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Gebrauchsmusteranmeldung umfasst, da in allen diesen Schriftstücken eine Neuerung beschrieben wird. Alternativ wird auch der Begriff Patentliteratur verwendet, den auch das DPMA nutzt. Auslege- und Offenlegungsschriften sind Vorformen von Patenten. Sie entsprechen inhaltlich den Schriftstücken, die am Anmeldetag beim DPMA eingereicht werden (DPMA 2015a). Nach einer bestimmten Frist sind diese Dokumente der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich.3 Mit dem Begriff Patent sind im Folgenden sowohl das Patent, als auch diese beiden frühen Formen gemeint. Bis einschließlich 1956 existierten ausschließlich Patentschriften. Auslegeschriften kamen zusätzlich von 1957 bis einschließlich 1980 zum Einsatz. (DPMA 2009: 10; Schwendy 2003: Rn. 61). Ab 1968 kam die Gattung Offenlegungsschrift zum Patentanmeldeverfahren hinzu, so dass mit dem Datum des 1. Januar 1982 neben Patentschriften noch Offenlegungsschriften in die Untersuchung einzubeziehen sind. Gebrauchsmuster sind eine vereinfachte Form der Anmeldung einer Erfindung (DPMA 2014c). Dieser Vorgang wird allerdings nicht geprüft und dabei auch kein Patent erteilt, sondern ein Gebrauchsmuster. Dieses Verfahren wird insbesondere für technische Erfindungen wie für die Personenwaage genutzt, da es kostengünstig und rasch abzuwickeln ist. Werden Patentschriften genannt, bezieht sich dies explizit nicht auf Auslege- und Offenlegungsschriften und auch nicht auf Gebrauchsmuster. Patentschriften gehen aus einer Anmeldung zu einem Patent hervor (DPMA 2015c). Nach einer ausführlichen Prüfung wird durch das DPMA ein Patent erteilt, welches 1877 für höchstens fünfzehn4 und 1923 für höchstens achtzehn Jahre5 galt. Heute sind höchstens zwanzig Jahre6 vorgesehen (ebd.). Die Bezeichnung Patentschrift gilt für solche Dokumente. Patentblätter werden in die vorliegende Studie nicht einbezogen. Diese sind zwar laut dem deutschen Patentgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 25. Mai 18777 sowie 5. Mai 19368 und bis heute 9 ebenfalls Bestandteil der Veröffentlichungen des DPMA. Weitergehende Beschreibungen
3 4
§ 32 Abs. 1–4 sowie § 58 PatG (Benkard 2015: FNA 420-1). § 7 PatG in der Fassung der B. v. 25. Mai 1877, RGBl. S. 501–510 (Reichskanzleramt 1877).
5
Vgl. Keukenschrijver (2003: Rn. 16).
6
§ 16 PatG (Benkard 2015: FNA 420-1)
7
§ 19 PatG in der Fassung der B. v. 25. Mai 1877, RGBl. S. 501–510.
8
§ 24 Abs. 4 sowie § 30 Abs. 2 PatG in der Fassung der B. v. 05. Mai 1936, RGBl. II, Nr. 16, S. 117–130 (RMI 1936).
9
§ 32 Abs. 1 Nr. 3 und § 32 Abs. 5 PatG in der Fassung der B. v. 16. Dezember 1989, BGBl. I, Nr. 1, S. 1–25 (BMJV 1981).
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und Ausführungen zum einzelnen Patent, die für die hier durchgeführte Analyse benötigt werden, sind aber nicht enthalten. Patentblätter werden in regelmäßigen Zeitabständen veröffentlicht und enthalten eine Übersicht, in der alle Veränderungen gegenüber der vorigen Version des Patentblatts genannt werden.10 Unter anderem zählen dazu erteilte Patente, offengelegte Patente und Gebrauchsmuster.
DIE WELT DER PATENTE 11 Patente werden heute für „Erfindungen auf allen Gebieten der Technik erteilt, sofern sie neu sind, auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen und gewerblich anwendbar sind“, wie es im deutschen Patentgesetz, welches im Januar 1981 in Kraft getreten ist,12 verankert ist. Die Überlegungen zum Erfinderschutz gehen bis vor etwa 600 vor Christus zurück, wie Bluhm (1952) darlegt. Die Bedeutung schützenswerter Ideen, die Interessen von Erfinder*innen und Gesellschaft sowie das Motiv des geistigen und persönlichen Eigentums spielten bereits zu diesem frühen Zeitpunkt in der griechischen Antike in wirtschaftlicher und rechtlicher Hinsicht eine bedeutsame Rolle (ebd.: 341). Die mit Innovationen assoziierten Termini wurden nach und
10 Vgl. beispielsweise die Ausgabe des Patentblatts vom 24. März 2016 (DPMA 2016b). Eine ausführliche Schilderung aller Bestandteile des Patentblatts (Schwendy 2003). 11 Die Bezeichnung geht auf die Veröffentlichung von Mersch (2013) zurück, der Schutzrechte wie Patente in einem soziologischen Zusammenhang von Wissen und Globalisierung untersuchte. 12 § 1 Abs. 1 PatG, in der Fassung der B. v. 16. Dezember 1980, BGBl. 1981 I S. 1. Die Neufassung wurde zuletzt geändert durch Art. 2 G. v. 04. April 2016 BGBl. I S. 558 (BMJV 2017b), vgl. Benkard (2015: FNA 420-1). Der Text in § 1 PatG ist seit dem 13. Dezember 2007 in der zitierten Form bestehen geblieben. Die Änderung war durch Art. 2 des G. v. 24. August 2007 BGBl. I S. 2166 festgesetzt worden (BMJV 2007). Das aktuelle PatG basiert auf der Fassung der B. v. 16. Dezember 1980, die am 1. Januar 1981 in Kraft getreten ist, darin die vorige Version des § 1: „Patente werden für Erfindungen erteilt, die neu sind, auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen und gewerblich anwendbar sind“, § 1 PatG, BGBl. I, Nr. 1, S. 2 (BMJV 1981). Stellvertretend für das PatG wird, wenn nicht anders vermerkt, Benkard (2015) zitiert. Alle Literaturverweise, die auf Gesetze zurückgehen, finden sich im Folgenden in den entsprechenden Fußnoten. Die Seitenzahlen beziehen sich mit Ausnahme der Verweise auf ganze Gesetze auf den jeweiligen Gesetzesabschnitt, der genannt wird.
Von der Idee zur Personenwaage | 79
nach im deutschen Sprachraum eingeführt. Die historische Entwicklung hin zu einem institutionalisierten Umgang mit Erfindungen geht mit der Festlegung und gesellschaftlichen Etablierung entsprechender Begrifflichkeiten einher. Die Entwicklungen im Bereich des heutigen Deutschlands gehen bis in das 15. Jahrhundert zurück. So ist der Ausdruck „Urheber“ im Jahr 1432 erstmalig im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm belegt, rund hundertdreißig Jahre später der Begriff „Patent“ (Köbler 2008). Letzterer klingt im lateinischen Terminus litterae patentes an, welcher für nicht versiegelte und damit einsehbare Mitteilungen verwendet wurde (ebd.: 505, Herv. i. O.). Die Brücke zum heutigen Verständnis des Patentbegriffs kommt zum Beispiel durch die Vergabe eines Privilegs für den Buchdruck zustande, das mit der Erfindung von Gutenberg durch Johann von Speyer 1469 in Venedig eingeführt wurde und dort für zehn Jahre geschützt war (ebd.: 507–508). Parallel wurden im Mittelalter im deutschsprachigen Raum Sonderprivilegien vergeben, die allerdings nicht nur neue Erfindungen einschlossen (Bluhm 1952). Einige Zeit später, im Jahr 1740, führte das „Universal-Lexicon“ von Johann Heinrich Zedler (1706–1751) das Schlagwort „Patent“ ein (Zedler 1740b: 894–895).13 Im Zuge der Industrialisierung kam diesen Begriffen Mitte des 19. Jahrhunderts allmählich eine rechtliche Dimension zu, was bereits im 17. und 18. Jahrhundert von englischen, französischen, österreichischen und nordamerikanischen Gesetzgebungen berücksichtigt worden war (Bluhm 1952; Fischer 1967). Das Urheberrecht fand kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert seinen Eingang in das Wörterbuch der Brüder Grimm, ein deutsches Patentrecht wurde 1855 von Carl Theodor von Kleinschrod (1789–1869) in einer Schrift zur Patentgesetzgebung beschrieben (Köbler 2008: 513–522). Der in dieser Zeit wesentlich bekanntere Jurist Josef Kohler (1849–1919) veröffentlichte etwas später mehrere Lehr- und Handbücher zum deutschen Patentrecht, ohne jedoch auf die frühere Nennung bei Kleinschrod zu verweisen. Parallel dazu fand ein Prozess statt, bei dem auf politischer und wissenschaftlicher Ebene Definitionen, Verbindlichkeiten und eine entsprechende Rechtsprechung von Patenten diskutiert wurden. In einer Chronik des Patentschutzes nimmt 1873 die Weltausstellung in Wien eine strategisch wichtige Funktion ein, da dort auch der „Internationale Patentkongreß“ veranstaltet wurde (Bluhm 1952; Fischer 1967; Schmidt 2009). Daran maßgeblich beteiligt waren der „Verein Deutscher Ingenieure (VDI)“, die „Deutsche Chemische Gesellschaft“ und der „Patentschutz-Verein“, sowie als individueller Akteur Werner von Siemens (1816–1892). In dieser Konstellation wurden regelmäßig Initiativen
13 Vgl. Köbler (2008: 510).
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gestartet, um eine deutsche Patentgesetzgebung voranzubringen. Als Meilenstein in dieser Entwicklung gilt das Jahr 1877. In diesem Jahr wurde das Reichspatentgesetz veröffentlicht, nachdem dieses im Deutschen Reichs- und Bundestag verabschiedet worden war (Bluhm 1952: 345; Boch 1999: IV; Fischer 1967; Seckelmann 2006: 336–414). Auf diese Weise kam die erste Gesetzgebung zustande, in der das Patentwesen für alle deutschen Länder und Staaten festgelegt wurde (Bluhm 1952).14 Ähnlich wie in der aktuell gültigen Fassung wurden Patente darin wie folgt definiert: „(1) Patente werden ertheilt [sic!] für neue Erfindungen, welche eine gewerbliche Verwerthung [sic!] gestatten. (2) Ausgenommen sind: 1. Erfindungen, deren Verwerthung den Gesetzen oder guten Sitten zuwiderlaufen würde; 2. Erfindungen von Nahrungs-, Genuß- und Arzneimitteln, sowie von Stoffen, welche auf chemischem Wege hergestellt werden, soweit die Erfindungen nicht ein bestimmtes Verfahren zur Herstellung der Gegenstände betreffen.“15
Auch in den Patentgesetzen von 1891 und 1936 findet sich diese Definition in beinahe identischem Wortlaut.16 Die ursprüngliche Gesetzesfassung vom 25. Mai
14 Zur internationalen Entwicklung vgl. Machlup (1958). 15 § 1 Patentgesetz in der Fassung der B. v. vom 25. Mai 1877, RGBl. S. 501 (Reichskanzleramt 1877). 16 Da in den Gesetzeskommentaren von den Patentgesetzen der Jahre 1877, 1891, 1936 und 1981 die Rede ist, bezieht sich die weitere Darstellung des § 1 auf den Wortlaut in diesen Gesetzen (Keukenschrijver 2003: Rn. 1–39; Rogge/Melullis 2015b: Rn. 5–69). Das Patentgesetz erfuhr darüber hinaus viele weitere Veränderungen. Dazu zählen zum Beispiel das PatG in der Fassung der B. v. 7. Dezember 1923, RGBl. II S. 437–443 (RMI 1923, Teil II) sowie das Patentänderungsgesetz in der Fassung der B. v. 2. Januar 1968, BGBl. I S. 1–23 (BMJV 1968, Teil I). In den Neufassungen von 1891 und 1936 wurde der § 1 wie folgt geführt: § 1 Patentgesetz in der Fassung der B. v. 7. April 1891, RGBl. S. 79: „(1) Patente werden ertheilt [sic!] für neue Erfindungen, welche eine gewerbliche Verwerthung [sic!] gestatten. (2) Ausgenommen sind: 1. Erfindungen, deren Verwerthung den Gesetzen oder guten Sitten zuwiderlaufen würde; 2. Erfindungen von Nahrungs-, Genuß- und Arzneimitteln, sowie von Stoffen, welche auf chemischem Wege hergestellt werden, soweit die Erfindungen nicht ein bestimmtes Verfahren zur Herstellung der Gegenstände betreffen.“ (Reichsamt des Innern 1891b) § 1 Patentgesetz in der Fassung der B. v. 5. Mai 1936, RGBl. II S. 117: „(1) Patente werden erteilt für neue Erfindungen, die eine gewerbliche Verwertung gestatten. (2) Ausgenommen sind: 1. Erfindungen, deren Verwertung den Gesetzen oder guten Sitten
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1877 ist relativ offen gehalten und gilt aus heutiger Sicht als richtungsweisend für ein Patentanmeldeverfahren in einer liberalen Gesellschaftsordnung, in der sich der Staat aus wirtschaftlichen Belangen so weit wie möglich heraushält (Seckelmann 2006: 336). So wurde unter anderem in diesem Gesetz noch nicht genauer ausformuliert, wie es rechtlich einzustufen war, wenn eine neue Idee von Beschäftigten eines Unternehmens stammte und zum Patent angemeldet wurde. Die Frage, welche Rechte bindend waren – die der Anmelder17 oder die der Erfinder –, waren also noch ungeklärt (Schmidt 2009: 117; Seckelmann 2006: 336). In der späteren reformierten Form des Patentgesetzes von 1911 bis 1913 wurde versucht, diesen Punkt zu berücksichtigen (Schmidt 2009: 117; Seckelmann 2006: 392). Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts setzte ein steter Wandel aus Gesetzesentwürfen und Reformen entsprechender Gesetze ein (Schmidt 2009). Das Jahr 1877 war auch deshalb patentgeschichtlich bedeutsam, weil die Vorgängerin des DPMA gegründet wurde, und zwar am 11. Juli 1877 als „Kaiserliches Reichspatentamt“ in Berlin (Fischer 1967: 5). Im Patentgesetz von 1877 ist die Zuständigkeit des Patentamts wie folgt formuliert worden: „Die Ertheilung [sic!], die Erklärung der Nichtigkeit und die Zurücknahme der Patente erfolgt durch das Patentamt. Das Patentamt hat seinen Sitz in Berlin. Es besteht aus mindestens drei ständigen Mitgliedern, einschließlich des Vorsitzenden, und aus nicht ständigen Mitgliedern. Die Mitglieder werden vom Kaiser, die übrigen Beamten vom Reichskanzler ernannt. Die Ernennung der ständigen Mitglieder erfolgt auf Vorschlag des Bundesraths [sic!] […].“ (Reichskanzleramt 1877)18
Ab 1919 wurde die Bezeichnung „Reichspatentamt“ eingeführt (Ortlieb/Schröder 1999). Bis 1945 blieb der Standort Berlin bestehen. Kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurden vorübergehende Annahmestellen für neue Erfindungen in Berlin und Darmstadt eingerichtet (DPMA 2016a). Nach dem Zweiten Weltkrieg
zuwiderlaufen würde; 2. Erfindungen von Nahrungs-, Genuß- und Arzneimitteln sowie von Stoffen, die auf chemischem Wege hergestellt werden, soweit die Erfindungen nicht ein bestimmtes Verfahren zur Herstellung der Gegenstände betreffen.“ (RMI 1936) 17 Lediglich aus Gründen der Konsistenz wird im Folgenden den Bezeichnungen im Patentgesetz und des DPMA gefolgt und die (noch ausschließlich) männliche Form beibehalten, wenn die Funktion oder das Amt von Personen angesprochen wird. 18 § 13 PatG in der Fassung der B. v. 25. Mai 1877, RGBl., Nr. 23, S. 503 (Reichskanzleramt 1877).
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wurde die Dienststelle nach München gelegt, wo bis heute der Hauptsitz liegt und als „Deutsches Patentamt“ (DPA) benannt (Ortlieb/Schröder 1999). Mit der Wiedervereinigung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) mit der Deutschen Demokratischen Republik (DDR)19 wuchsen die Datenbestände des DPMA an, weshalb 1998 in Jena eine zusätzliche Zweigstelle errichtet wurde (DPMA 2016a; Ortlieb/Schröder 1999). Die Dienstelle in Berlin war zunächst parallel zu München aufrechterhalten worden, jedoch wurde diese ebenfalls 1998 nach Jena verlegt und der Standort in Berlin als Technisches Informationszentrum (TIZ) aufrechterhalten. Parallel zu diesen Umstrukturierungen wurde die heutige Bezeichnung „Deutsches Patent- und Markenamt“ eingeführt. 3.1.1 Theoretische Prinzipien des Erfindungsschutzes Ein wesentliches Argument, das schon früh an Patentdokumente gebunden war, besteht in der Forderung nach neuen technischen Erfindungen. Patente und
19 Auf eine Darstellung der historischen Entwicklungen und des Anmeldeverfahrens in der DDR wird verzichtet, da dieser Zeitraum sich lediglich auf etwa ein Drittel (1950– 1990) des gesamten Zeitabschnitts (1877 bis heute) bezieht, in dem sich Veränderungen in der Anmeldung eines Patents vollzogen haben. Überschneidungen zu den Vorgaben in (West-)Deutschland sind erkennbar. Mit dem Vertrag über die Herstellung der Einheit Deutschlands im August 1990 wurde das Deutsche Patentamt zur zuständigen Behörde (Keukenschrijver 2003: Rn. 28). Erwähnenswert und interessant erscheinen allerdings die Hinweise bei (Rogge/Melullis 2015b: Rn. 20, 24, 25): „Patente wurden für neue gewerblich benutzbare Erfindungen erteilt (§ 1 Abs. 1 Satz 1). […] Das Patentgesetz der DDR definierte Erfindungen als technische Lösungen, die sich durch Neuheit, industrielle Anwendbarkeit und technischen Fortschritt auszeichnen und auf einer erfinderischen Leistung beruhen (§ 5 Abs. 1 PatG DDR). […] Als fortschrittlich wurde eine Lösung dann angesehen, wenn sie gegenüber dem bekannten Stand der Technik einen Effekt ermöglichte, der geeignet war, gesellschaftliche Bedürfnisse besser zu befriedigen (§ 5 Abs. 4 PatG DDR). […] Das Patentgesetz der DDR schloss eine ganze Reihe von Erfindungen vom Patentschutz aus. Dazu zählten zunächst solche, die im Widerspruch zur sozialistischen Moral standen (§ 6 Abs. 1 PatG DDR) […].“ In der Gesetzgebung der DDR wurde zwischen drei Arten von Patenten differenziert. Die hier einbezogenen Patente aus dieser Zeit betreffen konkret drei Wirtschaftspatente. Allerdings sind diese von so genannten Ausschließungs- und Geheimpatenten zu unterscheiden. (Vgl. dazu sowie zum Patentwesen der DDR ausführlicher Rogge/Melullis 2015b: Rn. 20–28; Keukenschrijver 2003: Rn. 27–30). Die Rolle dieser drei Patente wird in Kapitel 3.2.2 geklärt.
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Gebrauchsmuster werden dementsprechend als Teil eines „deutschen Innovationssystems“ (Grupp et al. 2002) beschrieben und Patente als „eine der wichtigsten rechtlichen Institutionen in der modernen Gesellschaft“ betrachtet (Mersch 2013: 15).20 Es existieren verschiedene theoretische Positionen, die sich auf die Schutzwürdigkeit von Patentdokumenten beziehen und aus denen auch hervorgeht, dass diese Schriftstücke einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert haben (Machlup 1958; Rogge/Melullis 2015a; Schmidt 2009). Wenn man davon ausgeht, dass Erfindungen etwas Neues sind, die es in dieser Form zuvor noch nicht gab und dieses Wissen unter bestimmten Voraussetzungen der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt wird, bedeutet das Verfahren einer Patentoder Gebrauchsmusteranmeldung den Übergang von einer abgeschirmten, privaten Umgebung hin zu einem (teil-)öffentlichen Diskurs. Dabei geht es darum, eine Idee der Gesellschaft zwar zugänglich zu machen, die Neuerung aber gleichzeitig vor einer möglichen Konkurrenz zu schützen. In den Gesetzeskommentaren zum deutschen Patentgesetz und weiteren (historischen) Veröffentlichungen werden gerade diese Aspekte diskutiert (Machlup 1958: 17– 20; Rogge/Melullis 2015a: Rn. 1–4; Schmidt 2009: 17–25). So sagen das Naturrecht und die Belohnungstheorie aus, dass der Erfinder das Recht hat, von seiner Idee zu profitieren. Der Staat fungiert dabei über das DPMA (und dessen Vorläufer) als Sammelstelle und Instanz, die den Prozess der Anmeldung von Erfindungen bis heute leiten, überwachen und kontrollieren. Aus den historischen und juristischen Gegebenheiten des Patentgesetzes folgten klar definierte Zuständigkeiten des Patentamts, die vom DPMA aktuell wie folgt zusammengefasst werden: „Das Deutsche Patent- und Markenamt (DPMA) ist die Zentralbehörde auf dem Gebiet des gewerblichen Rechtsschutzes in Deutschland. Das DPMA erteilt Patente und trägt die anderen gewerblichen Schutzrechte ein. Es verwaltet diese und informiert außerdem die Öffentlichkeit über gewerbliche Schutzrechte und Schutzrechtsanmeldungen.“ (DPMA 2013c: 28, Herv. DF)21
20 Die wichtige Position der Innovation wurde in der Literatur immer wieder diskutiert und wurde gegenüber dem Erfindungsschutz als bedeutender erachtet (Keukenschrijver 2003: 67). 21 §§ 26–33 PatG in der Fassung der B. v. 16. Dezember 1980, BGBl. 1981 I S. 1; zuletzt geändert durch Art. 2 G. v. 04. April 2016 BGBl. I S. 558, vgl. darin die Zuständigkeiten des DPMA in ihrer Form als staatliche Behörde (BMJV 2017b).
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Die Vertragstheorie bringt diese Bindung an den Staat zum Ausdruck. Die Ansporntheorie betont die Bedeutung der Patente vor einem größeren Hintergrund, da durch technische Neuerungen ein marktwirtschaftlicher Aufschwung und gesamtgesellschaftliche Verbesserungen erreicht werden können: „Im Vordergrund steht das Bestreben der Patente erteilenden Staaten, diejenigen, die Kenntnisse über gewerblich anwendbare Erfindungen besitzen, zur Preisgabe ihrer Kenntnisse zu veranlassen, damit die Allgemeinheit in diesem Staat aus der Kenntnis der der Öffentlichkeit preisgegebenen Erfindungen Nutzen ziehen kann.“ (Rogge/Melullis 2015a: Rn. 1)
Das Verfahren der Patent- und Gebrauchsmusteranmeldung wird aufwendig gesetzlich geschützt und ist nicht nur ein Bestandteil (ingenieurs-) wissenschaftlicher oder juristischer Diskurse. Erfindungen sind wesentlich an der Produktion von Wissen beteiligt und gelten als „institutionelles Rückgrat“ der Gegenwartsgesellschaft (Mersch 2013: 15). Damit beziehen sich Patente und Gebrauchsmuster auf gesellschaftliche Entwicklungen und spiegeln – in Abhängigkeit der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse – vergangene, aktuelle und künftige Handlungsmodelle wider. Diese betreffen nicht nur Institutionen wie das DPMA und Staaten wie Deutschland, sondern als (historisches) soziales Phänomen ganze Gesellschaften und einzelne Individuen. 3.1.2 Das Patentanmeldeverfahren 1877 und heute Das erste Patentgesetz, aus dem der Ablauf einer Patent- oder Gebrauchsmusteranmeldung gefolgert werden kann, galt ab 1877 für das gesamte Deutschland beziehungsweise das damalige Deutsche Reich. Es existierte vorher keine einheitliche Regelung für alle deutschen Staaten. 22 Das Patentgesetz von 1877 legte den Grundstein für das Anmeldeverfahren. Der dritte Abschnitt mit den §§ 20 bis 3323 erklärt das Vorgehen bei der Anmeldung einer neuen Idee und die Struktur des schriftlichen Dokuments, insbesondere § 20 bezieht sich auf das Schriftstück und dessen Aufbau, das beim Kaiserlichen Reichspatentamt
22 Erläuterungen zur Vorgeschichte des ersten Patentgesetzes für das gesamte Deutschland finden sich in Bluhm (1952), Fischer (1967) und Schmidt (2009). 23 PatG in der Fassung der B. v. 25. Mai 1877, RGBl., Nr. 23, S. 505–507 (Reichskanzleramt 1877).
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eingereicht werden konnte. Genau diese einzelnen Bestandteile fungieren als Quellen dieser Untersuchung: „Die Anmeldung einer Erfindung behufs Ertheilung [sic!] eines Patentes geschieht schriftlich bei dem Patentamte. Für jede Erfindung ist eine besondere Anmeldung erforderlich. Die Anmeldung muß den Antrag auf Ertheilung des Patentes enthalten und in dem Antrage den Gegenstand, welcher durch das Patent geschützt werden soll, genau bezeichnen. In einer Anlage ist die Erfindung dergestalt zu beschreiben, daß danach die Benutzung derselben durch andere Sachverständige möglich erscheint. Auch sind die erforderlichen Zeichnungen, bildlichen Darstellungen, Modelle und Probestücke beizufügen. Das Patentamt erläßt [sic!] Bestimmungen über die sonstigen Erfordernisse der Anmeldung. Bis zu der Bekanntmachung der Anmeldung sind Abänderungen der darin enthaltenen Angaben zulässig. Gleichzeitig mit der Anmeldung sind für die Kosten des Verfahrens 20 Mark zu zahlen.“24
Die Person, die das Patent eingereicht hat, hatte anschließend die Möglichkeit, etwaige Mängel nachzubessern, wenn dies die Prüfung von Amts wegen ergeben hat (§ 21). Die Bekanntmachung des Patentes wurde bei positiv erfolgter Prüfung in die Wege geleitet und das Patent war von diesem Zeitpunkt an geschützt (§ 22). § 23 erklärt die Veröffentlichung der Patentdokumente: „Die Bekanntmachung der Anmeldung geschieht in der Weise, daß der Name des Patentsuchers und der wesentliche Inhalt des in seiner Anmeldung enthaltenen Antrages durch den Reichsanzeiger einmal veröffentlicht wird. Gleichzeitig ist die Anmeldung mit sämmtlichen [sic!] Beilagen bei dem Patentamte zur Einsicht für jedermann auszulegen. Mit der Veröffentlichung ist die Anzeige zu verbinden, daß der Gegenstand der Anmeldung einstweilen gegen unbefugte Benutzung geschützt sei. Handelt es sich um ein im Namen der Reichsverwaltung für die Zwecke des Heeres oder der Flotte nachgesuchtes Patent, so unterbleibt die Auslegung der Anmeldung und ihrer Beilagen.“ 25
Eine Auslegung bedeutet, dass Dritte in die Schriftstücke Einsicht nehmen können. Innerhalb bestimmter Fristen war es für diese Personen nun möglich, gegen die (erfolgte) Erteilung des Patentes Einspruch zu erheben (§§ 24–25), was eine Unterbrechung des üblichen Ablaufs bedeutete. Dazu zählte auch eine vorher
24 § 20 PatG in der Fassung der B. v. 25. Mai 1877, RGBl., Nr. 23, S. 505–506 (Reichskanzleramt 1877). 25 § 23 PatG in der Fassung der B. v. 25. Mai 1877, RGBl., Nr. 23, S. 506 (Reichskanzleramt 1877).
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negativ erfolgte Prüfung des Patentamts, wodurch das Patent zurückgewiesen wurde (§ 22). §§ 29 bis 33 verweisen abschließend in einem „Verfahren in Patentsachen“26, auf die Zusammenarbeit des Kaiserlichen Reichspatentsamts mit dem Justizwesen. So werden bei einer Streitsache Gerichte hinzugezogen. Bis heute ist diese Vorgehensweise ähnlich bestehen geblieben. Verfolgt man die Veränderungen in den Patentgesetzen bis 1936, fällt auf, dass inhaltlich wenige Veränderungen bei den Textstellen vorgenommen wurden, die bereits 1877 in das Gesetz aufgenommen wurden. Die Hinweise zu Inhalt und Aufbau der einzureichenden Dokumente in § 20, auf die oben Bezug genommen wurde, haben erst im Patentgesetz von 1981 eine spürbare Veränderung erfahren. Gewisse Ergänzungen wurden in den jeweiligen Neufassungen des Patentgesetzes zum Vorgehen bei der Anmeldung einer Erfindung eingepflegt. Eine kurze rechtshistorische Diskursanalyse Im Folgenden wird auf die Änderungen in den ursprünglichen §§ 20 und 23 von 1877 eingegangen, um nachzeichnen zu können, wie sich diese beiden Bestandteile der historischen Gesetzgebung verändert haben. Diese Vorgaben sind für die diskursanalytische Untersuchung von Belang, weil diese Abschnitte des Patentgesetzes die inhaltliche Ausgestaltung und die Vorgänge von der Anmeldung bis zur Veröffentlichung der Dokumente festlegten. Damit drückt sich die institutionelle Infrastruktur aus, die regelte, wie in einem diskursiven Prozess das Wissen über die Erfindung der Personenwaage zusammengefasst und öffentlich gemacht wurde. Die einbezogenen Quellen erstrecken sich auf den gesamten Zeitraum der Patentgesetzgeschichte. Für jedes einzelne Patent im Korpus der Studie lässt sich daraus die jeweilige Gesetzeslage rekonstruieren und unter welchen Bedingungen eine Erfindung öffentlich wirksam wurde. 27 Darüber hinaus wird der formale Rahmen, in dem sich die Diskursanalyse bewegen wird, deutlich. So wurde der § 20 im Jahr 1891 durch folgenden Zusatz ergänzt: „Am Schlusse der Beschreibung ist dasjenige anzugeben, was als patentfähig unter Schutz gestellt werden soll (Patentanspruch).“28 Der alte § 21, der sich auf die
26 PatG in der Fassung der B. v. 25. Mai 1877, RGBl., Nr. 23, S. 507–508 (Reichskanzleramt 1877). Die Erläuterungen zum Verfahren gehören zum dritten Abschnitt des Patentgesetzes. 27 Aufgrund der Nähe zwischen Patent und Gebrauchsmuster erfolgt diese Erläuterung abermals beispielhaft für die Patentgesetzgebung und das Patent. 28 PatG in der Fassung der B. v. 7. April 1891, RGBl., Nr. 12, S. 79–90 (Reichsamt des Innern 1891b).
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Bekanntmachung der Anmeldung bezog, floss in den neuen § 23 ein. Ergänzt wurde der § 23, wodurch ermöglicht wurde, dass eine Auslegung der Patentdokumente auch außerhalb von Berlin erfolgen konnte. Darüber hinaus wurde die Option eingeräumt, auf Antrag die Bekanntmachung für eine bestimmte Dauer auszusetzen. Fast fünfzig Jahre später, im Jahr 193629, wurde die Umbenennung des Patentamts aus dem Jahr 1919 zum „Reichspatentamt“ in die Neufassung übernommen. Die einzelnen Paragrafen wurden stärker unterteilt und durchnummeriert. Aus § 20 wurde § 26. In Absatz drei wurde ein Satz gestrichen, Absatz vier bis sechs neu hinzugefügt. Der Präsident des Reichspatentamts erhielt eine eigene Weisungsbefugnis, vorher wurde allgemein das Patentamt genannt. Der neue Absatz vier führte aus, dass das Reichspatentamt bei einem Antrag auf Anmeldung eines Patents eine vollständige und wahrheitsgemäße Angabe zum Stand der Technik einforderte. Ergänzungen und Bearbeitungen, welche die Beschreibung der Erfindung betrafen, waren bis zur Bekanntmachung der Anmeldung möglich (Abs. 5). Dem Erfinderschutz wurde in Absatz sechs Rechnungen getragen, da die Person, die eine Erfindung anmeldete, nicht zwingend als Erfinder auftreten musste. Allerdings musste die Person, auf welche die Erfindung zurückging, nun in der Anmeldung genannt werden. Allerdings wurde darauf hingewiesen, dass das Reichspatentamt diese Angaben nicht überprüft. Aus § 23 wurde § 30. Absatz 1 bezog sich auf die Anforderungen, die an Patentmeldungen gestellt werden, was die Zusammenhänge zwischen den beiden Paragrafen untermauerte. Wie auch in § 26 zeigt sich, dass Entscheidungen nun direkt an Personen gebunden waren. Absatz 3 des § 30 nannte den Reichsminister der Justiz, der beurteilte, wo die Auslegung außerhalb Berlins erfolgte. Es folgten vielzählige Umformulierungen des § 30, auf die hier aber nicht weiter eingegangen werden soll. Insgesamt zeigt sich in der Folgezeit, dass der Trend zur Überarbeitung der jeweiligen Gesetzesfassung sich weiterhin fortsetzte. Das Patentanmeldeverfahren wurde immer genauer beschrieben und dazu differenziertere Angaben wie Vorgaben gemacht. Die Umgebungsbedingungen einer jeden Erfindung wurden dadurch sehr genau geregelt. Die derzeit letzte Neufassung stellt das Patentgesetz dar, das im Januar 1981 in Kraft getreten ist.30
29 PatG in der Fassung der B. v. 5. Mai 1936, RGBl., Teil II, Nr. 16, S. 117–130 (RMI 1936). 30 PatG in der Fassung der B. v. 16. Dezember 1980, BGBl. I, Nr. 1, S. 1–25 (BMJV 1981). Diese Fassung wurde seither laufend aktualisiert (Rogge/Melullis 2015b: Rn. 42–69; Keukenschrijver 2003: Rn. 24–39, 73–90), vgl. auch Ullmann/Tochtermann (2015). Internationale Bestimmungen und Vereinheitlichungen wurden bereits seit
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Der dritte Teil des Patentgesetzes ist nun von ursprünglich insgesamt vierzehn Paragrafen im Jahr 1877 auf mehr als die doppelte Zahl, 29 Paragrafen im Jahr 1981, angewachsen. § 35, Absatz eins, der aus dem § 26 von 1936 hervorging, wurde darin neu gegliedert und nummeriert. Ein Patentdokument musste demzufolge wie folgt aufgebaut sein und die folgenden Punkte enthalten. Erstens, „einen Antrag auf Erteilung des Patents, in dem die Erfindung kurz und genau bezeichnet ist“, zweitens „einen oder mehrere Patentansprüche, in denen angegeben ist, was als patentfähig unter Schutz gestellt werden soll“, drittens „eine Beschreibung der Erfindung“ und viertens „die Zeichnungen, auf die sich die Patentansprüche oder die Beschreibung beziehen.“31 Eine Kurzfassung dieser Bestandteile wird durch § 36 gefordert. Im weiteren Text des § 35 werden nun der Bundesminister der Justiz oder der Präsident des Patentamts genannt. Diese sind nun befugt, Entscheidungen zu treffen. Der frühere Absatz 5 ist weggefallen und in den § 38 eingeflossen. § 63 legt explizit fest, dass die Erfinder eines Patents zu nennen sind, die Veröffentlichung der Patentschrift und deren Schutz wird in § 58 dargelegt.32 Der Aufbau von Patentdokumenten Um die Beziehung zwischen den geschilderten, formalen Vorgaben der Gesetzgebung und den Erfindungen zur Personenwaage herleiten zu können, werden auszugsweise historische Patentdokumente in ihrer Makrostruktur untersucht und die jeweils gültige Fassung des Patentgesetzes zugrunde gelegt. In einer HDA wird davon ausgegangen, dass die Gestaltung eines Textes, das heißt die Anordnung einzelner Abschnitte und die Darstellungsform33, Rückschlusse auf die Konstruktion sozialer Wirklichkeit erlaubt (Landwehr 2009: 113, Herv. i. O.). Gerade wenn es um die diskursanalytische Erschließung eines institutionell verankerten Teildiskurses geht, spielen sowohl die Regeln, nach denen Wissen geordnet wird, eine essenzielle Rolle als auch die Art und Weise, in der sich
1976 in das PatG eingearbeitet. Eine internationale Harmonisierung in Richtung eines EU-Patents ist dabei die längerfristige Intention. Der Prozess hin zu einem internationalen Patentrecht wurde in den letzten Jahren zwischen den europäischen Staaten verstärkt diskutiert und ist derzeit noch im Gange. Aus diesem Grund wird auf eine ausführlichere Darstellung verzichtet. 31 § 35 Abs. 1 PatG in der Fassung der B. v. 16. Dezember 1980, BGBl. I, Nr. 1, S. 1–25, (BMJV 1981). 32 Auf weitere Ergänzungen und Veränderungen soll hier nicht eingegangen werden, da diese die Belange der weiteren Untersuchung nicht beeinflussen. 33 Vgl. hierzu Fairclough (2008).
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(nicht-)diskursive Praktiken typischerweise materialisieren. Analog dazu hat dieses Kapitel auch zur Aufgabe, die für eine Diskursanalyse relevanten Bestandteile einer Patent- und Gebrauchsmusteranmeldung zu identifizieren. Allein die institutionelle Einbettung führt zu ganz eigenen Mustern, die sich nicht nur im Inhalt, sondern auch in der Gestaltung von Text und Bild widerspiegeln (ebd.). Dabei werden diese Dokumente als eigenständige Datenebene betrachtet, die nicht nur die Funktion haben, Informationen für die Untersuchung zur Verfügung zu stellen (Wolff 2013: 511, Herv. i. O.). Den Aufzeichnungen wurde unvoreingenommen begegnet (ebd.: 511–512, Herv. i. O. ). In diesem Sinne wurde einmal mehr darauf verzichtet, die Datenanalyse mit einer Software durchzuführen, um das spezifische Arrangement der Schriftstücke und die Zeichnungen miteinfließen lassen zu können.34 Tatsächlich entsprechen die Patentdokumente den gesetzlichen Bestimmungen. Wie § 20 des Patentgesetzes in der damals gültigen Fassung von 187735 vorschreibt, wurde der erfinderische Gegenstand in eine der frühen Patentschriften aus dem Jahr 1889 genau betitelt und dargelegt (A6)36. Der Abschnitt „Patentanspruch“ fasst diese Merkmale, die geschützt werden sollen, nochmals explizit zusammen. Beigefügt wurden drei Seiten mit Zeichnungen, die die Erfindung veranschaulichen. Diese Erfindung setzt bereits um, was im Patentgesetz von 1891 gefordert wurde – nämlich am Ende der Beschreibung die
34 Die zurückhaltende Einstellung gegenüber der Einbeziehung von Kontextinformationen bei Wolff (2013: 512–513) ist nicht mit dem Kontextverständnis der HDA gleichzusetzen. Der Autor bezieht sich auf das Setting der Datenerhebung, da bei der Analyse von Dokumenten eine Nachfragemöglichkeit wie bei einem Interview ausgeschlossen ist und die Forscher*innen mit den Quellen auf sich gestellt sind. Die Empfehlungen von ebd. (2013) werden daher als Ergänzung zur HDA verstanden, Kontextinformationen gezielt einzuholen und das zentrale Element, die Dokumente selbst, in den Fokus der Analyse zu stellen. 35 Vgl. hierzu die entsprechenden Gesetzespassagen weiter oben im Abschnitt 3.1.2. 36 Alle mit A beginnenden Verweise beziehen sich auf weitere Patentdokumente, die aber nicht Teil des konkreten Korpus sind, s. hierzu Kapitel 3.2. Das Kürzel K steht für das konkrete Korpus und die nachfolgenden Nummern 1 bis 122 für die entsprechende laufende Nummer. Sie sind im Verzeichnis der Patentdokumente als K1 bis K122 aufgeführt. Alle mit diesem Kürzel gekennzeichneten Verweise sind Patente und Gebrauchsmuster aus dem konkreten Korpus. Beide Verzeichnisse befinden sich am Ende der Arbeit.
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Patentansprüche37 aufzuführen. Zieht man ein Patentdokument nach 1891 heran, fällt zunächst auf, dass die Beschreibung des Patents ausführlicher wurde (z. B. K1). Während das Patent von 1889 noch mit einer einseitigen Beschreibung auskam, sind es 1919 bereits zehn Seiten.38 Die Formulierung des Patentanspruchs zieht sich ebenfalls über mehrere Seiten. Dieser Trend lässt sich grundsätzlich für die Folgezeit feststellen, so dass im Durchschnitt von sechs bis acht Seiten maschinengeschriebenen Textseiten ausgegangen werden kann, welche die Beschreibung der Erfindung und – je nach Art der vorgelegten Schrift – den Patentanspruch enthalten. Es sind in Einzelfällen durchaus auch bis zu dreißig oder über vierzig Seiten möglich, die sich der Schilderung der Erfindung widmen.39 Dabei spielen die technischen Neuerungen und Möglichkeiten mit hinein, die im Lauf der Zeit verstärkt zum Einsatz kamen. Zusätzlich müssen sich die Erfindungen immer deutlicher voneinander abgrenzen, wenn die Anzahl der Erfindungen ansteigen sollte und die Ideen dadurch auch komplexer werden. Als neues Element kam die Zeilennummerierung hinzu, die sich hauptsächlich bei Patent-, Auslege- und Offenlegungsschriften durchsetzte. Auch das erste Patentdokument, das nach der Gesetzesneufassung vom 5. Mai 1936 beantragt wurde, realisierte die rechtlichen Änderungen (K19). In der Überschrift wird
37 Analog lautet dieser Abschnitt im GebrMG „Schutzanspruch“, vgl. GebrMG in der Fassung der B. v. 5. Mai 1936, RGBl. II, Nr. 16, S. 130, § 2, Abs. 1–3: „(1) Gegenstände, für die der Schutz als Gebrauchsmuster verlangt wird, sind beim Reichspatentamt schriftlich anzumelden. Die Vorschriften im § 27 des Patentgesetzes vom 5. Mai 1936 (Reichsgesetzbl. II S. 117) gelten entsprechend. (2) Die Anmeldung muß angeben, unter welcher Bezeichnung das Gebrauchsmuster eingetragen werden und welche neue Gestaltung, Anordnung oder Vorrichtung dem Arbeits- und Gebrauchszweck dienen soll. Am Schluß der Beschreibung ist anzugeben, was als schutzfähig unter Schutz gestellt werden soll (Schutzanspruch). (3) Jeder Anmeldung ist eine Zeichnung beizufügen; statt der Zeichnung kann auch ein Modell eingereicht werden.“ Abs. 1 bezieht sich auf das PatG aus demselben Jahr. Insgesamt fällt die Überschneidung zur relevanten Passage im Patentgesetz auf, auf die weiter oben ausführlich Bezug genommen wurde. 38 Dieses Patentdokument ist chronologisch das erste Dokument in der Trefferliste nach der Gesetzesneufassung von 1891, ausschlaggebend sind das Datum der Anmeldung und das Inkrafttreten des Gesetzes. 39 Vgl. zum Beispiel die Offenlegungsschrift K67 mit 27 Textseiten Beschreibung und sechs Seiten Zeichnungen. K105 hat hingegen einen Umfang von 43 Seiten. Referenz ist das Format DIN A4.
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neben dem Anmelder auch der Erfinder genannt, sowie das Datum der Anmeldung und Veröffentlichung. Danach folgen x die Beschreibung, x entsprechende Patentansprüche und x ein oder mehrere Blätter Zeichnungen, auf die im Text verwiesen wird.
Die Beschreibung dieses Patents enthält die Erklärung, für welchen Zweck die Erfindung benötigt wird und wie diese funktioniert (DPMA 2015d: 16). Dieser Bestandteil fungiert als zentrales Element der Untersuchung, wobei weniger die technischen Details von Belang sind als vielmehr die Bedienung und die Einbettung in den Alltag. Eine Erläuterung zum Stand der Technik findet sich in dieser Schrift noch nicht. Jedoch hat sich dieser Abschnitt spätestens ab Mitte der 1950er Jahre durchgesetzt.40 Ab dieser Zeit war es üblich, nach einer kurzen Einleitung zur Erfindung bereits bekannte Ausführungen von Personenwaagen zu erläutern und Nachteile zu nennen, bevor die eigentliche, vorteilhafte Neuheit detailliert erklärt wurde (ebd.). Alle Patente und Gebrauchsmuster, die für diese Untersuchung herangezogen wurden, enthalten diese drei Elemente. Ein aktuelles Antragsformular und -schreiben auf Erteilung eines Patentes (oder analog eines Gebrauchsmusters) integriert im Normalfall genau diese Bestandteile in den Anlagen und ist wie folgt aufgebaut (DPMA o. J.): x Datum des Antrags oder des Schreibens x Anmelder, Inhaber des Patentes oder des Gebrauchsmusters, Erfinder und je
nach Fall auch ein Vertreter, beispielsweise ein Patentanwalt x Bezeichnung der Erfindung x Verschiedene Erklärungen, unter anderem zur Priorität der Anmeldung (In- oder Ausland) und zur Art der Gebührenbegleichung x Auflistung der Anlagen Dadurch, dass sich in der gesamten Geschichte des Patentanmeldeverfahrens hinsichtlich des Aufbaues der Schriftstücke insgesamt wenige Änderungen ergeben haben, fungiert diese Liste als repräsentatives Beispiel. Zu den Anlagen
40 Vgl. zum Beispiel K25, ein Patentdokument der Firma Robert Krups: „Bei bekannten derartigen Waagen ist zum Aufnehmen der zu wiegenden Last eine Brücke vorgesehen, die zwecks Stabilität in vier Auflagepunkten auf dem Waagebalken abgestützt ist […].“ (K25: 1) Die Seitenangaben der Patentdokumente beziehen sich immer auf das vollständige Dokument, welches in DEPATISnet zur Verfügung gestellt wird.
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gehören gegenwärtig eine ganze Reihe an Elementen (Vertretervollmacht, Erfinderbenennung, Zusammenfassung, Beschreibung, Patentansprüche mit Anzahl der Ansprüche, Zeichnungen, Abschrift(en) der Voranmeldung(en) sowie die zitierte Nichtpatentliteratur) (ebd.: 3). Weitere Unterlagen, auch in Form von Datenträgern können beigefügt werden. Patente, die nach Inkrafttreten des neuen Patentgesetzes von 1981 angemeldet wurden, setzen sich in dieser Form zusammen. Der eigentlichen Beschreibung wurde jetzt auch eine Kurzfassung oder Zusammenfassung der Erfindung vorausgeschickt. Variationen im Aufbau, indem beispielsweise die Patentansprüche vor der Beschreibung erfolgten, scheinen das Patentverfahren nicht beeinflusst zu haben.41 Allerdings wurde meist nach der üblichen Struktur verfahren. Auffällig ist das Titelblatt, das ab Mitte der 1960er Jahre ergänzt wurde. Das separate Blatt am Anfang des Dokuments ermöglicht eine schnelle Identifikation der Erfindung. Grundsätzlich sind die dabei aufgeführten, ergänzenden Informationen nicht Hauptgegenstand der vorliegenden Untersuchung, werden aber zur Einordnung der Erfindungen herangezogen. Erstmals im Jahr 1964 (K44), enthält das Titelblatt die folgenden Informationen: x Nennung der Schriftenart des Patentdokuments x Veröffentlichungsnummer x Anmelde- Offenlegungs- und Veröffentlichungstag bei Dokumenten, die sich
auf Patente beziehen x Anmelde-, Eintragungs- und Bekanntmachungstag bei Gebrauchsmustern x Bezeichnung der Anmeldung x Anmelder, Inhaber des Patentes oder des Gebrauchsmusters, Erfinder und
möglicherweise Vertreter, beispielsweise ein Patentanwalt x INID-Code-System gemäß WIPO-Standard ST.9
INID-Code-System sind Symbole, die auf der Titelseite angebracht sind und dienen im internationalen Austausch der Systematisierung und einfachen Entschlüsselung der wesentlichen Informationen von Patentdokumenten (DPMA
41 Vgl. zum Beispiel K113 sowie als Beispiel für die erste Patentschrift, nachdem das Patentgesetz von 1981 in Kraft getreten war. Eine Zusammenfassung laut § 36 PatG in der Fassung der B. v. Januar 1981 wird kurze Zeit später ebenfalls aufgeführt, vgl. K114 und K119. Die Ziffer 54 führt, laut Normierung der Patentliteratur, die Informationen zur „Bezeichnung“ der Patentdokumente (DPMA 2014b).
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2014b; Hering 1982: 102–103).42 Auch die Erfassung durch Computer, entsprechende Programme sowie die flächendeckende Digitalisierung der Patentliteratur in jüngerer Zeit wurde durch diese Codierung erleichtert (Mersch 2013: 208). Die dazugehörigen Zahlen stehen für bestimmte Eigenschaften, zum Beispiel repräsentiert das Zeichen ᬐ die Schriftenart des Dokuments. Dem Symbol folgt die Information, ob es sich um eine Auslege-, Offenlegungs-, Patentoder Gebrauchsmusterschrift handelt, was mit Hilfe dieser Kennung schnell erschlossen werden kann. Bei den Dokumenten dieser Untersuchung ist auffallend, dass Titelblätter und solche Symbole ab den 1960er Jahren hauptsächlich für Auslege-, Offenlegungs- und Patentschriften benutzt wurden. Bei Gebrauchsmusteranmeldungen setzte sich erst im Lauf der 1980er Jahre ein solches Titelblatt mit Codes durch. Aus diesen Erläuterungen zum Kontext der Patentdokumente leitet sich ab, dass eine kontinuierliche Entwicklung hinsichtlich der Anmeldung und des Aufbaus der Erfindungen seit Einführung des deutschen Patentgesetzes im Jahr 1877 stattgefunden hat. Die Aktualisierungen des Patentgesetzes ergänzten und präzisierten die erfinderischen und rechtlichen Vorgänge, gleichzeitig unterstützten diese eine schnelle Einordnung der jeweiligen Innovation, da die Dokumente im Zeitverlauf übersichtlicher wurden. Somit lassen sich die Patentdokumente als standardisierte, staatlich verwaltete und öffentlich zugängliche Dokumente über einen langen Zeitraum einheitlich vergleichen (Flick 2014a: 323; Wolff 2013: 503). Das Patenterteilungsverfahren Das Patentanmeldeverfahren selbst läuft auf Grundlage dieser historischen Entwicklungen zurzeit in sechs Schritten ab (DPMA 2013c, 2015b, 2015c). Nach einer Vorprüfung der Anmeldung, ob die Anmeldung formell den Vorgaben entspricht und Aspekte vorliegen, die eine Patentierung beeinträchtigen können – damit ist zum Beispiel eine tatsächliche kommerzielle Nutzungsmöglichkeit gemeint –, können die Anmelder den Prüfungsantrag stellen. Nach achtzehn Monaten wird jedes angemeldete Patent potentiell der gesamten Öffentlichkeit zugänglich gemacht, indem das Patent im Register und der Datenbank des Deutschen Patentamts abgelegt wird.43 Wenn ein Prüfungsantrag gestellt wird, wird anschließend das Patent von Seiten des Patentamts ausführlich geprüft. Fällt
42 Zum Titelblatt, Aufbau von Patentdokumenten und INID-Code-System vgl. DPMA (2013b, 2014b), DPMA (2015b: 4–10), Mersch (2013: 208–213) sowie zum historischen Vergleich Hering (1982: 102–113). 43 Vgl. auch § 31 Abs. 2 PatG in Benkard (2015: FNA 420-1).
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die Prüfung positiv aus, wird ein Patent erteilt. Eine schematische Darstellung, die beispielhaft am Patent den komplexen Prozess zeigt, dokumentiert die folgende Abbildung (Abb. 2).44 Diese gibt im Wesentlichen das historische und aktuelle Patenterteilungsverfahren wider. Idealerweise mündet dies in einem Patent, das allerdings einem mehrfachen Prüfungsprozess unterworfen ist. Abbildung 2: Vereinfachte Darstellung eines Patenterteilungsverfahrens
Quelle: DPMA 2013c: 2045
44 Ähnliche Abbildungen gibt es aus den Jahren 1982 und 2015. Vgl. Hering (1982: 21) zum Ablauf eines Patenterteilungsverfahrens und das entsprechende Eintragungsverfahren eines Gebrauchsmuster. Vgl. auch Schäfers (2015b: Rn. 119), dessen schematische Darstellung bildet das Verfahren im Zeitraum ab 1968 bis heute ab. 45 Abdruck und leichte Bearbeitung der Abbildung mit freundlicher Genehmigung des DPMA.
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3.1.3 Sonderfall Gebrauchsmuster Gebrauchsmuster gelten als „kleines Patent“ oder „kleiner Bruder“ des Patents (Asendorf 1990: 1285; DPMA 2013b: 3, 2013c: 12; Mersch 2013: 64).46 Wie das Patent gehört auch das Gebrauchsmuster zum gewerblichen Rechtsschutz (Hering 1982). Die (juristische) Fachliteratur nennt beide Schutzrechte meist zusammen.47 Auch historisch lässt sich diese Parallelität nachweisen, denn beide Schutzrechte wurden meist zusammen diskutiert und überarbeitet. So wurde das erste Gebrauchsmustergesetz zusammen mit einer neuen Fassung des Patentgesetzes im selben Jahr, und zwar 1891, rechtskräftig (Rogge/Melullis 2015b: Rn. 16–17). Auch 1936 wurden wieder neue Gesetzesfassungen beider Schutzrechte erlassen. Für die folgenden Jahre bis zur heutigen Fassung von 1981 setzte sich dieser Trend der gleichzeitigen Revision fort. Patent und Gebrauchsmuster stehen sich also relativ nahe (Keukenschrijver 2013: Rn. 4). In den Jahren 1976, 1986 und 1990 wurde diese nahe Verwandtschaft in die Gesetzgebung aufgenommen, weshalb die Differenzierung seither nahezu obsolet ist (Goebel/Engel 2015: Rn. 2; Keukenschrijver 2013: Rn. 4; Köbler 2014). Seit Inkrafttreten des ersten Patent- und Gebrauchsmustergesetzes vollzog sich die Annäherung des Gebrauchsmusters an das Patent in zwei Schritten (Köbler 2014). So waren solche Maßnahmen kurz nach dem Erlass der ersten Patent- und Gebrauchsmustergesetze immer wieder Thema. Die Umsetzung erfolgte später durch entsprechende Änderungen in der Gesetzgebung. Es wurde deshalb in der Fachliteratur jüngst gefordert, das Gebrauchsmuster in das Patentrecht einzuschließen, da beide Schutzrechte für technische Erfindungen gelten.48 Die Überschneidungen betreffen darüber hinaus seit jeher die folgenden, wesentlichen Punkte: x Die Anmeldung eines Gebrauchsmusters erfolgt wie die Anmeldung eines Patents beim DPMA. „Als Gebrauchsmuster werden Erfindungen geschützt, die 46 Zu den genaueren Hintergründen vgl. Goebel/Engel (2015: Rn. 2d). 47 Bereits im Titel des Gesetzeskommentars von Benkard (2015) wird das Patentgesetz und im Untertitel das Gebrauchsmustergesetz genannt. Vgl. auch den Erläuterungsteil in diesem Gesetzeskommentar, darin zum Beispiel der Abschnitt „III. Überblick über das materielle Patent- und Gebrauchsmusterrecht“ (Ullmann/Deichfuß 2015), sowie der Abschnitt „IV. Überblick über die Verfahren und die Instanzen im Patent- und Gebrauchsmusterrecht“ (Schäfers 2015a). Auch Fischer (1967), Busse (2003, 2013b) sowie Hering (1982) behandeln beide Gesetze unter einem Titel. 48 Die Untersuchung bezieht sich dabei auf Übler (2014) und die Anmerkungen von Köbler (2014) in seiner Rezension.
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neu sind, auf einem erfinderischen Schritt beruhen und gewerblich anwendbar sind“, wie das aktuelle Gebrauchsmustergesetz (GebrMG), § 1 Absatz 1, übereinstimmend mit dem aktuellen Patentgesetz § 1, Absatz 1 festlegte.49 x Formal gleichen sich die Dokumente, die beim DPMA eingereicht werden (Hering 1982: 33). § 4, Absatz 2 des Gebrauchsmustergesetzes beschreibt denselben Aufbau wie auch § 35, Absatz 1 des Patentgesetzes.50 Eine Prüfung dieser Unterlagen erfolgt grundsätzlich sowohl für das Patent als auch für das Gebrauchsmuster (Rogge/Melullis 2015b: Rn. 16). Allerdings wird das Gebrauchsmuster nur auf diese formalen Ansprüche geprüft. x Das Gebrauchsmustergesetz verweist auf das Patentgesetz (Ullmann/Deichfuß 2015: Rn. 70). Ursprünglich wurde es als Ergänzung zum Patent eingeführt (Keukenschrijver 2013: Rn. 4). x Eine Erfindung, für die kein Patent erteilt worden ist, wurde auch von einem Gebrauchsmuster ausgeschlossen (Hering 1982: 29). Zum Gebrauchsmuster wird in der Praxis geraten, um ein Patent, das sich noch in der anfänglichen Prüfung befindet, sofort schützen zu können. Dieses Argument findet sich bereits zur Zeit der Einführung des Gebrauchsmusters und wird auch heute noch in den Broschüren des DPMA und der Fachliteratur explizit betont (DPMA 2013b: 5; Goebel/Engel 2015: Rn. 1; Hering 1982: 36–37). Ein Gebrauchsmuster wird nach positiver Prüfung der formalen Anforderungen umgehend erteilt und im Register des DPMA, der Gebrauchsmusterrolle, eingetragen (Goebel/Engel 2015: Rn. 1; Hering 1982: 34; Rogge/Melullis 2015b: Rn. 16). Anders als beim Patentanmeldeverfahren wird nicht geprüft, ob das Gebrauchsmuster die Bedingungen des § 1 Absatz 151 erfüllt, was bereits angedeutet wurde (DPMA 2013b: 4; Hering 1982: 32–33). Diese Schritte muss die Person, die ein Gebrauchsmuster anmeldet, selbst vornehmen. Sollten die zum Schutz angemeldeten Ansprüche bereits vergeben sein, wird das Gebrauchsmuster gelöscht (DPMA 2013b; Goebel 1999).52 Nachträgliche Änderungen sind im
49 § 1 Abs. 1 GebrMG in der Fassung der B. v. 28. August 1986 BGBl. I S. 1455; zuletzt geändert durch Art. 6 G. v. 13. April 2017 BGBl. I S. 872 (BMJV 2017a) sowie § 1 Abs. 1 PatG (Benkard 2015: FNA 420-1). 50 § 4, Absatz 2 GebrMG in der Fassung der B. v. 28.08.1986 BGBl. I S. 1455; zuletzt geändert durch Art. 6 G. v. 13. April 2017 BGBl. I S. 872 (BMJV 2017a) sowie § 35 Abs. 1 PatG in der Fassung der B. v. 16. Dezember 1980 BGBl. 1981 I S. 1; zuletzt geändert durch Art. 2 G. v. 04. April 2016 BGBl. I S. 558 (BMJV 2017b). 51 § 1 Abs. 1 wurde am Anfang dieses Unterkapitels behandelt. 52 Zum (Teil-)Löschungsverfahren siehe ausführlicher (Goebel 1999).
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Gegensatz zum Patent nicht möglich, da das Gebrauchsmuster mit dem Tag der Anmeldung Gültigkeit besitzt. Das Gebrauchsmuster ist seit der Einführung im Jahr 1891 kostengünstiger als ein Patent, was sicherlich an dem einfacheren und schnelleren Prüfungsverfahren sowie der kürzeren maximalen Laufzeit liegt (Goebel/Engel 2015: Rn. 1-5d; Rogge/Melullis 2015b: Rn. 16). Im Jahr 1891 konnten Gebrauchsmuster bis zu sechs Jahren geschützt werden, seit 1990 beträgt diese Frist höchstens zehn Jahre (Goebel/Engel 2015: Rn. 2; Reichsamt des Innern 1891a).53 Grundsätzlich sind Verfahren vom Gebrauchsmusterschutz – im Gegensatz zum Patentschutz – ausgeschlossen, was allerdings erst 1990 in § 2 des GebrMG ergänzt wurde (Goebel/Engel 2015: Rn. 2d; Hering 1982: 30; Mersch 2013: 64). Besonders die Tatsache, dass das Gebrauchsmuster Ende des 19. Jahrhunderts für „kleinere Erfindungen“ und „technische Gestaltungen“ gedacht war, wie Goebel/Engel (2015: Rn. 1) erklären, lässt eine Anwendung des Gebrauchsmusters auf die Personenwaage naheliegend werden. 54 Es scheint naheliegend, dass Privatpersonen und kleinere Firmen dieses Schutzrecht genutzt haben (Mersch 2013: 64). Tatsächlich machen die Gebrauchsmuster knapp die Hälfte der Patentdokumente aus, die als Bestandteil des konkreten Korpus identifiziert werden.55 Das Korpus setzt sich damit zu einem geringfügig größeren Teil aus Schriftstücken zusammen, welche die Patentschrift betreffen oder an das Patent gebunden sind. Aufgrund der Nähe und des möglichen „Doppelschutzes“56
53 Gesetz, betreffend den Schutz von Gebrauchsmustern in der Fassung der B. v. 1. Juni 1891, RGBl., Nr. 18, S. 290–293 (Reichsamt des Innern 1891a). 54 Vgl. auch Rogge/Melullis (2015b: Rn. 16). Die Darstellung des Gebrauchsmusters in diesem Abschnitt soll lediglich eine Übersicht bieten. Auf alle Entwicklungen und Details kann deshalb nicht eingegangen werden, auch aufgrund der Nähe zwischen Patent- und Gebrauchsmusterschutz soll auf eine detaillierte Schilderung der Geschichte des GebrMG verzichtet werden. Es sei dafür auf den Abschnitt 3.1.2 verwiesen. Zur Erläuterung des weiteren Geltungsbereiches von Gebrauchsmustern vgl. Goebel/Engel (2015), zu den Aspekten „Produktpiraterie“ und „Raumformerfordernis“ vgl. Asendorf (1990) sowie Goebel/Engel (2015). Die Darstellung der in der Geschichte des Gebrauchsmusterrechts diskutierten Aspekte „Fortschritt“ und „Erfindungshöhe“ findet sich in Köbler (2014) sowie Übler (2014). 55 S. Kapitel 3.2.2. 56 Vgl. hierzu auch § 2, Abs. 6 des GebrMG in der Fassung der B. v. 5. Mai 1936, RGBl. II, Nr. 16, S. 130. Dabei wird der mögliche „Doppelschutz“ von Patent und Gebrauchsmuster genannt: „Wenn der Anmelder für den gleichen Gegenstand ein Patent nachsucht, kann er beantragen, dass die Eintragung in die Gebrauchsmusterrolle
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von Patent- und Gebrauchsmusteranmeldungen, soll der weiter oben aufgeführte Hinweis, dass mit dem Ausdruck Patentdokumente auch Gebrauchsmuster (-anmeldungen) eingeschlossen werden, als Fazit für den Sonderfall Gebrauchsmuster stehen (Hering 1982: 36–37).
VON DER DATENBANK ZUM KORPUS Das imaginäre Korpus betrifft zunächst alle Erfindungen, welche zur Personenwaage beim DPMA eingereicht und verarbeitet wurden. Allerdings muss davon ausgegangen werden, dass nicht alle Patentdokumente vollumfänglich vorliegen. Dies betrifft einerseits die Texte selbst, andererseits die Recherche. So konnten nur diejenigen Dokumente und Teilbestände in die Datenbank des DPMA eingepflegt werden, die verlustfrei vorgelegen haben oder vorliegen. Es ist auch davon auszugehen, dass durch die beiden Weltkriege Schriftstücke verloren gingen (Fischer 1967). Auch wenn das DPMA eine staatliche Behörde ist, die im Regelfall über lückenlose Bestände verfügt, kann nicht mit absoluter Sicherheit gesagt werden, dass alle historischen Schriften bis heute erhalten und eingearbeitet sind. Die Datenbank, die für die Recherche genutzt wird, wird laufend gepflegt und ergänzt. Hinzu kommt der spezielle Umstand bei den älteren Schriftstücken, dass nicht alle aufgeführten Daten in den Dokumenten maschinell eingelesen werden konnten. Deshalb sind vor allem bei den älteren Patenten und Gebrauchsmustern nicht alle Felder, nach denen in der Datenbank gesucht werden kann, belegt. Je nach Formulierung des Suchauftrags werden bestimmte Patentdokumente erfasst und manche nicht, denn die Datenbank wird ständig über- und nachbearbeitet. Anders ausgedrückt, können nur diejenigen Patentdokumente in das Korpus aufgenommen werden, die zu einem bestimmten Zeitpunkt oder in einem bestimmten Zeitraum recherchierbar waren. Die Recherche begann am 2. April 2014 in einer Phase der Vorarbeiten für die Studie. Die dabei gewonnenen Daten wurden in der laufenden Untersuchung nochmals geprüft. Als Basis dienen alle recherchierbaren Patentdokumente am 27. April 201657. Diese Recherche bildet das virtuelle Korpus der Untersuchung.
erst vorgenommen wird, wenn die Anmeldung zum Patent erledigt ist.“ Damit sollen sich die Schutzrechte ergänzen. 57 Alle genannten Angaben zu den Trefferlisten beziehen sich, wenn nicht anders genannt, auf dieses Datum.
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3.2.1 Das virtuelle Korpus und das Auswertungsdokument Die zentrale Stelle, die sowohl neue Patent- und Gebrauchsmusteranmeldungen annimmt, als auch bestehende archiviert, ist das DPMA. Das elektronische Dokumentenarchiv „Deutsches Patentinformationssystem (DEPATISnet)“ auf der Internetplattform des DPMA dient in erster Linie der Recherche nach Erfindungen, also ob eine potentielle neue Ideen bereits geschützt ist und welche Patente oder Gebrauchsmuster dazu bereits vorliegen. Über diese Datenbank ist der Zugriff auf Originaldokumente seit 1877, dem Gründungsdatum des DPMA, bis heute möglich. Seit den 1980er Jahren wurde sukzessive auf den elektronischen Datenverkehr umgestellt. Mit Beginn des 21. Jahrhunderts veröffentlicht das DPMA Patentdokumente nur noch als digitale Medien, die online über das Internet verfügbar sind (Mersch 2013: 215–217). Mit Papierdokumenten wird seither nicht mehr gearbeitet. Grundsätzlich sind die Dateien in DEPATISnet jederzeit verfügbar. Die Digitalisierung ermöglichte also, dass Interessent*innen sich jederzeit (und weltweit) – räumlich und zeitlich unabhängig – Informationen über den aktuellen Stand der Erfindungen verschaffen können. In dieser Untersuchung wird dieselbe Methodik angewandt, die potentielle Anmelder einer Erfindung wählen, um sich Informationen über bestehende Patente und Gebrauchsmuster zu beschaffen.58 Auf diese Weise wird die Sensibilität für die Daten erhöht. Das DPMAregister59 stellt eine weitere Datenbank des DPMA dar und reicht mit wenigen Ausnahmen nur bis in das Jahr 1981 zurück, weshalb diese Datenbank nicht als Grundlage für die Recherche genutzt wurde (DPMA 2013a). Unterstützend zur Recherche auf DEPATISnet werden dazu auch die öffentlich zugänglichen Informationen des DPMA herangezogen, die jedem Akteur, der eine Erfindung anmelden und schützen möchte, zur Verfügung
58 Eine solche Datenbank-Recherche über die Internetseite des DPMA sollte jeder Anmeldung vorausgehen, um sich über bestehende Schutzrechte zu informieren und einer möglichen Ablehnung eines Antrags vorzubeugen. Dazu rät das DPMA explizit in seinen Broschüren (DPMA 2013c, 2015d). 59 Diese Datenbank enthält einzelne Angaben zum Status quo eines Patentanmeldeverfahrens und die entsprechenden rechtlichen Hinweise (DPMA 2013c: 30). § 30 Abs. 1 PatG in der Fassung der B. v. 16.12.1980 BGBl. 1981 I S. 1; zuletzt geändert durch Art. 2 G. v. 04. April 2016 BGBl. I S. 558 (BMJV 2017b).
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stehen.60 Die Recherche nach Patentliteratur kann nach verschiedenen Modi differenziert werden (DPMA 2014a, 2015d). Als adäquate Rechercheform erwies sich die „Einsteiger- oder Basis-Recherche“,61 mit Hilfe derer nach bestimmten Begriffen gesucht werden kann (DPMA 2014a, 2015d, 2015e). Für die Konfiguration der Trefferliste stehen verschiedene Optionen zur Verfügung. Als sinnvoll für die Analyse erwiesen sich die folgenden Gesichtspunkte: x „Veröffentlichungsnummer“: Jedes Patentdokument ist eindeutig identifizierbar durch eine bestimmte Nummer. Daraus lassen sich auch das Land, in der das Patent oder das Gebrauchsmuster angemeldet wurde, die Dokumentennummer sowie die Schriftenart62 des Dokuments ablesen (DPMA 2015e). x „Anmeldedatum“ und „Veröffentlichungsdatum“: Das Datum der Anmeldung betrifft den Tag der Einreichung des Patentdokuments und die anschließende Erfassung und Verarbeitung des Dokuments durch das DPMA. Wird das Patent nach einer bestimmten Frist der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglich gemacht, ist es in der Datenbank recherchierbar. In der Regel sind dies bei Patenten achtzehn Monate, Gebrauchsmuster können allerdings schon nach drei Monaten veröffentlicht werden (DPMA 2013c: 12, 2015d: 15). x „Erfinder“ und „Anmelder/Inhaber“: Damit sind Personen, Firmen und Unternehmen gemeint, welche die Rechte an der Erfindung haben und unter deren Namen das Patent oder Gebrauchsmuster angemeldet wurde. Ersatzweise können auch deren Vertreter (meist Patentanwälte) genannt werden. Ging die Erfindung aus einem Unternehmen hervor, kam es oftmals vor, dass kein Erfinder genannt wurde. Es ist zum Beispiel möglich, dass Mitarbeiter*innen der Firma ein Patent entwickelt haben oder dass die ursprüngliche Idee Dritten abgekauft wurde, weshalb der Erfindername unerwähnt bleibt („Nichtnennung beantragt“) (K99: 1). Auch ältere Patentdokumente enthalten nur Angaben zum Anmelder. Die Rechte der Erfindung liegen im Regelfall beim Anmelder selbst,
60 Diese Materialien und Beschreibungen werden laufend überarbeitet und aktualisiert. Es gilt der Stand der Informationen, der im Literaturverzeichnis aufgeführt ist – bei Internetquellen der letzte Zugriff. 61 Andere Recherchemodi, die für die Datenbank zur Verfügung stehen, nutzen komplexe Eingaben mit Operatoren und einer definierten Syntax. Diese Vorgehensweise war nicht notwendig, da zum Beispiel ein Abgleich mit der „Experten-Recherche“ dieselben Ergebnisse erbrachte. 62 Die Zusätze A bis C beziehen sich auf ein Patentverfahren, die Zusätze U und Y auf eine Gebrauchsmusteranmeldung (DPMA 2011b: 1).
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weshalb diese Information durchgängig vorliegt. In den Fällen, bei denen keine Information über diesen bekannt ist, fehlt der entsprechende Eintrag. Im Rahmen dieser Untersuchung wird, um die ursächliche Beschäftigung mit einer Erfindung auszudrücken, von Erfindern gesprochen. Damit sind, sofern nicht anders erwähnt, Erfinder, Anmelder und Inhaber der Schutzrechte gemeint. x „Titel“ des Patentdokuments: Jede Erfindung hat einen Kurztitel, unter dem die Anmeldung geführt wird. In der Regel betrifft dieser den Gegenstand der Anmeldung. Nicht miteinbezogen in die Trefferliste wurde die „Internationale Patentklassifikation“, kurz IPC, und damit sämtliche Differenzierungen, die dazu gehören (DPMA 2011a: 2). Dadurch, dass nur nach Erfindungen, die in Deutschland angemeldet wurden, gesucht wird und die IPC-Klassifikation nicht den gesamten Untersuchungszeitraum abdeckt, ist diese zusätzliche Information nicht notwendig.63 Auch die Möglichkeit, ein Abstract anzeigen zu lassen, wurde nicht einbezogen, da alle Texte, die aus der Recherche auf DEPATISnet gewonnen wurden, verarbeitet wurden.
63 Die Klassifikation wird erst seit 1975 verwendet (DPMA 2011a: 13). Eine Recherche am 19. Januar 2017 in der Datenbank des DPMA mit dem Schlüssel „A61B 5/107“ (Sektion A: „Täglicher Lebensbedarf“, Rubrik „Gesundheitswesen; Lebensrettung; Vergnügungen“, Bereich A61: „Medizin oder Tiermedizin; Hygiene“, Klasse: A61B 5/107: Messen physikalischer Größen, zum Beispiel Größe des ganzen Körpers oder von Körperteilen), dem die Personenwaage innerhalb der IPC untergeordnet ist, ergab in Verbindung mit einer Begrenzung auf Deutschland und dem Titel „Personenwaage“ einen Treffer, ohne den Titel 1031 Treffer. Dieselbe Recherche mit dem Titel „Waage“ ergab zwei Treffer. Diese waren auf sämtliche Körperteile beziehungsweise krankheitsbedingte Einzelgruppen bezogen. Mit diesen Erfindungen waren hauptsächlich medizinische beziehungsweise anthropometrische Messvorgänge anvisiert und betrafen nicht (ausschließlich) die Personenwaage für die Allgemeinbevölkerung und den täglichen Bedarf. Die aktuelle Version des Schlüssels (Stand 2017/01) umfasst „medizinische Instrumente zur Auskultation und Diagnostik A61B 5/00-A61B 10/00 und bestätigt die Vermutung. Der Schlüssel „G01G Wägen“ in der „Sektion G Physik“, Rubrik „Instrumente“ und „Messen; Prüfen“ ergab zusammen mit dem Titel „Personenwaage“ und Eingrenzung auf Deutschland keine Treffer. Dieselbe Recherche ohne Titel lieferte 14 Treffer mit Waagen, die sich auf industrielle oder physikalische Vorgänge beziehen, auch mit dem Titel „Waage“ resultierte kein Treffer.
102 | Die Personenwaage
Die Recherche nach der Personenwaage Jeder einzelne Eintrag in der Datenbank des DPMA und damit auch jedes Rechercheergebnis ist mit einer ganz bestimmten Erfindung verknüpft. Grundsätzlich wurde die Recherche – entsprechend den Handreichungen der DPMA – so formuliert, dass in den Titeln der Patentdokumente gesucht wurde.64 Die Suchhistorie verfolgte das Ziel, den Untersuchungsgegenstand immer näher einzukreisen, bis die Recherche schließlich diejenigen Patentdokumente einschließen sollte, die sich auf das Wiegen von Personen beziehen. Zunächst wurden zeitgenössische Lexika gesichtet und eine Eingrenzung vorgenommen. Diese führte zu Begriffen wie „Waage“, „Person“, „Körperwaage“ und „Personenwaage“. Der Terminus Personenwaage wurde ausgewählt, weil diese Erfindungen den Untersuchungsgegenstand präzise erfassen. DEPATISnet lieferte bei dieser Anfrage am 27. April 2016 303 Treffer. Alle anderen Suchen, auch kombiniert mit Titel und Volltext, ergaben entweder keine Erfindungen oder betrafen eine große Anzahl an Dokumenten, die nicht relevant für die Untersuchung waren. Dabei handelte es sich um Apparate, die keine Personen wogen oder um Multifunktionsgeräte, die unter anderem, aber nicht ausschließlich zum Wiegen von Personen benutzt werden konnten. Aus den Datensätzen zur Personenwaage ergab sich das bereits erwähnte Auswertungsdokument. Als grundlegendes Arbeitsgerät für die Auswertung und Analyse der Patentdokumente orientiert sich die tabellarische Struktur des
64 Prinzipiell könnten auch alle Patentdokumente, die im Volltext die Waage aufführen, in das virtuelle Korpus aufgenommen werden. Aus zwei Gründen wurde dieses Vorgehen abgelehnt. Erstens müsste der gesamte Volltext auf inhaltliche Bezüge und Formulierungen, die sich auf die Personenwaage und Individuen beziehen, systematisch erfasst und ausgewertet werden. Ein Patentdokument hat, bis auf wenige Ausnahmen, mindestens vier bis sechs Seiten. Die Suche im Volltext nach „Waage“ ergab am 16. März 2016 allein für deutsche Patentdokumente zum Beispiel 30.941 Treffer, wobei Patentdokumente aus der DDR nicht mit einbezogen wurden. Eine Recherche, die nicht zwischen nationalen und internationalen Anmeldungen unterscheidet, lieferte über 33.000 Treffer im Volltext. Geht man beispielweise vier Seiten pro Schriftstück aus, wären mindestens 123.764 Seiten auszuwerten. Die mit einer automatischen Texterkennung (OCR) eingelesenen Dokumente erfassen nicht verlässlich den kompletten Text (vgl. Kap. 3.2.2) und grundsätzlich keine Zeichnungen. Das gewählte Vorgehen (Kap. 2.2) stellt die Ressourcen für eine gewissenhafte Analyse des Datenkorpus zur Verfügung. Zweitens wäre zwar eine Verfeinerung über die IPCParameter ab 1975 möglich, jedoch ist diese Verfahrensweise für die Fragestellungen der Studie, wie bereits bekannt ist, nicht dienlich.
Von der Idee zur Personenwaage | 103
Dokuments an der Konfiguration der DEPATISnet-Trefferliste (Tab. 3). Zur schnellen Identifizierung einer Erfindung wurden laufende Nummern vergeben, die zum jeweiligen Datensatz mit der Veröffentlichungsnummer führen. Tabelle 3: Tabellenstruktur des Auswertungsdokuments mit Beispiel Lfd. Nr.
Veröffentlichungsnummer
Anmeldedatum
Veröffentlichungsdatum
K1
DE000000 336367A
24.08.1919
03.05.1921
Erfinder
Anmel der/ Inhaber Heinrich Raulf; Hugo Wehrfritz
Titel
Selbsttaetige Personenwaage […]65
Für die chronologische Einordnung wurde das Anmeldedatum der Patentdokumente gewählt. Die so entstandene Übersicht betrifft die Zeitspanne vom 24. August 1919 (K1) bis 23. September 2015 (A76), in der die Erfindungen angemeldet wurden und alle Angaben vollständig von der DPMA archiviert worden waren. Bei zwei Datensätzen fehlte entweder das Anmelde- oder das Veröffentlichungsdatum. Diese betreffen eine Anmeldung am 7. Dezember 1889 (A6) und eine Patentveröffentlichung am 15. August 1930 (K10). Noch nicht differenziert wurde nach dem Land, in dem die Anmeldung erfolgte, da das virtuelle Korpus alle Patentdokumente betrifft, die auf der Datenbank zum Zeitpunkt der Recherche vorgelegen haben. Damit sind prinzipiell alle Patentdokumente eingeschlossen, die seit 1889 angemeldet worden waren und auf der Datenbank bis zum 27. April 2016 recherchierbar waren, darunter knapp hundert Gebrauchsmuster. 3.2.2 Die Entwicklung des konkreten Korpus Das konkrete Korpus wurde in mehreren Schritten generiert. Dieses Sampling strukturierte das Korpus, indem nach und nach eine bestimmte Auswahl an Patentdokumenten getroffen wurde. Da sich die vorliegende Studie auf das heutige Deutschland bezieht, werden nur Schriften, die in Deutschland, dem Deutschen Reich und der DDR als deutsches Patent oder Gebrauchsmuster
65 Vollständiger Titel „ Selbsttaetige Personenwaage mit Kontrollkartenausgabe“. Auf die Kennzeichnung abweichender Schreibweisen bei den Titeln mit [sic!] wird verzichtet.
