Die Nachfolge in Familienunternehmen: Drei Fallbeispiele aus dem Bergischen Land im 19. und 20. Jahrhundert 3515099409, 9783515099400

Ein Damoklesschwert für Familienunternehmen ist die Nachfolgefrage. Was macht die Unternehmensnachfolge in vielerlei Hin

132 68

German Pages 389 [390] Year 2012

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Table of contents :
DANKSAGUNG
INHALTSVERZEICHNIS
TABELLEN- UND ABBILDUNGSVERZEICHNIS
ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
1. EINLEITUNG
1.1 PROBLEMSTELLUNG, FORSCHUNGSLEITENDE FRAGE UND ZIEL DER ARBEIT
1.2 FORSCHUNGSSTAND
1.3 UNTERSUCHUNGSAUFBAU
2. BEGRIFFE, THEORETISCHER BEZUGSRAHMEN UND METHODE
2.1 BEGRIFFSDEFINITIONEN
2.2 UNTERSUCHUNGSSAMPLE, MATERIAL, METHODE UND FORSCHUNGSDESIGN
2.3 THEORETISCHER BEZUGSRAHMEN
3. WIRTSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG DES BERGISCHEN LANDES SEIT DEM SPÄTEN 18. JH.
4. DIE UNTERNEHMEN DER FAMILIE HARDT: JOHANN WÜLFING & SOHN, HARDT & CO UND HARDT, POKORNY & CIE
4.1 VORBEREITUNG IM NACHFOLGEPROZESS UND GENERATIONSWECHSEL IN DER UNTERNEHMENSFÜHRUNG
4.2 KAPITALAKKUMULATIONSMODI/GRÜNDUNGSFINANZIERUNG DER FOLGENDEN GENERATION, BESITZ- UND VERMÖGENSTRANSFERS IM RAHMEN GESELLSCHAFTSRECHTLICHER UND ERBRECHTLICHER REGLEMENTS
4.3 ERGEBNISZUSAMMENFASSUNG
5. VON DER HEYDT-KERSTEN & SÖHNE
5.1 VORBEREITUNG IM NACHFOLGEPROZESS UND GENERATIONSWECHSEL IN DER UNTERNEHMENSFÜHRUNG
5.2 KAPITALAKKUMULATIONSMODI/GRÜNDUNGSFINANZIERUNG DER FOLGENDEN GENERATION, BESITZ- UND VERMÖGENSTRANSFERS IM RAHMEN GESELLSCHAFTSRECHTLICHER UND ERBRECHTLICHER REGLEMENTS
5.3 ERGEBNISZUSAMMENFASSUNG
6. BAGEL
6.1 VORBEREITUNG IM NACHFOLGEPROZESS UND GENERATIONSWECHSEL IN DER UNTERNEHMENSFÜHRUNG
6.2 KAPITALAKKUMULATIONSMODI/GRÜNDUNGSFINANZIERUNG DER FOLGENDEN GENERATION, BESITZ- UND VERMÖGENSTRANSFERS IM RAHMEN GESELLSCHAFTSRECHTLICHER UND ERBRECHTLICHER REGLEMENTS
6.3 ERGEBNISZUSAMMENFASSUNG
7. FAZIT UND AUSBLICK
ANHANG
QUELLENVERZEICHNIS
LITERATURVERZEICHNIS
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Die Nachfolge in Familienunternehmen: Drei Fallbeispiele aus dem Bergischen Land im 19. und 20. Jahrhundert
 3515099409, 9783515099400

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Die Nachfolge in Familienunternehmen

Beiträge zur Unternehmensgeschichte --------------------------------------Herausgegeben von Hans Pohl und Günther Schulz Band 30

Sandra Zeumer

Die Nachfolge in Familienunternehmen Drei Fallbeispiele aus dem Bergischen Land im 19. und 20. Jahrhundert

Franz Steiner Verlag Stuttgart 2012

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-09940-0

Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. © 2012 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Druck: AZ Druck und Datentechnik Printed in Germany

DANKSAGUNG An dieser Stelle möchte ich mich ganz herzlich in erster Linie bei meinem Doktorvater Herrn Prof. Pierenkemper bedanken, der mir die seltene Chance zur Abfassung und Veröffentlichung einer solchen Studie gegeben hat. Wie er mich seit meinen ersten wissenschaftlichen Arbeiten an der Universität zu Köln an die Erfassung und Lösung von wirtschaftlichen Problemstellungen herangeführt hat, weiß ich sehr zu schätzen. Mein besonderer Dank gilt den Herausgebern der Beiträge zur Unternehmensgeschichte, insbesondere Herrn Prof. Schulz. Von seinen Anregungen und Hinweisen hat die Überarbeitung des Manuskripts sehr profitiert. Ferner möchte ich mich bei all denjenigen bedanken, die an der Fertigstellung des Manuskriptes beteiligt waren. Nicht zuletzt möchte ich auch meiner Familie und allen Personen bedanken, die mich unterstützt und mir diese Arbeit ermöglicht haben. Für die Genehmigung und Unterstützung bei der Benutzung und Erschließung der Quellen im RWWA für die Firmen Johann, Wülfing & Sohn und A. Bagel danke ich den Herren Dr. Ulrich S. Soénius, Dr. Christian Hillen und Dr. Jürgen Weise, Herrn Werner von Wismar vom Tuchmuseum Lennep und Herrn Peter Bagel. Für ihre Unterstützung bei der Erschließung der Quellen des Bankhauses von der Heydt-Kersten & Söhne danke ich Herrn Dr. Detlef Krause, Historisches Dokumentationszentrum der Commerzbank. Für die Genehmigung und Unterstützung bei der Benutzung und Erschließung der Quellen des Düsseldorfer Künstlervereins Malkasten danke ich Frau Sabine Schroyen, M. A. August 2011 Sandra Zeumer

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INHALTSVERZEICHNIS DANKSAGUNG .............................................................................................

5

INHALTSVERZEICHNIS ..............................................................................

7

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis ........................................................ Abkürzungsverzeichnis ...............................................................................

11 15

1. EINLEITUNG .............................................................................................

17

1.1 Problemstellung, forschungsleitende Frage und Ziel der Arbeit ........

17

1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4

Familienunternehmen im Bergischen Land ............................. Unternehmensnachfolge ........................................................... Erfolgreiche Nachfolgestrategien............................................. Fragestellung und Ziel der Arbeit ............................................

17 18 19 20

1.2 Forschungsstand ..................................................................................

21

1.2.1 Drei wissenschaftliche Zugänge zum Familienunternehmen: historisch, wirtschaftswissenschaftlich, soziologisch .............. 1.2.2 Die Unternehmensnachfolge aus der Perspektive der Rechtshistorie, des Vermögens und der Familie ................................. 1.2.3 Nachfolgeregelungen und Maßnahmen ................................... 1.2.4 Die Forschungslücke ................................................................

21 27 32 36

1.3 Untersuchungsaufbau ..........................................................................

37

2. BEGRIFFE, THEORETISCHER BEZUGSRAHMEN UND METHODE

39

2.1 Begriffsdefinitionen ............................................................................

39

2.1.1 2.1.2 2.1.3 2.1.4

Unternehmer ............................................................................. Familie...................................................................................... Familienunternehmen ............................................................... Nachfolge und erfolgreiche Nachfolgestrategie .......................

39 41 45 46

2.2 Untersuchungssample, Material, Methode und Forschungsdesign ....

50

2.2.1 Material und Quellenlage ......................................................... 2.2.2 Methode....................................................................................

52 59

2.3 Theoretischer Bezugsrahmen ..............................................................

63

2.3.1 Institutionenökonomische Ansätze .......................................... 2.3.2 Kreis-Modelle ..........................................................................

63 68

8

Inhaltsverzeichnis

2.3.3 Lebenszyklusmodelle ............................................................... 2.3.4 Modelltheoretische Grundannahmen der Arbeit ......................

71 74

3. WIRTSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG DES BERGISCHEN LANDES SEIT DEM SPÄTEN 18. JAHRHUNDERT......................................

79

4. DIE UNTERNEHMEN DER FAMILIE HARDT: JOHANN WÜLFING & SOHN, HARDT & CO UND HARDT, POKORNY & CIE ..................

89

4.1 Vorbereitung im Nachfolgeprozess und Generationswechsel in der Unternehmensführung .........................................................................

89

4.1.1 Weiterführung von Johann Wülfing & Sohn durch den Schwiegersohn Johann Arnold Hardt sen. ............................... 89 4.1.2 Die Brüder: Johann Arnold jr. und Engelbert Hardt unter Mitwirkung der Familienmitglieder F. W. Hasenclever und Johann Buchholz .......................................................................... 96 4.1.3 Die dritte Generation: Expansion statt Niedergang.................. 106 4.1.4 Die Globalisierer und ihre Nachfolger ..................................... 135 4.1.5 Übergabe an die 5. Generation, Nachfolger im globalen Textil- und Wollhandel ............................................................ 153 4.2 Kapitalakkumulationsmodi/Gründungsfinanzierung der folgenden Generation, Besitz- und Vermögenstransfers im Rahmen gesellschaftsrechtlicher und erbrechtlicher Reglements .............................. 4.2.1 Übergabe 1: Erbmodalitäten bei Johann Arnold Hardt sen. 1815 .......................................................................................... 4.2.2 Übergabe 2: Erbmodalitäten in vier Familienstämmen bei JW & S (1824–1854) ..................................................................... 4.2.3 Übergabe 3 I: Erbmodalitäten in zwei Familienstämmen in der JW & S OHG (bis 1880) .................................................... 4.2.4 Übergabe 3 II: Erbmodalitäten in vier Familienstämmen bei JW & S 1890–1906 ................................................................. 4.2.5 Übergabe 3 III: Umwandlung von HP & Cie in eine GmbH und Wandel der Beteiligungsverhältnisse ................................ 4.3 Ergebniszusammenfassung .................................................................

168 168 172 184 190 204 205

4.3.1 Vergleich der Nachfolgeprozesse in der Generationenfolge der Familie Hardt ..................................................................... 4.3.2 Vergleich der Kapitalakkumulation und der Vererbung in der Generationenfolge der Familie Hardt....................................... 4.3.3 Schlussfolgerungen ..................................................................

214 223

5. VON DER HEYDT-KERSTEN & SÖHNE ...............................................

225

5.1 Vorbereitung im Nachfolgeprozess und Generationswechsel in der Unternehmensführung .........................................................................

225

205

Inhaltsverzeichnis

5.1.1 Der Gründer von Gebrüder Kersten: Conrad Kersten und die Weiterführung durch seine Söhne Abraham und Caspar Kersten ..................................................................................... 5.1.2 Die Schwiegersöhne: Daniel Heinrich von der Heydt-Kersten und Gottfried Wever ................................................................ 5.1.3 Die Brüder: August (I), Daniel und Carl von der Heydt .......... 5.1.4 Der unvollendete Generationswechsel, die vorverstorbenen Vettern Dr. Fritz und August (II) von der Heydt .................... 5.1.5 Die Vettern: August (III) und Karl von der Heydt ................... 5.1.6 Die Vettern: August (IV) und Eduard von der Heydt .............. 5.2 Kapitalakkumulationsmodi/Gründungsfinanzierung der folgenden Generation, Besitz- und Vermögenstransfers im Rahmen gesellschaftsrechtlicher und erbrechtlicher Reglements ..............................

9

225 228 236 244 251 260

263

5.2.1 Übergabe 1: Übergang des Bank- und Handlungshauses auf die Familie von der Heydt ........................................................ 5.2.2 Übergabe 2: Übergang des Bankhauses auf die Brüder von der Heydt .................................................................................. 5.2.3 Übergabe 3: Eigentums-Regentschaft bis 1881 ....................... 5.2.4 Übergabe 4: Das Bankhaus und seine Kommandite im Vettern-Konsortium ....................................................................... 5.2.5 Übergabe 5: Kommanditierung des Bankhauses durch den Barmer Bankverein ..................................................................

273

5.3 Ergebniszusammenfassung .................................................................

275

263 264 267 269

5.3.1 Vergleich der Nachfolgeprozesse in der Generationenfolge der Familie Kersten und in der Familie von der Heydt ............ 5.3.2 Vergleich der Kapitalakkumulation und der Vererbung in der Generationenfolge der Familie von der Heydt ......................... 5.3.3 Schlussfolgerungen ..................................................................

280 285

6. BAGEL .......................................................................................................

287

6.1 Vorbereitung im Nachfolgeprozess und Generationswechsel in der Unternehmensführung .........................................................................

287

6.1.1 6.1.2 6.1.3 6.1.4

275

Der Gründer Johann Bagel (1775–1855) ................................. August Bagel der Ältere (1809–1881) ..................................... Der Bewahrer: August Bagel der Jüngere (1838–1916) .......... Der Modernisierer: Fritz Bagel (1872–1936) ..........................

287 289 303 309

6.2 Kapitalakkumulationsmodi/Gründungsfinanzierung der folgenden Generation, Besitz- und Vermögenstransfers im Rahmen gesellschaftsrechtlicher und erbrechtlicher Reglements ..............................

317

6.2.1 Übergabe 1: Innerfamiliärer Verkauf ....................................... 6.2.2 Übergabe 2: Die ungeregelte Übergabe ...................................

317 322

10

Inhaltsverzeichnis

6.2.3 Übergabe 3: Wechsel von der Personen- zur Kapitalgesellschaft ........................................................................................ 6.2.4 Übergabe 4: Wechsel von der Kapital- zur Personengesellschaft ........................................................................................ 6.3 Ergebniszusammenfassung .................................................................

329 335 336

6.3.1 Vergleich der Nachfolgeprozesse in der Generationenfolge der Familie Bagel ..................................................................... 6.3.2 Vergleich der Kapitalakkumulation und der Vererbung in der Generationenfolge der Familie Bagel ...................................... 6.3.3 Schlussfolgerungen ..................................................................

340 343

7. FAZIT UND AUSBLICK ...........................................................................

346

ANHANG ........................................................................................................

355

Stammbäume ...............................................................................................

355

I Stammbaum der Teilhaber von Hardt & Co ..................................... II Familie von der Heydt ..................................................................... III Familie Bagel .................................................................................

355 356 357

Quellenverzeichnis ......................................................................................

359

A. Johann Wülfing & Sohn ................................................................. B. Von der Heydt-Kersten & Söhne ................................................... C. Bagel ............................................................................................... D. Archiv des Künstlervereins Malkasten (KVM) .............................

359 363 366 370

Literaturverzeichnis ....................................................................................

371

336

TABELLEN- UND ABBILDUNGSVERZEICHNIS Tab. 1 Tab. 2 Tab. 3 Tab. 4 Tab. 5 Tab. 6 Tab. 7 Tab. 8 Tab. 9 Tab. 10 Tab. 11 Tab. 12 Tab. 13 Tab. 14 Tab. 15 Tab. 16 Tab. 17 Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 a Abb. 5 b Abb. 6

Materialvergleich für Unternehmensfinanzierung, Kapitalakkumulation und Vererbung ....................................................... Materialvergleich für Unternehmensverfassung, Nachfolgeprozesse und Nachfolgerlebensläufe ............................ Materialvergleich für die Netzwerkuntersuchung ........................ Durchschnittliche Wachstumsraten Bilanzsumme, Eigenkapital und Eigenkapitalquote JW & S OHG 1824–1910 ........................ Zusammensetzung des Vermögensanteils von Johann Arnold Hardt sen. ..................................................................................... . Nachlass von Johann Arnold Hardt jr. aus dem Jahr 1824 ........... Durchschnittliche Reinvestitionsquoten aller Teilhaber pro Jahrzehnt 1823–1900 .............................................................. Prozess der familieninternen Nachfolge ....................................... Heiratsalter der Nachfolger ........................................................... Prae-mortem-Transferstruktur in der Familie Hardt 1815–1906 .. Kapitalrückfluss des ursprünglichen Anteils bei JW & S und Veränderung der Kapitalstruktur 1815–1906 ............................... Reproduktion in den Gesellschafterfamilien und Heiratsalter der designierten Nachfolger .......................................................... Prae-mortem-Transferstruktur in der Familie von der Heydt ....... Kapitalrückfluss des ursprünglichen Anteils bei von der Heydt und Veränderung der Kapitalstruktur ........................................... Reproduktion in den Gesellschafterfamilien und Heiratsalter der designierten Nachfolger .......................................................... Prae-mortem-Transferstruktur in der Familie Bagel ..................... Kapitalrückfluss des ursprünglichen Anteils bei A. Bagel nach den Erbfällen ........................................................................ Drei-Kreis-Modell ........................................................................ Lebenszykluskräftemodell ............................................................ Prozess der familieninternen Nachfolge ....................................... Stammbaum der geschäftsführenden Gesellschafter bei JW & S . Bilanzsumme, Eigenkapital 1823–1871 ....................................... Gewinnentwicklung bei JW& S 1824–1871 ................................ Eigenkapitalquoten JW & S 1824–1871 .......................................

55 57 58 120 169 174 177 206 207 216 218 276 282 283 336 340 341 69 74 77 90 118 118 119

12

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis

Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9 a

Reinvestitionsquoten JW & S 1824–1871 .................................... Gewinn Spinnerei Dahlhausen/HP & Cie KG 1868–1898 ........... Umsatzentwicklung Nord-/Südamerika im Fabrikgeschäft mit eigenen Waren 1865–1903 ........................................................... Abb. 9 b Umsatzrentabilität Nord-/Südamerika im Fabrikgeschäft 1865–1903 .................................................................................... Abb. 10 Änderung der Beteiligungsverhältnisse in der Spinnerei Dahlhausen im Zuge des Eintritts der vierten Generation bei JW & S Abb. 11 Hybride Unternehmensorganisation 1884 .................................... Abb. 12 Gegenüberstellung der Absatz- und Gewinnentwicklung 1870–1903. ................................................................................... Abb. 12 a Deutschland .................................................................................. Abb. 12 b Abb. 13 a Abb. 13 b Abb. 13 c Abb. 14 Abb. 15 Abb. 16 Abb. 17 a Abb. 17 b Abb. 18 a Abb. 18 b Abb. 19 a Abb. 19 b Abb. 20 Abb. 21 Abb. 22 Abb. 23 Abb. 24

Europa (Frankreich, Italien und Holland) ..................................... Bilanzsumme und Eigenkapital JW & S 1871–1915 .................... Gewinne JW & S 1871–1915 ....................................................... Reinvestition unter der 3./4. und 5. Generation bei JW & S von 1870–1903 .................................................................................... Gesamtkapital- und Gewinnentwicklung HP & Cie GmbH 1899–1918 .................................................................................... Gewinn der Kammgarnspinnerei Lennep 1886–1900 .................. Unternehmensaufbau des Konzerns der Hardt-Dynastie um 1906 Wachstum des Eigenkapitalanteils von Engelbert 1824–1850 ..... Reinvestitionsverhalten von Engelbert 1824–1850 ...................... Wachstum der Eigenkapitalanteile von Arnold Wilhelm I und Fritz I 1825–1880 .......................................................................... Reinvestitionsverhalten von Arnold Wilhelm I und Fritz I 1825–1880 .................................................................................... Lebenszeitliche Vermögensakkumulation von Albert I und Hermann I 1830–1895 .................................................................. Reinvestitonsverhalten von Albert I und Hermann I 1830–1895 . Lebenszeitliche Vermögensakkumulation von Arnold Wilhelm II und Fritz II .................................................................................... Heirats- und Geschäftskreise der Hardt-Dynastie ......................... Kapitalakkumulation und Prae-mortem-Transferstruktur im Generationenverlauf ...................................................................... Eigenkapitalrendite und institutionelle Arrangements im Generationenverlauf 1824–1903 ................................................... Beteiligungsverhältnisse bei Gebrüder Kersten um 1827/32 .......

119 123 126 126 140 145 147 147 147 150 150 151 159 160 164 175 176 185 185 194 195 200 210 216 222 230

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis

Abb. 25 a Entwicklung der Bilanzsumme und des Eigenkapitals vdH-K & S 1803–1850 ................................................................. Abb. 25 b Gewinne vdH-K & S 1803–1850 .................................................. Abb. 25 c Geschäftsverlauf vdH-K & S: Wechsel 1803–1850 ..................... Abb. 25 d Debitoren-/Creditorenentwicklung vdH-K & S 1803–1850 ......... Abb. 26 a Entwicklung der Bilanzsumme und des Eigenkapitals 1850–1910 .................................................................................... Abb. 26 b Gewinne 1850–1910 ..................................................................... Abb. 26 c Debitoren-/Creditorenentwicklung 1850–1910 ............................ Abb. 27 Entwicklung Akzepte und Wechsel 1850–1890 ........................... Abb. 28 Aufbau des Bankhauses von der Heydt-Kersten & Söhne um 1890 ........................................................................................ Abb. 29 Entwicklung Eigenkapitalanteile Daniel Heinrich von der Heydt und C.G. Wever ............................................................................ Abb. 30 Gegenüberstellung der Eigenkapitalakkumulation der drei Brüder 1822–1881 .................................................................................... Abb. 31 Heirats- und Verkehrskreise der Familie von der Heydt 1794–1919 .................................................................................... Abb. 32 Kapitalakkumulation und Prae-mortem-Transferstruktur im Generationenverlauf in Abhängigkeit der Jahre als Gesellschafter ................................................................................ Abb. 33 Eigenkapitalrenditen im Bankhaus von der Heydt 1803–1910 .... Abb. 34 a Bilanzsumme und Eigenkapital A. Bagel 1880–1936 .................. Abb. 34 b Gewinne A. Bagel 1880–1920 ...................................................... Abb. 35 Heirats- und Verkehrskreise der Familie Bagel 1800–1932 .........