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angemeldet wurden, einbezogen. Deshalb werden alle Patentdokumente aus dem Korpus genommen, die in ihrer Veröffentlichungsnummer einen anderen Ländercode als „DE“ für Deutschland und „DD“ für die ehemalige DDR tragen. Um ausschließlich Erstanmeldungen in die Liste aufnehmen zu können, wurde das Korpus über den Befehl „Familienmitglieder löschen“ bereinigt, den DEPATISnet ermöglicht (DPMA 2015d: 12–17). Die bisherige Auswahl wurde bei diesem Bearbeitungsschritt um die Datensätze dezimiert, die eine Doppelnennung verursachen würden, da die Schriften auf einer früheren Anmeldung aufbauen und zu einer Patentfamilie gehörten. In einigen wenigen Fällen gab es Doppelanmeldungen, zum Beispiel wenn eine Erfindung als Patent und Gebrauchsmuster geschützt werden sollte66, jedoch waren diese Innovationen von diesem Schritt nicht betroffen. Die Durchsicht des Korpus ergab, dass die Personenwaagen oftmals dafür gedacht waren, das Instrument im Badezimmer zu benutzen. Der Titel Badezimmerwaage implizierte also die Benutzung als Personenwaage. Ergänzend wurde deshalb eine separate Recherche mit dem Suchbegriff „Badezimmerwaage“ im Titel der Erfindung durchgeführt. Diese Treffer wurden mit dem Korpus abgeglichen und ergaben sieben zusätzliche Patentdokumente. Die beiden unvollständigen Datensätze aus dem Jahr 1889 und 1930 konnten durch Sichtung und Prüfung der jeweiligen Beschreibungen ergänzt werden (A6; K10). Die fehlenden Daten zur Anmeldung und Veröffentlichung waren vermutlich über die automatische Texterkennung, so genannte OCR-Algorithmen, nicht lesbar gewesen.67 Das Patent aus dem späten 19. Jahrhundert wurde am 7. Dezember 1889 von Frederick Foster angemeldet, der aus London zu stammen scheint und das Patent in Deutschland angemeldet hatte (A6). In dem bestehenden Korpus folgten nach 1889 erst im Jahr 1919 weitere Patente. Über den gesamten Zeitraum hinweg konnten bis auf die Zeit kurz vor und während des Zweiten Weltkriegs konstant Anmeldungen verzeichnet werden. Das Patentdokument wurde 1928 angemeldet (K10) und ist in historischer wie chronologischer Sicht in eine Zeit eingebettet, in der im Abstand weniger Jahre weitere Anmeldungen erfolgten, so dass diese Patentschrift in das Korpus aufgenommen wurde. Die Zeitabstände zwischen zwei Patentdokumenten betrugen zwischen 1919 und den Kriegsjahren um 1940 in einem Fall höchstens sieben Jahre (1919–1926) (K2; K3) und nach Ende des Zweiten Weltkriegs bis 2015 höchstens fünf Jahre (1988–1993) (K122; A15). Es drängte sich angesichts dieser Konstellation die Frage auf, wie diese
66 Vgl. zum Beispiel K88 und K89. 67 Das Datum wurde in einem Fall schräg und im anderen Fall mit einem Stempelaufdruck aufgebracht.
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frühe Patentschrift von 1889 einzuordnen war und ob es sich möglicherweise um einen so genannten Ausreißer handelt, der von diesem Untersuchungskorpus zurückgestellt werden wird. Bei der Zusammenstellung eines historischen Quellenkorpus treten solche Fälle gewohnheitsmäßig auf, allerdings sind diese zu prüfen. Im Titel der Patentschrift aus dem Jahr 1889 wird zwar die Personenwaage genannt, Gegenstand der Erfindung ist aber ein „Selbsttätiger Waarenverkäufer mit Personenwaage“ (A6). Die Beschreibung der Patentschrift bestätigt den Nebeneffekt des Wiegens. Deshalb wurde entschieden, dass nur solche Treffer in das konkrete Korpus aufgenommen werden, die im Titel die Personenwaage oder die Badezimmerwaage als Hauptgegenstand der Erfindung aufführen. Als erstes Patentdokument, welches das konkrete Korpus eröffnet, gilt deshalb die Erfindung mit der Veröffentlichungsnummer DE000000336367A. Diese wurde am 24. August 1919 zum Patent angemeldet. Es wurde für eine „Selbsttaetige Personenwaage mit Kontrollkarten-Ausgabe“ erteilt und war von Heinrich Raulf und Hugo Wehrfritz aus Kreuznach eingereicht worden (K1). Das gesamte Korpus wurde in einem folgenden Arbeitsschritt auf die einzelnen Titelangaben geprüft. Wurde die Personenwaage als Beigabe einer anderen Erfindung genannt, wurde dieser Datensatz nicht berücksichtigt. Darunter waren auch drei Wirtschaftspatente – und damit keine Erfindungen – aus der ehemaligen DDR. Das grundlegende Quellenkorpus dieser Diskursanalyse erschließt bis Ende der 1980er Jahre, also in einem Zeitraum von siebzig Jahren, die Genealogie der Personenwaage. Mit den Strategien, die zu diesem Korpus führten, konnte keine Erfindung im Jahr 1989 erfasst werden. Die Auswahl endet vorübergehend mit dem Gebrauchsmuster „Elektronische Personenwaage für Rollstuhlfahrer/-in“, das von Bernd Rosenthal am 25. Mai 1988 angemeldet wurde (K122). Dieses Vorgehen ergibt sich aus einer systematischen Vorauswahl an Patentdokumenten, die in Kapitel 3.3 erläutert wird. Es wird davon ausgegangen, dass dieses konkrete Korpus den Forschungsgegenstand in diskursiver Hinsicht widerspiegelt und die Genealogie der Personenwaage abbildet. Insgesamt liegen 122 Patentdokumente im Untersuchungszeitraum 1919 bis 1989 vor, davon 59 Gebrauchsmuster. Die Ergänzung des konkreten Korpus Das konkrete Korpus wird von einem Spektrum verschiedener Quellenmaterialien flankiert. Dazu zählen zunächst weitere Erfindungen, die an ausgewählten Stellen die Untersuchung ergänzen, vor allem wenn es darum geht, die Entwicklung vor 1919 und nach 1989 aufzuzeigen. So zeigte die Sichtung von Sekundärliteratur, dass Ende des 19. Jahrhunderts öffentliche Automaten populär waren, die auch als Waagen genutzt wurden. Da in der Datenbank des DPMA bisher nur die Waage von Foster (A6) aufgeführt wird, wurde eine – vom konkreten Korpus separate –
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Suchsystematik verfolgt. Diese Recherche kombinierte zwei Suchaufträge am 8. und 9. März 2016 (Titel „Waage“ und Volltext „Person“ sowie Volltext „Personenwaage“). Diese Waagen wurden in einem sehr kurzen Zeitabschnitt, und zwar vom 21. August 1886 bis 28. September 1899 angemeldet.68 In den Jahren 1900 bis einschließlich 1918 kam es nach wie vor zu keiner Erfindung. Der Verlauf ab 1989 bis heute endet momentan im Jahr 2016 mit der derzeit letzten Erfindung. Dieses Gebrauchsmuster wurde am 29. April 2016 angemeldet (A77).69 Alle diese Patente und Gebrauchsmuster werden nicht in das konkrete Korpus übernommen. Sie werden zum einen als Vorläufer der Personenwaage im Rahmen der Vorgeschichte näher untersucht (Kap. 4.3). Die jüngere Geschichte des Instruments setzt an der Analyse des konkreten Korpus an und umfasst zum anderen die Entwicklung seit 1990 (Kap. 6). Dabei muss beurteilt werden, wie die Rolle dieser Waagen im historischen und aktuellen Kontext zu deuten ist und nach Verbindungslinien zwischen solchen frühen, öffentlichen Waagen, den Instrumenten, die zwischen 1919 und 1989 angemeldet und den Ideen, die erst vor Kurzem in den Diskurs eingebracht wurden, gefragt werden. Daran knüpft die Analyse weiterer Quellen an. Wie bereits bekannt ist (Kap. 1.2), besteht dieses erweiterte Korpus aus wissenschaftlichen Publikationen, aus Dokumenten, die zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit stehen, sowie der Berichterstattung in den Massenmedien. Es durchschreitet – mit Fokus auf Konjunkturen und auffälligen Veränderungen im konkreten Korpus – den gesamten Untersuchungszeitraum der Patentdokumente (1889 bis heute), bezieht frühere Entwicklungen ein und deutet zukünftige an. So konzentriert sich das Korpus der Publikumszeitschrift „Brigitte“ hauptsächlich auf einen Kernzeitraum70, der sich aus der Analyse der Patentdokumente ableitet. Dabei werden alle Ausgaben eines Jahres in regelmäßigen Zeitabständen gesichtet. In
68 A1 bis einschließlich A14. 69 Grundlage für die Analyse des Zeitabschnitts ab 1990 bilden neben A77 die Patentdokumente A15 bis einschließlich A74 (s. Kap. 6 bis 8). Die Systematik der Recherche entspricht dem Vorgehen, das in diesem Kapitel beschrieben wird. Letzte Aktualisierung der Ergebnisse am 21. Juni 2017. Die Datenbank führte auch am 21. April 2019 keine neuen Erfindungen, vorbehaltlich der 18-monatigen Prüfung der Patente und aktueller wie nachträglicher Änderungen durch das DPMA. Im Fall von Gebrauchsmusterschriften kann davon ausgegangen werden, dass diese früher als Patente in der Datenbank erscheinen, vgl. Kapitel 3.2.1. 70 Die systematische Sichtung erfolgt in Fünf-Jahresabständen von 1954 bis einschließlich 1989 und bezieht acht Jahrgänge der „Brigitte“ (1954a, 1959a, 1964a, 1969a, 1974a, 1979, 1984, 1989) in die Untersuchung ein.
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den untersuchten Kalenderjahren wurden – außer im Jahr 1954 mit 25 Heften – immer 26 Einzelhefte der „Brigitte“ herausgegeben. Diejenigen Rubriken, Artikel und Anzeigen, die mit der Personenwaage und der Messung von Körpergewicht in einem Zusammenhang stehen, werden in die Analyse einbezogen. Diese Logik, wie das erweiterte Korpus diskursanalytisch eingearbeitet wird, gilt auch für die Vorauswahl im folgenden Kapitel.
EIN MODERNES ARTEFAKT IN EINER MODERNEN GESELLSCHAFT In diesem Kapitel steht die Analyse eines Ausschnitts, der systematisch aus dem Korpus gewonnen wird, im Fokus. Dadurch können Rückschlüsse auf die Eigenschaften der Personenwaage gezogen werden, die in den Patentdokumenten eingesetzt wurden, um das Instrument zu beschreiben. Diese Vorauswahl war zunächst so angelegt, dass diese den Gesamtzeitraum von der ersten Anmeldung im Jahr 1919 bis heute erfassen sollte. Wird das Sample nach Jahrzehnten strukturiert, folgt aus der Analyse, dass im Verlauf der 1970er und 1980er Jahre eine Sättigung eintritt. Die bestehenden Eigenschaften der Personenwaage ändern sich seitdem nicht mehr grundsätzlich und führen auch nicht zu fundamental neuen Befunden. Vielmehr werden die Merkmale und Funktionen des Instruments angepasst, verfeinert und verbessert. Zwar kommen nach 1989 neue technische Details hinzu. Allerdings stellen diese einen grundsätzlichen Bestandteil von Erfindungen dar und stehen für sich genommen nicht im Fokus der Untersuchung – die technische Entwicklung wird ihrer Bestimmung untergeordnet, also das, was damit bezweckt werden soll. So zeigt eine Sichtung des Korpus mit einem Vergleich der Titelangaben die Existenz elektronischer oder digitaler Personenwaagen auch schon vor 1989 (K14; K107; K109). Aus jetziger Kenntnis über die Daten liegt der Schluss nahe, dass die grundständige Erfindung der Personenwaage spätestens in den 1980er Jahren abgeschlossen war. Mit den Ergebnissen aus dieser Vorauswahl wird der Hauptbezugsrahmen der Untersuchung auf den Zeitraum zwischen 1919 und 1989 festgelegt.
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3.3.1 Die funktionale und soziale Dimension der Personenwaage 71 Die Vorauswahl von 1919 bis heute umfasste in einem ersten Schritt 21 Erfindungen und wurde in einem zweiten Schritt auf die Zeitspanne zwischen 1919 und 1989 eingegrenzt (Tab. 4).72 Dabei wurden in chronologischer Reihenfolge immer die erste und zweite Erfindung untersucht, die in einem neuen Jahrzehnt zum Patent oder Gebrauchsmuster angemeldet wurde. Dieses systematische Sample beginnt mit der Patentschrift K1 für die 1910er Jahre. In den 1940er Jahren wurde insgesamt nur eine Erfindung angemeldet. Tabelle 4: Die Vorauswahl Jahrzehnt
1910er
1920er
1930er
1940er
1950er
1960er
1970er
1980er
Lfd. Nr.
K1, K2
K3, K4
K14, K15
K19
K20, K21
K36, K37
K69, K70
K113, K114
Dieses Vorgehen soll anhand der ersten Erfindung im Korpus skizziert werden. Ein Auszug aus dem ersten Absatz dieses Patentdokuments aus dem Jahr 1919 beschreibt die Personenwaage wie folgt: „Die Erfindung betrifft eine selbsttätige Personenwaage mit Kontrollkartenausgabe […].“ (K1: 1) Jede neue Äußerung, welche die Personenwaage charakterisiert, wurde notiert – in diesem Fall der Begriff „Kontrollkartenausgabe“. Die Information „Kontrollkartenausgabe“ wurde bei diesem Vorgehen zunächst dem Kode visueller Vergleich und anschließend dem Indikator vergleichbare Messung und Kontrolle des Ergebnisses untergeordnet. Anschließend wurden aus der Gesamtheit aller Kodes diejenigen zu Indikatoren zusammengefasst, denen eine bestimmte, gemeinsame Information über die Waage zugrunde lag. Mit diesem Vorgehen wurde ein Spektrum typischer Aussagen über die Personenwaage entwickelt. Deutlich wurde dabei, dass die Personen und Firmen, von denen die Patente und Gebrauchsmuster angemeldet wurden, in ihren Aussagen großen Wert auf die Qualität der Messung legen. So soll die Personenwaage das Körpergewicht genau, zuverlässig und korrekt messen. Das Ergebnis soll schnell zur Verfügung stehen und gut abgelesen werden können. Kontrollkarten mit Datum und ein Speicher
71 In Anlehnung an Hörning (1985), der von einer funktionalen und symbolischen Dimension von Technik spricht. 72 Die Vorauswahl bezog im ersten Schritt sechs Erfindungen ab 1990 ein (A15; A16; A28; A29; A60; A61).
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mit früheren Messungen machen einen Vergleich der Messungen möglich. Den Erfindern schien es auch wichtig zu sein, dass die Anwender*innen das Gerät einfach in ihren Alltag und die Wohnung integrieren können und dass es lange funktionstüchtig ist. Darauf weisen Begriffe und Formulierungen wie „formstabil“ (K69: 4), „einfachen und leichten Transport“ (K36: 3), „verstellbar“ (K37: 1) oder „zusammenklappbar“ (K114: 1) hin. Die späteren Kund*innen sollen darüber hinaus auf das Instrument neugierig gemacht werden und nachhaltig dafür begeistert werden, vermutlich damit es gekauft und anschließend regelmäßig im Alltag eingesetzt wird. Entsprechende optische Effekte sollen das ästhetische Empfinden ansprechen. Die Orte, an denen die Waage zur Verwendung vorgesehen war, werden genauer spezifiziert. Neben der Anwendung im privaten Haushalt und Umfeld, wie im Badezimmer oder auf Reisen, wird auch auf eine Nutzung für medizinische Zwecke in Krankenhäusern oder Heilanstalten verwiesen. Die Produktion der Waage soll schnell und günstig vonstattengehen. Es wurde intensiv diskutiert, wie technische Details und Neuerungen eine exakte Messung über Jahre hinweg mit der Waage möglich machen können. Die technische Entwicklung und Möglichkeiten vor allem ab den 1960er Jahren erlaubten den Einsatz von immer komplexerer Technik. So wird in den Erfindungen über Vorgänge gesprochen, die automatisch, elektrisch und digital vonstattengehen (K113; K114). Die Abläufe folgen gewissen Regeln, sollen also normal verlaufen (K3: 1; K19: 2; K113: 3). Bei dieser Herleitung der Konzepte wurde deutlich, dass zwischen verschiedenen Indikatoren Verbindungen bestanden, so können bestimmte Eigenschaften nur umgesetzt werden, wenn die technische Entwicklung diese ermöglicht. Der Indikator technische Details wird deshalb für sich allein nicht analysiert, sondern in dieser Beziehung untersucht. Das Konzept Praktisches Instrument und Alltagsgegenstand subsumierte drei Indikatoren (einfache Handhabung und lange Haltbarkeit des Instruments, schnelle Messergebnisse), genauso wie das Konzept Notwendigkeit eines präzisen Instruments (genaue Messung, vergleichbare Messung und Kontrolle des Ergebnisses sowie Ablesung des Messergebnisses). Als Ordnungskriterien überprüfen diese Konzepte Indikatoren auf ihre Schlüssigkeit und abstrahieren die Indikatoren in Richtung der Kategorien. Die Darstellung und Charakterisierung der Personenwaage in den Dokumenten war derart kompakt und überschnitt sich in den einzelnen Schriften, dass bei der Entwicklung der Konzepte auch Kategorien gefolgert werden konnten. Eine Übersicht über alle Indikatoren, Konzepte und Kategorien gibt die nachfolgende Tabelle (Tab. 5). Es wurde entschieden, dass die Konzepte außer dieser Funktion, die Indikatoren in abstrakte Kategorien überzuleiten, für die weitere Untersuchung kein analytisches Gewicht haben, da die Indikatoren eine
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konkrete Aufschlüsselung der Entwicklungsgeschichte der Personenwaage erlauben. Eine Konzentration auf die Konzepte, die aufgrund ihrer analytischen Funktion mehrere Indikatoren integrieren, würde die Auswertungsergebnisse verwischen und feine Entwicklungsschritte nicht sichtbar machen. Auf diese Weise wird ermöglicht, das spezifische Profil der Personenwaage in den einzelnen Samples herauszuarbeiten. Allerdings verwiesen die Konzepte auf einen starken Alltagsbezug der Personenwaage. In den Patentdokumenten werden Voraussetzungen angesprochen, die mit gleichzeitig ablaufenden, gesellschaftlichen Diskursen in Verbindung zu stehen scheinen. Zudem führte die Kontextanalyse, bei der die Umgebungsbedingungen der Erfindungen einbezogen und die Kategorien reflektiert wurden, zu theoretischen Modellen der gesellschaftlichen Entwicklung. Diese beschreiben soziale Prozesse, mit der bestimmte historische Entwicklungen verbunden waren und es möglich machten, ein Instrument wie die Personenwaage hervorzubringen. Es konnten fünf Kategorien entwickelt werden, die in der unten stehenden Tabelle veranschaulicht werden (Tab. 5). Diese werden als potentiell noch korrigierbare theoretische Ergebnisse betrachtet. Tabelle 5: Die zentralen Indikatoren und (vorläufigen) Kategorien Indikatoren
Konzepte
Memo: Potentielle Kategorien
x
Einfache Handhabung und lange Haltbarkeit
x
Schnelle Messergebnisse
Praktisches Instrument und Alltagsgegenstand
Technisierung
Einfache Herstellung und ökonomische Überlegungen
Produktion eines Alltagsgegenstands
Technisierung
Technische Details
Komplexe technische Aufbereitung
Technisierung
Spielerisches und individuelles Moment der Personenwaage
Komponenten, die individuelle Interessen und Vorlieben ansprechen
Individualisierung
x
Genaue Messung
Normalisierung
x
Ablesung des Messergebnisses
Notwendigkeit eines präzisen Instruments
Von der Idee zur Personenwaage | 111
Indikatoren
Konzepte
Memo: Potentielle Kategorien
x
Aufstellort und Verwendung der Waage
x
Vergleichbare Messung und Kontrolle des Ergebnisses
Verarbeitung und optische Effekte der Personenwaage
Praktische Relevanz der Waage
Normalisierung und Medikalisierung
Ästhetik des Instruments
Ästhetisierung
Konkret bedeutet das, die gesellschaftlichen Dimensionen und Dynamiken zum Zeitpunkt der Entstehung und Weiterentwicklung der Personenwaage ab 1919 herauszuarbeiten. Dieser interpretative Vergleich deckt also spezifische Zusammenhänge auf, die wie folgt beschrieben werden können: x Technisierung: In den Patentdokumenten wurde davon gesprochen, dass die
Waage immer einfacher und günstiger produziert werden sollte (Tab. 5). Fakt ist, dass technische Innovationen wie die Personenwaage mit dem wachsenden Wohlstand Mitte des 20. Jahrhunderts übliche Bestandteile der Haushaltsausstattung wurden, weshalb diese Entwicklung als Technisierung bezeichnet wird. Die Verwendung von Technik hat sich bis heute auf sämtliche Dimensionen des Alltags ausgeweitet. Mit Technisierung ist der technische Aufschwung gemeint, der durch die Industrialisierung in Gang gesetzt wurde. x Individualisierung: Es wurde deutlich, dass die Waage an individuelle Vorlieben und Eigenschaften angepasst wurde (Tab. 5). Diese Aussagen scheinen mit dem gesellschaftlichen Prozess der Individualisierung zusammenzuhängen, durch den das einzelne Individuum und individuelle Entscheidungen in den Fokus rückten. Die Möglichkeit, über teilweise unendlich erscheinende Wahl- und Entscheidungsoptionen zu verfügen, stellt eine Konsequenz gesellschaftlicher Modernisierung dar. x Normalisierung: Es wurden Aussagen analysiert, die auf die Präzision des Instruments, dessen üblichen Einsatz und technische Aufbereitung hinwiesen (Tab. 5). Der gesellschaftliche Vorgang der Normalisierung betrifft einen regulativen Prozess, der Bemessungskategorien wie Zahlen und Werte, aber auch bestimmte Maßstäbe mit sozialer Gültigkeit hervorgebracht hat.
112 | Die Personenwaage
x Medikalisierung: Aussagen, die eine spezifische Relevanz der Waage in einem
gesundheitlichen Kontext berühren, führten dazu, an einen weiteren historischen Kontext zu denken (Tab. 5). Die detaillierten Hinweise zur Verwendung des Instruments könnten mit einer medizinischen Bewertung des Körpergewichts einhergehen. Medikalisierung fungiert in einem Spannungsfeld von Gesundheit und Krankheit. Beide Begriffe transportieren eine politische Dimension, wobei durch bestimmte Definitionen neue Krankheiten entstehen. x Ästhetisierung: Aussagen, welche die Ästhetik des Instruments betrafen, kam im Zeitverlauf deutlicher zum Ausdruck und scheinen in den gesellschaftlichen Vorgang der Ästhetisierung eingebettet zu sein (Tab. 5). Dieses Phänomen bezieht sich nicht nur auf Technik, sondern auch auf Kultur. Diese Überlegungen deuten eine unmittelbare und mittelbare ästhetische Wahrnehmung an, die über das Design des Instruments hinausgehen. In einer Genealogie der Personenwaage könnten sich ästhetische Normen etabliert haben, die sämtliche gesellschaftliche Bereiche einbeziehen, die mit dem Instrument assoziiert sind. Dieser Analyseschritt rekonstruiert die Kategorien als Konturen von Macht/Wissen-Komplexen, die mit der Personenwaage in Verbindung zu stehen scheinen. Die Produktion und Transformation von Wissen und Macht verläuft demnach einerseits in Abhängigkeit von einem institutionellen Akteur, der die Personenwaage in Patentdokumenten der Gesellschaft zugänglich macht. Andererseits verweisen diese ersten Ergebnisse auch auf die gesellschaftliche Einbettung von Wissen und Macht. 3.3.2 Technik und Gesellschaft in einer engen Beziehung zum Individuum Die entwickelten fünf Kategorien verweisen nicht nur auf gesellschaftliche Prozesse, die maßgeblich mit den Veränderungen von 1919 bis heute zusammenhängen, sondern auch auf vorherige wie zum Beispiel die Industrialisierung während ihres Höhepunkts von 1870 bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs. Diesen makro- und mikrostrukturellen Kontext der Personenwaage beschreiben Diagnosen, Theorien und Analysen der Gesellschaft und machen den sozialen Wandel, der mit dieser Erfindung in Verbindung steht, in seinem zeitlichen Verlauf nachvollziehbar.
Von der Idee zur Personenwaage | 113
Zeit- oder Gegenwartdiagnosen73 befassen sich mit den Entwicklungsprozessen von Gesellschaften. Der Terminus Gegenwartsdiagnosen verweist noch deutlicher auf den zeitlichen Aspekt und Prozesshaftigkeit dieser Diagnosen (Schimank/Volkmann 2007; Volkmann/Schimank 2002). Zeitdiagnosen nehmen eine Position zwischen Analysen, die sich bestimmten gesellschaftlichen Bereichen widmen und den übergeordneten Gesellschaftstheorien ein, was ihre theoretische Ausarbeitung betrifft (Schimank 2007a: 14– 16). Die analytischen Grenzen zwischen diesen drei Genres sind oftmals fließend. Im Folgenden wird neben Zeitdiagnosen auch auf spezielle Analysen und allgemeinere Gesellschaftstheorien zurückgegriffen. Um die Verknüpfung zwischen spezifischen Analysen, Zeit- und Gegenwartsdiagnosen wie Gesellschaftstheorien besser ausdrücken zu können, wird in Anlehnung an Bogner (2015) der Begriff Gesellschaftsdiagnosen gewählt. Durch den Vergleich gesellschaftlicher Elemente, die in früheren Theorien untersucht wurden – ein typisches Schema der Gesellschaftsbeschreibung – werden gesellschaftliche Kontinuitäten, Veränderungen, Rückbildungen und Neuerungen sichtbar (ReeseSchäfer 2002: 412–413). Gesellschaftsdiagnosen handeln nicht nur von vergangenen und hochaktuellen Entwicklungen, sondern setzen sich mit künftigen auseinander (Dimbath 2016: 15–16, 84–87; Prisching 2009: 27–32). Gerade auch weil diese sich mit den vielfältigen Auswirkungen auf Individuen und Gesellschaften im Alltag beschäftigen, nehmen diese auch im breiten, öffentlichen Diskurs eine wichtige Stellung ein. Schimank (2007a) wie auch Volkmann (2015) weisen auf die spezifische Konturierung einzelner Gesellschaftsdiagnosen hin. Im Fokus stehen daher solche theoretischen Modelle, welche die historischen Entwicklungen in Deutschland seit der Moderne Mitte des 19. Jahrhunderts einbeziehen – also jene, welche vor der ersten Erfindung im Jahr 1919 ansetzen und insbesondere jene, die einen Bruch zur Mitte des 20. Jahrhunderts oder kurz danach, in den späten 1960er und den 1970er Jahren lokalisieren. Damit sind Effekte mit alltäglicher Relevanz gemeint. Diese inhaltliche und zeitliche Akzentuierung zeichnet sich bei der Analyse der Vorauswahl ab. Deshalb wird in diesen Zeiten massiver gesellschaftlicher Veränderungen nach (nicht-)diskursiven Alltagspraktiken, in welche die Personenwaage eingebunden ist, gefragt. Um dieses diskursive Feld näher zu bestimmen und mit den theoretischen
73 Es werden ausschließlich solche Entwürfe mit wissenschaftlichen Anspruch einbezogen. Das Genre wird allerdings auch populärwissenschaftlich genutzt – problematisch werden solche Diagnosen, wenn sie darauf abzielen, zu polarisieren und plakativ oder verkürzt vorgehen (Dimbath 2016: 22).
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Überlegungen zusammenzubringen, werden in die folgende Analyse Ausschnitte aus dem erweiterten Korpus integriert. Technisierung des Alltags Betrachtet man die gesellschaftliche Entwicklung der letzten beiden Jahrhunderte, ist es üblich, Modernisierung als Ausdruck für den Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft zu verwenden. Die Veränderungen, die dieser Wandel nach sich zog, sollten nicht nur die strukturellen und kulturellen Gegebenheiten Deutschlands nachhaltig beeinflussen, sondern sich auch auf die Einstellungen, Handlungen und Verpflichtungen einzelner Personen auswirken. Als Motor dieser gesellschaftlichen Modernisierung gilt die Industrialisierung (Degele 2002: 12– 15). Dieser zugrunde liegt der technische Fortschritt, der in dieser Zeit in immer stärkerem Maße zum Ausdruck kam. Bereits Karl Marx (1818–1883) ging Mitte des 19. Jahrhunderts davon aus, dass der Einsatz von Technik gesellschaftliche Bedingungen schafft, die den Alltag der Menschen – beispielsweise Arbeit, Lebensumfeld und Zusammenleben – radikal umorganisierten (ebd.: 79–80). Die Mechanisierung in Großbetrieben, die straffe Organisation von Produktionsprozessen und deren Management nach wissenschaftlichen Kriterien (Taylorismus, Fordismus) hatte zum Ziel, die Kosten bei gleichzeitig steigender Effizienz niedrig zu halten (ebd.: 81; ten Horn-van Nispen 1999: 121–126). Diese Neuerungen wirkten sich unter anderem direkt auf die Arbeitsweisen der Arbeiter*innen und gesellschaftliche Verhältnisse aus. Damit sind auch neue Transportmöglichkeiten wie Straßenbahn, Auto oder Fahrrad und das Aufkommen von Kommunikationsmitteln wie Telegraf, Zeitung, Telefon, Fernsehen und Radio gemeint. Diese kurze Skizze der technischen Revolutionen in der Zeit, die bis Mitte des 20. Jahrhunderts folgte, deutet bereits an, welche Macht technische Neuerungen auf den Lebensalltag ausübten. Deshalb geht die Techniksoziologie davon aus, dass technische Innovationen und soziale Veränderungen miteinander agieren (Degele 2002: 13–15, 24–25). Meist lässt sich eine bestimmte Eigendynamik feststellen, indem Neuerungen, die auf den Markt kamen, immer weiterentwickelt wurden. Dieser Prozess verselbständigte sich im Lauf der Zeit und erfolgte in immer schnellerem Tempo. Das gesamte System, das sich um die Entwicklung, Herstellung, Vertrieb und Vermarktung eines Produkts aufgebaut hatte, passte sich an diese Impulse an. Dieser Ablauf wurde immer kleinteiliger organsiert, indem für einzelne Schritte eine Spezialisierung erfolgte. Gemeint sind hier Vorgänge funktionaler Differenzierung, die Teil des gesellschaftlichen Modernisierungsvorgangs sind (Schimank 2007b). Verfolgt man die theoretische Auseinandersetzung mit dem Technikbegriff, so fällt auf, dass Max Weber (1864–1920) davon sprach, Technik sei eine
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absichtlich ausgeführte, rationale Handlung (Hennen 1992: 8; Weber/Weber 1980: 32). Demnach fungiert Technik als Bestandteil sozialer Situationen im privaten wie öffentlichen Raum. Technik wird allgemein als „das gesellschaftlich institutionalisierte Ergebnis methodisch suchenden, bastelnden und erfindenden Handelns“ verstanden (Rammert 1993: 10) Ein engerer Technikbegriff wird in der Soziologie für gewöhnlich verwendet, um den Einsatz konkreter Gegenstände wie Gerätschaften, Instrumente oder Maschinen zu beschreiben, die eine bestimmte Aufgabe haben (ebd.: 10–11; Wienold 2007b: 657). Technisierung bedeutet eine „Entwicklung von Technik“ (Rammert 1993: 53). Diese „sei als historischgesellschaftlicher Prozeß der Technisierung zu begreifen, in den ökonomische Interessen, politische Machtkonstellationen und kulturelle Wertvorstellungen hineinwirkten und gleichzeitig dadurch verändert würden.“ (Rammert 1983: 21) Eine (sozial-)wissenschaftliche Technikforschung unterscheidet drei analytische Herangehensweisen.74 Ein deterministischer Zugang setzt Technik absolut (Degele 2002: 24–25; Hennen 1992: 10; Rammert 1993: 53). Der Technik wird dabei eine Art Allmacht zugewiesen, mit einer Position außerhalb des gesellschaftlichen Geschehens und einer autonomen Rolle. Technisches Wachstum folgt demzufolge einer eigenen Logik und Dynamik, sie funktioniert aus sich selbst heraus ohne (intentionale) Eingriffe oder Wertsetzungen des Menschen. Technik determiniert bei dieser Auffassung soziale Veränderungen (Degele 2002: 25). Dieser Ansatz wurde in der Vergangenheit stark kritisiert. So verdeutlicht Hennen (1992), dass diese analytische Herangehensweise für die sozialwissenschaftliche Forschung ungeeignet ist, da technischer Fortschritt immer auch eine gesellschaftliche Dimension hat. Eine Praxis des Determinismus ist die Technikfolgenabschätzung. Dieser Zugang kann nach Rammert (2000: 49) und Tschiedel (2007: 657) als vorwiegend prospektive Variante verstanden werden, indem Antworten auf die rapide Entwicklung der Technik gesucht werden. Nach Degele (2002: 39–46) stehen dabei mehrere Faktoren im Fokus des Interesses, nämlich die Ableitung von Prognosen, Bewertungen und Handlungsmöglichkeiten für die künftige Entwicklung. Dabei geht es um die politische und wirtschaftliche Bewältigung
74 Degele (2002), Hennen (1992) und Rammert (1993, 2000) nähern sich dem Forschungsfeld Technik auf theoretisch unterschiedliche Weise. Das Vorgehen in dieser Arbeit orientiert sich an Rammert (2000: 48–58). Dabei agieren der deterministische und konstruktivistische Zugang als „soziologische Annäherung an Technik“, sie gelten als „klassische Positionen“, die auch in einer Mischform oder in adaptierter Gestalt existieren (Degele 2002: 22–23). Rammert bezieht diese ein, führt jedoch als dritte Perspektive die Technikgenese ein (Rammert 1993: 53–54).
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etwaiger Probleme, die sich aus dem rasanten Anstieg der technischen Entwicklung ergeben haben. Dazu zählen ökologische, wirtschaftliche oder soziale Folgen. Diese konkret, gründlich und neutral ableiten zu können, gelingt nicht immer, weshalb die Ergebnisse und Leitlinien, zu denen die Technikfolgenabschätzung kommt, mitunter beanstandet werden. Bei einem konstruktivistischen Zugang wird Technik als „Produkt der Gesellschaft“ (Hennen 1992: 26) verstanden und die Rolle von Technik anthropologisch, historisch und soziologisch erklärt (Degele 2002: 57; Hennen 1992: 26–29; Rammert 1993: 53– 54, 2000: 50). Zwar interagieren hier auch technischer und sozialer Fortschritt miteinander, aber in eine andere Richtung, als es die deterministische Auslegung vorschlägt. Demnach ist die technische Entwicklung erstens an historische und gesellschaftliche Gegebenheiten gekoppelt, die zusammen eine richtungsweisende und bestimmende Funktion für Inventionen einnehmen. Zweitens besitzt Technik immer auch eine soziale Komponente, weshalb sich Technik als autarkes System nicht als haltbar erweist. Technik und Kultur verstärken sich gegenseitig, denn technische Artefakte verbreiten und verstetigen sich wiederum in sozialen Zusammenhängen. Allerdings tendieren solche konstruktivistischen Annahmen dazu, übergeordnete, makrosoziologische Logiken auszublenden, wie Rammert bemängelt.75 Zwar werden soziale und technische Elemente hier als Einheit betrachtet, dennoch vermögen weder rein deterministische noch rein konstruktivistische Positionen die verschiedenen Dimensionen der Technikforschung zu erfassen. Die Technikgenese als weitere Herangehensweise versucht deshalb, aus unterschiedlichen Perspektiven die Entstehungszusammenhänge und die Entwicklungsgeschichte von Technik in den Fokus zu rücken (Rammert 2000: 50–58). Dabei werden unter anderem die Wechselwirkungen von Mensch und Technik, Technik und Ökonomie sowie Technik und Politik betrachtet. (Empirische) Analysen wie die vorliegende, die sich mit technischem Fortschritt befassen, profitieren von solchen Überlegungen auf mehreren Ebenen (ebd.: 68– 69). Eine solche Untersuchung erfolgt begleitend zur technischen Entwicklung und bezieht die Rolle der Massenmedien mit ein. In die Technikforschung fließen Interaktionen, Wechselspiele zwischen sozialen Akteuren sowie deren Interessenlagen über den gesamten Verlauf von der Entwicklung bis zum fertigen Produkt ein. Die Technikgenese arbeitet den gesellschaftlichen Konnex von Technik konsequent ein (ebd.: 57). MacKenzie/Wajcman (2011) bezeichnen dies als „Social Shaping of Technology“. Daneben werden Bedeutung, Relevanz und Konsequenzen einzelner technischer Artefakte ausgearbeitet.
75 Dies kritisiert auch Lachmund (1997: 14) im Rahmen seiner medizin-, technik- und wissenssoziologisch inspirierten Untersuchung.
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Diese Herangehensweisen beschreiben grundsätzliche theoretische Perspektiven der sozialwissenschaftlichen Technikforschung. Darüber hinaus existiert eine „Techniksoziologie des Alltags“, die vor allem im deutschen Sprachraum seit den 1980er Jahren als aktuelle Variante der Techniksoziologie gilt (Degele 2002: 111; Hennen 1992: 2).76 Neben einem Fokus auf der Entwicklung von Technik erscheint dieser spezialisierte Ansatz für die Analyse der Personenwaage bedeutsam. Eine Technisierung des Alltags haben Hennen (1992), Joerges (1988b), Weingart (1989) und Rammert (1993) dokumentiert.77 Diese Akzentuierung beschreibt den Umstand, „daß Technisierungsprozesse nicht mehr auf den eng umrissenen und formal organisierten Bereich der Berufsarbeit beschränkt bleiben, sondern mit dem Alltag der gesellschaftlichen Subjekte nun den gesamten Lebensbereich durchdringen. Anders als in früheren, meist kulturkritischen Debatten, ist der Ausgangspunkt […] das technische Artefakt oder technische System als soziale Institution oder Medium gesellschaftlichen Handelns im Alltag.“ (Hennen 1992: 59)
Anstoß für diese Beobachtung war der Anstieg und Einsatz von technisch hergestellten Produkten im privaten Haushalt, wie Waschmaschinen, Staubsaugern oder Computern – und jüngst Staubsaugerroboter, die in den letzten Jahrzehnten das Alltagsleben und tägliche Routinen revolutionierten (Degele 2002: 111–112; Hennen 1992: 59–60). Den Alltag als theoretische Perspektive zu berücksichtigen bedeutet, Individuen als handelnde wie denkende Subjekte zu begreifen und Technik als gesellschaftliche Partizipation (Hörning 1988: 53). Die „Brigitte“ begleitet die technische Entwicklung in Deutschland, was die Haushaltsausstattung betrifft. Eine der vielzähligen Werbeanzeigen in der „Brigitte“ stellt im Jahr 1959 zum Beispiel einen Waschvollautomaten der Firma AEG vor, „bei dem auch das Trockenschleudern vollautomatisch erfolgt!“ (Brigitte 1959e: 18) Kommt die Personenwaage anfangs noch sporadisch vor, wird die Funktion des Instruments zwischen 1969 und 1979 regelmäßig artikuliert (Brigitte 1969c; 1974a, 1979). Das Instrument fungiert damit zum einen als Stellvertreter für technische Geräte, die im Alltag unersetzlich werden sollten. Zum anderen belegt eine nahtlose Berichterstattung die essenzielle Rolle der
76 Nachdem die Mechanisierung und Rationalisierung in Industriebetrieben frühzeitig in die soziologische Debatte aufgenommen wurde, ging man den Veränderungen durch Technik im privaten Umfeld erst relativ spät nach. 77 Vgl. in einem anderen Zusammenhang auch den gleichnamigen Band von Weber et al. (2015), der sich allerdings mit dem Einsatz von Technik im Alter beschäftigt.
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Waage, denn es wurde im Jahr 1969 zum Thema Diät eine eigene Rubrik eingeführt: „Erstmals in diesem Heft: der Diät-Club für alle, die abnehmen wollen und dazu Trost, Rat, Zuspruch und Rezepte suchen.“ (Brigitte 1969b) Tatsächlich verweist dieses Eindringen der Waage in die Lebenswelt der Individuen auf machtvolle, soziale Prozesse, die sich gegenseitig verstärken: „What we see here instead is an ongoing social process in which scientific knowledge, technological invention, and corporate profit reinforce each other in deeply entrenched patterns that bear the unmistakable stamp of political and economic power.“ (Winner 1980: 126) Technik dieser Art erscheint fast unentrinnbar, sie wird akzeptiert, man arrangiert sich mit ihr – mehr noch, scheinbar wird diese aktiv in (nicht-) diskursive Muster des Alltags integriert: „In our times people are often willing to make drastic changes in the way they live to accord with technological innovation at the same time they would resist similar kinds of changes justified on political grounds.“ (Ebd.: 135) Es erscheint daher naheliegend, danach zu fragen, ob Artefakte per se politisch sind: „Do Artifacts Have Politics?“ – ein Thema, das Winner im Jahr 1980 aufgreift und die biopolitische Macht der Personenwaage möglicherweise passend umschreibt (ebd.). Bei Vorhaben, die sich auf eine solche Veralltäglichung von Technik richten, stehen drei Betrachtungsweisen im Fokus (Braun 1993: 29–31; Degele 2002: 112–113; Joerges 1988a: 29–33): x Technisierung des Alltags als spezifische Wissens- und Handlungsform, x Technisierung des Alltags als spezifische Form der Institutionalisierung von sozialem Handeln sowie x Technisierung des Alltags innerhalb spezifischer Lebens- und Tätigkeitsräume (Haushalt, Freizeit und Öffentlichkeit). Damit kann die Rekonstruktion des Prozesses, die Einführung der Personenwaage als Haushaltsgegenstand, konkretisiert werden. Die drei genannten Analysedimensionen verweisen auf das Wissen, das in den Patentdokumenten über das Instrument und dessen Gebrauch bekannt gemacht wurde. Wiederholen sich diese Instruktionen, könnten daraus gesellschaftlich anerkannte, nicht-diskursive Praktiken wie das Messen von Körpergewicht geworden sein, die in dynamischer Weise zwischen Mensch und Technik verlaufen und sich auf den Körper beziehen.
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Individualisierung – neue Freiheiten, neue Risiken im Alltag Im Zuge des sozialen Wandels, den der gesellschaftliche Modernisierungsprozess seit der Aufklärung78 mit sich brachte, veränderten sich die Bedingungen für Individuum in zwei Schüben (Volkmann 2007: 33). Der Wechsel von der Agrarzur Industriegesellschaft und der Übergang von einer Stände- zur Klassengesellschaft fungieren in der Gesellschaftstheorie als klassische Kennzeichen der Moderne. Galten zunächst die vormodernen Lebensverhältnisse als traditional, sind es heute die gesellschaftlichen Ordnungen, die vor den Entwicklungen der letzten fünfzig Jahren bestanden (Schroer 2004: 199; Volkmann 2007: 33). Zunächst hatte die Industriegesellschaft zur Folge, dass sich die enge Bindung von Individuen an ihre Herkunft löste (Schroer 2004: 193–194). Diese sukzessive Entwicklung bedeutete eine Aufweichung vormoderner Traditionen. Noch bis in das 20. Jahrhundert hinein, allerdings nicht mehr in derselben Ausschließlichkeit wie in der Standesgesellschaft, bestimmte die Geburt über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse mit. Gleichzeitig machte unter anderem die gesellschaftliche Differenzierung neue Bindungen und eine Lebensplanung abseits der Familie möglich. Damit ergaben sich neue Perspektiven für Individuen, aber auch Risiken, was bereits von Georg Simmel (1858–1918) in „Über sociale Differenzierung“ (2001) und von Nobert Elias (1897–1990) in „Über den Prozeß der Zivilisation“ (1997) beschrieben wurde. An dieser Ambivalenz knüpft die Individualisierungstheorie von Ulrich Beck (1944–2015) an. Die Orientierungsmuster, die durch die Standes-, Klassen- oder Familienzugehörigkeit automatisch vorhanden waren, gingen im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer mehr verloren (Beck 1983, 1986). Die Umwälzungen bewirkten seit der Nachkriegszeit Mitte des letzten Jahrhunderts eine Pluralisierung sämtlicher Lebensbereiche, so dass eine Vielzahl individueller Entscheidungen notwendig wurde (Beck 1986; Beck et al. 2004). Beck et al. (2004: 16) beziehen sich konkret auf eine „Pluralisierung von Arbeits-, Familien-, Lebens-, Souveränitäts- und Bürgerrechtsformen“. Der gewachsene Wohlstand Mitte des 20. Jahrhunderts begleitete diesen Prozess und unterstützte ihn. Beck (1986: 122, Herv. i. O.) sprach von einem „allgemeinen Fahrstuhl-Effekt“, der durch ein „kollektives Mehr an Einkommen, Bildung, Mobilität, Recht, Wissenschaft, Massenkonsum“ gekennzeichnet war. Freizeit und höhere Einkommen ermöglichten die Teilhabe an Konsum, wodurch die gesellschaftliche
78 Im Regelfall ist hier der Zeitraum nach Ende des Mittelalters gemeint (Schroer 2005: 17). Die genannten Prozesse beschleunigten sich nach Beck et al. (2004: 22) im Verlauf des 20. Jahrhunderts.
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Individualisierung mit Prozessen der Technisierung und Ästhetisierung in enger Beziehung steht. Diese Modernisierung von Gesellschaft setzt sich bis in die Gegenwart hinein fort. Die Entwicklungen der Ersten Moderne verstärkten sich immens seit den 1970er Jahren, unter anderem im Trend zum technologischem Fortschritt und der beständigen Weiterentwicklung von Technik. Es sind Abhängigkeiten von Institutionen, Wissen, (Massen-)Medien, Dienstleistungen und Konsum, die daraus folgten (ebd.: 121–122, 211–213; Schroer 2004: 199; Treibel 2006: 238; Volkmann 2007: 28–36). Diese Radikalisierung der Ersten Moderne wird als Zweite Moderne verhandelt. Orientierungsraster, Normierungen und Wertsetzungen werden seither in stärkerem Ausmaß über die Medien – vor allem das Internet – verbreitet und vermitteln eine Instanz, weil traditionelle Ordnungen weggefallen sind. Diese Einflüsse wirkten und wirken zu einem hohen Grad auf das Individuum. Dieser Kontext fordert Individuen heraus, eigene Ordnungs- und Handlungslogiken aufzubauen (Beck et al. 2004: 15): „Individualisierung
meint
erstens
die Auflösung und zweitens
die Ablösung
industriegesellschaftlicher Lebensformen durch andere, in denen die einzelnen ihre Biographie selbst herstellen, inszenieren, zusammenschustern müssen, und zwar ohne die einige basale Fraglosigkeit sichernden, stabilen sozial-moralischen Milieus, die es durch die gesamte Industriemoderne hindurch immer gegeben hat und als ‚Auslaufmodelle‘ immer noch gibt.“ (Beck/Beck-Gernsheim 1993: 179, Herv. i. O.)
Individualisierung meint also Herauslösung, Verlust und Einbindung gleichermaßen (Beck 1986: 206, Herv. i. O.). Gegebene Bedingungen und Lebensverhältnisse sind nicht mehr unabänderlich – Individuen werden stattdessen in die Lage versetzt, sich von sozialen Gemeinschaften wie Beziehungen zu trennen und Abhängigkeiten aufzugeben (Beck/Beck-Gernsheim 1990). In einer Zweiten Moderne können Individuen nicht mehr von den so genannten alten Sicherheiten wie Familie ausgehen. Verpflichtungen, die das individuelle Handeln, Wissen und Verhalten (an-)leiten, haben eine neue Bedeutung – diese müssen gesellschaftlich ausgehandelt werden. Daran schließt sich die Freiheit an, sich nach eigenen Maßstäben orientieren und organisieren zu können. Individuen können sich Gemeinschaften aus eigener Entscheidung anschließen und ein individuelles Netz aus Sozialbeziehungen formen, denn diese sind nicht mehr durch Religion, Stand, Klasse oder Familie vorherbestimmt (Beck 1986: 119; Lau 1988: 224). Diese Entwicklungen einer Zweiten Moderne skizzieren das Subjekt nicht mehr als passiven, sondern als aktiven Akteur (Hirseland/Schneider 2008). Das Subjekt hat nun die Freiheit, aber auch die Pflicht, sein Leben und seine sozialen Beziehungen selbst zu gestalten: „Der oder
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die einzelne selbst wird zur lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen“ (Beck 1986: 119, Herv. i. O.). Genau darin liegt nun die „Paradoxie vergesellschafteter Individualisierung“ (Beck/Beck-Gernsheim 1990: 181), denn die Selbstverwirklichung verläuft nicht grenzenlos, sondern immer noch innerhalb der gesellschaftlichen Schranken von Normen, Werten und Standards (Beck 1986: 119, 220-221; Beck/Beck-Gernsheim 1990: 15, 185). Die Abhängigkeit von Arbeit, Bildung, Gesetz, Medizin, Konsum, Trends und vielem mehr stellt das Individuum vor eklatante Herausforderungen und weitreichende Entscheidungen bei der Gestaltung der Identität und besonders bei Brüchen in der Normalbiografie. So zeigt sich in den Lebensverläufen von Frauen seit den 1970er Jahren zwar die relative Freiheit, sich von der ausschließlichen Rolle als Ehefrau, Hausfrau und Mutter lösen zu können und einer Berufstätigkeit nachzugehen. Dennoch gelingt nicht immer ein Sowohl-als-Auch, das heißt eine gelingende Paarbeziehung neben der Berufsrolle und der Realisierung eines Kinderwunsches (Beck/Beck-Gernsheim 1990, 1993). Auch in den über fünfzig Jahren, in denen es zu einer zweiten Welle der Frauenbewegung kam und in über vierzig Jahren vielfältiger rechtlicher Gleichstellungen in der BRD scheinen immer noch traditionelle Werte, die mit der Rolle der Frau in der Gesellschaft assoziiert sind, durch. So stand und steht der Körper im Mittelpunkt vielfältiger gesellschaftlicher Debatten, sei es bei der Einführung der Anti-Baby-Pille, bei der Diskussion um Abtreibung oder die biopolitische Frage nach der Schönheit des Frauenkörpers, welche Frauen auf ihren Körper (und dessen Passung mit ästhetisch-kulturellen Normen, beziehungsweise dessen Normabweichung) zurückwerfen (Degele 2004, 2008; Duden 1991; Meuser 2005; Penz 2010; Villa 2011). In einer „Brigitte“Ausgabe aus dem Jahr 1959 lässt sich diese Form einer modernen Kultur der sozialen Kontrolle nachvollziehen. Deutlich wird daran auch die implizite Aufforderung an das Subjekt, für die individuelle Schönheit zu sorgen. Darin wurde gefragt „Was ist noch schlank – was schon mager?“ (Brigitte 1959c: 25) Unterstützend wurde dazu die Meinung von Männern hinzugezogen, die oft eher als Frauen wüssten, an welcher Stelle eine gute Figur endet: „Ihnen galten eckige Glieder, dünne Arme und Beine, knochige Gesichter und eine flache Brust noch nie als Schönheitsideal.“ (Ebd.) Konkret wurde geraten, 35 bis 40 Kalorien pro Kilo Körpergewicht zu sich zu nehmen, morgens am besten ein großes Glas Sahne zu trinken sowie viele Zwischenmahlzeiten zu essen, denn „Dünne müssen es auf ein Körpergewicht von mindestens 60 Kilo bringen.“ (Ebd.: 26) Eine so genannte „Mastkur“ könne so lange durchgeführt werden, „bis die gewünschte Fülle erreicht ist. […] Die beste Kontrolle über die Wirksamkeit bietet regelmäßiges Wiegen.“ (Ebd.: 27) Es scheint also einen schmalen Grat zwischen schlank und schön sowie dünn und nicht mehr so schön zu geben, denn im selben Heft geht es
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wenige Seiten weiter auch um den Wunsch nach einer schlanken Taille und leichten Kost am Strand (Brigitte 1959d: 32–33).79 Dieser evaluativ-begutachtende Blick bezieht sich aber nicht nur den Geschlechterkörper, sondern hat sich im Zuge einer Zweiten Moderne auf sämtliche Lebensbereiche eines Individuums ausgeweitet. Der visuelle Blick und numerische Vergleich zeigt vielmehr am Beispiel des Körpergewichts, in welchen engen Grenzen sich das Individuum trotz neuer Freiheiten bereits zur Mitte des 20. Jahrhunderts bewegt hat. Inzwischen zählt auch die Kommunikation über soziale Medien (Stichwort WhatsApp, Facebook, Instagram und Pinterest) dazu, bei denen Bilder und die diskursive Bewertung eine zentrale Rolle spielen, auf die Verpartnerung und Sexualität (Stichwort Sex Toys, Tinder und Rankings wie die sogenannte Fuckability)80, auf Musik und Tourismus (Stichwort Streaming- und Bewertungsportale) (Beck/Beck-Gernsheim 1990; Bublitz 2018; Grittmann et al. 2018; Heintz 2010, 2016; Kropf/Laser 2018). Langfristige Verbindlichkeiten lassen sich daraus jedoch schon lange nicht mehr ableiten – aus den gesellschaftlichen Entwicklungen folgt eine Bastelexistenz (Hitzler/Honer 1994), der sich das Subjekt zu stellen hat (Hitzler 2002: 76, 80). Vor diesem Hintergrund entstand im Verlauf der Ersten Moderne sozusagen eine Spirale aus individuellen Entscheidungen und Verhandlungen, die in der Zweiten Moderne intensiver als zuvor mit Bezugspersonen, -gruppen und Institutionen und zwangsweise geführt werden muss. Normalisierung des Lebens Jürgen Link hat in seiner Analyse „Versuch über den Normalismus“ (2009) ein diskurstheoretisches Konzept beschrieben, das gesellschaftliche Zusammenhänge und spezifische Veränderungen in den letzten beiden Jahrhunderten anspricht. Der
79 Andere Ausgaben der Frauenzeitschrift Ende der 1950er Jahre konzentrierten sich auf verschiedene Diät-Konzepte, dabei fehlten im Gegensatz zur „Mastkur“ Orientierungswerte für das Ausgangsgewicht (Brigitte 1958, 1959b). Allerdings wurde bei dieser „Mastkur“ keine Differenzierung nach der Körpergröße vorgenommen (Brigitte 1959c). 80 Damit ist die diskursive Verbreitung von Sexspielzeugen gemeint, was in den letzten Jahren von Unternehmen wie „Amorelie“ schick und gesellschaftsfähig gemacht wurde. Diese werben damit, das Liebesleben vor neue Herausforderungen zu stellen und es mit diversen Produkten zu optimieren. Fuckability meint eine visuelle Bewertung von Attraktivität und Sex-Appeal, was bei der Nutzung des Dating-Portals Tinder praktiziert wird, um sich für oder gegen eine weitere Kommunikation und/oder ein (Sex-)Date zu entscheiden.
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Zugang hat zum Ziel, die Entwicklung eines ganz bestimmten Phänomens, des Normalismus und seiner Geschichte, darzustellen (ebd.: 7). Link setzt damit an den Arbeiten von Foucault an. Es ist die erste Theorie, die sich ausschließlich der Erforschung des Normalismus widmet und dazu auf frühe Gesellschaftstheoretiker wie Auguste Comte (1798–1857), Emile Durkheim (1858–1917) und Marx zurückgreift. Diese Fokussierung, im eigentlichen Sinn auch zeitdiagnostische Positionierung, stellt bis heute ein Alleinstellungsmerkmal dar. Die Normalismustheorie wird als historisch-soziologischer Beitrag verstanden mit einem Interessensschwerpunkt auf Gesellschaft, Sprache, Alltag und Literatur (Stechow 2004: 20–21; Winkler 2004: 183–185). Aus wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten ist davon auszugehen, dass Normen stets mindestens zwei Aspekte beinhalten (Treiber 2007). Der Terminus schließt feststehende und repetierende Verhaltensformen in einer bestimmten sozialen Situation ein, die Bewertung dieses Handelns und die soziale Verpflichtung zu einem spezifischen Verhalten. Dieses Wissen wird im Regelfall in sozialen Handlungen eingeübt und steht als Repertoire konstant zur Verfügung. Als Erfahrungswissen hilft es einem individuellen Akteur Situationen zu beurteilen. Als allgemein geteiltes Alltagswissen denken und handeln viele verschiedene Akteure in einer Gesellschaft ähnlich oder gleich. Aus derselben Wortfamilie wie die Norm leiten sich die beiden Begriffe Normalität und normal ab. Im gegenwärtigen Verständnis sind Synonyme wie „Alltag“ und „gängig“ oder „üblich“ gleich gesetzt.81 Die Worterklärung zum Terminus „normal“ ist fast deckungsgleich mit der Definition von Seiten der Wissenschaft. Wie Link (2009: 15–17) ausführlich darlegt, wird der Begriff in unzähligen Kontexten verwendet. Dennoch fehlt tatsächlich ein analytisches Fundament. Der Gebrauch reicht von alltäglichen diskursiven Praktiken medialer Berichterstattung bis hin zu spezialisierten Verwendungsweisen in der Wissenschaft. Terminologisch müssen – nach Link – zwei Begrifflichkeiten, Normativität und Normalität, unterschieden werden. Zum einen sind es Normen, die als Regeln, Gebote oder Gesetze grundsätzliche, normativ gefasste Aspekte beinhalten (Kelle 2013: 17; Kelle/Mierendorff 2013: 8; Link 2009: 33–35, 133, 185–186). Sie legen Verhalten fest, das entweder richtig oder falsch ist, sind also präskriptiv. Solche Normen sind obligatorisch und müssen eingehalten werden. Zum anderen sind es statistische Durchschnittswerte, die getestet oder verglichen werden (Kelle/Mierendorff 2013:
81 Vgl. die beiden Lemma „Normalität“ und „normal“ in der Online-Ausgabe des Duden als etabliertes und normiertes Wörterbuch der deutschen Sprache (Duden Online o. J.b, o. J.c).
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8; Link 2009: 33–35, 185–186). Als einfache Beispiele dienen der Blutdruck oder die Körpertemperatur. Sie haben deskriptive Aussagekraft, indem erst die Analyse einer Zahl ein Ergebnis liefert und eventuell eine Handlung wie eine Therapie nach sich zieht (Martin/Fangerau 2010). In diesem Fall wirkt das arithmetische Mittel als Orientierungsgröße und gibt eine mögliche Abweichung an. Werden Technik- und Normalismustheorie vor diesem Hintergrund kombiniert, rückt die Personenwaage und deren gesellschaftliche Rezeption in den Fokus. In einer Gesellschaft können Artefakte dazu legitimiert sein, Macht auszuüben (Hörning 1988: 74–75). In der spezifischen Verwendung eines Objekts können sich symbolische, soziale oder instrumentelle Dependenzen ausdrücken. Ein technisches Instrument wie die Personenwaage gilt mit seiner spezifischen Funktionalität als adäquates Mittel, das Körpergewicht zu wiegen, vorausgesetzt es wird korrekt bedient (ebd.: 76–78). Dafür ist das Gerät im Allgemeinen bekannt, was in einem Kontext technikbezogener Sozialisation erlernt wird. Je nach Rahmung – zum Beispiel einer Verbeamtung – können Konsequenzen entstehen, die mit dem Instrument zusammenhängen und den Alltag und das Leben von Individuen beeinflussen. Zahlen liefern demzufolge eine eindeutige Ordnung. Die folgende Abbildung (Abb. 3) zeigt in Abhängigkeit von Geschlecht und Körpergröße das so genannte zulässige Normalgewicht an (Brigitte 1954b: 44). Abbildung 3: Gewichts-Schema
Quelle: In Anlehnung an Brigitte 1954b: 44
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In diesem Bereich erhielten Versicherte in den USA bei Lebensversicherungen eine Ermäßigung. Gleichzeitig stehen diese Werte für eine Passung oder NichtPassung des Individuums in gesellschaftliche Standards. Durch solche Normen werden Individuen in ihrem Denken und Verhalten reguliert (Stechow 2004: 21– 22; Winkler 2004: 183–184). Dazu zählt die moralische, aber auch die juristische Kontrolle von Handlungsweisen mit Repressionen und Strafen bei Zuwiderhandlungen. Bei dieser Annäherung von Link an Foucault wird von einer bestimmten Form der Disziplinierung ausgegangen. Zum Ausdruck kommt diese bereits in der vorindustriellen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts (Link 2009: 180).82 In einer Normalisierungsgesellschaft ging es darum, Struktur und Ordnung herzustellen. Dieses relativ starre System funktionierte über institutionell verankerte Sicherheitstechnologien (Foucault 2009) wie Gesetze, über die Polizei und Gefängnisse wachen, aber auch Krankenhäuser und Psychiatrien, in die kranke Menschen eingewiesen wurden (Sohn 1999: 14; Stechow 2004: 41). Dazu zählte auch die moralische und pädagogische Esserziehung, die im 16. Jahrhundert einsetzte und durch frühe Ratgeberliteratur verbreitet wurde (Kleinspehn 1987). Dazu zählt beispielsweise das populärmedizinische Werk „Die Grewel der Verwüstung menschlichen Geschlechts […]“ (1610) des Arztes Hippolytus Guarinonius (1571–1654), der das ungezügelte Essen und daraus resultierendes Übergewicht streng verurteilte. So war es zunehmend verpönt, sich nicht den gängigen Regeln entsprechend am Tisch zu verhalten. 83 Als gestalterisches Element fungieren Diskurse, mit denen Normalität beziehungsweise Normativität konstituiert und kommuniziert wurde (Stechow 2004: 14–23). Dabei richtet sich der Fokus auch auf die Abweichung von der Norm. In den Bereichen des Militärs und der Industrie, in den Wissenschaften wie der Medizin, aber auch im Erziehungs- und Bildungswesen wurden die Normalität und deren Abweichung zur Ordnungsstruktur, die über den Menschen wachte: „Das Normale etabliert sich als Zwangsprinzip im Unterricht zusammen mit der Einführung einer standardisierten Erziehung und Errichtung von Normalschulen, es etabliert sich in dem Bemühen ein einheitliches Korpus der Medizin und eine durchgängige Spitalversorgung der Nation zu schaffen, womit alle Gesundheitsnormen durchgesetzt werden sollen, es etabliert
82 Link (2009) bezeichnet die Zeit vor 1900 als Pränormalismus. Diesem folgt der Protonormalismus im 19. Jahrhundert und mit dem 20. Jahrhundert beginnt der flexible Normalismus. 83 Ausführlich dazu Kleinspehn (1987), zum gesellschaftlichen Zusammenhang Frommeld (2012, 2013).
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sich in der Regulierung und Reglementierung der industriellen Verfahren und Produkte.“ (Foucault 1976: 237)
Diese Veränderung wird als Normalisierung bezeichnet, was sich als historischer Prozess insbesondere seit dem 19. Jahrhundert ermitteln lässt. Besonders der menschliche Körper wurde dabei immer mehr zum zentralen Punkt, auf den sich Diskurse über Normalität und Abweichung konzentrierten (Stechow 2004: 40). Mit medizinischen und statistischen Untersuchungen und Apparaten versuchte man, Krankheit oder Gesundheit festzustellen. Der Durchschnitt diente dabei als Orientierungswert, wie es bereits Anfang des 20. Jahrhunderts auf das Normalgewicht bezogen üblich war (Frommeld 2012, 2013). So wurden Diäten und Kuren als probates Mittel gegen Übergewicht eingesetzt, mit Hilfe derer der Körper diszipliniert – beziehungsweise normalisiert – werden sollte, wenn auch noch nicht von einer breiten Bevölkerungsschicht. Ein ähnlicher Kontext zeigt sich in einem weiteren Auszug aus der „Brigitte“, der aus dem Jahr 1969 stammt (Abb. 4). Abhängig von der Körpergröße und dem Körperbau verdeutlicht die aufgeführte Tabelle, ob das Körpergewicht dem Idealgewicht entspricht. Abbildung 4: Idealgewichtstabelle
Quelle: Brigitte 1969f: 40
Die Tabelle gehörte zur Serie „Diät-Club“ (Brigitte 1969f: 40). Die abgebildeten Werte dienten als Orientierung, welches Gewicht Personen haben durften. Bei
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Übergewicht wurden im Begleittext Diäten empfohlen, was auch in der Beschreibung zum „Gewichts-Schema“ (Abb. 3), aus der „Brigitte“, erfolgte (Brigitte 1954b: 44, 1969f: 40). Der normative Effekt zeigt sich zum einen in der plakativen Frage „Wieviel dürfen Sie wiegen?“, der klaren Sprache der Zahlen und der Kurve sowie in der Rückbindung an die Medizin. Diese hat sich in der Moderne ein „Definitions- und Handlungsmonopol“ über den Körper angeeignet, sie ist also gesellschaftlich befugt, über den Körper zu urteilen (Labisch 1992: 305); „Die wissenschaftliche Erforschung des Körpers stellt in einer rationalen Kultur einen Wert an sich dar.“ (Ebd.) Das Wissen der Medizin erhält dadurch normative Geltungskraft. Im Zusammenspiel mit gesundheitlichem Wissen von Ratgebern vermag diese diskursive Überschneidung, Individuen eine Entsprechung oder Abweichung der Norm in pädagogischer Form vor Augen zu führen und eine Verhaltensänderung herbeizuführen, diese also zum Beispiel mit Hilfe einer Diät zu normalisieren. Politisch gesehen war Deutschland beziehungsweise das Deutsche Reich im 20. Jahrhundert mit tiefgreifenden Umbrüchen konfrontiert, speziell durch den Nationalsozialismus wurde der Prozess der Normalisierung durch eine „extreme De-Normalisierung“ unterbrochen (Link 2009: 23). Die gesellschaftliche Zäsur in Deutschland in den 1960er Jahren forderte eine Neuordnung der Normalität, zum Beispiel in Bezug auf die Enttabuisierung der Sexualität, und die deutsche Wiedervereinigung Ende des 20. Jahrhunderts führte zu einer Ablösung von den Normen und der Normalität, welche die Regierung in Ostdeutschland über mehrere Jahrzehnte aufrechterhalten hatte (ebd.: 21–23). Normalisierung als Prozess hält bis heute an und hat in unterschiedlichen Facetten Individuen unter Kontrolle. Link (2009: 452) spricht von einer „Verdatungs-Kultur“, der Gesellschaften und Individuen ausgesetzt sind. Normalisierung in Form von datengestütztem Material stellt kontrolliertes Wissen zur Verfügung, nach dem gehandelt und reguliert wird, zum Beispiel wird der hohe Blutdruck mit medizinischen Präparaten gesenkt. Gerade in den letzten Jahren kommt diesem Ausdruck eine besondere Bedeutung zu, denn durch die Digitalisierung werden sowohl immer mehr Daten als auch Wissen produziert. Diese werden über das Internet verbreitet und verfügbar gemacht. Die Diskussion darüber verläuft facettenreich. So ist die Rede von einem Informations-, Internet- und Computerzeitalter, einer Wissens-, Netzwerk- und Datengesellschaft oder einer Vergleichungs- und Inszenierungsgesellschaft (Castells 2017; Heintz 2010, 2016; Houben/Prietl 2018; Stehr 1994, 2001; Willems/Jurga 2013; Willke 1998). Damit in Verbindung stehen technologische und gesellschaftliche Veränderungen, die erst das Erzeugen von Körperdaten im Rahmen einer umfangreichen Selbstvermessung von Individuen ermöglichten. Die Option, sich und sein Leben permanent zu vergleichen, führt
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aktuell zu einem konstanten Bestreben nach Optimierung in einer Konkurrenzgesellschaft (Bürkert et al. 2019; Dusch/Gredler 2018; Heintz 2016). Zugrunde liegen Wertvollstellungen, die sich nach einer Ethik der Zahl und der Inszenierung im Bild richten. Diese Daten wie das Körpergewicht oder Kalorien – aber auch Fotografien, Kurven und Diagramme, die den Fortschritt dokumentieren, stehen für eine richtige Lebensführung. Link (2009: 400–407) zeigt auch, wie die massenhafte Inanspruchnahme von Psychotherapien in den USA zur Normalität geworden ist. Mit einer Therapie, die zeitlich befristet ist, greift eine regulative Maßnahme ein, die im Verständnis des 21. Jahrhunderts für eine normale Lebensbiografie notwendig ist. Der Vergleich setzt damit nicht nur physisch – also außen am Körper an – sondern greift in das Innere des Körpers über. Zugrunde liegt dabei nach Link häufig die individuelle Befürchtung einer Normabweichung. Link spricht damit einen wichtigen Begriff in der Theorie des Normalismus an, die so genannte Denormalisierungsangst: „Diese Grundangst ist die, bei einer riskanten Exploration von Grenzzonen der Normalität über die Grenze hinaus in die Denormalisierung zu geraten und nicht wieder zurückzufinden in die sichere Zone der Normalität.“ (Ebd.: 202) Die Normalität gilt als zentraler Ankerpunkt für individuelle Biografien und greift tief in das Identitätsverständnis von Menschen ein, weshalb die Normalisierung historisch so erfolgreich verlaufen ist. Link geht aktuell von einer dynamisch-flexiblen Konstruktion gesellschaftlicher Strukturen aus, die sich über Statistiken und den Durchschnitt definiert. Er betont die Taktik, die Normalität zahlenmäßig auf die Bevölkerung auszudehnen, während Foucault, die normative und stabile Kraft eines etablierten Diskurses beschreibt (Stechow 2004: 32). Foucaults Verständnis der Normalität besteht also, nach Link, in einem Protonormalismus, nach dem sich Diskurse entsprechend ausrichten. Für die vorliegende Arbeit ist die Beschreibung verbindlicher Strukturen, die sich in den Diskursen der westlichen, industrialisierten Gesellschaften durchgesetzt haben und nach denen unser heutiges Begriffsverständnis geregelt ist, ein wichtiger Bezugspunkt. Dazu zählen alle Dinge, die wir als gesetzt, angemessen, normal oder durchschnittlich wahrnehmen. Medikalisierung als Weg in eine Gesundheitsgesellschaft Gesundheit, Fitness und Wellness werden derzeit stark nachgefragt und zählen zu den Facetten eines so genannten „Körperbooms“ (Schroer 2005: 20). Ilona Kickbusch spricht deshalb gegenwärtig von einer „Gesundheitsgesellschaft“ (Kickbusch/Maag 2006). Unter diesem Phänomen sind die gesundheitsbezogenen, gesellschaftlichen Veränderungen versammelt, welche die Moderne seit 1960, insbesondere in den letzten Jahrzehnten, mit sich brachte: „Der Grund für diese
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neue Bedeutung von Gesundheit liegt in der Dynamik, die durch die Interaktion von Demografie, Ökonomie, Globalisierung, Individualisierung, einer immer leistungsfähigeren Medizin und neuen technologischen Möglichkeiten ausgelöst wird.“ (Kickbusch/Hartung 2014: 9–10) Der Begriff der Gesundheitsgesellschaft weist darauf hin, dass die gesellschaftliche Modernisierung die Gesundheit in den Mittelpunkt zu rücken scheint. Eine Gesundheitsgesellschaft kommt nach Kickbusch/Hartung (2014: 10–11, Herv. i. O.) zustande, wenn die folgenden fünf Kriterien erfüllt sind. Dazu zählt eine individuelle Gesundheitskompetenz (1), die im Alltag fest etabliert ist und zahlreiche Ausgaben für Gesundheitshandlungen und -produkte einschließt. Im digitalen Zeitalter werden das Internet, soziale Medien, Zeitschriften und Ratgeberliteratur zur Information und zum Austausch herangezogen (2). Dadurch kommt diesen Kommunikatoren eine machtvolle Rolle zu, da diese Wissen verbreiten und filtern. Patient*innen und Bürger*innen greifen vermehrt in den zuvor geschlossenen institutionellen Raum der Krankenversorgung ein, was als zunehmende Patientenautonomie (3) begriffen werden kann. Allerdings sind auch Unternehmen mit ihrer starken Ausrichtung auf den (globalen) Gesundheitsmarkt an diesen Veränderungen beteiligt. Diese Ökonomisierung von Gesundheit (4) bedeutet unter anderem eine Versorgung mit immer neuen Gesundheitsprodukten und Medikamenten, was Subjekte zu (Kauf-) Entscheidungen herausfordert. Die Verschaltung von sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit verläuft mehrdimensional und betrifft reich/arm, jung/alt sowie gesund/krank und wirkt sich so auf unterschiedliche Gesundheitschancen (5) aus. Historisch betrachtet, erfolgte die erste Gesundheitsrevolution im 19. Jahrhundert mit der (politischen) Fokussierung auf die Gesundheit der Bevölkerung, die verbessert werden sollte (ebd.: 20–21). Die zweite Revolution vollzog sich im 20. Jahrhundert durch die Einführung der Versicherungspflicht des Einzelnen und einer breiten medizinischen Versorgung. Die dritte Gesundheitsrevolution des 21. Jahrhunderts scheint mit einem starken Präventionsgedanken verbunden zu sein, der Individuen und Gesellschaften in ihrem alltäglichen Denken und Handeln prägt (ebd.: 18–21). Der Megatrend Gesundheit impliziert präventive individuelle Initiativen und Gesundheitsangebote, aber auch Aktionen von Institutionen wie Krankenkassen (ebd.: 9, 18). Eine Gesundheitsförderung in Form von Fitness und Wellness ist stark mit Lebensfreude und Jugendlichkeit assoziiert, dient aber nicht nur der Gesundherhaltung, sondern ist auch ästhetisch motiviert (ebd.: 18). Es geht heute
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also nicht nur darum, Krankheiten vorzubeugen und Risikofaktoren entgegenzuwirken84, sondern es hat sich etabliert, den Körper und die Gesundheit als etwas aufzufassen, das gestaltet und perfektioniert85 werden kann (Kessler 2016: 282– 283; Kickbusch/Hartung 2014: 17–18; Schroer 2005: 20–21). Kickbusch folgert also, dass Gesundheit heute „grenzenlos“, „überall“ und „machbar“ sei und dass in jeder einzelnen Entscheidung Gesundheit involviert sei (Kickbusch/Hartung 2014: 19–20). Diese gegenwärtige, starke Dynamik von Gesundheit hängt mit einer Medikalisierung der Gesellschaft zusammen. Medikalisierung kann als Bestandteil des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses begriffen werden (Viehöver 2011a). Darunter wird nach Clarke et al. (2003) sowie Clarke et al. (2009) die Konstituierung, Durchsetzung und Bürokratisierung medizinischer Institutionen („The Rise of Medicine“, in etwa zwischen 1890 und 1945), die Professionalisierung medizinischer Einflussbereiche und die zunehmende Geltungskraft medizinischer Denkweisen in gesamtgesellschaftlicher Hinsicht („Medicalization“, in etwa zwischen 1940 und 1985) sowie die Effekte und Auflösungen von Grenzen, die eine Medikalisierung mit sich bringt („Biomedicalization“, in etwa seit 1980 bis heute), verstanden (Karsch 2015: 95– 96, 110).86 Diesem Verständnis von Medikalisierung zufolge ist Deutschland eine hochmedikalisierte Gesellschaft (ebd.: 96–97), die mit kontinuierlichen und rasanten (Weiter-)Entwicklungen konfrontiert ist, was durch die biomedizinische Forschung erreicht wird. Durch den technischen Fortschritt, durch den unter anderem präzisere Diagnose- und bessere Behandlungsmöglichkeiten zustande kamen, werden allerdings auch zahlreiche krankhafte und (möglicherweise) therapierbare Veränderungen sicht- und behandelbar. Wehling et al. (2007) sprechen von vier Dynamiken, die auf das Gefüge Medizin-Individuum-Gesellschaft maßgeblich einwirkten und dieses neu gestalten vermögen. Konkret ist dabei erstens eine „Ausweitung medizinischer Diagnostik“ gemeint, weil sich medizinische Terminologien, Definitionen und Praktiken ausgedehnt und vergrößert haben (ebd.: 553). Diese Vorgänge ermöglichten, körperliche, psychische und/oder mentale Phänomene wie Körperzustände und Verhaltensformen als Krankheit oder Störung der medizinischen Behandlung
84 Die historische und politische Bedeutung von Risikofaktoren in einem erweiterten medizinischen Handlungsbereich beleuchtet Schlich (2004). 85 Vgl. dazu auch die Monografien von Gesang (2007) und Stoff (2004). Für einen Überblick vgl. Wehling et al. (2007: 556–557). 86 Unterscheiden lassen sich historische, medizinkritische und mikro-soziologische Perspektiven der Medikalisierung (Karsch 2015: 95).