13

231 231 231 232 246 246 246 253 257 265 272 279

282 285 311 312 339

ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS AHGB AfS AG BIOS C. C. CC EuV FBR GuV GG IfM HBR H&C HGB HP & Cie HRG HWFü HZ JW & S KG KGaA KVM OHG p. Ct. phG Rth. RWWA SozSys vdH-K & S ZBGV zfo ZUG

Allgemeines Handelsgesetzbuch Archiv für Sozialgeschichte Aktiengesellschaft Zeitschrift für Biografieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalyse Code Civil Code de Commerce Eigentum und Verfügung Family Business Review Gewinn und Verlust Geschichte und Gesellschaft Institut für Mittelstandsforschung Harvard Business Review Hardt & Co Handelsgesetzbuch Hardt, Pocorny & Cie Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte Handwörterbuch der Unternehmensführung und Organisation Historische Zeitschrift Johann, Wülfing & Sohn Kommanditgesellschaft Kommanditgesellschaft auf Aktien Archiv des Künstlervereins Malkasten Offene Handelsgesellschaft preußisch Courant persönlich haftender Gesellschafter Reichsthaler Rheinisch-Westfälisches Wirtschaftsarchiv Soziale Systeme – Zeitschrift für soziologische Theorie von der Heydt-Kersten & Söhne Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins Zeitschrift Führung + Organisation Zeitschrift für Unternehmensgeschichte

1. EINLEITUNG 1.1 PROBLEMSTELLUNG, FORSCHUNGSLEITENDE FRAGE UND ZIEL DER ARBEIT Bei der unternehmerischen Nachfolge handelt es sich um eines der zentralen Themen, die bei der Existenzsicherung von Familienunternehmen eine Rolle spielen. 1. Einleitung

1.1 Problemstellung, forschungsleitende Frage und Ziel der Arbeit

1.1.1 Familienunternehmen im Bergischen Land Die vorliegende Arbeit befasst sich mit drei Familienunternehmen, in deren Entwicklungsgeschichte die Verbindung von Familie und Unternehmen über zahlreiche familiäre Generationen vom späten 18. Jahrhundert bis in das beginnende 20. Jahrhundert Bestand hatte. Was macht die Bedeutung von Familienunternehmen aus? Makroökonomisch betrachtet leisten sie in ihrem kontinuierlichen Bestehen einen regional-/volkswirtschaftlichen1 bzw. in früheren Jahrhunderten ihren regionalökonomischen Beitrag hinsichtlich Wertschöpfung, Bereitstellung von Arbeitsplätzen und Marktversorgung.2 1

2

Vgl. zur volkswirtschaftlichen Bedeutung von Familienunternehmen Toni Pierenkemper: Unternehmensgeschichte: Eine Einführung in ihre Methoden und Ergebnisse (Grundzüge der modernen Wirtschaftsgeschichte 1), Stuttgart 2000, S. 112; Rudolf Wimmer/Ernst Domayer/Margrit Oswald u. a.: Familienunternehmen – Auslaufmodell oder Erfolgstyp, Wiesbaden 2005, S. 12 f.; zu Wachstum auf Basis flexibler Spezialisierung in regionalen Clustern im sog. „Dritten Italien“ vgl. Michael J. Piore/Charles F. Sabel: Das Ende der Massenproduktion. Studie über die Requalifizierung der Arbeit und die Rückkehr der Ökonomie in die Gesellschaft, Berlin 1985, S. 36 f.; Michael Fritsch: Die Bedeutung des kleinbetrieblichen Sektors für die Regionalpolitik, in: Johannes Berger/Volker Domeyer/Maria Funder (Hg.): Kleinbetriebe im wirtschaftlichen Wandel (Reihe des Forschungsschwerpunktes „Zukunft der Arbeit“ 7), Frankfurt/New York 1990, S. 241–268, S. 255; Sidney Pollard: Einleitung, in: ders. (Hg.): Region und Industrialisierung. Studien zur Rolle der Region in der Wirtschaftsgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 42), Göttingen 1980, S. 11–30, S. 12. Vgl. zum ökonomischen Beitrag der Familienunternehmung, insb. für das frühe 19. Jahrhundert, Pierenkemper: Unternehmensgeschichte (2000), S. 112; ders., zur Finanzierung von industriellen Unternehmensgründungen im 19. Jahrhundert – mit einigen Bemerkungen zur Bedeutung der Familie, in: Dietmar Petzina/Wilfried Feldenkirchen (Hg.): Zur Geschichte der Unternehmensfinanzierung (Schriften des Vereins für Socialpolitik, Neue Folge 196), Berlin 1990, S. 69–98, S. 70; Peter Coym: Unternehmensfinanzierung im frühen 19. Jahrhundert – dargestellt am Beispiel der Rheinprovinz und Westfalens, Diss. Hamburg 1971, S. 38; Toni Pierenkemper: Zum regionalen Ansatz in der Wirtschaftsgeschichte, in: Ulrich Heß/Petra Listewnik/Michael Schäfer (Hg.): Unternehmen im regionalen und lokalen Raum, 1750–2000 (Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte Sachsens 5), Leipzig 2004, S. 19–34,

18

1. Einleitung

Die Untersuchung konzentriert sich in einer regionalökonomischen Perspektive auf das Bergische Land als eine frühe Region der Industrialisierung in Deutschland. Es verfügt traditionell über einen hohen Bestand von Familienunternehmen und ermöglicht somit, die wirtschaftliche Trägerrolle von Familienunternehmen vom frühen Unternehmertum über ihre Dominanz als Unternehmensform bis zu ihrer komplementären Stellung neben dem Großunternehmen nachzuvollziehen.3 Im Untersuchungszeitraum des späten 18. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert werden drei Familien – Hardt, Bagel und von der Heydt-Kersten – und ihre Unternehmen als Fallbeispiele vorgestellt und untersucht. Den Hardts gehörten drei Unternehmen: das Textilunternehmen Johann Wülfing & Söhne aus Lennep, das Handelshaus für Textilien Hardt & Co und die Spinnerei Pokorny & Cie. Die Familie Bagel stammte ursprünglich aus Wesel und siedelte in der zweiten Generation in das Untersuchungsgebiet um, besitzt ein Verlagshaus, eine Druckerei und Papierfabrik. Das dritte Beispiel zeigt das Bankhaus von der Heydt-Kersten & Söhne aus Elberfeld. Über alle ist ausreichend Quellenmaterial zugänglich.

1.1.2 Unternehmensnachfolge Die Untersuchung fokussiert die familieninterne Nachfolge und den Nachfolgeprozess in Familienunternehmen mit den Problemen, die sich aus personellen Zäsuren in der Unternehmensführung ergeben. Das Institut für Mittelstandsforschung Bonn geht davon aus, dass 71.000 deutsche Familienunternehmen jährlich vor der Frage der Betriebsübergabe stehen. Diese Zahlen, obgleich davon abhängig, wie man Familienunternehmen definiert, enthalten sowohl die in den ersten Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg gegründeten als auch jene, denen es gelungen ist, länger als ein halbes Jahrhundert am Markt zu bestehen.4

3

4

S. 29 f.; Rainer Fremdling/Toni Pierenkemper/Richard H.Tilly: Regionale Differenzierung in Deutschland als Schwerpunkt wirtschaftshistorischer Forschung, in: Rainer Fremdling (Hg.): Industrialisierung und Raum. Studien zur regionalen Differenzierung im Deutschland des 19. Jahrhunderts (Historisch-sozialwissenschaftliche Forschungen 7), Stuttgart 1979, S. 9–26, S. 11 f. Vgl. Stefan Gorißen: Bergisch-märkische Kaufleute: Handels- und Verwandtschaftsnetze im 18. Jahrhundert, in: ZBGV 99 (1999/2001), S. 43–69, S. 44; Wieland Sachse: Familienunternehmen in Wirtschaft und Gesellschaft. Ein historischer Überblick, in: ZUG 36 (1991), S. 9– 25, S. 14. Zu den Schätzungen der Anzahl der Unternehmensübergaben von Familienunternehmen in Deutschland auf Basis der Umsatzsteuerstatistik von 1996 vgl. IfM Bonn (Hg.): Unternehmensnachfolge in Deutschland, Bonn 2001. Neben den Zahlen für ganz Deutschland liegen auch Zahlen für die Hansestadt Hamburg vor. Sowohl Neuberechnungen für 2004 für die BRD als auch eine Studie für die Stadt Hamburg sind verfügbar. Den Berechnungen des IfM Bonn liegt eine Definition des Familienunternehmens als inhabergeführtes Unternehmen, in dem Eigentum und Leitung in den Händen der Familie liegen, zugrunde. Kleinstunternehmen mit einem Umsatz unter 50.000 Euro wurden in keiner der Untersuchungen erfasst. Zu einer weiteren Statistik, die Hochrechnung der Unternehmensübergaben behandelt, vgl. Sabine B.

1.1 Problemstellung, forschungsleitende Frage und Ziel der Arbeit

19

Die Brisanz der Nachfolgeregelung in Familienunternehmen – mit Scheitern oder Fortbestehen – ergibt sich, sowohl in historischer als auch zeitgenössischer Perspektive, aus der makroökonomischen Bedeutung. Mikroökonomisch ist sie ebenso bedeutsam, denn Erfolg oder Misserfolg von Unternehmen sind entscheidend an die Unternehmensführung geknüpft. Somit stellt eine personelle Zäsur immer auch eine diesbezügliche Weichenstellung für das Marktbestehen dar.5 Zudem hängt von der Weiterführung die Sicherung der wirtschaftlichen Existenzbasis der Unternehmerfamilie ab. Dieses Argument gilt insbesondere für kleinere Familienunternehmen, da Familien, die hinter Großunternehmen wie z. B. Henkel stehen, wirtschaftlich abgesichert sind.6

1.1.3 Erfolgreiche Nachfolgestrategien Rose/Jones (1993) konstatieren in Bezug auf das Familienunternehmen: „The most serious potential problems focus about the matter of succession.“ 7 Genannt als häufigste Gründe für das Scheitern von Unternehmensnachfolgen bzw. von Familienunternehmen werden heute einerseits weiche Faktoren wie familiäre Konflikte oder eine mangelnde Bereitschaft, als Nachfolger tätig zu werden. Andererseits sind es auch harte Faktoren: Es gibt keine Nachfolgeregelung, vernachlässigt wurde die Eigner- und langfristige Finanzierungsstrategie8 und als betriebswirtschaftliche Unterlassungen sind Investitionen in Produkte, Märkte und technische Anlagen zu nennen.9

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Klein: Familienunternehmen. Theoretische und empirische Grundlagen, Wiesbaden 2004. Als ältere Studie sei genannt: Horst Albach/Werner Freund: Generationswechsel und Unternehmenskontinuität – Chancen, Risiken, Maßnahmen. Eine empirische Untersuchung bei Mittelund Großunternehmen, Gütersloh 1989. Vgl. zur Bedeutung der Unternehmensführung für Familienunternehmen Roland Bertsch: Die industrielle Familienunternehmung: Ein Überblick über ihre Bedeutung und ihre Hauptprobleme, unter besonderer Berücksichtigung der Finanzierung und Führung, Diss. St. Gallen 1964, S. 80. In Zeiten der vorindustriellen und frühen Phase der Industrialisierung, in denen die Familie mehr als heute als Arbeitsgemeinschaft tätig war, besitzt dieses Argument stärkeres Gewicht. Vgl. Jürgen Kocka: Familie, Unternehmer und Kapitalismus, in: Heinz Reif (Hg.): Die Familie in der Geschichte, Göttingen 1982, S. 163–186. Vgl. Geoffrey Jones/Mary B. Rose: Family Capitalism, in: dies. (Hg.): Family Capitalism (Studies in Business History), London 1993, S. 4. Vgl. zu Gründen des Scheiterns von Nachfolgen in Familienunternehmen Anna Mayer: Als wär’s ein Stück von mir – Die emotionale Seite der Unternehmernachfolge (Organisationsentwicklung, Spezialhefte 3), München 1999, S. 36–43; Harry S. Levinson: Conflicts That Plague Family Businesses, in: HBR 49,1 (1971), S. 90–98; Europäische Kommission (Hg.): 2. Abschlussbericht der Sachverständigengruppe zur Übertragung von kleinen und mittleren Unternehmen, Luxemburg 2002, S. 12; zu fehlenden Nachfolgeregelungen vgl. Albach/ Freund: Generationswechsel (1989), S. 185 f. Vgl. zu Gründen des Scheiterns Andrea Colli: The History of Family Business (New Studies in Economic and Social History 47), 1850–2000, Cambridge 2003; Klein: Familienunternehmen (2004), S. 319, 325; Axel Goehler: Der Erfolg großer Familienunternehmen im fort-

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1. Einleitung

Nach wissenschaftlich führender Auffassung von Klein (2004), kann „ein Unternehmen […] leichter einen nicht optimalen Nachfolger als einen Erbfolgekrieg verkraften“10. Folgt man ihr, sind zwei Bedingungen elementar für eine erfolgreiche Nachfolgestrategie: Zum einen sind es die Rekrutierung und der Aufbau eines Nachfolgekandidaten, der unternehmerischen Aufgaben gewachsen ist und das Unternehmen durch politische, ökonomische und familiäre Krisen zu steuern vermag. Zum anderen sollte die Vermögensseite geregelt sein, nämlich die Verteilung zwischen Familie und Unternehmen und innerhalb der Familie. Eine erfolgreiche Strategie nimmt sowohl die Unternehmenskontinuität als auch die Kontinuität der Familie als Ressource in den Blick. Soll das Unternehmen langfristig im Besitz der Eignerfamilie verbleiben und diese sich nicht in familiären Streitigkeiten zerreiben, ist es vermittels Regelungen der Vermögensnachfolge notwendig, ein kurzfristiges Ausschlachten, den Abzug von Finanzierungsmitteln oder den Verkauf von Anteilen zu verhindern, um den ökonomischen Nutzwert von Familienunternehmen nicht zu untergraben.

1.1.4 Fragestellung und Ziel der Arbeit Der Analyse des Themas „Nachfolge in Familienunternehmen im Bergischen Land im Zeitraum des späten 18. Jahrhunderts bis zum beginnenden 20. Jahrhundert“ liegt als forschungsleitende Frage zugrunde: Wie gelang es der Familie als Institution durch Nachfolgestrategien die Unternehmensnachfolge ökonomisch erfolgreich zu gestalten? Aus dieser forschungsleitenden Fragestellung ergeben sich drei Themenkomplexe, auf die ich mich in den nachfolgenden Ausführungen konzentrieren werde: – Erstens ist die personelle Ebene des Rekrutierungsproblems zu hinterfragen: Wie wurden potenzielle Unternehmensnachfolger aufgebaut und durch das familiärfreundschaftliche sowie geschäftliche Netzwerk unterstützt? – Zweitens schält sich der Bereich der rechtlichen Ebene heraus: Welche rechtlichen Maßnahmen wurden jeweils getroffen? – Drittens werden die Ebene der Finanzierung des Unternehmens bzw. der Unternehmensnachfolge und die Vererbung betrachtet: Wie wurden Finanzierung, Besitzund Vermögenstransfers gestaltet? geschrittenen Lebenszyklus: dargestellt am Beispiel der deutschen Brauwirtschaft, Diss. St. Gallen 1993, S. 58; Albach/Freund: Generationswechsel (1989), S. 156 f., 163, 180. 10 Klein: Familienunternehmen (2004), S. 83. Vgl. zu den oftmals vor Gericht ausgetragenen Streitigkeiten in der Milliardärsfamilie Herz, der Eigentümerin des Kaffee- und Handelskonzerns Tchibo „Tchibo-Familie streitet sich wieder“, in: Handelsblatt, 08.08.2007, „Bruderzwist in der Herz-Dynastie“, in: Handelsblatt, 03.07.2007; zu Erbstreitigkeiten zwischen Friede Springer und ihrem Stiefenkel vgl. Caspar Busse/Hans-Jürgen Jakobs: „Springer gegen Springer, High Noon in Hamburg“, in: Die Süddeutsche Zeitung, 19.01.2008; zu den Streitigkeiten aufgrund eines unwissentlich unterzeichneten Erb- und Pflichtteilverzichts in der Familie Fischer vgl. Carsten Dierig: „Zoff in der Dübel-Dynastie Fischer“, in: Die Welt, 04.07.2007.

1.2 Forschungsstand

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Das Vorhaben verfolgt das Ziel, die Entwicklung von Familienunternehmen, ihr Bestehen am Markt – über personelle Zäsuren und Ressourcenumverteilung hinweg – darzustellen, Erkenntnisse über mehrere Generationswechsel im Sinne eines „managing for the long run“11 zu generieren und Erfolgs- und Risikofaktoren für die Unternehmensnachfolge abzuleiten.

1.2 FORSCHUNGSSTAND Im Folgenden wird der Forschungsstand zu Familienunternehmen aus drei Perspektiven dargestellt – unternehmenshistorisch, wirtschaftswissenschaftlich und soziologisch –, um anschließend mit der Einordnung der Arbeit die Forschungslücke näher zu bestimmen. 1.2 Forschungsstand

1.2.1 Drei wissenschaftliche Zugänge zum Familienunternehmen: historisch, wirtschaftswissenschaftlich, soziologisch Aus unternehmensgeschichtlicher Perspektive fanden kleine und mittlere Familienunternehmen im Vergleich zu rein managergeführten Großunternehmen mit und ohne Familieneinfluss lange Zeit wenig Beachtung.12 In der historischen Betrachtung wurden bis vor Kurzem zwei Forschungsperspektiven gegenüber Familienunternehmen eingenommen. Die eine beschäftigte sich mit diesen Familienunternehmen als Träger der ersten Phase der industriellen Revolution. Ihre ökonomische Bedeutung für diese Zeit ist nach herrschender Meinung unbestritten13 und wird u. a. von Kocka (1982), Sachse (1991), Pierenkemper (2000) und Berghoff (2000) betont.14 Mit der Bedeutung von Familienun11 Vgl. hierzu Dany Miller/Isabelle Le Breton-Miller: Managing for the Long Run: Lessons in Competitive Advantage from Great Family Businesses, Boston 2005, S. 7. 12 Vgl. zur Dominanz der Untersuchung der Entwicklung von Großunternehmen in der unternehmensgeschichtlichen Forschung Paul Erker: Aufbruch zu neuen Paradigmen. Unternehmensgeschichte zwischen sozialgeschichtlicher und betriebswirtschaftlicher Erweiterung, in: AfS 37 (1997), S. 321–365, S. 325 f.; Sachse: Familienunternehmen (1991), S. 11 f.; sowie Herbert Matis/Dieter Stiefel: Das Haus Schenker. Die Geschichte der internationalen Spedition, Wien 1995, S. 7. 13 Vgl. Pierenkemper: Unternehmensgeschichte (2000), S. 112; zur Fähigkeit der Unsicherheitsabsorption von Familienunternehmen vgl. Wimmer/Domayer/Oswald: Erfolgstyp (2005), S. 105. 14 Vgl. Jürgen Kocka: Familie (1982), S. 164; Sachse: Familienunternehmen (1991), S. 9–25, S. 14; Pierenkemper: Unternehmensgeschichte (2000), S. 112 sowie Hartmut Berghoff: Historisches Relikt oder Zukunftsmodell? Kleine und mittelgroße Unternehmen in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, in: Dieter Ziegler (Hg.): Großbürger und Unternehmer. Die deutsche Wirtschaftselite im 20. Jahrhundert (Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte 17), Göttingen 2000, S. 249–282, S. 253. Boch weist auf die vor 1914 beginnenden demografischen Probleme der Familienunternehmen hin. Vgl. Rudolf Boch: Unternehmensnachfolge in Deutschland – Ein historischer Rückblick, in: ZUG 44 (1999), S. 164–171, S. 164. Für England vgl. z. B. Peter. L Payne: Family Business in Bri-

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1. Einleitung

ternehmen unter institutionellen Rahmenbedingungen dieser Phase beschäftigt sich Kocka (1975, 1999).15 Die andere Perspektive rückt das Familienunternehmen als Anachronismus gegenüber dem Großunternehmen, aber als dessen Ausgangspunkt ins Auge des Betrachters. Anknüpfend an die Ära des Managerkapitalismus sah man die Unternehmensform Familienunternehmen gegenüber Publikumsgesellschaften/Großunternehmen als wenig effizient an. Die Thesen Chandlers aus den 1970er und frühen 1980er Jahren trugen maßgeblich zu dieser Sichtweise bei.16 Die Aussage des frühen chandlerschen Evolutionsmodells, in denen sich ein Familienunternehmen stets nur als eine Stufe auf dem Weg zu einer Publikumsgesellschaft einreiht, wurde zuletzt von Harold James (2005) aufgegriffen. Die Absolutheit der Stufenfolge vom „personal enterprise“ über das „entrepreneurial“ zum „managerial enterprise“ wurde von James erneut widerlegt.17 Erker (1997) nennt als mögliche Gründe für das Interesse am „big business“ auf der einen Seite den besseren Quellenzugang bei Großunternehmen, auf der anderen Seite die Dominanz der Thesen Chandlers in der Unternehmensgeschichte. „Die Entwicklung der Klein- und Mittelbetriebe weist“ nach Erker (1997) „ein Muster zyklischen Auf- und Abstiegs, eine Dynamik von Konsolidierung und Desintegration auf, das dem linearen Dreistufenmodell Chandlers hinsichtlich der Entwicklung unternehmensorganisatorischer Strukturen widerspricht“.18 Eine ähnliche Meinung vertritt Pierenkemper (2000), der die Lesart Chandlers für die Entwicklung von Familienunternehmen für Deutschland als nicht zutreffend ansieht. Zudem mangele es ihr an Erklärungen für das Weiterbestehen von Familienunternehmen bis in die heutige Zeit hinein.19

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tain: An Historical and Analytical Survey, in: Akio Okochi/Shigeaki Yasnoka (Hg.): Family Business in the Era of Industrial Growth: Its Ownership and Management (Proceedings of the Fuji Conference, Tokyo), Tokyo 1984, S. 171–205, S. 171. Die Startup Failure Rate von 1992–2002 betrug in den USA nach fünf Jahren 55 %, nach 10 Jahren noch 71 %. Vgl. hierzu Scott A. Shane: The Illusions of Entrepreneurship: The Costly Myths that Entrepreneurs, Investors and Policy Makers Live By, New Haven 2007, S. 113. Vgl. Jürgen Kocka: Unternehmer in der deutschen Industrialisierung, Göttingen 1975, insb. S. 19 f.; ders.: Industrial Culture and Bourgeois Society. Business, Labor, and Bureaucracy in Modern Germany, New York/Oxford 1999. Vgl. Alfred D. Chandler: The Visible Hand. The Managerial Revolution in American Business, Cambridge 1978, S. 3 f. Ebenfalls von einer dreistufigen Stages Theory geht z. B. Bruce R. Scott: Stages of Corporate Development, Boston 1971, S. 4, aus. James relativiert anhand seiner Beispiele Haniel, de Wendel und Falck die Konvergenzthese Chandlers, da ein in eine Publikumsgesellschaft überführtes Familienunternehmen als Stadium abgelöst werden kann. Dies lässt sich bei James z. B. für den Fall des Duisburger Stahlunternehmens Haniel nachvollziehen. Die Bedeutung des Familienkapitalismus wird für das frühe 19. Jahrhundert erneut betont. Zur Kritik an der fehlenden vergleichenden Darstellung vgl. Christian Kleinschmidt: Rezension zu: Harold James, Familienunternehmen. Vgl. Erker: Paradigmen (1997), S. 325 f. Kritisch zur Gültigkeit des chandlerschen Evolutionsmodells aufgrund des Weiterbestehens von Familienunternehmen für Deutschland vgl. Pierenkemper: Unternehmensgeschichte (2000), S. 110.