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zuzuweisen (ebd.: 551). Dieser Prozess der Pathologisierung wird von Peter Conrad in „The Medicalization of Society“ wie folgt beschrieben: „‚Medicalization‘ describes a process by which nonmedical problems become defined and treated as medical problems, usually in terms of illness and disorders.“ (Conrad 2007: 4, Herv. i. O.) Andererseits existieren auch Formen einer „DeMedikalisierung“ im Sinne einer Entpathologisierung (Conrad 2007: 95–113). Zweitens meint „Entgrenzung von Therapie“ nicht mehr nur den medizinisch erwirkten Heilungsprozess, sondern darüber hinaus eine Verbesserung des Körpers und seiner Möglichkeiten (Wehling et al. 2007: 554). Drittens verband sich mit der Prognose von Krankheiten eine „Entzeitlichung von Krankheit“, dadurch, dass eine denkbare Erkrankung vor ihrem Ausbrechen frühzeitig vorhergesagt werden kann (ebd.: 555). Viertens schließen diese Dynamiken eine „Perfektionierung der menschlichen Natur“ ein. Maßnahmen, die darauf ausgelegt werden, natürliche Vorgänge zu optimieren, bedeuten in diesem Zusammenhang, dass das normalerweise zur Verfügung stehende Potenzial des Körpers gesteigert wird (ebd. 556–557). Durch diese „Medikalisierungstendenzen“, wie Viehöver (2011a: 178–179, 182–183) ausführt, drücken sich neue Formen medizinischer Herrschaft aus. Diese greifen in normative und politische Entscheidungen ein und beeinflussen individuelle und gesellschaftliche Erfahrungs- und Gestaltungsräume, weil sich die Grenzen zwischen gesund und krank sowie heilen und verbessern (zunehmend) verändern. Das Zusammenwirken von Technisierung und Medikalisierung wird von Fangerau/Martin (2014) und Martin/Fangerau (2015) als „Technikalisierung“ beschrieben. Damit ist die bedeutende Rolle von Technik und deren Einsatz im Zusammenhang mit Gesundheitshandlungen, Prävention und technischen Apparaten gemeint. Ein kompetenter Umgang mit Technik setzt Wissen voraus und erst die geschickte wie reflektierte Handhabung der Objekte ermöglicht, diese in ihrer sozialen Bedeutung zu erfassen und zu nutzen (Hörning 1988: 76–77). In genau diese technikalisierten Zusammenhänge scheint die Personenwaage diskursiv eingebunden, weist doch die „Brigitte“ wiederkehrend auf genau diese Rolle des Instruments hin, was aus historischer Sicht in einem Zeitraum der Ausweitung der Medizin auf den Alltag geschieht. So wurde in den 1970er Jahren dazu geraten, bei umfangreichen Diätvorhaben vorab den Gesundheitszustand durch einen Arzt kontrollieren zu lassen (Brigitte 1974c). Bereits im Jahr 1954 wurden die Leser*innen über Übergewicht und dessen Folgen aufgeklärt: „Übermäßiger Fettansatz kann krankhafte Vorgänge im Organismus als Ursache haben. […] In den weitaus meisten Fällen wird man aber nur deshalb dick, weil man zuviel ißt […] Vielleicht werden sie sich noch ein paar Jahre lang straflos überfüttern können, aber
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schließlich wird jeder von ihnen einmal die Rechnung bezahlen müssen. Bei dem einen wird vielleicht der Magen zu streiken beginnen […] oder irgendein anderes lebenswichtiges Organ.“ (Brigitte 1954b: 44)
In diesem Beispiel werden bestimmte normative, also wertende Vorstellungen über ein gesundes oder krankes Körpergewicht mitgeteilt. Die Grenzen zwischen beiden Bereichen sind als fließende Übergange angedeutet (Abb. 3–4). Tatsächlich stellt ein Über- oder Untergewicht allein noch keine Krankheit dar (Hebebrand et al. 2004; Lenk 2008, 2011), folgt man der „Biostatistischen Theorie“ von Christopher Boorse (1977). Dieses einflussreiche Konzept wird in der Medizintheorie und -ethik zur Unterscheidung von Gesundheit und Krankheit herangezogen (Haucke/Dippong 2012; Lenk 2011; Lenz 2011; Schweda/ Marckmann 2012; Synofzik 2006). Diese nicht-normative Krankheitsdefinition geht von mehreren substantiellen Kriterien aus (Boorse 1977). Gesundheit wird dabei aus naturalistischer Sicht betrachtet und als Abwesenheit von Krankheit aufgefasst (Lenz 2011: 391; Schweda/Marckmann 2012: 183). Krankheit wird hingegen als statistisch messbare Norm begriffen, indem eine Abweichung vom Durchschnitt festgestellt werden kann, wie zum Beispiel, wenn das Körpergewicht, der Blutdruck oder die Körpertemperatur erhöht sind, also abweicht und nicht-normal ist. Erst wenn die Leistungsfähigkeit des ganzen Organismus oder in Teilen so weit eingeschränkt ist, dass ein normales Funktionieren nicht gewährleistet ist, wird von Krankheit gesprochen. Die Einschätzung der Funktionsweise des gesamten Organismus im Vergleich zur Referenzklasse gilt hinsichtlich der Selbsterhaltung und Fortpflanzung eines Individuums als wesentlich (Lenz 2011: 391). Daraus wird der jeweilige Gesundheit- oder Krankheitswert abgeleitet, jedoch nicht aus einer einzelnen Abweichung von der Norm (Lenk 2011: 80; Schweda/Marckmann 2012: 183). So hat die Medizin die Aufgabe übernommen, unter Zuhilfenahme bestimmter Apparate und Werte eine Diagnose zu stellen und macht dadurch Individuen von der Institution Medizin und Krankenhaus körperlich, moralisch und politisch abhängig. Diese Vorgänge kritisiert Ivan Illich in „Nemesis der Medizin“ (1977). Er beschreibt darin, wie gesundheitliches Wissen und Handeln sowohl in individuellen als auch in gesellschaftlichen Handlungs- und Bedeutungszusammenhängen diffundiert und darin ein Bewusstsein über die Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit verankert.87 Das Konzept der
87 Der Körper wurde und wird in der Soziologie nicht zuletzt deswegen stark thematisiert, weil die Prozesse der Individualisierung und Medikalisierung Bestandteile des
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Medikalisierung ist damit eng mit den Überlegungen Illichs, aber auch mit diesen von Foucault verbunden. Indem Foucault (1976) nach den historischen Verortungen dieser Entwicklungen fragt, zeigen sich in den (nicht-)diskursiven Praktiken einer Normalisierungsgesellschaft die gewachsene Bedeutung der Medizin und damit ein enger Zusammenhang zwischen (biopolitischer) Normalisierung und Medikalisierung. Dazu zählen die Kontrolle von Abweichungen, die Disziplinierung der Bevölkerung und sozialmedizinische Maßnahmen (Viehöver 2011a: 179–181). Wenn davon ausgegangen wird, dass die Bedeutung der Medizin im Alltag seit dem Zweiten Weltkrieg massiv angestiegen ist, hängen Körperpraktiken fast immer auch mit Gesundheit zusammen. In Zeiten der Individualisierung wählt das Subjekt also viele ungezählte Male pro Tag, direkt und indirekt, ob es sich für oder gegen die eigene Gesundheit entscheidet. Es ist das „präventive Selbst“, das in seinen Handlungen rational vorgeht – oder vorgehen muss – und dabei abzielt, Krankheit auf ein minimales Maß zu reduzieren (Lengwiler/Madarász 2010a: 16). Vor diesem Kontext ist der Begriff der Prävention, anders als bei Kickbusch/Hartung (2014), nicht mehr ausschließlich positiv besetzt, denn die kritische Reflexion zeigt die Grenzen oder Risiken von Prävention auf. In einer dynamischen Risikogesellschaft existieren keine Sicherheiten mehr, demzufolge ist es problematisch, Prävention zu einem bestimmten Zeitpunkt als vollendet zu betrachten (Bröckling 2008). Prävention bedeutet eine radikale Selbstverantwortlichkeit der Individuen, bei der die Sorge um sich und die Selbstdisziplinierung in Richtung Gesundheit zum privaten Projekt wird (ebd.; Dietrich 2010; Duttweiler 2008; Kessler 2016; Lengwiler/Madarász 2010a). Zudem trägt das Streben nach Perfektionierung dazu bei, ein solches Projekt, sei es gesellschaftlich, institutionell oder individuell motiviert, immer weiter voranzutreiben (Bröckling 2008: 42). Dabei öffnet sich eine große Spannweite eines Handlungs- und Gestaltungsspielraums. Auf individueller Ebene ließe sich dieser – optimistisch betrachtet – im Bereich von Wohlbefinden verorten, wenn selbst gesteckte Zwischenziele erreicht wurden, wie es beim Self-Tracking praktiziert wird (Duttweiler/Passoth 2016; Vormbusch 2016). Betrachtet man diese Entwicklungen kritisch, könnte man im gesellschaftlichen Sinn von konstruierten Ungleichheiten sprechen. Dadurch, dass die mathematische Vergleichsgruppe – der Durchschnitt – immer höher angesetzt wird oder sich immer weiter verbessert, kommt möglicherweise die Einzelperson nicht mehr nach und muss daher mit entsprechenden Nachteilen rechnen, wie die
historischen Modernisierungsvorgangs sind. Beide zeigen den Spannungsbogen zwischen Selbst- und Fremdbestimmung auf.
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Abbildung (Abb. 3) weiter oben am Beispiel des Körpergewichts und der Lebensversicherungsprämie zeigt (Bröckling 2008: 41–42; Frommeld 2012, 2013).88 Aus (sozial-)psychologischer Sicht kann der Zwang zur Perfektionierung zu Stress, Depressionen und Burnout führen (Ehrenberg 2011; Madarász 2010). Darüber hinaus führen Statistiken und Risikoberechnungen vor Augen, wann bestimmte Folgen wie Krankheiten drohen, wenn keine präventiven Maßnahmen eingeführt werden und schaffen dadurch erst die Grundlagen für eine Prävention (Frommeld 2012, 2013; Lantz/Booth 1998; Schlich 2004; Tanner 2010).89 In gesundheitspolitischer Hinsicht stellen Epidemien wie die so genannte Fettepidemie ein gesellschaftliches Risiko für alle Individuen dieser Welt dar. So spricht Beck davon, dass „alles Messen immer unter dem Fallbeil der Allbetroffenheit erfolgt“ (Beck 1986: 7), aus dem globale Organisationen wie die WHO Maßnahmen mit entsprechender Reichweite abgeleitet haben (Frommeld 2012, 2013, 2015; Schorb 2015). Prävention entfaltet sich vor diesem Hintergrund zu einem beispielhaften „Gegenstand einer Kulturgeschichte des modernen Gesundheitswesens“, wie Lengwiler/Madarász (2010b: 14, Herv. i. O.) darlegen. Prävention lässt sich deshalb als dynamischer Komplex zusammenfassen, in dem sich historisch-soziale Prozesse vereinigen. Diese umfassen eine gesellschaftliche Technikalisierung, Normalisierung und Medikalisierung, Individualisierung und Ästhetisierung andererseits. Ästhetisierung der Lebenswelt Simmel thematisierte bereits vor über hundert Jahren einen kultursoziologischen Wandel, der mit dem Aufkommen von Großstädten das individuelle und soziale Erleben nachhaltig veränderte (Simmel 2006). Mit den wirtschaftlichen Umwälzungen im 19. Jahrhundert hat sich die gesellschaftliche Ordnung, wie bekannt ist, maßgeblich gewandelt. Dadurch wurden im 20. Jahrhundert Ressourcen für eine breite Bevölkerungsschicht, darunter (Fach-)Arbeiter*innen, Angestellte und Beamt*innen, zugänglich (Torp/Haupt 2009: 21). Dazu zählen der gestiegene allgemeine Wohlstand, geregelte Arbeitszeiten, Freizeit und Konsumgüter (Geißler/Meyer 2002: 37; Honneth 1992). Diese sozialen Elemente erhielten in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg einen weiteren, entscheidenden Schub. Der historische Vergleich des realen Volkseinkommens verdeutlicht diesen Anstieg. So wuchs dieser Betrag zwischen 1800 und 1950 um das Dreifache an und war zwischen 1950 und 1989 13-mal höher wie im
88 Vgl. auch Kapitel 1.1. 89 Der biomedizinische Diskurs wird an dieser Stelle ausgeklammert, hierzu zum Beispiel (Liebsch/Manz 2010).
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Vergleichszeitraum 1900 bis 1950 (Geißler/Meyer 2002: 82–83). Die finanziellen Möglichkeiten, die ein einzelner Bürger vor allem nach 1950 zur Verfügung hatte, entsprachen einem Standard, der in der Geschichte der Bundesrepublik neu war. Diese wirkten sich positiv auf die Lebenszufriedenheit und das gesellschaftliche Konsumverhalten aus. Massenkonsum und Konsumgesellschaft verdeutlichen terminologisch die folgenden sozialen Vorgänge. Historisch manifestierte sich die Konsumgesellschaft durch drei Effekte (Torp/Haupt 2009: 18–24). Erstens durch die beschriebene Wohlstandsexplosion, wie auch Geißler/Meyer (2002) erklären.90 Zweitens richteten sich im Zuge dieser Veränderungen die Wertigkeiten weiter Teile der Bevölkerung neu aus. Dadurch, dass das tägliche Auskommen gesichert war, hatten materielle Dinge, Komfort, Ästhetik und Genuss nach und nach eine immer höhere Bedeutung (ebd.; Honneth 1992; Reckwitz 2012a; Schulze 1993). Das Alltagsgeschehen und -erleben war geprägt davon, dass der Markt ständig neue Massenartikel zur Verfügung stellte und dadurch neue Impulse gesetzt wurden. So waren deutsche Haushalte ab den 1970er Jahren großzügig mit Haushaltsgeräten ausgestattet (Geißler/Meyer 2002: 87; König 2008: 40). Dazu gehörten unter anderem Waschmaschinen und Fernsehapparate. Ein Produkt zu kaufen bedeutete nun im Normalfall, zwischen mehreren Optionen zu wählen. Damit ist der dritte Aspekt verbunden. Eine weitere wesentliche Rolle im täglichen Leben spielten visuelle Medien (Hieber/Moebius 2011a). Produkt und Gegenstand der visuellen Medien waren unter anderem Reklamen, Werbeplakate und -filme, die sich mit ihren Bildern und Aussagen an die Konsument*innen und Kund*innen richtete. Druckerzeugnisse wie Zeitschriften und Plakate machten Waren bekannt und verbreiteten sie. Eine Semantik des Ästhetischen schloss primär alle Güter ein, die einen industriellen Herstellungsprozess durchliefen, weil Design und funktionell-ästhetische Eigenschaften der Waren zum festen Bestandteil der Massenproduktion wurden (Hörning 1988: 86–88; Reckwitz 2012a: 337). Design wurde zum „ökonomischfunktionalen und ideologisch-integrativen Element marktwirtschaftlichen Produzierens“ (Selle 2007: 222), der Designer selbst fungiert als „gleichwertiger Partner im Entscheidungsprozess der industriellen Produktion.“ (Aicher 1975: 16) Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg setzte die Hochschule für Gestaltung in Ulm (HfG Ulm) weltweit Maßstäbe, denn die dort gelehrte Designmethodologie
90 Der Begriff der Konsumgesellschaft gilt für Westdeutschland und für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Torp/Haupt (2009: 10–12) legen dar, dass es in Westeuropa Anzeichen dafür gibt, die Anfänge bereits im 17. Jahrhundert zu verankern, für Deutschland liegen diese in der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Zur Entwicklung der Konsumgesellschaft vgl. ausführlich König (2000, 2008).
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integrierte den Zeitgeist (Mareis 2011; Selle 2007), der seither für eine „technische Ästhetik“ steht, die „als Medium kultureller Kommunikation und Ausdruck industriellen Lebens schlechthin“ begriffen werden kann (Selle 2007: 245). Produkt- und Werbedesign wurden damit zu einem elementaren Bestandteil industriell gefertigter Güter. Bubner (1989) und Welsch (1991) haben vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen den Begriff „Ästhetisierung der Lebenswelt“ eingeführt.91 Dieser Beobachtung gesellschaftlicher Prozesse liegt zugrunde, dass in der jüngeren Vergangenheit ästhetische Inhalte im Alltagserleben einerseits bewusst wahrgenommen und andererseits bewusst betont werden. Welsch (1991: 359) verwendet dazu die Umschreibung „sensibilisiertes Subjekt“, das per se „ästhetisch“ ist, da es über die Fähigkeit verfügt, ästhetische Inhalte wahrzunehmen. Bubner (1989: 150) verweist auf die intentionale ästhetische Inszenierung des sozialen Umfelds und einzelner Handlungen. Ästhetisierung meint damit einen Wahrnehmungsprozess, der „potenziell in jeder Situation, zu jeder Zeit und an jedem Ort, an jedem Objekt oder Person“ wirkt und eine „mögliche Intensivierung und Thematisierung“ von Eindrücken betrifft – und nicht „auf den hochkulturellen Bereich des Schönen oder der Kunst“ reduziert ist (Hieber/Moebius 2011b: 9). Welsch bezeichnet dies als „Wahrnehmungen aller Art“ (Welsch 1993: 9, Herv. i. O.). Der Ausdruck bezeichnet eine Ausweitung des ästhetischen Verständnisses auf alltägliche Bereiche wie Design, Mode, Medien und den Körper (Küpper/Menke 2003: 9). Damit sind die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse angedeutet, die nach dem industriellen Zeitalter hin zum 21. Jahrhundert eingetreten sind. Reckwitz (2012a: 17, 21) stellt eine kontinuierliche Intensivierung dieser Vorgänge seit den 1970er Jahren fest. Nicht nur dieser Effekt ist für eine Gesellschaftsdiagnose der Ästhetisierung von Interesse, sondern auch, weil das Ästhetische vielschichtiger wurde. Wie diese Ausführungen zeigen, ist eine Konsumgesellschaft auf das Engste mit einer Ästhetisierung der Lebenswelt verbunden. Theoretisch und auf einer abstrakten Ebene lassen sich drei Klassifizierungen ableiten (Scherke 2011: 17– 19). Erstens, künstlerisch gestaltete Elemente sind fest in das Alltagsgeschehen von Individuen eingebunden und durchdringen in einem hohen Ausmaß sämtliche Aspekte der Gesellschaft, was für moderne Gesellschaften typisch ist. Zweitens, Individuen und Gesellschaften nehmen Ästhetik, bezogen auf den eigenen Körper und die Umwelt, differenziert wahr. Drittens, ästhetische Konzepte sind
91 Honneth (1992) verweist auf Bubner (1989) und Welsch (1991, 1993), welche in der Philosophie das vermehrte Erscheinen des Ästhetischen mit den Begrifflichkeiten Ästhetisierung der Lebenswelt und Ästhetisierung thematisierten.
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Bestandteil einer (wissenschaftlichen) Auseinandersetzung mit Kunst. Klassischerweise ist dieses Motiv in der Literatur oder Malerei vertreten. Der Vorgang der Ästhetisierung beeinflusste demzufolge die Lebensweisen, den Geschmack, die Lebensstile und das Körpererleben von Personen in der Moderne (Hieber/Moebius 2011b; Honneth 1992; Reckwitz 2012a). Greifbar werden diese Veränderungen in Begrifflichkeiten wie „Totalästhetisierung des Alltags“ sowie „Inflation des Schönen“ (Selle 2007: 338). Eine Massenkultur, die das individuelle Erleben prägte, wurde zunehmend zu einer Selbstkultur (Moebius/Quadflieg 2011; Peper 2012). Damit deutet sich der Prozess der Individualisierung an, in der das Individuum innerhalb der Gesellschaft für sich selbst eine wichtige Rolle einzunehmen begann, weil es die Mittel und Freiheiten hatte, zu wählen. Dabei sind sowohl die unmittelbare Wohnumgebung und Einrichtung Gegenstand ästhetischer Handlungen, als auch sämtliche auf den Körper bezogene Signale und Praktiken gemeint. Eine ästhetische Praxis bezogen auf Objekte schließt also Momente konkreter Absichten ein, die Subjekte affizieren und zu Zeugen einer Inszenierung werden lassen (Hörning 1988: 75– 76; Reckwitz 2012a: 27). Das komplexe Zusammenwirken aller drei Elemente lässt sich an Schönheitsidealen wie dem schlanken Körper exemplifizieren. Diese sind jedoch keine Erfindung der Moderne, sondern haben, abhängig von der jeweiligen Epoche, eine lange Tradition (Eco 2012; Liessmann 2009; Renz 2006)92. In der griechischen Antike entsprachen perfekte Körperproportionen den zeitgenössischen Schönheitsvorstellungen (Bergdolt 2006: 115–117). Dabei wurde ein ästhetischer Körper mit einem moralischen, tugendhaften Charakter und gutem Gesundheitszustand in Verbindung gebracht (Kalokagathía) (ebd.: 118; Eco 2012: 39; Liessmann 2009: 79, 92–93). Als Gegenbegriff galt ein Körper, der je nach kulturellen Maßstäben als schön oder hässlich (und monströs) wahrgenommen wurde. Genauso wie eine Geschichte der Schönheit existiert eine Geschichte der Hässlichkeit (Eco 2016). Dieser äußere Eindruck übertrug sich auf die Einschätzung der Charaktereigenschaften einer Person. In diesem Zusammenhang schrieb Johann Gottfried von Herder (1744–1803): „Und nach griechischen Begriffen muss auch eine so häßliche Seele keinen andern als den häßlichsten Körper bewohnen.“ (Herder 1862: 169)93 Diese Art der Bewertung lässt sich auch auf die Neuzeit übertragen, was beispielweise der Blick in ärztliche Ratgeber aus
92 Vgl. zum folgenden Abschnitt ausführlicher Frommeld (2012, 2013). 93 Herder bezog sich dabei auf Thersites, eine Figur aus der griechische Mythologie, die von Homer in Ilias (Zweiter Gesang, Verse 210–220) (Homer/Rupé 2014: 51), bewusst so beschrieben wurde, um die Figur lächerlich zu machen (Herder 1862: 167–171).
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dem 18. Jahrhundert zu weiblicher Schönheit offen legt (Sander 2003). So sah sich die Medizin zuständig, die äußere und innere Schönheit zu fördern, indem Rezepte für eine rosige Gesichtshaut vorgeschlagen wurden oder eine Mäßigung in allen Lebensbereichen empfohlen wurde. Bezogen auf die Gegenwartsgesellschaft lässt sich folgern, dass Maßnahmen, die der Schönheit und Gesundheit zuträglich waren, als angemessene und richtige Verhaltensweisen interpretiert werden können (Alkemeyer 2007: 7; Bergdolt 2006: 122). Attraktivität macht sich im Alltag, bei der Partnerwahl und im Berufsleben positiv bemerkbar, wie Degele (2004), Etcoff (2001), Herrmann (2006) und Koppetsch (2000) belegen. Es wird davon ausgegangen, dass davon die Identität und das Selbstwertgefühl eines Individuums maßgeblich beeinflusst werden (Liessmann 2009: 82). Wie Gesellschaften funktionieren, wird sozial erlernt. Daran orientieren sich Schönheitspraktiken, die sich auf den Körper und dessen äußere Erscheinung beziehen. Waren dies zur Zeit der Aufklärung Kosmetika und programmatische Lebensführungskonzepte wie die Diätetik Hufelands94, waren es zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert im Zuge der Lebensreformbewegungen Diäten, Kuren und Sport, zu denen ärztlich geraten wurde (Merta 2003; Sander 2003). So schreibt der Arzt und Philosoph Georg Friedrich Most im Jahr 1827 in einem Ratgeber über Liebe und Ehe: „Hufeland nennt die Schönheit der Haut der Damen als sichtbare Gesundheit“, denn die „Gesundheit des Körpers und die Schönheit des Hautorgans sind die Grundpfeiler der Schönheit überhaupt.“ (Most 1827: 100–101) Solche Aussagen und Bilder beeinflussen die gesellschaftliche Wahrnehmung von Ästhetik. Dabei geht es um die Demonstration und die Herstellung von Attraktivität, Jugend, Eleganz, Schönheit und Erotik – also Eigenschaften und Werte – die verbreitet werden und von den jeweils aktuellen Strömungen und Moden beeinflusst werden, wie Liessmann (2009: 88–89) ausführt. Als stellvertretendes Beispiel fungiert die folgende Werbeanzeige (Abb. 5) der Firma Heumann aus dem Jahr 1969.
94 Der Arzt Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836) verfasste das populäre und in mehreren Auflagen erschienene Handbuch „Makrobiotik oder die Kunst das menschliche Leben zu verlängern“ (Hufeland 1995 [1875]). Zentrales Prinzip seiner Gesundheitslehren war die Lebenskraft und deren Erhaltung (Bergdolt 1999: 277–279; Kleinspehn 1987: 261; Labisch 1992: 99–101). Demnach seien Individuen grundsätzlich mit eigener Urteilskraft ausgestattet und richten sich bei ihren Entscheidungen an moralischen Grundsätzen aus (Labisch 1992: 96–98).
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Abbildung 5: „Schlankheitskörnchen“ der Firma Heumann
Quelle: Brigitte 1969g: 132
Nicht selten sind mit Schönheitshandlungen wie der Einnahme von Diätprodukten ergebnisreiche Erwartungen verknüpft oder werden in den Medien oder der Werbung als solche angepriesen (Degele 2008; Gimlin 2002, 2012; Herrmann 2006; Merta 2003; Seier/Surma 2008; Strick 2008; Thoms 1995; Zahlmann 2000). So sollen „unschöne Fettpolster“ mit den beworbenen „Schlankheitskörnchen“ verringert werden (Abb. 5) (Brigitte 1969g: 132). Sie sollen dabei unterstützen, schlank zu werden und schlank zu bleiben, wie die Beschreibung verspricht. Dieses rezeptfreie Medikament fungiert als Hilfsmittel für einen ästhetischen Körper. Damit sind aber nicht ausschließlich Produkte und damit verbundene Körperpraktiken gemeint, die sich seit jeher vorwiegend an Frauen richteten, sondern auch Techniken, die mit Männlichkeit besetzt sind, wie das BodyBuilding, das in den 1990er Jahren populär wurde (Lefkowich et al. 2017; Liessmann 2009; Lippl/Wohler 2011; Monaghan 1999, 2001; Wiegers 1998). Verbunden sind damit auch Ideale wie der fitte und durchtrainierte Körper, die sich mittlerweile nicht mehr ausschließlich auf den männlichen Körper beziehen (Crossley 2006; Graf 2013; Honer 1989; Monaghan 1999; Richter/Pöhlmann 2014; Schwab/Trachsel 2005). Im Jahr 1974 stellte die „Brigitte“ in einem Sonderteil unter anderem eine Umfrage über Schönheit und das Porträt einer jungen Frau vor (Brigitte 1974e). Daraus ging hervor, dass Schönsein das Selbstbewusstsein vergrößerte und dadurch das Leben mehr Spaß machte (ebd.:
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59, 66). Daneben wurde darauf aufmerksam gemacht, dass gutes Aussehen besondere Pflege und Produkte wie Make-up, Abdeck- und Lippenstifte sowie Parfum erfordere (ebd.: 62–63). In solchen „Schönheitsmagazinen“ geht es um vielfältige Ratschläge, die dabei dienlich sind, „dem Ideal des schönen Menschen so nahe wie möglich zu kommen“, diesen zu ästhetisieren (Liessmann 2009: 92): „Der schöne Mensch steht so im Mittelpunkt aller Schönheitsdebatten, die Sehnsucht nach physischer Attraktivität ist es, die das Denken und Fühlen vieler Menschen beherrscht. Kein Wunder, dass die Schönheitsindustrie zu den erfolgreichsten und prosperierendsten Wirtschaftszweigen der Welt zählt.“ (Liessmann 2009: 91–92)
Heute sind es unter anderem Schönheitsoperationen, die neben langen Traditionen wie kosmetische oder diätetisch inspirierte Praktiken eingesetzt werden, um Attraktivität herzustellen oder zu vervielfachen (Gilman 2001; Gimlin 2012; Ramsbrock 2011). Die Ästhetik des Körpers und des Selbst scheint als Geschäft aufgebaut zu sein und eng an Schönheitsideale gekoppelt. Es funktioniert nach einem demokratischen, schichtübergreifenden Prinzip und betrifft alle Geschlechter. Darüber hinaus fungiert es schon längst als etabliertes Element in Gesellschaften, insbesondere in der Konsumgesellschaft, die stark von den (Massen-)Medien beeinflusst wird (Han 2010; Hemetsberger et al. 2009; Liessmann 2009; Lippl/Wohler 2011; Posch 1999; Thoms 1995, 2009; Zahlmann 2000): „Die Ästhetisierung stellt der Medialisierung eine Affekt- und Motivationsquelle zur Verfügung und vermag den Affektmangel einer lediglich kognitiv-informationell ausgerichteten Medialität zu beheben.“ (Reckwitz 2012a: 339) Der Ausdruck Ästhetisierung der Lebenswelt beschreibt demnach einen Vorgang, der sich auf den Körper und das Leben bezieht. Es ist das Subjekt, das unentwegt von vielfältigen, ästhetischen Eindrücken umgeben ist und vor diesem Hintergrund beginnt, sich selbst zu reflektieren und daraus Ziele wie Wünsche formuliert. In einer Konkurrenzgesellschaft, die auf Optimierung ausgerichtet ist, resultieren diese Vorhaben aus einem Vergleich. Die zur Verfügung stehenden Mittel und Optionen animieren und fordern das Individuum beständig heraus, sich selbst zum Ausdruck zu bringen – sich also in Richtung ästhetische Performance zu wandeln und gesellschaftlich zu behaupten (Hörning 1988: 75–76; Reckwitz 2012a: 321). Der kreative Ausdruck des Subjekts geschieht nicht mehr im Spezialdiskurs der Kunst, sondern der expressive Lebensstil wird zur Normalität. An dieser Stelle setzten Objekte wie die Personenwaage an, die zum einen als ästhetisches, technisches Instrument entworfen wurden (Hörning 1988: 86–90). Zum anderen könnten bei der Planung des Artefakts die Aspekte Affordanz, Performanz und Transformation berücksichtigt worden sein (Fischer-Lichte 2013:
Von der Idee zur Personenwaage | 141
165–168), was aber nicht nur das Wissen um den Gebrauch des Geräts betrifft. Die Waage könnte darauf ausgerichtet worden sein, mit Zahlen Anstrengungen wie eine Gewichtsreduzierung sichtbar zu machen und durch die Verfügbarkeit im Haushalt einen Reiz auszuüben, den Körper zu modifizieren. Weitere Merkmale des Instruments, die speziell das Design betreffen, könnten Ausdruck dieser besonderen Macht sein (Winner 1980: 134). Diese Planung des Geräts bildet den Status quo eines „dominanten Kultur- und Symbolzusammenhangs der modernen Gesellschaft“ ab (Hörning 1988: 86). Reflexion der Zwischenergebnisse Der gesellschaftliche Modernisierungsprozess rückt den Köper, die Gesundheit und das Subjekt in besonderer Weise in den Fokus. Der Körper fungiert einerseits als sinnlich wahrnehmbarer Nachweis einer individuellen Identität (Schroer 2005: 21–22). Der Körper ist zwar naturgegeben, kann aber entsprechend der zur Verfügung stehenden Mittel und Ressourcen – sei es Wissen, Technik, Zeit oder Geld – bearbeitet, transformiert und optimiert werden. Diese prinzipiell eigenverantwortlichen Körperpraktiken richten sich nach den Maximen einer Gesundheitsförderung. So setzen Medizin und Gesundheitspolitik den normativen und institutionellen Rahmen für ein gesundes Körpergewicht und Ratgeber wie die „Brigitte“ unterbreiten Handlungsvorschläge. In modernen Gesellschaften kontrollieren Medizin und technische Instrumente wie die Personenwaage individuelle Gesundheitsbemühungen und machen mit einer Diagnose und dem Wiegeergebnis sichtbar, ob diese erfolgreich verlaufen. Andererseits scheint der Körper angesichts der vielfältigen Herausforderungen der Ersten und Zweiten Moderne als ein Ort eigenmächtigen Lebens wahrgenommen zu werden (ebd.). So handelt es sich bei dem beschriebenen Phänomen, den Körper zu wiegen, zu überwachen und das Gewicht zu reduzieren, auf den ersten Blick um eine zeitgemäße Form der Ermächtigung. Das Subjekt schafft sich im Alltag Räume, in denen das Ureigene, der Körper, nach individuellen Maßstäben geformt wird. Es ist die Entscheidung des Subjekts, wie es den Körper nutzt – sei es, sich gesellschaftlichen Normen und Werten wie Gesundheit und Schönheit anzupassen oder sich diesen zu widersetzen. Individualisierung bedeutet prinzipiell eine Entwicklung in Richtung eigenständiger Entscheidungen, Ausleben der Einzigartigkeit und Freiheit des Subjekts (Beck 1986; Beck/Beck-Gernsheim 1990, 1993). Soziale Prozesse wie Normalisierung, Medikalisierung und Ästhetisierung beeinflussen und begrenzen diese Chancen, wenn die gesellschaftliche Teilhabe eine Motivation darstellt: „Der einzelne wird zwar aus traditionellen Bindungen und Versorgungsbezügen herausgelöst, tauscht aber dafür die Zwänge des Arbeitsmarktes und der Konsumexistenz und der in ihnen
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enthaltenen Standardisierungen und Kontrollen ein.“ (Beck 1986: 211) Tatsächlich stellt die Vermessung, Vergleichung und Modifikation des Körpers und des Körpergewichts jedoch ein gesellschaftliches Muster dar (Bublitz 2018; Heintz 2016; Lupton 2016; Mau 2017). Es geht um den Körper als diskursives Konstrukt, gesellschaftliche Macht und (freiwillige) Selbstführung (Lemke et al. 2000). Als Individual- und Massenphänomen steht diese Normalisierung, Medikalisierung (oder Technikalisierung) und Ästhetisierung – mit den Möglichkeiten, welche die Technisierung zur Verfügung stellt, für eine Individualisierung, die eine Vergesellschaftung des Individuums erzwingt (Beck/Beck-Gernsheim 1994: 181). Aus diesen historischen, gesellschaftlichen Entwicklungen wird geschlossen, dass die Personenwaage aus einer Schnittmenge verschiedener gesellschaftlicher Bereiche hervorging, die durch die Patentdokumente repräsentiert werden. Es gilt also, die Macht/Wissen-Komplexe zu analysieren, die mit der Einführung und Etablierung des Instruments freigesetzt wurden und sich über die Zeit hinweg untrennbar mit diesem verbanden. Die in diesem Kapitel 3.3 analysierten Kategorien repräsentieren daher keine statischen, theoretischen Ergebnisse, sondern dynamische, diskursive Prozesse. Technisierung, Individualisierung, Normalisierung, Medikalisierung und Ästhetisierung stehen im Zusammenhang mit der Personenwaage und dem Körpergewicht für historische und gegenwärtige Macht/Wissen-Komplexe. Diese deuten bis jetzt ein Wissensregime des Messinstruments an.
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Die Vorgeschichte eines Wissensregimes Messen und Wiegen von Individuen bis 1918
Die Einführung von Waagen und die Möglichkeit, Gewicht messen zu können, ist aus historischer Sicht nicht mit dem heutigen Wiegen des Körpergewichts gleichzusetzen. Als Annäherung und frühesten Einsatz von Waagen im Bezug zum Menschen gilt das in der altägyptischen Mythologie praktizierte Wiegen von Herzen (Psychostasie) (Knoop 1986: 12–16; Robens et al. 2013: 406–407; Vieweg 1962: 24–27, 1966: 11–12; Wilson 2000: 18–19; Wüst 1939: 162–171).1 Hier ging es darum, je nach Gewicht des Herzens zu entscheiden, was mit den Träger*innen passieren sollte. Ein schweres Herz, also sündiges Herz, zog den Ausschluss aus dem Totenreich nach sich. In anderen Mythologien, wie der altgriechischen, wird ebenfalls auf das Symbol der Waage rekurriert und auch im christlichen Begriffsverständnis zur Urteilsfindung aufgegriffen. Die Symbolik, die auf ein zu schweres Gewicht hindeutete, findet sich auch bis in die frühe Neuzeit im (ost-)europäischen Raum in historischen Gemälden und Skulpturen wieder, allerdings nicht durchgängig (Knoop 1986: 16; Vieweg 1966: 29). Auch ein zu leichtes Gewicht wurde verurteilt. Die Waage für sich, teilweise in Verbindung mit Justitia, verkörpert im öffentlichen Raum das richtige Maß sowie gerechtes und faires Handeln (Vieweg 1962: 18–21, 1966: 17–21). Solche Abbildungen befinden sich seit dem Mittelalter in Europa an oder in Gebäuden wie Rathäusern, Kirchen und Justizgebäuden oder fungieren als Teil eines Stadtwappens. Als erste Beschreibung und Beobachtung des Gewichts von Menschen gelten die Versuche im 15. und 16. Jahrhundert von Sanctorius Sanctorius, einem italienischen Arzt (1561–1636)2 (Eknoyan 1999: 228–230; Knoop 1986: 18–22; Robens et al. 2013: 396, 398; Sanders 1960: 62–63). 1614 veröffentlichte dieser 1
Vgl. ausführlicher das Kapitel „Mythology and Religion“ in Robens et al. (2013).
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Vgl. auch die medizinhistorischen Arbeiten von Castiglioni (1931) und Major (1938).
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eine Schrift, die heute unter dem Titel „De statica medicina“ bekannt ist und in der das Wiegen von Personen unter anderem vor und nach Mahlzeiten, bei Bewegung und in Ruhe verglichen wurde. Die Konstruktion von Sanctorius ermöglichte vermutlich als erstes, den menschlichen Stoffwechsel wie die Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, Ausscheidungen und das Körpergewicht genauer zu beobachten (Eknoyan 1999: 230–232; Hollerbach 2018: 123–124; Knoop 1986: 20). Es handelte sich dabei um Selbstexperimente, denn Sanctorius wog sich selbst.
DIE ANTHROPOMETRISCHE VERMESSUNG Die (Ver-)Messung von Individuen beginnt mit anthropometrischen Versuchen Ende des 17. Jahrhunderts, wobei unter anderem auch das Körpergewicht ermittelt wurde (Komlos 1993; Tanner 1998). Es ist der Beginn einer Lehre, die später als wissenschaftliche Teildisziplin der Anthropologie gelten sollte (Glowatzki 1973: 107–108; Theile 2005b: 10, 2005c: 7). Der Hauptwesenszug der Disziplin lässt sich als eine Art „Vermessung des Menschen“ beschreiben, bei der es darum ging, die Merkmale des menschlichen Körpers zu beschreiben und zu vergleichen (Theile 2005c: 7). Dazu gehörte die Messung von Größe und Gewicht sowie der Proportionen des Körpers (ebd.). Mitte des 19. Jahrhunderts begann eine intensive Phase detaillierter Messungen auf unterschiedlichen Wegen, diese beziehen sich in dieser Zeit hauptsächlich auf größere Gruppen und werden für militärische Zwecke durchgeführt (Frommeld 2012, 2013; Jaeger et al. 2001; Jäschke 1966, 1991). Einige dieser Arbeiten sollen im Folgenden exemplarisch vorgestellt werden. Im Mittelpunkt der Schilderung stehen dabei, wie der menschliche Körper mit welchen Mitteln vermessen wurde und welche Motive dahinterstanden. Weil das Körpergewicht nicht isoliert von anderen Maßen erhoben wurde, spielen diese in der folgenden Schilderung ebenfalls eine Rolle, wenn sie in einem Bezug zum Körpergewicht haben oder zur Situation der Erhebung gehören. 1868 veröffentlichte Paul Broca (1824–1880), ein französischer Militärarzt, in den „Mémoires de la Société d’Anthropologie de Paris“3 einen Aufsatz (Broca 1868). Darin diskutierte Broca den Stereographen, der detaillierte Bilder des menschlichen Schädels, seiner sichtbaren Teile sowie anderer Körperteile drucken sollte, indem eine originalgetreue Kopie der ursprünglichen Maße erstellt werden
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Die „Bulletins et Mémoires de la Société d’Anthropologie de Paris“ (BMSAP) sind ein Medium der „Société d’Anthropologie de Paris“ (SAP), die 1859 gegründet wurde und Arbeiten zur biologischen Anthropologie veröffentlicht (SAP 2018).
Die Vorgeschichte eines Wissensregimes | 145
konnte. Damit sollte auf einfache Weise ermöglicht werden, den menschlichen Körper zu studieren (ebd.: 99).4 Diese und weitere Arbeiten kamen durch den medizinischen und wissenschaftlichen Hintergrund Brocas zustande. Wie bereits dargestellt, ist Broca heute vor allem für seine Formel bekannt. Quetelet5, ein (Sozial-)Statistiker, legte zur selben Zeit mehrere Werke vor, in denen er seine vielfältigen Erhebungen präsentierte. Die Messungen umfassten kleine Gruppen von Neugeborenen und erstreckten sich bis ins junge Erwachsenenalter. In frühen epidemiologischen beziehungsweise statistischen Studien stellte Quetelet vor, wie er bei Soldaten derselben Kohorte Körpergröße, -gewicht, -kraft sowie Brust- und Taillenumfang vermaß (Link 2009: 195; Quetelet 1835).6 In Schottland, Belgien und Frankreich wurden so von circa 6000 Soldaten diese Daten im Auftrag der jeweiligen Regierung festgehalten. Auch Quetelet schilderte im Rahmen seiner Untersuchungen eine Formel, die das Verhältnis zwischen Körpergröße und -gewicht wiedergeben sollte und fasste zusammen, dass „die Gewichte bei den ausgewachsenen Personen von verschiedener Größe ungefähr wie die Quadrate der Größe sich verhalten“ (Quetelet 1921: 90, Herv. i. O.). Diese Formel entspricht dem heute bekannten BMI, als deren Begründer Quetelet gilt. Quetelet behauptete für seine Formel kein Alleinstellungsmerkmal oder grundsätzliche Formel für zum Beispiel Übergewichtigkeit, er stellte lediglich fest, dass der von ihm entdeckte Bezug zwischen Körpergröße und -gewicht gleichbleibend ausfiel (Keys et al. 1972: 340). Erst später wurde diese Formel als BMI bekannt. Weil beide Messwerte, das Körpergewicht und die -größe, sich als wichtiges medizinisches, politisches und gesellschaftlich beachtetes Kriterium für Gesundheit herauskristallisieren sollten, wird bei der folgenden Darstellung darauf geachtet, Hinweise auf Durchschnittswerte oder Ausführungen zu deren Stellenwert in den historischen Quellen und Aufarbeitungen zu finden. Andere Größen wie zum Beispiel der Blutdruck, der sich im historischen Verlauf zu einem ebenfalls wichtigen Indikator für die Gesundheit einer Person entwickelt hat, sind jedoch eng an entsprechende medizinische Geräte oder eine entsprechend ungenauere, manuelle Messung gebunden (Fangerau/Martin 2014). Ob ein Blutdruck zu hoch oder niedrig ist, sieht man Patient*innen von außen nicht an,
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Vgl. hierzu auch Broca (1865, 1879).
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Der folgende, rund einseitige Abschnitt über Quetelet geht auf Ergebnisse zurück, die
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Die hier genannte Monografie von Queletet ist die erste einer ganzen Reihe von
bereits in früheren Beiträgen veröffentlicht wurden (Frommeld 2012, 2013, 2015) Arbeiten von Quetelet, die sich mit Messungen an Soldaten auseinandersetzten. 1914 und 1921 wurden die Bände, die insbesondere den BMI betreffen, in deutscher Sprache veröffentlicht.
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ein zu hohes Körpergewicht lässt lediglich Bluthochdruck vermuten. Das Körpergewicht und der Bezug zur Körpergröße waren nach der gängigen Laienund Expertenmeinung hingegen auch augenscheinliche Merkmale mit Aussagekraft für einen gesunden oder kranken Körper. Demzufolge ist das Körpergewicht (im Verhältnis zur Körpergröße) bis heute ein populäres Kriterium für Gesundheit. Quetelet nutzte das Prinzip der binomischen Normalverteilung, um die Normalgröße von Soldaten nachweisen zu können (Quetelet 1914: 45; Stechow 2004: 103). Mindestens drei verschiedene Soldaten mussten dazu gemessen werden (Quetelet 1914: 48). Aus Aufstellungen, die nach Lebensalter, Körpergewicht und -größe sortiert waren und aus dem Vergleich des Verhältnisses zwischen Gewicht und Größe entwickelte Quetelet den BMI (Quetelet 1921: 80–82). Er bezifferte demzufolge das durchschnittliche Körpergewicht eines 18- bis 20-Jährigen belgischen Mannes zwischen 61 und 65 kg und die Durchschnittsgröße auf rund 1,64 m (ebd.: 66–68, 81).7 Solche Durchschnittswerte lassen sich an mehreren Quellen belegen. So waren die meisten Soldaten der französischen Armee im 19. Jahrhundert zwischen 1,57 m und knapp 1,68 m groß, der Durchschnitt lag bei rund 1,64 m (Broca 1871: 484, 488).8 Für diese Körpergrößen wurden bestimmte minimale Körpergewichte angestrebt (Morache 1874: 103, 112, Herv. DF). Dieses sollte im Idealfall beispielsweise bei einer Größe von 1,64 m nicht unter 60,36 kg liegen. Kurz nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert berichtete Schwiening in der „Deutschen Medizinischen Wochenschrift“ von dem durchschnittlichen Gewicht preußischer Soldaten, das rund 65 kg betrug (Schwiening 1914: 499; Spiekermann 2008: 36). Otto Ammon (1842–1916)9, ein deutscher Sozialanthropologe, legte 1899 eine ausführliche Darstellung von Messungen im damaligen Großherzogtum Baden vor und damit die ersten umfassenden Angaben zur Körpergröße der deutschen
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Quetelet führte seine Untersuchungen zunächst bei Soldaten der Armee und später auch an der Brüsseler Bevölkerung, unter anderem bei männlichen Schülern, durch. Bei den hier beschriebenen Ausführungen zur Körpergröße erwähnte Quetelet Soldaten, zum Körpergewicht hauptsächlich Schüler (Quetelet 1921: 66–68, 80–82).
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Alle Werte auf maximal zwei Stellen nach dem Komma gerundet. Morache (1874: 103) nennt auch diese Übersicht der minimal geforderten Körpergewichte und bezieht sich dabei auf Broca (1871: 184) (Morache 1874: 92). Dabei muss sich ein kleiner Fehler eingeschlichen haben, denn die Tabelle befindet sich bei Broca (1871) auf Seite 484.
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Jaeger et al. (2001) beziehen sich ebenfalls auf Ammon. Auch Hartmann (2011: 203) erwähnt die wichtige Rolle von Otto Ammon, ebenso auch Spencer (1997: 95) in der englischsprachigen Enzyklopädie zur Anthropologie.
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Soldaten (Jaeger et al. 2001: 256; Spencer 1997: 95). Ammon arbeitete zum einen mit den statistischen Daten des Militärs, führte aber auch als erster Deutscher zu Forschungszwecken eigene Untersuchungen an Soldaten durch (Hartmann 2011: 203). Über 13 Jahre hinweg wurden fast „30.000 Wehrpflichtige und Mittelschüler“ gemessen (Ammon 1899: V, Herv. i. O.). Dazu gehörten Männer, die bereits im Wehrdienst standen oder zurückgestellt worden waren. Zu den erhobenen Merkmalen gehörte auch die Körpergröße (ebd.: 6).10 Auf diese Weise sollte eine Art Nachschlagewerk geschaffen und Anreize für künftige Erhebungen gesammelt werden (ebd.: VIII). Der andere Teil der Stichprobe, die Mittelschüler, war für ein Jahr verpflichtet, Wehrdienst zu leisten. Ammon und seine Kollegen intendierten, die beiden Gruppen miteinander zu vergleichen, weshalb die Mittelschüler miteinbezogen wurde. Es wurde die Vermutung angestellt, dass sich der Kopfumfang der Schüler im Vergleich zu dem der Wehrpflichtigen unterschied (ebd.: 18). Ammon differenzierte das Körpergewicht +/- 65 kg, das heißt, in seinen Aufzeichnungen wurden die Personen unterschieden, die mehr oder weniger als 65 kg wogen (ebd.: 21, 414, 544, 546–548). Eine Ausmusterung erfolgte bis auf wenige Ausnahmen für junge Männer, die unter dieser Grenze lagen (ebd.: 416). 65 kg galt als Höchstgewicht für die leichte Kavallerie (ebd.: 21). Um das Körpergewicht nach Tauglichkeit zu messen, wurde mit Hilfe der jeweiligen Kommandeure eine Vollerhebung versucht: „Ein ziemlich gutes Kennzeichen der Reife ist das Gewicht. Bei Leuten von gleicher Grösse werden die reiferen auch die schwereren sein. Leider ist es bei dem raschen Gang des Ersatzgeschäftes nicht tauglich, das Gewicht der Mannschaften zu ermitteln. Der Umstand jedoch, dass eine Wage11 mit dem aufgelegten Gewicht von 65 kg bereit steht, um für die zur leichten Reiterei bestimmten Leute zu entscheiden, ob sie das zulässige Höchstgewicht von 65 kg nicht übersteigen, hat uns veranlasst, an die Herren Bezirkskommandeure die Bitte zu richten, dass sämtliche Mannschaften auf die Wage treten dürften, um festzustellen, ob sie + oder – 65 kg haben.“ (Ammon 1899: 253)12
10 In den frühen Untersuchungen von 1885 bis 1890 wurden von jedem Mann jeweils Name, Geburtsort, Beschäftigung oder Beruf, Augenfarbe, Haarfarbe, Hautfarbe, Länge und Breite des Kopfes, Körpergröße wie Sitzgröße erhoben (Ammon 1899: 6, 20–21). Die Erhebungen von 1891 bis 1895 wurden um einige weitere Merkmale ergänzt, darunter der Brustumfang und das Körpergewicht. 11 Der Ausdruck „Wage“ entsprach der damaligen Schreibweise. Diese wird in der gesamten Arbeit belassen und nicht mit [sic!] gekennzeichnet. 12 Ammon berichtete in der Folge: „Durch das wohlwollende Entgegenkommen der Herren Bezirkskommandanten und Stabsärzte wurde es möglich, bei einem sehr
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Aus der Schilderung folgt, dass für eine relativ große Anzahl an Soldaten sehr wenige Waagen zu Verfügung standen und dass das Wiegen mit diesen wenigen Apparaten zu lange dauerte. Der Nachweis der Messung des Körpergewichts in den historischen Quellen stellte sich allgemein als größeres Problem dar als der Beleg von Messungen, die mit Längenmaßen arbeiteten. Nicht nur deshalb steht fest, dass die Waage aus verschiedenen Gründen für die Musterung beziehungsweise bei anthropometrischen Messungen Ende des 19. Jahrhunderts (noch) nicht etabliert war. Was bereits ebd. (1899: 253) erwähnte und Jaeger et al. (2001: 254) bestätigten, ist, dass die Messung mit Gewichtseinheiten wie Kilogramm viel Zeit in Anspruch nahm. Es wurden Dezimalwaagen verwendet, bei denen Vergleichsgewichte zur Ermittlung des Körpergewichts eingesetzt werden mussten. Diese Problematik zeigte auch der Anthropologe Rudolf Martin (1864–1925) etwas später, in den 1920er Jahren, auf (Martin 1925: 6). Waagen waren auch deshalb nicht immer vorhanden, weil sie teuer waren (Hartmann 2011: 140). In Frankreich lautete zum Beispiel Ende des 19. Jahrhunderts die Vorgabe des Ministeriums, dass das Wiegen als permanenter Bestandteil der Musterung zunächst nicht eingeführt werden sollte, weil es zu teuer und zu zeitaufwendig gewesen wäre. Die ersatzweise Verwendung von Viehwaagen als Ersatz wurde nicht weiterverfolgt. Allerdings führte das französische Militär mit Beginn des 19. Jahrhunderts grundsätzlich ein, das Körpergewicht bei der Musterung zu erheben.13 Jäschke (1991: 83) argumentierte Ende des 20. Jahrhunderts – mit Rückblick auf Musterungen aus knapp dreißig Jahren – dass anthropometrische Messungen des Körpergewichts immer in Zusammenhang mit anderen Variablen wie der Körperhöhe erhoben werden müssen.14 Die Körpergröße wurde bei Ammon (1899) „nach dem Militärmass“ erhoben und „aus der amtlichen Liste nachträglich in die anthropologische Liste übertragen“ (ebd.: 6). Das „Militärmaß“ beschreibt die „militärische Diensttauglichkeit“ hinsichtlich der Körpergröße eines Soldaten für die verschiedenen Einsatzzwecke (Meyers Konversations-Lexikon 1886: 621). Nach § 5 der Rekrutierungsordnung vom 28. September 1875 für das Deutsche Reich, wie ein damaliger Lexikoneintrag
grossen Teil der Wehrpflichtigen auch den Brustumfang und das Gewicht zu ermitteln, ersteren bei Ein- und Ausatmung, letzteres nur ob mehr oder weniger als 65 kg […]. Hierdurch haben unsere Aufnahmen eine wertvolle Bereicherung erfahren“ (Ammon 1899: 21, Herv. i. O.). 13 Vgl. auch Roynette (2000: 188). 14 Der Beleg bezieht sich auch auf anthropometrische Untersuchungen im Allgemeinen und nicht allein auf die DDR, wie der Titel des Beitrags vermuten lässt.
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aufführt, war die kleinste zulässige Körpergröße 1,51 m. Die durchschnittliche Körpergröße bei den Messungen in Baden, die der „Mittleren“, bestätigt die bereits genannten Quellen (Ammon 1899: 74). Diese bewegt sich bei der Gruppe der ländlichen Wehrpflichtigen zwischen 1,62 m und 1,70 m (ebd.).15 Die Körpergröße war in vielen Staaten entscheidend und sogar vorgeschrieben, weil sie darüber bestimmte, ob eine Person zum Militär zugelassen oder ausgemustert wurde (Jaeger et al. 2001: 254). So zählte 1,57 m als Voraussetzung in den meisten deutschen Staaten. Für die Messung der Körpergröße ist davon auszugehen, dass der Anthropometer benutzt wurde – zumindest wird dies einige Zeit später von Martin (1925) als offizielle Methode der Anthropometrie und Anthropologie dargelegt. So findet sich bei Broca (1879: 62) eine Skizze eines solchen Messinstruments (Abb. 6). Abbildung 6: Anthropometer bei Broca
Quelle: Broca 1879: 62
15 Vgl. auch die Gaußsche Normalverteilung in Ammon (1899: 71). Schwiening/Nicolai (1909: 75–84) nennen vergleichbare Zahlen (vgl. auch Spiekermann 2008: 36–37). Interessanterweise werden bei Schwiening/Nicolai (1909: 77, 84) schichtspezifische Einflüsse erwähnt. Bei jungen Männern, die höhere Schulen besuchten, wurde ein höherer Anteil der über 1,75 m großen Schüler festgestellt. Gleiches galt für die Herkunft aus größeren Städten gegenüber kleineren Ortschaften auf dem Land. In beiden Fällen wurde dafür eine bessere Ernährung verantwortlich gemacht.
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Der Anthropometer wurde als eine Art Messstab eingesetzt, auf dem eine auf ein Millimeter genaue Skala angebracht ist. Eine verschiebbare Querhülse diente als Winkelhaken, mit dem zum Beispiel die Körpergröße gemessen werden konnte (vgl. Abb. 6)16. Auch wenn die Körpergröße fast immer erhoben wurde und das Ergebnis (mit-)ausschlaggebend war für eine Ausmusterung, wurde diese oft durch weitere Messungen ergänzt, zum Beispiel mit der Messung des Brustumfangs (Hartmann 2011: 130–132)17, die auch in dem Bericht von Ammon (1899: 420) Ende des 19. Jahrhunderts eine nicht unbedeutende Rolle spielte. Eine zu geringe Körpergröße sollte im Fall von muskulösen jungen Männern also kein Ausschlusskriterium für die Armee mehr sein. Trotzdem wurde sie meistens mit erhoben und war im Deutschen Reich ein durchgängiges und etabliertes Eignungskriterium, da die Größe relativ schnell und mit einfachen Mitteln zu erheben war. Vermutlich wurde das genaue Procedere deshalb nicht geschildert.18 Ein wichtiger Bestandteil der Musterungen war das Ablegen der Kleidung, das heißt die Messungen wurden am nackten Körper vorgenommen (Hartmann 2011: 148; Martin 1924: 7–8, 26, 1925: 6). Für den Moment soll dies nicht näher ausgeführt werden, die Aussage erhält später Plausibilität, wenn allein die Personenwaage und das (selbständige) Wiegen in den Fokus der Untersuchung rücken. Augustin Weisbach (1837–1914)19, ein Regimentsarzt der ÖsterreichUngarischen Armee, tätig im damaligen Konstantinopel – dem heutigen Istanbul –
16 Kurz gehaltene Hinweise zum Gebrauch finden sich bei Broca (1879: 62–63) und eine ausführliche Darstellung bei Martin (1925: 3, 7–8). Ebd. (1925: 7) weist zum Beispiel noch darauf hin, dass der Kopf bei der Messung nicht geneigt und die Schultern nicht hochgezogen werden dürfen. 17 In der Schweiz wurde beispielsweise vorgeschlagen, bei der Musterung ergänzend auch den Puls zu prüfen, um so Aussagen über die körperliche Leistungsfähigkeit zu erhalten (Hartmann 2011: 158). 18 Zudem kamen durch die beiden Weltkriege historische Unterlagen abhanden (Jaeger et al. 2001: 254). 19 Augustin Weisbach scheint heute in der Literatur mit Albin Weisbach verwechselt zu werden. Albin Weisbach (1833–1901, geb. in Freiberg i. S.) war als Mineraloge zur etwa selben Zeit tätig (Meyers Großes Konversations-Lexikon 1909: 491–492). Die Durchführung von anthropometrischen Messungen trifft hingegen auf die Tätigkeit des Oberstabsarztes Augustin Weisbach (1837–1914) zu. Im Jahresbericht von 1893 finden sich in den „Annalen des k.k. naturhistorischen Hofmuseums“ in Wien Hinweise, dass Augustin Weisbach anthropologische Forschungen zuzuschreiben sind, während Albin Weisbach im Zusammenhang mit mineralogischen Sammlungen genannt wird (Hauer
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veröffentlichte 1878 seine „Körpermessungen verschiedener Menschenrassen“. Der Band erschien im Rahmen eines Supplementes der Zeitschrift für Ethnologie und wurde von der Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte unter dem Vorsitz von Rudolf Virchow (1821–1902) herausgegeben, der für die objektive und überprüfbaren Prinzipien der Naturwissenschaft plädierte (Glowatzki 1973: 107). Wie in vielen anderen Arbeiten aus dieser Zeit, erwähnte Weisbach Quetelet und dessen Methoden (Weisbach 2002: 6).20 Weisbach schlug eine Optimierung der bestehenden Arbeitsweise vor, nämlich ein grundsätzlich festgelegtes „Messungssystem“ (ebd.: 1).21 Im Fall dieser Quelle bestätigt sich wiederum, dass Ende des 19. Jahrhunderts das Körpergewicht noch kein Alleinstellungsmerkmal war, obgleich Ammon bereits die Überlegung angestellt hatte, das Körpergewicht als isoliertes und pragmatisches Kriterium für die Zulassung zur leichten Kavallerie heranzuziehen. Der Waage wäre damit eine grundlegende Rolle zugekommen. 1907 finden sich im „Jahresbericht über die Fortschritte und Leistungen auf dem Gebiete der Sozialen Hygiene und Demographie und Medizinalstatistik sowie alle Zweige des sozialen Versicherungswesen“ bibliografische Hinweise auf historische, einschlägige Literatur zu anthropometrischen Messmethoden (Grotjahn/Kriegel 1907: 346– 347).22 Dies lässt den Schluss zu, dass die geschilderten Hinweise, Techniken und
1893: 28, 32). Demnach sind die Ausführungen von Krüger (2002) zu Weisbach falsch. Diese
finden
sich
im
Vorspann
des
Nachdrucks
von
Weisbachs
Titel
„Körpermessungen verschiedener Menschenrassen“. Dieser wurde im Jahr 2002 von Krüger neu herausgegeben und stammt ursprünglich aus dem Jahr 1878 (Weisbach/Krüger 2002). Diese These wird durch den Beitrag von Theye (2012: 95) gestützt. Dieser nennt darin die Zusammenarbeit von Augustin Weisbach mit Karl von Scherzer und Eduard Schwarz, zwei anderen Anthropologen. Krüger (2002) bezieht sich auch auf diese, spricht aber stets von Albin Weisbach. In den Quellen zum Vorwort nennt Krüger ebenfalls fälschlicherweise Albin statt Augustin Weisbach. 20 Die wichtige Rolle Quetelets in der Geschichte der anthropometrischen Forschung ist heute unbestritten, dies bestätigen in der Rückschau einige Autoren, zum Beispiel Canguilhem (1992), Desrosières (2005), Hacking (1999), Hartmann (2011), Hess (1997b), Link (2009) und Reichesberg (1893). 21 Vgl. weiterführend auch die Erläuterungen und Abbildungen in Glowatzki (1973: 108) sowie Martin (1925: 5). 22 Unter anderem finden sich dort Verweise zu Rudolf Martin und Heinrich Schwiening. Durch diese mehrfache Erwähnung im medizinischen Teildiskurs kommt diesen Arbeiten eine grundlegende Bedeutung zu.
Weiterführend sei
in diesem
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Instrumente auch zur Feststellung der Körpergröße und des Gewichts von preußischen Wehrpflichtigen für militärische Berichte kurz nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verwendet wurden (ebd.: 25–26). Die anthropometrischen Verfahren – inklusive des Wiegevorgangs – wurden einige Jahrzehnte später in den ersten Lehrbüchern der Anthropometrie und Anthropologie von Martin (1925, 1928a) als „Körperbaulehre“ genau umrissen (Martin 1925: 1). Glowatzki (1973: 107–108) stellt heraus, dass die beschriebenen Methoden auch Mitte des 20. Jahrhunderts noch national und international gebräuchlich waren. Jürgens (1978: 208–209) bestätigte die bedeutende Rolle von Martins Grundlagenwerk bis in die 1970er Jahre hinein. Die Gewinnung von Körpermaßen wurde in den nachfolgenden Jahren bis heute mittels DIN-Normen präzisiert und immer wieder aktualisiert (ebd.: 211; Stewart et al. 2011b). So werden die historischen Methoden in den „International Standards for Anthropometric Assessment“ (Stewart et al. 2011a) bestätigt, mit denen unter anderem die Sportwissenschaften im neuen Jahrtausend23 arbeiten. Damit deutet sich bereits an, dass sich die Bemühungen, den Menschen in einer möglichst exakten, vergleichbaren wie auch einheitlichen Weise zu messen und – soweit es möglich war – auch zu wiegen, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute fortgesetzt haben.
EIN DISKURS UM STANDARDISIERUNG Zahlen und vor allem Instrumente wie Stereographen, Anthropometer oder Waagen wurden folglich dazu benutzt, Menschen in ihren körperlichen Eigenschaften zu vergleichen, aber auch, um „deren Stellung und Verteilung innerhalb einer bestimmten Population festzustellen, um auf solche Weise diese selbst in ihrem Aufbau und ihrer Zusammensetzung zu erkennen und auf sie wirken zu können“ (Martin 1925: 1). Quetelet (1921) beschrieb bereits 1869 ähnliche Gedanken und sprach im Zusammenhang mit der Formel des BMI von einer gottgegeben Ordnung: „Die Natur hat nicht gewollt, dass ihre Grenzen zu weit auseinander lägen, und der Mensch sich allzu weit von dem Vorbild entferne, das sie geschaffen hat“ (ebd.: 93). Der Durchschnitt war für Quetelet die elementarste Bezugsgröße einer Gesellschaft (Quetelet 1914: 42–43). In seinen Analysen wurde dieser von der Mehrheit der gemessenen Soldaten verkörpert und
Zusammenhang auf Francis Galton (1822–1911) verwiesen, der sich in Galton (1869) auf Quetelet bezieht. 23 Vgl. Wirt et al. (2014) sowie Wirt et al. (2015).
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eine Minderheit wich davon ab. In dem Zusammenhang verwies Quetelet auf „die Wirklichkeit einer typischen Form, von der jede Abweichung als eine Unregelmäßigkeit betrachtet werden muß“ (ebd.: 45). Körpermaße inklusive des Körpergewichts, aber auch Handlungen wurden in dem Sinne interpretiert, als dass diese von den Naturgesetzen beeinflusst seien, wie die Auffassung der naturwissenschaftlichen Forschung zur Zeit von Quetelet war (Reichesberg 1893: 493). Der Durchschnitt, der mittlere Bereich der Gaußschen Normalverteilung, wurde dabei als statistische, mathematische Normalität verstanden, der auf eine Ordnung und idealen Zusammenhang hindeutete. Die Bereiche am Rande der Glockenkurve symbolisierten eine Abweichung von der Norm und galten als ungünstig. Der mittlere Mensch war eine konkrete Figur, die Quetelet analog zum BMI einführte (Quetelet 1914: 162, 165). Der Idealtypus verfügte zum Beispiel über eine Normalgröße, kleinere oder größere Menschen wurden als abweichend, deren Körpergröße also als nicht-normal oder a-normal beschrieben. Ammon ging bei der Einteilung der Körpergrößen nach derselben Logik vor, die auch Quetelet anwendete und teilte die gemessenen Individuen in verschiedene Klassen ein. „Mindermässige“ und „Übermässige“ beschrieben demnach jeweils die vom Durchschnitt abweichenden Gruppen, also Soldaten, die kleiner und größer waren und damit in den Extrembereichen liegen (Ammon 1899: 74). Es wird deutlich, dass dieser Entwurf und die dazugehörigen Bezeichnungen eine bestimmte, pejorative Rhetorik beinhalten, die in einem bestimmten Kontext zu verorten sind.24 Quetelet ging nämlich einen Schritt weiter, indem er von seinen Daten auf die körperlichen und charakterlichen Eigenschaften eines Menschen schloss, für die der mittlere Mensch in idealer Weise stehen sollte. Daraus folgen definierte Grenzen zwischen dem Bereich der Normalität und den abweichenden Bereichen. Damit argumentierte Quetelet für eine Homogenität der Individuen anstelle von Heterogenität (Desrosières 2005: 133). Eine Nation wäre nach Quetelet am leistungsfähigsten, wenn die einzelnen Menschen möglichst weitgehend den durchschnittlichen Daten, die man von dieser Gruppe erhoben hatte, entsprechen würden. Auf einer abstrakten Ebene kann der mittlere Mensch als fiktives,
24 Quetelet (1921: 70) nutzte zum Beispiel die Klassifizierung „Zwerge“ und „Riesen“ für Gruppen, die kleiner oder größer als der Durchschnitt waren und sich in den äußeren Bereichen der Normalverteilung befanden. Diese Bezeichnungen verwendete auch Ammon (1899: 5), der auf Johannes Ranke verweist, der diese eingeführt hat. Demnach folgen auf den Durchschnitt „Kleine“, dann „Mindermässige“ und abschließend die „Zwerge“ beziehungsweise es wurde im Rahmen der Normalverteilung nach der Reihenfolge „Grosse“, „Übermässige“ und „Riesen“ geordnet.
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ästhetisches und moralisches Leitbild verstanden werden (Frommeld 2012: 185, 2013: 7; Reichesberg 1893: 496): „Er ist die Verkörperung alles Guten und Schönen, und je mehr sich das Individuum desselben naht, desto vollkommener, desto besser ist es entwickelt; dagegen sind alle beträchtlichen Abweichungen von den Verhältnissen, von den Eigenschaften und Fähigkeiten des mittleren Menschen als Missbildungen und Krankheiten zu betrachten. Der mittlere Mensch in seiner vollkommenen Reinheit ist, wie Quetelet sagt, in der Wirklichkeit nicht vorhanden, er sei ein être fictif.“ (Reichesberg 1893: 496, Herv. i. O.)
Diese Überlegungen führten zu einer Auffassung von Gesundheit und Krankheit, Schönheit und Hässlichkeit, die berechnet werden konnte. Auf dieser Basis kann gefolgert werden, dass ein durchschnittliches Verhältnis zwischen Körpergewicht und -größe mit dieser Auffassung verknüpft war, das durch den Vorläufer des BMI mathematisch hergeleitet werden konnte. Diese Normalverteilungen beruhten auf mathematischen Operationen, waren teilweise aber auch stilisiert, denn es ist belegt, dass beispielsweise Quetelet seine Tabellen und Normalverteilungen mitunter bereinigte. 25 Dennoch kann aus diesen Arbeiten abgeleitet werden, dass Zahlen, Größen und statistische Berechnungen auf den Körper angewendet wurden und eine wichtige Rolle im wissenschaftlichen Diskurs einnahmen. Allerdings wurden die Erhebungen von politischer Seite
25 Kritik zu Quetelets Arbeiten findet sich vor allem zum Konzept des mittleren Menschen (Böhme 1971; Halbwachs 1913; Link 2009; Müller 1957; Reichesberg 1893, 1896/1899). Zuvor kritisierte Oeder (1916) in medizinischer Hinsicht gängige praktizierte Methoden der Berechnung von Durchschnittswerten und wandelte bei seinen Untersuchungen den historischen BMI so ab, dass das Normalgewicht seiner Meinung nach zuverlässiger für Frauen und Männer wiedergegeben wurde. Dennoch hat bis heute keine angemessene Beschäftigung mit Quetelet in der deutschsprachigen Soziologie stattgefunden, zumal die Gesellschaft und deren Beobachtung im Zentrum seiner Überlegungen stand. Zwar wird Quetelet bei der Gründungsgeschichte der Soziologie und im Zusammenhang mit Comte erwähnt (Brock et al. 2012: 42; Büschges 2018: 9), jedoch inspirierten Quetelets Überlegungen Galton (1869) und Lambroso (1876) zu Arbeiten, die im Dritten Reich zur wissenschaftlichen Begründung der Rassenlehre herangezogen wurden, was diese Forschungslücke in der deutschen Soziologiegeschichte zu erklären vermag. In der angloamerikanischen Soziologie und weiteren Disziplinen wird Quetelet, historisch bedingt, unkritischer als einer der „Founding Fathers of Sociology“ (Wright 2009) bezeichnet und eine nachholende Würdigung versucht (z. B. Eknoyan 2008; Jahoda 2015; Weigley 1989).
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unterstützt oder waren politisch motiviert. Bezieht man sich beispielweise auf Ammon oder Quetelet, zeigt sich, dass die Auftrag- oder Geldgeber oftmals die jeweiligen Regierungen waren (Ammon 1899: IX; Link 2009: 195–197; The Editors of Encyclopædia Britannica 2018).26 In diesen frühen statistischen Studien ging es darum, einen (wohlfahrtsstaatlichen) Fortschritt für eine Nation zu erreichen und diesen zu mehren (Frommeld 2012, 2013). Die durchgeführten Messungen dienten einerseits als Orientierungsgrößen (Hess 1997b). Andererseits sollte die massenhafte Sammlung von Individualdaten und deren Streuung um einen Mittelwert als Beweis für die aufgestellten Thesen fungieren (Frommeld 2012, 2013). Die Schilderungen veranschaulichen, wie versucht wurde, den menschlichen Körper, dessen Arbeitskraft, Leistungspotenzial und den Bedarf dafür möglichst exakt zu erfassen, um daraus Schlüsse für eine ganze Nation ziehen zu können. Ammon (1899) stellte folgende Annahmen auf:27 „Die weniger entwickelten Leute sind kleiner an Körpergrösse, namentlich aber an Sitzgrösse, haben etwas geringere absolute Kopfmasse, einen kleineren Brustumfang und weniger Gewicht. Hieraus geht hervor, dass die Ergebnisse aller früheren anthropologischen Untersuchungen beim Ersatzgeschäft, bei denen diese Punkte unberücksichtigt blieben, davon beeinflusst sind, ob viele oder wenige in der Entwickelung [sic!] verzögerte Leute vorhanden, mit andern Worten, ob die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der betreffenden Gegend ungünstige oder günstige waren.“ (Ebd.: 29, Herv. i. O.)
Ammon (1899: 486, 545) schrieb weiter dazu, dass Brustumfang und Körpergewicht Variablen seien, die von der Körpergröße abhängig seien. Alle drei Faktoren zählten in seinen Aufzeichnungen und in den anderen Quellen zu den Merkmalen, die darüber bestimmten, ob eine Person ein geeigneter Soldat war oder nicht – allein das Körpergewicht war jedoch nicht entscheidend. Bedeutende Faktoren, die nach Ammon von außen auf den Körper wirken würden, seien unter anderem die Ernährung und die Art der Arbeit. Den durchschnittlichen Arbeiter im Fokus Diese These spiegelt sich auch in den Berichterstattungen über den Nahrungsmittelbedarf eines so genannten „mittleren Arbeiters“ wider (Barlösius
26 Eine ausführliche biografische Arbeit zu Quetelet und seinen (Forschungs-)Tätigkeiten lieferte Reichesberg (1896/1899). 27 Vgl. hierzu Jaeger et al. (2001: 254).
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1999: 62–63).28 So sollte nach Carl von Voit (1831–1908) ein durchschnittlicher Arbeiter täglich 144 g Eiweiß zu sich nehmen, um über genügend Energie zu verfügen. Für die Verköstigung in öffentlichen Anstalten wurde von Voit ein Bedarf von 137 g Eiweiß (in Ruhe und bei Betätigung) ermittelt (Sander 1877: 409). Alle körperlich Arbeitenden sollten daher eine relativ hohe Menge an Fleisch zu sich nehmen. Gemessen wurde mithilfe der Kalorie, die um 1860 eingeführt wurde (Barlösius 1999: 60–61). Der Zusammenhang zwischen (Wärme-)Energie, Muskelkraft und Kalorienverbrennung geht zurück auf Robert von Mayer (1814–1878) (ebd.: 63–64). In diesem Kontext ist das Bild des Menschen als Kalorienverbrennungsmaschine zu verorten (Teuteberg 1997).29 Im Lauf der Weiterentwicklung dieser Annahmen wurden auch so genannte Kostsätze eingeführt, die den durchschnittlichen Kalorienbedarf eines Soldaten, Arbeiters oder einer Arbeiterfamilie festlegten. Kostsätze bildeten das Richtmaß für Speisepläne beim Militär. Sie sollten relativ günstig sein, dafür aber den höchsten Wert an Energie und Kraft für die Soldaten bereitstellen. Bis heute gibt es fertig zusammengestellte Menüs für Soldaten in Form von täglichen, so genannten Fitnessvorschlägen, die auf solchen Berechnungen fußen (Verpflegungsmanagement der Bundeswehr 2017). Außerhalb solcher Institutionen wie dem Militär sollten die Kostsätze dazu dienen, eine Veränderung in der Zuteilung von Lebensmitteln zu bewirken (Barlösius 1999: 63). So plädierte Voit dafür, auch den unteren Schichten Fleisch zugänglich zu machen, da diese körperlich schwer arbeiteten und Fleisch noch sehr teuer war. Erst der allmähliche soziale Aufstieg der unteren Schichten in der nachfolgenden Zeit, vor allem ab Mitte des 20. Jahrhunderts, machte die Versorgung mit Fleisch über alle Schichten hinweg möglich (Kleinschmidt 2008; Klotter 2008; König 2008). Ein wesentlicher Bestandteil der Ernährung zur Zeit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert waren bereits (Halb-)Fertigprodukte wie Liebig’s Fleischextrakt, Margarine, Erbswurst und Trockensuppen von Maggi und Knorr, deren Etablierung eng mit dem Namen Liebig verbunden ist und der die moderne Ernährungswissenschaft entscheidend prägte (König 2008: 106–107; Rossfeld 2009: 34–35; Schlegel-Matthies 2002: 209–211, Herv. i. O.). Diese Produkte waren Gegenstand intensiver Werbung. Durch den Einsatz von Konservierungsstoffen waren diese lange haltbar, konnten schnell und einfach zubereitet werden und ergänzten das Spektrum der Lebensmittel, die im privaten Haushalt verwendet wurden. Wie mit den
28 Zum historischen Hintergrund, vor allem zum wissenschaftlichen Diskurs und zur politischen Situation sowie zur Ernährung in staatlichen Institutionen wie Gefängnissen vgl. Barlösius (1999) sowie Thoms (2002). 29 Vgl. Frommeld (2012: 191, 2013: 9).
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Konserven, die allerdings erst nach dem Ersten Weltkrieg günstiger wurden und dann eine größere Rolle spielten, wurde eine Vorratshaltung möglich (Rossfeld 2009: 34–35; Schlegel-Matthies 2002: 210). Eine ausführliche tabellarische Auflistung der gängigen Nahrungsmittel und ihrer Zusammensetzung veröffentlichten im Jahr 1910 die beiden Ärzte Hermann Schall und August Heisler (Schall/Heisler 1910).30 Dabei wurde auch die Kalorienzufuhr zu unterschiedlichen Bedingungen erläutert, zum Beispiel bei unterschiedlichen Bewegungen oder Arbeiten. Kurz nach der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurden Vitamine und Nährstoffe entdeckt (Barlösius 1999: 66; Merta 2002: 201– 202, 207). Diese Stoffe verbesserten die Versorgung nachhaltig und sollten künftig eine große Rolle spielen. Ab dem Ersten Weltkrieg dienten die erstellten Kostsätze und der Kalorienbedarf auch als Grundlage für Lebensmittelkarten, mithilfe derer sich die Gesamtbevölkerung in Mangelzeiten ernähren musste (Barlösius 1999: 65). Es ging also nicht mehr nur darum, Merkmale über bestimmte Menschengruppen und ihre Ernährung zu erfassen, sondern auch die Rahmenbedingungen und Wechselwirkungen zu beobachten und diese im besten Fall hinsichtlich Arbeitskraft, Gesundheit und Lebenserwartung günstig zu beeinflussen (Merta 2003: 309). Zugrunde lagen einerseits Bemühungen um eine Grundsicherung der Nahrungsmittelversorgung der breiten Bevölkerung und eine Verbesserung der Ernährung der Arbeiter (Barlösius 1999: 59, 62–63; Bergdolt 1999: 312; König 2008: 96–98; Rossfeld 2009: 36–37; Thoms 2002). Dabei sind andererseits auch Bestrebungen einer politisch gelenkten Ernährung im Sinne einer Einsparung von Staatskosten und Erhöhung der Wertschöpfung erkennbar, weil die Kostsätze eine ausreichende wie auch günstige Nahrung ermöglichten und die Produktivität sowie die Lebenserwartung steigern sollten. Das Modell der gesunden Ernährungsweise geht deshalb auf diese Zeit zurück und wurde innerhalb eines wissenschaftlichen Diskurses entworfen, indem bestimmte Lebensmittel positiv und andere negativ besetzt wurden (Rossfeld 2009: 35). Im Gegensatz zu anthropometrischen Studien hat das Körpergewicht bei ernährungswissenschaftlichen Überlegungen eine zentrale Bedeutung. Dies erklärte der Arzt und frühe Diabetologe Gustav Oeder (1909: 461), der Anfang des 20. Jahrhunderts eine Diätkuranstalt bei Dresden leitete, im Vorspann seiner
30 Heute ist die Ernährungswissenschaft und moderne Denkweise einer gesunden, bewussten Ernährung ohne die Kalorie nicht denkbar. So gibt es kleine Taschenbücher, die zum Einkauf mitgenommen werden können. Weit verbreitet sind die von Nestlé (2018, 2019) herausgegebenen Titel „Kalorie mundgerecht“ sowie „Kalorie mundgerecht für unterwegs“, die bereits in der 15. und 16. Auflage erscheinen.
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Untersuchungen zum normalen Ernährungszustand und fügte hinzu, dass im Falle eines Gewichts von 15 kg bei einjährigen Säuglingen keine weiteren Parameter erforderlich waren, um Übergewicht festzustellen, da es eindeutig zu hoch ausfiel. Auf die wenigsten Säuglinge und Kleinkindern um die Jahrhundertwende dürfte dies zugetroffen haben, gehörten doch die Zeiten von Unter- und Mangelernährung noch nicht lange und auch nicht grundsätzlich der Vergangenheit an (Hirschfelder 2002; Kleinschmidt 2008; Teuteberg 2002). Das Körpergewicht von Säuglingen überwachen War die Lebenserwartung Mitte des 19. Jahrhunderts im Deutschen Reich noch stark von einer hohen Säuglingssterblichkeit beeinflusst, konnte diese nach der Jahrhundertwende schrittweise rapide gesenkt werden (Vögele 2002). Die Erkenntnisse der noch jungen Ernährungsphysiologie trugen dazu bei, den Fokus auf die damals übliche Säuglingsernährung zu lenken, die im Gegensatz zur Muttermilch ein vielfach erhöhtes Krankheits- und Infektionsrisiko darstellte.31 Aufgrund der mangelhaften Kühlungsmöglichkeit der Säuglingsnahrung betraf dieses Risiko vor allem die so genannten Flaschenkinder (ebd.: 227, 230). Mit Hilfe von Aufklärungskampagnen – der so genannten Stillpropaganda – und Stillprämien sollte Abhilfe geschaffen werden, was sich zwar nicht kurzfristig, aber langfristig bemerkbar machte (ebd.: 232).32 Dadurch konnte ein Umdenken erreicht werden, das sich als generelles Wissen durchsetzte, so dass die Säuglingssterblichkeit bis Ende des 20. Jahrhunderts massiv zurückgegangen war.33 Dieser historische Sachverhalt spiegelt sich in den Publikationen zur Säuglingsernährung und -pflege Anfang des 20. Jahrhunderts wider. So wurde in medizinischen Lehrbüchern die Meinung vertreten, dass die Muttermilch die gesündeste Option für das Kind darstellte (Finkelstein 1921; Langstein/Mayer
31 „Die künstliche Ernährung (Schlossmann nennt sie die unnatürliche) kann die natürliche bisher nicht ersetzen.“ (Langstein/Mayer 1910: 76) 32 S. auch die Ausführungen des leitenden Arztes eines Kinderasyls in Berlin zur „Hygiene und Pflege des Säuglings“ in einem Ausstellungskatalog: „Die Trinkflaschen […] müssen sofort nach dem Trinken von allen gröberen und feineren Milchresten mit derselben Flüssigkeit mittelst Bürste oder Sand gesäubert werden. Nicht das allerkleinste Milchrestchen darf an der Flaschenwand zurückbleiben. Die Flasche muss wie eine Spiegelscheibe glänzen.“ (Cassel 1906: 268) 33 Ausführlich zur Säuglingsfürsorge und deren politischer Rolle Stöckel (2010). Zur positiven Rolle vom Stillen auf das Wachstum vgl. Martin (1928a: 305–309).
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1910).34 Das „mittlere Gewicht“ eines gesunden, neugeborenen Kindes fungierte als grober Orientierungswert für dessen Gesundheit (Langstein/Mayer 1910: 40). Erst das stetige Ansteigen des Gewichts im Zusammenspiel weiterer Beobachtungen und Indikatoren, wie die Körpergröße, sollten zu einer Aussage führen (Finkelstein 1921: 5–6; Langstein/Mayer 1910: 40–43; Oeder 1909: 461). In diesem Zusammenhang rekurrierten die Autoren auf Bezugsgrößen wie den Durchschnitt, das Normalgewicht und Mittel- und Durchschnittswerte für den Nahrungsbedarf der Säuglinge (Finkelstein 1921; Langstein/Mayer 1910).35 Was das Wiegen betrifft, legte Finkelstein (1921: 9) nahe, dass tägliches oder zweimal wöchentliches Wiegen eine gute Prognose ermöglicht. Bei Langstein/Mayer (1910: 52) findet sich ein Hinweis auf eine häufigere Wiegepraxis, allerdings in dem Spezialfall, wenn eine Amme das Stillen übernimmt. 36 Die Waage selbst nahm eine untergeordnete Rolle ein und wurde nicht wesentlich aufgegriffen (Finkelstein 1921: 143, 216; Langstein/Mayer 1910: 121). Allein in Ausstellungskatalogen zur Säuglingspflege und medizinischen Instrumenten findet sich die Waage häufiger: „Genau deren zahlenmässigen Aufschluss über sein Gedeihen [des Säuglings, Anm. DF] und vor allem über sein Wachstum und fortschreitendes Gewicht gibt uns allein die Wage, deren Anwendung heute lobenswerterweise in der Säuglingsstube kaum entbehrt werden kann. Jeder gesunde Säugling sollte einmal wöchentlich genau gewogen werden. Sein Gewicht soll in einer Tabelle notiert werden, damit man durch Vergleich mit Normalzahlen die regelmässige Entwicklung kontrollieren kann. […] (In Abteilung V sind verschiedene Modelle von Babywagen aufgestellt).“ (Cassel 1906: 270)
Daraus wird deutlich, dass die Baby- oder Kinderwaage zur Erstlingsausstattung gehörte und für das Kinderzimmer vorgesehen war – es gab bereits Waagen mit automatischen Elementen (ebd.; Dietrich et al. 1906: 204, 285, 287, 289). Im Fall der Säuglingsausstellung richtete sich diese in erster Linie an die Mütter und
34 Vgl. hierzu die Bibliographie zum Säuglingsschutz in Grotjahn/Kriegel (1907: 317– 322), welche die wichtige Rolle dieses Thema in der medizinischen und ernährungswissenschaftlichen Forschung, sowie in politischer Hinsicht widerspiegelt. 35 Finkelstein (1921: 7) bezog sich auf Quetelet. 36 Eine einfache Möglichkeit für Zuhause oder Hausbesuche des Arztes stellte eine kleine Taschenwaage („Pocket Baby Scale“) dar, in die ein Baby in einem Tragetuch gewogen werden konnte (Spicer 1915). Vgl. auch die Erwähnung einer „Taschen-Kinderwage“ für den professionellen Gebrauch in einem deutschen Ausstellungskatalog (Dietrich et al. 1906: 285).
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medizinisches Hilfspersonal, wie einleitend in einem solchen Katalog festgestellt wurde (Heubner 1906). In Krankenhäusern, Kinderkrippen und ähnlichen Einrichtungen war ein Wage- oder Wägezimmer üblich, in denen die Babys gewogen wurden (Gröer 1919; Klautsch 1906). Waagen wurden in Ausstellungs- und Warenkatalogen im Allgemeinen zusammen mit der medizinischen Spezialausstattung genannt (Dietrich et al. 1906: 176, 212, 275, 285; Medicinisches Waarenhaus AG 1910: 311; Windler 1912: 8, 978–981). Dieser Hintergrund, zusammen mit einer sinkenden Geburtenrate, führt zu dem Schluss, dass dem Körpergewicht, regelmäßigen Wiegen und der Ernährung der Säuglinge um 1900 eine wichtige Bedeutung beigemessen wurde (Vögele 2002: 226). Aus diesem Diskurs und den Ergebnissen der Korpusanalyse lässt sich ableiten, dass die Personenwaage historisch nach der Säuglingswaage anzusetzen ist und erst später bedeutsam wurde. Damit lässt sich auch der Umstand rekonstruieren, dass es Anfang des 20. Jahrhunderts zu keinen Erfindungen der Personenwaage kam. Eine bedeutsame Rolle der Medizin Parallel zum anthropometrischen Diskurs institutionalisierte sich eine Gesundheitsfürsorge, die sich nicht nur auf Säuglinge bezog, sondern insgesamt den menschlichen Körper mit statistischen Methoden betrachtete. 37 Gesundheit und Krankheit wurden vor diesem Hintergrund zu zwei Elementen, mit der die Medizin den menschlichen Körper klassifizierte. Die medizinischen Wissenschaften machten Gesundheit zu einem „Wert“, nach dem sich die „Lebensführung“ der Menschen richten sollte (Labisch 1992: 134). Der Körper wurde von nun an von der Medizin überwacht und hygienische Vorgaben sollten eingehalten werden, um dem Ideal eines homo hygienicus zu entsprechen (ebd.). Dieser kritische Begriff wurde von Alfons Labisch eingeführt und schließt die gesellschaftlichen Prozesse der Medikalisierung, Professionalisierung und Disziplinierung ein, die individuell bedeutsam wurden. Der Ausdruck umschreibt einen komplexen Vorgang, der sich im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts intensivierte und unter anderem eng mit der Etablierung der Gesundheitswissenschaften verbunden ist. Diese Entwicklungen konnten besonders deutlich durch die enorm wachsende Bevölkerung im Zuge der Industrialisierung in den Städten festgestellt werden. Krankheit sollte durch Gesundheit ersetzt oder ausgewechselt werden und wurde immer mehr zum nationalen und individuellen Wettbewerbsvorteil (ebd.: 107, 257; Winau 1983:
37 Der folgende, einseitige Abschnitt wird ausführlicher in Frommeld (2012, 2013) behandelt, s. hierzu Frommeld (2012: 189–191) sowie Frommeld (2013: 8–9).
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221). Eine standardisierte Betrachtung von Gesundheit und Krankheit in Form von Messen, Kontrollieren und Bewerten bestimmte von nun an die medizinische Wissenschaft. Kurven, Graphen und Zahlen beschrieben den idealen, aber auch den kranken Zustand. Diese Abläufe innerhalb von Anamnese, Diagnose und Therapie regelten, welche Verfassung als normal – also gesund – galt und welche Krankheit bedeutete. Auch alltagsweltliche Zusammenhänge absorbierte die medizinische Disziplin. Dazu gehörten Regelungen zur richtigen Ernährung oder hygienische Verhaltensweisen, aber auch die Disziplinierung von Kindern in der Schule, worauf bereits eingegangen wurde (Frommeld 2012: 190–191, 2013: 8–9). Um die Jahrhundertwende und in den Folgejahren gehörten Musterungen, Schuluntersuchungen und versicherungsmedizinische, kassen- oder betriebsärztliche Prüfungen zum Regelwerk des Alltags, woraus nach und nach Standards entwickelt wurden, an denen Individuen gemessen wurden (Spiekermann 2008: 44–45; Tauchnitz 1999: 138–142). Damit bestimmte der körperliche Zustand Gesundheit, wodurch beide Elemente, der Körper und die Gesundheit, zu einem gesellschaftlich bedeutsamen Moment wurden, das an biografisch entscheidenden Situationen des individuellen Lebens griff. So gaben Gottstein/Tugendreich (1921) im Jahr 1918 einen „Leitfaden für Verwaltungsmediziner, Kreiskommunalärzte, Schulärzte, Säuglingsärzte, Armen- und Kassenärzte“ mit konkreten Richtwerten zur Ernährung sowie anthropometrischen (hier als biometrisch beizeichneten) Leitlinien zur Vermessung individueller Körper heraus. Diese praktischen Anleitungen definierten die ärztlichen Aufgaben im öffentlichen Gesundheitswesen. Auf diese Weise wurden Gesundheits- und Körpernormen in Form von wissenschaftlichen Tatsachen sichtbar gemacht (Frommeld 2012, 2013; Merta 2002; Spiekermann 2008). Individuelle Risiken wie Krankheit, die Auffassung einer gesunden Ernährung und eines ebensolchen Lebensstils wurde auch in politischer Hinsicht mitgetragen und dadurch geprägt (Bergdolt 1999: 312; Grüne 2002: 188–190; Kleinschmidt 2008: 42–43; König 2008: 112–113; Rossfeld 2009: 36; Spiekermann 2008: 45; Tauchnitz 1999: 140– 142). Dazu zählte zum Beispiel die Einführung von Sozial- und Krankenversicherungen und Maßnahmen wie Lebensmittelkontrollen. Ein Beitrag der Medizin zum Schlankheitskult? In dieser Zeit setzte im Rahmen der Ratgeberliteratur und von Lebensreformbewegungen ein gesellschaftlicher Diskurs ein, der die gesunde Lebensführung in Form von Alltagshandlungen und eine entsprechende schlanke Linie der Mode propagierte (Alkemeyer 2007; Merta 2002, 2003). Die geschilderten Prozesse stellen kulturelle, politische und wissenschaftliche
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Entwicklungen dar, die dazu führten, dass das Bild von einem fülligen Körper im 20. Jahrhundert zunehmend negativ besetzt wurde. So wurde eine volle Körperform ernährungsphysiologisch nicht mehr als notwendig erachtet (Merta 2002, 2003; Thoms 2000). Ab etwa 1900 wurden auch leichte Formen von Übergewicht pathologisiert (Merta 2003: 314–315). Dementsprechend beschrieb der Internist Karl von Noorden (1858–1944) in seiner Abhandlung über die Fettsucht verschiedene Grade der Fettleibigkeit (Noorden 1900). In moderater Form legte Noorden bei 5 bis 15 kg über dem Durchschnitt nicht zwingend eine Entfettung nahe, „jedoch aus mancherlei äusseren Gründen“ wurde diese vor allem von Frauen nachgefragt und sei empfehlenswert, „um höheren Stufen vorzubeugen“ (ebd.: 93, 95). Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts führte Ernst Kretschmer (1888–1964) mit seiner Konstitutionsphysiologie emotionale und charakterliche Eigenschaften ein, die einem solchen Körperbau – dem Pykniker – eine gewisse Schwerfälligkeit und Neigung zur Depression diagnostizierte (Kretschmer/Kretschmer 1977: 113; Thoms 2000: 292). In diesem Duktus ist auch die bekannte, in mehrfacher Auflage erschienene Arbeit des Arztes Wilhelm Ebstein (1836–1912), seinerzeit Professor für Innere Medizin, über die Fettleibigkeit gehalten und machte einige Jahrzehnte vor Kretschmer das tendenziell phlegmatische Individuum selbst für das Übergewicht verantwortlich, das „reichlich und gut“ isst (Ebstein 1883: 10, 16).38 Auf die gesamte Bevölkerung bezogen, waren allerdings um die Jahrhundertwende hauptsächlich Angehörige der adligen und bürgerlichen Oberschicht von Übergewicht betroffen, die sich in Diätkuranstalten behandeln ließen (Merta 2003: 284, 314-315; Thoms 2000: 284). Erst ab etwa 1920 konnten Bemühungen um einen gesunden, schlanken Körper nachgewiesen werden, wofür im Alltag rigorose Diätkuren, Diätprodukte und das Wiegen standen, was sich aber noch nicht auf breiter gesellschaftlicher Ebene durchsetzte (Merta 2002: 204, 2003: 311–312; Spiekermann 2008: 50). Dieser beginnende, kritische Blick auf sich selbst fällt zeitlich mit den gesellschaftlichen Veränderungen zusammen, die das Konzept des präventiven Selbst beschreibt (Lengwiler/Madarász 2010b). Die Analyse zeigt, dass die geschilderten Diskurse noch nicht generell an die Personenwaage gekoppelt waren, was auf einen Strang hinweist, der sich erst in der Folgezeit mit der Personenwaage verbunden haben muss. Damit erklärt sich einmal mehr das Fehlen von Patentdokumenten vor 1919. Die Sorge um die Säuglingssterblichkeit und überhaupt die Ernährung allgemein lässt sich auch auf Zeiten von Kriegen und politischen Krisen, die daraus folgenden knappen
38 Vgl. auch die Beispiele, die Ebstein (1883: 7–9) zitiert und die für die kulturellen Vorurteile gegenüber übergewichtigen Personen stehen.
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Nahrungsbestände, Unterernährung und Hungersnöte übertragen (Weingärtner/Trentmann 2011). So wurde im Jahr 1924 bei Schülermessungen darauf hingewiesen, dass untergewichtige Kinder „häufiger als in Jahres- oder Halbjahresintervallen einer Wägung unterzogen werden“ sollten, was einer Sorge um die Gesundheit, Entwicklung und den Ernährungszustand gleichkommt (Martin 1924: 26). Mit dem Wiegen und der Waage müssen also in solchen Kontexten andere Motive als die Verminderung von Übergewicht verbunden gewesen sein, die in der Folge aber auch nicht zu Patenten oder Gebrauchsmustern der Personenwaage geführt haben.39
DIE EINFÜHRUNG VON ERSTEN ÖFFENTLICHEN WAAGEN Nationalismus und Militarismus waren Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts der ideologische und politische Hintergrund, das den wissenschaftlichen Diskurs bei der Erkundung, Erfassung und Systematisierung der Daten über den Menschen prägte. Im Wettkampf um Land und Ressourcen galt die Musterung von fähigen Rekruten als wichtige Maßnahme für die „Wehrkraft“ einer Nation (Hartmann 2011: 8, 199). Die Kriterien, die einen guten Soldaten bestimmen sollten, changierten allerdings, außerdem folgten Messmethodik und die Messinstrumente noch keiner einheitlichen Richtlinie (ebd.: 8; Jaeger et al. 2001: 253; Jäschke 1991). Dies spiegelt sich auch in der Literatur wider. Es ist davon auszugehen, dass die Untersuchungen in der Regel von Militärärzten durchgeführt und die jungen Männer meistens zwischen dem 18. und 20. Lebensjahr untersucht wurden (Hartmann 2011: 102, 110; Jaeger et al. 2001: 253; Jäschke 1991: 83). Die Ärzt*innen hatten letztlich einen gewissen Spielraum in ihrer Entscheidung, welche Personen zur Armee zugelassen wurden
39 Auf den praktischen Einsatz der Waage kann hier nicht eingegangen werden, da es an dieser Stelle um die Rekonstruktion der Gründe für ausgebliebene Patentdokumente geht. Es sei aber auf Darstellungen der historischen Situation zu Zeiten des Ersten und Zweiten Weltkrieges verwiesen (Eckart 2014; Spiekermann 2008; Thoms 2015; Kleinschmidt 2008). Daraus wird deutlich, dass sich der gesellschaftliche, wissenschaftliche und politische Diskurs zwischen dem Ausbrechen des Ersten Weltkrieges bis zur allmählichen Besserung der Versorgung nach dem Zweiten Weltkrieg weniger um ein deutlich kommuniziertes Schlankheitsideal drehte, sondern mehr um die Sicherstellung der Grundversorgung und Leistungsfähigkeit der Bevölkerung.
164 | Die Personenwaage
und welche nicht (Hartmann 2011: 132–134). Allerdings sind die damals gewonnenen Daten nicht exakt im heutigen Sinne erhoben worden und daher nur bedingt vergleichbar.40 So fehlte vermutlich eine durchgängige Eichung der Instrumente (Jaeger et al. 2001: 253; Jäschke 1991: 82). 1799 wurden zwar UrMeter und Ur-Kilogramm in Paris festgelegt, dies sagt jedoch noch nichts über deren tatsächliche Anwendung aus (Baumgarten 2010; Schneider et al. 2012). In Baden-Württemberg existierte gegensätzlich zur sonst üblichen Praxis bereits sehr früh, im 16. Jahrhundert, eine Vorschrift, die besagte, dass einheitliche Maße zu verwenden seien. Das Land folgte circa 200 Jahre später den Pariser Werten. In Preußen wurde 1816 eine „Anweisung zur Verfertigung der Probemaße und Gewichte nach § 1 der Maß- und Gewichtsordnung der vom 16ten Mai 1816“ herausgegeben, die sämtliche in Preußen zu verwendende Maße und Gewichte festlegte und alle anderen Definitionen ausschloss (Baumgarten 2010: 12, Herv. i. O.). Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurde das metrische System allmählich im ganzen Reiche wirksam eingeführt. In der Folge wurden standardisierte Maßeinheiten 1875 in einigen europäischen Staaten diskutiert und 1893 in Deutschen Reich festgelegt (Schneider et al. 2012; Vieweg 1962). Seit 1908 gilt die Maß- und Gewichtsordnung vom 30. Mai 1908, die im gesamten Deutschen Reich eingeführt wurde (Block 1928: 25–26). Die amtliche Vorschrift des Eichens Kontrolliert wurden zunächst nur Waagen, das heißt Gerätschaften, die zum Wiegen notwendig waren (Baumgarten 2010; Schneider et al. 2012). Dazu zählen die beim Wiegen eingesetzten Gewichte. Baumgarten (2010: 9) vermutet, dass „Längen- und damit auch Volumenmaße vom Käufer eher kontrollierbar waren als Waagen und Gewichte. Schließlich gab es Längenmaße zum Vergleichen vielfach in öffentlichen Bereichen.“ So stellten Eichämter vielfach Vergleichslängenmaße wie Fuß und Elle auf (ebd.: 12). Damit wird angedeutet, wie wichtig einerseits die Einhaltung des korrekten Maßes angesichts zunehmender wirtschaftlicher Aktivitäten wurde und andererseits, welche bedeutende Rolle dem Moment des Messens zugeschrieben wurde. Darüber hinaus entstand vor dem Hintergrund der Industrialisierung und sozusagen anonym produzierender Firmen – gegenüber lokalen Einzelproduzent*innen wie Landwirtschaft- und Kleingewerbetreibende – auch ein Interesse daran, die
40 Über die Probleme, wie sie von den Ärzt*innen bei den Musterungen geschildert werden, berichtet Hartmann (2011: 140–141) ausführlich.
Die Vorgeschichte eines Wissensregimes | 165
Verbraucher zu schützen (Schneider et al. 2012: 17).41 Die geprüften Teile, beispielsweise von einer Waage, wurden bereits Ende des 18. Jahrhunderts in Preußen mit einem Stempel gekennzeichnet und eine „Messgerätekartei“ angelegt (Baumgarten 2010: 9–10). Die Kontrolle wurde in einem halbjährlichen bis jährlichen Abstand durchgeführt und zu Beginn jedes Durchgangs eine öffentliche Vergleichswägung mit den verwendeten Eichnormalen arrangiert (ebd.: 10). Der Ablauf von Prüfung, Justierung und Stempelung war stets derselbe und schloss auch Waagen und Gewichte von Privathaushalten ein. Der beschriebene Vorgang des Eichens deckt sich mit den Beschreibungen zum Lemma „Eichen“ in „Meyers Konversations-Lexikon“ (1886: 357–358).42 Zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurden in ganz Baden-Württemberg 141 Eichstellen mit 19 Eichämtern als Teil des staatlichen Behörden- und Ämterwesens eingeführt (Schneider et al. 2012: 13). Was zuvor so genannte Wagmeister kontrollierten, war jetzt unter staatlicher Aufsicht ein standardisiertes und geregeltes Vorgehen, das bis heute im Prinzip gleich geblieben ist (Baumgarten 2010; Schneider et al. 2012). Für die Festlegung, ob ein Gerät oder Maß, das geeicht werden sollte, der Vorschrift entsprach, benötigte man einen Bezugswert, wozu die Eichnormale beziehungsweise Ur-Normale fungierte (Baumgarten 2010). Die Etablierung des Begriffs der „Norm“ verlief parallel zur Einführung einheitlicher Gewichte und Maße und des Eichwesens. Verfolgt man diese Entwicklung in den heute verfügbaren, historischen Enzyklopädien, ist eine sehr frühe Erwähnung im „Universal-Lexicon“ von Zedler zu finden: „Norma, […] vorgeschriebene Regel oder Gesetz, welches man genau zu beobachten und nicht darwider zu handeln hat“. (Zedler 1740a: 1311) Ergänzend wird auf die Einträge „Richtschnur“ und „Winckelhaken“ hingewiesen, was wiederum den Bezug zur Eichung bestätigt. Die „Oeconomische Encyclopädie“ von Johann Georg Krünitz (1728–1796) weist bereits mehrere Artikel auf, die dem Lemma „Norm“ untergeordnet sind (Krünitz 1806: 669–679)43. Ähnlich wie in Zedlers „Universal-Lexicon“ gestaltet sich die
41 Vgl. dazu auch die Internetseiten der Verbraucherzentrale Niedersachsen (2016), insbesondere die Ausführungen zur Geschichte des Verbraucherschutzes. 42 Die folgenden Recherchen in verschiedenen, historischen Lexika gehen auf Vorarbeiten zurück. Hier wird ein Vorgehen angewendet, wie es verkürzt in Frommeld (2012, 2013) Anwendung fand sowie ausführlicher in Frommeld (2010), hier ergänzt durch „den Krünitz“. Vgl. auch (Hacking 1999: 160–162), (Hess 1997a: 9–11) und (Link 2009: 193–194). 43 „Der Krünitz“ ist wie auch „der Zedler“ eines der wichtigsten historischen, im deutschsprachigen Raum erschienenen Nachschlagewerke. Krünitz führt die folgenden
166 | Die Personenwaage
Erklärung der Norm, die eine Vorschrift, Regel und Richtschnur bedeutet.44 Mitte des 19. Jahrhunderts fällt bereits eine differenziertere Erklärung in der ersten Ausgabe von „Das große Conversations-Lexicon“ (1853) auf, das später als Meyers Konversations-Lexikon bekannt wurde: „Norm“: „(v. lat. „norma“) 1) Richtmaß, Winkelmaß; – 2) Richtschnur, Regel, Vorschrift, Muster; daher normal, was regelrichtig, einem gegebenen Muster oder einer gefassten Idee von Vollkommenheit entsprechend ist.“ (Ebd.: 1093) Die Erklärung von dem, was normal ist, liest sich aus dieser Definition – ein separates Lemma „normal“ weist diese Ausgabe noch nicht auf. Erst in der sechsten Auflage findet sich zwar dezidiert eine Nennung, jedoch mit Verweis auf den Wortstamm „Norm“, das heißt die Bedeutung dieses Lemmas wird lediglich über den Begriff „Norm“ greifbar: „Normal, s. Norm“ (Meyers Großes Konversations-Lexikon 1908: 780). Zu den verschiedenen Komposita, die wiederum der Krünitz fast exakt hundert Jahre zuvor aufgeführt hat, sind einige Begriffe hinzugekommen.45 Sie zeigen auf, wie alltagsweltliche Gegenstände, Bereiche und Erfahrungswerte definiert, genormt oder geeicht wurden. Vor allem das Lemma „Normalisierung“ sticht heraus: „Gleichmachung ähnlich beanspruchter Konstruktionsteile im Maschinenbau, ermöglicht die Auswechslung von unbrauchbar gewordenen Maschinenteilen“ (ebd.: 781). Was auf den ersten Blick eher aus dem Kontext der Industrialisierung und Diskurs der Ingenieurswissenschaften entnommen zu sein scheint, lässt sich auf den zweiten Blick als eine Parallele zur historischen Entwicklung entschlüsseln. So zeigte sich die Tendenz, angetrieben durch den Prozess der Industrialisierung, wie durch die gesellschaftliche Normalisierung eine
Art. auf: „Normalbreite“, „Normalbücher“, „Normalgeschwindigkeit“, „Normaljahr“, „Normalkraft“,
„Normallinie“,
„Normalmaß“,
„Normalpuls“,
„Normalschule“,
„Normaltemperatur“, „Normalthermometer“ sowie „Normaltiefe“ (Krünitz 1806: 669– 679). 44 Eine zweite Bedeutung geht in eine andere Richtung: „Der abgekürzte Titel eines Buches, welchen die Buchdrucker unter jede erste Seite eines Bogens zu setzen pflegen, und auch verderbt Wurm nennen“ (Krünitz 1806: 669). 45 Einige
Beispiele
daraus
sind
„Normalarbeitstag“,
„Normalbarometer“,
„Normaleichungskommission“, „Normalgewicht“, „Normaltarife“, „Normalvieh“, „Normaluhr“ und „Normalwerte“ (Meyers Großes Konversations-Lexikon 1908: 781). Der Begriff „Normalgewicht“ bezog sich noch nicht auf die heutige Bedeutung, nämlich ein Körpergewicht, das einem durchschnittlichen Körpergewicht für eine bestimmte Körpergröße entspricht, sondern auf ein geeichtes Gewicht (Meyers Großes Konversations-Lexikon 1908: 781).
Die Vorgeschichte eines Wissensregimes | 167
Blickrichtung geschaffen wurde, durch welche die Umwelt allmählich wahrgenommen wurde (Frommeld 2012: 187, 2013: 7). Diese veränderte Wahrnehmung umschloss immer mehr Bereiche, die zuvor nicht exakt definiert waren. Der tägliche Rhythmus war zuvor geprägt von einem Verständnis einer natürlichen, gottgegebenen Ordnung, nach der sich das Leben richtete (Frommeld 2012, 2013). Gepaart mit den Erfahrungen, die unter den Generationen weitergegeben wurden, leiteten sich hiervon allgemeine Regeln ab, nach denen der Tag und die Woche abliefen. Eine genaue Ausdifferenzierung, wie es ein „Normalarbeitstag“, eine „Normaluhr“, „Normalmaße“ oder eine „Normalschule“ vorschrieb, existierten für den Großteil der Bevölkerung, die auf dem Land als Bäuer*innen oder in der Stadt als Arbeiter*innen lebten, aber auch für die Bürger*innen in den wachsenden Metropolen, bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in dieser Form noch nicht. Betrachtet man im weiteren historischen Verlauf in Lexika zum Beispiel wiederum die Prävalenz der Lemma, die sich auf „Norm“ beziehen, wird sichtbar, wie sich die Begrifflichkeit der Norm, eingeschlossen ihrer Dimensionen, nach und nach sukzessive mehren und in den gesellschaftlichen Diskurs diffundierten.46 Zugrunde liegend war eine immer konkretere Vorstellung von Normalität, eine Auffassung von dem, was dem Durchschnitt entsprach. Über einen wissenschaftlichen Diskurs, der in einen allgemeinen Diskurs und das Alltagsverständnis eingegangen ist, wurden die Auffassungen und Einstellungen der Menschen zunehmend dadurch geprägt, Normalität differenziert wahrzunehmen. Gleichzeitig wurde es individuell immer wichtiger, Abweichungen zu vermeiden (Frommeld 2012, 2013; Link 2009; Tauchnitz 1999). Der Ausdruck Normalisierung des Lebens fügt sich in diese gesellschaftlichen Veränderungen ein. Damit war das Normale zu einer Bemessungskategorie geworden und der Grundstein gelegt für eine Einführung der ersten Waagen, auf denen Personen gewogen werden konnten, worauf der nächste Abschnitt eingeht. Für solche Messungen wurden zum einen standardisierte Maße und -einheiten benötigt, zum anderen Vergleichswerte wie Durchschnitts- oder Normalwerte, damit Aussagen über das Gewicht eines Menschen gemacht werden konnten. Erst die Verschmelzung dieser Werte mit den damit verbundenen Meinungen, Definitionen, Richtlinien, Werte und Normen konnte festlegen, ob das Körpergewicht richtig, normal oder gesund war.
46 „Der große Herder“ (1934) zählt 53 Lemmata auf, die „Brockhaus Enzyklopädie“ (1971) sogar 58 und eine Ausgabe des „Brockhaus“ aus dem Jahr 2006 67 Lemmata (2006).
168 | Die Personenwaage
Die Rolle von öffentlichen Personenwaagen Im Fokus dieses Abschnittes stehen die Vorläufer der heute bekannten, zum Beispiel in Privathaushalten genutzten Personenwaagen. Diese Zeit, auf welche die Anfänge des Personenwiegens zu datieren sind, ist in der Literatur bisher noch nicht ausführlich untersucht worden und deshalb nur spärlich belegt. Aus diesem Grund sind die Quellen nicht auf den deutschsprachigen Raum begrenzt, wenngleich versucht wird, diese frühe Geschichte in Deutschland zu rekonstruieren. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kamen öffentliche Personenwaagen auf (Knoop 1986; Levine 2008; Payer 2012; Sanders 1960). Als Vorläufer dieser noch schweren und massiven Wiegeinstrumente gelten Gepäckwaagen oder Waagen für diverse, andere Lasten im Bereich der Eisenbahnbeförderung (Levine 2008). Auf Messen und (Welt-)Ausstellungen wurden diese für den Handelsverkehr bestimmten Waagen präsentiert und als eine Art Marketingstrategie konnten schaulustige Personen sich wiegen lassen, wie ebd. (2008: 84, 88–90) für den US-amerikanischen Raum ausführt. Damit sollten mögliche Kunden gewonnen werden, da die Waagen auch für den Einsatz in Geschäften und landwirtschaftlichen sowie industriellen Betrieben bekannt gemacht werden sollten. In öffentlichen Räumen wurden öffentliche Wiegestationen, an denen Gepäck, aber auch Personen sich selbst wiegen konnten, zur Attraktion. Um das Jahr 1890 wurden kleinere Waagen hergestellt und auf geringere Gewichte bis 150 kg oder weniger ausgelegt (ebd.: 94). Dies legt nahe, dass diese Waagen nun auf das Wiegen von Personen spezialisiert wurden. Ähnliches berichtet Payer (2012) für den deutschsprachigen Raum. Im Jahr 1888 wurde die erste öffentliche Personenwaage auf einer der damals üblichen Gewerbe-Ausstellungen präsentiert und in Wien auf dem Prater platziert. In den nachfolgenden Jahrzehnten wurden Personenwaagen an öffentlichen Plätzen wie Bahnhöfen oder (Markt-)Plätzen aufgestellt. Solche Automaten kamen Ende des 19. Jahrhunderts auf und verbreiteten sich, ausgehend von den USA, in größeren Städten Europas (ebd.: 309). Diese Geräte funktionierten mittels Münzeinwurf, erbrachten Dienstleistungen und existierten in vielfältigen Ausführungen. Neben Schuhputzautomaten waren es auch die Personenwaagen, die als Automaten hergestellt wurden (Gierlinger 1989). In diesen Zeitraum fällt auch das erste Patent, das in der Datenbank des DPMA gefunden werden konnte.47 Weil es im virtuellen Korpus, chronologisch betrachtet, isoliert stand, soll dieser „Waarenverkäufer mit Personenwaage“ an dieser Stelle in den historischen Zusammenhang eingeordnet werden (A6). Es stammt aus dem Jahr 1889 und wurde von Frederick Foster angemeldet. Im 47 Vgl. Kapitel 3.2.
Die Vorgeschichte eines Wissensregimes | 169
Inneren der mechanischen Waage befand sich die Vorrichtung einer Brückenwaage, die mit einer Plattform verbunden war. Eine Feder hielt den Zeiger und war mit einem Stift verbunden. Wenn also eine Person auf die Plattform stieg und eine Münze in den Einwurfschlitz warf, wurde ein Behälter mit einem Gegenstand bewegt und dieser frei gegeben. Gleichzeitig wurde durch die Belastung der Plattform das Körpergewicht angezeigt. Die folgende Abbildung (Abb. 7) zeigt die damals üblichen, enormen Ausmaße eines solchen historischen Warenautomaten mit Personenwaage. Abbildung 7: Selbsttätiger Waarenverkäufer mit Personenwaage (1899)
Quelle: A6: 3
In den Jahren 1886 bis 1899 konnten dreizehn andere solche Automaten im damaligen Deutschen Reich ausfindig gemacht werden (Tab. 6).48
48 Fehlende oder divergente Angaben in den Datensätzen der DPMA wurden ergänzt (A1; A2; A3; A5; A6; A7; A8; A9; A11; A12; A13; A14) beziehungsweise gekürzt (A1; A2; A3; A5; A7; A8; A10). Die Majuskelschrift bei den Inhaber*innen in der DPMATabelle wurde für eine leichtere Lesbarkeit angepasst (A1–A10).
170 | Die Personenwaage
Tabelle 6: Waagen vor 1919 Lfd. Nr. A1
Anmeldedatum 21.08.1886 [22.08.1886]
A2
01.02.1887 [02.02.1879]
E. C. marc [Marc] in Paris […]
A3
14.04.1887 [15.04.1887] 22.12.1887
H. E. Schmidt in Berlin SW […] C. Bach in St. Gallen, Schweiz
A5
05.12.1888 [06.12.1888]
E. G. Colton in Hendon […] und J. Glover in London […]
A6
07.12.1889 [08.12.1889]
F. Foster in London
A7
27.03.1890 [28.03.1890]
E. C. Marc in Paris […]
A8
06.05.1890 [07.05.1890]
O. Wagon in Berlin N. […]
A9
02.07.1890 [03.07.1890]
A10
10.06.1892 [11.06.1892]
J. Müller in Köln und P. Müller in KölnEhrenfeld Firma Schaefer & Reiner in KölnEhrenfeld […]
A4
Anmelder/Inhaber
Titel
G. Salter von der Firma George Salter & Co. […], England
Waage mit einer durch das Gewicht einer Münze auslösbaren Sperrvorrichtung Waage, welche Marken mit gedruckter Gewichtsangabe automatisch vertheilt Selbsteinkassirende Waage Selbsteinkassirender Kraftmesser und Wägeapparat Waage, verbunden mit einem pneumatisch betriebenen, durch eine Münze auslösbaren Verkaufsapparat Selbsttätiger Waarenverkäufer mit Personenwaage Selbsteinkassirende Waage mit Markendruck und Ausgabevorrichtung Selbsteinkassirende Waage, welche das Gewicht durch gedruckte Karte anzeigt Selbsttätige Waage mit Selbstverkäufer Selbsteinkassirende Waage
Die Vorgeschichte eines Wissensregimes | 171
Lfd. Nr. A11
Anmeldedatum [19.06.1894]
A12
[16.11.1895]
A13
[24.04.1896]
A14
[28.09.1899]
Anmelder/Inhaber
Titel
[Hermann Seifert und Gustav Jäger in Gera (Reuss)]
[Selbstkassierende Personenwaage mit Gewichtsbescheinigung und mit Laufwerk und Schaubilder, Musikwerk u. dgl.] [Selbstkassirende Personenwaage]
[Otto Schulze in Guben und Fritz Pfeffer in Berlin] [Th. Schindlböck in München] [Frau T. Frederichsen in Moskau]
[Selbstkassirer mit Reklamevorrichtung] [Fußbankwaage]
Die Aufstellung zeigt die Variationen solcher (Wiege-)Automaten und gibt einen Einblick in frühe Patentdokumente und Geschehen auf dem deutschen Erfindermarkt. Die Überprüfung der Datensätze ergab, dass alle Waagen tatsächlich als Neben- oder Haupteffekt das Gewicht von Personen messen sollten. Allein durch die Nennung des Begriffs „Person“ in der Beschreibung des Patents kann noch nicht gewährleistet werden, dass dieser Vorgang gemeint war. Diese frühen Datenbankeinträge demonstrieren, dass das Patent von Frederick Foster aus London in eine ganze Reihe von Erfindungen eingebettet war, die Automaten betrafen, bei denen durch Münzeinwurf Waren verkauft, das Körpergewicht gemessen, bewegliche Reklamebilder angezeigt oder Musik abgespielt werden sollte. Die Erfindung vom 19. Juni 1894 sollte diese Vorgänge beispielsweise mit einer oder einigen wenigen Münzen möglich machen (A11). 49 Das Patent von Colton und Glover aus dem Jahre 1888 gab nach dem Einwurf Süßigkeiten und Tabak aus, das Wiegen lief parallel dazu und kostenlos ab (A5). Die Attraktivität und Attraktion der Automaten konnte durch solche Effekte gesteigert werden, die im Fall dieser Waage parallel zum Wiegen abliefen.50
49 Vgl. hierzu auch Gierlinger (1989: 105–109). 50 Der Fabrikant Stollwerck führte beispielweise in seinem Produktkatalog der Jahre 1895/96 Waagen auf, die Personen wogen und gleichzeitig aus dem Automateninneren Schokolade oder Postkarten freigaben (Gierlinger 1989: 105–106). Ähnliches berichtet Levine (2008: 89–90). Gleichzeitig mit dem Wiegen konnten in den USA Postkarten erworben werden, die mit dem Körpergewicht und Bildern (Waagen oder
172 | Die Personenwaage
Bezeichnend ist, dass ab dem Jahr 1894 die Personenwaage häufiger mit im Titel der Patentschrift genannt wurde, während zuvor das Wiegen von Personen lediglich in der Beschreibung des Patents aufgeführt wurde. Die Rolle des Wiegens von Waren wurde dabei gleichauf mit dem Wiegen von Personen erwähnt (A2: 1; A5: 1). Scheinbar ist die öffentliche Personenwaage in der Geschichte der Münzautomaten ein eigenständiger Gegenstand geworden. Erwähnt werden sollen auch die Waagen, die das Gewicht auf Karten aufdruckten. Diese Karten konnten anschließend als Souvenir mitgenommen werden. Die erste einer solchen Erfindung ist in dieser Auswahl im Jahr 1887 belegt (A5). Diese Waage ist technisch bereits sehr ausgefeilt und beinhaltet eine zehnseitige Beschreibung der Vorgänge. Gleichwohl war das Wiegen auf solchen Personenwagen Teil des öffentlichen Geschehens und im ausgehenden 19. Jahrhundert überall eine Sensation (ebd.; Payer 2012). In einigen luxuriösen US-amerikanischen Hotels oder Salons und Wohnzimmern von wohlhabenden US-Amerikaner*innen fanden sich nach und nach Waagen, allerdings war das Wiegen auch dort ein gesellschaftliches Ereignis, wie Levine (2008: 96–97) berichtet. Auch in zahlreichen deutschen Städten wie Düsseldorf, Göttingen, Hannover, München und Berlin konnten automatische Waagen in Gaststätten ausprobiert werden (Gierlinger 1989: 105; Kemp 1989: 18–19; Payer 2012: 309). Die Erfindungen, die in Deutschland angemeldet wurden, stammten, wie die Tabelle weiter oben (Tab. 6) anschaulich zeigt, in mehreren Fällen aus dem Ausland.51 In Deutschland waren vor allem die so genannten „Stollwerck-Automaten“ verbreitet, die auch ab dem Jahr 1890 als Waagen ausgestattet waren (Hepner 1989: 31–33; Kemp/Gierlinger 1989: 356). Diese erste Hochphase der Waage, die Ende des 19. Jahrhunderts begann, endete bereits im Jahr 1900. Bis in das Jahr 1918 wurden keine neuen Erfindungen mehr angemeldet. Dieses Verschwinden des Apparats resultierte aus der Besteuerung und Genehmigungspflicht der Münzautomaten sowie deren Verbot in den ersten Jahren des neuen 20. Jahrhunderts (Kemp 1989: 23–24). Diese staatlichen Maßnahmen wirkten sich von der Erfindung bis zur Herstellung auf die Automatenindustrie aus. Anfang des 20. Jahrhunderts können wiederum einige
Gewerbeausstellungen) bedruckt waren. Die aufgeführten Patentdokumente in Tab. 6 behandeln Postkarten nicht direkt. In der wenigen vorhandenen Literatur wurde eine solches Modell aber in Deutschland von Gierlinger (1989: 105–106) belegt. Mit den Ausführungen von Hepner (1989) in Bezug auf die Aktivitäten der Firma Stollwerck und deren (inter-)nationale Rolle in Bezug auf die Automaten ist es aber denkbar, dass solche Modelle auch in Deutschland aufgestellt wurden. 51 Vgl. hierzu auch die Beiträge von Hepner (1989) sowie Kemp (1989).
Die Vorgeschichte eines Wissensregimes | 173
wenige neue Produkte in medizinischen Warenkatalogen nachgewiesen werden, was darauf schließen lässt, dass die Waage in dieser Zeit zwar für medizinische Zwecke, aber nicht als Automat nachgefragt war und in dieser Form auch keine Herstellung geplant war (Medicinisches Waarenhaus AG 1910; Windler 1912). Festzuhalten ist an dieser Stelle, dass die großformatigen Waagen zunächst hauptsächlich für Industrie und Handel entwickelt wurden (Levine 2008: 84). Es waren betriebswirtschaftliche Motive und Interessen, die zu einem kurzen Aufschwung der öffentlichen Personenwaage führten. Eine Ausnahme unter diesen Erfindungen kurz vor Ende des 19. Jahrhunderts bildet eine so genannte „Fußbankwaage“ (A14). Es handelt sich dabei um die einzige Erfindung, die in diesem Zeitraum ein sehr viel kleineres Gerät vorstellt, aber (auch) Personen wiegen sollte. Zudem wurde dieses Instrument in den Dienst der Gesundheitsüberwachung gestellt. Diese Waage greift den zukünftigen Entwicklungen vorweg, weshalb darauf nicht näher eingegangen werden soll. Die Vorgeschichte der Personenwaage gilt hiermit als abgeschlossen. Festgehalten werden kann, dass es bei den vorgestellten Warenautomaten nicht um das Vermessen von Soldaten, Säuglingsfürsorge oder medizinische Indikationen ging, die dazu führten, dass eine Ärzt*in Personen wog. Das Körpergewicht und dessen Kontrolle, sei es in Form von Übergewicht oder Magerkeit, was durch zu viel oder zu wenig Nahrung hervorgerufen wurde, stand hierbei nicht im Fokus. Bei den öffentlichen Waagen wurde eine spielerische Selbstvermessung praktiziert.
5
Das Wissensregime von Zeiger und Display Die Personenwaage wird privat (1919–1989)
In diesem Kapitel werden die Samples vorgestellt, mit denen die Entwicklung der Personenwaage zwischen 1919 und 1989 rekonstruiert wird. Dazu werden die Dokumente zunächst chronologisch nach Jahrzehnten gebündelt, um diese anschließend nach inhaltlichen Kriterien zu strukturieren und zu systematisieren. Bei der näheren Untersuchung der einzelnen Samples stellen sich unterschiedliche Varianten der Personenwaage heraus. Jedes der folgenden Kapitel widmet sich einer Ausführung, wobei im ersten Abschnitt (Kap 5.1) drei Sonderfälle und im zweiten (Kap. 5.2) eine einzige Variante untersucht werden. Die Ausführungen, welche als erstes behandelt werden, unterscheiden sich in wesentlichen Punkten von einem dominanten Typus der Personenwaage. Mit der Genealogie dieses Messinstruments sind Prozesse gesellschaftlicher Modernisierung verbunden, die greifbar werden, wenn diese im Verlauf betrachtet und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Konkret bedeutet dies, solche Transformationen, die mit dem gesellschaftlichen Wandel in den letzten beiden Jahrhunderten zusammenhängen und die als erste theoretische Ergebnisse vorgestellt wurden (Technisierung, Individualisierung, Normalisierung und Medikalisierung sowie Ästhetisierung) (Kap. 3.3), dezidiert den Überlegungen der Erfinder gegenüberzustellen. Tatsächlich bestätigen sich alle Eigenschaften des Instruments, die in Form von Indikatoren eingeführt wurden. Drei Ausführungen der Personenwaage Die Analyse der Patentdokumente beginnt mit dem Patent, das am 24. August 1919 (K1) angemeldet wurde. Dieses Sample wird auf die Zeit bis zum 10. Juni 1959 (K35) begrenzt. Von insgesamt 35 Patentdokumenten1, die das konkrete 1
K1 bis einschließlich K35.
176 | Die Personenwaage
Korpus in dieser Entwicklungsphase enthält, zählen 22 zu den öffentlichen Personenwaagen2. Bereits die Grobanalyse deutete die Dominanz der Automaten in diesem Zeitraum an, denn hier stehen sieben öffentliche Personenwaagen3 zwei anderen Ausführungen gegenüber. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und vor allem in den so genannten Goldenen Zwanzigern erlebten die Automaten einen Aufschwung (Kemp 1989: 23–24; Kummer 1988: 264–265). Allein in den Jahren zwischen 1926 und 1929 wurden zehn Erfindungen angemeldet.4 In die Zeit zwischen 1919 und 1934 fallen 17 öffentliche Waagen.5 Zwischen dem 13. Oktober 1934 (K18) und 25. Oktober 1949 (K19) liegt kein Patent oder Gebrauchsmuster vor. Dieser Effekt lässt sich historisch erklären, denn ab 1934 griff wiederum der Staat in das Automatengeschäft ein und reglementierte dieses stark (Kemp 1989: 24; Kummer 1988: 265). Daraufhin ging die Herstellung deutlich zurück, was sich im Ausbleiben von Erfindungen widerspiegelt. Der Zeitabschnitt beginnt kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs6 und endet in den ersten Nachkriegsjahren, womit sich diese Innovationspause auch in kriegswirtschaftlicher Hinsicht erklären lässt. Ab etwa 1934 setzte aber auch eine längere Phase ein, die von knappen Lebensmittelbeständen und einem Mangel spezifischer Nahrungsmittel gekennzeichnet war und bis Ende der 1940er Jahre andauern sollte (Berghoff 2009; Kleinschmidt 2008; König 2000, 2008; Rossfeld 2009). Zwischen 1945 und 1948 war es der DPMA als Reichsbehörde untersagt, im Rahmen ihrer Aufgaben zu agieren (DPMA 2016a). Angesichts dieser Problematiken lässt sich diese Lücke nachvollziehen. Wären Patente oder Gebrauchsmuster im Bereich der Personenwaage angemeldet worden, hätten diese in einem Diskurs verortet werden müssen, der mit der Sorge um den Ernährungszustand der Bevölkerung und insbesondere um Säuglinge und Kinder einherging. Jedenfalls finden sich auch in historischen Warenkatalogen von Firmen wie B. Braun Melsungen oder
2
Dies betrifft, stets in chronologischer Reihenfolge nach dem Anmeldedatum sortiert, die Erfindungen K1 sowie K3 bis einschließlich K18. Nach 1934 wurden noch K20, K21 und K22 sowie K24 und K33 angemeldet, die ebenfalls als öffentliche Personenwaagen gelten.
3
K1, K3, K4, K14, K15, K20 sowie K21 versus K2 und K19.
4
K3 bis einschließlich K13.
5
K1, K3 bis einschließlich K18.
6
1933 kam es zur Machtergreifung durch die Nationalsozialisten. Der danach propagierte Körperkult und die (möglichen) Verbindungslinien zur Waage während dieser Zeit stellen keinen Gegenstand dieser Arbeit dar, da zwischen 1935 und 1945 keine Erfindungen angemeldet wurden.
Das Wissensregime von Zeiger und Display | 177
Aesculap AG, die in dieser Zeit medizinische Instrumente herstellten, keine (Personen-)Waage (Aesculap AG 1937b, 1937c, 1937d, 1937a; Braun 1939).7 Vor diesem Hintergrund kann gefolgert werden, dass die Waage zur Kontrolle von Übergewicht zwischen 1934 bis 1949 keine größere Rolle gespielt hat.8 Bei der Strukturierung der Patentdokumente, die sich nicht als öffentliche Personenwaage bestimmen ließen, konnte eine zweite Variante des Instruments ermittelt werden. Die einzelnen Vertreter ähneln einander in Kriterien, welche die äußere Form betreffen und unterscheiden sich darin wesentlich von der öffentlichen Personenwaage. Aufgrund dieser Typologie kann von zwei Entwicklungssträngen in der Genealogie der Personenwaage zwischen 1919 und 1959 gesprochen werden, auch wenn diese mit knapp einem Drittel aller Patentdokumente eine sehr viel kleinere Gruppe als die der öffentlichen Personenwaagen darstellen. Diese zweite Variante betrifft eine kleine Ausführung der Personenwaage, die für den Heimgebrauch vorgesehen ist und bei der sich Individuen unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausschließlich selbst messen. Es handelt sich dabei um elf Patentdokumente, auf die diese Charakteristika zutreffen.9 Eine Ausnahme bilden zwei Patentdokumente von insgesamt 35 in diesem Zeitabschnitt (K28; K30). Die darin beschriebenen Ausführungen konnten weder der öffentlichen Personenwaage, noch dieser zweiten, neuen Variante eindeutig zugeordnet werden. Die entsprechenden Patentdokumente stellen eine dritte Variante vor, die für den Einsatz in Institutionen wie Krankenhäusern bestimmt sind (Tab. 7). Aus diesem Sample gehen also drei Varianten hervor, die in der folgenden Tabelle (Tab. 7) zum Vergleich nebeneinandergestellt werden. Damit zeigt sich, dass spezifische Charakteristika existieren, mit denen die Personenwaage unterschieden werden kann.
7
Diese Recherche wurde am 17. Januar 2017 auf der Datenbank BIRS (Bochumer Informations- und Recherchesystem) durchgeführt, die historische Medizintechnik klassifiziert und dokumentiert. Diese ist nicht öffentlich zugänglich. Deshalb bedanke ich mich dafür recht herzlich bei PD Dr. med. Stefan Schulz (Ruhr-Universität Bochum).
8
Vgl. hierzu auch den letzten Abschnitt in Kapitel 4.2.
9
Die Personenwaage für den Heimgebrauch beschreiben folgende Dokumente: K2, K19, K23, K25 bis einschließlich K27, K29, K31 bis einschließlich K32, K34 sowie K35.
178 | Die Personenwaage
Tabelle 7: Drei Ausführungen der Personenwaage (1919–1959)
Spezifika
Die öffentliche Personenwaage
Die Personenwaage für den Heimgebrauch
Die Personenwaage in Institutionen
x
Aufstellung an öffentlichen (z. B. in Parkanlagen) und halböffentlichen Plätzen (z. B. in Restaurants, Kuranstalten)
x
Verwendung im privaten Umfeld (z. B. im Badezimmer)
x
x
Selbstmessung
x
Klein, viereckig, transportabel
Verwendung in Institutionen im halb-öffentlichen Raum (z. B. in Krankenhäusern)
x
x
Selbstmessung
x
x
Großformatiges Modell
Messung durch dritte Personen, wie Schwestern oder Ärzt*innen
x
Ausführung je nach Belang, meist großformatig
Spezialtypus: Besondere Zielgruppe und/oder besonderes Produktdesign und/oder andere Funktionsweise als klassische Variante
In den 1960er Jahren wurden 33 Patentdokumente zur Anmeldung eingereicht. Fast alle, nämlich 32 Erfindungen,10 schlagen eine Variante für den Heimgebrauch vor. Diese entsprechen oder ähneln den bisher bekannten Ausführungen in ihrer äußeren Form. Die Badezimmerwaage wird in zwei Fällen als Neuerung vorgestellt (K41; K68). Dabei handelt es sich aber um keine neue Variante, sondern ebenfalls um eine Personenwaage für die Anwendung zuhause. Eine solche Badezimmerwaage wurde bereits im Jahr 1956 eingeführt (K31). Die Bestimmung als Badezimmer- oder Haushaltswaage findet sich bei einem Viertel aller Patentdokumente in diesem Jahrzehnt im Titel der jeweiligen Anmeldung11 wieder. Alle diese kleinen Modelle stimmen in ihrer grundsätzlichen Ausführung als flaches, annähernd viereckiges Instrument mit Trittplatte und Anzeigefenster mit der bereits bekannten Variante für den Heimgebrauch (1919–1959) überein. Aufgrund des Zuschnitts auf eine besondere Zielgruppe und des besonderen 10 Die Variante Personenwaage für den Heimgebrauch wird in diesem Sample in den Patentdokumenten K36 bis einschließlich K39 beschrieben, sowie K41 bis einschließlich K68. 11 K41 bis einschließlich K43, K48, K55, K65, K66 sowie K68.
Das Wissensregime von Zeiger und Display | 179
Produktdesigns wird ein Gebrauchsmuster der Personenwaage für den Heimgebrauch als Spezialtypus untergeordnet (K40). Die Klassifikation des Messinstruments wird um diese Ausführung erweitert (Tab. 7). Die unten stehende Tabelle führt alle Varianten auf, die im Spezialdiskurs der Personenwaage bisher eine Rolle spielen. Allein schon daraus, dass nun keine einzige öffentliche Waage mehr zum Patent oder Gebrauchsmuster angemeldet wurde, lässt sich schließen, dass sich der Spezialdiskurs der Personenwaage ab diesem Jahrzehnt grundlegend ändert. Zwischen 1970 und 1979 wurden die meisten Erfindungen angemeldet. Von insgesamt 44 betreffen 36 Patentdokumente12 die Variante, die für den Heimgebrauch vorgesehen ist. Diese Modelle haben nach wie vor eine flache, rechteckige Form mit Trittplatte und eine mittig angebrachte Anzeige des Körpergewichts im vorderen Teil des Apparats. Etwas mehr als zwei Drittel aller Patentdokumente13 in diesem Sample entsprechen genau diesem Schema, so dass die Skizzen das entscheidende Kriterium liefern, um diese als Personenwaage für den Heimgebrauch bestimmen zu können. In diesem Jahrzehnt führen nur noch wenige Erfindungen einen Titel, der den Ort – den Haushalt (K87) oder das Badezimmer (K86; K102) –, kennzeichnet. Zwei Erfindungen betreffen die Personenwaage in Institutionen (K100; K103). Sechs Patentdokumente14 repräsentieren Spezialausführungen der Waage für den Heimgebrauch. Aus dem Datenmaterial der 1980er Jahre können drei Ausführungen der Personenwaage erschlossen werden. Dieses Sample umfasst im Vergleich zu den anderen die wenigsten Patentdokumente.15 Zum ersten Mal seit dem Jahr 1958 wurde wieder eine öffentliche Personenwaage zum Patent angemeldet (K118). Mit dieser Standwaage wird ein massives Modell vorgestellt, das über einen Münzeinwurf und Drucker verfügt (K118: 2, 13, 15, 18). In den insgesamt zehn Patentdokumenten in diesem Jahrzehnt werden sieben Ausführungen beschrieben,
12 K69 bis einschließlich K72, K77 bis einschließlich K92, K95 bis einschließlich K99, K101, K102 sowie K104 bis einschließlich K112. 13 Dazu zählen K69 bis einschließlich K71, K72, K78 bis einschließlich K80, K84, K85, K87 bis einschließlich K91, K95 bis einschließlich K99, K101, K102, K104 bis einschließlich K108 sowie K110. 14 Als Ausreißer oder Spezialtypus werden folgenden Erfindungen behandelt: K73 bis einschließlich K76, K93 sowie K94. 15 Das Sample, das die 1980er Jahre umfasst, betrifft die Dokumente K113 bis einschließlich K122.
180 | Die Personenwaage
welche die Personenwaage für den Heimgebrauch repräsentieren.16 Zwei Anmeldungen weichen davon ab und werden als Spezialtypus genauer untersucht (K121; K122). Die Entwicklung seit 1919 zeigt, dass sich eine Variante durchgesetzt hat. Die Genealogie der Personenwaage ist demnach ein Prozess, der auf das private Wohnumfeld und die individuelle Selbstmessung abzielt. Alle anderen Ausführungen stellen, über den Gesamtzeitraum hinweg betrachtet, eine Minderheit im Spezialdiskurs der Personenwaage dar. So treten die öffentlichen Automaten nach Ende der 1950er Jahre nur noch einmal in Erscheinung, was zeigt, dass die Verwendung der Waage nach und nach anderen Mustern folgt. Die wenigen Erfindungen, die eine spezielle Ausführung der Heimwaage darstellen, oder die Variante, die zur Verwendung in Institutionen vorgesehen ist, stehen hingegen für eine Ausdifferenzierung und Öffnung des Spezialdiskurses, was den Einsatz des Geräts betrifft. Gleichzeitig verweisen die Ausreißer auf einen separaten Strang17, der nicht die Entwicklungsgeschichte des Konsumguts und Artefakts betrifft, das sich heute in den meisten Haushalten befindet. Die Analyse konzentriert sich daher auf die Personenwaage für den Heimgebrauch, weil diese die dominante Variante darstellt. Alle anderen Ausführungen werden als untergeordnete, diskursive Ereignisse behandelt, die aber mit dem Aufstieg der Waage für den Heimgebrauch in Zusammenhang stehen und im Spezialdiskurs Impulse setzen.
AUSNAHMEN SIND NICHT DIE REGEL! Die viereckigen oder „kastenförmigen Gebilde“, die auf dem Boden stehen (K73: 3; K74: 2), werden aus Sicht der Erfinder, die eine Spezialausführung planen, als gängige Form der Personenwaage betrachtet. Diese abweichenden Modelle gleichen zum Teil in ihrer äußeren Form und Funktion tatsächlich wiederum der Waage für den Heimgebrauch (K40: 9; K75: 21; K121: 11), so dass es noch einmal mehr auf der Hand liegt, dass sich im Diskurs diese Variante durchgesetzt hat.
16 Waagen für den Heimgebrauch stellen die Dokumente K113 bis einschließlich K117, K119 und K120 vor. 17 Dazu wäre ergänzend eine andere Definition der Suche in der Datenbank der DPMA nötig, um diese Ausreißer in ihrer Gesamtheit zu untersuchen, was aber nicht im Fokus dieses Forschungsprojektes liegt. Vgl. auch die Ausführungen zur IPC-Klassifikation in Kapitel 3.2.1.
Das Wissensregime von Zeiger und Display | 181
5.1.1 Sonderfall 1: Die Rolle der öffentlichen Personenwaage „Muenzeinwurf“ beziehungsweise „Muenzeneinwurf“ (z. B. K7: 1; K20: 1; K22: 1; K33: 1), „Selbstkassierer“ beziehungsweise „selbstkassierende Personenwaage“ (z. B. K9: 1; K13: 1; K14: 1), „selbsttätige Personenwaage“ (z. B. K1: 1) beziehungsweise eine „selbsttätige“ Funktion des Instruments (K15: 2) sowie „automatische Personenwaage“ (z. B. K20: 1; K22: 1; K33: 1) sind Aussagen, die im Titel oder Text dieser Erfindungen häufig vorkommen und direkt auf eine bestimmte Variante hinweisen. Auch andere Aussagen im Titel – zum Beispiel „Kartendruckwerk“ (K3: 1) sowie „Kontrollkarten-Ausgabe“ (K1: 1), aber auch die Funktionsweise der Automaten, stehen für eine öffentliche Personenwaage. Zusammen mit der Beschreibung, die einen Münzeinwurf erwähnt und ein Sperrwerk, das pro Einwurf nur einmaliges Wiegen zulässt, lässt sich zum Beispiel das Patent „Federzug-Personenwaage“ (K8) als öffentliche Personenwaage identifizieren. Damit zeigt sich, dass auch mehrere Jahrzehnte nach einer ersten Hochphase im späten 19. Jahrhundert nach wie vor sehr massive Modelle in den Diskurs eingeführt wurden. Allerdings wurden deren Innenleben und technische Ausstattung immer weiter verbessert und damit technisch ausgefeilter. Der typische Vertreter verfügt über einen Münzeinwurf und bedruckte Karten mit dem gemessenen Körpergewicht. Die öffentliche Personenwaage zwischen 1919 und 1959 Die Eigenschaften der öffentlichen Personenwaage in den vier Jahrzehnten zwischen 1919 und 1959 lassen sich als relativ homogen charakterisieren. Ein zentrales Motiv stellt dar, möglichst viele Personen für den Wiegeautomaten zu gewinnen. Dazu wurden Attraktionen eingeplant, wenn eine Person die Plattform betritt. Gleichzeitig lassen sich Tendenzen identifizieren, welche individuelle Interessen oder Emotionen ansprechen. Im Idealfall wird das Instrument als komfortabel und angenehm wahrgenommen, wie es in zwei Fällen als wichtiges Merkmal der Waagen gefordert wird (K17; K18). Allerdings ist es interindividuell unterschiedlich, wie Neugierde und Aufmerksamkeit empfunden werden. Aus diesen Gründen werden Aussagen dazu, wie Personen zur Benutzung der Waage animiert werden sollen, als Berücksichtigung von Individualität und damit als Ausdruck des Individualisierungsprozesses verstanden. So fordert ein Modell das Drücken eines Knopfes ein, um die Wiegekarte auszuwerfen (K24). In einem Patent wird beispielsweise beabsichtigt, das Geschlecht abzufragen (K11). Das Instrument selbst soll Vertrauen und Zuverlässigkeit vermitteln: „Um nun auch in solchen Fällen kein Mißtrauen beim Publikum dadurch hervorzurufen, daß ein solcher Selbstkassierer wohl Münzen vereinnahmt, […] wird ein Relais in den
182 | Die Personenwaage
Stromkreis des Motors eingeschaltet, welches den Münzeneinwurfschlitz [sic!] schließt.“ (K14: 1) In Zusammenhang mit spielerischen Elementen und der dadurch ausgelösten Attraktion oder Interesse an der Waage wird Reklame erwähnt:18 „Die durch den Erfindungsgegenstand erregte Neugierde des Beschauers veranlaßt den Beschauer gleichzeitig, auch der Reklamevorrichtung, welche mit der Waage verbunden ist, eine erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken.“ (K4: 1) Als Reklamebänder, die auf einer Rolle abliefen, wurden diese in den Wiegeapparat eingebaut (K18). Solche bewegten Bilder waren in den 1920er Jahren etwas Neues. Die (meisten) optischen Effekte beziehen sich hauptsächlich auf die Beleuchtung oder das Aufleuchten der Anzeige (K4; K17; K18; K21). Das Ziffernblatt wird dann erst beim Betreten beleuchtet und damit sichtbar gemacht (K4). Die Dokumentation des Wiegevorgangs geschieht mit Hilfe von Wiegebeziehungsweise Kontrollkarten, auf die neben dem Gewicht zur besseren Vergleichbarkeit mitunter auch das Datum aufgedruckt werden kann (K1; K3; K7; K9; K11; K24; K33): „Die Erfindung betrifft eine selbsttätige Personenwaage mit Kontrollkartenausgabe, bei welcher durch den Einwurf eines Geldstückes der Stromkreis für einen Elektromotor angeschlossen wird, worauf durch diesen die weiteren Vorgänge ausgelöst werden.“ (K1: 1) Hier wird eine Parallele zu den US-amerikanischen Wiegeautomaten Ende des 19. Jahrhunderts deutlich (Levine 2008: 90). Um diesen Ansprüchen gerecht zu werden, feilen die Erfinder am technischen Innenleben des Apparats (z. B. K1; K7; K8; K9). Es liegt auf der Hand, dass die Weiterentwicklung der Waage mit dem gesellschaftlichen Prozess der Technisierung einhergeht. Deutlich erkennbar wird dieser technische Fortschritt zwischen den Automaten Ende des 19. Jahrhunderts und der Waage im Jahr 1919. Hier kommt ein Elektromotor zum Einsatz und an die Technik wird der Anspruch gerichtet, „einheitlich“, also harmonisch zusammenzuarbeiten (K1: 1). Neben dem Wiegemechanismus und dem Motor wird geplant, ein Uhrwerk für die Datumseinstellung sowie ein „Drucksystem“ mit Farbband zum Bedrucken der Wiegekarten einzubauen (K1: 7–8). Die technischen Abläufe der Waage sollen die Genauigkeit unterstützen und gewährleisten. Der Zusammenhang zwischen technischem Ablauf und dem korrekten Ergebnis wurde dabei wie folgt ausgedrückt: „Diese [technischen, Anm. DF] Anordnungen wirken einheitlich dahin zusammen, ein genaueres Gewichtsresultat nebst genauem Datum anzugeben, ohne daß hierbei die Richtigkeit von der mehr oder minder großen
18 Die alleinige Erwähnung von Reklame wurde nicht als spielerisches und individuelles Moment der Personenwaage kodiert.
Das Wissensregime von Zeiger und Display | 183
Zuverlässigkeit vom Bedienungspersonal abhängt.“ (K1: 2) Es zeigen sich auch Vorgänge von Normalisierung und tendenziell von Medikalisierung, denn das Artefakt soll sich als Instrument etablieren, das präzise misst. Damit wird die grundsätzliche Möglichkeit geschaffen, Wiegeergebnisse bewerten sowie vergleichen zu können, wodurch Normalität und Abweichung erst wahrgenommen werden können. Daneben gibt es Hinweise auf eine einfache und günstige Herstellung (K1; K13, K16), die Haltbarkeit des Automaten (K1; K9; K13; K16) und die Möglichkeit einer genauen Ablesung (K17; K21). Das Ergebnis leuchtet hierzu „groß und deutlich“ auf (K17: 1). Ebenfalls seltener können Aussagen zur Verwendung der öffentlichen Waagen festgestellt werden. In diesem Zusammenhang wird erwähnt, dass die Waagen nicht immer vollautomatisch funktionierten, sondern in manchen Fällen auch Personal für die Bedienung des Instruments notwendig war (K1; K9). Ferner wird argumentiert, dass mit dem Wiegen kein größerer Zeitaufwand verbunden sein soll: „Schon der hierzu erforderliche Zeitaufwand verbietet die Anwendung bei den Personenwaagen […].“ (K1: 1) Die Thematisierung von Emotionen in den Erfindungen lassen sich als vier Phasen analysieren, welche die Interaktion zwischen Individuum und Gerät beschreiben. Phase eins charakterisiert den ersten Kontakt, das Erblicken und Annähern an die öffentliche Personenwaage, was als Attraktion erlebt werden soll. Dadurch, dass solche Waagen an öffentlichen Plätzen postiert waren, ist es denkbar, dass Passant*innen angezogen wurden, die durch andere Benutzer*innen animiert wurden, den Automaten näher in Augenschein zu nehmen. Anschließend folgt eine zweite Phase, in der ein bestimmtes Element der Waage als Träger und Auslöser von emotionalen Zuständen wie Attraktion oder Neugier fungiert: „Um das Interesse des Publikums für den Erfindungsgegenstand in besonders hohem Maße zu erregen, ist das Zifferblatt der Personenwaage durch eine durchscheinende Spiegelscheibe im allgemeinen unsichtbar gemacht und nur während des Wiegevorgangs selbst dadurch sichtbar, daß die auf der Waageplattform hinauftretende Person unwillkürlich die Schließung zweier Kontakte besorgt, […] so daß nunmehr auch die vorher undurchsichtige Spiegelscheibe durchsichtig wird.“ (K4: 1)
Festzustellen ist ein hohes Maß an Kreativität und Einfallsreichtum der Erfinder. Die Vielfalt der Eigenschaften, die zusätzlich zum Wiegen eingeführt werden sollen, zeugt davon. Dazu zählen eine Spiegel(-scheibe)19 (K4; K13), eine
19 Vgl. auch Payer (2012: 310).
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Einblickskammer für die Gewichtsangabe (K6), eine Sprechmaschine mit einem Text, der beim Betreten der Waage wiedergegeben werden kann (K16) und vermutlich auch die Reklame (K4; K5; K15; K17; K18). Eine Art Entertainment-Paket verspricht die „Personenwaage mit bildlicher oder musikalischer Darbietung für den Benutzer der Waage“ (K10: 1). Ähnliches berichtet auch Gierlinger (1989: 106–107) über eine öffentliche Personenwaage, die eine Wiegekarte mit Datum ausgab und eine Fotografie von der gewogenen Person erstellte. Sobald eine Person sich entscheidet, die Waage zu benutzen und der Körper gewogen wird, beginnt eine dritte, direkte Kontakt- und Interaktionsphase mit dem Automaten. Die Auseinandersetzung geschieht über Komponenten, die sich direkt auf individuelle Eigenschaften des Subjekts beziehen, das auf der Waage steht, oder auf einen manuellen Eingriff dieser Person in den Ablauf. Dadurch, dass die Waagen selbsttätig und automatisch arbeiten, erzeugt die Bedienung einen individuellen Moment zwischen Instrument und Person. In den meisten Fällen handelt es sich also um eine Selbstmessung des Körpergewichts. Neben den bereits genannten Eigenschaften anderer Erfindungen verfügt ein Patent über eine „Größenmeßeinrichtung“, welche vor dem Wiegen die Körpergröße feststellt (K17: 1). Die Waagen werden so ausgerichtet, dass jede Person, zum Beispiel auch Kinder die Anzeige sehen können (K17; K18). Der Bezug zwischen der Größe und Gewicht eines Individuums scheint grundsätzlich relevant zu sein, da diese Neuerung mehrfach thematisiert wird (K11; K17; K18). Spielerische und individuelle Momente der Personenwaage betreffen demzufolge individuelle Interessen, Vorlieben und Eigenschaften. Eine andere Erfindung garantiert eine diskrete Anzeige des Ergebnisses. Für die Ablesung des Gewichts muss in eine kleine Kammer geblickt werden, „daß nur die auf der Waage stehende Person die Gewichtsangabe ablesen kann [kann, Anm. DF]“ (K6: 1). Nach Abschluss des Wiegens und aller begleitenden Vorgänge stellt sich die Frage, welche Emotion das Erlebnis hervorrufen soll und wie dieses von der Person, die sich wiegen lässt, verarbeitet und im Idealfall positiv erinnert wird (Phase vier). Die Wiegekarten, die mit nach Hause genommen werden können, sind eine Attraktion und haben gleichzeitig ein individuelles Ereignis zur Folge, denn jede Karte wird für eine einzelne Person beziehungsweise einen Wiegevorgang ausgestellt. Aus den vorhergehenden Beispielen kann abgeleitet werden, dass die Waagen emotional ein spannendes, interessantes Ereignis darstellen und die Waage als technische Vorrichtung keine Vorbehalte oder Skepsis, sondern der Unterhaltung dienen und Gefühle von Vertrauen und Verlässlichkeit auslösen soll. Diese Vorgänge, welche den Kontakt mit dem Instrument als Ablauf schematisch abbilden, gelten als typisch für die öffentliche Personenwaage zwischen 1919 bis 1953. In dieser Zeit fungiert diese Ausführung
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als dominante Variante, kann sich aber in den folgenden Jahrzehnten gegen die Personenwaage für den Heimgebrauch nicht mehr durchsetzen. Es kann also gefolgert werden, dass die öffentliche Waage um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, zwischen den beiden Weltkriegen und nochmals im ersten Drittel der 1950er Jahren ihren Höhepunkt erlebt, was sich auch in der Literatur widerspiegelt (Kemp 1989: 12, 18, 24; Payer 2012: 308–309, 312). Die öffentliche Personenwaage zwischen 1960 und 1989 Die zahlreichen Vertreter der öffentlichen Waage standen bis in die 1970er Jahre an viel besuchten Plätzen wie Bahnhöfen, Schwimmbädern, Kaufhäusern oder Parks zum Wiegen bereit (Gierlinger 1989: 106–107; Merta 2003: 307; Payer 2012: 308, 312). Mitte des 20. Jahrhunderts war im deutschsprachigen Raum vor allem eine Ausführung besonders verbreitet. Es handelt sich um eine massive, rote Waage mit dem Aufdruck „Prüfe Dein Gewicht!“ (Gierlinger 1989: 105–106; Payer 2012: 312). Die Automaten waren mit Normalgewichtstabellen ausgestattet, mit denen das gemessene Gewicht verglichen werden konnte. Bereits zu dieser Zeit begann aber ein Prozess, der die großformatigen Geräte nach und nach verdrängen sollte, so dass diese nur noch sehr selten im öffentlichen Raum zu finden waren. Mit der flächendeckenden Einführung der kleinen Personenwaage in Haushalten und Badezimmern in den 1970er Jahren flaute die Nutzung der öffentlichen Waagen derart ab, so dass Ende des Jahrzehnts die Produktion nach und nach aufgegeben wurde (Knoop 1986: 40; Payer 2012: 313–314).20 Mit der Abschaffung der Anzeige, die auch für Dritte das Wiegeergebnis erkenntlich machte, kündigte sich der Wechsel von einem öffentlichen Ereignis zu einem privaten Vorgang an (Kemp/Gierlinger 1989: 356; Payer 2012: 312–313). Entweder wurden die entsprechenden Zahlen gar nicht mehr angezeigt und bedruckte Kärtchen ausgegeben (Kemp/Gierlinger 1989: 356; Payer 2012: 312– 313), oder eine spezielle „Einblickskammer“ angebracht – wie bereits erwähnt (K6: 1). Dieser historische Zusammenhang erklärt, weshalb im Jahr 1985 nach fast drei Jahrzehnten – dem Gebrauchsmuster K33 von 1958 – lediglich eine einzige öffentliche Personenwaage zur Erfindung angemeldet wurde. Die äußere Form ist mittlerweile angepasst worden. Das Instrument weist nun einen reduzierten, schlanken Aufbau mit einer Anzeige auf, die wie bei den früheren Automaten immer noch erhöht angebracht wird. Dadurch ähnelt diese Ausführung einigen
20 Teilweise existieren auch heute noch einige wenige Modelle im öffentlichen Raum. Meist fallen diese gar nicht auf, weil diese Art des Wiegens in der Öffentlichkeit nicht mehr Usus ist.
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Personenwaagen für den Heimgebrauch (z. B. K55: 18; K109: 26). Die folgende Abbildung (Abb. 8) zeigt diesen späten Vertreter eines Wiegeautomaten. Abbildung 8: Die öffentliche Personenwaage aus dem Jahr 1985
Quelle: K118: 18
Das Modell verfügt über eine massive Standsäule (Abb. 8, Ziffer 7), ein so genanntes Bedienungspult, einen Münzeinwurf (Ziffer 21) und Drucker (Ziffer 17) (K118: 2, 13, 15, 18). Damit hat sich der Stand der Technik in der Zwischenzeit rasant weiterentwickelt. So ermöglicht der verbaute Mikroprozessor durch Tastendruck zwei Optionen. Programm A beinhaltet die Körpergewichtsmessung und Programm B den Biorhythmus. Schema A umfasst sowohl das Körpergewicht, als auch das Idealgewicht sowie die Abweichung von diesem optimalen Wert (K118: 7). Beides sollte jeweils 50 Pfennig kosten (K118: 20). Als neues Element B kann der körperliche, seelische und geistige Biorhythmus ermittelt werden, um Aussagen über „Leistung, Kreativität und Stimmung“ einer Person treffen zu können (K118: 5, 12).21 Dies wird wissenschaftlich gerechtfertigt, weil die individuelle Verfassung oder der Gesundheitszustand daran gekoppelt und dies nicht allein durch die Kontrolle des Körpergewichts
21 Vgl. hierzu auch Gierlinger (1989: 106) sowie Kemp/Gierlinger (1989: 356), welche die historischen Waagenautomaten wie K10 aus dem Jahr 1928 oder deren Vorläufer (Kap. 5.1.1) mit diesem Modell vergleicht.
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feststellbar sei (K118: 10): „Bei der Ausbildung der erfindungsgemäßen Personenwaage ging man davon aus, daß eine kontinuierliche Gewichtsüberwachung allein nicht Grundlage für Erkenntnisse über das persönliche Befinden ist.“ (K118: 8) Das „Bedienungspult“ gibt Aufschluss über den Messvorgang und das Angebot des Automaten, das bei jedem Programm nacheinander Körpergröße, Geschlecht und Geburtsdatum abfragt (K118: 15–16). Diese „Bedienungsplatte“ kann so angebracht werden, dass sie in einem günstigen Winkel steht, um von der Person, welche die Waage nutzt, besonders leicht abgelesen werden zu können (K118: 4, 6). Durch die Möglichkeit, mit Hilfe mehrerer Aktionen die Vorgänge am Automaten zu bestimmen, zwischen den Programmen auszuwählen und in Einbeziehung der körperlichen Merkmale einer Person drückt sich das spielerische und individuelle Moment dieser öffentlichen Personenwaage aus. Durch die Slogans, mit denen die Dienstleistungen des Automaten beworben werden, soll das Interesse von potentiellen Kunden geweckt und diese persönlich angesprochen werden („Aktuelle Gewichtskontrolle für Ihre Gesundheit und Ihr Wohlbefinden“, „Höhen und Tiefen der Persönlichen [sic!] Lebenskurven vorausberechnen und danach handeln“) (K118: 20). Auf dem Display erscheinen die Ergebnisse zum Beispiel als Balkendiagramme, das Datum und die Uhrzeit werden stets mitangegeben (K118: 5, 13). Vergleichbar mit dem Text auf den Wiegekarten der Vorgängerwaagen werden diese Informationen ausgedruckt und können zusätzlich mit dem Standort, einem Firmennamen und Werbespruch versehen werden (Abb. 8, Ziffer 20). Als weitere Vorteile des Geräts wird dessen Genauigkeit, Erschwinglichkeit, Bedienungsfreundlichkeit, Haltbarkeit, sichere Anwendung und Ästhetik betont, was sowohl für die Betreiber*innen als auch Kund*innen Vorteile bietet (K118: 8–9). Darüber hinaus funktioniert der gesamte Apparat vollautomatisch, ist wartungsfrei und kann im Innen- wie auch Außenbereich aufgestellt werden (K118: 9, 14). Die öffentliche Personenwaage im Spiegel gesellschaftlicher Prozesse Insgesamt werden drei Faktoren bei der Geschichte der öffentlichen Personenwaage deutlich. Vorausgeschickt werden kann, dass sich die Eigenschaften des Instruments zwischen 1919 und 1959 bei dem Patent aus dem Jahr 1985 wiederholen. Erstens wird deutlich, dass die Personen, die auf einen Zug warten, eine Gewerbeausstellung besuchen oder in einem Park spazieren, als potentielle Kund*innen betrachtet wurden, weil sich mit der öffentlichen Personenwaage als Automat durch das Einwerfen von Münzen Geld verdienen ließ. In einem
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Ausstellungsführer durch die „Bayerische Jubiläums-Landes-Industrie-, Gewerbe- und Kunst-Ausstellung“ aus dem Jahr 1906 in Nürnberg wird zwar nicht über die Waage als Münzautomat berichtet (Rée 1906), aber in der Fahrzeughalle des „Königlichen Staatsministeriums für Transportangelegenheiten“ wurden neben anderen größeren Objekten wie Lokomotiven und einem Postwagen auch zwei Personenwaagen ausgestellt (ebd.: 67). Auch wenn diese Quelle historisch etwas früher als die analysierten Patentdokumente anzusetzen ist, lässt die Ausstellung der Personenwaage auf den Attraktions- und Unterhaltungswert dieser Waagen schließen. Die Reklame, die als Bilder oder Bänder in die Waagen mit eingebaut werden kann, hat auch einen ökonomischen Zweck. Bei knapp einem Viertel aller Patentdokumente beteiligen sich verschiedene Unternehmen namentlich am Anmeldeverfahren der Erfindung (K3, K6; K7; K9; K10; K15). Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts zeichnete es sich im Rahmen eines „organisierten Patentmanagements“ nach und nach ab, dass Erfindungen keine (Privat-) Angelegenheiten von Einzelpersonen mehr waren, sondern im Rahmen der industriellen Forschungslandschaft vollzogen wurden (Mersch 2013: 287).22 Die Waage konnte somit als aktiver Werbeträger eingesetzt werden, denn die Nutzer*innen sollen auf die Reklame aufmerksam gemacht werden (K15). In den 1920er Jahren fehlten einheitliche Definitionen, auf welche Ausführung der Waage welche Gesetzgebung zum gewerblichen Spielrecht zutrifft, so dass die
22 Die Auseinandersetzungen im Rahmen eines frühen Patentmanagements wird in Mersch (2013: 288–291) am Beispiel von Thomas A. Edison (1847–1931) ausgeführt. Die rechtshistorische Dissertation von Schmidt (2009) widmet sich dem Recht der Erfinder in vollem Umfang. Noch tritt kein Unternehmen mehr als einmal zwischen 1919 und 1959 in diesem Spezialdiskurs auf. Die meisten Anmelder werden (außer der Angabe des Wohnorts) nicht näher beschrieben (z. B. K1; K4; K5; K13; K14; K16; K18). Diese handelten als Privatpersonen mit einem Bezug zu (technischen) Erfindungen, dem dementsprechenden Spezialwissen zur Waage oder einem nicht weiter erwähnten institutionellen, betrieblichen Hintergrund. Auffällig ist Hans Schnorrenberg, der als Ingenieur vier Gebrauchsmuster angemeldet hat (K20; K22; K24; K33). Dieser könnte als „unabhängiger Privaterfinder“ oder „angestellter Erfinder“ fungiert haben (Mersch 2013: 287–288). Allerdings liegt die Beziehung zwischen Unternehmen und Einzelperson nicht im Fokus dieser Untersuchung. Es soll jedoch angedeutet werden, dass die Auseinandersetzung zwischen angestellten Erfindern und ihren Arbeitgebern sich um das Nutzungsrecht und deren ökonomische Beteiligung an der Erfindung dreht (Schmidt 2009: 68–69).