1.2 Forschungsstand

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Trotz des Weiterbestehens von Familienunternehmen zeichnete die betriebswirtschaftliche Literatur lange Zeit ein düsteres Bild über die Zukunft von Familienunternehmen. Albach/Freund (1989) nennen in diesem Zusammenhang die Krisenanfälligkeit von Familienunternehmen durch den immanenten Risikofaktor der Unternehmerfamilie, die häufig als Auslöser von Unternehmenskrisen fungiert, die hohe Zentrierung auf die Person des Eigners, das Festhalten an überkommenen Traditionen und die Problematik der familieninternen Nachfolge.20 Goehler (1993) zeichnet mit seiner Untersuchung von Familienunternehmen aus der Brauereiwirtschaft einen differenzierten Entwurf dieser Betriebe im fortgeschrittenen Lebenszyklus und zeigt, dass in einer bestimmten Konstellation von Umfeld und Organisation große Familiengesellschaften durchaus in der Lage sind, weit überdurchschnittliche Ergebnisse im Wettbewerb mit anonymen Gesellschaften zu erzielen. Ihr Erfolg hängt von einem unternehmensspezifischen Lebenszyklus mit dem des jeweiligen Marktes ab.21 Ein anderes Bild als Albach/Freund, wenn auch nicht repräsentativ, vom Familienunternehmen zeichnet Hermann Simon (1998/2007) für die sogenannten „hidden champions“, die mittelständischen Nischenanbieter, die sich als Weltmarktführer in ihrer Marktnische behaupten können.22 Im Schatten der immer wieder neu entfachten Debatten um Effizienz und Konvergenz und die Zukunft des Familienunternehmens rückten Definitionsfragen und Charakteristiken von Familienunternehmen ins Zentrum des wissenschaftlichen Interesses.23 Die Rezeption des Familienunternehmens verlagerte sich von der traditionellen Sichtweise des Familienunternehmens als Anachronismus in der Zeit der vertikal integrierten Großunternehmen hin zu einer differenzierteren Betrachtung.24 Aktuell wird das Familienunternehmen als Unternehmensform inner20 Vgl. Albach/Freund: Generationswechsel (1989), S. 1–50, 263; Horst Albach: Hat das Familienunternehmen eine Zukunft?, in: ders./Andreas Pinkwart (Hg.): Gründungs- und Überlebenschancen von Familienunternehmen. (Zeitschrift für Betriebswirtschaft, Ergänzungsheft 5), Wiesbaden 2002, S. 163 f. 21 Vgl. Goehler: Erfolg (1993), S. 316. 22 Vgl. Hermann Simon: „Hidden Champions des 21. Jahrhunderts. Die Erfolgsstrategien mittelständischer Weltmarktführer“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 204, 03.09.2007; Hermann Simon: Hidden Champions des 21. Jahrhunderts. Die Erfolgsstrategien mittelständischer Weltmarktführer, Frankfurt/Main 2007. Die „hidden champions“ des 21. Jahrhunderts sind nach Simon Unternehmen, die, bezogen auf den Weltmarktanteil, die ersten Plätze einnehmen. Simon geht in Deutschland, Österreich und der Schweiz von 1.000 Unternehmen dieser Art aus, deren Umsatz weniger als drei Millarden Euro beträgt. Zu der Vorläuferstudie vgl. ders.: Die heimlichen Gewinner: die Erfolgsstrategien unbekannter Weltmarktführer Hidden champions, Frankfurt/Main 1998; zur Kritik an der Untersuchung von 1998, die auf der Basis von Eigenangaben von Unternehmen beruht und keine klare Definition der betrachteten Marktsegmente vorgibt, vgl. Berghoff: Relikt (2000), S. 265. 23 Zu einer groben zeitlichen Abfolge des wissenschaftlichen Interesses an Familienunternehmen vgl. Colli: Family Business (2003), S. 22. 24 In der traditionellen Sichtweise werden bei der Entwicklung vom Familien- zum Managerunternehmen die Stufen „personal enterprise“, „entrepreneurial enterprise“ und „managerial enterprise“ unterschieden. Zur Qualifizierung des Familienunternehmens als Anachronismus in der traditionellen Sichtweise vgl. Colli: Family Business (2003), S. 9.

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1. Einleitung

halb des Spektrums von Auslaufmodell und Erfolgstyp wie bei Wimmer (2005) diskutiert.25 So weist Colli (2003) explizit darauf hin, dass sich für beide Auffassungen – das Familienunternehmen als rückschritt- oder fortschrittlich agierendes Unternehmen – Beispiele und Gegenbeispiele finden lassen.26 Einen Impuls, der zum Umdenken in puncto Effizienz und Existenzberechtigung von Familienunternehmen und Neubewertung derselben führte, gab ebenfalls die Neue Institutionenökonomik seit den 1980er Jahren.27 Als nützliche Erklärungskonzepte für den Bestand von Familienunternehmen, auch im Rahmen eines Mixes mehrerer Ansätze, sehen Colli (2003), Casson (2000), Pierenkemper (2000) und Rose (1999) die Theorie der Transaktionskosten, das EmbeddednessKonzept sowie die Evolutionstheorie an.28 So konnte Fukuyama (1996) zeigen, dass in Gesellschaften oder Gegenden, in denen traditionell ein hohes Misstrauen bzw. ein geringer Grad an Vertrauen gegenüber Fremden herrschte, das Familienunternehmen zu den bevorzugten Unternehmensformen gehört, so z. B. in Süditalien und China.29 Neben weiteren kulturalistischen Betrachtungen, die Klein- und Mittelbetriebe als „soziokulturelles Regel- und Wertesystem“ in das Betrachtungsfeld30 rücken, stellt die Frage nach der Definition für Familienunternehmen ein zentrales Thema in der Forschungsliteratur dar. Ein Überblick über formale Begriffsbestimmungen für die Untersuchung heute existierender Familienunternehmen findet sich bei Neubauer/Lank (1998).31 Klein (2004) schlägt zur Qualifizierung eines Unter-

25 Vgl. zu einer Stärken-/Schwächen-Analyse von Familienunternehmen Wimmer/Domayer/Oswald: Erfolgstyp (2005), S. 6 f.; Berghoff: Relikt (2000), S. 254. Bei den Stärken werden die Kundenorientierung, die hohe Identifikation der Mitarbeiter und die Kreativität, Risiko- und Leitstungsbereitschaft der Familie, aber auch mangelnde Investitionsbereitschaft bei Unternehmern höheren Alters genannt. 26 Vgl. Colli: Family Business (2003), S. 9. 27 Vgl. Colli: Family Business (2003), S. 23. 28 Vgl. Colli: Family Business (2003), S. 24; Mark Casson: Enterprise and Leadership: Studies on Firms, Markets and Networks, Cheltenham/Northhampton 2000, S. 204 f.; Mary B. Rose: Networks, Values and Business: The Evolution of British Family Firms from the Eighteenth to the Twentieth Century in: Entreprise et Histoire 22 (2000), S. 16–30; Mark Granovetter: Economic Action and Social Structure: The Problem of Embeddedness, in: ders./Swedberg, Richard (Hg.): The Sociology of Economic Life, Boulder 1992, S. 53–81. Die Bedeutung des Aufbaus von frühen Konzernen im Fernhandel über familiäre Netzwerke erwähnen Hartmut Berghoff/Jörg von Sydow: Einleitung: Unternehmerische Netzwerke und historische Erfahrungen, in: dies. (Hg.): Unternehmerische Netzwerke: eine historische Organisationsform mit Zukunft, Stuttgart 2007, S. 9–44, S. 18 f. Zum Methodenmix als Erfolg versprechende Herangehensweise bezüglich der Erklärung wirtschaftsgeschichtlicher Phänomene vgl. Pierenkemper: Unternehmensgeschichte (2002), S. 80. 29 Vgl. Francis Fukuyama: Konfuzius und Marktwirtschaft. Der Konflikt der Kulturen, München 1993, S. 109 f., 125 f. 30 Vgl. Berghoff: Relikt (2000), S. 267; Sabine Klein: Der Einfluss von Werten auf die Gestaltung von Organisationen (Wirtschaftspsychologische Schriften 12), Berlin 1991. 31 Vgl. zu einem Überblick diverser Definitionen bei Fred Neubauer/Alden G. Lank: The Family Business: its Governance for Sustainability, London 1998, S. 172; zu einer Präsentation

1.2 Forschungsstand

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nehmens als dem Typus Familienunternehmen zugehörend eine Skala vor. So deckt die F-PEC-Skala (Family Influence on Power, Experience, and Culture) verschiedene Varianten von Familienunternehmen, abhängig von den Faktoren Macht/Eigentum, Governance und Führungsbeteiligung, ab.32 Im Rahmen einer weiten Definition sprechen Wimmer/Domayer/Oswald (2005) von Familienunternehmen immer dann, „wenn sich eine Wirtschaftsorganisation im Eigentum einer Familie oder eines Familienverbandes befindet und diese deshalb einen bestimmenden Einfluss auf die Entwicklung des Unternehmens nehmen kann.“33 Eine Definition, die sich an den qualitativen Merkmalen „kinship“, „ownership“, „control“ in einer vergleichenden historischen Untersuchung von Familienunternehmen orientiert, wählt Arnoldus (2002).34 Colli (2003) zeigt in seinem historischen Überblick über Familienunternehmen für den Zeitraum 1850–2000 u. a. die Schwierigkeit der Definition in einer residuellen Perspektive zu Managerunternehmen. Er knüpft diesbezüglich an qualitative (z. B. Rechtsform und Sektoren) und quantitative (z. B. Größe gemessen an der Mitarbeiterzahl oder Umsatz) Merkmale an. Colli legt sich nicht auf eine bestimmte Definition fest, da nach seiner Meinung der unterschiedliche zeitliche, geografische und institutionelle Kontext oder ein bestimmtes Set von Rahmenbedingungen eine individuelle, der Untersuchung angepasste Definition erfordert.35 Mit strukturellen Besonderheiten der Unternehmensform Familienunternehmen – dem Zusammenwirken von Familie und Unternehmen – beschäftigen sich soziologische Untersuchungen wie die von Büttner (2007) und in einer soziologischsystemischen Zugangsweise in der Managementliteratur Simon (1999a, 1999b,

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von 74 Definitionen vgl. Armin Pfannenschwarz: Nachfolge und Nicht-Nachfolge im Familienunternehmen, Heidelberg 2006. Vgl. Klein: Familienunternehmen (2004), S. 17. Die Dimensionen Erfahrung und Kultur waren in der Skala von 2004 noch nicht formuliert. Sabine B. Klein/Joseph. H. Astrachan/Kosmans X. Smyrnios: The F-PEC Scale of Family Influence: Construction, Validation, and further Implication for Theory: Manuskript präsentiert auf der 3rd Conference on Theories for the Family Enterprise: Search for a paradigm: 10.–12. December 2003, University of Calgary, Canada 2003. Zur Definition des Familienunternehmens vgl. Wimmer/Domayer/Oswald: Erfolgstyp (2005), S. 6; Rudolf Wimmer: Art. Familienunternehmen, in: Georg Schreyögg/Axel von Werder (Hg.): Handwörterbuch der Führung (Enzyklopädie der Betriebswirtschaftslehre, Bd. 2), Stuttgart 2004, Sp. 267–275. Vgl. Doreen Arnoldus: Family, Family Firm and Strategy: Six Dutch Family Firms in the Food Industry 1880–1970, Diss. Amsterdam 2002; zu der Frage der Eigentümerschaft, die auch partiell der Familie zugeordnet sein kann, und dem Merkmal der Kontrolle, das in Verknüpfung zum Management zu sehen ist, vgl. S. 19 f. Zu quanti- und qualitativen Definitionsmerkmalen vgl. Colli: Familiy Business (2003), S. 8 f. Vgl. zu einer Definition des Familienunternehmens als „classic family firm“, die in der Nähe des „personal enterprise“ von Chandler rangiert, Colli: Familiy Business (2003), S. 9; Sachse: Familienunternehmen (1991), S. 1; zu „personal enterprise“, „entrepreneurial enterprise“ als die ersten beiden Stufen im chandlerschen Entwicklungsmodell vgl. Chandler: Visible Hand (1978), S. 3 f.