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Fabrikanten diese Gesetzeslücken nutzten, um vielfältige Kombinationsmöglichkeiten auf den Markt zu bringen.23 So können die Personenwaagen als Dienstleistungsautomaten definiert werden, die nicht von der Gesetzgebung der Warenautomaten betroffen waren (Kemp 1989: 18; Metz 1989: 36). Gleichzeitig konnte damit kein oder kein größerer Geldgewinn (oder Verlust) erzielt werden (außer eventuell mit Erträgen aus Reklame), was die Personenwaagen vom Glücksspielverbot ausschloss (Kummer 1988: 264). Damit erklärt sich auch, dass mögliche Doppeleinnahmen durch den Einwurf von Münzen und Reklameaufträge bei den Erfindungen, die Reklame anzeigen und sich dadurch auch als Werbeträger herausstellen, nicht erwähnt werden (K4; K5; K11). Auch auf den Abbildungen, soweit vorhanden, kann bei diesen Waagen in den 1920er Jahren kein Einwurfschlitz erkannt werden (K4; K5; K11). Es wird zweitens möglich, einen situativen Kontext zu rekonstruieren, der die Praxis des Wiegens auf dieser Variante des Instruments umschreibt. Andere Untersuchungen kommen hier zu ähnlichen Ergebnissen (Gierlinger 1989; Levine 2008; Payer 2012). So können die Automaten, die Ende des 19. Jahrhunderts hauptsächlich an Bahnhöfen und auf Gewerbeausstellungen vorgefunden werden konnten, nach dem Zweiten Weltkrieg auch in Parks und auf verschiedenen öffentlichen Plätzen in Städten genutzt werden. Als Einsatzmöglichkeiten dieser Waage werden auch semi-öffentliche oder halb-private Orte wie Kaffees und Restaurants erwähnt, was bereits Ende des 19. Jahrhunderts begann. Sollte die Waage an solchen Orten platziert werden, soll der Apparat von seiner optischen Aufmachung her nicht „unschön wirken“, wie in einer Patentbeschreibung erklärt und als ästhetischer Anspruch an das Instrument zu betrachten ist (K4: 1). Auf einen anderen Sonderfall der Automaten geht Heinrich Richter mit seiner Erfindung ein (K21). Mit dem vorgesehenen „Geldeinwurf“ und dem für Automaten typischen Design zählt diese Erfindung zwar zu den öffentlichen Waagen (K21: 3, 7), kann jedoch in Saunen, Krankenhäusern und Heilanstalten aufgestellt werden (K21: 3). Diese Verwendung wird zwischen 1919 und 1959 sonst nicht erwähnt. Es deutet sich damit ein Prozess an, der mit Medikalisierung umschrieben werden kann, denn das Instrument wird in einen gesundheitlichen Kontext gestellt und darin als medizinisch relevant erachtet. Tatsächlich verstärkt sich dieser Effekt des Geräts zwischenzeitlich, denn 1985 gibt es eine
23 Zum Beispiel setzt das Patent K10, wie bereits dargelegt, das Wiegen als Dienstleistung ein, was mit einer zusätzlichen Darbietung von Musik oder Bildern einhergeht. Ausführlich zur Gesetzgebung der Warenautomaten vgl. Metz (1989), zu den Spielund Dienstleistungsautomaten vgl. Kummer (1988).
190 | Die Personenwaage
medizinische Indikation der Waage (K118). Mit dem Instrument wird nun auch bezweckt, das Gewicht und den Gesundheitszustand zu überprüfen. Drittens wiederholen sich die Eigenschaften der öffentlichen Waagen nicht nur, sondern interagieren miteinander. Deutlich wird dieser Effekt, weil die charakteristischen Elemente wechselseitig zueinander in Beziehung stehen. So soll Reklame die Neugierde auf die Waage erhöhen, was aber auch eine ökonomische Intention impliziert. Der technisch ausgefeilte Aufbau der Waage garantiert ein präzises, vergleichbares und gut ablesbares Ergebnis. Die Ausgabe von Kontrollkarten (in Verbindung mit Normalgewichtstabellen), die bei mehreren Erfindungen eingeplant war, macht zum einen eine Selbstvermessung, zum anderen ein Vergleichen des Körpergewichts möglich. Gleichzeitig dienen solche Karten aber auch als Souvenir und Attraktion, die das Individuum und dessen individuelle Vorlieben anspricht. Ähnlich verhält es sich mit ästhetischen Elementen der öffentlichen Waage. Diese können individuelle Emotionen wie Begeisterung und Neugierde auslösen. Soll ein Automat in Institutionen wie Saunen, Krankenhäusern oder Heilanstalten aufgestellt werden, wo eine schnelle Anzeige, genaue Ablesung und Protokollierung des Körpergewichts relevant ist, werden im Jahr 1952 Messungen auf 50 g genau vorgeschlagen (K21).24 Damit zeigt sich, wie sich das Wissen der Erfinder immer deutlicher als diskursive Schnittmenge konturiert, die mit einer gesellschaftlichen Normalisierung, Medikalisierung (oder Technikalisierung) und Individualisierung assoziiert ist. Dieses sich allmählich etablierende Wissensregime profitiert von den technischen und ästhetischen Möglichkeiten, die wechselweise als Grundlage, Voraussetzung und Verstärker fungieren. Richter führt bei der öffentlichen Personenwaage außerdem einen Konnex zwischen Körpergewicht, Gesundheit/Krankheit sowie Übergewicht/Untergewicht ein: „Bei bestimmten Krankheiten ist die Gewichtsabnahme oder Zunahme zu wissen sehr wichtig […].“ (K21: 3) Bestimmte Zahlenwerte der Personenwaage werden in diesem Zusammenhang mit Bedeutung, also gesundheitlich relevantem Wissen belegt. Das Wiegeergebnis leuchtet in einem Anzeigefenster mit dem Gewicht auf, nachdem ein 10-Pfennig-Stück eingeworfen wird. Möglich ist aber auch ein Betrieb ohne Münzeinwurf, wobei das Signal, das durch die Münze ausgelöst wird, mit einem Druckknopf ersetzt wird (K21: 3–4). Die Nullstellung der Waage kann von Hand korrigiert werden. Dabei wird in „Fällen besonders genauer Ablesung des Körpergewichtes“ (K21: 3) über das
24 Der Auffassung des Erfinders nach existiert diese bis dato in 500 g-Schritten. Jedoch ermöglicht bereits die erste Erfindung aus dem Jahr 1919 Wägungen mit einer Genauigkeit von 250 g statt 500 g (K1).
Das Wissensregime von Zeiger und Display | 191
Wiegen ohne Kleidung gesprochen. Dies ist ein weiterer Hinweis, wie eine genaue Messung außerhalb des typischen Anwendungsortes der öffentlichen Personenwaage verstanden wurde (K21: 3). Von Martin (1924, 1925, 1928a) wird zum Beispiel im Kontext von anthropometrischen Langzeitstudien an Schulen gefordert, das Körpergewicht ohne Bekleidung zu erfassen: „Für wissenschaftlich brauchbare Untersuchungen kommt ausschließlich das Nacktgewicht in Betracht.“ (Martin 1925: 7) Diese Art des Messens kommt bei schulärztlichen Zwecken zum Tragen und fungiert hierbei als essenzielle Grundlage (Martin 1924: 6). Die Aufsichtspersonen sollen entsprechend ausgebildet sein und die zu wiegenden Personen sollen in der Mitte der Standsäule stehen (ebd.: 7, 26). Neben der Erfindung K21 kommen bei anderen öffentlichen Automaten ebenfalls weitere Komponenten hinzu, welche die Messung des Körpergewichts ergänzen oder instruieren, wie das Wiegen ablaufen soll. So wird durch den Aufbau der Waage ein Verfälschen des Ergebnisses durch nicht ausreichende Beleuchtung und Körperbewegungen erreicht (K17). Auch eine Art disziplinierender Hintergrund im Augenblick des Messens wird in diesem Dokument erwähnt. Die Körper- und Kopfhaltung müsse genau ausgerichtet und beides müsse stillgehalten werden (K17: 1). Die Hinweise für eine korrekte Messung, Stillhalten und Nacktgewicht, gelten als normalisierte und standardisierte Verwendungsweise der Waage und zeigen eine genaue Messung sowohl im Alltag als auch in Institutionen auf – das Wissen zur Handhabung und Verwendung des Instruments, das auf die medizinischen Waagen angewendet wird, kommt also auch bei den öffentlichen Automaten zum Tragen. Deshalb erhärtet sich Mitte des 20. Jahrhunderts in diesem Zusammenhang der Schluss auf Medikalisierung. Im Fall der Erfindung von Kornel Brandts (K11) kann der Konnex zwischen einer möglichst exakten und vergleichbaren Messung (Normalisierung), geschlechtsabhängigen Verwendung des Instruments (Individualisierung) sowie der Bezug auf ein Normal-, Unter- und Übergewicht (Normalisierung und Medikalisierung) festgestellt werden. Die Wiegekarte ist so ausgelegt, „daß die Waage neben dem wirklichen Gewicht das der Größe entsprechende Normalgewicht oder die Abweichung oder die Differenz beider Zahlen angibt“ (K11: 1). Bei diesem Patent spielt die durchschnittliche Körpergröße von Frauen und Männern eine zentrale Rolle sowie ein entsprechendes durchschnittliches Körpergewicht und der Bereich, in dem ein Vergleich mit dem Normalgewicht durchgeführt wird. Dieser beginnt bei 45 kg und ist auch bei Übergewicht möglich, was aber nicht näher präzisiert wird (K11: 2). Besonders interessant für mögliche Anwender*innen
192 | Die Personenwaage
scheint aus Sicht des Erfinders die Abweichung vom Normalgewicht 25 zu sein, weshalb er eine automatische Berechnung dieser Differenz erwägt, anstatt die Person selbst rechnen zu lassen: „Die Benutzung der Tabelle und die erforderliche Rechnung wurde dabei als sehr lästig empfunden.“ (K11: 1) Gemeint sind Normalgewichtstabellen, die Ende der 1920er Jahre als neues Austattungsmerkmal der Automaten gelten. Als Neuerung wird dieses Merkmal fast sechzig Jahre später im Jahr 1985 freilich nicht mehr ausdrücklich hervorgehoben. Was sich im Verlauf von siebzig Jahren Entwicklungsgeschichte der öffentlichen Personenwaage abzeichnet, ist ein Konnex zwischen Individualisierung, Normalisierung und Medikalisierung, der durch die Technisierung ermöglicht wird. Das Wiegen ist in diesen Fällen nicht mehr als Vergnügung vorgesehen. Dieses Motiv trifft auf die ersten öffentlichen Automaten im 19. Jahrhundert zu. Es besteht auch zwischen 1919 und 1959 weiter, jedoch deutet sich diesem Zeitabschnitt eine neue, andere Ausrichtung der Personenwaage an. 5.1.2 Die Funktion von Personenwaagen in Institutionen Zwischen 1919 und 1959 stellen zwei Patentdokumente weder die öffentliche noch die Personenwaage für den Heimgebrauch vor (K28; K30). Sie lassen allerdings Eigenschaften beider Varianten erkennen. Die Instrumente sind kleiner als die öffentliche Waage, aber deutlich größer als die Ausführungen für den privaten Gebrauch und sind für den Einsatz in Institutionen vorgesehen, beziehungsweise mit einer institutionellen Einrichtung verbunden. Deutlich wird dies vor allem bei dem Patent von Egon Fritz Schmerl aus dem Jahr 1955: „Die Erfindung betrifft eine fahrbare Personenwaage für bettlägerige Personen mit einer Lastaufnehmerplatte. Die Überwachung des Gewichts von bettlägerigen Patienten ist wichtig. Hierbei soll der nicht gehfähige Patient ohne große Schwierigkeiten aus seinem Bett so auf die Waage gehoben werden, daß er während dieses Vorganges keine Schmerzen empfindet.“ (K28: 1)
Die Waage ist demnach für das Krankenhaus vorgesehen. Die Einsatzmöglichkeit beschränkt sich auf Patient*innen mit der Absicht, deren Körpergewicht zu
25 Das semantische Feld des Ausdrucks „normal“ wird in einem anderen Patent ebenfalls thematisiert, aber in eine andere Richtung kodiert (K3: 1). Hier bezieht sich die Bedeutung auf technische Abläufe, die reibungslos funktionieren sollen. Die Interpretation muss daher über eine Wort-für-Wort-Analyse hinausgehen.
Das Wissensregime von Zeiger und Display | 193
kontrollieren (K28: 1). Institutionen stehen für halb-öffentliche Orte, in denen das Wiegen kein grundsätzlich öffentliches Ereignis darstellt, aber auch nicht in völliger Privatheit stattfindet. Der Faktor Zeit besitzt im Krankenhausalltag eine hohe Bedeutung, denn das Wiegen muss schnell vonstattengehen und einfach in den Ablauf zu integrieren sein. Das Personal hat bei dieser Waage den Vorteil, dass die Wiegeplatte durch einen hydraulischen Antrieb auf Höhe des Bettes bewegt werden kann (K28: 1). Dadurch, dass die Gepflegten nur gewendet werden müssen, ist die Erfindung sowohl für die Schwestern und Pfleger kräftesparend als auch schonend für Patient*innen, da diese im Bett liegen bleiben können. Das System dieser Innovation ist insgesamt flexibel aufgebaut und richtet sich nach den Gegebenheiten im Krankenhaus und den Bedürfnissen der Patienten, da zum Beispiel auch im Sitzen gewogen werden kann (K28: 2). Eine weitere Erfindung führt den Titel „Laufgewichtswaage, insbesondere Personenwaage“ und stammt von der Mikro Waagenfabrik Döft aus dem Jahr 1955 (K30). Die Laufgewichtswaage verfügt über einen Waagebalken.26 Die Argumentation bezieht sich auf Balkenwaagen, die über eine Säule verfügen, womit eine andere Ausführungen angesprochen werden als öffentliche Automaten oder Heimwaagen (K30: 3). Zur Feststellung des Gewichts werden bei dieser Erfindung, anders als bei der typischen Balkenwaage, verschiedene Gewichte über eine Gleitschiene verschoben. Allerdings kommen typische Eigenschaften der Waage zum Ausdruck. Das Modell soll genau und alltagstauglich sein und „Wiege-Ungenauigkeiten durch Stösse“ vermieden werden (K30: 3–4). Die zur Ausführung der Messung vorgesehenen beweglichen Teile werden durch einen abnehmbaren Deckel geschützt, was als neues Element hervorgehoben wird. Die Reinigung steht für eine einfache Handhabung und bildet ein wichtiges Merkmal der Waage: „Wie aus Vorstehendem ersichtlich, kann der Waagebalken bei abgenommenen Kopfoberteil 427 ohne Schwierigkeiten montiert und justiert und später auch ebenso leicht gereinigt werden.“ (K30: 9) Die Erfindung ist günstiger in der Herstellung, weil weniger Arbeitsgänge und Material notwendig sind. Die präsentierten Innovationen sind gebunden an neue oder verbesserte technische Vorrichtungen. Die Ausführung steht damit für eine zunehmende Rationalisierung im Verlauf eines durch die Technikalisierung bedingten gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses. Das Design des Kopfgehäuses ist bei diesem Instrument nicht per se festgelegt, sondern flexibel gestaltbar und zeigen
26 In kulturhistorischer Hinsicht besteht damit eine Ähnlichkeit zur Balkenwaage, die mit zwei Waagschalen ausgestattet ist (Vieweg 1966: 8–9). Das älteste erhaltene Exemplar geht bis 5000 v. Chr. zurück. 27 In Zitaten erwähnte Nummern verweisen auf die jeweiligen Skizzen.
194 | Die Personenwaage
ästhetische sowie am Individuum orientierte Planungen der Erfinder auf. Die Laufgewichtswaage deckt sich mit den Erläuterungen von Martin (1924: 28, 1925: 6) zum Ablauf von anthropometrischen Messungen: „Zur Feststellung des Körpergewichtes dienen am besten amtlich geeichte Personenwagen mit Laufgewichtsanordnung von 200 kg Wiegekraft, die entweder mit Standbrücke oder mit Sitz eingerichtet sind. Einfache Dezimalwagen sind auch verwendbar, erfordern aber bei Massenuntersuchungen durch das beständige Auswechseln der Gewichte zuviel Zeit. Zeigerwagen, die das Gewicht durch Zusammendrücken einer Feder oder durch Pendelausschlag anzeigen, geben nach längerem Gebrauch ungenaue Resultate, da die Elastizität der Feder im Laufe der Zeit nachläßt.“ (Martin 1925: 6)
Nach Georg Glowatzki (1924–2008), einem Anthropologen und Gerichtsmediziner, besitzt diese Anleitung im 20. Jahrhundert Gültigkeit (1973).28 Die Differenzierung zwischen der Personenwaage für den Heimgebrauch und dieser Variante, die in Institutionen Anwendung findet, wird auch dahingehend deutlich, weil in den „Richtlinien für Körpermessungen und deren statistische Verarbeitung mit besonderer Berücksichtigung von Schülermessungen“ (Martin 1924) auf Folgendes hingewiesen wird: „Transportable Wagen für Schulwägungen sind leider noch nicht im Handel.“ (Ebd.: 23) Zwar existierten zum Zeitpunkt der Anmeldung des Gebrauchsmusters K30 im Jahr 1955 transportfähige Waagen, diese sind aber für wissenschaftliche oder andere Messungen, die in öffentlichen Einrichtungen durchgeführt werden, nicht geeignet. Solche Untersuchungen mit Laufgewichtswaagen sind aus Schuluntersuchungen allgemein bekannt. In der Medizin werden diese aufgrund ihrer höheren Genauigkeit gegenüber Federwaagen, ihrer zeitlichen Effizienz und günstigen Herstellung benutzt (Knoop 1986: 27). Voraussetzung für solche Messungen ist eine Eichung des Instruments, wie bereits bei der Vorgeschichte der Personenwaage (Kap. 4.3) ausgeführt wurde. Das Höchstgewicht dieser neuen Waage K30 setzen die Erfinder auf 150 kg an (K30: 13). Tatsächlich verkörpern die beiden Spezialausführungen K28 und K30 nicht die typischen Gegebenheiten von Waagen für den privaten Zweck. Bei Waagen im halb-öffentlichen Bereich
28 Vgl. hierzu die Ausführungen von Glowatzki: „Im zwanzigsten Jahrhundert war es schließlich der Münchner Anthropologe RUDOLF MARTIN (1864–1925), der alle anthropometrischen Methoden und Maße in einer noch heute international gültigen Form zusammenfaßte. Er ist wohl einer der letzten Anthropologen im klassischen Sinne gewesen und hat ein Lehrbuch seines Faches hinterlassen, das heute noch in der gesamten Fachwelt anerkannt ist.“ (Glowatzki 1973: 107, Herv. i. O.)
Das Wissensregime von Zeiger und Display | 195
wird das Körpergewicht im Stehen oder über einen Sitz gemessen (Martin 1924: 23, 1925: 6), wie es bei der öffentlichen Waage K21 vorgesehen ist (Kap. 5.1.1). Bei der Klassifikation der verschiedenen Varianten von Waagen betonen Robens et al. (2013: 399) speziell den hygienischen Aspekt von medizinischen Waagen. Solche Waagen stehen je nach Ausführung für eine medizinische Personenwaage oder Bett-/Stuhlwaage, mit der Implikation, eine möglichst genaue, schnelle und medizinisch indizierte Messung auszuführen, was beiden Erfindungen K28 und K30 gemein ist. Auch zwischen 1970 und 1979 werden Erfindungen vorgestellt, die in einem institutionellen Kontext verwendet werden oder denen eine solche Bedeutung zugeschrieben wird. Das Erscheinungsbild dieser zwei neuen Waagen ist nicht homogen. Es handelt sich dabei um das Gebrauchsmuster K100 und das Patent K103. Bei beiden Innovationen geht es hauptsächlich um eine Messung, die von Dritten durchgeführt wird, die auch das Ergebnis ablesen. Im Fall von K100 ist die institutionelle Zugehörigkeit eindeutig: „Besonders auf dem Gebiet der Medizin besteht oft die regelmässige Notwendigkeit, einen bettlägerigen Patienten wiegen zu müssen.“ (K100: 3) Diese Waage ist für eine Umgebung konzipiert, in der liegende Patient*innen sicher und bequem gewogen werden können (K100: 6). Der Einsatz als medizinische Waage in einer Einrichtung wie einem Krankenhaus, Klinik, Alten- oder Pflegeheim liegt deshalb auf der Hand. Die Bezeichnung Krankenhaus-Personenwaage fasst diese Anwendung zusammen (Abb. 9). Abbildung 9: Krankenhaus-Personenwaage
Quelle: K100: 9
196 | Die Personenwaage
Dazu wird eine Apparatur, zum Beispiel ein so genannten Patientenlifter, in Träger (Abb. 9, Ziffer 12), die das Gerät halten, eingehakt. An das Gestell (Ziffer 14) selbst wird beispielsweise das Tuch angebracht, das den Patienten hält (K100: 6).29 Ohne Gestell kann die Vorrichtung auch als Badezimmerwaage genutzt werden. Die einfache Handhabung und Verwendung der Personenwaage betreffen bei dieser Erfindung also den medizinischen Kontext und beziehen sich auf körperliche Eigenschaften von Individuen. Die Medikalisierung von Körpergewicht ist dabei mit einer Individualisierung des (Klinik-)Alltags verbunden, realisiert durch die technischen Möglichkeiten der Zeit. Die zweite Erfindung in den 1970er Jahren, die einen medizinischen oder wissenschaftlichen Bereich betrifft, präsentiert das Patent K103. Die japanische Firma Kubota Ltd. schildert das Problem, dass das Wiegeergebnis bei herkömmlichen Waagen von einer dritten Person nicht ohne Probleme zu identifizieren ist (K103: 4). Das Unternehmen bezieht sich auf ein Anzeigefenster bei Waagen für den Heimgebrauch, das auf die Person, die auf der Waage steht, ausgelegt ist. Diese Ausrichtung vereinfacht die eigene Ablesung, nicht aber für andere Personen. Dazu wird das Setting bei „Reihen-Gesundheitsuntersuchungen“ ins Spiel gebracht, bei denen das „Bedienungspersonal“ die Einstellungen vornimmt und das Ergebnis festhält (K103: 4, 5). Das Körpergewicht wird in diesem Fall mit Rückgriff auf individuelle Faktoren wie die Körpergröße, das Geschlecht, Alter und die Nationalität genutzt, um den Gesundheitszustand eines Individuums beurteilen zu können (K103: 2–3). Als Grundlage für die Bewertung dienen Normalgewichtstabellen, die sich bei dieser Erfindung auf Japan beziehen und die das dortige Gesundheitsministerium öffentlich zugänglich machte. Der Vergleich zwischen den gemessenen Werten und dem Soll-Körpergewicht – oder anders ausgedrückt, dem Normal- oder Idealgewicht – dient der Kontrolle des eigenen Körpergewichts. Um eine Personenwaage anbieten zu können, die sowohl alle diese Faktoren verarbeitet als auch das gemessene Körpergewicht mit bestimmten einprogrammierten (Ideal-) Werten vergleicht, ist ein komplexes technisches System notwendig. Mit Hilfe von Mikroprozessoren können bei diesem Gerät bis zu sechs Nationalitäten eingespeichert und bei der Benutzung die entsprechende Zuordnung ausgewählt werden (103: 6). Das Alter und die Körpergröße fungieren als Vor-Bedingungen für die Messung des Gewichts und die Prüfung des Verhältnisses zum Sollgewicht. Körpergröße, Alter, Geschlecht, Nation und ethnische Zugehörigkeit
29 Die Begriffe Patientenlifter und Tragetuch wurden in K100 nicht explizit genannt, sondern angedeutet. Für die Erklärung wurden Beispiele aus der heutigen Praxis herangezogen.
Das Wissensregime von Zeiger und Display | 197
werden an einem Schalter von Hand eingestellt. Die Erfindung zeigt auf, dass die technischen Weiterentwicklungen es im Jahr 1976 zum ersten Mal in der Genealogie der Personenwaage möglich machen, im Instrument einen Rechner, Speicher und Drucker zu vereinen.30 Diese Bestandteile arbeiten automatisch. Zudem verfügt das Gerät über eine Einstellung, die die obere und untere Grenze des Soll-Körpergewichts berechnen kann: „Die Betriebseinheit 32 kann das Soll-Körpergewicht W 2 einer zu wiegenden Person unter Berücksichtigung der Bedingungsdaten, beispielsweise Körpergröße, Alter, Geschlecht, Nationalität und dergleichen, der zu wiegenden Person berechnen. Das Soll-Körpergewicht W 2, das von der Betriebseinheit 32 berechnet worden ist, wird·an die Betriebseinheit 33 zur Bestimmung des Soll-Körpergewichtsbereichs abgegeben. Die Betriebseinheit 33 für den zulässigen Bereich des Soll-Körpergewichts kann die obere und die untere Grenze des Körpergewichts berechnen, die den Bereich des Körpergewichts definiert, der bei einer zu wiegenden
Person
erwünscht
oder
annehmbar
ist,
wobei
das
obenerwähnte
Soll-Körpergewicht W 2 zugrunde gelegt wird.“ (K103: 6, Herv. i. O.)
Aus diesen Schilderungen geht hervor, dass die Lesbarkeit, Genauigkeit und der Vergleich des Ergebnisses zentrale Anliegen darstellen, die mit dem Patent gelöst werden sollen. Dabei wird argumentiert, dass „die Personenwaagen eingesetzt werden, um den Gesundheitszustand einer Person, jedenfalls was ihr Körpergewicht betrifft, festzustellen, mit anderen Worten muß das Körpergewicht genau gemessen werden, um Rückschlüsse auf die Gesundheit der gewogenen Person ziehen zu können. Zu diesem Zweck ist es sehr wichtig, daß Abweichungen des Körpergewichts von den Sollwerten mit hoher Auflösung gemessen werden. Daher ist es wichtig, daß bei der Personenwaage die Daten entsprechend den einzelnen Einflußfaktoren so gespeichert werden, daß der Einfluß der einzelnen Faktoren festgestellt werden kann und die einzelnen Faktoren möglichst genau berücksichtigt werden können. Dabei ist es erwünscht, Bedienungsfehler möglichst weitgehend auszuschalten.“ (K103: 4)
Daraus folgt, dass ein bestimmtes Körpergewicht in einem bestimmten Bereich für die Gesundheit einer Person steht. Im Rahmen dieser Erfindung werden
30 Das Patent K109 aus dem Jahr 1978 verfügt ebenfalls über einen Mikroprozessor, Rechner, Speicher und Drucker (Kap. 5.2.3). Hierbei handelt es sich um eine Waage für den Heimgebrauch. Danach ist unter anderem auch in K118, der einzigen öffentlichen Waage zwischen 1958 und 1989, diese Technik verbaut.
198 | Die Personenwaage
Vorkehrungen getroffen, äußerst exakte Ergebnisse erzeugen zu können und die Bedienung durch Dritte zu vereinfachen. Aufgrund der verbesserten Handhabung und der Abfrage von körperlichen Eigenschaften wird das Instrument technisch weiterentwickelt und individualisiert. Wie im Fall des früheren Gebrauchsmusters K30 handelt es sich um eine Personenwaage, die für medizinische, stationäre oder anthropometrische – beziehungsweise wissenschaftliche Untersuchungen – vorgesehen ist. Das Modell ähnelt in seiner äußeren Form jedoch den Ausführungen für den Heimgebrauch (K103: 2, 5)31 und erfüllt damit die Forderung von Martin aus dem Jahr 1925 nach einer tragbaren Waage für Untersuchungen, die – durch das institutionelle Setting bedingt – sehr exakt ablaufen müssen. Der situative Kontext der institutionellen Waage bestätigt sich bei den analysierten Erfindungen vor allem im Jahr 1955 (K28; 30) und nochmals zwischen 1975 und 1976 (K100; K103), gilt aber über den gesamten Zeitraum hinweg als Ausnahme in der Genealogie der Personenwaage32. Auch wenn sich die Ausführungen der institutionellen Waagen voneinander unterscheiden, gibt es ähnliche Gedanken und Ideen, die den Zweck und Einsatz der Personenwaage vorab festlegen. Es zeigt sich, dass diese Variante in einem engen Zusammenhang mit Gesundheit und Krankheit steht. Die Kontrolle des Körpergewichts wird bei erkrankten Individuen als besonders notwendig erachtet, wobei bestimmte Zahlen bedeuten, gesund oder krank zu sein. Dabei fungieren äußerst exakte Messungen die Voraussetzung. 5.1.3 Spezielle Personenwaagen für den Heimgebrauch Die speziellen Ausführungen der Personenwaage unterscheiden sich in ihrer äußeren Form meist wesentlich von der bekannten Heimwaage, aber auch untereinander. Sie funktionieren dann nach anderen Prinzipien als die Personenwagen für den Heimgebrauch und adressieren sich stets an bestimmte Personengruppen. Alle Spezialtypen in diesem Jahrzehnt sehen eine Selbstmessung vor. Aufgrund des Zuschnitts auf eine besondere Zielgruppe und
31 Prinzipiell ist es möglich, das Patent zwischen privaten und institutionell genutzten Personenwaagen
einzuordnen.
Die
hervorgehobene
Rolle
als
Waage
für
wissenschaftliche Untersuchungen erscheint aber aufgrund des sprachlichen Duktus im Dokument und der passiven Rolle des Individuums, der Fokussierung auf ReihenUntersuchungen und dem Eingriff von Dritten plausibler. 32 Vgl. die Einleitung in Kapitel 5.2.
Das Wissensregime von Zeiger und Display | 199
des besonderen Produktdesigns wird das Gebrauchsmuster der klassischen Ausführung als Spezialtypus untergeordnet.33 In den 1960er Jahren betrifft eine so genannte „Hydro-Waage“ den Spezialtypus unter den Waagen für den Heimgebrauch (K40: 4, 6). Diese Erfindung wird als Tritt- oder Sitzwaage vorgestellt. Üblicherweise funktionieren die Personenwaagen in dieser Zeit hauptsächlich als Feder-, aber auch als Laufgewichtswaagen mit Trittplatte und mechanischer oder elektrischer Wirkweise. Neu ist bei diesem Gebrauchsmuster, dass die Waage nach dem „physikalischen Prinzip“ arbeitet (K40: 3). Durch den Druckausgleich in einer mit Flüssigkeit gefüllten Röhre, die an einer Wand hängen kann, wird es möglich, dass der Apparat das Gewicht gut sichtbar und genau anzeigt. Der Vorgang selbst wird durch das Belasten der Waage ausgelöst. Bei der Ausführung als Standwaage ist von Vorteil, dass das Gerät nicht wackelt (K40: 4–6). Auf diese Weise kann Unfällen vorgebeugt werden. Daneben ist diese Waage einfach herzustellen, sie kann transportiert werden, ist wartungsfrei und deshalb lange haltbar. Der Ingenieur Walter Rau, Erfinder und Inhaber des Gebrauchsmusters, streicht diese Eigenschaften als Verbesserung gegenüber den bisher bekannten Personenwaagen wie folgt heraus: „Der
Fortschritt
der
‚Hydro-Waagen‘
gegenüber
den
bisher
gebräuchlichen
Personenwaagen beruht darin, daß die Ableseskala (Sk) größer (in der praktischen Ausführung etwa 2 m lang) und damit die Ablesegenauigkeit wesentlich besser ist als bisher. Dies ist besonders wichtig für ältere Personen mit verminderter Sehkraft. Bei Der [sic!] ‚Hydro-Waage‘ als Sitzwaage fällt der Umstand der größeren Bequemlichkeit als Fortschritt ins Gewicht, auch kann die Waage besonders auch von kranken Menschen mit Gleichgewichtsstörungen mit Vorteil verwendet werden.“ (K40: 6)
Die äußeren Merkmale von Personen, die hier genannt werden, zeigen auf, dass ältere und/oder kranke Menschen bei dieser Innovation als Zielgruppe anvisiert werden. Dadurch, dass auch von einer hohen (Ablese-)Genauigkeit die Rede ist, ist es denkbar, das Gebrauchsmuster in einem institutionellen Kontext zu verorten, beispielsweise in einem Seniorenheim. Die Beschreibung gibt aber keinen Aufschluss über den Aufstellort des Geräts. Da zur Sprache kommt, dass die Erfindung es erlaubt, dass Personen sich selbst wiegen können, erscheint es naheliegender, dass das Instrument für das private Wohnumfeld gedacht ist.
33 Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass die Waage als Medizinprodukt für den Privathaushalt vertrieben werden soll. Bezieht man diesen Hintergrund ein, hat die Hydro-Waage eine Position zwischen einer privaten Verwendung und in Institutionen.
200 | Die Personenwaage
Von der üblichen Ausführung der Personenwaage für den Heimgebrauch weichen in den 1970er Jahren insgesamt sechs Erfindungen ab (K73; K74; K75; K76; K93; K94). Diese Spezialausführungen dienen als Teil der Wohnungseinrichtung und sind besonders platzsparend. Ein durchschnittliches Badezimmer war Anfang der 1960er Jahre noch zwischen vier bis fünf Quadratmetern groß – bis heute sind die meisten Bäder mit knapp acht Quadratmetern nicht wesentlich größer – was diese Bemühungen erklärt (Klaaßen 2010: 1; Sievers 2017: 3; VDS 2012: 2). Die beiden Erfindungen K73 und K74 sind identisch und wurden von einer Einzelperson, dem Diplom-Ingenieur Gabor Faskerty aus München bei der DPMA eingereicht. Die Personenwaage ist hierbei in den Deckel einer Toilette integriert. Wie die untere Abbildung (Abb. 10) zeigt, befindet sich die Waage in der kreisförmigen, mittigen freien Fläche der Klobrille (Abb. 10, Ziffer 2). Es handelt sich um eine Federwaage mit der „Konstruktion einer üblichen Personenwaage“ (K73: 6; K74: 5) (Abb. 10, Ziffer 13). Abbildung 10: Die Toilettenwaage
Quelle: K73: 9; K74: 8
Der Ablauf des Wiegens wird wie folgt vorgestellt: „Zum Wiegen einer Person setzt sich diese auf den Toilettendeckel 10, der damit seine Stößel 11 in den Waagenmechanismus 8 hineindrückt und zu einer entsprechenden Anzeige auf der Skala 16 führt, die durch das Vergrößerungsteil 15 mühelos von der sitzenden
Das Wissensregime von Zeiger und Display | 201
Person abgelesen werden kann. Selbstverständlich muß die sitzende Person dabei die Beine vom Boden nehmen.“ (K73: 6–7; K74: 5–6)
In seinen grundlegenden Eigenschaften unterscheidet sich dieser Spezialtypus nicht wesentlich von der herkömmlichen Personenwaage für den Heimgebrauch. Ebenso hervorgehoben wird bei diesem Spezialtypus die Haltbarkeit und einfache Handhabung, einfache Herstellung („kompakter Aufbau“), leichte Ablesung und die Genauigkeit des Instruments (K73: 5; K74: 4). Darüber hinaus kommen individuelle Komponenten zum Ausdruck, weil äußere Merkmale von Personen und der Komfort in emotionaler und ästhetischer Hinsicht angesprochen wurden. Bei seinen Überlegungen verknüpft der Erfinder Aspekte miteinander, die mit Individualisierung und Ästhetisierung zusammenhängen. Das Modell zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass solche Personenwaagen nicht im Weg stehen und auch nicht „störend in Erscheinung“ treten (K73: 3–4; K74: 2–3). Das Ergebnis ist einfach abzulesen, zum einen bedingt durch den geringen Sichtabstand, zum anderen wird es vergrößert. Damit sollen Brillenträger*innen – und darunter insbesondere ältere Menschen – angesprochen werden (K73: 3, 4; K74: 2, 3). Der Wiegevorgang geht bei dieser Waage einfach vonstatten und ist nicht fehleranfällig, da dieser lediglich ein Sitzen auf der Toilette erforderlich ist. Dadurch ist eine genaue Messung gewährleistet. Um unter anderem den WC-Deckel vor Korrosion zu schützen und zu bewirken, dass dieser „nicht als kalt empfunden“ wird, verfügen diese Teile über eine zusätzliche Kunststoffschicht (K73: 5; K74: 4). In einer Genealogie der Personenwaage bildet die WC-Waage eine Ausnahme, jedoch fungiert diese Idee als Vorläufer von zwei späteren WC-Waagen (K93; K94). In den nachfolgenden Erfindungen wurde bemängelt, dass die WC-Deckel schwer und umständlich anzuheben seien, was „insbesondere auch für Kinder“ schwierig auszuführen sei (K93: 4; K94: 4). Außerdem müssen bei dem Vorläufer noch die Füße zum Wiegen angehoben werden, was für ältere Menschen aufgrund der eingeschränkten Beweglichkeit im Allgemeinen fast unmöglich ist. K93 und K94 stellen deshalb eine „in Verbindung mit einem Toilettensitz stehende Personenwaage, deren Waagenmechanismus an einer hochschwenkbaren Klappe oberhalb des Toilettenbeckens angebracht und auf dem Toilettenbackenrand als Auflager abgestützt ist“ vor (K93: 3). Das Design und die Weiterentwicklung der WC-Waage demonstriert die folgende Abbildung (Abb. 11). Auffallend bei dieser Idee ist ebenfalls die Integration der Personenwaage (Abb. 11, Ziffer 30) in die Sitzbrille (Ziffer 12) einer Toilette (Ziffer 10). Das Körpergewicht wird über eine Leitung, die zum Beispiel mit Gas oder Flüssigkeit befüllt ist, an die Gewichtsanzeigevorrichtung (Ziffer 31) weitergegeben (K93: 5, 7, 10; K94: 4, 6, 9–10).
202 | Die Personenwaage
Abbildung 11: WC-Waage mit separatem Anzeigegerät
Quelle: K93: 18–19; K94: 19
Dieses Handgerät kann in der Hand in einem individuellen Sichtabstand gehalten werden. Es wird in einer kleinen Tasche aufbewahrt und kann mit Saugnäpfen (Ziffer 40) am Rand des WC-Beckens oder an der Wand befestigt werden (K93: 8, 11; K94: 7, 10). In den Dokumenten wird die praktische Seite dieser Wiegevorrichtung betont, denn das Modell ist wiederum platzsparend, einfach zu handhaben und zu reinigen, haltbar, „ständig wiegebereit“ und der Wiegevorgang erfordert keine separate Handlung (K93: 4–5; K94: 3–4). Zudem arbeitet die Waage präzise und kann einfach sowie günstig hergestellt werden. Außerdem wird auf individuelle Belange eingegangen, denn Personen, die nicht gut sehen können, wird abermals diese Waage empfohlen (K93: 6–7; K94: 5–6). Damit decken sich diese Vorteile sowohl mit den Eigenschaften, die für die beiden früheren WC-Waagen gelten, als auch mit den üblichen Merkmalen einer Waage für den Heimgebrauch. Es ist nämlich vorgesehen, diese Erfindung bei der „ständigen Überwachung des Körpergewichts insbesondere bei Diätkuren“ einzusetzen (K93: 4; K94: 3). Bei einer weiteren Spezialausführung für den privaten Bereich wird das Instrument, mehr noch als im Fall der WC-Waage, Teil der Wohnungseinrichtung (K75). Die Erfindung sieht vor, das Gerät in die Reinigungsöffnung der Badewanne oder in die Wand des Badezimmers einzubauen (K75: 4–5). Mit Hilfe eines Handgriffs in Form einer nach unten geöffneten, muschelförmigen
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Seifenschale kann die Waage ausgeklappt und mit Stützfüßen auf dem Boden platziert werden (K75: 13). Diese Erfindung kann während des Innenausbaus bei einem Neubau eingeplant werden, andernfalls ist es möglich, das Badezimmer später nachzurüsten. Die Erfindung zeichnet sich durch eine komplexe Technik aus, denn die Stützfüße schwenken automatisch beim Ausklappen aus, wahlweise erfolgt dies mit Handgriff, Fußschalter oder Pedal. Die platzsparende Waage ist einfach zu bedienen, vor Schmutz, Wasser und anderen äußeren Einflüssen geschützt und liefert trotz unebenem Fußboden genaue Resultate (K75: 3–4, 6). Bei diesem Instrument stehen aber auch ästhetische Ansprüche im Vordergrund. Die Personenwaage soll sich harmonisch in das Badezimmer einpassen und unauffällig verstauen lassen, weil der Apparat „bündig in eine Kachelwandverkleidung“ eingesetzt wird (K75: 4). Als Adressat*innen gelten potentiell alle Haus- oder Wohnungseigentümer*innen und in der Mobilität eingeschränkte Individuen wie Senior*innen. Die Kosten für dieses Produkt sind höher einzuschätzen als bei der klassischen Ausführung, allein schon, weil der Einbau nicht von Laien durchgeführt werden kann (K75: 6–8). Auch die Erfindung K76 soll keinen zusätzlichen Platz erfordern, sich unauffällig in die Wohnung einpassen, bequem sein und eine einfache Ablesung des Ergebnisses ermöglichen. Das Instrument selbst ist wie die vorherigen Erfindungen K73 und K74, die vom selben Erfinder stammen, in eine andere Haushaltseinrichtung oder -gegenstand eingebettet. Der Mechanismus selbst ist in eine Sitzfläche integriert, die Anzeige befindet sich diskret unter den Oberschenkeln wie bei den beiden WC-Waagen (K76: 3–4): „Zum Wiegen einer Person ist es dann lediglich erforderlich, daß sich die betreffende Person auf das Sitzmöbel setzt und die Beine vom Boden abhebt, wodurch sich das volle Gewicht auf den Waagenmechanismus überträgt.“ (K76: 3) Anders als die WC-Waage kann die Sitz-Waage transportiert und zum Beispiel in das Schlafzimmer gestellt werden. Dadurch ist wie bei den herkömmlichen Ausführungen eine hohe Flexibilität gewährleistet, zusätzlich kommt jedoch der Komfort des Wiegens im Sitzen hinzu. K76 ist, wie alle Spezialausführungen in den 1970er Jahren, als Federwaage vorgesehen (K76: 4, 8). In den 1980er Jahren werden zwei Modelle mit speziellem Produktdesign vorgestellt. Das wesentliche Unterscheidungskriterium zwischen der Personenwaage für den Heimgebrauch und dem Gebrauchsmuster K121 besteht in der Anzeige, die über einen hydrostatischen Druckausgleich funktioniert und in einer langgezogenen Säule das Körpergewicht signalisiert. Sie gleicht damit einigen anderen Spezialausführungen (K40; K93; K94). Der entscheidende Vorteil dieser Personenwaage besteht wie bei allen Vertretern des Instruments, die nach diesem Prinzip arbeiten, im bequemen und genauen Ablesen auf Augenhöhe
204 | Die Personenwaage
(K121: 3), was die Abbildung unten (Abb. 12) demonstriert. Als Sonderausführung scheint sich dieses Prinzip bewährt zu haben. In der Säule befinden sich eingefärbtes Wasser und ein Schwimmer, der das gemessene Gewicht anzeigt (Abb. 12, Ziffer 5). Abbildung 12: Personenwaage mit hydrostatischer Anzeige
Quelle: K121: 11
Die Erfindung bemängelt, dass mechanische Waagen mit Anzeigen, die nicht in der Plattform, sondern weiter oben im Sichtfeld angebracht werden, ungenaue Ergebnisse produzieren.34 Der Vergleich mit dem Aufbau der Personenwaagen für den Heimgebrauch lässt den Schluss zu, dass durch die Erfindung eine Verbesserung auch dieser Geräte erreicht werden sollte: „Die im Haushalt verwendeten Personenwaagen sind vom Typ her ebenfalls Federwaagen, bei denen die Längung der Feder beispielsweise mit Hilfe [von] Zahnrad und Zahnstange
34 Bezogen auf das konkrete Korpus, können damit die öffentlichen Waagenautomaten gemeint sein, die auf mechanische Weise arbeiten und in den Kapiteln 4 und 5.1.1 behandelt wurden. Personenwaagen mit erhöhter Standsäule, die in dieser Studie zur Variante für den Heimgebrauch zählen, übertragen das Signal elektrisch, zum Beispiel K109.
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auf einen Zeiger übertragen wird, welcher auf einer entsprechend geeichten Skala das jeweilige Gewicht anzeigt.“ (K121: 2–3)
Der zuverlässige Betrieb dieser Waage macht einen permanenten Einsatz selbst im Winter bei niedrigen Temperaturen möglich, da ein Frostschutzmittel zugegeben werden kann (K121: 5). Da bis heute in Deutschland nicht in allen Räumen einer Wohnung eine Zentralheizung zur Verfügung steht (König 2008: 160; Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2014a), ergänzt dieser Gedanke die besondere Funktionsweise der Waage. Ansonsten ist das Modell eng mit den anderen Instrumenten für den Heimgebrauch verwandt. Es ist günstig herzustellen, einfach zu handhaben und lange haltbar. Es misst das Körpergewicht genau und das Ergebnis ist gut sichtbar. Es liegt nahe, dass insbesondere Personen, die schlecht sehen, bei dieser Erfindung als Zielgruppe gelten. Anders als bei den bisherigen Spezialausführungen führt das Gebrauchsmuster K122 ihre anvisierten Kund*innen im Titel des Dokuments auf. Es handelt sich hierbei um eine „Elektronische Personenwaage für Rollstuhlfahrer/-innen“ (K122: 1). Die Erfindung macht die Messung des Körpergewichts auch für Rollstuhlfahrer*innen im eigenem Haushalt möglich (K122: 2). Bisher waren diese immer auf Dritte angewiesen: „In der Regel müssen sie, unterstützt durch Hilfspersonen, normale Personenwaagen benutzen oder sie lassen sich auf einer so genannten Stuhlwaage wiegen, wobei eine zweite Person das Meßergebnis ablesen beziehungsweise die Waage bedienen muß.“ (K122: 2) Es geht hier um eine selbständige und einfache Handhabung einer Waage in einem besonderen Kontext. Zwei Wippen fungieren als zentraler Bestandteil der Waage (K122: 2; 7). Darauf werden zwei Fahrbahnen als Rampen angebracht. Wenn der Rollstuhl sich auf der Rampe befindet, wird auf der Bodenplatte das Körpergewicht angezeigt. Die laufende Weiterentwicklung der Technik erlaubt im Jahr 1988 die Verbauung eines Mikroprozessors mit einem Speicher, mit dem unter anderem das Gewicht des Rollstuhls automatisch abgezogen wird (K122: 5, 8). Das besondere Produktdesign zeichnet sich darüber hinaus durch eine komfortable und sichere Anwendung sowie einen platzsparenden Aufbau aus (K122: 2–3). Vor allem die einfache wie praktische Handhabung und die auf einzelne Personen ausgerichtete Ausführung charakterisieren diese Ausführung. Das individuelle Moment dieses Instruments tritt aber nicht nur durch die besondere Zielgruppe in den Vordergrund, sondern auch, weil das selbständige Wiegen das Wiegen durch dritte Personen ersetzt. Die Erfindung steht somit für eine Technisierung des Alltags einerseits und eine Individualisierung mit neuen Handlungsmöglichkeiten andererseits.
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DAS PARADIGMA EINES INTIMEN MESSINSTRUMENTS Im Verlauf zahlreicher Erfindungen bauen kleinste Innovationen auf immer neuen und aktualisierten Ideen auf. Unter technischen Gesichtspunkten sind es diese chronologischen Schritte, welche die Personenwaage für den Heimgebrauch zu dem Instrument machen, das sich unter all den anderen Varianten etabliert. Der ausführlichen Analyse der Hauptvariante können drei Aspekte vorausgeschickt werden. Erstens, die Patentdokumente werden in ihrer sprachlichen Ausgestaltung dichter und komplexer. Zweitens werden dadurch die Aussagen über das Datenmaterial konkreter und die Schlüsse, die in Form von Eigenschaften gezogen werden können, werden präziser. Drittens, in den 1970er Jahren ergeben sich keine weiteren, grundlegenden Modifikationen am Profil der Personenwaage. Vielmehr bestätigen sich in diesem Jahrzehnt alle früheren Veränderungen im Spezialdiskurs, die nur noch eine Aktualisierung von einzelnen Merkmalsstrukturen nach sich ziehen. Damit endet in diskursiver Hinsicht in den 1960er Jahren die gesellschaftliche Einpassung der Personenwaage für den Heimgebrauch. Die grundsätzliche Idee, mit dem Instrument das Körpergewicht zu messen, besteht jedoch von Anfang an. In einer Genealogie der Personenwaage lassen sich eben auch gewisse Konturen von Wissen und Macht feststellen, die sich im Lauf der Zeit im Spezialdiskurs manifestieren. Zunächst werden die Meilensteine skizziert, die für die Genese dieser Variante stehen. Entlang dieser Chronologie erfolgt die Analyse der einzelnen Samples. 1919 bis 1959: Die Einführung In den Patentdokumenten zwischen 1919 und 1959 werden bestimmte Aussagen immer wieder eingesetzt, um die kleine Ausführung der Personenwaage zu charakterisieren. So werden diese Apparate als „leicht“ (K32: 3–4), „kleiner“ (K31: 3), „tragbar“ (K2: 1), „dünnwandig“ (K25: 1), „gedrängt“ (K34: 3), „niedrig (-er)“ (K26: 1; K27: 3) und „raumsparend“ (K26: 1; K27: 3) beschrieben. Damit wird in mehr als der Hälfte dieses Samples35 die Personenwaage als kleines und leichtes Instrument beschrieben. Die erste kleinere, tragbare Version der Personenwaage aus dem Jahr 1919 zeigt die nachstehende Abbildung (Abb. 13).
35 Die Personenwaage für den Heimgebrauch beschreiben elf Erfindungen: K2, K19, K23, K25 bis einschließlich K27, K29, K31 bis einschließlich K32, K34 sowie K35.
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Abbildung 13: Die erste, kleine Personenwaage
Quelle: K2: 3
Alle nachfolgenden Patente und Gebrauchsmuster in diesem Sample wurden erst mehr als dreißig Jahre später, zwischen 1954 bis einschließlich 1959, zur Anmeldung gebracht. Damit wird deutlich, dass die kleinen Waagen für die Erfinder und Firmen sehr viel später populär werden, nachdem die erste zierliche Version vorgestellt wurde. Allerdings muss hierbei angefügt werden, dass das Modell von Robert Frederick Hall im Jahr 1913 im heutigen Großbritannien angemeldet wurde und das Patent anschließend in das damalige Deutsche Reich übertragen und dort sechs Jahre später geltend gemacht wurde (K2: 1). Somit handelt es sich um die erste Erfindung einer tragbaren Personenwaage in Deutschland. Die rasante Entwicklung, die Jahrzehnte später innerhalb von sechs Jahren (1954–1959) stattfand, zeigen die unten stehenden Abbildungen (Abb. 14–15). Das Gebrauchsmuster, das auf die Erfindung von Hall chronologisch folgt, lässt bereits die heutige typische, flache und rechteckige Form erkennen, mit der das Instrument auf dem Markt eingeführt werden soll (K23) (Abb. 14). Es stammt aus dem Jahr 1954. Bis 1959 nähert sich das Aussehen der Waage weiter an die heute bekannte Form an (K35) (Abb. 15).
208 | Die Personenwaage
Abbildung 14: Das heute bekannte Standard-Format aus dem Jahr 1954
Quelle: K2: 3
Abbildung 15: Waage mit Belag aus Fell (1959)
Quelle: K35: 8
Bei beiden Exemplaren ist die gesamte Vorrichtung in einem Gehäuse verborgen und liegt flach auf dem Boden auf. Diese Eigenschaften treffen auch auf alle anderen Erfindungen zu, die ab 1919 und bis 1959 angemeldet wurden. Eindeutig ist auch der Heimgebrauch der Waagen belegt, denn als Anwendungsort wird in
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mehreren Fällen das Badezimmer (und in einem Fall das Schlafzimmer) vorgestellt (K23: 3; K27: 3; K31: 3; K32: 3). Dabei wird, wie bereits bekannt ist, die Personenwaage auch als Badezimmerwaage definiert (K31: 3). 1960 bis 1969: Der Boom setzt ein Dieses Sample ist mit 32 Erfindungen gegenüber elf fast dreimal so groß wie das vorige (1919–1959). Damit setzt sozusagen ein Boom der Personenwaage ein. Die Erfindungen, die in den 1960er Jahren angemeldet wurden, etablieren die Eigenschaften der Personenwaage und machen diese zu elementaren Bestandteilen des Artefakts. Es stellt sich heraus, dass eine regelmäßige Anwendung, eine Integration in alltägliche Abläufe oder in die Wohnumgebung sowie eine möglichst praktische und individuelle Benutzung des Instruments von den Erfindern eingeplant wird. 1970 bis 1979: Die Hochphase Mit 36 neu angemeldeten Patenten und Gebrauchsmustern wurden in den 1970er Jahren mehr Innovationen als je zuvor im Bereich der Heimgebrauch-Waage geplant. Damit ist dieses Sample mehr als dreimal so groß wie das Sample mit der ersten Erfindung einer kleinen Personenwaage (1919–1959) und auch nochmals größer als das vorhergehende Sample (1960–1969). Die meisten Personenwaagen für den Heimgebrauch fungieren in den 1970er Jahren als typische Vertreter dieser Variante des Instruments. Es gibt nur wenige Erfindungen, die in Form und Aufbau geringfügig abweichen. Eine Variation besteht in einem externen Gehäuse, in dem die Anzeige untergebracht und über ein Kabel mit der Waage verbunden ist (K81; K82). Die folgende Abbildung (Abb. 16) zeigt dieses Modell und die rechteckige Form der Waage. Der innere Aufbau entspricht dem einer Federwaage, der zu dieser Zeit üblich war (K81: 6; K82: 5).36 Solche Ausführungen weisen die gewöhnliche technische Umsetzung auf und richten sich fast immer an Einzelpersonen, die das Ergebnis selbst ablesen (K81: 3–4; K82:2–3; K83: 2–4). Waagen mit einer Standsäule sind jetzt auch für den Heimgebrauch gedacht. Ansonsten gleicht eine solche Erfindung dem üblichen Vertreter im Design der Plattform, wie die unten stehende Abbildung (Abb. 17) zeigt, und soll fast ausschließlich im privaten Umfeld eingesetzt werden (K109: 11). Auch wenn sich einige Apparate im Aufbau von der klassischen Personenwaage etwas unterscheiden, verfügen auch diese über eine Vorrichtung für den Transport (z. B. K92: 4–5; K111: 9, 10), können
36 Figur 1 in Dokument K83 ist nahezu identisch mit den Modellen K81 und K82 (K83: 13).
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platzsparend untergebracht werden (z. B. K92: 4–5) und sind als Haushaltswaagen vorgesehen (K77: 3; K112: 3). Abbildung 16: Personenwaage mit neuer Anzeige
Abbildung 17: Personenwaage mit neuer Anzeige und Standsäule
Quelle: K81: 14; K82: 13
Quelle: K109: 26
Vier Erfindungen werden mit der üblichen, viereckigen Plattform ausgestattet, dabei fungiert die Anzeige als eine Art Podest (K77; K92; K111; K112) (Abb. 18). Abbildung 18: Beispiel für ein Anzeigepodest
Quelle: K92: 14
Das Wissensregime von Zeiger und Display | 211
Das Anzeigefenster ist dabei nicht in die Trittplatte eingearbeitet, sondern ragt ein Stück empor. Die oben stehende Abbildung (Abb. 18, Ziffer 33) zeigt diese exemplarisch als „zylindrische Erhöhung“ (K92: 12), eine weitere Abbildung (Abb. 17), wie bereits erwähnt, als Standsäule (K109). Das Patent K96 aus dem Jahr 1974 gleicht bis auf seine runde Form dem bisher bekannten Modell für das Badezimmer oder den Haushalt. Es verfügt über eine Plattform, ein Anzeigefenster, eine Beleuchtung sowie einen Drehknopf für die Einstellung des Nullpunkts (K96: 3–4). 1980 bis 1989: Die Etablierung als Haushaltsgegenstand Mehr als dreiviertel aller Patentdokumente – also sieben von insgesamt zehn Erfindungen – repräsentieren in den 1980er Jahren immer noch die klassische Variante für den Heimgebrauch, auch wenn insgesamt deutlich weniger neue Erfindungen angemeldet wurden. Diese Veränderung im Spezialdiskurs lässt sich mit den Patentdokumenten allein nicht erklären. Die eingangs erwähnte, aktuell hohe Versorgung der Haushalte mit Personenwaagen deutet weniger auf ein Verschwinden des Instruments hin (Kap. 1). Vielmehr scheint eine Etablierung als Haushaltsgegenstand der naheliegende Grund zu sein, der ein nachlassendes (ökonomisches) Interesse an der Erfindung und eine (vorübergehende) Marktsättigung nach sich zieht. Es zeichnete sich bereits Rahmen der Grobanalyse ab, dass sich im Verlauf der 1960er Jahre und bis heute keine grundlegend neuen Facetten der Waage mehr ergeben haben. Kulturgeschichtlich lässt sich diese Entwicklung durch die Ausstattung der privaten Haushalte mit Badezimmern erklären, die erst ab circa 1980 in den meisten deutschen Wohnungen oder Häusern vollzogen war (König 2000: 244, 2008: 157).37 Anders ausgedrückt, ist in den 1980er Jahren zum ersten Mal in der Geschichte Deutschlands in mehr als neunzig Prozent aller Haushalte ein Bad vorhanden, in dem üblicherweise eine Waage steht. Der Innovationshöhepunkt in den 1960er bis 1970er Jahren mit sehr vielen Erfindungen spricht für ein erfolgreiches Produkt, das laufend verbessert wurde.
37 Klaaßen (2010) spricht sogar von den 1990er Jahren, in denen die Vollversorgung deutscher Haushalte eintrat. Das Statistische Bundesamt wies nach, dass im Jahr 2011 98,4 % der Haushalte über ein Bad mit Badewanne oder Dusche und WC verfügte, knapp 1 % hatte weder Badewanne/Dusche, noch WC (Statistische Ämter des Bundes und der Länder 2014b). Vgl. auch Thoms (2009: 102).
212 | Die Personenwaage
5.2.1 Technisierung Der technische Fortschritt einer Gesellschaft wird dann augenfällig, wenn die Entwicklungsschritte eines Artefakts analysiert werden. Der technische Aufbau des Instruments wird im Zeitverlauf immer komplexer, weshalb eine Erfindung vielschichtiger und deren Beschreibung ausführlicher wird. Im Regelfall haben die technische Ausstattung und deren Funktion den größten Anteil in einem Patentdokument. Um diese erklären zu können, werden die ergänzenden Abbildungen zahlreicher. In den 1960er Jahren umfasst ein Patentdokument teilweise über zwanzig Seiten und bis zu 34 Seiten (K67; K68). Inklusive der technischen Skizzen werden die Erklärungen in den 1970er Jahren in einzelnen Fällen noch detaillierter und können wieder über zwanzig oder sogar 43 Seiten einnehmen (z. B. K101; K104; K105). Der Stand der Technik zu einem gewissen Zeitpunkt ist entscheidend, denn gewisse Ideen müssen technisch umsetzbar sein. So fungieren einzelne technische Details der Personenwaage als Voraussetzung für die besonderen Eigenschaften des Instruments. Anders ausgedrückt, ebnet der gesellschaftliche Prozess der Technisierung den Weg für die Waage, formuliert aber auch die Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen für Innovationen. Die Technik im Gerät wird immer weiterentwickelt, so dass bei der Genese des Instruments von technischen Entwicklungsschüben gesprochen werden kann. So wird zunächst das grundständige Modell der Personenwaage hervorgebracht. In den 1960er Jahren erfüllen die Einzelteile des Geräts bereits keine einfachen Aufgaben mehr, sondern multifunktionale. Im Jahr 1967 sichert beispielweise ein Spannschloss das Zierband und schützt die Seitenwände (K59). Gleichzeitig ergibt sich dadurch eine so genannte Aufstellfläche für die Waage und die Möglichkeit, an dieser Stelle den Handgriff anzubringen. Die technischen Abläufe im Gerät werden als simultan abzuwickelnde Prozesse vorgestellt. Um genaue Ergebnisse erbringen zu können, werden diese aufeinander abgestimmt und sollen reibungslos funktionieren: „Der große Drehwinkel und damit die Genauigkeit der erfindungsgemäßen Waage werden durch die erfindungsgemäß vorgesehene Art der Übertragung der Bewegung der Hebelarme auf die Anzeigeskala ermöglicht.“ (K67: 4) Zur selben Zeit beginnt die Ausdifferenzierung der Waage, denn die einzelnen Erfindungen können optional durch geringfügige Veränderungen angepasst werden (z. B. K38: 11, 12; K55: 4; K62: 3; K68: 6). Mehrere Patentdokumente enthalten solche Hinweise oder beschreiben eine grundständige Erfindung, die flexibel verändert werden kann, was in den 1970er Jahren üblich wird (z. B. K82: 10; K83: 4, 6–9; K98: 5; K99: 7; K105: 4; K110: 4–5): „Wie bereits erwähnt, ist die dargestellte Ausführung nur eine beispielsweise Verwirklichung der Erfindung und diese nicht darauf beschränkt, vielmehr
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sind noch mancherlei Abwandlungen möglich.“ (K81: 10) Im Jahr 1973 wird beispielsweise eine mögliche automatische Kabelaufrollung präsentiert, mit der die Waage ausgestattet werden kann (K83: 4). Die technische Weiterentwicklung erlaubt gleich mehrere Neuerungen im Verlauf der 1970er Jahre, mit denen frühere Innovationen ausgereifter werden. Dazu gehört die flächendeckende Einführung der digitalen Anzeige (Display), die Ermöglichung automatischer Berechnungen der Waage und die Ausstattung mit einem Mikroprozessor und/oder Speicher sowie Drucker. Diese insgesamt immer komplexere technische Aufbereitung des Instruments steht nicht allein für eine Technisierung des Alltags. Dazu zählt auch die Herstellung des Instruments, mit der die Bemühungen verbunden sind, ein Alltagsinstrument möglichst einfach, schnell und günstig fertigen zu können. Das Produkt Personenwaage für den Heimgebrauch setzt bestimmte Eigenschaften voraus, die es zu einem praktischen Instrument machen. In erster Linie wird dieses Ziel durch eine möglichst einfache Handhabung und lange Haltbarkeit, mitunter auch durch das schnelle Anzeigen der Messergebnisse erreicht. Diese Indikatoren werden im Folgenden einzeln beleuchtet. Einfache Handhabung und lange Haltbarkeit Als prägnanteste Eigenschaft fungiert die Handhabung und Haltbarkeit des Instruments. Über den gesamten Untersuchungszeitraum steht dieses Merkmal stets deutlich im Vordergrund. Zum Ausdruck kommt dabei, dass die Personenwaage ein praktisches technisches Gerät und als Alltagsgegenstand fungiert. Unter dieser Eigenschaft subsumieren sich – konkret gesprochen – Aussagen, die sich auf den einfachen Umgang mit dem Instrument und dessen langfristige Einsatzfähigkeit beziehen. Diese Spezifizierung erscheint bereits regelmäßig bei den ersten Erfindungen, die für den Heimgebrauch vorgesehen sind. Diese Eigenschaft wird zwischen 1919 und 1959 in acht von elf Dokumenten erwähnt.38 Hier geht es hauptsächlich darum, dass die Waage ein „handliches“ Gewicht (K25: 1) hat, damit das Instrument leicht aufgestellt und innerhalb der Wohnung hin- und hergetragen werden kann. Diese Transportfähigkeit des Apparats kommt gelegentlich zum Ausdruck (K26; K27; K32). Bereits der Vorläufer der Heimgebrauch-Waage aus dem Jahr 1919 steht für eine „tragbare Personenwaage“ (K2: 1). Aussagen zur Handhabung und Haltbarkeit des Instruments korrelieren mit einem geringen Gewicht und Größe der Waage: „Die bekannten Waagen dieser Art zeichnen sich durch niedrige, raumsparende Bauweise aus und sind leicht transportabel.“ (K26: 1) Diese Charakteristik der
38 Lediglich in drei Dokumenten wird eine einfache Handhabung und lange Haltbarkeit nicht erwähnt (K19; K29; K31).
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Personenwaage wird an anderer Stelle durch die Attribute „raum- und gewichtssparend“ ergänzt (K27: 3). Eine gute Transportfähigkeit der Waage steht damit für eine einfache Handhabung. Die allmähliche Integration in den Alltag und den Haushalt versinnbildlichen Überlegungen zur Haltbarkeit und Reinigung des Instruments. So wird darüber berichtet, dass sich immer wieder einzelne Bestandteile von der Waage lösen oder nicht stabil sind. Dazu zählen zum Beispiel der Belag auf der Trittplatte der Waage und die Klemmen, die diesen Belag festhalten (K35). Es wurde gefordert, dass das Lösen von wichtigen Hebeln im Inneren künftig besser und bereits bei der Planung und Fertigung berücksichtigt werden sollte (K34). Mit dem Einsatz von bestimmten technischen Mitteln kann gleichzeitig eine genaue Messung und eine einfache Herstellung erreicht werden: „Um einerseits die innere Reibung im Wiegesystem möglichst gering zu halten, andererseits eine einfache Montage der Wiegeplatte zu ermöglichen, sitzt diese vorteilhaft mittels je einer Schneide auf den Kipphebeln auf und ist gegen ein Lösen von den Kipphebeln durch mindestens eine einerseits in ihre Unterseite, andererseits in die Bodenplatte eingehängte Schraubenfeder od. dgl. gesichert.“ (K34: 5)
Damit wird deutlich, dass die Herstellung, genaue Messung und Langlebigkeit des Instruments zueinander in Beziehung stehen. Dadurch, dass die Personenwaage vorwiegend im Badezimmer aufgestellt oder gelegentlich gereinigt wird, ergibt sich für die Erfinder die Problematik, dass das Instrument der feuchten Luft und Feuchtigkeit standhalten muss (K23; K35). Vor allem geklebte Beläge scheinen sich relativ schnell zu lösen. Bei der Planung und Herstellung wird bei den Erfindungen von Artur Schmidt und der Waagenfabrik Freudewald & Schmitt nicht nur auf die die Haltbarkeit geachtet, sondern auch auf eine optisch ansprechende Verarbeitung des Apparats (K23; K35). Zwischen Ober- und Unterteil der Waage kann zum Schutz und zur Zierde eine „Stoß- und Zierleiste“, beziehungsweise eine „Zierleiste“ befestigt werden (K23: 5–6; K35: 4). Auch in den 1960er Jahren wird eine einfache Handhabung und Haltbarkeit als Ausstattungsmerkmal der Personenwaage deutlicher als andere Eigenschaften hervorgehoben. Dieses Merkmal wird ausnahmslos in allen Patentdokumenten thematisiert. Besonders intensiv wird dies nun in Form eines Traggriffs diskutiert, der an der Personenwaage angebracht werden kann, um den Transport zu vereinfachen. Ein Patentdokument aus dem Jahr 1960 veranschaulicht, dass das Gerät praktisch und leicht zu transportieren sein soll: „Um einen einfachen und leichten Transport der heute allgemein üblichen, besonders für Haushalte geeigneten Personenwaagen zu ermöglichen, hat man diese mit einem
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zusätzlichen Traggriff ausgerüstet.“ (K36: 3) Ein hin- und herschwingender Tragbügel, von früheren Erfindungen vorgeschlagen, wird als „nachteilig empfunden“ und die neue Umsetzung soll ein „besonders angenehmes Tragen der Waagen“ erlauben (K36: 3–4). Daraus geht hervor, dass sich das Instrument seinen Benutzer*innen anpasst und dass davon ausgegangen wird, dass sich die Personenwaage als Haushaltsgegenstand in den Alltag integriert. Gleichzeitig werden individuelle Vorlieben und Emotionen angesprochen, wodurch zum Ausdruck kommt, dass der gesellschaftliche Individualisierungsschub, der sich in den 1960er Jahren abzeichnet, bei der technischen Entwicklung Berücksichtigung fand. Dieser rote Faden zieht sich durch das gesamte Jahrzehnt (1960–1969). Auch 1962 kommt die Verbindung zwischen einer einfachen Handhabung, den individuellen Wünschen und eine unkomplizierte Einbettung in den Haushalt zum Ausdruck, weil die Aufbewahrung angesprochen wird: „Mit der Plattform ist zur Erleichterung der Handhabung ein Handgriff 29 verbunden, falls es erwünscht ist, die Waage in aufrechtstehender Lage aufzubewahren.“ (K41: 11) Die flexible Aufbewahrung, der Transport des Apparats in andere Räume und dessen praktische Reinigung werden wie in den vorigen Jahrzehnten aufgegriffen (K47). Diese drei Elemente werden immer wieder (zusammen) genannt, so dass diese Eigenschaften die Waage als Alltagsgegenstand konstituieren (z. B. K48; K56; K59). So werden die Transportfähigkeit (z. B. K38; K58), die Sicherheit beim Benutzen des Geräts (z. B. K48; K63), eine einfache Reinigung (z. B. K47; K48), die ständige Einsatzfähigkeit des Instruments und eine flexible Lagerung zu den konkreten Eigenschaften des Geräts. Die Firma Robert Krups legt bei ihrer Erfindung dar, dass die Aufbewahrung nicht viel Platz einnimmt, die Waage sicher stehen und die technische Ausführung bei der Benutzung keine Unfälle hervorrufen, aber auch komfortables Umhertragen des Geräts möglich sein soll (K39).39 Eine weitere Idee des Unternehmens soll ein frühzeitiges Verschleißen der Waage vorbeugen, das Gerät kann auf dem Fußboden aufgestellt werden und die technische Ausführung soll (Finger-)Verletzungen vorbeugen (K60). Diese werden durch „scharfe Kanten“ hervorgerufen, was vermieden werden soll (z. B. K60: 4, 8; K63: 4). Die Farbwerke Hoechst AG schlagen eine leichte Personenwaage vor, die aus einem Material gefertigt ist, das bei der Aufbewahrung im Badezimmer in feuchter Luft nicht korrodiert (K46).40 Bis jetzt steht fest, dass die Personenwaage mit den Händen transportiert, aufgestellt, von Hand in
39 Damit war kein stabiler Stand auf der Waage gemeint, sondern eine Waage, die auf dem Boden ruhig steht und nicht wackelt. 40 Nässe und Feuchtigkeit stellen ein wiederkehrendes Problem dar, dem durch neue Ideen begegnet wurde (K53: 6; K68: 16).
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Nullstellung gebracht und bei Bedarf gereinigt oder der Belag ausgetauscht werden kann. Nach wie vor bedeutet diese Art der vorgeschlagenen Handhabung, dass das Instrument klein und leicht ist. Zwischen 1970 und 1979 sprechen fast alle Erfindungen über die einfache Handhabung und Haltbarkeit des Instruments, lediglich zwei von 37 Patentdokumenten bilden eine Ausnahme (K90; K110). Die Bedeutung dieser Eigenschaft wird dadurch unterstrichen, dass Aussagen zur Handhabung und Haltbarkeit innerhalb eines Dokuments mehrfach wiederholt werden oder ein breites Spektrum des Merkmals präsentiert wird. So stellt ein Gebrauchsmuster aus dem Jahr 1970 eine transportfähige, sichere und robuste Personenwaage vor (K70). Das Patentdokument K87 thematisiert beispielsweise einen vereinfachten Wechsel der Batterien und den Schutz vor Feuchtigkeit im Geräteinneren mehrmals (K87: 2, 3). Auch das Gebrauchsmuster K98 funktioniert vom Stromnetz unabhängig und die Glühlampen für die Beleuchtung der Anzeige können „im Bedarfsfall auf einfache Weise ausgewechselt werden“ (K98: 11). Diesen Vorteil hebt ebenso ein anderes Gebrauchsmuster hervor (K96: 4). Zu den Eigenschaften der Personenwaage zählen immer noch die Transportfähigkeit des Apparats, ein geringes Gewicht sowie dessen kleine Größe.41 Eine solche „leichte Personenwaage“ verfügt über einen praktischen Transportgriff, um dieses auf einfache Weise im Haushalt hin- und hertragen zu können (K77: 3). Auf diese Weise entstand in diesem Jahrzehnt ein „extrem leichtes Bedarfsgerät“ (K71: 6), das platzsparend aufzubewahren ist. Solche Aussagen streuen sich über das gesamte Jahrzehnt. Die Spannweite reicht von einem aufblasbaren Modell aus dem Jahr 1973 (K80), einer äußerst kompakten Ausführung im Jahr 1974 (K95) bis hin zu einer besonders leicht und flexibel zu verstauenden Personenwaage aus dem Jahr 1978 (K108). Das Instrument wird demnach als einfaches, praktisches und unkompliziertes Haushaltsgerät geplant. So wird Ende der 1970er Jahre eine Personenwaage präsentiert, die mit einfachsten und in Haushalten üblicherweise vorhandenen Gegenständen, wie einem Schraubenzieher oder einer Münze, auch von Privatpersonen (abhängig vom jeweiligen Ortsfaktor) genau eingestellt werden kann (K112: 3). Eine andere, so genannte „elektronische Personenwaage“ wird neu eingeführt und kann durch das Betreten der Plattform automatisch ein- und anschließend wieder ausgeschaltet werden (107: 3–4). Dadurch entfällt ein separates Betätigen eines Schalters. Daneben handelt es sich bei dem Instrument um ein flexibles Gerät, denn bei einer anderen Erfindung ist es vorgesehen, dass
41 Diese Aspekte werden in den folgenden Patentdokumenten erwähnt: K70 bis einschließlich K72, K77, K79, K83, K87, K92, K95, K98, K99, K108, K111.
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die Anzeige abgenommen und auf dem Tisch oder an der Wand positioniert werden kann (K108: 3). Eine solche flexible Handhabung der Anzeige geht aus drei weiteren Erfindungen hervor, da die Anzeige nicht fest am Gerät montiert war (K81; K82; K83) (Abb. 16)42. Weiterhin geäußert werden Aspekte, welche die Sicherheit (z. B. K79; K86; K104) und Reinigung (z. B. K79) des Instruments betreffen. Die vorgestellten Geräte zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie stabil und haltbar sind. Dabei sollen die verbauten Teile eine dauerhafte Stabilität des gesamten Systems gewährleisten und sich nicht verbiegen oder verformen (K91:3–5). Das Instrument ist technisch auf einen langfristigen Betrieb ausgelegt (K97: 4). Beispielsweise sollten die eingesetzten Batterien möglichst lange halten, „um mit einer […] handelsüblichen Batterie die Funktionsbereitschaft der Waage über einen maximalen Zeitraum, zum Beispiel ein Jahr, zu gewährleisten.“ (K105: 4) Eine Strapazierfähigkeit wird anvisiert, weil die Waage so gefertigt werden soll, dass beim Betreten des Geräts die Zeiger nicht berührt werden (K70: 3–4; K104: 4). Auch der Verschleiß und die Korrosion von Kontakten sind ein Thema, da diese für ein genaues Ergebnis auf der Anzeige sorgen (K78: 3). Es geht um ein solides Messinstrument, dessen Genauigkeit von Einzelteilen abhängig ist. Damit ist die praktische Seite des Instruments mit dessen Präzision eng verbunden. Die einfache Handhabung und lange Haltbarkeit der Personenwaage ist in den 1980er Jahren fest verankert. Die Firma Robert Krups Stiftung & Co KG setzt diesen Anspruch so um, dass der Belag „formstabil“ und „unlösbar“ mit der Trittplatte verbunden ist (K117: 2, 4). Die folgende Abbildung (Abb. 19) veranschaulicht eine solche Idee. Abbildung 19: K117 mit mehreren, haubenartigen Überzügen
Quelle: K117: 12
42 Die Abbildung befindet sich im Einleitungstext zu Kapitel 5.2.
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Zwischen dem Textilbelag und der Trittplatte befinden sich zwei bis drei Kunststoffschichten (Abb. 19, Ziffer 13), mit denen die gesamten Ober- und Seitenflächen überzogen werden. Es soll bei dieser Erfindung sichergestellt werden, dass alle verwendeten Schichten auf lange Sicht ihre Form erhalten können (K117: 8). Eine Langlebigkeit des Geräts wird in allen Patenten und Gebrauchsmustern artikuliert (K115: 4, 5; K116: 4, 5; K117: 2, 4, 5, 8; K119: 2; K120: 3). Das nachfolgende Patentdokument K119 stellt einen „wasserdichten Überzug in Form von Wachs, Gummi, Kunststoff“ vor, mit dem die im Inneren verbauten technischen Teile vor Wasser geschützt werden und dadurch langfristig funktionieren (K119: 2). Mitte der 1980er Jahre setzt sich eine Erfindung mit einem möglichen Verschleiß der verbauten Teile bei kontinuierlichem Einsatz des Geräts auseinander, was vermieden werden soll (K120: 3). Ein einfacher wie praktischer Umgang mit der Personenwaage ist immer noch fest eingeplant, weil das Gerät klein, leicht und zusammenklappbar ist (K114), die Anzeige flexibel positioniert (K113) und die Batterie einfach gewechselt werden kann (K113). Die Anzeigevorrichtung selbst kann auf einen Tisch gestellt oder an einer Wand befestigt werden (K113: 4). Auch die Sicherheit spielt weiterhin eine elementare Rolle. Die Personenwaage soll einen festen Stand haben, der Belag soll auf der Trittplatte nicht rutschen und außen angebrachte Kabel sollen nicht behindern (K113: 4; K117: 5; K119: 3). Alle aufgeführten Aspekte demonstrieren einen unkomplizierten und dauerhaften Einsatz des Instruments. Die technischen Komponenten, mit denen eine einfache Handhabung und lange Haltbarkeit der Personenwaage gewährleistet werden soll, beabsichtigt eine Technik im Alltag. Diese Eigenschaft des Artefakts fungiert als stabiles Element im Spezialdiskurs und steht für einen Alltag mit Technik. Einfache Herstellung und ökonomische Überlegungen Das Sprechen über die Herstellung des Instruments wird, anders als die Handhabung und Haltbarkeit des Instruments, erst nach und nach präsenter. Hier geht es darum, wie die Produktion eines Alltagsgegenstandes in betriebswirtschaftlicher Hinsicht schnell und kostengünstig verwirklicht werden kann. Es handelt sich um eine einfache Herstellung der Personenwaage und damit verbundene ökonomische Überlegungen, die auf eine Massenproduktion eines Alltagsgegenstands und dessen betriebswirtschaftliche Planung abzielen. Die Themen der Erfinder, die um diese Eigenschaft kreisen, werden ab Ende der 1950er Jahren – also zeitgleich zum wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg – konkreter und intensiver diskutiert.
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Einzelne Hinweise auf eine einfache Herstellung des Instruments werden zwischen 1919 und 1959 als Zeichen beginnender Massenproduktion und Hinweis auf eine künftig anhaltende Technisierung des Alltags verstanden (K25; K29; K34). Der hohe Anteil an Anmeldungen, die von Firmen ausgingen – acht der elf Patente und Gebrauchsmuster sind auf Unternehmen eingetragen – versinnbildlichen diese Entwicklung.43 Auch wenn Ideen, die sich auf die Handhabung, Haltbarkeit und Transportfähigkeit des Instruments beziehen, Anfang der 1960er Jahre deutlich häufiger geäußert werden (z. B. K36; K37; K41), zeigt sich, dass die Produktion des Instruments im Verlauf des Jahrzehnts an Bedeutung gewinnt. Neu ist gegenüber allen bisherigen Erfindungen, dass die industrielle Produktion der Personenwaage in „grossen Stückzahlen“, als „Großserienherstellung“, gekennzeichnet wird (K63: 3, 6). Das Instrument wurde als Massenprodukt entworfen. 1968 ging es darum, im Herstellungsprozess eine „preisgünstige Fertigung“ mit „geringen Werkzeugkosten“44 umzusetzen (K63: 3, 6). Durch die Verwendung von neuen Werkstoffen können „Einzelarbeitsgänge eingespart“ werden, weil die wesentlichen Teile des Apparats „in einem Stück geformt“ werden können (K46: 3, 4). Auch das Verpacken und die Lagerung der Ware werden in diesem Zusammenhang erwähnt (K39: 3). Einzelne Arbeitsgänge werden nun bereits bei der Entwicklung der Erfindung aufeinander abgestimmt, um die Produktion zu beschleunigen (K46: 4). Dabei ist es vorgesehen, günstige Materialien wie Kunststoffe zu verwenden, um die Herstellungskosten zu minimieren (z. B. K46; K49; K50; K53; K62). Ungefähr zwei Drittel aller Anmeldungen in diesem Sample nutzen Aussagen, die zusammen verdeutlichen, dass die Waage einfach, schnell und günstig hergestellt werden soll.45
43 K19, K25 bis einschließlich K27, K29, K31, K32 sowie K25. 44 Werkzeuge können vielfältiger Art sein und gehen über das allgemeine Verständnis von kleineren Handwerkzeugen hinaus. Es handelt sich dabei unter anderem auch um Werkzeuge, die für den Betrieb von Maschinen und deren Aufgaben benötigt werden. Diese Werkzeuge dienen als eine Art Vorlage, in die flüssige Materialien wie Kunststoffe gespritzt werden. Daraus entstehen die Einzelteile der Waage, zum Beispiel die der Zeiger (K49: 3–4) oder die Trittplatte (K62: 3). 45 Eine einfache, günstige und/oder schnelle Herstellung wird unter anderem wie folgt artikuliert: „billig in der Herstellung“ (K37: 1); „verhältnismäßig aufwendig […] beansprucht verhältnismäßig viel Zeit“, „Fertigung des Triebes in aller Regel auf ein Metall angewiesen […] nunmehr auch andere Werkstoffe einsetzen“ (K50: 3, 5); „ist verhältnismäßig teuer“ (K51: 4); „Gewichtsersparnis“, „einfacher und preisgünstiger herstellen“ (K53: 3, 5); „ohne eine wesentliche Verteuerung […] Anzeige genauer
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Die künftigen Benutzer*innen rückten gleichzeitig als potentielle Käufer*innen und Kund*innen in das Blickfeld der Hersteller und weiterer Akteure, die Schutzrecht im Umfeld der Personenwaage anmeldeten (K56: 3, 5; K57: 3, 4). Das Instrument wurde in diesen Jahren betriebswirtschaftlich relevant und es wurde überlegt, wie dieses strategisch vermarktet werden konnte. Das Artefakt und das Subjekt wurden demzufolge von den Erfindern zusammengedacht, was bedeutet, dass sich die Technisierung des Alltags auf das Individuum ausrichtete. In den 1970er Jahren ermöglichen technische Innovationen eine problemlose Fertigung, die zügig vonstattengeht und nicht teuer ist. So wird im Jahr 1973 eine Personenwaage vorgestellt, die ohne großen Aufwand produziert werden kann, als fertiges Wiegeinstrument aber trotzdem genau arbeitet (K78: 3). Auch Mitte der 1970er Jahre wird darauf eingegangen, dass diese beiden Ansprüche erfüllt werden müssen (z. B. K87: 2, 3; K97: 3; K98: 4; K99: 4). Dazu sollen „unerwünschte Mehrkosten“ wie „mehrere Arbeitsgänge“ bei der Herstellung vermieden werden (K97: 3). Teure Einzelteile und ein langwieriger Zusammenbau des Produkts werden nicht weiterverfolgt (K98: 4; K99: 4). Durch solche Maßnahmen kann sich der Verkaufspreis der Waage erhöhen, wie im Jahr 1977 problematisiert wird (K106: 8). Am klarsten erkennbar werden die Bemühungen um eine einfache, schnelle und günstige Produktionsweise der Waage, indem die Herstellung so geplant wird, dass die Bestandteile des Apparats „einstückig montagebereit“ stehen und diese vorgefertigten „Waageelemente mit geringen Kosten“ zusammengesetzt werden können (K71: 5). Eine Technisierung des Alltags bedeutet im Planungs- und Produktionsprozess Maßnahmen zu ergreifen, die das Instrument erschwinglich machen. Ökonomische Überlegungen erscheinen als Ideen, die neue, einfache oder sicher handzuhabende Elemente der Waage versprechen, was sich positiv auf den Absatz der Waagen auswirken kann (K86: 2; K92: 4; K104: 5). Diese betriebswirtschaftlichen Erwägungen sind mit der praktischen Seite des Instruments und dessen Attraktivität für individuelle Verbraucher verknüpft. Die Personenwaage soll demzufolge ein Haushaltsgegenstand sein, der sich gut verkaufen lässt, sozusagen „marktgängig“ ist (K86: 2) und der gut beworben werden kann, also „werbewirksam“ ist (K92: 4). Die
wird“ (K55: 3); „einfach und preisgünstig herstellbar“ (K59: 4); „leichter und einfacher Ausgestaltung“ (K62: 3); „besonders einfach und preisgünstig hergestellt“, „preisgünstige Fertigung“, „in einem Arbeitsgang herstellen“ (K63: 2, 3, 6); „wesentliche Vereinfachung der Fertigung“ (K65: 3). Darüber sprechen die Erfindungen K39, K42, K43, K45 bis einschließlich K47, K49, K60 und K66 in ähnlicher Weise.