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1. Einleitung

2005) und Simon/Wimmer/Groth (2005).36 In einer soziologisch-modernisierungstheoretischen Argumentation stellt Büttner (2007) fest, dass es sich bei Familienunternehmen der heutigen Zeit im Licht der soziologischen Leitbegriffe „funktionale Differenzierung“ und „Individualisierung“ um einen Anachronismus handelt.37 Er betont wie auch Simon/Wimmer/Groth (2005) und Simon (2002) die diametralen Handlungslogiken, denen die Mitglieder des Familienunternehmens sowohl inter- und intrapersonell unterworfen sind und die sich wechselseitig hemmen können.38 Den hybriden Charakter der Unternehmerfamilien als System zwischen „Gefühl und Geschäft“ konstatiert Simon (2002) unter Rekurs auf das Drei-KreisModell und mittels rollentheoretischer Herangehensweise.39 Dieses dem Familienunternehmen immanente Dilemma, dass der wechselseitige Bezug von Familie und Unternehmen Chancen, wie die von Schäfer (2007) postulierte familiäre Sinnstiftung, aber auch Konflikte hervorrufen kann, greifen Simon/Wimmer/ Groth (2005) mit dem Konzept der Paradoxie auf. In ihrer Studie über erfolgreiche Mehr-Generationen-Familienunternehmen wie Haniel, Oetker, Merck und Freudenberg fassen Simon/Wimmer/Groth (2005) die Erfolgsgeheimnisse der langlebigen Familienunternehmen mit dem Konzept des Paradoxienmanagements. Dies besagt, sich in herausfordernden Situationen wie z. B. der Unternehmensnachfolge klar für die Logik der Ökonomie oder für die der Familie zu entscheiden – eine Strategie, die konträr zum hybriden Charakter des Familienunternehmens liegt.40 Der betrachtete Themenzugang verweist auf den Paradigmenwechsel in der Betrachtung von Familienunternehmen, von der Erfassung als Zwischenschritt in einer linearen Abfolge hin zu den strukturellen Besonderheiten, vor deren Hintergrund die Weichenstellung einer Unternehmerfamilie für die Kontinuität des Familienunternehmens betrachtet werden kann.

36 Vgl. Fritz B. Simon: Organisationen und Familien als soziale Systeme, in: SozSys 5 (1999), S. 181–200; ders.: Familien, Unternehmen und Familienunternehmen. Einige Überlegungen zu Unterschieden, Gemeinsamkeiten und den Folgen, in: Organisationsentwicklung, Spezialhefte 3 (1999), S. 16–23. 37 Vgl. Philip Büttner: Die Bindungskraft des Familienunternehmens. Eine soziologische Untersuchung seiner Bestandsvoraussetzungen und intergenerationalen Kontinuität, Saarbrücken 2007, S. 7 f., 11. 38 Vgl. Büttner: Bindungskraft (2007), S. 8. 39 Vgl. zu einer Darstellung des Drei-Kreis-Modells in Fritz B. Simon/Rudolf Wimmer/Torsten Groth: Mehr-Generationen-Familienunternehmen. Erfolgsgeheimnisse von Oetker, Merck, Haniel u. a., Heidelberg 2005, S. 92 f. 40 Zu Paradoxienmanagement vgl. Simon/Wimmer/Groth: Mehr-Generationen (2005), insb. S. 27 f., 150 f.; Paul Erker: Das Logistikunternehmen Dachser: die treibende Kraft der Familie als Erfolgsfaktor im globalen Wettbewerb, Frankfurt/Main 2008, S. 14 f., zu familiärer Sinnstiftung vgl. Michael Schäfer: Familienunternehmen und Unternehmerfamilien: zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der sächsischen Unternehmer 1850–1940 (Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 18), München 2007.

1.2 Forschungsstand

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1.2.2 Die Unternehmensnachfolge aus der Perspektive der Rechtshistorie, des Vermögens und der Familie Während die rechtliche Perspektive der Unternehmensnachfolge (sowohl erb- als auch handelsrechtlich) mit ihren steuerrechtlichen Konsequenzen und Finanzierungsmöglichkeiten im Generationenwechsel in der betriebswirtschaftlichen, juristischen und steuerrechtlichen Forschungs- und Ratgeberliteratur vielfach thematisiert wird, finden sich kaum historische Arbeiten zu diesem Thema.41 Die historische Forschung über das „Erbrecht und die Erbrechtssregelungen“ konzentrierte sich nach Gestrich (2003) „bisher vor allem auf ländliche Gesellschaften“42. Gut erforscht sind die Vererbung von Höfen in Gebieten des Anerbenrechts sowie die Auswirkungen des durch den Code Civil eingeführten Realteilungsrechts in Frankreich, durch das die Teilung bäuerlicher Güter erzeugt wurde.43 Auf die Bedeutung von Erbrechtsordnungen für historische Mentalitäten und die Herausbildung von gewerblichen, mittelständischen Strukturen infolge der Realteilungssitten in der Landwirtschaft weist Sackmann (2007) hin.44 Lauterbach/Lüscher (1995) fordern im Zuge des wachsenden Interesses der Soziologie des Vererbens und Erbens eine vermehrte empirische Untersuchung der Gestaltung von intergenerationalen Vermögenstransfers in Familien. Sie gehen davon aus, dass „Erben und Vererben […] konstitutiv für die soziale Logik der Beziehungen zwischen Generationen und auch die sich daraus ergebende Form der gesellschaftlichen Platzierung der Deszendenten“ ist. Für die heutige Zeit zei-

41 Zu Unternehmensnachfolge aus der Perspektive der Eigentumsübertragung durch Erbfolge und Verkauf vgl. Urs Spielmann: Der Generationenwechsel mittelständischer Unternehmungen bei Gründern und Nachfolgern, Diss. St. Gallen 1994, S. 218 f. Die Studie von Spielmann basiert auf problemzentrierten Interviews bei N = 26 Unternehmern. Zu älteren Arbeiten, die auf die Problematik der Finanzierung der Nachfolge eingehen vgl. Arend Oetker: Langfristige Finanzpolitik nicht emissionsfähiger Unternehmen, Diss. Köln 1967, S. 74 f.; Bertsch: Industrielle Familienunternehmung (1964), S. 158 f. 42 Vgl. Andreas Gestrich: Neuzeit, in: ders./Kai-Uwe Krause/Michael Mitterauer (Hg.): Geschichte der Familie (Europäische Kulturgeschichte 1), Stuttgart 2003, S. 364–652, S. 397 f. 43 Vgl. zu Anerbenrecht und zu Vererbung von bäuerlichen Betrieben in Frankreich Pierre Bourdieu: Boden und Heiratsstrategien, in: ders.: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/Main 1993, S. 264–287; Kocka: Familie (1982), S. 146. Ein genereller Überblick über Vererbung und Vererbungsmodi findet sich in Jack R. Goody: Marriage, Prestations, Inheritance, and Descent in Preindustrial Societies, in: Journal of comparative Family Studies 1 (1970), S. 37–54; ders.: Introduction, in: ders./Joan Thirsk/Edward P. Thompson (Hg.): Family and Inheritance. Rural Society in Western Europe, 1200–1800, Cambridge 1978, S. 1–9; zur Vererbung in Niedersachsen vgl. Lutz K. Berkner: Inheritance, Land Tenure and Peasant Family Structure: A German regional Comparision, in: Goody/Thirsk/ Thompson (Hg.): Family and Inheritance (1978), S. 71–95. 44 Gestrich sieht als generelle, über die Grenzen Frankreichs hinaus geltende Mentalität eine Gleichverteilung im Bürgertum, die z. B. auch in England zu finden war. Vgl. Andreas Gestrich: Neuzeit (2003), S. 399; Leonore Davidoff/Catherine Hall: Familiy Fortunes. Men and Women of the English Middle Class, 1780–1850, London 2002, S. 206; Reinhold Sackmann: Lebenslaufanalyse und Biografieforschung. Eine Einführung, Wiesbaden 2007, S. 191.

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1. Einleitung

gen sie den Einfluss von Immobilien-Erbschaften auf die soziale Mobilität im Lebenszyklus der Transferempfänger.45 In historischer Perspektive wurden sowohl Vermögenstransfers an die nächstfolgende familiäre Generation46 und ihre (rechtliche) Gestaltung als auch Transfers im Lebenszyklus der Familie über mehrere Generationen wenig untersucht.47 Im Rahmen der systematischen Analyse der Vererbungspraxis von bayerischen Unternehmern im Zeitraum von 1834–1914 wird von Schumann (1991) in einer komparativ angelegten Arbeit anhand von 105 Unternehmern gezeigt, dass bei den bayerischen Unternehmern die familiäre Harmonie in der Zielhierarchie des Unternehmers höher angesiedelt war als die Kapitalausstattung des designierten Nachfolgers, wobei zwischen der Vererbung an Söhne und Töchter kein Unterschied gemacht wurde.48 Als Studie über betriebliche Kontinuität, die sich als Teilaspekt dem Finanzierungsverhalten respektive den Erbmodalitäten in einem Längsschnitt über mehrere Generationen widmet, ist die Einzelfallstudie von Dünkel (2005) über das Remscheider Familienunternehmen Hasenclever zu nennen. Für den Zeitraum von 1786 bis 1870 wird das eingetretene Dilemma dargestellt: Es muss mit wachsendem Familienkreis zwischen den Alternativen, einen Teilhaber aufzunehmen oder Eigenkapital infolge von Erbfällen abzuziehen, gewählt werden.49 In einer regionalökonomisch angelegten komparativen Studie über Strategien von Familienunternehmen untersucht Arnoldus (2002) ein Sample

45 Vgl. Wolfgang Lauterbach/Kurt Lüscher: Neue und alte Muster des Erbens gegen Ende des 20. Jahrhunderts, Konstanz 1995, S. 4 f.; Wolfgang Lauterbach: Familiensystem und Vermögensübertragung. Zur Bedeutung einer Erbschaft für Erbe und Erblasser, in: Michael Wagner/Yvonne Schütze (Hg.): Verwandtschaft. Sozialwissenschaftliche Beiträge zu einem vernachlässigten Thema (Der Mensch als soziales und personales Wesen 14), Stuttgart 1998, S. 237–261. Aus makroökonomischer Perspektive widmet sich dem Thema Vermögenstransfers neben Lauterbach z. B. Bernd Engel: Stetige und diskrete private Transfers: Zur Bedeutung von Erbschaften und privaten Unterhaltszahlungen für die Einkommens- und Vermögensverteilung, in: Richard Hauser/Bernd Engel (Hg.): Soziale Sicherung und Einkommensverteilung. Empirische Analysen für die Bundesrepublik Deutschland (Mikroanalytische Grundlagen der Gesellschaftspolitik 12), Frankfurt/Main 1985, S. 239–255. 46 Als Beispiele für Vermögenstransfers unter Lebenden werden für die Zeit der Frühindustrialisierung häufig die an die Kinder gezahlten Aussteuern erwähnt, jedoch ohne Referenz zu den gesamten Transfers innerhalb der Familie oder relativ zu anderen Familien. Einen seltenen Vergleich von Aussteuerzahlungen an die zweite Generation der Töchter und anverwandter Familien unter Angabe der Anrechnungen auf das Erbteil in einer Unternehmerfamilie finden sich bei Ulrich S. Soénius: Wirtschaftsbürgertum im 19. und frühen 20. Jahrhundert: Die Familie Scheidt in Kettwig; 1848–1925 (Schriften zur rheinisch-westfälischen Wirtschaftsgeschichte 40), Köln 2000, S. 187. 47 Vgl. Kocka: Unternehmer (1975), S. 67; Coym: Unternehmensfinanzierung (1971). 48 Vgl. Dirk Schumann: Bayerns Unternehmer in Gesellschaft und Staat 1834–1914. Fallstudien zu Herkunft und Familie, politischer Partizipation und staatlichen Auszeichnungen (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 98), Göttingen 1991, insb. S. 223 f. 49 Vgl. Julia Dünkel: Johann Bernhard Hasenclever & Söhne: Großkaufleute in frühindustrieller Zeit, 1786–1870, Diss. Jena 2005, für die Finanzierung und Erbmodalitäten insb. S. 177 f.; zu der Forderung von Studien, die betriebliche Kontinuität und Unternehmensentwicklung zu thematisieren vgl. Erker: Paradigmen (1997), S. 325 f.

1.2 Forschungsstand

29

von sechs Brabanter Familienunternehmen aus der Lebensmittel-/Margarine-Industrie. Im Zeitraum von 1880 bis 1970 werden die Finanzierungsstrategien bei zunehmend kapitalintensiverer Produktion in der Margarine-Industrie unter Verweis auf die Dominanz der jeweiligen Kapitalquellen analysiert.50 Die Unternehmensverfassung und die damit verbundene Wahl der Rechtsform wurden vor allem unter zwei Aspekten untersucht. Zum einen interessierte die Umwandlung von Personen- in Kapitalgesellschaften aus finanzwirtschaftlichem Kalkül heraus – mit dem Bedürfnis, in der Phase der Hochindustrialisierung Wachstumsfinanzierung zu generieren.51 Zum anderen wurde die Umwandlung in eine Kapitalgesellschaft als Überlebensstrategie für Familienunternehmen bei steigender Zahl an Familienmitgliedern im Generationenverlauf z. B. von Sachse (1991), Boch (1999) und Pierenkemper (2000) diskutiert und z. B. von James (2005) für den Fall der OHG Franz Haniel & Co als Maßnahme gegen die Zersplitterung der Anteile für die Erben des Gründers Franz Haniel dargestellt.52 Lindenlaub (2006) untersucht mittels des methodischen Zugangs einer detaillierten Bilanzanalyse unter Rückgriff auf das heutige betriebswirtschaftliche Instrumentarium wie Performance-Maße den Aufstieg von und die Lösungen der Expansions- und Krisenfinanzierung unter Alfred Krupp im Vergleich zu den Wettbewerbern, den Aktiengesellschaften Bochumer Verein und Hoerder Verein im Zeitraum von 1850 bis 1880. Die Analyse bestätigt, dass es die „optimale Rechtsform“ nicht gibt und dokumentiert für den Fall der Gussstahlfabrik Alfred Krupp, dass der Inhaber mit seinem starken Unabhängigkeitsstreben dank hoher Ertragskraft bei gleichzeitig hoher Reinvestition und Verschuldung als „pfadabhängigem Phänomen“ innovative Vorsprünge erzielen konnte.53 Bei Alfred Krupp gelang es unabhängig von Bankenfinanzierungen zu bleiben. Dagegen beschäftigt sich Wiborg (1993) für das Hamburger Schiff- und Flugzeugbauunternehmen Blohm mit den Problemen der Finanzierung einer Unternehmensnachfolge nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Hereinnahme einer Bankenfinanzierung mündete im Verlust der Trägerschaft der Familie.54 Studien, die die 50 Vgl. Arnoldus: Family (2002), S. 163–216. 51 Vgl. Kocka, Jürgen/Siegrist, Hannes: Die hundert größten Industrieunternehmen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert. Expansion, Diversifikation und Integration im internationalen Vergleich, in: Jürgen Kocka/Norbert Horn (Hg.): Recht und Entwicklung der Großunternehmen im 19. und 20. Jh. (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 40), Göttingen 1979, S. 55–122. 52 Vgl. Sachse: Familienunternehmen (1991), S. 9–25, S. 17; Boch: Unternehmensnachfolge (1999), S. 164–171, S. 168; Harold James: Familienunternehmen in Europa. Haniel, Wendel und Falck, München 2005, S. 102. 53 Vgl. zur Verschuldung als „pfadabhängiges Phänomen“ bei Krupp Jürgen Lindenlaub: Die Finanzierung des Aufstiegs von Krupp: die Personengesellschaft Krupp im Vergleich zu den Kapitalgesellschaften Bochumer Verein, Hoerder Verein und Phoenix 1850 bis 1880, Essen 2006, S. 435; zu Innenfinanzierungspotenzialen insb. S. 447; zum Kennzahlenansatz, seinen Grenzen und Voraussetzungen vgl. S. 15, 37. 54 Vgl. Susanne Wiborg/Walter Blohm: Schiffe und Flugzeuge aus Hamburg, Hamburg 1993, S. 53 f. Während 1916 die erste familieninterne Nachfolge erfolgreich war und Walter Blohm das Hamburger Schiff- und Flugzeugbauunternehmen durch die Krisenzeiten zu steuern ver-

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1. Einleitung

Auswirkungen der Reformen der Erbschaftssteuern zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf die Gestaltung der Vermögensübertragungen in Familienunternehmen thematisieren, sind mir nicht bekannt.55 Eine weitere Variante das Nachfolgeproblem zu lösen, ist das Einbringen von familiärer Vermögensmasse in Stiftungen und das Umgehen der Erbteilung. Diesem Thema widmet sich der von Pohl/Treue (1979) herausgegebene Vortragsband.56 Gegen die historische Untersuchung von „Familienzwiste[n] und Erbauseinandersetzungen“ und für Studien, die sich dem Familienunternehmen und seiner „Bedeutung für Wirtschaft und Gesellschaft“ widmen, spricht sich Sachse (1991) aus.57 Demgegenüber hält Schäfer (2000) die Beschäftigung mit dem Thema der Vererbung und den weichen Faktoren im Kontext der Unternehmensnachfolge nicht für „trivial und irrelevant“.58 Mit soziopsychologischen Aspekten der Weitergabe des unternehmerischen Lebenswerks aus Sicht des Seniorunternehmers beschäftigen sich Gerke-Holzhäuer (1996) und Klein (1999) aus heutiger Sicht. Sie zeigen die Schwierigkeiten der Etablierung einer Nachfolgeplanung durch Seniorunternehmer und nehmen Phänomene wie Rücktrittsbereitschaft durch Seniorunternehmer in den Blick.59

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mochte, gelang es Anfang der 1950er Jahre nicht ohne Aufnahme externen Kapitals, sodass das Unternehmen seine unternehmerische Unabhängigkeit verlor. Vgl. grundlegend zu der Historie der Erbschaftssteuer aus gesellschaftlicher Perspektive und der Einführung der Reichserbschaftssteuer 1906; Clemens Wischermann: Die Erbschaftssteuer im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Finanzprinzip versus Familienprinzip, in: Eckart Schremmer (Hg.): Steuern, Abgaben und Dienste vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart 1994, S. 171–196. Vgl. Klaus Neuhoff: Erfahrungen mit der Stiftung als Trägerin von Produktivvermögen, in: Hans Pohl/Wilhelm Treue (Hg.), Stiftung und Unternehmung. Erfahrungen und Zukunftsperspektiven (Zeitschrift für Unternehmensgeschichte, Beiheft 14), Wiesbaden 1979, S. 4– 17, S. 13. Die Überführung eines Unternehmens nach der Gründergeneration in eine Stiftung findet sich für den Fall Zeiss bei Friedrich Schomerus (Hg.): Werden und Wesen der CarlZeiss-Stiftung: an der Hand von Briefen und Dokumenten aus der Gründungszeit (1886– 1896) (Gesammelte Abhandlungen Ernst Abbe 5) – Nachdr. d. Ausg. Jena 1940, Hildesheim 1989, insb. S. 79. Vgl. Sachse: Familienunternehmen (1991), S. 9–25, insb. S. 11 f. In einer komparativen branchenübergreifenden Analyse für die Stadt Leipzig untersucht Schäfer beispielhaft an mehreren Familienunternehmen die Beziehungen zwischen Familien und ihrem Unternehmen unter Rückgriff auf Regelungen der Unternehmensverfassung beispielhaft an den Branchen Maschinenbau (Sack), Textilindustrie (Stöhr), der chemisch-pharmazeutischen und der polygraphischen Industrie (Giesecke & Devrient), dem Buchhandel und im Verlagswesen (Dürr, Köhler & Volckmar). Er stellt das Familienunternehmen als intergenerational sinnstiftendes Bindungselement heraus, das auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch Bestand hatte. Vgl. hierzu Michael Schäfer: Herren im eigenen Haus, in: Ziegler (Hg.): Großbürger und Unternehmer (2000), S. 144–166, insb. S. 146 f. Vgl. dazu einen der wenigen Forschungsbeiträge, der sich ausschließlich mit weichen Faktoren beschäftigt und diese anhand von problemzentrierten Interviews untersucht, Franziska Gerke-Holzhäuer: Generationswechsel in Familienunternehmen. Psychologische Aspekte des Führungswechsels, Wiesbaden 1996; Sabine Klein: Erben lassen – Psychologische Aspekte

1.2 Forschungsstand

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In der anlässlich des 250-jährigen Bestehens des Bankhauses Sal. Oppenheim erschienenen Abhandlung von Stürmer/Teichmann/Treue (1989) wird dargestellt, dass es sich bei der Übergabe des Bankhauses an die Nachkommen der dritten Generation mit einem Lebensalter von fast 50 Jahren nicht mehr um „Junioren“ handelte. Was in heutiger Terminologie als „Prinz-Charles-Syndrom“ bezeichnet wird, war in der Frühindustrialisierung eher die Regel als die Ausnahme.60 Den weichen Faktoren widmet sich auch Hillen (2003) in seinem sozialgeschichtlichen Beitrag über die Unternehmensnachfolge in der Familie Bagel. Er analysiert die Vater-Sohn-Beziehung unter der Hypothese, dass auch „gelungene Nachfolgen nicht zwangsläufig reibungslos ablaufen müssen“. Trotz und sogar gerade bei zwischenzeitlicher Reibung im Prozess kann durch Schaffung einer eigenen Identität und durch Neukombination familiärer Traditionen mit dem eigenen beruflichen Weg, hier im Fall des Sohnes eines Buchbinders, der später eine Druckerei, einen Verlag und eine Papierfabrik betreibt, die Nachfolge gelingen.61 Zu dem Thema der „corporate governance“ in Familienunternehmen, das die Perspektive Familieneinfluss und generationelle Führungsstile innerhalb der Familie i. S. einer „family governance“ in den Blick nimmt, ist eine Arbeit über die Familien Bagel für den Zeitraum 1960–2000 in der Entstehung begriffen.62 Die Themenkomplexe verweisen auf das Spannungsfeld von Erbfolgeordnung, Familie, ihrem Vermögen und Unternehmensverfassung, das für die Nachfolge gemessen an der Bedeutung wenig untersucht wurde.

der Unternehmernachfolge, in: Lutz von Rosenstiel/Thomas Lang von Wins (Hg.): Existenzgründung und Unternehmertum, Stuttgart 1999, S. 208–230, S. 216 f. 60 Vgl. zu einer Übernahme der Unternehmensführung durch die Vertreter der dritten Generation im Alter von fast 50 Jahren im Bankhaus Sal. Oppenheim Michael Stürmer/Gabriele Teichmann/Wilhelm Treue: Wägen und Wagen. Sal. Oppenheim jr. & Cie. Geschichte einer Bank und einer Familie, München/Zürich 1989, S. 210. Zu dem Typus des deutschen Unternehmers, der bis ins Alter noch tätig war und selten ein Rentierdasein fristete, vgl. Boch: Unternehmensnachfolge (1999), S. 167. 61 Vgl. zur Anzweifelung des reibungslosen Ablaufs bei gelungenen unternehmerischen Nachfolgen, Christian Hillen: Der König ist tot – es lebe der König? Der Vater-Sohn-Konflikt und das Problem der Nachfolge in Familienunternehmen am Bsp. A. Bagel, in: Ulrich Soénius (Hg.): Bewegen – Verbinden – Gestalten: Unternehmer vom 17. bis zum 20. Jahrhundert; Festschrift für Klara von Eyll zum 28. September 2003 (Schriften zur rheinisch-westfälischen Wirtschaftsgeschichte 44), Köln 2003, S. 189–206. Zur Studie über soziale Familien-Lebensläufe über fünf Generationen am Bsp. einer aus der Landwirtschaft stammenden französischen Familie und die Transmission vom produktivem Kapital als Element des sozialen Status vgl. Daniel Bertaux/Isabelle Bertaux-Wiame: „Was du ererbst von deinen Vätern …“ Transmissionen und soziale Mobilität über fünf Generationen, in: BIOS 4, 1991, S. 13–40. 62 Vgl. Christina Lubinski: Familiy Incorporated? Nachfolgeprozesse, Familieneinfluss und generationelle Führungsstile, Deutschland 1960–2000 (Arbeitstitel Diss. Göttingen).