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„Massenfertigung“ des Geräts (K82: 3) bleibt mit der Vermarktung – also dem Subjekt – verbunden (K81: 3). Eine unkomplizierte und günstige Herstellung bedeutet zwischen 1980 und 1989 ein „Minimum an Bauteilen“, um „erhebliche Montagekosten“ einzusparen (K115: 2–3; K116: 2–3). So soll der Belag wie auch der Überzug auf der Personenwaage nicht nur lange halten, sondern auch möglichst einfach und preiswert in der Produktion sein (K117: 3–4). Der Alltagsgegenstand Personenwaage ist mittlerweile so etabliert, dass dieser mit Teilen nachgerüstet werden kann, die im (Groß-)Handel erworben werden können (K120: 4). Die konkrete Fertigung wird weiter vereinfacht, so dass die „Montage keine hohen Anforderungen stellt und für eine Massenproduktion geeignet ist“ (K119: 2). Einzelne Teile können gestanzt werden, was die Fertigung in hohen Stückzahlen unterstützt (K120: 4). Das Instrument wird nach wie vor als Massenprodukt verstanden, das „in großen Stückzahlen als Badezimmerwaagen angeboten“ wird (K115: 2; K116: 2). Die Frage, ob die Waage eine Rolle im Alltag spielen wird, stellt sich damit nicht mehr, diese wird bereits antizipiert.
Schnelle Messergebnisse Im gesamten Untersuchungszeitraum werben die Erfinder nur sehr selten dezidiert für ein Instrument, das schnell messen kann. Speziell in der ersten Hälfte der 1970er Jahre wird diese Eigenschaft allerdings mehrere Male thematisiert – also in Zeiten, als die Zahl der Erfindungen sich auf einem Höhepunkt befinden. Die einzelnen technischen Vorrichtungen sollen ohne Zeitverzögerung das Körpergewicht exakt wiedergeben (K81: 5; K83: 3; K91: 4; K101: 13). Die bisher langsame technische Abwicklung wird dann auch im Jahr 1974 bemängelt, weil ein Auspendeln der Feder erforderlich ist: „Das federnde Element am Lasthebelkopf hat aber den Nachteil, dass in der Übertragung Schwingungen auftreten, so dass es einer erheblichen Zeit bedarf, bevor die Anzeige zur Ruhe kommt.“ (K91: 4) Zwei Jahre später, 1976, wird in einem Patentdokument eine Zeitvorgabe für die Wiedergabe des Körpergewichts empfohlen (K101: 13). Daraus geht hervor, dass eine genaue Messung dennoch eine gewisse Zeit beansprucht.46 Daneben ist auch von einer Zeitersparnis die Rede, weil das (Vergleichs-)Ergebnis ohne weitere Berechnungen oder Schwierigkeiten bei der Ablesung zur Verfügung steht (K72: 3; K88: 9; K89: 9). Ein Patent zeichnet sich darin aus, dass eine
46 „Die „‚Auslöse-‘ Geschwindigkeit“ beträgt vorzugsweise etwa 10 Sekunden je 20 Stones für eine Personenwaage“ (K101: 13). 20 Stones entsprechen circa 127 kg.
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„sich wägende Person sofort und augenfällig feststellen [konnte, Anm. DF], ob ihr tatsächliches Gewicht mit dem von ihrer Größe abhängigen Optimalgewicht übereinstimmt oder nicht und um welches Maß sie in Bezug auf dieses Optimalgewicht Über- oder Untergewicht besitzt.“ (K72: 3)
Auch wenn in den Patentdokumenten in der Hochphase der Personenwaage für den Heimgebrauch über schnelle Messergebnisse gesprochen wird, tritt dieses Merkmal gegenüber allen anderen Eigenschaften des Instruments in den Hintergrund. 5.2.2 Individualisierung Auch wenn sich die Erfinder der Umsetzung einer einfachen Handhabung, langen Haltbarkeit und einfachen Herstellung der Personenwaage intensiver widmen, haben diese konkrete Vorstellungen über eine Individualisierung des Messinstruments. Damit sind Komponenten der Personenwaage gemeint, die sich an individuelle Interessen, Vorlieben und Eigenschaften adressieren. Diese können auch spielerische Momente einschließen, die sich bei der Interaktion eines Subjekts mit dem Instrument einstellen, und betreffen eigene Einstellungen des Apparats oder Auswahlmöglichkeiten. Der gesellschaftliche Trend zur Individualität zeigt sich also darin, dass ein Gerät zwar als Massenprodukt verstanden, aber dem Individuum in Form vielfältiger Variationen angeboten wird. Diese Anpassung der erfinderischen Pläne an den gesellschaftlichen Individualisierungsprozess besteht im gesamten Untersuchungszeitraum, weshalb die Berücksichtigung persönlicher Wünsche und Bedürfnisse auf dem Markt auch nachgefragt wird. Zwischen 1919 und 1959 wiederholen sich Aussagen, die das Ziel haben, zur Attraktion des Instruments beizutragen. Bestimmte Aspekte, die in den Erfindungen angesprochen werden, betreffen emotionale Aspekte und Empfindungen, welche durch die Waage hervorgerufen, verstärkt oder auch abgeschwächt werden können. Dazu zählt die flexible Integration des Instruments in den Alltag: „Sie [Die Rollen, Anm. DF] ermöglichen das bequeme Vorziehen der Personenwaage von ihrem ständigen Aufstellungsort an einer Wand und das Zurückrollen der Personenwaage nach Gebrauch unter leichtem Hochkippen der vorderen Querkante.“ (K32: 7) Der Belag wird nicht mehr geklebt und kann ausgewechselt werden, der Belag wird also individuell wählbar: „Die Neuerung betrifft eine Personenwaage, […] bei welcher auf der Trittfläche ein flexibler Belag angebracht ist. Dieser Belag hat den Zweck, das Betreten der aus Metall
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bestehenden Trittfläche der Waage mit bloßen Füssen weniger unangenehm zu machen und die Trittfläche beim Betreten mit Schuhwerk zu schützen.“ (K35: 3)
Diese Argumentationen zeigen, dass die Waage für die häufige Anwendung gedacht ist. Die Individualisierung der Waage soll deren Haltbarkeit nicht beeinträchtigen. Gleichzeitig soll das Wiegen als angenehmer, bequemer, einfacher und leicht zu bewältigender Ablauf wahrgenommen werden (K26; K32; K35). Mit einem Belag aus Fell oder textilen Materialien 47 fühlt sich die Oberfläche der Waage (und auch das Instrument selbst) beim Betreten nicht kalt, sondern angenehm an. Daneben werden nun auch bei der Personenwaage für den Heimgebrauch körperliche Eigenschaften von Individuen wie Kurzsichtigkeit und Übergewicht berücksichtigt. Auch für diese speziellen Zielgruppen sollte das Wiegen ein angenehmer Prozess sein (K26; K32). Gleich zwei Erfindungen sehen einen Apparat vor, der mit Hilfe von Rollen einfacher bewegt oder das Ergebnis mit Hilfe einer aufsetzbaren Lupe unkompliziert abgelesen werden kann (K26; K32). „Personen, die sich nicht bücken können oder dürfen, wie z. B. stark korpulenten oder kranken Personen wird hierdurch die eigene ständige Gewichtskontrolle überhaupt erst ermöglicht.“ (K32: 5) Neben dem zentralen Kriterium, der praktischen Handhabung, ergibt sich in den 1960er Jahren ein bestimmtes Profil der Personenwaage. Die Erfinder der Patente und Gebrauchsmuster betonen Komponenten, die das Instrument für einzelne Nutzer*innen interessant machen, in den Patentdokumenten stärker als eine genaue Messung und die Anwendung des Instruments. Zusammen mit Aussagen zur einfachen Herstellung gehören diese vier Kennzeichen der Personenwaage zu den am meisten wiederholten Indikatoren in diesem Sample. Die Murrhardter Waagenfabrik Gebrüder Soehnle schildert in ihrer Gebrauchsmusteranmeldung den Entwicklungsstand der Personenwaage im Jahr 1966 wie folgt: „Bei bekannten Ausführungen ist deshalb auf die Trittfläche eine feste Kunststoffplatte aufgesetzt worden, es sind auch Polsterungen der verschiedenen Art bekannt. Bei diesen Ausgestaltungen ist bemängelt worden, dass […] zum Beispiel Farbgebung und dergleichen der Polsterung nicht den eigenen Wünschen des Verbrauchers angepasst werden kann.“ (K56: 3)
Es wird neben einer „guten Polsterung der Trittfläche“ eine „in vielen Farben und Ausführungen erhältliche Auflage“ neu eingeführt, die „vom jeweiligen Kunden
47 Vgl. stellvertretend die Abbildung 15 von Einleitung zu Kapitel 5.2.
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nach eigenem Geschmack ausgewählt werden“ kann (K56: 6). Hier kommen wieder personenabhängige Bedürfnisse, also die Individualisierung der Personenwaage, zum Ausdruck. Auf die Trittfläche aus Gummi oder Kunststoff können auswechselbare (und waschbare) Textilstoffe oder synthetisches Plüsch angebracht werden. Über die Flexibilität des Belags wird auch in anderen Erfindungen gesprochen (K47; K48; K59) und bedeutet eine Weiterentwicklung eines Gebrauchsmusters aus dem Jahr 1959 (K35). Aus einem anderen Patentdokument aus dem Jahr 1957 geht ein ähnlicher Gedanke hervor (K57). Diese Erfindung macht es möglich, je nach Bedarf eine „Lichtquellen- und Batterieanordnung“ an der Personenwaage anzubringen (K57: 3–4). Die Anwendung des Instruments soll in dieser Zeit positiv besetzt sein. Bestimmte individuelle Aspekte betreffen vor allem das bequeme Tragen des Geräts innerhalb der Wohnung und den bequemen Transport (in einer Tasche oder Koffer) von A nach B außerhalb der Wohnung (K36: 3; K38: 3; K59: 4; K62: 2). Der Umgang mit der Personenwaage soll in vielerlei Hinsichten als komfortabel wahrgenommen werden. Wenn ein Kunde zuhause die Waage betritt, soll der Belag nicht unangenehm in die Fußsohle drücken (K47: 3), der Haltegriff nicht stören (K58: 2), das Ablesen soll ohne Mühe, das heißt ohne unbequemes Bücken vonstattengehen (K45: 7; K55: 3) und die Benutzer*innen sollen von der Beleuchtung der Waage nicht geblendet werden (K57: 3). Die Zielgruppe der Waage wird im Verlauf dieses Jahrzehnts ausgeweitet. Das Wiegen von Kindern (K68: 5) sowie von Jung und Alt wird konkret benannt (K41: 3), während andere Kundenkreise eher indirekt thematisiert werden. So wird von „breitere[n] Hände[n]“ gesprochen, die nicht in den Traggriff passen, was auf große und übergewichtige Personen hindeutet (K38: 3). Ein auf Augenhöhe befindliche Anzeigefenster oder eine -säule beziehungsweise das Vorhaben, am Gerät eine Lupe anzubringen, weist auf kurzsichtige Kund*innen hin (K45: 3; K55: 3, 18). Bei einer anderen Erfindung ist vorgesehen, dass sich die Wiegenden einer von drei Gewichtsklassen (0–100, 100–200, 200–300 Pfund) zuordnen, die aber nicht benannt, definiert oder bewertet werden (K68). Das Gewicht wird anschließend in ein-Pfund-Schritten48 von 0 bis 100 angezeigt. Damit werden auch korpulente oder muskulöse Individuen als Zielgruppe anvisiert (K68: 5). Das Maximalgewicht selbst reicht von 250 Pfund (ca. 113 kg) bis 150 kg (K41: 22; K57: 14; K58: 4). Neu war ein ganz spezieller Adressatenkreis, nämlich „Sportler und Schauspieler“ (K62: 2). Die Überwachung des Körpergewichts ist angezeigt, wenn bestimmte Ziele verfolgt werden:
48 Ein Pfund entspricht circa einem halben Kilogramm.
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„Es ist vielfach zweckmäßig und günstig, in manchen Fällen sogar notwendig, eine Waage zur Verfügung zu haben, um über einen bestimmten Zeitraum sein Körpergewicht überwachen und kontrollieren zu können. Das mag im allgemeinen der Fall sein, wenn man zu Haus ist oder sich in größeren, moderneren Hotels aufhält, nicht aber, wenn man beispielsweise in seinem Urlaub abgelegene Gegenden aufsucht oder Gebiete bereist, die dem Tourismus noch wenig erschlossen sind. Die Überprüfung des Körpergewichts ist für manche Menschen eine Voraussetzung zur Erhaltung der Gesundheit, für andere eine Voraussetzung für Erfolg im Beruf, beispielsweise für Sportler und Schauspieler.“ (K62: 2)
Die Personenwaage soll also helfen, die Gesundheit konstant aufrechtzuerhalten oder zu Erfolg im Beruf verhelfen. Dies gilt für den Alltag im eigenen Zuhause, wie auch im Urlaub auf Reisen. Das Instrument ist leicht und besteht aus einer Platte „mit einem aufblasbaren Kissen“, das stabil auf dem Boden aufliegt (K62: 3, 6). Ähnlich wie eine Luftmatratze wird diese Waage vor dem Einsatz aufgeblasen und misst das Körpergewicht auf 500 g genau (K62: 4, 6). Bei diesem Patent werden nicht nur spezielle Personengruppen anvisiert, die ihren Körper, dessen Konstitution und Leistungsvermögen für ihren Beruf trainieren oder optimieren (Individualisierung, Normalisierung und Medikalisierung), sondern auch der regelmäßige Vergleich des Ergebnisses sowie die (präventive) Anwendung und der situative Kontext präzisiert. Im Fall von Sportlern und Schauspielern ist von einem Wissen – und der entsprechenden Praktiken – die Rede, das die unmittelbare gesellschaftliche Teilhabe eines Subjekts ermöglicht. Im Fall von Krankheit und Prävention handelt es sich beim Wiegen um keine freiwillige Praktik, die Überwachung der Gesundheit dient der Erhaltung des Lebens. Beiden Motiven gemein ist der disziplinierende Effekt, der sich diskursiv mit dem Artefakt verknüpft. Verbunden ist damit eine genaue, machtvolle Definition über den Zweck der Personenwaage und das Wiegen selbst. Dieses Wissen über die Personenwaage wird eingegrenzt, also normalisiert und an das Individuum adressiert, demzufolge individualisiert. Als kontinuierliches Merkmal des Messinstruments setzt sich dessen Komfort in den 1970er Jahren weiter fort. Im Jahr 1971 wird ein handlicher Apparat vorgeschlagen, den man bequem „bei sich“, zum Beispiel „im Auto“ mitnehmen konnte (K71: 3). Zwei Jahre später, 1973, thematisiert die Firma Murrhardter Waagenfabrik Gebrüder Soehnle erneut eine Problematik, welche aus den vorigen Jahrzehnten bekannt ist: „Es sind Personenwaagen bekannt, bei denen auf den Trittflächen der Trittplatte ein Belag fest aufgeklebt ist. Bei diesen Belägen handelt es sich insbesondere um Gummi- oder Kunststoffbeläge, die leicht abwaschbar sind. Diese Beläge haben den Nachteil, daß sie bei
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der Benutzung im Bad bei nackten Füssen als unangenehm empfunden werden. […] Aufgabe der Erfindung ist es, eine Personenwaage […] zu schaffen, deren Trittflächen mit einem leicht reinigbaren, bei der Benutzung als angenehm empfundenen Belag versehen sind […].“ (K79: 3–4)
Der Wiegevorgang soll nach wie vor mit einem angenehmen Gefühl assoziiert werden und der Belag der Waage diesen Eindruck vermitteln. Bei beiden Beispielen liegt auch die Verknüpfung mit einer einfachen Handhabung auf der Hand. Auch die Ablesung soll komfortabler als zuvor sein – sozusagen „erträglich“ – empfunden werden, wie im Jahr 1974 als Ziel festgelegt wird (K88: 3–4). Die Individualisierung der Waage soll eine genaue Messung und Ablesung jedoch nicht beeinträchtigen, was mehrmals betont wird (K89: 3–4; K92: 3–5; K106: 14). Emotionen spielen auch in Bezug auf das Körpergewicht eine Rolle. Bei der Ermittlung eines persönlichen Durchschnittsgewichts sind Individuen „im allgemeinen zufrieden, wenn dieses gehalten wird“ (K109: 9). Daneben ist die Rede von einem „wünschenswerten“ Gewicht, das „frei“ gewählt wird (K110: 4). Negative Emotionen wie „Unsicherheiten“ durch ein ungenaues Ergebnis sollen mit Hilfe einer digitalen Anzeige vermieden werden (K105: 4): „Die Skalenscheibe zum Beispiel in Intervallen von 0,5 kp geteilt; bei Zwischenwerten muß der Betrachter interpolieren. was natürlich mit Unsicherheiten verbunden ist. Man hat daher versucht, die Interpolation bereits in der Waage zu bewirken und nur noch den dem Wägeergebnis nächstliegenden Zahlenwert, etwa in Sprüngen von 0,5 kp, digital anzuzeigen.“ (K105: 4)49
Weiterhin behandelt werden Individualmerkmale der Nutzer*innen. Anfang der 1970er Jahre sieht ein Gebrauchsmuster auf der Trittplatte „mehr Platz für die Füsse“ vor (K77: 3). Dadurch ist die Waage für große oder korpulente Menschen besser geeignet und angenehmer, denn gleichzeitig wird das Anzeigefenster nicht verdeckt. Ähnlich äußert man sich in bei einer anderen Erfindung (K104: 4–5).
49 Kp steht für Kilopond-Gewichtseinheiten. In diesem Beispiel kann von einer Anzeige ausgegangen werden, die auf 500 g genau mit einer möglichen Messabweichung von 250 g funktionierte (K105: 11). Zugrunde liegt die überholte Bezeichnung Kilopond, die den Ortsfaktor berücksichtigen sollte (Kurzweil 2013: 219). Nach dem Jahr 1977 wurde diese nicht mehr verwendet und durch die Einheit Newton ersetzt wurde. In (historischen) Typologien zur Waage und zum Wiegen wie diesen von Block (1928) und Robens et al. (2013) konnte kein Hinweis auf diese veraltete Bezeichnung gefunden werden.
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Die Zielgruppe der korpulenten Menschen wird nochmals angesprochen, denn der „Wägekomfort“ soll dadurch erhöht werden, dass eine Person sich beim Wiegen nicht bücken muss, um die Waage anzuschalten (K107: 3). Die Angaben zum Maximalgewicht der Personenwaage für den Heimgebrauch decken sich mit dem bisherigen, was mit 120 kg angegeben wird (K105: 12; K110: 6) oder sich zwischen 130 und 150 kg befindet (K88: 3; K89: 3).50 Allerdings gehen zwei Erfindungen über diese Höchstlast hinaus: „Da die üblicherweise bei Personenwaagen auftretenden Lasten weniger als 200 kg betragen“, können diese Waagen Körpergewichte bis 199,5 kg ermitteln (K81: 9; K82: 8). Neu ist, dass in den Beschreibungen verschiedene, individuelle Charakteristika thematisiert werden, die bei der Personenwaage für den Heimgebrauch bisher noch keine Rolle gespielt haben. Dazu gehören die Nationalität und die ethnische Herkunft, das Geschlecht, die Körpergröße, der Körperbau sowie die Konstitution der Person (K72; K78; K109; K110). 51 Insbesondere in der ersten Hälfte der 1980er Jahre werden die bekannten, emotionalen Effekte der Personenwaage thematisiert. Der Wiegevorgang soll „nicht irritierend“ (K115: 3; K116: 3) sein oder von störenden Elementen beeinträchtigt werden (K113: 3–4). Damit ist auch eine komfortable Bedienung der Personenwaage gemeint: „Dadurch ist eine sichere Halterung des Meßwertanzeigers in einem dem Benutzer genehmen Position gegeben.“ (K113: 3) Daneben geht es um die Berücksichtigung der individuellen (Kunden-) Wünsche. Wenn in das Gerät ein Mikroprozessor verbaut ist, können die Gewichtseinheiten selbst ausgewählt werden (K114: 3, 5). Auch 1984 sind die Beläge nach wie vor variabel und können, abhängig vom eigenen Geschmack, ausgetauscht werden (K117: 4–5): „Dem gewählten Ausführungsbeispiel ist ein Flormaterial als textiler Belag zugrunde gelegt. Dieser könnte gewünschtenfalls auch durch eine Schlingenware ersetzt werden.“ (K117: 7) Möglich ist auch ein „flauschiger Velour“ (K117: 3). Daneben kann die Waagenplattform in der Höhe geändert werden (K115: 7; K116: 7). Bezogen auf körperliche Personenmerkmale bedeutet diese Variationen der grundständigen Erfindung, dass sich das technische Gerät der Körpergröße oder dem individuellen Befinden der Benutzer*innen anpasst.
50 Auch in Fällen, in denen diese Zahlen nicht besonders erwähnt werden, sondern nur die Skala der Waage als Zeichnung hinzugefügt wird, bestätigen sich diese Zahlen (z. B. K104: 18, 19; K106: 17, 19). 51 Diese Individualmerkmale und deren Bedeutung beim Wiegen werden in Kapitel 5.2.3, Abschnitt „Vergleichbare Messung und Kontrolle des Ergebnisses“ erklärt.
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5.2.3 Normalisierung (und Medikalisierung) In den Patentdokumenten werden Vorschläge zur An- und Verwendung der Personenwaage, dem Aufstellort, der genauen Messung, exakten Ablesung des Wiegeergebnisses und dessen Vergleich diskutiert. Damit drücken sich bestimmte Eigenschaften des Instruments aus, die mit dem gesellschaftlichen Modernisierungsprozess zusammenhängen und eine Normalisierung und Standardisierung nicht nur von Technik und Industrie, sondern auch eine Normalisierung (und Medikalisierung) in kultureller Hinsicht, die sich auf den Körper bezieht. Unter der übergeordneten Kategorie Normalisierung (und Medikalisierung) versammeln sich die meisten Merkmale des Apparats. Diese Kontur des Spezialdiskurses weist demzufolge ein sehr fein ausdifferenziertes Verständnis der Erfinder auf, gesellschaftliche Vorgänge in Innovationen diskursiv zu verarbeiten. Als Angelpunkt und Modalität von Normalisierung fungieren Zahlen. Das Sprechen darüber in den Patentdokumenten lässt sich als dreiteiliges Muster klassifizieren. Erstens, deren Materialisierung in Form der Waage sowie als Instrument, das Zahlen als Körpergewicht anzeigt, zweitens die technische Ermöglichung genauer Messungen und drittens die Produktivität dieser biopolitischen Elemente im Alltag. Hier geht es um den Gebrauch des Instruments, den Vergleich der Ergebnisse und daran geknüpfte Handlungsanleitungen. Dabei wird eine enge Verflechtung zwischen Normalisierung und Medikalisierung vermutet, die zu ganz bestimmten Interaktionen und Praktiken führen, die durch die Erfindung des Artefakts erst hervorgebracht wurden. Die Waage wird dann als diskursives Ereignis verstanden, das im sozialen Geschehen Effekte produziert. Denkbar ist, dass die produktive Seite des Spezialdiskurses der medizinischen Deutungsmacht nahesteht. Da Medikalisierung im gesellschaftlichen Kontext von Gesundheit und Krankheit agiert, könnte sich ein Wechselspiel zwischen einer normalisierenden Wissenschaft (Medizin), Artefakt und Körper ausdrücken, die zusammen mit der Zahl und dem Durchschnittswert eine normative Wirkung haben. Zeiger und Display der Waage symbolisieren dann ein Wissensregime, das mit der „Normierung der Gesundheit“ (Hess 1997b) durch die Medizin begründet zu sein scheint. Normalisierung an sich impliziert ein gesellschaftliches Verfahren, durch das eine bestimmte Ordnung und Strukturierung vollzogen wird. Bei der Genealogie der Personenwaage stellt sich heraus, dass der Spezialdiskurs in besonderer Weise in Richtung einer Standardisierung der Vorgänge rund um die Erfindung gelenkt wird. In der Entwicklungsgeschichte der Personenwaage für den Heimgebrauch fungiert die viereckige Form und das Anzeigefenster mit einer sich drehenden Skala als fester Bestandteil der Erfindungen. Dass sich diese Variante zum
Das Wissensregime von Zeiger und Display | 229
Standardmodell entwickeln würde, wird bereits im Jahr 1919 mit der ersten kleinen Ausführung begründet und setzt sich einige Jahrzehnte später mit dem beginnenden Aufschwung in der zweiten Hälfte der 1950er Jahren fort. Dabei kommt es im Verlauf des nachfolgenden Jahrzehnts zwischen 1960 und 1969 zu einer Änderung im Spezialdiskurs, da während verschiedener Phasen in der Genealogie der Personenwaage Strategien der Vereinheitlichung erkennbar werden, die sowohl das Artefakt an sich, als auch die Hervorbringung als Erfindung betreffen. Darauf wird am Ende dieses Kapitels in Form eines Exkurses eingegangen. Genaue Messung In der Genealogie der Personenwaage geht es den Erfindern stets um ein genau arbeitendes technisches Instrument. Diese Eigenschaft des Artefakts ist abhängig von den jeweiligen technischen Möglichkeiten, die parallel entwickelt werden. An der Präzision der Waage wird immer wieder nachgebessert und diese weiter perfektioniert, so dass bei diesem Merkmal der Waage ein anhaltender Innovationsschub verzeichnet werden kann. Es wird davon ausgegangen, dass hinter der Rezeption dieses Gedankens im Spezialdiskurs eine steigende gesellschaftliche Bedeutung steht. Dahinter steht aber auch die Orientierung an der Ur- oder Normalfunktion der Waage: Das Messen von Gewicht und die Bewertung des gemessenen Maßes, was nur dann sinnvoll ist, wenn möglichst genau gemessen wird.52 In diskursiver Hinsicht werden auf diese Weise die Grundlagen für ein Wissensregime geschaffen, das in Form statistischer Maßstäbe – zum Beispiel Gewichtsklassen oder -tabellen – den individuellen Körper einordnet und vergleicht. Die Messungen der Waage sollen zwischen 1919 und 1959 fehlerfrei und genau vonstattengehen (K25: 1; K34: 4). Zudem soll mit Hilfe einer Stellschraube oder eines Justierknopfes eine noch exaktere Einstellung ermöglicht werden (K29; K32; K34). Der Nullstrich kann damit in seine korrekte Position gebracht werden (K32: 8). Meistens wird eine Ausführung als Federwaage erwähnt (K23; K25; K31; K34). Die Messung erfolgt dann über die Belastung der Feder, die mit der Anzeige verbunden ist. Seltener wird auf die Brückenwaage Bezug genommen, weil bemängelt wird, dass diese ungenauer als die Federwaage sei (K23; K25). Die Stellschraube, die für die Nullstellung benötigt wird, um genauere Messungen zu erzielen, gehörte zwischen 1960 und 1969 bei den meisten
52 Vgl. Kapitel 4.
230 | Die Personenwaage
Erfindungen zur Standardausführung.53 Dieses Element stellt eine normative Bedingung dar, da nur dann präzise Ergebnisse ermittelt werden, wenn die wiegende Person gemäß der Bedienung des Geräts die Schraube einstellt. Dann erst bewirken individuelle Handlungsvollzüge eine präzise arbeitende Technik. Zu einer genauen Messung gehört eine Eichung, was einige Patentdokumente explizit herausstreichen (K41: 3; K62: 4; K67: 18; K68: 3). In einem Fall werden sowohl das Eichen als auch die Möglichkeit der Feineinstellung auf null kombiniert (K41: 3, 7). Damit kommt bei diesem Gebrauchsmuster besonders deutlich zum Ausdruck, welche Bedeutung der „Wiegegenauigkeit“ beigemessen wird (K41: 3, 4). Das Eichen und Justieren mittels Stellschraube stellt neben anderen ein technisches Mittel dar, das dazu dient, „die Genauigkeit der Waage zu vergrößern“ (K67: 3): „Trotz einfacherer Ausbildung der Lasthebel läßt sich somit eine längere Haltbarkeit und eine größere Wägegenauigkeit derart ausgestatteter Personenwaagen erzielen.“ (K66: 4) Ein Ausgleich der Umgebung, zum Beispiel ein unebener oder weicher Fußboden, wird durch das komplexe Zusammenspiel von Technik erreicht und somit eine „ungenaue Gewichtsanzeige“ (K44: 2) vermieden. Die Patentdokumente in den 1960er Jahren zielen demzufolge darauf ab, die Genauigkeit der Anzeige zu verbessern, unabhängig von der Unterlage, auf der die Personenwaage steht (K37: 1; K50: 3; K51: 3, 4). Die technische Entwicklung ermöglicht genaue Zahlenwerte, macht damit auf normale Wiegeergebnisse aufmerksam – die Unterscheidung einer richtigen von einer falschen Messung des Körpergewichts wird virulent. Die technische Ausstattung soll in den 1970er Jahren mit verschiedensten Mitteln gewährleisten, dass das Körpergewicht einer Person „auf einer Skala mit gleichbleibender Genauigkeit“ angezeigt werden kann (K80: 3). Der folgende Auszug aus einem Patentdokument illustriert die Reflexionen der Entwickler, wie die Bewegungen der Plattform, ausgelöst durch das Betreten, ausbalanciert werden können: „Damit die Wägung korrekte Ergebnisse erbringt, […] wird die Plattform ‚schwimmend‘ abgestützt, das heißt, sie kann eine begrenzte seitliche Ausweichbewegung durchführen […].“ (K86: 2–3; Herv. i. O.) Bei einer weiteren Erfindung wird argumentiert, dass sowohl bei Geräten mit Skalenscheiben als auch digitalen Anzeigen ein Ausgleich dieser Schwingungen stattfinden muss, um unverzerrte Ergebnisse leisten zu können (K101: 2, 4). Das Ergebnis soll auf 500 kp genau angezeigt werden und das Gerät einen maximalen „Anzeigefehler“ von 250 kp liefern (K105: 8, 11).54 Die Anzeigefenster verfügen bei diesem
53 Ein Stellrad, eine Stellschraube oder ähnliche Vorrichtungen werden in den folgenden Dokumenten erwähnt: K41: 7, K42: 1, K46: 3, K47: 7; K65: 4 sowie K66: 5. 54 Vgl. die Erklärung zu Kilopond in Kapitel 5.2.2.
Das Wissensregime von Zeiger und Display | 231
digitalen Modell über „drei Stellen vor dem Komma und eine Stelle hinter dem Komma“ (K105: 11). Der klassische Zeiger und das neue Display stehen somit für die Genauigkeit des Ergebnisses. Die Maßeinheiten können variieren und in Kilogramm und Gramm, aber auch in Stones und Pounds angegeben werden (K101: 6; K102: 4). Darüber hinaus werden in diesem Jahrzehnt auch Vorrichtungen eingeführt, die während des Messvorgangs mögliche Fehlerquellen ausschalten oder ausgleichen können. Dazu gehört beispielsweise ein so genannter „Einstelldrehknopf“, der optional oben an der Plattform angebracht werden konnte, um „das Gewicht der Kleidung der zu wiegenden Person oder einen Meßfehler auszugleichen“ (K83: 9). Die neuen Waagen sind nach wie vor in der Lage, temperatur- und ortsabhängige Schwankungen zu neutralisieren (K90: 3; K112: 3–4). Die Eichung und Justierung des Instruments stellt sich als gängiger Vorgang im Produktionsprozess dar (K71: 4; K72: 4; K81: 5; K82: 4; K98: 4; K99: 4). Danach stellt der Drehknopf vor dem Wiegen eine genaue Einstellung des Nullpunkts sicher (z. B. K88: 10; K95: 4). In den Patentdokumenten zwischen 1980 und 1989 sind drei Handlungsdimensionen der Erfinder erkennbar, bei denen es darum geht, Meßfehlern vorzubeugen und exakte Ausgangswerte zu liefern, die zum Beispiel als Grundlage für die Beurteilung eines normalen, idealen oder abweichenden Körpergewichts dienen. Erstens wird direkt auf die Notwendigkeit der genauen Messung Bezug genommen oder diese Eigenschaft umschrieben. In diesem Sinne stellt Erich Ocker beispielsweise eine Personenwaage vor, bei der die Reibungen so gering sind, dass genaue Ergebnisse erzielt werden (K115; K116). Ähnlich wird in zwei Patenten argumentiert, die diesen Ideen aus dem Jahr 1981 folgen. Die Erfinder setzen sich damit auseinander, wie bestimmte technische Elemente die Abläufe im Inneren der Waage positiv beeinflussen (K119: 1–2; K120: 3–4). Dadurch werden eine einwandfreie „Gewichtsmessungen auch bei einseitigen Belastungen garantiert“ (K120: 3). Zweitens sollen, um die Genauigkeit nicht zu beeinträchtigen, mögliche Fehlerquellen vermieden werden (z. B. K115: 6; K116: 6; K119: 2; K120: 3). Dazu trägt zum Beispiel ein längerer Gebrauch bei, der die Feder verschleißen lässt (K120: 3) oder ein herstellungsseitiger Fehler aufgrund von unsorgfältigem Arbeiten (K119: 2). Drittens, ist wiederum die Justierung des Zeigers auf Null von Belang. Dies umfasst sowohl den Eingriff von Hand mit Hilfe von einer Schraube oder ähnlichen Vorrichtungen (z. B. K115: 5–6; K116: 5–6; K120: 4), als auch die automatische Nullstellung mit dem Einsatz von Mikroprozessoren (K114: 2; K119: 2). Darüber hinaus können die Einheiten nach wie vor flexibel gewählt werden (K114: 3).
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Ablesung des Messergebnisses In den Erfindungen wird insbesondere zwischen 1960 und 1979 strikt – wenn auch insgesamt selten – eingefordert, eine genaue Ablesung im Sichtfenster der Waage zu ermöglichen. Voraussetzung dafür sind technisch präzise Messungen. Beide Eigenschaften zusammen stehen für die Relevanz des Instruments und des Körpergewichts – oder anders ausgedrückt für die mit dem Zeiger oder dem Display angezeigte Zahl. Die Ausführungen zur Ablesung des Messergebnisses sind hingegen zwischen 1919 und 1959 relativ knapp gehalten. Die Anzeige soll gut lesbar sein (K27; K32). Eine eingebaute oder aufsetzbare Lupe vergrößert dabei die Gewichtsskala (K26; K29; K35). Genauso unregelmäßig wie zuvor verweisen die Erfinder in den 1960er Jahren auf die genaue Ablesung der Messergebnisse. Der äußere Aufbau des Instruments oder spezielle Veränderungen verbessern die Ablesung in technischer Hinsicht. Im Regelfall dreht sich die Anzeige, die mit Hilfe eines Zeigers das gemessene Körpergewicht sichtbar macht (K41: 5). Für eine klare Darstellung des Wiegeergebnisses wird zum Beispiel die Skala, auf der sich eine Lupe befindet, durch Riffelungen oder Vertiefungen optisch hervorgehoben oder die Beleuchtung der kompletten Skala überarbeitet (K45: 6–9; K57: 5). Außerdem werden in den Skizzen größere Anzeigefenster55 erkennbar (z. B. K57: 14; 58: 4). Die Nutzer*innen des Geräts sollen das gemessene Körpergewicht also leicht ablesen können und dieses sowohl deutlich als auch genau angezeigt bekommen (K49: 3; K55: 3; K57: 5; K58: 3; K67: 3; K68: 3). Der Stellenwert der Ablesung wird bei einer Ausführung deutlich, die für ein Körpergewicht bis 300 Pfund (0 bis ca. 136 kg) geeignet ist und mit der eine „deutliche und genaue Anzeige“ gelingt (K68: 3). Dazu trägt die Einführung der digitalen Anzeige im Jahr 1966 bei (K55). Im nachfolgenden Jahrzehnt, den 1970er Jahren, konzentrieren sich die Motive der Erfinder auf zwei Aspekte bei der Ablesung des Körpergewichts. Zum einen geht es darum, dass die Ergebnisse deutlich zu sehen sind. Im Jahr 1971 wird mit einem „minimalen, zusätzlichem Platzaufwand eine gut sichtbare Anzeige“ ermöglicht (K72: 3). Drei Jahre später, 1974, ist die Rede davon, die Anzeige mit einer eingebauten Lupe zu vergrößern und die Skala zu beleuchten (K87: 2). 1977 ermöglicht wieder eine Glühbirne, „daß alle Ziffern und Striche gleichmäßig hell beleuchtet erscheinen“ (K106: 8–9). Selbst der Zeiger ist aus lichtleitendem Material und somit gut zu erkennen. Zum anderen bemühen sich
55 Diese sind groß sowie rund anstatt klein und eher rechteckig (z. B. K32: 11; K41: 22; K67: 29).
Das Wissensregime von Zeiger und Display | 233
die Erfinder, dass die Ergebnisse korrekt abgelesen werden können, was bei früheren Erfindungen noch ein Problem war. Ein Gebrauchsmuster und ein Patent aus dem Jahr 1974 bemängeln kleine Ziffernblätter, verursacht durch die komprimierte Bauweise als Badezimmerwaage: „Aus diesem Grunde ist es erforderlich, eine verhältnismäßig enge Skalenteilung zu verwenden, welche die Ablesegenauigkeit der Gewichtsanzeige herabsetzt, ohne vom Meßwerk her bedingt zu sein.“ (K88: 3; K89: 3) Die bis dato schlechtere Ablesung kritisiert auch ein späteres Patent (K95: 3). Deshalb wird der Vorschlag gemacht, den Wägebereich ab 100 kg überlappen zu lassen, um die einzelnen Werte größer darstellen zu können (K88: 4, 6; K89: 4, 6). Dadurch ist die Waage in der Lage, Personen mit einem Körpergewicht bis zu 150 kg zu wiegen. Die Ziffern auf der Skala selbst sind in schwarzer Schrift gehalten (K88: 5; K89: 5). Diese Ziffern, die dazwischenliegenden Striche sowie die Anzeige- und Zeigermarkierung sollen gut sichtbar sein (K92: 3; K106: 9). Daneben ist es von entscheidender Bedeutung, dass der Mechanismus im Inneren der Waage nicht zu Verzerrungen bei der Darstellung des Ergebnisses führt, um Ablesefehler zu vermeiden (K96: 3). Dadurch hängen die präzise Ablesung des Messergebnisses und die genaue Messung als Eigenschaften der Personenwaage eng miteinander zusammen. Dieser Komplex ist an die Realisierung in technischer Hinsicht (Technisierung) und dessen korrekte Funktion gebunden (Normalisierung). Wie in der frühen Entwicklungsphase wird die Ablesung von Messergebnissen in den 1980er Jahren sporadisch aufgegriffen, um die Eigenschaften der Personenwaage zu beschreiben. Diese sollte einfach und leicht vonstattengehen: „Die Ablesefläche des Meßwertanzeigers ist zur besseren Ablesbarkeit pultartig geneigt.“ (K113: 4) Die Bemühungen zwischen 1960 und 1979, welche die Ablesung des Körpergewichts verbessert haben, haben ihre Aufgabe erfüllt. Diese Eigenschaft des Instruments ist bereits soweit optimiert, so dass es nicht mehr notwendig erscheint, dazu neue Ideen zu entwickeln – eine genaue Ablesung ist Standard bei einer normalen Personenwaage.
Aufstellort und Verwendung der Waage Es zeigt sich eine strategische Ausrichtung der Personenwaage, weil das Instrument wiederkehrend im selben privaten Umfeld verortet wird. Darüber hinaus werden Praktiken eingeführt, welche die Interaktion zwischen Technik und Mensch betreffen. Diese Ordnung von Wissen schließt in besonderen Fällen nicht nur eine normale Benutzung, sondern auch einen Kontext von Gesundheit und Krankheit (Medikalisierung) ein. In den ersten Jahrzehnten der Genealogie des Instruments von 1919 bis 1959 spielt die Personenwaage erst ab Mitte der 1950er Jahre eine tragende Rolle. Diese
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planen die Erfinder vor allem für das Badezimmer (K23; K27; K31; K32), aber auch das Schlafzimmer (K32). Bereits bekannt ist auch, dass es in diesem Zeitabschnitt vorgesehen ist, die Waage sowohl barfuß also auch mit Schuhen zu betreten (K35: 3). Das Badezimmer gilt in den 1960er Jahren – wie in den zehn Jahren zuvor – als präferierter Platz zur Aufstellung des Messgeräts und rahmt den situativen Kontext, in dem die Messung stattfindet. Der Stand der Technik im Jahr 1961 ist damit wie folgt verknüpft: „Da nun die als Badezimmerwaagen bekannten Waagen nicht allzu schwer sein dürfen und billig in der Herstellung sein sollen, besteht der Rahmen im allgemeinen aus gezogenem Blech.“ (K37: 1) Im Jahr 1965 werden Personenwaagen mit Trittplatte, Linse und Skala „insbesondere als Badezimmerwaagen benützt“ (K49: 3). Auch Ende der 1960er Jahre wird auf die „bisher bekannten Badezimmerwaagen“ Bezug genommen (K67: 7). Außer der Regel wird immer noch zum Beispiel das Schlafzimmer erwähnt (K56: 3) und ganz allgemein der (Privat-)Haushalt angesprochen (z. B. K36: 3; K56: 3). Da das Wiegen mit bloßen Füßen, das heißt barfuß vollzogen wird, suchen die Erfinder nach Möglichkeiten, das Betreten der Trittfläche möglichst komfortabel, sicher und angenehm zu gestalten (K47: 3; K48: 3; K56: 3). Wie weiter oben behandelt, sollen die Gummirippen auf der Trittfläche das Ausrutschen verhindern. Diese waren aber unbequem und als Konsequenz sollen weiche Auflagen wie Fell die Fußsohlen wärmen: „Die Neuerung betrifft eine Personenwaage mit einer Trittfläche. Solche Waagen werden in der Regel in Privathaushalten im Schlafzimmer oder im Bad aufgestellt und mit nackten Füssen betreten. Es ist deshalb erwünscht, dass die Trittfläche weich ausgebildet ist und sich nicht kalt anfühlt.“ (K56: 3)
Der häufige, übliche oder regemäßige Gebrauch der Personenwaage spielt sich in zwei Kontexten ab, sozusagen an einem festen und mobilen Standort. Der Apparat und das Wiegen sind also auch im Urlaub von großer Bedeutung (K62): „Gegenstand der vorliegenden Neuerung ist daher eine Personenwaage leichter und einfacher Ausgestaltung, die bequem im Reisegepäck mitgeführt werden kann und mit der es möglich ist, das Körpergewicht laufend zu überwachen.“ (K62: 3)
Die Überwachung des Körpergewichts soll dem „Erfolg im Beruf“ und der „Erhaltung der Gesundheit“ dienen (K62: 2). In einem ähnlichen – aber dennoch anderen privaten Rahmen – bewegt sich die Familienwaage mit der Möglichkeit, von mehreren Personen ständig parallel benutzt werden zu können (K55). Das
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Beispiel der Reisewaage, die auch außerhalb der Wohnung oder des Hauses eingesetzt und dazu in einem Koffer oder einer Tasche im Gepäck mitgenommen werden kann, macht die Individualisierung des Instruments deutlich. Da die Waage aber auch als Massenprodukt verstanden wird, steht das Artefakt daneben für eine Vergesellschaftung des Artefakts. Mehr als ein Drittel der Erfindungen, welche zwischen 1970 und 1979 angemeldet wurden, nehmen eine genaue Ortsbestimmung vor. Das Badezimmer wird hierbei als Platz präferiert, daneben aber auch die Wohnung und der Haushalt im Allgemeinen genannt.56 Aus einem Gebrauchsmuster geht hervor, dass das Gerät unkompliziert weggeräumt und verstaut werden kann, was bedeutet, dass die einfache Handhabung mit der Verwendung an sich verknüpft ist (K92: 4). Das Patentdokument K71 spricht im Zusammenhang mit der privaten Anwendung der Waage von der flexibel wählbaren Aufstellung der Personenwaage für den Heimgebrauch, die problemlos zu transportieren ist: „Soll eine solche Personenwaage aber auch dann Verwendung finden, z. B. wenn ihr Aufstellungsplatz des öfteren [sic!] gewechselt werden soll, wenn man sie also zum Beispiel auf einer Urlaubsreise oder zum Wochenende, auch während einer Kur oder auf Campingplätzen stets bei sich haben möchte, dann spielen selbstverständlich das Eigengewicht der Waage und ihre Handlichkeit eine ganz erhebliche Rolle, auch für den Fall, daß man die Waage bequem im Auto mitnehmen kann.“ (K71: 3)
Mit dieser Erfindung ist eine Waage beschrieben, die nicht nur innerhalb der Wohnung oder des Haushalts hin- und hergetragen, sondern auch mit in den Urlaub genommen werden kann. Wie bei dem Gebrauchsmuster K62 aus dem Jahr 1968 handelt es sich um eine sehr leichte, aufblasbare Personen- und Reisewaage (K71: 4–5). Das Instrument ist in den 1970er Jahren wiederum für die parallele Benutzung in einem Mehrpersonenhaushalt geeignet: x „Bei Verwendung in einem viele Personen umfassenden Haushalt.“ (K70: 5) x „Über diese Walzen läßt sich je Person das Gewicht festhalten, das bei der Wägung abgelesen wird.“ (K108: 5) Insgesamt verfügt das Gerät über vier Walzen und ist damit für vier Personen gleichzeitig geeignet.
56 Das Badezimmer führen die folgenden Erfindungen auf: K71: 3, K72: 3, K78: 3, K87: 2, K88: 3, K89: 3, K97: 7, K101: 3, K102: 3, K110: 4. Daneben wird die Wohnung genannt (K71: 6; K72: 3) sowie der Haushalt (K77: 3; K87: 2; K105: 3). Im Titel selbst wird die Badezimmerwaage selten genannt (K31; K86), was auch in einem früheren Sample (1919–1959), das Waagen für den Heimgebrauch beschreibt, der Fall ist.
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x „Eine Personenwaage wird selten von nur einer Person benutzt. Im allgemeinen ist es eine Familienwaage.“ (K109: 11) In diesem Jahrzehnt präzisieren die Erfinder den Zweck, für den das Gerät vorgesehen ist. So verweisen mehrere Dokumente auf Unter-, Über-, Optimal- und Idealgewicht (K72: 3–4; K78: 3–4; K110: 4–5). Daneben werden die „normalen oder wünschenswerten Körpergewichte“ von gesunden Menschen, also das individuelle oder medizinische Wunschgewicht erwähnt (K110: 4). Die Waage bestimmt den jeweiligen Status des Körpergewichts, sei es Unter-, Normal- oder Übergewicht und ermöglicht es, eine Abweichung vom Optimal- und Idealgewicht zu ermitteln (K72: 3–4; K78: 3–4; K110: 4–5). Die symbolische Kraft des Zeigers oder des Displays erhält dadurch eine neue Bedeutung. Außer dem Badezimmer wird in den 1980er Jahren sonst kein weiterer Raum oder eine Stelle aufgeführt, an dem die Waagen stehen (K115; K116; K117). Das Instrument wird nur noch kleiner. Eine besonders flache und zusammenklappbare Ausführung ist in der folgenden Abbildung (Abb. 20) zu sehen. Abbildung 20: Die zusammenklappbare Personenwaage K114
Quelle: K114: 1
Dieses Modell wird wie folgt präsentiert: „Die Personenwaage nimmt hierdurch wenig Platz weg, und ist ferner z. B. als Reisewaage anwendbar.“ (K114: 1) Neben den insgesamt größeren, „kastenartigen“ Modellen existieren also auch Ausführungen, die weniger als 2 cm hoch – also äußerst niedrig – sind (K113: 4; K114: 5). In diesem Jahrzehnt der Entwicklung des Geräts ist es nicht mehr nötig, Ort und Anwendung näher zu bestimmen. Die Erfinder orientieren sich an der etablierten und normalen Ausführung. Nachdem zwischen 1960 und 1979 die
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Personenwaage für den Heimgebrauch in einen gesundheitlichen Kontext gestellt wird, ist es in diskursiver Hinsicht obsolet, diese Verwendung nochmals herauszustreichen. In diesen zwanzig Jahren hat sich im Spezialdiskurs ein Wissensregime konstituiert, das mit gesellschaftlichen Normalisierungs-, Medikalisierungs- und Individualisierungsprozessen verknüpft ist. Die Körperund Gesundheitsüberwachung wurde in den Erfindungen als Bestandteil einer gelebten Alltagspraxis entwickelt. Vergleichbare Messung und Kontrolle des Ergebnisses Mit der Einführung einer Überprüfung, Überwachung, Kontrolle und dem Vergleich des Körpergewichts lässt sich rekonstruieren, wie der normalisierende und medikalisierende Effekt der Waage zustande kam. Es handelt sich bei dieser Eigenschaft der Personenwaage um ein ambivalentes Merkmal. Wenn die Erfinder darüber sprechen, konstituiert sich der Vergleich und die Kontrolle des Ergebnisses als starke Eigenschaft – oder wird erst gar nicht erwähnt, wie es vor dem Jahr 1956 noch der Fall ist. Die neuen erfinderischen Ideen ermöglichen, dass das Instrument nicht nur das Körpergewicht misst, sondern die Resultate vergleicht. Die argumentative Struktur der Aussagen in den 1960er Jahren belegen, dass sich die Bedeutung der Waage ändert – das Artefakt kontrolliert von nun an die Ergebnisse. Ein Instrument, das nur eine vergleichbare Messung ermöglicht, erscheint ab diesem Zeitpunkt nicht mehr ausreichend. In der Zeit zwischen 1919 und 1959 gehört der Vergleich von Wiegeergebnissen nicht zum zentralen Anliegen in den Erfindungen. Die Ausführung K31, eine Badezimmerwaage, soll einen Abgleich mit dem Normalgewicht möglich machen, indem eine Normalgewichtstabelle in die Skala integriert wird (K31: 3, 5–6). Diese Tabellen sind bereits von den öffentlichen Waagen bekannt. Die eigenständige, kontinuierliche Gewichtskontrolle im speziellen Fall von erkrankten oder immobilen Personen ermöglicht eine andere Ausführung (K32: 5). Während die Kontrolle und der Vergleich der gemessenen Ergebnisse bei einigen Erfindungen klar und deutlich im Fokus stehen (K55; K62; K64), diskutieren die Mehrzahl in den 1960er Jahren die Verbesserung von Handhabung und Herstellung sowie Möglichkeiten, das Instrument zu individualisieren. Mit den Erfindungen K55, K62 und K64 werden jedoch „Kontrollmessungen“ (K64: 4) eingeführt. Dabei halten „verschiebbar[e] Reiter“ das gemessene Ergebnis fest, um es am nächsten Tag vergleichen zu können (K64: 4). Die folgende Abbildung (Abb. 21) zeigt, wie an der Messleiste (Nr. 7 und 8) die Reiter (Nr. 11) entsprechend verschoben werden können. Der Pfeil (Nr. 4) zeigt anschließend das Körpergewicht an (K64: 4, 6).
238 | Die Personenwaage
Abbildung 21: Personenwaage mit Reiter zur Überprüfung des Ergebnisses
Quelle: K64: 7
Diese Erfindung aus dem Jahr 1968 folgt damit dem Patent K55, das 1966 angemeldet wurde. Das Patent stellt eine frühe Erfindung vor, die das gemessene Gewicht für den Vergleich fixiert (K55): „Sie hat den großen Vorteil, daß das gemessene Gewicht an der Gewichtsanzeigevorrichtung eingestellt bleibt, so daß beim nächsten Wiegevorgang nach einigen Tagen vom Benutzer der Waage sofort festgestellt werden kann, ob eine Zunahme oder eine Abnahme des Gewichts eingetreten ist. Eine Vergleichsmessung kann auch bei der Verwendung der Waage durch mehrere Personen durch Anzeigemarken erzielt werden, die im Bereich der Gewichtsskala verstellbar angeordnet werden.“ (K55: 6)
Die über eine Batterie elektrisch betriebene Anzeige zeichnet das Ergebnis auf und kann bei der nächsten Nutzung abgeglichen werden. Bei mehreren Benutzer*innen erfüllen individuelle Anzeigemarken diesen Zweck (70: 6). Das diskursive Muster wiederholt sich bei beiden Erfindungen und verknüpft Kontrollmessungen mit der Verwendungsweise der Waage. Während 1966 vorgeschlagen wird, die Messungen „nach einigen Tagen“ zu vergleichen (K55: 6), ist davon zwei Jahre später „am folgenden Tag oder an einem späteren Zeitpunkt“ die Rede (K64: 4). Damit ist eine Wiegepraxis in wiederkehrenden Intervallen gemeint. So empfiehlt die bereits bekannte Personenwaage eine
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regelmäßige „Überprüfung des Körpergewichts“ auch auf Reisen (K62: 2). Dabei intensiviert sich das diskursive Muster zwischen 1966 und 1968 und steht für ein handlungsgebundenes Wissensregime, denn es wird explizit auf eine notwendige Kontrolle des Körpergewichts verwiesen (K62: 2). Eine solche Erinnerung an das gemessene Gewicht ist bei der Personenwaage für den Heimgebrauch seit dem ersten Patent aus dem Jahr 1919 noch nicht erwähnt worden und stellt eine Verbindung zwischen dem individuell bedeutsamen Moment des Instruments und der expliziten Handlungsaufforderung zum Wiegen her. Beides begründet sich, wie bereits erwähnt, im Beruf oder dem Gesundheitszustand. In den 1970er Jahren hat es sich etabliert, frühere Messwerte festzuhalten. Dazu werden Merkskalen, Zeiger oder andere Mittel eingesetzt (K70; K88; K89; K104; K108; K109). Dabei können „Markierungsknöpfe […] von Hand auf die gewünschte Gewichtsposition ausgerichtet werden“ (K88: 9: K89: 9). Dadurch soll „ein bestimmtes ermitteltes Gewicht sichtbar“ gemacht und daran erinnert werden (K88: 9; K89: 9). Die Knöpfe setzen sich farblich und in ihrer Form voneinander ab. In einem Gebrauchsmuster aus dem Jahr 1976 werden ähnliche Gedanken zusammengefasst, denn rechts und links von der Trittplatte sind zwei Merkskalen angebracht (K104: 7). Die dort befestigten Zeiger sind dazu vorgesehen, „daß mindestens vier Personen ihr Körpergewicht mit Hilfe der Zeiger einstellen und so mit einer späteren Wiegung vergleichen können.“ (K104: 7) Eine andere Option, Ergebnisse vergleichen zu können, besteht darin, die Abweichung von einem Ideal- oder Optimalgewicht mit Hilfe der Waage zu bestimmen, was auch schon ein Vorreiter dieser Idee, das Gebrauchsmuster K31, im Jahr 1956 vorschlug (K72; K78; K110). Dazu gibt es mittlerweile verschiedene Varianten. Bei einer einfachen Version stellt die sich wiegende Person das gewünschte Gewicht mit einem Zeiger auf der Waage ein oder liest zuvor das Optimalgewicht auf einer so genannten Idealgewichtstabelle ab (K110: 4, 5). Neu ist, dass die Differenz zwischen dem gemessenen Gewicht und dem eingegebenen Wert anschließend aufgezeigt wird. Der Vorteil liegt darin, dass Unter- und Übergewicht sofort abgelesen werden können und nicht noch ausgerechnet werden müssen (K110: 4). Ein ähnliches Gerät zeigt in Abhängigkeit von der Körpergröße, die selbst eingestellt wird, die Abweichung vom Optimalgewicht an (K72). Die Höhe der Abweichung wird in 5 kg-Schritten angezeigt und durch Lampen in verschiedenen Farben oder Positionen wiedergegeben. Eine noch komplexere Umsetzung erfolgt bei dem Patent K78, wie in der folgenden Abbildung erkennbar ist (Abb. 22).
240 | Die Personenwaage
Abbildung 22: Personenwaage mit manuellen Einstellmöglichkeiten
Quelle: K78: 2
Hier liegt die Idee zugrunde, in Abhängigkeit von mehreren individuellen Eigenschaften wie dem Geschlecht, Körpergröße, Lebensalter und Körperbau die Abweichung von einem Optimalgewicht zu bestimmen. Dazu stellt man erst die Größe mit einem Drehrad ein (Abb. 22, Ziffer 20) (K78: 4). Anschließend wird der Drehknopf (Ziffer 22) betätigt, um eine bestimmte Marke (Ziffer 26) einzustellen, die sich mit Hilfe einer „Wertziffernermittlungstabelle“ (Ziffer 27) bestimmen lässt (K78: 3–4). Diese Tabelle ist austauschbar, um ethnische Unterschiede bei den Optimalgewichten berücksichtigen zu können (K78: 3). 57 Jede Marke ist mit Nummern verbunden, die für bestimmte Altersklassen, das jeweilige Geschlecht und den Körperbau stehen. Die Waage ermittelt das Körpergewicht und übersetzt die Eingaben, so dass die Abweichung vom Optimalgewicht auf einer „Gewichtsabweichungsskala“ abgelesen werden kann (Ziffer 18) (K78: 4). Die Verbindung zwischen der Notwendigkeit eines präzisen Ergebnisses, optischen Effekten, einer guten Sichtbarkeit der Ergebnisse und 57 Im Patentdokument wird die Austauschmöglichkeit wie folgt beschrieben: „Zur Anpassung
an
abweichende
Optimalgewichte
beispielsweise
verschiedener
Menschenrassen kann in vorteilhafter Weise die Wertziffernermittlungstabelle austauschbar auf der Trittplatte angeordnet sein.“ (K78: 3)
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individuellen Komponenten liegt bei den beschriebenen Messvorgängen auf der Hand. Eine technisch elaborierte Version stellen die beiden Erfindungen K109 und K110 aus dem Jahr 1978 dar. Hier wird die Abweichung vom Durchschnitts- oder Idealgewicht elektronisch berechnet, gespeichert oder sogar ausgedruckt. Wie bereits im Abschnitt Individualisierung dargelegt (Kap. 5.2.2), fragen nicht nur diese Neuerungen, sondern auch die frühere Erfindung K78 bestimmte äußere Merkmale von Individuen vor der Messung ab, was ermöglicht, detaillierte Vergleichsmessungen zu erstellen und diese im zeitlichen Verlauf zu kontrollieren. Jedoch zeichnet es sich gegen Ende der 1970er Jahre ab, dass der Vergleich des Messergebnisses und die Kontrolle des Körpergewichts einen starken gesundheitlichen Stellenwert hat (K109; K110). In den beiden Schriftstücken K109 und K110 wird die technisch weit entwickelte Personenwaage für den Heimgebrauch sozusagen in den Dienst der Gesundheit gestellt. Dabei steht das Normal- oder Sollgewicht für Gesundheit (K110: 4) – oder die routinierte Kontrolle des Gewichts an sich (K109: 7, 11). Aussagen über die Kontrolle des Ergebnisses sind in den 1980er Jahren randständig, weil die Waage sich in dieser Eigenschaft in den 1960er und vor allem 1970er Jahren rasant weiterentwickelt hat. Mittels eines integrierten Speichers wird weiterhin ermöglicht, dass die Messergebnisse verglichen werden können (K114): „In Verbindung mit der Mikrobehandlungsvorrichtung läßt sich auch ein Speicher einrichten, so daß Mitteilung von früheren Wiegen automatisch gegeben wird, gleichzeitig damit, daß ein automatischer Vergleich mit denen geschieht.“ (K114: 5) Diese Erfindung aus dem Jahr 1981 zeigt frühere Messungen an und führt einen automatischen Vergleich des aktuellen mit einem früheren Wert durch. Ein Speicher anderer Art stellt die Patentschrift der Firma Robert Krups Stiftung & Co. KG vor (K113). Bei dieser Speichereinheit können bestimmte, vorher ausgewählte Daten an Knöpfen eingegeben werden und stellen wiederum eine variable Erweiterung der grundständigen Erfindung dar. Um welche Daten es sich dabei genau handelt, wird nicht weiter ausgeführt. Im Rahmen der Entwicklungsgeschichte des Instruments ist es plausibel, dass es sich um Individualdaten oder aber auch um Soll- oder Idealgewichte handelt, die eingespeichert werden können und für die Messungen als Grundlage dienen (K113: 2–4). Exkurs: Normalisierung und Standardisierung Die Standardisierung im Kontext der Personenwaage bezieht sich auf zwei Vorgänge, die im engeren Sinne für eine technische Normalisierung stehen. In einem weiteren Sinne ist Technisierung bereits eingeschlossen, weil Bestandteile
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wie eine drehbare Skala zu einem früheren Zeitpunkt erst realisiert werden müssen. Die erste Facette umfasst alle Aussagen im Bereich von üblichen, normalen und bekannten Merkmalen des Instruments, sei es die äußere Ausstattung oder gängige Grundausstattung, nach der die Waage funktioniert. Diese Elemente werden in die Beschreibungen der Erfindungen eingeflochten: x „Die Personenwaage befindet sich wie üblich in einem flachen Gehäuse 1, auf dessen Oberseite eine Trittplatte 2 angeordnet ist.“ (K64: 4) Eine Badezimmerwaage „üblicher Bauart“ wurde in einem weiteren Patentdokument erläutert (K68: 2). x „Das Gehäuse 1 ist von oben gesehen im wesentlichen rechteckig ausgebildet.“ (K64: 4) x „Normalerweise besteht die Anzeigevorrichtung aus einer mit Zahlen beschrifteten Scheibe […].“ (61: 4) x „An Personenwaage sind im allgemeinen Meßskalen eingerichtet, die von der Wiegeeinrichtung gesteuert werden und das Gewicht der gewogenen Person anzeigen.“ (K64: 3) Diese Aussagen betreffen konventionelle Handlungsmuster der Erfinder, die das Gerät in den 1960er Jahren normalisieren und im Sinne einer Standardisierung in die Wohnumgebung und Alltagspraxis einpassen. Auf diese Weise konstituiert sich das einheitliche Produktdesign mit seiner rechteckigen Form, wie es auch heute bekannt ist. In technischer Hinsicht sind auch Teile wie das Stellrad oder der Stellknopf gemeint, die sich als Standardausstattung herauskristallisieren und eine genaue Messung gewährleisten. Der grundsätzliche Aufbau als Federwaage gilt in den 1950er bis 1960er Jahren als Standard (z. B. K41; K61), aber auch die platzsparende Aufbewahrung oder die Anpassung an die Feuchtigkeit im Badezimmer58. Diese Elemente signalisieren die Standardisierung der Personenwaage und stehen für eine Normalität der Personenwaage. In den 1970er Jahren kann die viereckige Form nicht nur den Skizzen in den Patentdokumenten entnommen werden, sondern geht auch aus den Beschreibungen explizit hervor (K80; K102): „Die Waage besitzt insoweit den üblichen Aufbau, als sie ein im wesentlichen rechteckiges Gehäuse […] aufweist.“ (K102: 7) Auch die bereits bekannte Ausstattung mit Trittplatte, Ober- und Unterteil, Anzeigefenster, Zeiger, Transportgriff und Drehknopf wird mehrmals genannt und setzt sich als gängiges
58 Vgl. das Beispiel der Hygiene (K35; K47; K56), was bereits ausführlich dargestellt wurde.
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Schema weiterhin durch. Meistens wird dabei auch die Federwaage genannt (z. B. K81: 6; K82: 5; K86: 2; K91: 5; K95: 3; K102: 3; K105: 3; K111: 4) und, wie bereits dargestellt, das Badezimmer aufgeführt. Diese Elemente artikulieren die Erfinder beispielsweise wie folgt: „In der Regel sind derartige Waagen als Feder- oder Hebelwaagen ausgebildet und bestehen in der Hauptsache aus einem metallenen, gezogenen oder gegossenen Unterteil und einer darüber angeordneten, ebenso hergestellten Auftrittplatte mit auf- oder eingesetztem Gewichtsanzeigeorgan, während der das Gewicht der sich wiegenden Person feststellende Mechanismus in räumlich gedrängter Bauweise zwischen Unterteil und deckelartiger Auftrittplatte eingesetzt ist.“ (K71: 3)
Damit stimmt diese Erfindung mit anderen Patenten und Gebrauchsmustern überein, denn auch diese führen mindestens zwei dieser grundsätzlichen Bestandteile auf (z. B. K72: 3; K80: 3; K81: 3; K101: 3; K106: 7–8; K112: 2). Zwischen 1970 und 1979 werden die Beleuchtung der Anzeige zum Standard, der Batteriebetrieb sowie das digitale Display:59 „Es ist bekannt, daß die Beleuchtung durch eine über oder vor einer Skalenscheibe angeordnete [sic!] Lampe bewirkt wird.“ (K92: 3) Diese drei Neuerungen erweitern das standardisierte Muster der Personenwaage für den Heimgebrauch, wobei der Zeiger und das Display für ein genaues und individuelles Ergebnis im Dienste der Gesundheit stehen. In den 1980er Jahren ist der bereits bekannte Aufbau der Personenwaage fest verankert (K113: 3; K114: 4; K115: 2; K116: 2; K117: 2; K119: 2; K120: 3). Es manifestiert sich zum Beispiel die digitale Anzeige: „Bei Personenwaagen ist es bekannt, das Gewicht der auf der Wiegeplattform stehenden Person digital anzuzeigen […].“ (K120: 3) Gleichermaßen fungiert auch die übliche rechteckige oder quadratische Form des Geräts als Standard (K114: 1; K115: 4; K116: 4). Eine ovale oder runde Form werden selten vorgeschlagen (K115: 5; K116: 5; K117: 8), denn die rechteckige Form gilt als konsolidiertes oder nicht mehr hinterfragtes Muster. Das Instrument ist demzufolge ein homogenes technisches Gerät mit einer typischen Ausstattung und Ausrichtung, an dem sich nachfolgende oder künftige Erfindungen orientieren. Dieses einheitliche Verständnis drückt sich in der Bezeichnung Personenwaage aus. Da damit spezifische Eigenheiten des Artefakts
59 Der Batteriebetrieb wird mehrfach erwähnt (z. B. K78: 3; K83: 2; K87: 2; K102: 3; K105: 4; K106: 2; K107: 3). Ein digitales Display wird ebenfalls in zahlreichen Patentdokumenten aufgeführt (z. B. K81: 3; K82: 3; K83: 2; K101: 4; K102: 3; K105: 4; K108: 5; K109: 2). K109 heißt sogar „Personenwaage mit elektronischer Digitalanzeige“ (109: 1).
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assoziiert sind und diese als regelhafte Muster im Spezialdiskurs reproduziert werden, bewirkt diese wiederkehrende Aktualisierung eine Normalisierung der Erfindung. Genau diese Art und Weise der Konstruktion des Instruments steht im historischen Geschehen unverkennbar für die Personenwaage. Damit sind bestimmte Eigenschaften der Personenwaage gemeint, die normal werden. Eine Standardisierung im Kontext der Personenwaage bedeutet zweitens eine Verwaltung des Anmeldevorgangs einer Erfindung. Es stellt sich heraus, dass die Beteiligung von Unternehmen und Patentanwälten bei den Erfindungen exponentiell zunimmt. Gehen anfangs (1919–1959) noch drei von elf Erfindungen auf Einzelpersonen oder ein Personenkollektiv zurück (K2; K23; K34), die namentlich genannt werden, sind es in den 1960er Jahren nur noch zwei Patentdokumente von insgesamt 32 (K55; K62). Daraus leitet sich ab, dass die Patent- oder Gebrauchsmusteranmeldung, welche eine neue Personenwaage für den Heimgebrauch vorschlägt, zunehmend professionell organisiert wird. 1954 wird ein solches Modell zum ersten Mal über einen Patentanwalt angemeldet (K23). Ab Ende der 1950er Jahre ist es die Regel, dass Patentanwälte60 Einzelpersonen und Firmen bei diesem Vorgang betreuen und sowohl bei Patenten als auch bei Gebrauchsmustern unterstützen. Diese prinzipiellen Veränderungen werden von den beiden Gebrauchsmustern K32 und K34 eingeleitet. Damit erklärt sich ein weiterer Trend, der mit dieser Entwicklung einhergeht. Bis Ende der 1960er Jahre werden auch die Beschreibungen rhetorisch komplexer und die Sprache wird stilistisch anspruchsvoller, weil zahlreiche Fachtermini verwendet werden (z. B. K65; K66).61 Die grundständige Ausbildung eines Patentanwalts
60 Diese werden als Diplomingenieure mit allen anderen Formalia beziehungsweise in einer Art Briefkopf auf den ersten Seiten der Beschreibungen aufgeführt. 61 Vgl. hierzu die einleitenden Sätze aus zwei unterschiedlichen Dokumenten. Das erste Beispiel steht für eine komplexe (fach-)sprachliche Darstellung: „Die Neuerung betrifft eine Personenwaage, insbesondere Badezimmerwaage, mit zwei aus Blech gepreßten schalenförmigen, einander mit Spiel übergreifenden Gehäusehälften, von denen die obere, als Trittplatte dienende Gehäusehälfte über obere Schneidenlager auf in der unteren Gehäusehälfte auf unteren Schneidenlagern schwenkbaren Lasthebeln abgestützt ist, die von zwei Primär-Lasthebeln und zwei daran aufgehängten Sekundär-Lasthebeln gebildet sind.“ (K65: 2) Das zweite Beispiel repräsentiert eine einfachere und auch für Laien verständliche Ausformulierung: „Die Neuerung betrifft eine Personenwaage mit einer Trittplatte und einer Bodenplatte, die den Wiegemechanismus zwischen sich einschliessen. Bei den bekannten Personenwaagen bestehen die Trittplatten aus Stahlteilen, die relativ schwierig in der Herstellung und teuer sind
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fußt auf einem ingenieurwissenschaftlichen Studium, der die (technischen) Funktionen und Abläufe des Verfahrens als Experte kennt. Sie fungieren als Vermittler zwischen zwei Instanzen, zwischen dem Anmelder oder Erfinder und der DPMA (Mersch 2013: 91). Ein solches „Patentmanagement“ (ebd.) begleitet und strukturiert Ideen auf dem Weg in die Öffentlichkeit als Patent und Gebrauchsmuster.62 Dieser Begriff steht für die Beteiligung von Firmen und Anwälten, was eine Standardisierung des Anmeldevorgangs zur Folge hat. Diese Entwicklungen setzen sich zwischen 1970 und 1989 fort. Von den insgesamt 43 Heimwaagen werden sechs von Einzelpersonen bei der DPMA als Erfindung angemeldet (K71; K77; K80; K107; K115; K116). Auch die komplexe fachsprachliche Darstellung ändert sich nicht (z. B. K69; K97; K112). Der Großteil der Erfindungen wird zwischen 1960 und 1969 auf acht bis 12 Seiten (z. B. K36; K51; K60; K65) sowie zwischen 1970 und 1979 auf 12 bis 18 Seiten zusammengefasst (z. B. K69; K79; K85; K91; K108). Allerdings wird mit der Zeit das Schriftbild komprimiert und es kommt vor, dass Patentdokumente mit einem Umfang unter sechs Seiten bei der DPMA eingereicht werden (z. B. K43; K44; K58; K72; K90). Der Umfang der Dokumente reduziert sich in den 1980er Jahren wieder und liegt im Mittel bei etwas mehr als neun Seiten, wobei die Schriftgröße bei den kürzeren Texten deutlich kleiner als üblich ist. Wenn die Erklärungen tendenziell weniger ausführlich werden, deutet diese Veränderung auf ein vereinheitlichtes Verständnis über das Artefakt an. Hier müssen keine grundständigen Ideen mehr erklärt werden, sondern es handelt sich um ergänzende Innovationen der Standard-Ausführung. Die Standardisierung des Anmeldevorgangs betrifft eine betriebswirtschaftliche Planung und Rationalisierung. Da Unternehmen seit Ende der 1950er Jahren ein anhaltend hohes Interesse daran haben, sich die Rechte an den Erfindungen zu sichern, zeugt diese langfristige Finanzierung von Patenten und Gebrauchsmustern vom Erfolg der Personenwaage für den Heimgebrauch. Das Produkt ist also ein ökonomisch bedeutsamer Faktor für die Firmen, denn die gewerbliche Anwendbarkeit bestätigt sich nicht nur mit der (formalen) Prüfung durch das DPMA, sondern auch im Verkauf des Endprodukts. Allein die Investition in die professionellen Dienstleistungen der Patentanwälte beweist die kommerzielle Bedeutung, welche die Erfindungen für die Unternehmen besitzen. Auch Einzelpersonen, die ihre Innovationen bei dem
und auf die nachträglich Farbe aufgebracht werden muss.“ (K53: 3) Beides sind Firmenanmeldungen und wurden von Patentanwälten betreut. 62 Vgl. hierzu ausführlich Mersch (2013: 91, 300). Die Beschreibung wird von dem jeweiligen Erfindern oder Inhabern des Schutzrechtes an den Patentanwalt gegeben. Dieser passt das Dokument sprachlich an und überwacht den Ablauf.
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DPMA anmelden, nutzen die Expertise dieser Experten (K23; K34; K59; K62). Damit ergibt sich bezüglich der Verwaltung des Wissens über die Personenwaage seit dem Jahr 1954 ein einheitliches Schema. 5.2.4 Ästhetisierung Die Personenwaage soll als optisch attraktives Instrument fungieren, das den individuellen Nutzer*innen in ästhetischen Belangen anspricht. Innovationen, Ideen und Verbesserungen in diesem Feld betreffen die Verarbeitung und optischen Effekte der Waage. Allerdings werden diese nur gelegentlich geäußert, womit die Ästhetik der Personenwaage keine Eigenschaft darstellt, mit der sich die Erfinder sehr intensiv auseinandersetzen. Neuerungen und Überarbeitungen betreffen stärker Elemente, die das Gerät einerseits technisch weiterentwickeln und standardisieren, andererseits individualisieren. Die daraus resultierenden Wechselwirkungen verkörpern die machtvolle Konstellation eines Wissensregimes, das in diesem Spezialdiskurs marginal die Effekte einer gesellschaftlichen Ästhetisierung einzuschließen scheint. Es wird erst ab Ende der 1950er Jahre kontinuierlich versucht, das Aussehen der Personenwaage in Richtung positiver Kaufentscheidungen von Individuen und gesellschaftlicher Trends zu beeinflussen und zu verändern. Diese Bemühungen betreffen bei einem (Massen-)Produkt den Arbeitsschritt Produktdesign und ein (designtheoretisches) Wissen. Sie stehen damit für eine Ästhetisierung der Waage in einer ästhetischen Umgebung. Es vergehen fast vierzig Jahre, bis im Jahr 1959 zwei Erfindungen eingereicht werden, die für die ästhetischen Ansprüche stehen, die an das Instrument gerichtet werden. So wird angestrebt, dass die äußere Form der Waage dem „heutigen Geschmack“ entspricht (K34: 3) und der Belag sowohl schön als auch ordentlich aussieht (K35). Damit betrifft diese Eigenschaft kaum die Waage zwischen 1919 und 1959. Die ästhetische Ausgestaltung der Waage wird in den zehn Jahren zwischen 1960 und 1969 präziser sowie detaillierter ausformuliert als vorher. Zwei Muster können dabei identifiziert werden. Den Erfindern geht es erstens um das Aussehen des Instruments, wobei die technische Planung und das Produktdesign ästhetischen Prämissen folgen, denn „der Handgriff beeinträchtigt durch seine versteckte Anordnung den optischen Gesamteindruck nicht“ (K63: 6). Neben dem Unternehmen Soehnle Murrhardter Waagen bevorzugt auch die Firma Robert Krups bei ihrem Gebrauchsmuster einen Traggriff, den man einklappen kann und der nicht aufträgt: „Abgesehen davon, daß diese feststehenden Tragbügel das Aussehen einer Personenwaage nachteilig beeinflussen, sind sie auch bei der
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bestimmungsgemäßen Benutzung der Waage hinderlich.“ (K38: 4) Für eine platzsparende und senkrecht stehende Aufbewahrung des Instruments wurde die Erfindung weiterentwickelt und ein so genannter Aufsteller angebracht (K39). Mit diesem technischen Detail soll „das Aussehen der Waage“ nicht beeinträchtigt werden (K39: 3). Es wird intendiert, die Personenwaage ansprechend zu verarbeiten, ohne dass einzelne Teile diesen Eindruck stören (K47: 4; K49: 6; K53: 5). Zweitens sollen zusätzliche Details die Ästhetik, aber auch weitere Ansprüche, die an das Instrument gestellt werden, unterstützen. Der Apparat wird folglich mit dekorativen, farblichen und der Zierde dienenden Elementen ausgestattet, um auch dem individuellen Geschmack gerecht zu werden (K41: 7; K46: 4; K47: 4; K59: 5–7; K60: 4). Diese Bemühungen um Ästhetisierung und Individualisierung betreffen unter anderem die Plattform, den Belag, deren farbliche Ausgestaltung und das Zierband, das die Seitenwände der Waage abdeckt. Elemente, die zu einem „besseren Aussehen“ beitragen, dürfen allerdings die Funktion des Geräts nicht beeinflussen (K44: 3). Das gefällige Design des Produkts ist demzufolge eng mit der technisch bestmöglichen Umsetzung von bestimmten Vorstellungen verknüpft und muss aber auch praktischen Gesichtspunkten genügen. Gleichzeitig darf die Urfunktion und normale Aufgabe des Instruments, eine genaue Messung des Körpergewichts, nicht vernachlässigt werden. Auch in der Hochphase in den 1970er Jahren, als die meisten Erfindungen zur Personenwaage für den Heimgebrauch eingereicht wurden, werden vereinzelt Ideen formuliert, welche die Ästhetik betreffen. Erstens geht es um den optischen Gesamteindruck der Personenwaage, denn bei der Planung wird berücksichtigt, dass sich das Gerät häufig in Benutzung befindet. Die eingesetzten Elemente sollen haltbar sein und nicht vorschnell abgenutzt wirken, denn „unter verrutschten Belägen leidet der Anblick der Waage“, genauso bei ausgefransten Rändern des Belags (K79: 4). Die Personenwaage soll entweder insgesamt optisch ansprechend gestaltet sein (K104: 4) oder einzelne Teile wie die Anzeige sollen zum restlichen Aufbau passen, sich also „formschön anordnen“ (K108: 3). Dadurch sind mehrere Eigenschaften der Waage miteinander verknüpft und voneinander abhängig, da bei diesen Überlegungen technische Details und herstellungsrelevante Faktoren einbezogen werden (K104: 6; K108: 4). Zweitens soll, wie auch zuvor, das Produktdesign der Waage die ästhetische Wirkung verstärken und den individuellen Geschmack ansprechen. Die bereits erwähnten Markierungsknöpfe sind in Form und Farbe unterschiedlich und stehen so für eine bestimmte Messung oder Person (K88: 9; K89: 8). Auffällig in diesem Zeitabschnitt ist die enge Anbindung an die vergleichbare, genaue Messung, die Ästhetik der Waage und Elemente, welche die Ablesung positiv beeinflussen.
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Diese Verflechtung betrifft das Aufleuchten oder die Beleuchtung des Displays sowie einzelne Elemente, zum Beispiel den Zeiger des Instruments (z. B. K81; K82; K85; K87; K92; K98; K99; K105). Ebenso besteht eine solche Verbindung bei Signallampen, die sich farblich voneinander unterscheiden, um die Abweichung von einem Optimal- oder Idealgewicht zu bestimmen, wie weiter vorne dargelegt (K72: 3; K109: 19–20). Dazu werden verschiedene Farben und „Dauer- und Flackerlicht“ eingesetzt, um die Kontrolle, aber auch die Bedienung des Instruments zu vereinfachen und beschleunigen (K109: 19, 23). In den 1980er Jahren wird das Anliegen artikuliert, Elemente aus optischen Gründen zu verdecken (K113: 4; K117: 2; K119: 3). So werden Überlegungen angestellt, wie die Erscheinung von Kabel, Trittplatte und die im Instrument vorgesehene Technik optisch verbessert werden können und beispielsweise aus dem Sichtfeld des Betrachters genommen werden „Die in diesen Freiraum eingewickelte elektrische Leitung ist bei Nichtgebrauch oder beim Transport vollständig durch den Anzeigeschuh abgedeckt.“ (K113: 4) Im Falle der Bedeckung der Trittplatte erfüllt der Überzug und Belag auch den Zweck, von den künftigen Nutzer*innen der Personenwaage ausgewählt sowie gewechselt werden zu können, wodurch auffällt, dass wiederum die Ästhetik des Instruments mit dessen Individualisierung verknüpft ist. Die optische Aufwertung des Belags wird erreicht, indem zum Beispiel über „die unschönen Begrenzungskanten des Teppichs“ ein Rahmen gelegt wird, der die Seiten der Waage mit diesen Kanten einfasst (K117: 3). Der Belag selbst kann auf die Inneneinrichtung einer Wohnung abgestimmt werden: „Es ist somit beispielsweise möglich, den vorhandenen Überzug einer Waage gegen einen anderen auszutauschen, um eine Anpassung an die vorhandenen Teppiche eines Raumes […] zu bekommen.“ (K117: 5) Die Beleuchtung der Anzeige wird in diesem Jahrzehnt hingegen lediglich einmalig erwähnt, und zwar in der Patentschrift K113 (K113: 4). Neue Techniken zum Vergleich von genauen Ergebnissen, die optisch ansprechend gestaltet sind, spielen im Gegensatz zu den 1970er Jahren keine Rolle mehr.
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Das Wissensregime von Apps und Sensoren Die Personenwaage 24/7 am Körper tragen (seit 1990)
In der bisherigen Genealogie des Instruments konstituiert sich ein Wissensregime, das über den Zeiger und das Display zwischen Subjekt und Gesellschaft vermittelt. Auch wenn die Personenwaage für den Heimgebrauch seit den 1960er Jahren nach einheitlichen Prinzipien von den Erfindern geplant wird, ändert sich der Spezialdiskurs ab 1990. Dieses Kapitel geht der Frage nach, ob die Erfindungen bis heute dieselben oder sehr ähnliche Macht/Wissen-Komplexe kontinuierlich transportieren oder ob es dabei zu Brüchen und Verschiebungen gekommen ist. Je konkreter die Patentdokumente die Personenwaage und ihre Rolle definieren, desto eher könnte es zutreffen, dass die Personenwaage immer mehr Bestandteil eines allgemeinen, öffentlichen Diskurses wurde und Symbol für ein bestimmtes, gesellschaftliches Körperwissen, bei dem nicht nur die Waage, sondern auch bestimmte Bestandteile der Waage, Zahlen und (nicht-)diskursive Praktiken einen wichtigen Stellenwert bekommen haben. Diese Effekte betreffen zwei Facetten von Macht/Wissen. Zum einen die Personenwaage als gesellschaftliche Konstruktion und zum anderen individuell wie gesellschaftlich wirksame – biopolitische – Akzente, die von dem Instrument ausgehen.
DAS KÖRPERGEWICHT ANALYSIEREN Die Biorhythmus-Waage K1181 – eine öffentliche Personenwaage – wurde während einer Phase zum Patent angemeldet, die für die Etablierung des Messinstruments steht. An dieser Erfindung werden die vielfältigen Erweiterungen erkennbar, für die das Gerät in den 1980er Jahre neben der 1
Vgl. Kapitel 5.1.1.
250 | Die Personenwaage
Erfassung des Körpergewichts vorgesehen war. Durch den Rückgriff auf Individualdaten wie Körpergröße, Geschlecht und Geburtsdatum werden Berechnungen durchgeführt und mit dem Körpergewicht in Beziehung gesetzt. Dazu zählt die Ermittlung des Idealgewichts und die Abweichung davon, aber auch Zustände wie die Gesundheit und die Stimmung. Bei den Waagen, die seit einiger Zeit für den Hausgebrauch oder zum Beispiel in Fitnessstudios üblich sind – bei denen Messungen aber von Dritten durchgeführt werden –, kann ein ähnlicher Trend festgestellt werden. A15, A16, A28, A29, A60 und A61 bilden dasjenige Sample, das stellvertretend für die Erfindungen steht, die seit dem 1. Januar 1990 bis heute angemeldet wurden.2 Alle sechs Patentdokumente fungieren als Querschnitt der Gegenwart. Mit diesem Sample wird im Folgenden die jüngste Entwicklung untersucht. Dabei fällt auf, dass es sich bis auf eine Erfindung um typische Ausführungen der Personenwaage für den Heimgebrauch handelt. Bei der Erfindung (A28) könnte es sich allerdings auch um diese Variante gehandelt haben, da sich diese Innovation auf die bereits bekannten Waagen mit Idealgewicht(-stabellen) bezieht (A28: 2), die für den privaten Gebrauch gedacht sind (K31; K78; K110). Im Grunde greifen alle Erfindungen in diesem Sample das bekannte Design auf. Die Ideen bauen auf dem Wissen, das sich über das grundständige Modell bereits konstituiert hat, auf. Je nach Ausführung werden spezifische Ergänzungen der Waage hervorgehoben, mit der die Aussagekraft des Instruments in Richtung noch detailliertere Messergebnisse gesteigert werden soll. Tatsächlich werden lediglich in drei Fällen Waagen mit neuen technischen Details vorgestellt, die bis zum Jahr 1989 noch nicht in den Spezialdiskurs eingebracht worden waren (A28; A29; A60). Es handelt sich bei zwei Innovationen um so genannte Körperanalysewaagen, die neben dem Körpergewicht auch den Anteil von Körperfett, Wasser, Muskel und Knochenmasse ermitteln können (A28; A60). So geht es bei dem Gebrauchsmuster A28 aus dem Jahr 2000 im Kernpunkt um eine Vergleichbarkeit des Körpergewichts mit Ideal- und Durchschnittswerten, was aber schon mehr als siebzig Jahre zuvor ein Thema gewesen war (K11). Dazu werden Normalgewichtstabellen hinzugezogen oder Referenzwerte wie das Unter-, Normal- oder Übergewicht und die Abweichung davon. Diese Argumentation wiederholt sich, wie bekannt ist, zwischen 1919 und
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A15 bis einschließlich A74 sowie A77. Alle diese Patente und Gebrauchsmuster durchliefen zunächst den Auswahlprozess, der in Kapitel 3.2.2 beschrieben wurde. Anschließend wurde nach der bekannten Systematik (s. Kap. 3.3.1) aus diesen Erfindungen ein Sample gebildet.
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1989 (z. B. K11; K31; K72; K78; K103; K109; K110). Zusätzlich zum Gewicht kommen bei der ersten Erfindung im neuen Jahrtausend das Körperfett und der Wasseranteil hinzu (A28: 1–2):3 „Die zu schützende Lösungen [sic!] überwindet den vorhandenen technischen Stand dadurch, daß sie aus den Leitfähigkeitsdaten des Körperelektrolyts mit einem starren Rechenprogramm durch vergleichende Betrachtung der gemessenen Daten und eingespeicherter statistischer Daten Körperfett- und Wasseranteil genauer ausweist.“ (K28: 2)
Diese Innovation beabsichtigte eine Genauigkeit von 0,5 Prozent unter Einbeziehung des individuellen Körpers, was unter anderem den Knochenbau betrifft (A28: 2–3). Das Ergebnis kann bisher auf eine Stelle hinter dem Komma wiedergegeben werden (K105: 8). Die Messung erfolgt nun über Sonden, die am Körper angebracht werden, wobei leichte Stromimpulse durch den Körper geschickt werden (A28: 2). Nach wie vor sieht diese Erfindung eine Berechnung der Werte und einen automatischen Vergleich vor. Es handelt sich hierbei um die einzige Erfindung in diesem neuen Sample, dem keine Skizze und genauere Bestimmung des Anwendungsortes beigefügt wurde. Denkbar ist, dass die Ausführung für das private Umfeld, aber auch als (semi-)öffentliche, wissenschaftliche oder medizinische Waage vorgesehen war. Die Ergebnisse können von einer „Computerstimme“ aufgesagt werden (A28: 2–3), was eine Attraktion wie bei den klassischen öffentlichen Automaten Ende des 19. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vergleichbar mit den Kontrollkarten, darstellt. Daneben wird von der Messung an einer Prüfperson gesprochen, an der die Sonden angelegt werden, was einen Eingriff durch Dritte bedeutet (A28: 2). Die zweite Erfindung, die bestehende Produkteigenschaften aktualisiert, wurde im Jahr 2010 angemeldet und hebt vor allem die ästhetische Komponente des Instruments hervor (A60). Hier werden die neuen Elemente, die das Gebrauchsmuster A28 zehn Jahre zuvor noch als Innovation beansprucht, als Bestandteile der Heimwaage beschrieben, die sich allmählich etablieren: „Personenwaagen und insbesondere in der jüngsten Zeit auch Personenwaagen mit Messelektroden zur Messung körperspezifischer Eigenschaften, wie beispielsweise eines Körperfettanteils, eines Muskelanteils oder einer Knochenmasse, erfreuen sich aufgrund eines zunehmenden Körperbewusstseins zunehmender Beliebtheit.“ (A60: 2)
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Dieser Bestandteil der Waage wurde schon im Jahr 1998 erwähnt (A23: 1).
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Im Spezialdiskurs konstituiert sich innerhalb der ersten zehn Jahre des neuen Jahrtausends eine Wägemethode, die noch präziser und umfassender den Körper misst und vergleicht. Dazu sind sehr genaue Messungen mit Sonden und Elektroden notwendig, die neben dem Körpergewicht weitere Daten erfassen und von der Personenwaage analysiert werden. Dazu gehören unter anderem der Körperfett- und Wasseranteil. Die Sonden sind mittlerweile in der Wiegeplattform verbaut und leiten die Stromimpulse über die nackten Füße. Diese Verfeinerung der Messung wird in den Zusammenhang mit einem „zunehmenden Körperbewusstsein“ gestellt (A60: 2). Dieser Macht/Wissen-Komplex hat sich seit Ende der 1980er Jahre intensiviert. Im Zuge eines gesellschaftlichen Individualisierungs- und Ästhetisierungsschubs repräsentiert die Personenwaage soziale Prozesse und vermittelt diese an das Individuum. Diese gesellschaftliche Komponente des Artefakts verlagert sich auf das Subjekt und fordert dieses heraus. Es handelt sich hierbei um die Reflexion eines Subjekts über seine Gesundheit, was sich an das Ideal eines schlanken und fitten Körpers koppelt. Ein Körperbewusstsein zielt auf die Präsenz eines Subjekts, das die Wirkung seines Selbst und Körpers reflektiert. Diese diskursive Funktion der Waage wird zwischen 1919 bis 1989 derart offensichtlich nicht benannt, sondern der Zusammenhang zwischen Waage, Wiegen und Körper mit einem Gesundheitsbewusstsein4 erklärt. Im Fall von K118 aus dem Jahr 1985 wird die Waage mit einer Bewertung der psychischen Verfassung in Verbindung gebracht (K118). Der Hauptbezugspunkt der Erfindung A60 stellt jedoch die ästhetische Aufbereitung des Instruments mit optischen Effekten dar, die sich – wie üblich – gefällig in die Innenarchitektur des Badezimmers oder Raumes einfügen sollen. „Neben einer einwandfreien Funktion spielt insbesondere in modernen Bädern aber auch ein Design derartiger Personenwaagen zunehmend eine Rolle. Besonders beliebt sind dabei Glitzereffekte, die insbesondere durch geschliffenes Glas bzw. geschliffenes Kristall erzeugt werden können.“ (A60: 2)
Die Anzeige kann mit optischen Effekten wie einem Kristallschliff ausgestattet werden (A60: 2). Die Farben der Leuchtdioden, so genannte LEDs, können individuell bestimmt werden und sind langlebig (A60: 2). Die „beleuchteten und funkelnden Simili“ sorgen dafür, dass „sich die Anzeige bei Dunkelheit problemlos ablesen“ lässt (A60: 2). Dieser Umstand erinnert an einen individuell wählbaren Belag der Waage, der dennoch haltbar ist (z. B. K35; K47; K48; K56; K59; K117) und an Anzeigen, die an Umgebungsbedingungen angepasst werden
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Vgl. Kapitel 5.2.3, Abschnitt „Vergleichbare Messung und Kontrolle des Ergebnisses“.
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können (z. B. K87; K106). In dieser Patentanmeldung A60 wird, im Gegensatz zur Gebrauchsmusteranmeldung A28, eine äußerst exakte Messung nicht mehr erwähnt, obwohl beide Erfindungen nach einem ähnlichen Prinzip funktionieren. Im Jahr 2000 war diese verbesserte Genauigkeit bei Körperanalysewaagen noch nicht Standard und stellt im Jahr 2010 keine grundsätzliche Neuerung mehr dar. Zwar könnte auch auf ein nachlassendes Interesse an der Genauigkeit der Waage zugunsten neuen Erhebungsmöglichkeiten wie dem Muskelanteil geschlossen werden, jedoch erscheint diese Veränderung im Spezialdiskurs wenig plausibel. Bei neuen Innovationen wird zunächst an der Genauigkeit gefeilt und im Zuge dieser Überarbeitungen die Urfunktion der Personenwaage verbessert, wie es sich beispielsweise an der Einführung des Displays in den 1960er Jahren zeigt.5 Die dritte Erfindung beantragt, die elektrische Energie, die zum Betreiben der Personenwaage benötigt wird, selbst zu erzeugen (A29). Der Verbrauch von Batterien fungiert als Hinweis auf eine regelmäßige Nutzung der Waage. Die Entkopplung der Waage vom Austausch der Batterien steht für einen unkomplizierten Umgang mit dem Apparat sowie eine lange Haltbarkeit des Instruments. Mit diesem Gebrauchsmuster wird intendiert, ein umweltfreundliches Gerät einzuführen, da sich die Entsorgung von Batterien als problematisch darstellt (A29: 2). Damit gilt für die Entwicklung der Personenwaage von 1990 bis heute, für die stellvertretend sechs Patentdokumente herangezogen wurden, folgende Bilanz: Die Normalisierung und Technisierung – und damit auch die Standardisierung – der Personenwaage setzt sich weiter fort, so dass die Begleittexte der Erfindungen noch kürzer werden als in den 1980er Jahren. So umfasst kein Patentdokument in diesem neuen Sample ab 1990 mehr als sieben Seiten. Die Definition des Artefakts selbst ist nach wie vor dieselbe und charakterisiert die Personenwaage als Messinstrument für die private Anwendung. Die Grundausführung besteht weiterhin aus dem viereckigen, flachen Modell mit Trittfläche, das auf dem Boden im Badezimmer oder in einem anderen Raum zuhause aufgestellt werden kann (A15: 1; A60: 1–2; A61: 1). Das Ergebnis wird selbst abgelesen (A16: 2; A29: 3; A60: 1). Der Spezialdiskurs verändert sich, was die bisherigen Eigenschaften betrifft nicht wesentlich, sondern wird auf den neuesten Stand der Technik gebracht. Dabei folgt diese Weiterentwicklung in gewisser Weise gesellschaftlichen Trends. Das bedeutet, dass die Genealogie der Personenwaage in der jüngeren Vergangenheit nach wie vor kontinuierlichen Prinzipien folgt. Die alltäglichen Beobachtungs- und Kontrolltechniken des Körpers, die mit den Erfindungen zur Verfügung gestellt werden, haben sich intensiviert
5
Vgl. Kapitel 5.2.1 und 5.2.3.
254 | Die Personenwaage
beziehungsweise weiter ausdifferenziert. Allerdings ist für das Verständnis dieser neuen Informationen ein spezielles Wissen der Subjekte notwendig, da die Personenwaage eine komplexe Bedienung des Geräts erfordert. Denkbar ist auch, dass diese neuen Waagen eine medizinisch beziehungsweise technologisch vorgebildete und an Technik interessierte Zielgruppe ansprechen – oder dass sich der Kenntnisstand der Anwender*innen ausgeweitet haben muss. Die beiden Patentdokumente A60 und A61, die genau diese Innovationen vorschlagen, betreffen eine Interaktion zwischen Technik und Körper, die dieses spezifische Wissen umsetzt. Nach der Systematik, die im Rahmen der Grobananalyse für die Vorauswahl getroffen wurde, verkörpern diese Erfindungen das aktuelle Jahrzehnt seit 2010. Genau genommen decken diese jedoch nur den Entwicklungsstand bis zum Jahr 2010 ab, denn beide wurden in diesem Jahr eingereicht. Betrachtet man die Berichterstattung in den Massenmedien (Bethge 2012; Stüber 2014) und verfolgt man Homepages oder Blogs im Querschnittsbereich Digitale Innovationen, Fitness und Self-Tracking (Bonset 2017; Schumacher o. J., 2015a), kommt in dem Zeitraum seit dem Jahr 2010 ein weiteres Spektrum der Gewichtserfassung zum Tragen. Diese dynamischen gesellschaftlichen Phänomene stehen in enger Beziehung zur Digitalisierung, die Veränderungen im Spezialdiskurs bewirkt. Genau diese Entwicklungen hängen mit der Erfassung von neuen, noch detaillierteren Individualmerkmalen zusammen, die mit den Erfindungen A60 und A61 in den Diskurs eingeführt werden. Um diese jüngste Entwicklung verstehbar zu machen, soll der öffentliche Diskurs im Internet hinzugezogen werden – beziehungsweise die Technologien analysiert werden, welche dieses Update der Personenwaage begleiten.
SELBSTVERMESSUNG 2.0 – SMART UND GRENZENLOS Im Zuge der digitalen Wende kommt es zu neuen gesellschaftlichen Bedingungen für die Personenwaage. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts bestehen diese in einem ersten Schub der Computerisierung (Bendel 2018). Innerhalb des Herstellungsprozesses wird die automatisierte wie optimierte Fertigung und Massenproduktion des Instruments möglich. Im Gerät selbst werden digitale Displays und Speichermedien wie Mikroprozessoren verbaut. Dadurch weitet sich die Informationstechnologie im privaten Umfeld im 21. Jahrhundert weiter aus und passt sich in einem zweiten Schub flexibel an das Individuum an (ebd.). Das Wissensregime der Personenwaage verlagert sich demzufolge von Zeiger und Display auf eine neue Form der Vermittlung, die über Sonden und Elektroden
Das Wissensregime von Apps und Sensoren | 255
eingeführt wird. Über diesen neuen Strang in der Genealogie der Personenwaage wurde eingangs kurz gesprochen. Dieser betrifft unter anderem Smartphone-Apps, welche in den letzten Jahren dazu genutzt werden, das Körpergewicht mit anderen Werten in Bezug zu setzen. Auch die Anwendung „Optimized“, die laufend aktualisiert wird, verknüpft verschiedene Parameter miteinander, um daraus unter anderem Beziehungen zwischen Körpergewicht, Gesundheitszustand, aufgenommenen Kalorien und der psychischen Stimmung herzuleiten (OptimizeMe GmbH 2016). Dabei geben die Anwender*innen ihr emotionales Befinden bei verschiedenen Aktivitäten und Interaktionen im Tagesverlauf in die App ein, wodurch ein persönliches Profil erstellt wird. Ähnlich wie „Optimized“ – aber auch wie „Google Fit“ – funktioniert die „Health-App“ von Apple. Diese fungiert als zentrale Sammelstelle aller Gesundheits- und Fitness-Apps und kann auf Smartphones und sämtlichen anderen Apple-Geräten wie der Apple Watch genutzt werden (Apple Inc. o. J.). Die „Health-App“ zieht vier Genres heran, in welche die Daten eingeordnet werden (Aktivität, Achtsamkeit, Ernährung und Schlaf). Diese Apps gelten in Anlehnung an Duttweiler (2016: 227) als Medientechnologien, in denen verschiedenste Hardware (z. B. Smartphones, Smartwatches, Fitnessarmbänder, Bewegungssensoren, Pedometer) mit verschiedenster Software (z. B. Apps, Internet-Portale, Dashboards) kombiniert wird.6 Dabei geht es erstens um die Verbindung mehrerer Funktionen (Vermessen, Speichern, Auswerten und Verbreiten von Daten), zweitens um die Sammlung von Wissen und drittens um das Ausführen von Handlungen (ebd.: 227–228; Reichert 2016: 186-191). Somit ist Wissen „nicht einfach mehr Teil des Handelns, vielmehr zielt das Handeln auf das Wissen als sein Produkt“ (Knoblauch 2013: 14) Das Subjekt selbst steht im Mittelpunkt von Self-Tracking und setzt sich gewisse Ziele, die dann über die Technik verwaltet und beaufsichtigt werden. Eine sehr ausdifferenzierte Art der Überwachung von Körperdaten entspricht den (Körper-)Analysen der „Quantified Self-Bewegung“7, womit eine „Verbesserung von Leben“ ermöglicht werden soll. (OptimizeMe GmbH 2016).8
6
Pedometer zeichnen die gelaufenen Schritte auf. Dashboards dienen der Visualisierung und als Datenbank der gesammelten Aufzeichnungen; darüber hinaus als Kontrolle gegenüber sich selbst und als Vergleichsmöglichkeiten mit Dritten (Duttweiler 2016: 228–229; Reichert 2016: 187–188).
7
Die detaillierten individuellen Daten über den Körper, körperbezogenes Verhalten und Gefühlszustände werden auf Gruppentreffen und Konferenzen verglichen und ausgetauscht.
8
Vgl. hierzu ausführlich Duttweiler et al. (2016) sowie Lupton (2016).
256 | Die Personenwaage
Damit wirbt die App „Optimized“, denn diese geht auf die „Quantified Self-Bewegung“ zurück. Mit der Aufzeichnung können die Anwender*innen beispielsweise herausfinden, was sie glücklich macht, wie in der Beschreibung der App aufgeführt wird: „Je mehr Daten du über dich erfasst, umso mehr Einblicke in dein Leben erhälst [sic!] du – und umso präziser werden sie sein.“ (Ebd.) Bei den Waagen, die dafür genutzt werden, handelt es sich vorzugsweise um so genannte smarte Waagen, das heißt, diese verbinden sich drahtlos mit dem Smartphone und übertragen das Körpergewicht direkt in die App (Schumacher 2015a). Derzeit kommen solche Apps, was den alltäglichen Gebrauch im privaten Haushalt angeht, noch nicht ohne Personenwaage aus (z. B. Bonset 2017; Cachapa 2017; digitalsirup GmbH 2016; Heinz 2014; MyFitnessPal 2017; OptimizeMe GmbH 2016). Zumindest für die erste grundlegende Einstellung des Ausgangsgewichts muss ein Körpergewicht eingegeben oder vom Messinstrument an die Anwendung gesendet werden. Darauf baut die Analyse auf und errechnet, wann das Zielgewicht erreicht wird (z. B. Cachapa 2017; digitalsirup GmbH 2016; Heinz 2014; runtastic 2016) und wie eingenommene Mahlzeiten, Bewegung und sportliche Betätigungen diesen Verlauf beeinflussen (z. B. MyFitnessPal 2017; OptimizeMe GmbH 2016). Das bedeutet, dass im Rahmen einer solchen Nutzung der permanente Einsatz der Waage nicht mehr unbedingt nötig ist. Bei Mitgliedern der „Quantified Self“-Bewegung ist aber davon auszugehen, dass die häufige, einfache und exakte Gewichtsermittlung mit smarten Waagen zum essenziellen Bestandteil ihres Self-Trackings gehört (Schumacher 2015a, 2015b). Damit macht sich eine Entwicklung bemerkbar, die in eine Richtung geht, die selbst diese technisch sehr ausgereiften Modelle langfristig ablösen werden. Im digitalen Zeitalter der Gegenwart gelten die damit verknüpften Apps als Grundausstattung von Smartphones und werden von den Herstellern werkseitig zur Verfügung gestellt (z. B. Apple Inc. o. J.). Die Praktiken des Self-Trackings stehen demzufolge seit einigen Jahren prinzipiell einer großen Gruppe an User*innen zur Verfügung. Vereinzelte Ergebnisse von Umfragen und erste (explorative) Studien weisen darauf hin, dass der Einsatz dieser smarten Techniken stark variiert und davon abhängig ist, ob das Subjekt sich selbst in der „Quantified Self-Bewegung“ verortet oder aufgrund eines anderen, individuellen Kontextes die Erhebung von Gesundheitsdaten forciert oder lediglich daran interessiert ist (Duttweiler 2016: 235–236; Duttweiler/Passoth 2016: 19–23; Scheermesser/Meidert 2018: 79–100; Vormbusch/Kappler 2018: 218–228;
Das Wissensregime von Apps und Sensoren | 257
Zillien/Fröhlich 2018: 236–245)9. Daraus geht hervor, dass ungefähr 40 bis 70 Prozent der jeweiligen Studienteilnehmer*innen, die nicht ausschließlich aus dem Personenkreis des Self-Trackings stammen, eine oder mehrere Apps zur Selbstüberwachung nutzen. Die derzeitigen Entwicklungen deuten erstens darauf hin,10 dass sich diese Tendenzen in der breiten Bevölkerung künftig verstärken und zweitens, dass das Phänomen des „Quantified Self“ parallel weiterbesteht, so dass Innovationen in diesem Bereich zunehmen werden. Aus diesem Grund wurde entschieden, eine Abfrage entsprechender Begriffe auf der Datenbank des DPMA durchzuführen, um diese jüngsten Entwicklungen einzufangen. Diese bestand aus der Kombination „Person“, „Körpergewicht“ und „Sensor“.11 Die Rede ist hierbei von Sensoren, die ein externes Gerät in Form einer Waage überflüssig machen könnten. Dazu wurde im Jahr 2015 ein Patent angemeldet, das über eine Einlegesohle im Schuh erstmalig das Körpergewicht mit Drucksensoren messen kann (A75). Alternativ werden unter anderem auch Schuhsohlen, Schuhe, Socken und Handschuhe vorgeschlagen (A75: 12–13). Das Signal wird hierzu wie bei den smarten Waagen an das Mobiltelefon weitergegeben (A75: 4, 11–12). Die Erfindung soll über den speziellen und professionellen Einsatz hinausgehen und eine Anwendung im Alltag ermöglichen. Aktuell werden solche Messungen mit Sensoren und Mikroprozessoren von Sportmediziner*innen, Therapeut*innen und Wissenschaftler*innen betreut und für festgelegte Zwecke genutzt, finden also außerhalb des privaten Bereichs statt (A75: 3). Solche Untersuchungen stehen den institutionellen Waagen nahe, die zwischen 1919 und 1989 vorgeschlagen werden. Der Zweck und die Bestimmung einer möglichen, neuen Generation von Personenwaagen gleichen den Apps, die für eine Selbstanalyse im Rahmen des Self-Trackings eingesetzt werden, bedeuten aber gleichermaßen, dass wissenschaftliches oder medizinisches Wissen nicht mehr nur innerhalb von Spezialdiskursen verhandelt wird. Das Internet der Dinge schafft demokratische Teilhabemöglichkeiten für Subjekte. Noch mehr als je zuvor ist die logische
9
Im deutschsprachigen Raum existieren noch kaum repräsentative Umfragen. Mit über 1000 Befragten stellt die Studie von Meidert et al. (2018) eine der bislang umfassendsten dar. Für die meisten Studien gilt, dass diese sich auf Personen beziehen, die im Umfeld der „Quantified Self“-Bewegung selbst aktiv sind beziehungsweise aufgrund von einer hohen sportlichen Aktivität oder chronischen Erkrankung per se stärker mit Gesundheits- und Körperdaten konfrontiert sind.
10 Vgl. Kapitel 1. 11 Suchanfrage am 21. Juni 2017, Beschränkung der Recherche auf Deutschland mit Befehl Familienmitglieder gelöscht.
258 | Die Personenwaage
Konsequenz, dass der Wissenskommunikation keine festen Grenzen mehr gesetzt sind und Wissen sich in vielfältigen Teildiskursen verselbständigt (Knoblauch 2013). Diese technische Weiterentwicklung des Instruments an sich verkörpert eine elaborierte Form der ersten Personenwaagen aus den 1960er Jahren, die mit Mikroprozessoren ausgestattet waren. Die Veränderung besteht aus einer massiven Verkleinerung des Messgeräts, die Speicherung in der Sohle ist nur als Zwischenspeicher gedacht und wird in anderen (virtuellen) Medien abgelegt. Der weitere Unterschied zu allen bisherigen Waagen besteht in der permanenten Erfassung des Körpergewichts durch die Zusammenarbeit der einzelnen Drucksensoren. Dadurch beschränkt sich das Wiegen nicht mehr nur auf spezifische Alltagssituationen, in denen die Waage oder eine entsprechende App benutzt wird, sondern weitet sich auf den gesamten Zeitraum aus, in denen die Sohle im Schuh liegt. Dieser neue Trend in der Genealogie der Personenwaage beschreibt also eine Technik oder Medientechnologie, die Teil der Bekleidung wird (Wearable) und sich somit überaus eng an das Individuum anbindet. Damit besteht die praktische und flexible Eigenschaft der Waage weiter fort. Aus der Transportfähigkeit innerhalb der Wohnung oder im Auto könnte in der Zukunft ein direkt am Körper tragbares Instrument werden, das überall und unauffällig das Körpergewicht misst. Bereits jetzt begleitet das Wissensregime der Personenwaage in Form von Apps, die auf dem Smartphone installiert sind, jede Aktivität rund um die Uhr. Diese Sammlung von Daten ist kaum mehr zu kontrollieren oder einzuschränken, so dass davon auszugehen ist, dass sich die biopolitische Macht und das Wissen von Technologien einer Personenwaage 2.0 in Zukunft noch weiter im Alltag ausbreiten werden.
7
Die Regierung der (Selbst-)Vermessung
Die Geneaologie der Personenwaage besteht aus drei Episoden. Das Wissensregime deutet sich zunächst in der Vorgeschichte des Instruments an (Kap. 4). Vor den Hintergrund des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses durchläuft das Artefakt verschiedene Entwicklungsschritte. Materialisierte sich das Wissensregime zunächst über den Zeiger und das Display des Geräts (Kap. 5), scheint sich dieser Vorgang seit 1990 auf Apps und Sensoren zu verlagern (Kap. 6). Deutlich wird, dass die Konzeption der Personenwaage über die singuläre Funktion, das Körpergewicht zu messen, hinausgeht. Im Alltag der Zweiten Moderne kommt dem Instrument eine vielschichtige, mehrdimensionale Rolle zu, die individuelle, soziale und politische Anteile hat. Der erste Teil dieses Kapitels arbeitet diese Genealogie mit Hilfe diskursiv bedeutsamer Ereignisse heraus (Kap. 7.1). Dazu werden die erfinderischen Entwicklungen seit Ende des 19. Jahrhunderts einbezogen. So scheint das Artefakt nicht nur über die Gesundheit und den Körper zu wachen, sondern wird im Alltag der Zweiten Moderne für das Subjekt hochrelevant. (Nicht-)diskursive Praktiken im Umfeld der Personenwaage kommen dann nicht zufällig zustande, sondern sind sozial hergestellte und bedeutungsvolle Macht/Wissen-Komplexe. Im zweiten Teil des Kapitels geht es um die diskursive Verselbständigung des Spezialdiskurses in Handlungsvollzügen von Subjekten (Kap. 7.2). Dazu wird mit Rückgriff auf Foucault analysiert, welche machtvollen Effekte die Personenwaage im Alltag von Individuen erzeugt und auf welche Weise ein Körperwissen in der „Brigitte“ und bei „Freeletics“ vermittelt wird, das mit dem Artefakt in einer engen historischen und gesellschaftlichen Beziehung steht.
260 | Die Personenwaage
ZWISCHENRESÜMEE: EINE GENEALOGIE DER PERSONENWAAGE Das verschriftliche Wissen in den Patenten und Gebrauchsmustern steht für die gesellschaftlichen Vorgänge, die sich auf die Personenwaage beziehen. Dieses Wissen wirkt mit dem Artefakt wieder in die Gesellschaft zurück, da das Gerät mit seinen spezifischen Charakteristika gesellschaftlich bedeutsam geworden zu sein scheint. Im Spezialdiskurs zeigt sich, dass diese Merkmale aus einem technischen Apparat ein Artefakt mit bestimmten Funktionen und Aufgaben machen. Diese Eigenheiten oder Bedeutungen des Instruments repräsentieren gleichermaßen typische Elemente gesellschaftlicher Modernisierung. Hinsichtlich einer Genealogie der Personenwaage sind diejenigen Prozesse von Relevanz, die mit Macht und Wissen zusammenhängen, sich in signifikanter Weise im Instrument bündeln und im Zeitverlauf manifestieren. Unter diesem Fokus kommt der Personenwaage für den Heimgebrauch die zentrale Rolle zu, denn diese fungiert als dominantes Modell und hat sich gegen alle anderen Ausführungen durchgesetzt.1 Nicht nur bei der öffentlichen Waage, sondern auch bei den Instrumenten für den Heimgebrauch spielt das Individuum und dessen Einstellung gegenüber dem Artefakt eine entscheidende Rolle. Die erste Phase, die den Kontakt und die Kontaktmöglichkeit mit dem Instrument beinhaltet, ist dadurch geprägt, dass die Personenwaage stimmig in die unmittelbare Wohnumgebung eingebettet ist. Die zweite Phase bestimmt, welche Eigenschaften die Waage zu einem interessanten Gegenstand machen. Die direkte Interaktion bildete die dritte Phase. Das Instrument wird an den Menschen, die Abläufe im Haushalt und die Wohnung angepasst. Einen unangenehmen Eindruck, der in praktischer und sensorischer Hinsicht den Kontakt zur Personenwaage nachhaltig hemmen könnte, beabsichtigen die Erfinder zu vermeiden (vierte Phase). Der historische Prozess deckt einerseits die Konstruktion eines spezifischen Technik- und Körperwissens und andererseits die Genese einer dazugehörigen, medizinischen Deutungsmacht auf. In diesem Spezialdiskurs der Erfindungen wird die Kontrolle des Körpergewichts wechselweise empfohlen oder konkret angewiesen. Das Artefakt, welches Zahlen ermittelt oder berechnet, erhält über die Bewertung des numerischen Wertes eine Geltungskraft, die mit einer (Definitions-)Macht über Gesundheit und Krankheit zusammenhängt. Zeiger und Display, Apps und Sensoren, aber auch Idealgewichtstabellen (K110) und Gewichtabweichungsskalen (K78) fungieren – stets zusammen mit der
1
Sofern nicht anders benannt, ist im Folgenden von der Personenwaage für den Heimgebrauch die Rede.
Die Regierung der (Selbst-)Vermessung | 261
Personenwaage – als Materialisierung eines Wissensregimes, mit dem die Körper- und Gesundheitsüberwachung im Alltag von Individuen initiiert werde soll. Die Einführung ganz bestimmter Interaktionen zwischen Instrument und Individuum in Form einer konkreten Rolle des Artefakts, bei das Körpergewicht eng getaktet kontrolliert wird, kristallisiert sich als diskursive Strategie in der Genealogie der Personenwaage heraus. 1886 bis 1959 Die Vorgeschichte des Instruments verortet die Waage im Kontext von Musterungen und (ernährungs-)medizinischen Untersuchungen, die allerdings nicht selbst durchgeführt werden. Das Wiegen auf der öffentlichen Personenwaage hat einen unterhaltenden Effekt, erfolgt aber auf eigenen Wunsch und meist ohne das Zutun dritter Personen. Bei diesen Automaten machen Wiegekarten mit dem Datum der Messung das Instrument zu einer Attraktion im vorwiegend öffentlich zugänglichen Raum. Das Wiegeergebnis der öffentlichen Waage und deren Dokumentation hat zwischen 1886 und 1899 und von 1919 bis 1959 nicht dieselbe Bedeutung wie heute. Auffallend ist, dass ein spielerischer Vergleich, der durch Wiegekarten ermöglicht wird, kein bedeutsames Ausstattungsmerkmal der Waage für den Heimgebrauch darstellt. Betrachtet man nur den Zeitraum zwischen 1919 und 1959, stellt die Kontrollfunktion des Instruments sowohl bei den öffentlichen als auch bei den privaten Waagen eine untergeordnete Rolle dar. So wird in einer einzelnen Erfindung, die eine neue Heimgebrauchswaage vorstellt, auf Normalgewichtstabellen Bezug genommen, mit denen öffentliche Waagen üblicherweise ausgestattet sind (K31). Bestätigen lässt sich diese Regel, von der hier die Rede ist, nicht unbedingt, da nur bei einer öffentlichen Waage diese Tabellen aufgegriffen werden (K11). Anders wird mit dem Körpergewicht bei den Waagen umgegangen, die in Krankenhäusern, Saunen oder an anderen halb-öffentlichen Orten genutzt werden. Einen elementaren Stellenwert nimmt hier die genaue, schnelle Messung von Patient*innen ein (K21; K28; K30). Damit verschmelzen erstmals die Kontrolle des Körpergewichts, Normal-, Unter- und Übergewicht, Gesundheit oder Krankheit sowie das Instrument selbst miteinander (K11; K21; K28; K31; K32). Zum Ausdruck kommen hierbei Medikalisierungsprozesse, weil die Messergebnisse der Personenwaage mit medizinischen Termini besetzt und diesen ein je spezifischer Gesundheits- oder Krankheitswert zugeschrieben werden. Diese Identifizierungsleistung steht für die Bestimmung der Waage und stellt zwischen dem Artefakt und der Medizin ein enges Verhältnis her. Die Messung wie Kontrolle des Körpergewichts scheint allmählich sowohl gesamtgesellschaftlich als auch für bestimmte Personengruppen bedeutsam zu werden, weil diese im Alltag – sei es
262 | Die Personenwaage
im halb-öffentlichen oder privaten Umfeld – empfohlen wird. So ist im Personenkreis von adipösen und/oder kranken Menschen von einer gewissen Wiege-Routine (K21; K28; K32) die Rede, die ständig medizinisch indiziert ist. Somit deutet sich in den 1950er Jahren eine Normalisierung und Medikalisierung des Körpers an, die in diskursiver Hinsicht individuelle Gesundheitshandlungen einfordern. In einigen wenigen Erfindungen kommt dieser Zusammenhang bei allen drei Varianten der Personenwaage zum Ausdruck. Bei den meisten Heimwaagen in diesem Zeitabschnitt werden jedoch andere Eigenschaften des Instruments stärker verhandelt. Dazu zählt vor allem die Handhabung und Haltbarkeit. Das Instrument kann als bequemer und unauffälliger technischer Haushaltsgegenstand definiert werden. Die Alltagsrelevanz dieser Variante wird deutlich, weil haushaltspraktische und hygienische Aspekte angesprochen werden. Die Tragbarkeit und Abnutzung der Waage belegen eine häufige Nutzung. Das Instrument wird danach ausgerichtet, individuelle Bedürfnisse und Wünsche zu befriedigen, die je nach Wahrnehmung, Einschätzung und Geschmack variieren können. Die Individualisierung und Ästhetisierung der Waage liegt bei Innovationen dieser Art auf der Hand. Es geht also nicht mehr nur um einen interessanten Wiegeautomaten, wofür die meisten öffentlichen Personenwaagen stehen, sondern das Instrument soll als Alltagsgegenstand im Haushalt oder Badezimmer jederzeit zur Verfügung stehen, Komfort bieten und ansprechend aussehen. Parallel macht die industrielle (Massen-)Fertigung günstige Geräte möglich, weil die kleineren Modelle gegenüber der öffentlichen Personenwaage unter anderem viel weniger Material benötigen. Im Vergleich zum Herstellungsprozess Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gehen die Heimwaagen Mitte des 20. Jahrhunderts aus einer stark rationalisierten Konstruktion, Fertigung und Montage hervor, was nicht nur die Produktionskosten verringert. Dadurch können die kleinen Waagen für den Heimgebrauch in höherer Stückzahl produziert werden, als es bei den früheren öffentlichen Personenwaagen und ihren Vorläufern der Fall war. Bei diesen Instrumenten liegt die Einzel- oder (Klein-)Serienfertigung näher, allein schon wegen ihrer Größe.2
2
Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Payer (2012: 309–310) zu den Herstellern in Wien Ende des 19. Jahrhunderts. Ab Mitte der 1950er Jahre wurde auch die Kleinserien und Einzelfertigung – neben der Massenproduktion – von automatisierten Vorgängen begleitet (König 2008: 61).
Die Regierung der (Selbst-)Vermessung | 263
1960 bis 1969 Die Technisierung und Individualisierung der Personenwaage für den Heimgebrauch kommt in diesem Jahrzehnt weitaus deutlicher zum Ausdruck, denn das Modell ist allen anderen Ausführungen zahlenmäßig überlegen und bestimmt damit den Spezialdiskurs. Allein in den zehn Jahren zwischen 1960 und 1969 werden fast so viele Patente und Gebrauchsmuster angemeldet wie in der gesamten Zeitspanne von 1919 bis 1959 in vierzig Jahren. Zeitgleich etabliert sich das Badezimmer als Aufstellort der Personenwaage für den Heimgebrauch. Außerdem deutet sich mit dem wiederholten Einsatz des Instruments im Alltag eine regelmäßige und tägliche Wiegepraxis an. So soll die technische Ausstattung der Waage für eine ständige Betriebsbereitschaft und Einsatzfähigkeit sorgen und nach Möglichkeit sollen keine Folgekosten für die Instandhaltung entstehen. Beispielsweise werden Vorkehrungen getroffen, damit sich das Getriebe im Inneren der Waage nicht frühzeitig abnutzt (K44: 2) oder die Gelenke des Traggriffs klemmen (K58: 2). Die im Inneren der Waage verbauten Teile sollen nicht verbiegen und verrutschen, weil die Waage „dadurch nicht nur vorübergehend unbrauchbar“ werden kann, sondern auch eine „umständliche Reparatur“ vonnöten wäre (K43: 1). Die in mehreren Patentdokumenten geäußerte (pflegeleichte) Säuberung des Belags der Waage erklärt sich durch die wiederholte oder alltägliche Nutzung des Instruments, was den Erfindern bekannt gewesen sein muss (z. B. K47: 3, K48: 3, 70: 5).3 Damit werden die Bemühungen, das Gerät für einen solchen Einsatz auszurüsten, nachvollziehbar. Dieser geht nun über einen gelegentlichen oder häufigen Kontakt hinaus, was auf die öffentlichen Automaten und die heimischen Personenwaagen vor 1960 noch zutrifft. Bei der kleinen Ausführung rückt die Waage ab 1960 eng an das Individuum heran, zum Beispiel durch den möglichst einfachen Umgang mit dem Instrument und die Farbauswahl, aber auch allein schon durch die Aufstellung in Privaträumen. Durch den wiederholten Gebrauch des Geräts in intimer Umgebung kann sich eine dauerhafte Interaktion zwischen Subjekt und Haushaltsgegenstand entwickeln, da sogar überlegt wird, dieses nicht nur in der Wohnung hin- und herzutragen, sondern es auch mit auf die Reise zu nehmen (K62). Ein weiterer Befund ist insofern, dass das Wiegen des Körpers inzwischen für möglichst viele Subjekte einer Gesellschaft, die spezielle Individualmerkmale teilen, möglich gemacht wird. Während der Einsatz der Personenwaage zwischen
3
In Dokument K47 ist von einer Fellauflage die Rede, in der sich „im erheblichen Maße Staub od. dgl. ansammelt“ (K47: 3). Das Zitat wird im Sinne einer Verunreinigung verstanden, die entweder durch die häufige Benutzung oder das Bereitstehen der Waage zustande kommt.
264 | Die Personenwaage
1919 und 1959 im privaten Bereich speziell auf kranke, kurzsichtige oder übergewichtige Individuen ausgelegt wird, geht die Intention zwischen 1960 und 1969 über diese Adressat*innen hinaus. Die Erfinder beziehen sich auf Kinder, Erwachsene, Senior*innen, großgewachsene, muskulöse Individuen und Persönlichkeiten, die aus beruflichen Gründen fit und attraktiv sein wollen oder müssen. In Fällen von Krankheit und wenn die Überwachung des Körpergewichts sich aus gesundheitlichen Gründen anzeigt, wird das Wiegen nicht nur als praktisch, sondern auch als notwendig erachtet. Die typische, regelhafte Nutzung der Waage ohne Schuhwerk (K47: 3; K48: 3; K56: 3) lässt anklingen, dass wissenschaftliches Wissen in den Spezialdiskurs der Personenwaage und in die private Praktik des Wiegens diffundiert. Diese Instruktion ist aus der institutionellen Verwendung der Waage aus der Zeit zwischen 1919 und 1959 bekannt (Kap. 5.1.1). Aber auch die Kontextualisierung des Instruments mit Krankheit demonstriert, dass der Spezialdiskurs der Erfindungen und der medizinische, wissenschaftliche Spezialdiskurs miteinander in Verbindung stehen. Aus modernisierungstheoretischer Sicht zeigt sich in der Definition der Waage ein interaktives, diskursives Gefüge eines Wissensregimes, durch das sich Individualisierungs-, Normalisierungs- und Medikalisierungsprozesse vollziehen. Das Phänomen Personenwaage selbst scheint sich mit der Bedeutung, die dem Instrument zugeschrieben wird, auf den Alltag von Individuen auszuweiten. Die Grundfunktionen der Waage, genau zu messen und die Messergebnisse deutlich darzustellen, werden in den 1960er Jahren allerdings nicht mehr in derselben Intensität diskutiert und Verbesserungen dieser Art seltener vorgeschlagen. Daraus folgt, dass diese beiden zentralen Bestandteile einer Waage technisch hinreichend umgesetzt werden. Mit diesen wenn auch moderaten Unterschieden im zeitlichen Verlauf wird sichtbar, dass die Entwicklungsgeschichte der Personenwaage Veränderungen unterworfen ist und diese sich in historischen Zyklen vollzieht. Mit der Verschiebung auf das Subjekt in den 1960er Jahren wird die Produktpalette weiter individualisiert. Durch die oftmalige Nutzung stellen sich mit der Zeit bestimmte Anforderungen an die Personenwaage, welche die an der Patent- und Gebrauchsmusterentwicklung beteiligten Personen und Unternehmen dazu bringen, die Erfindungen dementsprechend zu verändern und weiterzuentwickeln. Die Erfinder und Firmen richten sich in diesem Jahrzehnt stärker nach den Bedürfnissen der Verbraucher*innen und arbeiten kunden- und marktorientiert. Beim Kauf der Personenwaage bedeutet dies, aus einem Sortiment auszuwählen. Das Basisprodukt Personenwaage kann durch optionale Bestandteile oder Ergänzungen diversifiziert werden, das heißt der Kunde kann selbst aussuchen, welcher Belag die eigene Personenwaage hat und welche
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zusätzlichen Effekte das Instrument aufweisen soll.4 Durch die Rationalisierung und Arbeitsteilung bei der Herstellung ist das Produkt nicht mehr teuer. So können sich immer mehr Haushalte eine Personenwaage leisten, weshalb das Gerät zum Alltagsgegenstand und üblichen Bestandteil in einer Wohnung oder einem Haus werden kann. Die rationelle Bauweise der Waage (K42: 2; K43: 2) steht für ein wesentliches Merkmal des Industrialisierungsprozesses, der Mitte des 19. Jahrhunderts eingesetzt hat. Eine Erfindung macht es zum Beispiel möglich, dass die günstigen Instrumente über dieselbe Genauigkeit bei der Messung und Ablesung verfügen wie wesentlich teurere Exemplare (z. B. K55: 3). Im Vergleich zu früheren oder anderen Ausführungen liefert eine solche Personenwaage für den Heimgebrauch mehr Komfort für den gleichen Preis, wodurch auch höhere Verkaufszahlen erreicht werden können. 1970 bis 1979 Die Genealogie der Personenwaage für den Heimgebrauch in dieser Zeit wiederum eine ähnliche Entwicklung, wenn auch einige neue Schwerpunkte gesetzt werden. Die Personenwaage wird nicht mehr ausführlich mit ihren Einzelmerkmalen erklärt, sondern es erfolgen kompakte Beschreibungen mit Hilfe von Aufzählungen: „Aufgabe der Erfindung ist es, eine Personenwaage mit geringer Unfallgefahr bei der Benutzung zu schaffen, […] und die bei billiger und einfacher Herstellung und Montage auch nach langer Gebrauchsdauer nicht im Aussehen leidet.“ (K79: 4) Analog dazu wird der Planungsprozess in den 1970er Jahren komplexer, da mehrere Indikationen erfüllt sein sollen: „Auf diese Weise erhält man einen genügend großen Raum für die zur Anzeige notwendigen Elemente und erreicht trotzdem eine kompakte und optisch sehr ansprechende Bauform. Dabei läßt sich die Form fertigungstechnisch besonders günstig verwirklichen.“ (K108: 4) Daran zeigt sich, dass die Ansprüche, die an die Personenwaage gestellt werden, gestiegen sind. Trotz günstiger Herstellung soll das Instrument praktisch, strapazierfähig, sicher, genau, komfortabel, optisch ansprechend sowie leicht sein. Daraus geht hervor, dass die Eigenschaften der Personenwaage für den Heimgebrauch einer historisch konstanten, immer stärker ausdifferenzierten Ordnung folgen, die sich als Technisierung, Individualisierung, Normalisierung und Ästhetisierung im Alltag ausweitet. Präzise Messungen werden gegenüber den 1960er Jahren wieder häufiger thematisiert, weil die Gegenüberstellung verschiedener Messergebnisse neuerdings in den
4
Vgl. hierzu die auf der Vorderseite des Buchdeckels abgebildete luxuriöse Waage, die einen Belag aus Schlangenleder hat und deren Anzeige vergoldet ist. Die Wölbung an der Anzeige fungiert als Traggriff.
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Wiegevorgang integriert wird. Vor 1970 wird die Möglichkeit, mit dem Instrument eine vergleichende Messung und Kontrolle durchführen zu können, nur in Ausnahmefällen aufgegriffen. Ab 1970 ist es neu, das Köpergewicht mit individuellen Markierungsknöpfen, Merkskalen und einem Ausdruck kontrollieren zu können. Letzteres erinnert an die Kontrollkarten der öffentlichen Personenwaage, die jetzt allerdings nicht mehr als spielerischer Umgang mit dem Wiegen und den Ergebnissen aufgefasst werden: „Einmal kennt eine Person ihr Durchschnittsgewicht und ist im allgemeinen zufrieden, wenn dieses gehalten wird. Dabei ergibt sich ein automatischer Selbstbetrug im Hinblick auf die eventuelle Notwendigkeit, das Istgewicht zu ändern. Zum anderen ist aber eine normale Person im allgemeinen nicht in der Lage, aus der Kontrolle des Istgewichtes Folgerungen abzuleiten, die an sich gewünscht werden, die aber in ihrer Bedeutung aus der Kontrolle des Istgewichtes allein nicht ohne weiteres ersichtlich sind. Insofern genügen die bekannten Personenwaagen nicht den Anforderungen.“ (K109: 9)
Die konstante Kontrolle dient der „Gesundheitspflege“ und macht eine „Gewichtszunahme oder eine Gewichtsabnahme“ sichtbar (K109: 11–12), die sich an bestimmten Idealgewichten orientiert (K78: 4; K109: 11–12; K110: 4). Außerdem soll eine „laufende“ Kontrolle des Gewichts stattfinden (K109: 8). Mit der Personenwaage kann ein Individuum also „gesicherte gesundheitliche Erkenntnisse“ gewinnen (K109: 8). Dieses kann sich überzeugen, ob es Über- oder Untergewicht hat und ob es gesund ist (K110: 4). Die Innovationen signalisieren ein komplexes, diskursives Gefüge aus Individualisierung, Normalisierung und Medikalisierung. Durch diese Entwicklung wird eine noch engere Anbindung von Subjekten an das Artefakt gefördert, da zum Beispiel das Erreichen eines bestimmten Wiegeergebnisses (wie zum Beispiel das Idealgewicht) zu einem individuell bedeutsamen Ereignis in einem intimen Raum werden kann. Der Konnex zwischen einem bestimmten Wiegeergebnis und der Gesundheit eines Menschen ist bei der Personenwaage für den Heimgebrauch noch nicht geäußert worden. Auch die Spezialausführungen stehen für diese neue Art, das Körpergewicht zu überwachen. Vor allem im Fall der WC-Waagen (K73; K74; K93; K94) und der Stuhlwaage (K76) wird es bei der Benutzung der Toilette – beziehungsweise des Sitzmöbels – fast unmöglich gemacht, nicht an das Wiegen zu denken. Die Verschiebung hin zu einem Messinstrument mit einem gesundheitlichen Zweck und dem Impetus der Kontrolle verankert sich damit bei den besonderen und herkömmlichen Heimwaagen. Die medizinischen oder wissenschaftlichen
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Waagen, die in Institutionen wie Krankenhäusern zum Einsatz kommen, sind per se für diesen Zweck vorgesehen (K100; K103). Die Wiegepraxis der Heimwaage wird nach wie vor ritualisiert, das heißt in den Dokumenten wird weiterhin verdeutlicht, dass das Wiegen barfuß und vorwiegend im Bad vorgenommen wird (K35: 3; K47: 3; K56: 3; K79: 4). Wird auf diese Weise der direkte Kontakt zwischen dem Instrument und dem Individuum hergestellt, fungiert der Belag beim Wiegen als Mittler zwischen Individuum und technischem Gerät. Diesem Bestandteil der Waage kommt immer noch eine bedeutsame Rolle zu, so dass sich in der Berücksichtigung von subjektiven Emotionen und individuellen Wünschen das Ziel ausdrückt, die Personenwaage für den Heimgebrauch im positiven Fall zu einem vertrauten technischen Gerät zu machen. Das Design des Instruments wird in diesem Sinne nachgebessert, aber nicht mehr grundsätzlich verändert. Für die Kund*innen bleibt das Produkt demzufolge, was seine Gestaltung betrifft, wie gewohnt. In der Herstellung bedeutet eine vereinheitlichte Bauweise eine einfache Planung und spart den Unternehmen Zeit und Geld. Auch die Entwicklungskosten lassen sich niedriger halten, wenn sich der grundsätzliche Aufbau nicht wesentlich ändert. Im Produktionsprozess ist diese Standardisierung und Normalisierung im Sinne einer Vereinheitlichung vorteilhaft, weil die Werkstoffe und Werkzeuge prinzipiell die gleichen bleiben. Bis allerdings ein neues, technisches Detail langfristig eingeführt wird, vergeht Zeit. So wird die digitale Anzeige im Jahr 1966 eingeführt (K55), aber erst sieben Jahre später (K81) wird das Element öfter eingesetzt und zur Standardausstattung der Waage. Es stellt sich also heraus, dass die Genealogie der Personenwaage in der Zeit zwischen 1960 und 1970 eine ähnliche Entwicklung durchläuft. Der situative Kontext ist keinen Veränderungen unterworfen, konkretisiert sich aber im Sinne einer alltäglichen, gesundheitlichen Körperpraktik. Das technische Instrument an sich bleibt im Hintergrund, denn die Waage soll sich unauffällig, aber auch als attraktives Instrument in die Wohnung einfügen. 1980 bis 1989 Die bestehenden Merkmale verfestigen sich weiter 5 und es kommt in der Genealogie der Personenwaage für den Heimgebrauch nur noch zu geringfügigen Akzentuierungen. Die Einpassung des Instruments in das Alltagsleben drückt sich
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Vgl. die Erfindungen aus den Jahren 1959 (K35) und 1985 (K119), die sich im grundsätzlichen Aufbau gleichen. Die äußerst flache Personenwaage K114 aus dem Jahr 1981 verfügt über keinen gesonderten Belag. Vgl. auch die entsprechenden Abbildungen in Kapitel 5.2.
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in diesem Jahrzehnt über die flexibel positionierbare Anzeige des Apparates aus. Diese kann vom Gehäuse abgenommen und in Sichtnähe gehalten, abgestellt oder an der Wand montiert werden (K55; K68; K81; K82; K83; K108; K113). Die einwandfreie Ablesbarkeit und Kontrolle des Körpergewichts gilt in der Genealogie der Personenwaage als belegt. Im Rahmen der technischen Möglichkeiten wird in den 1950er Jahren zunächst die einfache Ablesbarkeit erreicht, indem die Skala mit Hilfe einer Lupe vergrößert wird. Ab 1960 verbessert das digitale Display diesen Vorgang. Die Patentschrift K113 aus dem Jahr 1981 verfügt über einen Speicher, in den Individualdaten von Hand eingepflegt werden können. Dieses Element kann im Verlauf der 1970er Jahre detailliertere Werte abspeichern. Der Trend und die Möglichkeit, frühere Messwerte abzuspeichern, hält sich nicht nur bei der Personenwaage für den Heimgebrauch. Die öffentliche Waage aus dem Jahr 1985 (K118), die den anderen Automaten im Vergleich sehr spät nachfolgt, fragt nach der Körpergröße, dem Geschlecht und Geburtsdatum und druckt das Ergebnis aus. Jedoch gibt es im Verlauf der 1980er Jahre keinen Hinweis auf eine institutionelle oder medizinisch indizierte Wiegepraxis, was zuvor durchaus der Fall ist. Es geht in diesem Jahrzehnt demnach um eine exakte Messung, die auf einzelne Personen ausgerichtet beziehungsweise individuell motiviert ist und keine Beteiligung Dritter mehr vorsieht. Der situative Kontext bleibt stets derselbe, denn mittlerweile ist die Rede von der „traditionellen Badezimmerwaage“ (K115: 3; K116: 3). Die Erfinder waren dazu übergegangen, die Variante für den Heimgebrauch unter kürzeren Titeln als Patent oder Gebrauchsmuster anzumelden und immer öfter ausschließlich auf die Bezeichnung „Personenwaage“ zu beschränken. Tatsächlich wurde das Badezimmer schon ab 1954 (K23) in den Erfindungen vorausschauend eingeplant. Allerdings war ein Badezimmer in dieser Zeit noch relativ ungewöhnlich. Bei der Einführung des Geräts (1919–1959) lag dieser Anteil der Erfindungen mit Kurztitel jedoch nur bei rund einem Drittel aller Neuanmeldungen (K2; K26; K32; K35). Diese Anzahl stieg in Zeiten des Booms der Waage (1960–1969) auf knapp die Hälfte und in der Hochphase (1970–1979) auf mehr als zwei Drittel an.6 Erst die flächendeckende Einführung des Badezimmers machen es ab den 1980er Jahren möglich, sich alleine und zurückgezogen mit der Körperhygiene, dem Körper an sich und dem Messen des Körpergewichts zu beschäftigen. Die
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In den 1960er Jahren führen 14 von 32 Patentdokumente den Kurztitel (K37, K49, K51 bis einschließlich K53, K56 bis einschließlich K60, K62 bis einschließlich K64 sowie K67), in den 1970er Jahren handelt es sich um 21 von 36 Patentdokumenten (K69 bis einschließlich K72, K77 bis einschließlich K79, K81 bis einschließlich K83, K91, K92, K95, K96, K104 bis einschließlich K106, K108, K110 bis einschließlich K112).
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Etablierung (1980–1989) des Artefakts im Spezialdiskurs zeigt sich nicht zuletzt darin, dass mehr als die Hälfte aller neuen Patente und Gebrauchsmuster nur noch diese Kurzbezeichnung tragen,7 womit die Genese der Personenwaage für den Heimgebrauch abgeschlossen scheint. Die Entwicklung seit 1990 Bei der Hälfte der untersuchten Patentdokumente wird nach dem bisherigen Muster fortgefahren und die Neuerungen tragen ausschließlich den Titel „Personenwaage“ (A16; A60; A61). Die anderen Titel enthalten neuerdings Zusätze, die auf komplexe technische Ergänzungen schließen lassen (A15; A28; A29), so zum Beispiel A28 mit der „Personenwaage mit elektronischer AnalyseEinrichtung zur Körperfett- und Wasseranteilmessung“ (A28: 1). Bei den früheren Varianten für die private Anwendung sind solche Angaben selten und betreffen eher die öffentliche Waage (z. B. K24; K33) oder Modelle in Institutionen (z. B. K28). Das Patentmanagement spricht für eine anhaltende ökonomische Bedeutsamkeit der Personenwaage als Patent und Gebrauchsmuster. So stellen von den 86 Erfindungen einer Heimgebrauch-Waage zwischen 1919 bis 1989 lediglich die Gebrauchsmuster K71, K77 und K80 sowie das Patent K2 Einzelanmeldungen8 dar, bei denen keine Anwälte eingesetzt werden. Der bisherige Standard des patentanwaltlich organisierten Anmeldevorgangs ist zwischen 1990 und heute leicht aufgebrochen, denn drei Innovationen werden nicht mehr von diesen Experten betreut (A28; A29; A60). Allerdings legen die bisherigen Entwicklungen des professionellen Patentmanagements eine Zusammenarbeit von den beteiligten Unternehmen mit einem Anwalt nahe. Dieser ist dann bei den Firmen direkt angestellt. Dabei beteiligen sich einzelne Akteure über den gesamten Zeitraum konstant am Wettbewerb um exklusives Wissen über die Personenwaage. Die Firma Robert Krups Stiftung & Co KG aus Solingen nimmt
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In den 1980er Jahren betrifft dies vier von sieben Neuerfindungen (K113 bis
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Unter den acht Anmeldungen, die bis jetzt in den untersuchten vier Samples von
einschließlich K116). Einzelpersonen eingereicht wurden, befinden sich sechs Gebrauchsmuster (K23; K34; K62; K71; K77; K80; K115; K116) und zwei Patente (K2; K107). Demzufolge ließen sich die Erfinder auch bei Gebrauchsmustern regelmäßig von Patentanwälten unterstützen. Gebrauchsmuster werden zwar auch von Firmen genutzt, es bewährt sich aber die in Kapitel 3.1.3 aufgestellte Vermutung, dass bei Anmeldungen, die auf einzelne Personen zurückgehen, das Gebrauchsmuster der gängigere Weg ist.
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als einzige seit dem Jahr 1955 fast vierzig Jahre an diesem Spezialdiskurs teil.9 Die Murrhardter Waagenfabrik Gebrüder Soehnle präsentiert unter ähnlichen Firmennamen regelmäßig zwischen 1960 und 1994 neue Erfindungen.10 Darüber hinaus bringt das Unternehmen Vogel & Halke aus Hamburg ihre Innovationen von 1956 bis 1979 ein und steht damit an dritter Stelle.11 Diese Akteure können mit Hilfe zahlreiche Anmeldungen ein Monopol aufbauen und machen sich dadurch stark konkurrenzfähig (Mersch 2013: 321–322). Wäre die Personenwaage kein Produkt, das hervorragend vermarktet worden wäre, hätte das ökonomische Interesse der Unternehmen nicht lange angehalten und entsprechende Überlegungen wären in den Patentdokumenten nicht weiter aufgekommen. Das gesellschaftliche Verhältnis des Artefakts wird deutlich artikuliert. Individuelles Verhalten wird nicht nur in eine Beziehung zum Körper, sondern auch zur Umwelt gestellt, indem Subjekte mit ihrer Kaufentscheidung beispielsweise dazu beitragen können, Umweltprobleme zu verringern. Die Beschäftigung der Erfinder mit diesem Sachverhalt greift, ähnlich wie der Bezug auf ein gestiegenes Körperbewusstsein (A28; A60), die zu diesem Zeitpunkt aktuellen wie zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklungen und Dynamiken auf. Dabei ist die Rede von ökologischen Problemen, die durch den vielfachen Einsatz von Batterien verursacht werden (A29: 2). So ist auch die Verwendung von sparsamen LEDs (A60: 2) bei einer Patentanmeldung von 2010 zu verstehen. Deren Gestaltung war in öffentlich geführte (politische) Diskurse eingebettet. In diesen Debatten geht es bis heute um wachsende Umweltgefahren, drohende und in der Vergangenheit stattgefundene Unfälle und Katastrophen, die seit dem letzten Jahrhundert aus dem technischen wie technologischen Fortschritt resultieren (Beck 1986). Diese beispielhaften „Risikodiskurse“ (Lau 1989) führen seit den 1980er Jahren immer stärker zu einem politischen und gesellschaftlichen Umdenken in Richtung Nachhaltigkeit, umweltschonendem Verhalten und einem
9
K25, K29, K38, K39, K45, K47, K50, K54, K60, K81, K82, K85, K88, K89, K97 bis einschließlich K99, K113, K117, K119 sowie A15.
10 K36, K49, K53, K56, K59, K63, K69, K70, K78, K79, K90, K104, K106, K108 sowie A16. 11 K31, K57, K58, K91, K92, K109 sowie K112. Vgl. auch Gierlinger (1989: 106) sowie Kemp/Gierlinger (1989: 356). Diese Firma, die ihre Produkte unter dem Namen seca führt, gehört zu einem der bekanntesten deutschen Hersteller von Waagen. In den 1970er Jahren spezialisierte sich seca auf medizinische Waagen, bei denen diese als globaler Marktführer agiert (seca deutschland 2018). Aus diesem Grund ist das Unternehmen ab den 1980er Jahre nicht mehr am Diskurs um private Waagen beteiligt.
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wachsenden ökologischen Bewusstsein in der Gesellschaft (Beck 1986). Als Bestandteil politischer Kampagnen, gesetzlicher Regelungen und entsprechender Ausrichtung der Pädagogik in Kindergärten und Schulen erfolgte eine Sozialisierung des Individuums, die dieses im Sinne des ökologischen Zeitgeistes diszipliniert und Einstellungen wie Verhalten normalisiert. Als Beispiele fungieren die Mülltrennung, der grüne Punkt und der öffentliche Diskurs darüber (Keller 2009), genauso wie die EU-weite Abschaffung der Glühbirnen im Jahr 2009 (Wahnbaeck 2016) und die Umweltbildung sowie -erziehung von Kindern im Rahmen der Agenda 21 von 199212 (Reidelhuber 2000). Gefolgert werden kann, dass eine Individualisierung und Normalisierung im Kontext der Personenwaage im 21. Jahrhundert auf eine besondere Verbindung zwischen Technik, Gesundheit, Körper und Gesellschaft abzielt. Dabei wird eine individuelle Beziehung zum Instrument offeriert, aber auch eine individuelle Reflexion von Einzelhandlungen herausgefordert, da gewisse Entscheidungen und Praktiken in gesellschaftlicher Hinsicht von hoher Bedeutung sein können. Dazu gehört erstens auch die ästhetische Relevanz von Massenprodukten, womit eine „ästhetische Erfahrung“ (Bubner 1989) prinzipiell möglich wird und nach Reckwitz (2012a) zu einem Bestandteil des Alltags geworden ist. Ein „optisch äußerst ansprechendes Erscheinungsbild“ (A60: 2) trifft sowohl auf die Waage als auch auf die Schuhsohle zu (A75), die sich für die Umgebung unsichtbar mit Apple-Geräten verbindet (Waldthausen 2018a). Diese Erfindung geht über den Einsatz in Wohnung und Haus hinaus und fungiert damit nicht mehr als klassische Personenwaage für den Heimgebrauch, die im Badezimmer steht. Zweitens wird ein medizinischer Kontext wirksam. Die Beurteilung des Körpergewichts, des Wasser-, Fett- und Muskelanteils funktioniert nach den Logiken von Medikalisierung, weil diese Zahlen und Werte den Eindruck wissenschaftlicher oder medizinischer Evidenz vermitteln. Das Monitoring der Personenwaage 2.0, der Sohle, schließt zwar keine Vergleiche mit Normal- und Idealwerten ein, aber die Erstellung von Tagesdiagrammen, Graphen, Plänen und Statistiken (A75: 8). Eine solche wissenschaftliche Aufbereitung ist nicht nur an die Darstellung von Zahlen geknüpft, sondern an die Interpretation der Daten. Im Zeitalter der Digitalisierung gehört es zum Standard, die Stimmung einer Person mit einzubeziehen, denn das Wearable sah auch die Messung des Pulses vor, wodurch ebenfalls Rückschlüsse auf die Befindlichkeit möglich sind (A75: 12– 13). Die Komponente ist heute in einen Kommunikations-Kreislauf eingebettet, der aus der Erhebung, Verarbeitung und Speicherung der Daten besteht. Dieser
12 Die Agenda 21 ist ein globales Förderformat der Vereinten Nationen für eine künftige nachhaltige Entwicklung.
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erfolgt zwischen Mensch und Technik, mehreren mobilen Technologien (z. B. Apple Inc. o. J.; OptimizeMe GmbH 2016) und zwischen mehreren Subjekten, die zum Beispiel als virtuelle Community über soziale Netzwerke wie Facebook miteinander verbunden sind.13 Daraus ergibt sich nicht nur ein technisches Artefakt, sondern ein komplettes technisches System, das Informationen verarbeitet (Hennen 1992: 59). Darin entfalten sich Praktiken, die nicht mehr nur individuell und privat stattfinden, sondern durch Technologien nach außen getragen und Bestandteil einer gesellschaftlichen Beziehung werden. Ist die komplikationsfreie Nutzung einer App erwünscht, ist das Individuum dazu gezwungen, in die Speicherung und Nutzung seiner Daten einzuwilligen, wodurch sich über Big Data unwillentlich eine Körper-Umwelt-Beziehung einstellt. Die gesetzliche Verpflichtung der neuen Datenschutzverordnung, User*innen darüber zu informieren, macht diese Vorgänge erkennbar. Die Herausforderung besteht für das Subjekt aktuell darin, eine Haltung zu den Macht/Wissen-Komplexen in modernen Gesellschaften einzunehmen. Das bedeutet in Anlehnung an Beck (1986), in manchen Fällen entscheiden zu können, in manchen nicht.
EIN FOLGENREICHES SPIEL UM WAHRHEIT Es kann von einer Regelhaftigkeit des Spezialdiskurses gesprochen werden, da drei Ausführungen der Personenwaage mit einem Spezialtypus in der Genealogie des Instruments wiederkehren. Bereits beantwortet werden konnten die Fragestellungen, die sich auf die Zweckbestimmung der Personenwaage, ihre Vorteile und Nutzen richteten. Innerhalb der einzelnen Varianten wiederholen sich diese Aspekte sowie die Situationen, Problematiken und Handlungsangebote, die mit dem Gerät zusammenhingen. Dabei stehen bestimmte Eigenschaften der Waage im Mittelpunkt, sei es eine interessante und vergleichbare Messung bei den öffentlichen Personenwaagen, eine sehr präzise, einfache und dennoch komfortable Messung, die in Krankenhäusern und bei Patienten notwendig ist, die
13 Eine sichere Speicherung der Daten wird von den Erfindern angesprochen und mit in die Beschreibung der Erfindung aufgenommen (A75: 11–12). Dennoch liegt es nahe, Bedenken über die angedachte, ungefilterte Weitergabe der Daten an Dritte und einen möglichen Missbrauch der Daten zu äußern. Vor einem tatsächlichen breitenwirksamen Einsatz muss also eine ethische Diskussion gefordert werden, da auch die Rede ist von eindeutigen personenbezogenen Daten wie den Vor- und Zunamen, die Adresse und den Geburtstag (A75: 12).
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in der Motorik eingeschränkt sein können, oder ein besonderes Produktdesign für spezielle Zielgruppen. Die tragende Rolle spielte jedoch die Personenwaage für den Heimgebrauch, die ab 1954 beginnt, nach und nach den Spezialdiskurs zu bestimmen. Deshalb kann eine Ordnung im Spezialdiskurs abgeleitet werden, die in struktureller Hinsicht einer eigenen Logik folgt, aber auch mit der sozialen Wirklichkeit im Außen interagiert. Hier ist zum einen die Klassifikation der Personenwaage gemeint, die in diesem Diskurs verschiedene, (meist) klar differenzierte Varianten hervorbringt. Zum anderen folgt die Genealogie des Instruments einem historischen Prozess, der untrennbar mit gesellschaftlichen Gegebenheiten verknüpft ist. In wissensanalytischen Ansätzen, die auf den sozialkonstruktivistischen Annahmen von Berger/Luckmann (2009) basieren, wird davon ausgegangen, dass Individuen und Institutionen ein gemeinsames Wissensrepertoire teilen, das durch den zeitlichen Kontext bedingt ist (Keller 2011b: 40–48, 2013: 27–28; Landwehr: 22–23, 106). Das Wissen über die Personenwaage basiert demnach auf gesellschaftlichem Wissen – kollektiven Wissensvorräten – das in den Erfindungen sichtbar wird. Diese beiden Aspekte verdeutlichen, dass das Artefakt als Konstruktion zu verstehen ist, die sich im erfinderischen Sprechen als Objekt konstituiert und dadurch in gesellschaftlicher Hinsicht erst begreif- und (er-)fassbar gemacht wird. Über die institutionelle und damit machtvolle Rolle der Patentdokumente wird aus einer beliebigen technischen Erfindung ein Instrument mit typischen Funktionen innerhalb einer Gesellschaft etabliert. Die Eigenschaften des Artefakts verdichten sich zu charakteristischen, diskursiven Mustern, so dass die entschlüsselten Macht/ Wissen-Komplexe nach Foucault (1974, 1976, 1977) eine Genealogie der Personenwaage erzeugen. Einige Erfindungen sprechen anders über die Einbettung des Instruments in Alltagspraktiken. Es geht hier um das Wiegen mit dem Instrument, das nachdrücklich als konsequente Handlungsanweisung in den Diskurs eingeführt wird. Diese besonders dichten Beschreibungen von Macht/Wissen beziehen sich auf die Wirkung, aber auch den sinnhaften Gebrauch des Instruments und werden in diesem Kapitel in einem zusätzlichen Sample erfasst. Dabei soll gezeigt werden, dass diese Aussagen der Erfinder mit den gesellschaftlichen Transformationen, denen die westlichen Industriegesellschaften seit Mitte des 19. und insbesondere des 20. Jahrhunderts unterworfen waren, auf eine besondere Art und Weise zusammenhängen. In diesem kontinuierlichen Austausch zwischen Gesellschaft und Erfindung konfiguriert sich ein legitimes Wissen mit machtvollen Effekten, die von dem Instrument selbst ausgehen. Wenn beispielsweise Individualisierung – und entsprechende Chancen und
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Risiken – Bestandteile gesellschaftlicher Modernisierung sind, dann resultiert aus dieser Dynamik ein individualisiertes Artefakt, mit dem wiederum das Subjekt herausgefordert wird. Diesem Verständnis über die Personenwaage, das sich aus dem Innovationsdiskurs ergibt, wird der wissenschaftliche Spezialdiskurs gegenübergestellt, der historisch gleichzeitig stattfand. Um diese Teildiskurse mit der Rezeption der Personenwaage in der Öffentlichkeit und der Anwendung der Personenwaage vergleichen zu können, werden so genannte Vorher-NachherGeschichten in der „Brigitte“ (Kap. 7.2.1) und die App „Freeletics“ (Kap. 7.2.3) mit untersucht. Die Wechselwirkungen zwischen Spezialdiskursen, öffentlichen Diskursen wie auch konkreten Handlungen zwischen Individuen und der Personenwaage stehen für die Rekonstruktion eines Gesamtdiskurses, in den die Personenwaage und die diskursive Inszenierung des Messinstruments eingebunden ist. Wie sich dieses Wissen über die Personenwaage in Teildiskursen konstituiert, verändert und aktualisiert wird, kann als gouvernementale Selbstvermessung verstanden werden (Kap. 7.2.2). Dabei handelt es sich nach Foucault (2016b) um ein Spiel um Macht, in dem sich die Wahrheit einer bestimmten, diskursiven historischen Konstellation zeigt. 7.2.1 Das Arrangement einer individuellen Beziehung Das Subjekt steht im Zentrum bei der Erfindung der Personenwaage, weil die Personenwaage auf das Individuum zugeschnitten wird und deren Eigenschaften auf eine Interaktion zwischen Artefakt und Subjekt abzielen. Mit der Bestimmung der Personenwaage als Instrument, das zum Beispiel für die Überwachung des Gesundheitszustands essenziell war, wirken bestimmte Effekte auf das Individuum. Damit muss die Personenwaage nicht nur als definierte Form einer Interaktion zwischen technischem Gerät und Individuum, sondern auch als Artefakt betrachtet werden, das eine bestimmte Schnittmenge gesellschaftlicher Prozesse repräsentiert. Das neue Sample stützt sich zunächst auf alle Varianten der Personenwaage. Erfindungen, welche sich auf die anderen Ausführungen beziehen, werden miteinbezogen, da davon ausgegangen wird, dass alle Varianten im Gesamtdiskurs der Personenwaage miteinander verbunden sind. Es werden solche Innovationen gezielt ausgewählt, bei denen erstens ein Macht/Wissen-Komplex in rhetorisch auffälliger Weise zur Geltung kommt, zweitens bestimmte Taktiken und Strategien ersichtlich werden, die das Verhältnis zwischen technischem Instrument, Körper und Individuum mit einer wahren Bedeutung versehen und drittens die Rolle der Personenwaage im Alltag definieren. Dahinter steht die Absicht, der Frage nach der Überwachung des Körpergewichts durch die
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Personenwaage in ausgewählten Patentdokumenten nachzugehen. Dabei gilt der Beziehung zwischen technischem Instrument und Individuum sowie der Art und Weise, wie diese in den Erfindungen kommuniziert wird, besondere Aufmerksamkeit. Der Fokus liegt deshalb auf den Fällen, welche die Personenwaage für den Heimgebrauch umfassen und Aussagen, die als Ausdruck von Individualisierung Normalisierung und Medikalisierung zu verstehen sind. Für diese Wahrheitsspiele (Foucault 2016b: 1159–1160) stehen insbesondere vierzehn Patentdokumente der Personenwaage für den Heimgebrauch 14, drei Vertreter der öffentlichen und institutionellen Waage (K11; K103; K118) sowie zwei Erfindungen, die einen Spezialtypus vorstellen (K93; K94). Eine Normalisierung und Medikalisierung des Lebens, zusammen mit den Effekten einer ambivalenten – oder risikoreichen – Individualisierung, werden als spezifische Ordnung eines Wissensregimes verstanden, die das Gefüge Personenwaage/Körper/Individuum betrifft und mit Macht besetzt, um der Diskursbotschaft Geltung zu verschaffen. Es geht also darum, wie sich im Spezialdiskurs ein System aus wahren Bedeutungen konstituiert, das in Beziehung zu anderen Teildiskursen steht und erst aus dieser Konstellation heraus seine Wirkung entfaltet. Die erste Episode Dabei können Taktiken identifiziert werden, die als Vorhut eines Wissensregimes der Personenwaage verstanden werden. Die Kontrolle des Körpergewichts kündigte sich vor dem Hintergrund eines wachsenden Wohlstands subtil an. Grundsätzlich wird intendiert, alle Individuen mit der Personenwaage anzusprechen – diesen also ein Identitätsangebot (Keller 2011b: 222–223, Herv. i. O.) zu unterbreiten (K41; K68): „Es ist ein Ziel der Hersteller von Waagen gewesen, eine Badezimmerwaage mit Plattform in Leichtbauweise zu schaffen, die einen weiten Bereich der Wiegegenauigkeit für Personen, von Kindern bis zu Erwachsenen, aufweist.“ (K41: 3) Die „ständige“ Kontrolle des Körpergewichts fällt um die Mitte des 20. Jahrhunderts mit den körperlichen Eigenschaften einer starken Korpulenz und Krankheit zusammen (K32: 5).15 Angedeutet wird eine individuelle Reflexion über das eigene Körpergewicht. Die Angabe einer Gewichtsklasse, in die man sich vor dem Wiegen einordnen muss, bedeutet
14 K31, K32, K41, K62, K64, K68, K71, K72, K83, K88, K89, K92, K109 und K110. 15 Vgl. hierzu auch die frühe Patentanmeldung einer „Fußbankwaage“ aus dem Jahr 1899 (Kap. 4.3): „Namentlich soll sie als Personenwaage benutzt werden, und zwar von solchen Personen, die infolge ihres Gesundheitszustandes gezwungen sind, sich täglich zu wiegen.“ (A14: 1)
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erstens, dass ein Wissen über das Körpergewicht vorausgesetzt wird, um sich überhaupt korrekt wiegen zu können (K68). Zweitens war vorgesehen, dass Normalgewichtstabellen und das durchschnittliche Körpergewicht als üblicher Bestandteil von öffentlichen Personenwaagen Mitte der 1950er Jahre auch in den Heimgebrauch zu integrieren: „Es ist üblich, die an öffentlichen Plätzen aufgestellten, meistens gegen Münzeinwurf zu benutzenden Personenwaagen mit einer Normalgewichtstabelle auszurüsten, da der Vergleich des hieraus abgelesenen Soll-Gewichtes mit dem Gewicht der sich wiegenden Person unter normalen Verhältnissen eine wichtige und wertvolle Ergänzung des Wiegeergebnisses darstellt. Kleinere Personenfederwaagen, wie z. B. Badezimmerwaagen, wurden bisher überhaupt nicht mit einer derartigen Tabelle ausgerüstet.“ (K31: 3)
Wurde das Normalgewicht zunächst in einem militärwissenschaftlichanthropometrischen Diskurs eingeführt, wurde es Mitte des 20. Jahrhunderts sukzessive in den ernährungswissenschaftlichen Diskurs aufgenommen. Zum Thema im Alltagsdiskurs wurde das Normal- oder Idealgewicht zum Beispiel durch die Tabellen an der Waage. Diese fungieren als Materialisierung eines Wissensregimes, das von (wissenschaftlichen) Institutionen ausgeht. Als Grundlage setzte sich in den Ernährungswissenschaften die Formel von Broca durch, was Glatzel (1962: 99–101) im Jahr 1962 im „Handbuch der Allgemeinen Pathologie“ bereits für die Zeit ab 1908 aufführt. Neben Stoffen wie Eiweiß und Fett, die für eine ausreichende Ernährung notwendig sind und die in Mangel- und Kriegszeiten fehlen (Bansi 1949; Noorden 1900), ging es in den medizinischen Studien auch darum, dass eine Ernährung über das notwendige Maß hinaus möglich geworden war (Glatzel 1962; Noorden 1900): „Wenn jemand doppelt so viel ißt wie andere Menschen und dabei immer dicker wird, dann muß man ohne Zweifel von einer Überschreitung des richtigen Maßes, von Überernährung sprechen.“ (Glatzel 1962: 92) Dieses Thema schält sich, wie bereits erwähnt, um die Jahrhundertwende bei Noorden (1900) und nach dem Zweiten Weltkrieg bei Glatzel (1962) heraus. Es ging also um die Bestimmung von „gesundem und übermässigem Fettbestande“, also der Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit sowie Normalgewicht und Übergewicht oder Fettleibigkeit (Noorden 1900: 1). In diesem wissenschaftlichen Diskurs ging es um eine multimodale Diagnose, den Einbezug mehrerer Faktoren (Glatzel 1962: 99–101; Matthes 1914: 87–88; Noorden 1900: 1–4; Oeder 1909: 461):16
16 Ausführlich vgl. Martin (1924, 1925, 1928b).
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„Wir legen also bei der Frage, ob ein Individuum als fettsüchtig zu bezeichnen sei, neben der absoluten Grösse des Fettbestandes auf zahlreiche Nebenumstände Gewicht. Diese sind oft von grösserer Bedeutung als der allgemeine Eindruck der Wohlbeleibtheit, den das Individuum hervorruft, und als die Gewichtszahl, die wir an der Wage ablesen.“ (Noorden 1900: 2)
Es ging dabei auch um die Folgen von (moderatem) Übergewicht, dessen Prävention und Therapie (ebd.; Oeder 1909). Die Verknüpfung von einem bestimmten, richtigen Körpergewicht und dem Schönheitsideal eines schlanken Körpers, das sich im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert veränderte, wurde dabei ebenfalls angesprochen: „Der Orientale findet seine Frau nur dann als ‚richtig‘ und ‚schön‘, wenn sie für unser europäisches Empfinden viel zu fett ist. Unser Schönheitsideal ist schlanker als das Schönheitsideal unserer Großväter, und die stattlichen Männer der Jahrhundertwende sind für uns unschön und fett.“ (Glatzel 1962: 99, Herv. i. O.)
Kurz nach der Mitte des 20. Jahrhunderts wurden die (Durchschnitts-)Werte und Zahlen amerikanischer Lebensversicherungen im deutschen, ernährungswissenschaftlichen Diskurs als Orientierungsrahmen genutzt (Florey 1970; Glatzel 1962; Keys et al. 1972).17 Dazu zählen die Studien der „Metropolitan Life Insurance Company New York“ und des „Life Extension Institutes New York“. Daraus lässt sich ableiten, dass die Normalgewichtstabellen, die an den Waagen angebracht oder in die Waagen eingespeist wurden, die wissenschaftlichen Normalgewichte als Grundlage nutzten. Aber auch die „Brigitte“ verwies im Jahr 1954 in ihrem „Gewichts-Schema“18 auf die Normalgewichte amerikanischer Versicherungsgesellschaften (Brigitte 1954b). Wie Payer (2012: 312) erklärt, gaben die Schilder an den öffentlichen Waagen das Idealgewicht abhängig von Geschlecht und Körpergröße an, was auch in die „Wissenschaftlichen Tabellen“ der J. R. Geigy AG (1955: 255) und etwas später von Glatzel (1962: 101) übernommen wurde. Die Normalgewichtstabellen, mit denen die öffentlichen Waagen ausgestattet waren, wurden erst in den 1950ern zum Standard bei diesen Modellen (Payer 2012: 312). Hierfür ist die öffentliche Waage K11 aus dem Jahr 1928 als Vorläufer zu betrachten und steht, abweichend zur Regel, nicht für einen spielerischen Umgang mit dem Körpergewicht. Eine Beschäftigung mit dem Körpergewicht ist zwar auch von einigen Waagenautomaten nach dem Zweiten Weltkrieg bekannt,
17 Zum Überblick vgl. Eknoyan (2008). 18 S. Kapitel 3.3.2.
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bei denen das Körpergewicht richtig geschätzt werden musste, um das eingeworfene Geld erstattet zu bekommen (Kemp/Gierlinger 1989: 326). Dabei geht es primär um Unterhaltung, was aber nebenbei ein Bewusstsein für das Körpergewicht schaffte. In den 1920er Jahren bis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg existierte also neben diesem Hauptstrang des Spezialdiskurses ein weiterer Strang im Kontext von sichtbarer Körperlichkeit und Gesundheit, wenn der Aufstellort der öffentlichen Waagen im Schwimmbad oder einer Apotheke erfolgte (Gierlinger 1989: 106–107). In den 1950er Jahren bis in die 1970er Jahre war es üblich, Tabellen mit dem Normalgewicht an den Waagen anzubringen, was Payer (2012: 311–312) bei seiner Untersuchung über die öffentlichen Waagen mit gesellschaftlichen Prozessen verbindet, die mit einer Ästhetisierung des Körpers zusammenhängen. Beide Momente in der Geschichte der öffentlichen Waagen stellen eine besondere Beziehung zwischen Instrument und Individuum her, die sich auf den Körper bezieht. Im Spezialdiskurs der Wissenschaft fand zeitgleich eine Diskussion über das Zustandekommen und die Gültigkeit dieser Richtwerte statt, was in Fachartikeln und Handbüchern schriftlich dokumentiert wurde (z. B. Glatzel 1962; Noorden 1900; Oeder 1909). Dieses wahre Wissen wurde sozusagen in die Waage implantiert und ist damit ein Bestandteil des öffentlichen Diskurses geworden, denn ohne diese Verortung wären das gemessene Körpergewicht und Normalgewichtstabellen – sowie das Instrument an sich – bedeutungsleer bis bedeutungslos. Die Personenwaage, deren Messergebnisse, ergänzende Tabellen und deren Werte entfalteten in der Öffentlichkeit und zuhause Geltungskraft über das Körpergewicht. Damit veränderten sich im Vergleich zur Musterung und zur Säuglingswaage die Beziehung zum Instrument, die Bedeutung des Wiegens wie auch die Zielgruppe. Im historischen Verlauf wurden diese Elemente immer stärker in einem diskursiven Feld von Normalität, Gesundheit und Schönheit verortet. Im privaten Alltag kam damit ein Gesundheitsimperativ zum Ausdruck, der in Form eines intensivierten Wissensregimes wirkte. Dieses Spiel um die Wahrheit wird in den Reportagen in der „Brigitte“ mit einer positiven Veränderung des Selbst begründet und fordert das Individuum heraus. Die zweite Episode Die Berichterstattung der Massenmedien über das Körpergewicht verdeutlicht die Relevanz der Personenwaage. Davon zeugen der Bericht über die „Erfolgstabelle der Ecksteins“, das Gewichts-Schema und die Idealgewichtstabelle zwischen 1964 und 1969 in verschiedenen Ausgaben der Brigitte (Kap. 1 und 3.2). Regelmäßig veröffentlicht wurden so genannte Vorher-Nachher-Geschichten. Diese illustrieren biografische Wendepunkte, womit eine neue Identität hergestellt werden kann. In einer der Reportagen im Rahmen des „Diät-Clubs“ wurde im Jahr
Die Regierung der (Selbst-)Vermessung | 279
1974 eine junge Frau vorgestellt. Sie erzählte: „Schon als Kind war ich das Dickerchen“ (Brigitte 1974b: 60). Auf den folgenden Fotos wurde Angelika Schröder vorher und nachher gezeigt (Abb. 23–24). Abbildung 23: Angelika Schröder vor der „Brigitte-Diät“
Quelle: Brigitte 1974b: 60
Abbildung 24: Angelika Schröder nach der „Brigitte-Diät“
Quelle: Brigitte 1974b: 61 Die junge Frau reduzierte mit der „Brigitte-Diät“ ihr Gewicht um die Hälfte, was die folgende Abbildung (Abb. 25) belegt. Abbildung 25: Maße und Gewichte vor und nach einer Diät
Quelle: Brigitte 1974b: 60
280 | Die Personenwaage
Die Messung an klassischen Stellen, an denen am Körper für die Konfektionsgröße Maß genommen wird (Abb. 25), zeigt wie schlank die junge Frau geworden war (Brigitte 1974b: 61). Die Zeitschrift berichtete dazu: „Drei Jahre lang machte Angelika Schröder die Brigitte-Diät, seit zwei Jahren hält sie ohne große Anstrengung ihr Traumgewicht von 100 Pfund. Statt Kleidergröße 50 trägt sie jetzt 36, Hosen passen sogar in Größe 34. Seit sie die zentnerschwere Last los ist, hat sich auch vieles in ihrem Leben geändert: Sie lebt jetzt in Berlin, hat einen netten Freund und einen neuen, interessanten Beruf.“ (Brigitte 1974b: 61)
Eine ähnliche Wandlung erlebte die 42-Jährige Magda Hassauer aus Kaiserslautern (Abb. 26–29). Abbildung 26: Vorher, solo
Abbildung 27: Vorher, in Gesellschaft
„Auf über 2 Zentner hatte es Magda
„Die schönsten Tanzfeste machten Frau
Hassauer gebracht, ehe sie sich end-
Hassauer keinen Spaß: sie war zu dick, um
lich dazu aufraffte, ihre Figur und
schick zu sein.“ (Brigitte 1964b: 66)
ihre Gesundheit zu retten.“ (Brigitte 1964b: 62) Quelle: ebd.
Quelle: ebd.
Die Regierung der (Selbst-)Vermessung | 281
Magda Haussauer wurde als Geschäftsfrau in einer „Brigitte“ im Frühjahr 1964 vorgestellt (Brigitte 1964b: 62). Ihre Geschichte wurde auch auf dem Titelblatt der Ausgabe angekündigt (Brigitte 1964c). Die Bildunterschriften kommentierten Frau Hassauers Gefühlswelt, die aufgrund ihrer fülligen Körperform litt, was Auswirkungen auf ihre Lebensfreude, ihr Sozialleben und ihre Gesundheit hatte. Sie hatte auch Angst, dass ihr Mann sie weniger lieben oder verlassen könnte: „‚Du bist so schön mollig!‘ So können die Dicken ihr schlechtes Gewissen in Trägheit und Trostworten schön goldgelb panieren. Aber meine Rocknähte platzen weiter. Das Gewicht wird immer grösser. Die Selbstachtung immer kleiner. […] Ich war auch mal schlank! Das Hochzeitsbild – ah, er heiratete damals 100 Pfund, und heute, sieh an, hat er das Doppelte. […] Noch liebt er nur mich.“ (Brigitte 1964b: 63)
Appetitzügler, so genannte Schlankheitspillen – wie die bereits genannten „Schlankheitskörnchen“19 – brachten nach anfänglicher Euphorie nur mäßigen Erfolg: „Jetzt gibt´s kein Halten und kein Bremsen mehr: Nie mehr hungern, die Pille trägt ganz allein die Verantwortung, aber sie hält nicht, was sie versprochen hat: die Nähte platzen weiter. Die Waage schämt sich! Zwei Zentner habe ich geschafft.“ (Ebd.) Nach einem leichten Herzinfarkt und der Begegnung mit einer schlanken wie jugendlichen Schulfreundin beschloss Magda Hassauer, ihre Figur nicht mehr weiter zu „verschlampen“, sondern dagegen anzukämpfen (ebd.: 63– 64). Mit einem umfangreichen täglichen Programm, das in einer Ernährungsumstellung mit reduzierter Kalorienzufuhr, Gymnastik und Massagen bestand, hatte Frau Hassauer Schritt für Schritt physisch und psychisch messbare Erfolge. Diese übermittelte die Personenwaage in Form des Körpergewichts: „Ich fühle mich so leicht, so stolz und beglückt […]. Ich wage einen Sprung auf die Waage! 3 Kilo abgenommen. […] Aber ich fühle mich herrlich, habe eine blendende Laune, ich bin nicht zänkisch und nicht bösartig. […] Herrlich, kein Völlegefühl mehr! Die Waage wägt die Kilos ab! Hurra, schon wieder ein Kilo weniger als gestern!“ (Brigitte 1964b: 66)
Die beiden folgenden Abbildungen zeigen eine lachende Frau in figurbetonten Kleidern (Abb. 28–29). Im Gegensatz zu früheren Zeiten war auch ihr Begleiter gut gelaunt (Abb. 27, 29).
19 Vgl. Kapitel 3.3.2.
282 | Die Personenwaage
Abbildung 28: Nachher, solo
Abbildung 29: Nachher, in Gesellschaft
„71 Pfund hat Frau Haussauer in
„Heute macht Frau Haussauer neben ihrem
zwei Jahren abgenommen. Sie ist
Mann gute Figur – auch im schmalen Cock-
wieder jung, hübsch, gesund und
tailkleid.“ (Brigitte 1964b: 66)
fröhlich geworden: mit 42 Jahren ein neuer Mensch“ (Brigitte 1964b:
Quelle: ebd.
62). Quelle: ebd.
Frau Haussauer schloss ihren Bericht folgendermaßen ab: „Seit einem halben Jahr bleibt die Waage konstant auf 132/134 Pfund stehen, großartig. Ich habe wieder Lust zum Tanzen, ziehe mich schön an, geniere mich nicht mehr vor schlanken Damen, galanten Herren und nehme Komplimente gelassen hin. Und nicht zuletzt: mein Mann ist stolz auf mich, er zeigt sich gern mit seiner jugendlichen und schlanken Frau.“ (Brigitte 1964b: 66)
Auch bei den eingangs skizzierten Berichten aus der „Brigitte“ (Kap. 1) spielen Gewichtsveränderungen die zentrale Rolle. Dabei behauptet sich die Personenwaage als wichtiges Hilfsmittel und dokumentiert diese Transformationen. Die Bilder und das abgenommene Gewicht untermauern den Erfolg der
Die Regierung der (Selbst-)Vermessung | 283
Diät. Die Rhetorik dieser Vorher-Nachher-Geschichten war so angelegt, dass die Erleichterung der Protagonistinnen für die Leser*innen spürbar werden konnte. Beendet wurden die Berichte mit einem Zeugnis über die erlangte oder wiedergewonnene soziale Akzeptanz, die das Individuum zum vollständigen Mitglied einer Gesellschaft machten. Entwicklungsaufgaben wie ein selbstständiges, erwachsenes Leben konnten bewältigt werden, weil es Angelika Schröder mit Hilfe des Diät-Programms gelang, ein neues Ich zu erreichen. In dem Bericht über Magda Hassauer lässt sich die Waage dabei nicht nur als zentraler Dreh- und Angelpunkt bezeichnen, der Handlungen wie Emotionen kontrollierte und steuerte, sondern auch als Artefakt, das den Gewichtsverlust überwachte und dadurch als materialisiertes Wissensregime fungierte. Die Ich-Erzählerin sprach über Erfolg, Stolz, Zufriedenheit und Sieg aber auch von Disziplin, Haltung, Willen und Anspruchslosigkeit, welche die Diätkur erforderten (ebd.). Beiden Vorher-Nachher-Geschichten wurden Diätpläne beigelegt, die den Leser*innen als Vorlage und Vorschlag für eigene Diäten dienen konnten. Die dahinterliegende Botschaft erinnert an die Wandlung vom hässlichen Entlein zum schönen Schwan, einem Kunstmärchen von Hans Christian Andersen aus dem Jahr 1843, in dem das Entlein letztlich von seiner gesamten Umwelt abgelehnt wurde (Andersen et al. 2008). Sein Äußeres fiel aus der Reihe und entsprach nicht dem gängigen, normalen Aussehen einer jungen Ente. Erst eine unerwartete Hilfe von außen brachte die Wende und soziale Zugehörigkeit. Diese Erzählungen zeigen die Gebundenheit der Identität von Individuen an Wissen und soziale Interaktionen.20 Die Reaktionen und Rückmeldungen von unmittelbaren Bezugspersonen und aus dem erweiterten Lebensumfeld prägten also das Bild, das die Akteurinnen von sich selbst gegenüber anderen hatten. Aus dieser Haltung resultierten (nicht-)diskursive Praktiken, die sich an den Regeln der Gesellschaft orientierten. Eine Diät passte die Frauen demzufolge in ihre soziale Umgebung ein und die Zahlen der Waage stellten den Übergang vom alten zum neuen Ich her. Der Erfolg des Rituals, das als Programm angelegt war und den gesamten Alltag (um-)strukturierte, stand für Willensstärke, Ausdauer und Disziplin. Das Instrument half dabei, schlank, schön, gesund sowie fit zu sein und somit gesellschaftlichen Idealvorstellungen zu entsprechen. Somit geht es in einer Genealogie der Personenwaage nicht nur um die Konstitution eines Wissensregimes, das sich in dem Instrument materialisiert hat, sondern um verschiedene Teildiskurse (Erfindungen, Wissenschaft, Massenmedien), die sich
20 Vgl. hierzu auch die Arbeiten von Erving Goffman (1922–1982), der diese Zusammenhänge in seiner Theorie zu Interaktionsritualen und zum Alltagshandeln von Individuen ausführt (Goffman 1982, 1986, 1980).
284 | Die Personenwaage
gegenseitig beglaubigten und verstärkten. Alle Teildiskurse waren durchzogen von Macht/Wissen-Komplexen, die mit der Herstellung von Gesundheit und Schönheit spielten. Diese diskursive Aufforderung zum Handeln wurde an das Subjekt herangetragen. Bei den Patenten und Gebrauchsmustern stellt sich heraus, dass die Waage quasi überall zur Verfügung stehen sollte. Die Wohnung und das Badezimmer reichten ab dem Jahr 1968 nicht mehr aus, um die Einsatzorte der Personenwaage für den Heimgebrauch abzudecken. Die Personenwaage war als ständiger Begleiter vorgesehen, auf Reisen (K62; K71), auf Kur (K71; K93; K94) und beim Sporttraining (K62; K109). Den Mehrwert der Waage sahen die Erfinder nämlich darin, bisherige Gewohnheiten der Nutzer*innen zu ändern und einen gesunden Lebensstil zu unterstützen (K62; K93; K94; K109; K110) sowie zu beruflichem oder sportlichem Erfolg zu verhelfen (K62). Das Argument hinter dieser Erfindung, dass das Körpergewicht für Sportler und Schauspieler eine elementare Rolle in der Berufsbiografie spielte (K62), erhält durch den Vergleich mit den Vorher-Nachher-Geschichten aus der „Brigitte“ Plausibilität. Ein spezifisch zu definierendes, richtiges Gewicht schien im Kontext dieser Berufsgruppen für Erfolg, Leistungsfähigkeit, Gesundheit und Schönheit zu stehen. Dazu mussten Privatleben und Beruf dem Instrument untergeordnet werden, weil die beständige Kontrolle des Körpergewichts als Bestandteil einer methodischen Lebensführung zu verstehen ist. Eine solche (Selbst-)Disziplinierung des Körpers und des Lebens kommt in verschiedenen Facetten in den Patentdokumenten zum Ausdruck und erstreckte sich nicht nur auf den praktischen Nutzen in gewissen beruflichen Tätigkeitsfeldern. Die Wiegepraxis mit einer WC-Waage macht das Körpergewicht bei jedem Gang zur Toilette sichtbar, „da sich die Person dem Wiegeprozeß nicht entziehen kann“ (K93; 4: K94: 3). Der Effekt, die Erziehung zu einer gesunden Lebensweise, wird deutlich artikuliert: „Dies erzieht dazu, kritischer auf die Einhaltung eines gesundheitlich zuträglichen Körpergewichtes zu achten.“ (K93: 4; K94: 3) Dabei wird von einer Diätkur gesprochen, die auch medizinisch indiziert sein kann. Dieser spezielle Anwendungsbereich ist in eine allgemeine, permanente „Überwachung des Körpergewichtes“ (K93: 4; K94: 3) eingebettet. Dieses Argumentationsmuster wiederholt sich in Form des bekannten Wissensregimes (K11; K32; K62, K92, K109; K118). Dadurch verdichteten sich die dahinterliegenden, diskursiven Strategien als Programm, das auf die (Selbst-) Disziplinierung des Körpers zielte. Diese regelmäßige Prüfung wird durch neue Bestandteile der Waage unterstützt, die von den Erfindern neben dem tatsächlichen Gewicht vorgeschlagen werden, in das Instrument einzubringen (K72: 3–4):
Die Regierung der (Selbst-)Vermessung | 285
„Es ist jedoch häufig erwünscht, neben der Kenntnis dieses Gewichts gleichzeitig mit dessen Anzeige durch die Personenwaage auch eine Information darüber zu erhalten, in welcher Beziehung das Eigengewicht zu einem von der Personengröße abhängigen Optimalgewicht steht.“ (K72: 3)
Einige Waagen verfügen über Merkskalen, andere über Signallampen, die bei stark abweichendem Gewicht rot aufleuchten, wieder andere speichern frühere Messungen und drucken das Gewicht aus (K72: 4; K103: 4–5). Solche Bemühungen konzentrieren sich darauf, ein Soll-Gewicht, Optimal- und Idealgewicht mit einzubeziehen, um die Differenz anzeigen zu können: „Die vorstehend geschilderte Anordnung baut auf der Übung auf, zwischen dem Gewicht und der Größe einer Person die sogenannte Optimalbeziehung zu ermitteln. […] Daraus ergibt sich, daß z. B. bei einer Abweichung von ± 5 kg von dem Optimalgewicht bei einer bestimmten Personengröße die blaue Lampe 15 aufleuchtet und für die Person anzeigt, dass ihr Gewicht sich im wesentlichen im Optimalbereich befindet. Die gelben Anzeigelampen 16 werden dann zum Aufleuchten gebracht, wenn sich das tatsächliche Gewicht in einem Bereich von ± 5 kg bis ± 10 kg abweichend vom Optimalgewicht ergibt, während die roten Anzeigelampen 17 in einem Abweichungsbereich von über ± 10 kg vom Optimalgewicht aufleuchten.“ (K72: 4, Herv. i. O.)
Die rote Farbgebung unterstreicht die deutliche Abweichung von einer Regel oder Norm, die gelbe oder blaue eine leichte Abweichung (K72: 4: K103: 4). Grün bedeutet hingegen, dass sich das Körpergewicht im Sollbereich befand (K103: 4). Diese Wahl erinnert an Ampelfarben, bei denen Rot eine Signal- und Stoppwirkung im Straßenverkehr aussenden soll.21 In den 1970er Jahren wird die Abweichung nicht nur mit dem Normal- oder Idealgewicht ausgedrückt, sondern auch in Über- und Untergewicht. Diese Gewichtsklassifizierung wird von den Erfindern in die Beschreibung der Personenwaage als zusätzliches Element miteinbezogen (K72; K103; K110). Im Fall des Patents K103 wird die Abweichung am Beispiel des Übergewichts präsentiert, was darauf schließen lässt, dass dieser Gewichtsbereich im Fokus der Waage steht. In der Genealogie
21 Vgl. auch den Vorschlag zu einer Einführung von Ampelfarben auf Verpackungen von Lebensmitteln. Ungesunde Lebensmittel sollen damit mit der roten Ampel gekennzeichnet werden, gesunde mit der grünen. Hierzu exemplarisch Künast (2006), der Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz von 2001 bis 2005. Dieser Vorschlag wird seither regelmäßig diskutiert, jüngst auch auf der Konferenz der Verbraucherschutzminister im Jahr 2019 (dpa o. J).
286 | Die Personenwaage
der Personenwaage erfolgt in diesem Jahrzehnt also eine Einteilung nach Gewichtsklassen mit der Möglichkeit, den Grad der Abweichung festzustellen (K72: 3–4; K103: 3–4, K110: 4). Diese Verfeinerung der Gewichtsangabe wird mit individuellen Körperdaten noch weiter ausdifferenziert (K103: 3, K110: 4). Daran wird eine Annäherung zwischen den institutionellen und privaten Ausführungen erkennbar, denn diese Modelle werden als Personenwaagen für den Heimgebrauch oder institutionelle Waagen vorgestellt. Zwischen dem (ernährungs-)wissenschaftlichen Diskurs und den erfindungsgemäßen Details, welche die Erfinder vorschlagen, können in dieser Zeit in mehreren Punkten Überschneidungen belegt werden. Dazu zählt erstens die Therapie von Übergewicht, die Diätkur, die in einem privaten und medizinischen Kontext in den Patentdokumenten erwähnt wurde (K71; K93; K94). Zweitens beschäftigen sich beide Teildiskurse mit dem Normal-, Optimalund Idealgewicht, drittens wurde in einem wissenschaftlichen Kontext der BMI in den 1970er als Formel eingeführt und viertens bezogen beide Teildiskurse mehrere Körperdaten in solche Formeln ein22. So steht der BMI seit den 1970er offiziell für verschiedene Gewichtsklassen und nutzt neben dem Körpergewicht die -größe. Auch die Erfindungen nutzen solche Formeln. So wird am Beispiel von Japan die Formel „(Personengröße in cm – 100) x 0,9 = Optimalgewicht in kg“ aufgeführt, die in den Mikroprozessor der Waage einprogrammiert werden kann (K72: 4). Die weitere Optimierung der Überwachung des Körpergewichts erfolgte über Ausdrucke und eine Speicherung der Daten (K103; K109; K118). Die Kontrollkarten, die eine Vergleichbarkeit der Messung ermöglichen, zeigen eine Kontrolle und Überprüfung des Gewichts anhand von Zahlen auf. Diese bestanden aus dem Körpergewicht und dem Tagesdatum. Damit verdeutlichen sich sowohl die Anfänge einer Quantifizierung und medizinischen Bewertung des Körpers im privaten Alltag als auch eine Professionalisierung der Heimwaagen, wozu die Technisierung die Grundlagen schuf. 7.2.2 Von der Freiheit, sich selbst zu transformieren Das, was in den Patentdokumenten über die Personenwaage vermittelt wird, bildet einen Querschnitt der gesellschaftlichen Prozesse zu einer bestimmten Zeit. Diese Diskursivität von Macht/Wissen ab dem Jahr 1919, wie auch die Verschiebung und Diffusion von Wissen zwischen Teildiskursen konstituiert das Wissensregime der Personenwaage. Auch die Vorgeschichte führt vor Augen, wie wichtig es
22 Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 1.1.
Die Regierung der (Selbst-)Vermessung | 287
zunächst innerhalb eines politischen und wissenschaftlichen Diskurses wurde, Menschen mit Zahlen und Größen messen und vergleichen zu können. Wie die Gaußsche Normalverteilung als Vergleichsmaßstab für Ammon und Quetelet fungiert hat und verschiedene Indizes Ernährungswissenschaftler zum Idealgewicht geführt haben, so wurde in den Patentdokumenten in die Wege geleitet, was in Form von Praktiken in das heimische Badezimmer einzog, um das Körpergewicht zu überwachen. Aus dem Wissensregime der Personenwaage folgten tiefgreifende Mechanismen, die im Alltag von Individuen dominant wurden. Die Entstehung und Wirkung dieser Entwicklung erfolgt im Sinne einer Macht zum Leben, die auf eine Förderung von Leben abzielt (Foucault 1993b: 28, 30–32, 2016c: 1133–1134). Diese Machtausübung schließt das Subjekt nicht aus und lenkt den Blick auf dessen „individuelle und kollektive Gesundheit, die man modifizieren […] kann.“ (Foucault 2016c: 1136) Im Folgenden wird auf die Dimensionen von Macht eingegangen, die im Zusammenhang mit einem Wissensregime der Personenwaage stehen. Die positiven Effekte, die durch die Personenwaage im Leben erzeugt werden konnten, waren an ein Regelwerk gebunden, dem sich das Individuum freiwillig unterzog. Dadurch kommt der disziplinierende und normalisierende Effekt des Wissensregimes zum Ausdruck. Eine Selbsttechnik, die scheinbar ohne bewusste Steuerung und aus eigenem Willen geschieht, resultiert dann in einer Selbstvermessung. Diese Künste oder Praktiken, die ein Subjekt anwendet, haben eine lange Geschichte und stellen ein elementares Element dar, wonach Gesellschaften funktionieren: „Darunter sind gewußte und gewollte Praktiken zu verstehen, mit denen sich die Menschen nicht nur die Regeln ihres Verhaltens festlegen, sondern sich selber zu transformieren, sich in ihrem besonderen Sein zu modifizieren und aus ihrem Leben ein Werk zu machen suchen, dass gewisse ästhetische Werte trägt und gewissen Stilkriterien entspricht.“ (Foucault 2016b: 1163)
Foucault ging es um die Darstellung von Taktiken der Macht, die sich auf unterschiedliche Weise bemerkbar machen können (Foucault 1993b, 1994, 2006, 2009, 2016c). Dabei hatte im Mittelalter zunächst der Souverän die alleinige Machtausübung inne (Foucault 1993b: 27–31, 2016c: 1093–1097, 1130–1139). Im 17. Jahrhundert standen Einflussbereiche wie die Esserziehung und Hygiene im Vordergrund (Frommeld 2012, 2013; Kleinspehn 1987), die den individuellen Körper disziplinieren sollten (Foucault 2016d: 922–928) (Kap. 1.1 und 1.2). Im 18. Jahrhundert wurde mit der Einführung von statistischen Berechnungen wie der Gaußschen Normalverteilung die Voraussetzungen geschaffen, Macht auf
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Gruppen und Populationen ausüben zu können (Desrosières 2005; Frommeld 2012, 2013). Diese war darauf ausgerichtet, Herrschaft besser, sicherer und einfacher zu machen, indem Wissen über die Bevölkerung gesammelt wurde (Desrosières 2005: 199–202; Foucault 2016c: 1133–1135, 2016c: 1046–1047; Lemke 2007a: 51). Einige der ersten systematischen Messungen liegen, wie geschildert, zum Zweck der militärischen Musterung vor. Dabei wechselte der biopolitische Fokus vom individuellen Körper zum kollektiven Körper (Foucault 1993b: 32–36, 2016c: 1046–1053). Beide Formen einer institutionellen Biopolitik können als Vorgeschichte der Personenwaage betrachtet werden (und schließen sich nicht gegenseitig aus) (Lemke 2007a: 52–53), weil diese den diskursiven Strategien im 20. Jahrhundert den Weg bereiteten. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts setzt sich die Disziplinierung und Normalisierung von Gesellschaft, des Individuums und dessen Körpergewicht zwar fort. Im Zuge des gesellschaftlichen Individualisierungsprozesses verändern sich jedoch die Macht und deren Techniken (Lemke et al. 2000: 28–31). Dokumente, welche die Nutzung von Technik vorgeben oder die erzieherische Funktion von Ratgeberliteratur lenken die Wahrnehmung des Körpers und gewohnheitsmäßige Handlungen. Es geht hier um die moderne Konstitution einer alten Sorge um sich, die über 2000 Jahre alt ist und bis in die klassische griechische Antike zurückreicht (Foucault 2016b: 1165, Herv. i. O.). Nachweisbar wird diese Sorge in Texten, die „Regeln, Hinweise, Ratschläge für richtiges Verhalten geben wollen: ‚praktische‘ Texte, die selbst Objekt von ‚Praktik‘ sind, sofern sie geschrieben wurden, um gelesen, gelernt, durchdacht, verwendet, erprobt zu werden, und sofern sie letzten Endes das Rüstzeug des täglichen Verhaltens bilden sollten.“ (Foucault 2016b: 1165)
Eine solche Analyse von Macht richtet den Blick auf Konzepte der moralischen Lebensführung, die von ethischen, medizinischen und kulturellen Normen beeinflusst wird. Diese bewegen sich im Neoliberalismus der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland zwischen einer Regierung von außen und innen, was die Perspektive der Macht auf eine gouvernementale Perspektive verschiebt (Bröckling et al. 2000; Foucault 1994, 2006; Lemke et al. 2000; Lemke 2007b). Diese Regierungsformen bedeuten nach Foucault, „vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemandem unterworfen sein und durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein“ (Foucault 1994: 246). Das Moralsubjekt tariert die Macht proaktiv aus, indem es durch Handlungen produktiv wird (ebd.: 255; Foucault 2016b: 1165–1166). Dadurch werden verinnerlichte gesellschaftliche Normen, Regeln, Werte, Tabus und Gebote sichtbar (oder nicht). Bei diesen Selbsttechnologien geht es also um „modellhaft
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ausgearbeitete, handlungspraktisch verfügbare Anweisungen zur Subjektivierung“ (Keller 2011b: 223). So richtete sich der in mehrfacher Auflage erschienene Band von Anna Fischer-Dückelmann (1856–1917), einer Ärztin, an Frauen. Das Buch verstand sich als „ärztliches Nachschlagewerk der Gesundheitspflege“ (Fischer-Dückelmann 1911). Darin wurden gesundheitliche Verhaltensweisen erklärt, die als „Lebensregeln und Warnungen zur Erhaltung und Wiedergewinnung der körperlichen und seelischen Gesundheit“ gelten sollten (ebd.: V). So wurde darin das Kapitel „Pflege der Schönheit“ mit dem Ausspruch begonnen: „Schönheit ist Macht, – sie ist eine der herrlichsten Beigaben, die uns Mutter Natur in die Wiege gelegt, – sie gewinnt die Herzen und zieht alle Blicke an sich und leitet oft im Geheimen die Handlungen der Menschen aber – sie kann ohne Gesundheit nicht bestehen, und sie kann auch nur dann ihre höchsten Triumphe feiern, wenn Geist und Gemüt dem schönen und gesunden Körper ihre Merkmale aufgedrückt haben.“ (Fischer-Dückelmann 1911: 191).
In einer Konsumgesellschaft mit ihren vielfältigen Produkten, die durch die Technisierung möglich gemacht wurden, setzten Massenmedien und Werbungen diese machtvollen Botschaften im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts fort. Diese vermittelten in besonderer rhetorischer Form Normen und Werte, fungierten als Vermittler einer Instanz und übten dadurch Macht auf Individuen aus. Diese Variante einer Machtausübung steht im Zeichen einer Regierung und geht auf das veränderte Wissensregime der Personenwaage zurück, was sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts insbesondere in den Erfindungen der Personenwaage für den Heimgebrauch gezeigt hat. Dabei „vermittelt der Regierungsbegriff zwischen Macht und Subjektivität“ (Lemke 2007b: 13). Da in der Zweiten Moderne traditionelle Sicherheiten sukzessive abhandenkamen, boten neue Sicherheitstechnologien (Foucault 2006, 2009) wie das Ideal- und Normalgewicht Orientierung und wurden zum Maßstab (Frommeld 2012: 194–198, 2013: 11–13; Lemke 2007a: 64, 149–151). Diese verankerten normative und institutionelle Denkweisen medizinischen Wissens in der Bevölkerung (Karsch 2015: 96). In der Zweiten Moderne wird Wissen nicht mehr isoliert vom öffentlichen Raum verhandelt (Beck 1996a: 21–22, 1996b: 298–300). Massenmedien wie der „Brigitte“ und der Ratgeberliteratur kommt neben der Medizin ebenfalls eine Expertenrolle zu, da auf den Kommunikationswegen der gedruckten (und später elektronischen) Medien beständig neues Wissen selektiert und daraus resultierende Nebenfolgen austariert werden. Dabei werden in
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verständlicher Weise alltagsnahe Problemstellungen aufbereitet und Lösungsvorschläge für konkrete Situationen vorgegeben. Gesundheit und Krankheit symbolisieren wie Schönheit und Hässlichkeit ein Gefälle von Macht, auf das die Individuen potentiell selbst einwirken können. Den wiederkehrenden Alltagssituationen, Szenarien, Problematiken in der „Brigitte“ begegneten Handlungsangebote und -anweisungen, die mit einer Disziplinierung des Körpers und ästhetischen Normen zusammenhingen. Die Sorge um das Körpergewicht der Protagonistinnen wurde mit der moralischen Forderung nach Attraktivität und Gesundheit verknüpft. Die Wiegepraxis in diesen Fallbeispielen aus der „Brigitte“ erforderte zunächst jedoch eine Entscheidung des Subjekts und war stark ästhetisch motiviert. Aufgrund der traditionellen Gleichsetzung von körperlicher Schönheit mit Gesundheit ist davon auszugehen, dass in den Patentdokumenten mit dem Aufgreifen eines gesunden Lebensstils auch diese ästhetische Facette von körperlicher Gesundheit gemeint war. Eingebettet in eine aufkommende Gesundheitsgesellschaft und die ästhetische Aufwertung des technischen Instruments beziehen sich Schönheitshandlungen auf Körper und Dinge. Beides folgt dem Prinzip einer Ästhetisierung der Lebenswelt (Reckwitz 2012a). Das Wissensregime spitzt sich als eigenverantwortliches Handeln und Interagieren von Subjekten zu, was als Konsequenz aus dem Zusammentreffen verschiedener gesellschaftlicher Prozesse ab 1960 folgt. Dieses Wissensregime steht für die Hervorbringung von Macht/Wissen und wirbt für eine Selbstführung, welche auf die Modifikation des Körpers und des Selbst mit Hilfe der Personenwaage abzielt. Somit steht eine gouvernementale Selbstvermessung quasi für die neoliberalen Freiheiten des Individuums und Handlungen im Sinne einer Selbstkontrolle der Individuen, die prinzipiell auch als Chance in einer Risikogesellschaft zu betrachten sind (Beck 1986; Beck/Beck-Gernsheim 1994; Hirseland/Schneider 2008; Lemke et al. 2000; Lemke 2007b). Jedoch regieren Mechanismen wie die Angst vor Denormalisierung (Link)23 sehr deutlich im Alltag von Individuen, was sich in Form von strikten Diätkuren äußern kann. In der Personenwaage materialisieren sich demzufolge Risiken und Chancen in einer Zweiten Moderne, die mit Identität und gesellschaftlicher Zugehörigkeit zusammenhängen. Das Messen und Wiegen des Körpergewichts stellt im Zuge des Individualisierungsschubs eine ‚selbstreflexive‘ Praktik dar (Beck 1986: 216, Herv. i. O.), mit der Entscheidungsoptionen zwischen einer unmittelbar körperlich erlebbaren Selbstversicherung und einer beständigen alltäglichen Bedrohung dieses Zustands verbunden sind. Die individuelle und gesellschaftliche Wahrnehmung des Körpers funktioniert also über eine Gouvernementalität, die
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mit der Personenwaage einhergeht. Diese Bedeutung des Instruments wurde in den Patentdokumenten von 1919 bis 1989 formuliert, was sich im Zeitraum seit 1990 fortsetzt. 7.2.3 Das Artefakt und das Subjekt – ein Bund für ein erfolgreiches Leben? Untersucht man die Entwicklung ab dem Jahr 2010 bis heute, kommt es zu einem Schub, der mit der Digitalisierung zusammenhängt. Die aktuellen, neuen Technologien fungieren einerseits als Medium, andererseits als soziale Institution (Hennen 1992: 59), die gewisse Handlungsabläufe normieren (Joerges 1988a: 35). Darüber schreibt sich ein spezifisches Technikwissen in den individuellen Alltag ein. Technik strukturiert den Umgang mit dem Körper vor, wodurch sich ein – auf die Personenwaage bezogenes – Körperwissen etabliert. Ein daran anschließendes Wissensregime geht mit einer überdeutlichen Fokussierung auf das Individuum einher, das gleichzeitig in starker Abhängigkeit von gesellschaftlichen Referenzgrößen agiert. Deshalb ist von einer Diskrepanz zwischen diesen beiden Polen zu sprechen. Die selbstbestimmte Handlungsfähigkeit vom autonomen Subjekt ist genauso in Frage zu stellen wie die Technologien, die auf den ersten Blick lediglich als hochindividualisierte Tools verstanden werden könnten. Das Individuum steht vielmehr in einer starken Abhängigkeit von Zahlen und Bildern (Duttweiler 2016). Bereits bei der Biorhythmus-Waage K118 aus dem Jahr 1985 war vorgesehen, den Benutzer*innen Balkendiagramme anzuzeigen oder auszudrucken (K118: 5, 12) (Kap. 5.1.1). Dabei standen die Daten für die „Leistung, Kreativität und Stimmung“ einer Person (K118: 12). Die Versuche, emotionale Gefühlszustände zu erfassen, setzten bereits in den 1970er Jahren ein (K109: 7–9). „Die laufende Gewichtsüberwachung einer Person ist nicht nur als Grundlage zur Erkenntnis für das Befinden, sondern auch als richtungsgebend für das Verhalten wesentlich wobei das Verhalten die Beanspruchung der Person im Hinblick auf die Nahrungsaufnahme einbezieht.“ (K109: 8–9)
Die Personenwaage in Form eines so genannten Wearable, steht für eine Radikalisierung der Selbstvermessung einerseits wie auch der Beziehung zwischen Subjekt und Gesellschaft andererseits. Dabei geht es um den Vergleich
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der individuellen Leistungsfähigkeit 24 mit anderen, die persönliche „Verbesserung der Fitness“25 und dem Erkennen von Abweichungen („Auffälligkeiten“) 26, was ein typisches Muster des Self-Trackings darstellt (A75: 12). Dabei fungieren Durchschnittswerte und deren Optimierung als Orientierung und Leistungsziele im Alltag. Die historische Interpretation der Gaußschen Normalverteilung als Abbild von Wahrheit, Wirklichkeit, und gesellschaftlichen Maßstäben wie ein gesunder und ästhetischer Körper hat also aktuell wieder starke Geltungskraft. Dies geht aus Interviews mit Self-Tracker*innen hervor (ebd.: 230–231; Gugutzer 2016: 164–165; Pharabod et al. 2013: 126). Dabei rufen Apps und Sensoren zu einer Beobachtung, Reflexion und Transformation des Selbst auf (Duttweiler 2016: 229). Die dritte Episode „Freeletics“ ist ein Fitnessprogramm, das über eine App praktiziert wird und bis auf wenige Ausnahmen nur mit dem eigenen Körpergewicht funktioniert. Es richtet sich auf die Modellierung des Körpers, das Abnehmen von Körpergewicht und fokussiert aber auch auf eine Leistungsverbesserung von Körper und Geist der Athlet*innen, wie die Sportler*innen bei „Freeletics“ genannt werden (Freeletics 2017; Freeletics GmbH 2017). Als zentrales Element fungiert die kontinuierliche (kompetitive) Motivation von Seiten des Programms sowie über die virtuelle Community, die sich auch im realen Leben zu Fitness-Trainings in
24 „Ein anderer Aspekt sind Abfragen, die die eigene Leistungsfähigkeit mit der durchschnittlichen Leistungsfähigkeit im direkten Umfeld vergleichen. Solche Aspekte könnten zusätzlich zu raumspezifischen, auch geospatial genannten Analysen beitragen sowie zu der Erstellung von Health-/Fitnessmaps und der Verbesserung von deren Genauigkeit.“ (A75: 12) 25 Vgl. hierzu den folgenden Auszug aus dem Patent zur Schuhsohle: „Zusätzlich könnte die Verwendung von graphenorientierten Datenbanken auf dem Hintergrund soziologischer Aspekte neue Abfragen und Nutzungsmöglichkeiten eröffnen. So ließen sich Analysen bezogen auf Freundes-, Bekanntenkreise oder Berufsbilder durchführen, um nachvollziehen zu können, in welchem Maße die Verbesserung der Fitness Einzelner eine Auswirkung auf andere Personen in deren Kreisen hat, oder ob bestimmte Berufsgruppen eine besondere Neigung zu bestimmten Haltungsfehlern aufweisen bzw. diese begünstigen.“ (A75: 12) 26 Hierzu der folgende Ausschnitt zur Schuhsohle: „So sollen gemäß einem Aspekt der vorliegenden Erfindung Auffälligkeiten erkannt und via Push-Notification Services an Dritte (bspw. Angehörige, Ärzte oder Trainer und andere Betreuer) weitergeleitet werden.“ (A75: 12)
Die Regierung der (Selbst-)Vermessung | 293
Ortsgruppen trifft. Das Hochladen und Teilen dieser Medien auf Facebook, in der App oder auf der Homepage von „Freeletics“ stellt eine soziale Beziehung her und weicht die Trennung zwischen privat und (teil-)öffentlich auf. Die Fotografien fungieren als Bindeglied zwischen den Trainierenden und den Gruppen, die mit „Freeletics“ assoziiert sind. So fügt Cihan, ein Student aus Berlin, seinen VorherNachher-Fotos bei: „Ich war nicht mehr der Mensch, der ich sein wollte. „Freeletic Gym hat mir dabei geholfen, mein Selbstbewusstsein wiederzufinden.“ (Freeletics GmbH 2017) Genauso Lena, ebenfalls Studentin aus München: „Ich habe mich viel zu lange durch meine Problemzonen verunsichern lassen. Jetzt bin ich endlich wieder glücklich mit meinem Körper.“ (Ebd.) Dieser starke Optimierungs- und Transformationsgedanke stellt eine Parallele zu den (Selbst-)Berichten in der „Brigitte“ dar. Das neue Selbstbild bezieht sich aber nicht nur auf einen äußerlich verbesserten Körper, sondern auch auf ein neues Wohlbefinden im Körper. Dieses veränderte leibliche Spüren verdeutlicht meist ein glücklicher(er) Gesichtsausdruck auf den Fotos, wodurch eine entspannte, fröhliche Atmosphäre auf den Bildern im Vergleich zu den vorherigen entsteht (Brigitte 1964b: 62, 66, 1974b: 60–61; Freeletics GmbH 2017). Diese Quellen – textlicher oder bildlicher Art – stehen für die Regierung der Individuen und ihrer Körper, was sich im technischen Gerät der Waage materialisiert. Die in sozialer Hinsicht bedeutsamen Handlungsvorschriften und Kontrollmechanismen befinden sich derzeit im Begriff, in diskursiver Weise in einer technologisch komplexen zweiten Generation des Instruments weiterzubestehen. Die optisch ansprechende Verarbeitung der Medientechnologien stellt dabei nach wie vor ein wichtiges Kriterium für die Individuen dar (Gugutzer 2016: 164–165). So besteht zwischen dem Konzept der Selbst- und Körperverbesserung von „Freeletics“ eine enge Verbindung zum Self-Tracking der „Quantified Self“Bewegung. Das Sichtbarmachen von positiv besetzten Veränderungen in der Community und der Austausch von Wissen, wie diese herbeigeführt werden können, stehen für die Effekte des Wissensregimes der Personenwaage und eine gouvernementale Selbstvermessung. Die Fotografien und Berichte zeigen einerseits die Bemühungen auf, andererseits den moralischen, also gesundheitlichen sowie gesellschaftlichen Erfolg, für den diese Bilder und Aussagen stehen. Der persönliche Fortschritt spiegelt sich auch im introspektiven, leiblichen Erleben wider, wenn das Ziel erreicht wird. In der Genealogie der Personenwaage handelt das Individuum also nicht nur als präventives Selbst (Kap. 3.2), sondern auch als unternehmerisches Selbst (Bröckling 2007). Während seit den 1970er Jahren die Gesundheit als politisches Ziel auf das Subjekt übertragen wird, werden Subjekte gegenwärtig als Manager des eigenen Ichs inklusive des Körpers verstanden, die sich in ihrem Leistungsstreben keine Grenzen setzen. Die Verbesserung der
294 | Die Personenwaage
Leistungsfähigkeit der gesamten Gesellschaft (Frommeld 2012, 2013; Link 2009; Quetelet 1914), die Vision der Medizinalstatistiker, hat bereits begonnen und ist dabei in Zukunft Realität zu werden, denn aktuelle Erfindungen schlagen nicht nur eine dauerhafte Überwachung des Gewichts, sondern auch die permanente Überwachung des Lebens vor. Am Beispiel des Patentdokuments A75, der Schuhsohle, die auch als Waage fungiert, wird sichtbar, an welche Möglichkeiten dabei gedacht wird.27 Es sollen „physische Tagesbelastungen eines Menschen, bspw. Beamte, Fließbandarbeiter oder Mauerer [sic!], gemessen werden. Automatisierte Lösungen mit dem Schuh können im Alltag smarte elektrische Anlagen steuern, beispielsweise kann der Schuh die Beleuchtung in Räumen anund ausschalten.“ (A75: 8) Dabei geht es nicht mehr nur um eine Technisierung wie Individualisierung des Alltags oder eine Ästhetisierung der Lebenswelt, sondern um eine radikale Normalisierung und Medikalisierung (oder Technikalisierung) des Lebens in einer Gesundheitsgesellschaft, die nach den Bemessungskategorien einer quantifizierenden Biopolitik funktioniert. Eine aktive Verwendung dieser Schuhsohle scheint derzeit jedoch (noch) nicht angezeigt. Seit der Anmeldung der Innovation haben die Patentinhaber in Berlin ein Start-up gegründet und über die Finanzierungsplattform „kickstarter“ Geld für die Produktion einer ersten Version der Erfindung gesammelt (Waldthausen 2018a). Vermarktet wird die Schuhsohle unter dem Namen „RUNVI“ und versteht sich als „RUNNING LAB IN YOUR SOLE“ (NWTN BERLIN GmbH 2016, Herv. i. O.). Das Wearable wird zunächst ausschließlich in Verbindung mit AppleProdukten beworben (Waldthausen 2018a), die aufgrund ihrer Ästhetik und leichten Anwendbarkeit beliebt sind. Diese potentielle Personenwaage 2.0 richtet sich an Läufer*innen, die stark daran interessiert sind, ihre Performance stetig zu verbessern sowie „goals and deadlines“ zum gesetzten Zeitpunkt zu erreichen (NWTN BERLIN GmbH 2016). Mit dem Produkt erhalten Käufer*innen einen exklusiven Zugang zu einem Weiterbildungsportal, auf dem Expert*innen wie ehemalige Olympia-Teilnehmer*innen Tipps geben und von denen über das Laufen gelernt werden kann („ACCESS TO OUR RUNNING ACADEMY WRITTEN BY EXPERTS“) (ebd., Herv. i. O.). Für das Produkt werben so genannte High-Achievers oder Performers wie der ehemalige CEO von Puma, Franz Koch („The future of running is here!“) (ebd.). Noch hat dieser Sensor die Personenwaage weder in der breiten Bevölkerung noch in der Hobbyläufer*innenund Self-Tracking-Szene abgelöst. Zum einen stellt das zentrale Merkmal dieser ersten Umsetzung die Messung von Druckpunkten beim Laufen dar, mit denen der Laufstil optimiert werden kann. Die permanente Messung des Körpergewichts
27 Vgl. dazu auch die Auszüge in den vorigen Fußnoten.
Die Regierung der (Selbst-)Vermessung | 295
wird in Verbindung mit RUNVI derzeit noch nicht artikuliert, wird aber als Ziel der Erfindung genannt (A75). Zum anderen scheint die technische Umsetzbarkeit der Ideen noch nicht gesichert, da von den Patentinhabern von Problemen finanzieller und technischer Art berichtet wird (Waldthausen 2018b, 2018c). So wurde die Auslieferung des Produkts im Verlauf von 2018 immer wieder verschoben. Der US-amerikanische Vorläufer aus dem Jahr 2014, „SmartMove“, fokussierte bei seiner Einlegesohle stärker auf einen allgemeinen gesundheitlichen Lebensstil, bei dem durch Bewegung und Kalorienverbrauch der Gewichtsverlust annähernd bestimmt werden konnte (SmartMoveTeam 2014). Diese Idee erreichte über Crowdfunding das Finanzierungsziel nicht, so dass diese Erfindung erst gar nicht in die Produktionsphase eintreten konnte. Das radikalisierte Wissensregime des Sensors, der auch als Personenwaage fungieren kann oder soll, hat jedoch eine grenzenlose Selbsttechnologie der Vermessung möglich gemacht, die immer wieder Bestandteil eines öffentlichen Spezialdiskurses – oder zumindest des Spezialdiskurses der Erfindungen – zu sein scheint. Diese richtet sich an technikaffine Subjekte, Self-Tracker*innen und in diesem Bereich agierende Erfinder wie Unternehmer*innen.28 Die Personenwaage fungiert als elementarer Bestandteil einer (unabwendbaren) Gesundheitsgesellschaft, die sich an ein präventives Selbst und dessen Körper richtet. Speziell das (starke) Übergewicht stellt einen Risikofaktor dar, der seit den 1960er Jahren sukzessive zu einem elementaren Gegenstand des öffentlichen, medizinischen, gesundheitspolitischen und erfinderischen Teildiskurses geworden ist. In diesem Zusammenhang wird über die Gefahren möglicher Begleit- und Folgeerkrankungen gesprochen und über präventive Maßnahmen aufgeklärt, die Herz-/Kreislauferkrankungen wie dem Metabolischen Syndrom29 entgegenwirken (könnten). Die Untersuchung hat die individuelle „Pflicht zur Gesundheit“ (Madarász 2010) 30 im speziell institutionellen Diskurs
28 Vgl. hierzu
die
Berichterstattung
auf
Homepages,
die
auf
Running
und
Self-Tracking-Wearables spezialisiert sind (z. B. Keating 2018; Sawh 2018). 29 Vgl. hierzu die Studie von Döring (2010) zur multifaktoriellen Erkrankung Metabolisches
Syndrom
(MetSyn),
die
unter
anderem
von
verschiedenen
Gesundheitsstiftungen und der Kundenzeitschrift „ApothekenUmschau“ im Jahr 2008 als Volkskrankheit bezeichnet wurde. Dadurch wurde das MetSyn über den medizinischen Teildiskurs hinaus bekannt. In der Medizin wird dieses Konzept seit den 1980er Jahren intensiv diskutiert, wurde aber auch schon in den sechs Jahrzehnten ab 1920 immer wieder – wenn auch selten – erwähnt. 30 Vgl. Madarász (2010), die in diesem Beitrag die Verschränkung ähnlicher Teildiskurse am Beispiel chronischer Herz-Kreislauf-Erkrankungen aufzeigt.
296 | Die Personenwaage
der Erfindung der Personenwaage nachgewiesen und darüber hinaus im (populär-) wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs belegt. Diese enge Beziehung zeigt sich auch in einer Situation während der Schlankheitskur von Magda Hassauer, in der die Frau einen Arzt konsultierte und als Patientin auftrat: „Mein Arzt hat mir in dieser kritischen Zeit einen Diätplan für meine Konstitution aufgestellt, nach dem ich mühelos in kurzer Zeit die 10 Pfund besiegt hatte. Zur Ernährung meines Herzens und Blutes esse ich morgendlich einen Kaffeelöffel reinen Bienenhonig.“ (Brigitte 1964b: 66) Das Wissensregime der Personenwaage entfaltete sich durch die Verschränkung der Teildiskurse, welche die Hervorbringung von Wissen, Macht und Technik, deren Anwendung und Bewertung lenkt (Wehling 2007: 704). Auf diese Weise konnte die historische Bedingtheit scheinbar selbstverständlicher Alltagsregeln (ebd.), die mit der Personenwaage zusammenhängen, sichtbar gemacht werden. Das Instrument stand Ende der 1980er Jahre mit seinem praktischen, alltagsweltlichen Nutzen und seinen Erweiterungen, die über das Ermitteln des Körpergewichts hinausgingen, auch als Gradmesser für das „persönliche Befinden“ (K118: 8). Die bevorstehende Entwicklung und die zukünftige Rolle des Instruments wurden damit bereits angedeutet. Das Subjekt schafft sich im Alltag Räume, in denen das Ureigene, der Körper, nach individuellen Maßstäben geformt wird. Tatsächlich stellt die Vermessung, Vergleichung und Modifikation des Körpers jedoch ein gesellschaftliches Muster dar (Bublitz 2018; Heintz 2016; Lupton 2016; Mau 2017). Als Individual- und Massenphänomen steht die Quantifizierung des Selbst auch für eine Individualisierung, die eine Vergesellschaftung des Individuums erzwingt (Beck/Beck-Gernsheim 1994: 181). Vor diesem Hintergrund entstand im Verlauf der Ersten Moderne sozusagen eine Spirale aus individuellen Entscheidungen und die Notwendigkeit von Aushandlungen mit Bezugspersonen, -gruppen und Institutionen. Im Informations- und Digitalzeitalter muss Wissen als etwas betrachtet werden, das durch das Internet potentiell mehr Rezipient*innen als je zuvor hat, wodurch sich die Beteiligungsmöglichkeiten am Diskurs potenzieren. Individuen sind also jetzt mit der Diskrepanz konfrontiert, einerseits über noch nie da gewesene Freiräume über Entscheidungen und Handlungen zu verfügen, anderseits müssen sie sich diese Möglichkeiten in einem gewissen Rahmen selbst handhabbar machen. Es scheint in der Zweiten Moderne keine Option mehr zu sein, sich und sein Leben nicht permanent mit anderen hochindividualisierten Subjekten zu vergleichen (Mau 2017). Diese gesellschaftliche Entwicklung führt aktuell zu einem konstanten Bestreben nach Optimierung in einer Konkurrenzgesellschaft (Bürkert et al. 2019; Dusch/Gredler 2018; Heintz 2016). Als „Grundbedingung“ gilt, wie Magda Hassauer formulierte,
Die Regierung der (Selbst-)Vermessung | 297
„[…] eine Waage muß ins Haus“ (Brigitte 1964b: 66). Damals wie heute trifft diese Aussage zu – ob als klassische Personenwaage, Wearable oder Sensor.
8
Die vernetzte Macht der Personenwaage
Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Personenwaage ein normatives technisches Instrument ist, das aus einem Gefüge an vielfältigen Wechselwirkungen einer hoch technisierten Umwelt hervorgegangen ist. Aus der Entstehungsgeschichte und Weiterentwicklung der Personenwaage ließen sich die ästhetischen Bezugspunkte der Konsumgesellschaft rekonstruieren, die gleichermaßen auf das Artefakt, den Körper und das Selbst wirkten. Die Genealogie der Personenwaage steht für eine Technikalisierung, weshalb die Waage als Teil einer (unabwendbaren) Gesundheitsgesellschaft zu begreifen ist. Ein gesundheitlicher Imperativ richtet sich nicht nur in historischer Hinsicht, sondern auch heute an ein präventives und unternehmerisches Selbst, was unter anderem durch ritualisierte Körperhandlungen zum Ausdruck kommt. Das Wissensregime der Personenwaage repräsentiert den sozialen Wandel Deutschlands und transportiert diesen effektvoll über Identitätsangebote in die Gesellschaft zurück. Die Selbstvermessung mit dem Instrument wird in der Zweiten Moderne zu einer Selbsttechnologie. Das Artefakt selbst geht auf ein „produktives Netz“1 diskursiver Macht zurück und steht im Zeitalter von Digitalisierung für eine vernetzte Macht. Die folgende Übersicht beinhaltet alle Erfindungen von der ersten Patentanmeldung im Jahr 1886 in einer Phase der Vorgeschichte und den Verlauf bis heute (Abb. 30). Dieses Gesamtkorpus enthält insgesamt knapp 200 Patentdokumente, so dass der zeitliche Verlauf verglichen werden kann. Die Gegenüberstellung der einzelnen Jahrzehnte endet in diesem Diagramm im Jahr 20162, da seither kein neue Innovation folgte. Ab dem Jahr 2010 kann daher nur
1
Vgl. Kapitel 1.2.
2
Letzte Gebrauchsmusteranmeldung im April 2016 (A77), letzte Patentanmeldung im August 2013 (A68). Zur letzten Recherche vgl. Kapitel 3.2.2, Abschnitt „Die Ergänzung des konkreten Korpus“.
300 | Die Personenwaage
ein Trend angegeben werden, da das aktuelle Jahrzehnt noch nicht abgeschlossen ist und jederzeit noch Erfindungen veröffentlicht werden können. Abbildung 30: Die Erfindungen zwischen 1880 und 2019
Gestaffelt nach Jahrzehnten ist so ersichtlich, wie sich in quantitativer Hinsicht die Zahl der eingereichten Patentdokumente in über hundert Jahren entwickelt hat. Anschaulich geht daraus hervor, wie sich nach vier Jahrzehnten in den 1920er Jahren ein kurzer Aufschwung bemerkbar machte. Dieser ist in gesellschaftlicher Hinsicht auf die Goldenen Zwanziger und einen ersten Trend zum Schlankheitsideal im 20. Jahrhundert zurückzuführen. Zwischen 1900 und 1909 wurde keine und zwischen 1930 und 1949 nur wenige Erfindungen angemeldet, was mit dem Ersten und Zweiten Weltkrieg und den politischen Restriktionen gegenüber Automaten zusammenhing. Ein Aufschwung begann in den 1950er Jahren, der zahlenmäßig die Entwicklung in den 1920er Jahren fortführte (Abb. 30). So erlebte die Bundesrepublik Deutschland in den 1950ern eine wirtschaftliche Blütezeit, das so genannte Wirtschaftswunder. Es setzte eine „Fresswelle nach der Fettlücke3“ (Jung 2007) ein und die Erfindungen folgten dem
3
Der etwas überspitzte Ausdruck einer Fettlücke spielt auf ein Unterangebot an fettreichen Nahrungsmitteln wie Margarine, Butter und Schmalz an, was aufgrund der starken Nachfrage in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Bevölkerungswachstum eingetreten war (König 2000: 166). Ein Bedarf scheint eher aufgrund der verbesserten Ernährungssituation zustande gekommen zu sein. In den
Die vernetzte Macht der Personenwaage | 301
gesellschaftlichen Trend. In Verbindung mit den Patentdokumenten aus diesem Jahrzehnt und der empfohlenen Kontrolle des Körpergewichts bei Übergewicht deutet sich eine gute Versorgung mit Nahrungsmitteln an, die sich gegenüber zuvor enorm verbessert hat.4 Die Anzahl der eingereichten Erfindungen stieg in den beiden folgenden Jahrzehnten fast auf die dreifache Menge an (Abb. 30). Dieser Zeitabschnitt berührt gleichermaßen die gesellschaftlichen Veränderungen im Rahmen der „Modernisierung der Moderne“ (Beck/Bonß 2001), die sich seit den 1960er Jahren intensiviert haben. Analog verdichtete sich das Wissensregime der Personenwaage zu einer gouvernementalen Selbstvermessung zwischen 1968 und 1978, was auch in der Berichterstattung der „Brigitte“ spürbar wurde. In den 1960er und 1970er Jahren etablierte sich in Deutschland eine Wohlstandgesellschaft, in der die Zahl der Übergewichtigen – die Pykniker – kontinuierlich zunahm und Schlankheit begehrenswert wurde. Wie Spiekermann (2008: 39–40) ausführt, wurde ab Ende der 1950er bis in die 1960er Jahre hinein das „heutige Plateau von Übergewicht“ aufgebaut, was sich im medizinischen Spezialdiskurs und im öffentlichen Diskurs als konstantes Thema ausbreitete (ebd.: 39). Parallel zur beginnenden Schönheits- und Diätgesellschaft setzte auch die Disziplinierung und Medikalisierung des individuellen Körpers zum Beispiel durch den „Brigitte Diät-Club“ ein. Ungefähr Mitte des 20. Jahrhunderts kamen in beiden Diskursen zwei Aspekte zusammen, die direkt mit der Körperform und dem Körpergewicht zusammenhingen (Ebbing 2008: 169–175; Spiekermann 2008: 39–40; Thoms 2000: 290–294). Stand der „Fett- oder Schmerbauch“ kulturell gesehen lange Zeit für Macht, wurde dieser in medizinischer und physiognomischer Hinsicht als Abweichung sowie Krankheit aufgefasst und der „Waschbrettbauch“ signalisierte Gesundheit (Ebbing 2008: 152–155, 168–171). Mit der Bedeutungszunahme und Manifestation medizinischer Denkweisen im gesellschaftlichen Kontext wurde letzterer zum Desideratum und signalisiert im neuen Jahrtausend Leistungsfähigkeit. Thoms (2000) kam in ihrer Analyse über die historische Bewertung von Schlankheit und Fettleibigkeit zu folgendem Schluss: „Im Spiegel wissenschaftlicher Untersuchungen erschienen die Dicken als Dumme und
Ernährungswissenschaften wurde kurz nach dem Zweiten Weltkrieg über eine solche Unterversorgung mit Fett und eine mangelhafte Zufuhr mit Proteinen wie Kalorien gesprochen (Bansi 1949: 73–82). 4
Diese Deutung ergibt sich bei der gemeinsamen Analyse von K31 und K32, die in den Jahren 1956 und 1958 eingereicht wurden, s. auch Kapitel 5.2.3. Zur Veränderung der Ernährung im 20. Jahrhundert vgl. Geißler/Meyer (2002), Kleinschmidt (2008), König (2000, 2008) sowie Rossfeld (2009).
302 | Die Personenwaage
Lügner, die Dünnen als Intelligente und Wahrhafte“ (ebd.: 291). Zusammen mit den Ergebnissen der vorliegenden Arbeit lässt sich folgern, dass sowohl im wissenschaftlichen als auch im öffentlichen Diskurs im 20. Jahrhundert Übergewicht und Fettleibigkeit als Abweichung galt, die dringend vermieden werden sollte. Somit ergänzten sich Wissenschaft und Medien, insbesondere die Frauenzeitschriften, die statistische Tabellen nutzten und Expertenmeinungen von Ärzt*innen einbrachten, und befeuerten damit Vorurteile gegenüber übergewichtigen Personen. Diese kommunikativen Muster, die Mitte des 20. Jahrhunderts noch in „schriller Form“ dargelegt wurden, was Spiekermann (2008: 39) feststellte, sind heute in beiden Teildiskursen verpönt. Wie in dem vorigen Kapitel nachgewiesen werden konnte, unterfüttern Massenmedien das Wissensregime der Personenwaage in psychologischer Hinsicht. Die Rhetorik der Vorher-NachherGeschichten veränderte sich aber in den letzten fünf Jahrzehnten. Erfolgte das Wissensregime der Personenwaage bei den „Brigitte“-Reportagen über pejorative Aussagen, wird bei den „Freeletics“-Athleten die rationale und bewusste Entscheidung zu einem neuen Körper(-gewicht) scheinbar wertfrei vor Augen geführt. Dementsprechend schien sich ab den 1980er Jahren das diskursive Feld der Personenwaage zu beruhigen und zu normalisieren. Der „Diät-Club“ der „Brigitte“ findet sich zum Beispiel in den untersuchten Jahrgängen in diesem Jahrzehnt nicht mehr als Serie im Heft. Daraus kann gefolgert werden, dass die Botschaften des Wissensregimes, bezogen auf diese Zeitschrift, in Frequenz und Intensität abebbten. Damals wie heute gibt es wiederkehrende Diät-Specials, aber keine eigene Plattform mehr im Heft.5 Seit den 1980er Jahren wurden zahlreiche epidemiologische Untersuchungen wie die Nationalen Verzehrstudien I und II eingeführt (Barlösius 1999: 222; Brombach 2006), welche die Ernährungssituation in Deutschland erfassten. Diese wiesen mit den Jahren einen sukzessiven Anstieg von Übergewicht und Adipositas in der deutschen Bevölkerung nach und versuchten, die Einflussfaktoren zu ermitteln (z. B. Mensink et al. 2005; Mensink
5
Im Jahr 1984 kam der Diät-Club nur in einigen wenigen Ausgaben vor (Heft 1 bis einschließlich vier, acht und neunzehn). Heft zwei, drei und vier führten in einem „Sonderteil Diät-Club“ die Ideal-Diät ein. Diese wurde in einigen Ausgaben im Jahr 1989 aufgegriffen (Heft zwei und drei, zwölf) sowie eine so genannte Vollwert-Diät in Heft achtzehn. In allen anderen Heften aus den Jahren 1984 und 1989 kam der Diät-Club als Serie nicht mehr vor (Brigitte 1984, 1989). Aktuell gibt es zum Beispiel „Die neue Brigitte-Diät“, die gleich im ersten Heft des Jahres 2017 vorgestellt wurde (Brigitte 2017).
Die vernetzte Macht der Personenwaage | 303
et al. 2013; Reisch/Gwozdz 2010; Wabitsch 2004). Diese diskursiven Veränderungen spiegeln sich auch in der Anzahl der eingereichten Erfindungen wider, denn deren Anzahl sank in den 1980er und 1990er Jahren rapide (Abb. 30). Dieser Umstand hing sicherlich auch mit der Marktsättigung der Personenwaage zusammen. Die Einführung des Badezimmers, das von nun an zu einer durchschnittlichen Wohnung gehörte, lässt darauf schließen, dass auch das Instrument zu einem Standard-Haushaltsgerät geworden war. Jedes Zimmer hatte dabei eine eigene Funktion (König 2008: 243). Das Bad war als Ort für den nackten Körper vorgesehen, wie die Analyse der Patentdokumente zeigte, in dem dieser im Spiegel geprüft und auf der Waage gewogen wurde. Ab 1998 bis Ende der 2000er Jahre stieg die Anzahl der Anmeldungen allerdings wieder an (Abb. 30). Es wurden allein acht Patentdokumente von 1998 bis 19996 von insgesamt 13 in den 1990er Jahren eingereicht. Damit hing die alarmierende Diagnose einer Fettepidemie zusammen, welche die WHO im Jahr 1997 proklamierte (Frommeld 2012, 2013, 2015; Kuczmarski/Flegal 2000; WHO 2004). Für die folgende Zeit prognostizierte die WHO mit Hilfe des BMI weltweit rasant steigende Zahlen von übergewichtigen Menschen. Befürchtet wurde ein massiver Anstieg von Krankheiten, die mit Übergewicht assoziiert wurden und damit verbundene Kosten (Flegal 2005; James et al. 2001; WHO 2004). Die offensichtlich höhere Anzahl neuer Erfindungen seit dem Jahr 1998 spiegelt sich in der Auseinandersetzung der Medizin mit dem metabolischen Syndrom wider. Die Publikationszahlen in Fachjournalen7 stiegen vor allem im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends exponentiell an. Die wissenschaftliche Diskussion ist seitdem auf einem anhaltend hohen Niveau. Der Übergewichts-Problematik nahm sich parallel auch die deutsche Gesundheitsregierung an. Es folgten Maßnahmen wie ein „Nationaler Aktionsplan Ernährung und Bewegung IN FORM“, der die Anzahl übergewichtiger Deutscher langfristig reduzieren sollte (BLE o. J.):
6 7
A20 bis einschließlich A27. Eine Recherche auf PubMed nach Aufsätzen mit „metabolic syndrome“ im Titel ergab zwischen 1990 und 1994 etwas mehr als 50 und zwischen 1995 und 1999 knapp dreimal so viele Treffer. Zwischen 2000 und 2004 stiegen diese Zahlen rasant an. So wurden in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends etwas mehr als 1000 und zwischen 2005 und 2009 über 6000 Art. publiziert. Seit 2010 sind diese Zahlen noch leicht gestiegen, letztmaliger Abgleich der Recherche im Mai 2019. Vgl. hierzu auch die Recherchen von Döring (2010). Es zeigt sich also ein direkter Zusammenhang zwischen den gesundheitspolitischen Aktivitäten der WHO und dem Output der (bio-)medizinischen Forschung.
304 | Die Personenwaage
„Krankheiten, die durch einen ungesunden Lebensstil mit einseitiger Ernährung und Bewegungsmangel mitverursacht werden, sollen deutlich zurückgehen. Ziel ist, das Ernährungs- und Bewegungsverhalten in Deutschland nachhaltig zu verbessern.“ (BLE o. J.)
Die 2000er-Jahre standen ganz im Zeichen dieser Gesundheitspolitik. So kamen zahlreiche Personenwaagen auf, mit denen das Körpergewicht und zum Beispiel der Fettanteil bestimmt werden konnten (z. B. A29; A32; A33; A35; A47; A57). Das Instrument befindet sich mittlerweile in Badezimmern, die als „Wellnesstempel“ bezeichnet werden können (Thoms 2009: 103, 105). Der rasante Aufschwung der Personenwaage zwischen 1960 und 1979 wiederholte sich in etwas geringerem Ausmaß und auch nur in den zehn Jahren zwischen 1990 und 2009 (Abb. 30). Es ist davon auszugehen, dass dieser Trend sich nicht weiter fortsetzt. Die Anzahl neuer Erfindungen hat sich seit dem Jahr 2010 gegenüber den zehn Jahren zuvor um die Hälfte dezimiert, in denen noch über 30 Innovationen eingereicht wurden (Abb. 30). Wie bekannt ist, wird seit dem Jahr 2014 bisher nur eine weitere Erfindung in der Datenbank des DPMA geführt. Entsprechend dieser ausbleibenden Anmeldungen ist die Berichterstattung über die internationale Funkausstellung im Jahr 2014 in Berlin zu bewerten, die als Industrie- und Verbrauchermesse jährlich die neuesten Innovationen im technischen Bereich vorstellt (Stüber 2014). Dabei wurde genau der Fortschritt aufgeführt, der durch die Digitalisierung rasant in Gang gesetzt wurde: „Die Berliner Funkausstellung war noch nie so smart wie in diesem Jahr. Mit dem Internet vernetzt ist nahezu alles, was uns umgibt […].“ (Ebd.) Da Erfindungen stets die zukünftigen Entwicklungen vorfühlen und am Puls der Zeit agieren, kann davon ausgegangen werden, dass die Sensoren im Begriff sind, das Wissensregime der Personenwaage zu übernehmen. Das Feld, das sich daraus für die wissenschaftliche Forschung ergibt, lässt sich prognostisch zwischen Optimierung und Enhancement des Körpers, zwischen Ubiquituos Computing8 und Gamification9 der Medientechnologien einordnen, die von einer
8
Der Begriff beschreibt die „Allgegenwärtigkeit von Informationstechnik und Computerleistung, die in prinzipiell alle Alltagsgegenstände eindringen.“ (Friedewald et al. 2010: 9) Dazu zählen auch die sogenannten Altersgerechten Assistenzsysteme für ein selbstbestimmtes Leben (AAL), die in Weber et al. (2015) behandelt werden. Vgl. zum Ubiquituos Computing ausführlich Friedewald et al. (2010) sowie Lipp (2004).
9
Der Ausdruck umfasst, ähnlich wie Ubiquituos Computing, eine allgegenwärtige Präsenz von Spielen im Zeitalter der Digitalisierung und in einem Zusammenhang, der
Die vernetzte Macht der Personenwaage | 305
Technikgenese und Technikfolgenabschätzung kritisch reflektiert werden. Da soziologische Analysen dazu tendieren, das historische Fundament weitestgehend auszublenden und historische Untersuchungen die soziologische Reflexion nur ansatzweise vornehmen können, soll diese interdisziplinäre Studie als Brücke zwischen den Disziplinen fungieren. Sie hat den Auftrag, künftigen Untersuchungen als Basis zu dienen, um so in beiden Bereichen die Diskussion um die Körperüberwachung mittels technischer Instrumente voranzutreiben.
zunächst keine spielerischen Aspekte vermuten lassen („gamification as the use of game design elements in non-game contexts“) (Deterding et al. 2011: 1, Herv. i. O.; Schmidt et al. 2015: 353). Hier geht es um die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit smarten Technologien, mit denen anwenderfreundliche Mensch-TechnikInteraktionen ermöglicht werden sollen, wie es bereits über Apps erfolgt und in Zukunft über Sensoren angedacht ist. Angelegt waren solche Gedanken bereits bei den öffentlichen Waagen, bei denen sehr stark auf spielerische Elemente fokussiert wurde. Weiterführend zu Gamification vgl. Deterding et al. (2011), Schmidt et al. (2015) sowie Stampfl (2012).
Verzeichnis der Patentdokumente
Konkretes Korpus Lfd. Nr.
Veröffentlichungsnu mmer
Lfd. Nr.
Veröffentlichungsnu mmer
K1
DE000000336367A
K19
DE000000801541B
K2
DE000000342434A
K20
DE000001641327U
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308 | Die Personenwaage
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Veröffentlichungsnu mmer
Lfd. Nr.
Veröffentlichungsnu mmer
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Patentdokumente | 309
Lfd. Nr.
Veröffentlichungsnu mmer
Lfd. Nr.
Veröffentlichungsnu mmer
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310 | Die Personenwaage
Ergänzendes Korpus Lfd. Nr.
Veröffentlichungsnummer
Lfd. Nr.
Veröffentlichungsnummer
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Patentdokumente | 311
Lfd. Nr.
Veröffentlichungsnummer
Lfd. Nr.
Veröffentlichungsnummer
A51
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DE112010004356T5
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DE202016002800U1
A64
DE202010017987U1
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Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende Soziologische Deutungen 2018, 174 S., kart., zahlr. Abb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4568-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4568-6 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4568-2
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Soziologie Gianna Behrendt, Anna Henkel (Hg.)
10 Minuten Soziologie: Fakten 2018, 166 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4362-6 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4362-0
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Kollektive Identitäten 2018, 160 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3724-3 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3724-7
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10 Minuten Soziologie: Materialität 2018, 122 S., kart. 15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1 E-Book: 13,99 €(DE), ISBN 978-3-8394-4073-5
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