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1. Einleitung

1.2.3 Nachfolgeregelungen und Maßnahmen Im Zusammenhang der Problematik der Nachfolgeregelung wird in der Forschungsliteratur häufig der Buddenbrook-Effekt thematisiert. In Deutschland folgt dieser der Volksweisheit: „Der Vater erstellt’s, der Sohn erhält’s, beim Enkel zerfällt’s“.63 In älteren Arbeiten stellen diesen Effekt z. B. Stahl (1973) und für die Zeit der Frühindustrialisierung Landes (1965) heraus.64 Kritisch gegenüber der Gültigkeit des Buddenbrook-Effekts für die Zeit der Frühindustrialisierung äußern sich für England Payne (1984), für Deutschland Kaelble (1990) und Baten (2001), der bereits den Übergang von der ersten auf die zweite Generation als relativ selten konstatiert. Zunkel (1962) führt Beispiele von langlebigen Familienunternehmen aus dem Rheinland und Westfalen für diese Zeit an.65 Der Effekt „the third generation death of entrepreneurial skills resulting in the decline of the firm“66 bezieht sich nach Colli (2003) auf das Problem, in der dritten Unternehmergeneration geeignete Unternehmensnachfolger durch externe oder interne Rekrutierung z. B. über unternehmerische und familiäre Netzwerke zu finden oder hervorzubringen, sodass gemäß dem „three-generations-paradigm“, nach den Stufen des Aufbaus und der Stagnation mit hoher Wahrscheinlichkeit der Niedergang des Familienunternehmens folgt.67 Mit der empirischen Evidenz der hohen Unternehmenssterblichkeitsrate in der dritten Generation beschäftigen sich für Deutsch-

63 Vgl. Albach/Freund: Generationswechsel (1989), S. 1–50, 263. 64 Vgl. Wilhelm Stahl: Der Elitekreislauf in der Unternehmerschaft. Eine empirische Untersuchung für den deutschsprachigen Raum, Frankfurt/Main 1973, insb. S. 255–263; David S. Landes: Technological Change and Development in Western Europe, 1750–1914, in: Hrothgar J. Habakkuk/Michael M. Postan (Hg.): The Cambridge Economic History of Europe VI; The Industrial Revolution and After, Cambridge 1965, S. 563–564; Soénius: Scheidt (2000), S. 40. 65 Vgl. Payne: Family Business in Britain (1984), S. 171–206, insb. S. 190 f. Payne geht von einer durchschnittlichen Überlebensdauer von 30 Jahren aus. Siehe auch Hartmut Kaelble: Sozialstruktur und Lebensweise deutscher Unternehmer 1907–1927, in: Scripta Mercarturae 24 (1990), S. 132–179, S. 152 f.; Otto Suhr: Familientraditionen im Maschinenbau, Untersuchungen über die Lebensdauer von Unternehmungen, in: Wirtschaftskurve 1 (1939), S. 29– 50, S. 32, 34; Kocka: Familie (1982), S. 13; Boch: Unternehmensnachfolge (1999), S. 171; Friedrich Zunkel: Der rheinisch-westfälische Unternehmer 1834–1879. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert (Dortmunder Schriften zur Sozialforschung 19), Köln 1962. Zu einem Überblick über Mortalitätsraten im 19. und frühen 20. Jahrhundert vgl. Jörg Baten: Expansion und Überleben von Unternehmen in der „Ersten Phase der Globalisierung“ (Tübinger Diskussionsbeiträge Nr. 215), Tübingen 2001, S. 4 f. 66 Vgl. zur synonymen Verwendung der Termini Buddenbrook-Effekt und implizite Evolutionsproblematik Colli: Family Business (2003), S. 13 f. In der deutsprachigen Literatur findet sich die Zusammenfassung des Effektes in der Metapher, dass die dritte Generation z. B. Kunstgeschichte studiert. Vgl. hierzu Dietrich W. Maurice: Generationenwechsel und Generationenkonflikt auf den Führungsetagen mittelständischer Unternehmen, in: Betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis 45 (1993), S. 266–277, S. 266, 271. 67 Nach Collis Erläuterungen umschreibt das durch Unternehmensniedergang in der dritten Generation oft bestätigte „three-generations-paradigm“ die Stufen „start-up, early growth, consolidation, and decline“, vgl. Colli: Family Business (2003), S. 13 f.

1.2 Forschungsstand

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land für die heutige Zeit Untersuchungen wie z. B. Albach/Freund (2002) und Klein (2004).68 Für die Entwicklung der Überlebensdauer von Familienunternehmen liegen weder für das 19. noch für das 20. Jahrhundert Longitudinaldaten vor.69 Von einer relativen Langlebigkeit von Familienunternehmen ab der vierten Generation gehen Simon/Wimmer/Groth (2004) aus. Sie führen dies zurück auf die Fähigkeit des Paradoxienmanagements, sich für eine Logik, nämlich die der Familie oder des Unternehmens, entscheiden zu können – aus ihrer Sicht ein zentraler Erfolgsfaktor.70 Schäfer (2000), Rosenbaum (1982) und Kaelble (1990) betonen unter Rekurs auf die Daten von Nell (1973) die demografischen Faktoren – die rückläufige Kinderzahl bei Unternehmerfamilien – als einen Grund für das Nachfolgeproblem im späten Kaiserreich. Unterschieden werden muss hier zwischen der Kinderzahl der Großunternehmer und Kaufleute und der kleineren und mittleren Gewerbetreibenden, die unter der des Großbürgertums rangiert.71 Ende des 19. Jahrhunderts trat nach Kaelble (1990) und Schäfer (2000) neben das Problem der rückläufigen biologischen Reproduktion von Nachfolgern der Generationenkonflikt in großbürgerlichen Familien. Individualisierungstendenzen führten, feststellbar an der freien Berufswahl der Söhne und dem Heiratsverhalten der Töchter, dazu, dass die Kinder sich nicht dem Unternehmen und tradierten Familienstrategien unterordneten. Reitmayer (1999) zeigt diese Entwicklung der Individualisierung an den Nachkommen der Bankiers im Kaiserreich auf.72 Dem Aspekt der personellen Rekrutierung, Erziehung, Ausbildung und Vermittlung der „entrepreneurial skills“ als andere Seite der Medaille der Unternehmensnachfolge neben der Regelung der Vermögens- und Finanzierungsaspekte widmet sich grundlegend Kocka (1975), indem er den Qualifikationserwerb 68 Zum three-generations-paradigm vgl. Colli: Family Business (2003), S. 13. Zu empirischen Untersuchungen, die u. a. die Unternehmenssterblichkeit in der dritten Generation thematisieren vgl. Albach/Freund: Generationswechsel (1989), S. 265; Klein: Familienunternehmen (2004), S. 30 f. 69 Vgl. zur fehlenden statistischen Alterspyramide von Familienunternehmen und Problemen des Datenmangels im 19. Jahrhundert Dünkel: Hasenclever (2005), S. 170; Büttner: Bindungskraft (2007), S. 15 f. 70 Zu der relativen Langlebigkeit ab der vierten Generation vgl. Simon/Wimmer/Groth: MehrGenerationen (2005), zum Konzept des Paradoxienmanagements S. 150 f. Relativ langlebige Mehr-Generationen-Unternehmen, ermittelt für die Jahre 1995 und 2000 bei einem Gründungszeitraum vor 1870, finden sich auch in der Untersuchung von Klein: Familienunternehmen (2004), S. 30. Klein geht von 3,1 % bezogen auf die Grundgesamtheit von 308.843 Familienunternehmen aus. 71 Vgl. Kaelble: Sozialstruktur (1990), S. 152 f.; Heidi Rosenbaum: Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 1982, S. 352 f.; Schäfer: Herren (2000), S. 145; Alexander von Nell: Die Entwicklung der generativen Strukturen bürgerlicher und bäuerlicher Familien von 1750 bis zur Gegenwart, Diss. Bochum 1973, S. 29, 58. 72 Vgl. Morton Reitmayer: Bankiers im Kaiserreich. Sozialprofil und Habitus der deutschen Hochfinanz (Reihe Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 136), Göttingen 1999, S. 248; Rosenbaum: Familie (1982), S. 271.

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1. Einleitung

von Unternehmern in der frühindustriellen Phase beschreibt.73 Über das Sozialprofil und typische Indikatoren wie Ausbildungs- und Bildungsmuster, Heiratsverhalten und Karriereverlauf von Unternehmern und Bankiers liegen sowohl für die Zeit der frühen Industrialisierung als auch für das Kaiserreich einige, selten generationsübergreifende Einzelfallanalysen oder kollektiv-biografische Studien vor.74 Am Beispiel der Brüder Rudolf und Gustav Böcking, Vertreter der südwestdeutschen Eisenindustrie, zeigt Pierenkemper (1996), wie Unternehmerfamilien in der Frühindustrialisierung den Qualifikationserwerb der Nachfolger systematisch organisierten. Im Spiegel der Briefe der Nachfolgekandidaten an ihren Onkel und Financier der Ausbildung, den Eisenindustriellen Carl Friedrich Stumm, wird die dezidierte Ausbildungsplanung und die Bedeutung von informativen Reisen der Nachfolger für den Technologietransfer analysiert.75 In einer regionalökonomischen Perspektive für Unternehmer aus dem Bergischen Land widmet sich der von Beek (1996) herausgegebene Sammelband den Fallbeispielen Peter Clarenbach, Peter Hasenclever, Johann Wilhelm Fischer und Josua Hasenclever, den Gemeinsamkeiten und Unterschieden in ihrer Herkunft, Sozialisaton und ihrem Werdegang als Unternehmer. Für die beiden Letzteren werden Reisen (nach Übersee oder ins benachbarte Ausland) und das Knüpfen von Kontakten als wichtige Bausteine der Ausbildung und für das spätere Unternehmertum genannt.76

73 Vgl. Kocka: Unternehmer (1975), S. 67. Für Bankiers im Kaiserreich vgl. Reitmayer: Bankiers (1999), S. 218. 74 Vgl. zu einer älteren Studie, die den Unternehmer als sozial und ökonomische Kategorie integriert, Toni Pierenkemper: Die westfaelischen Schwerindustriellen: 1852–1913. Soziale Struktur und unternehmerischer Erfolg (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 36), Göttingen 1979, S. 23. Zu sozialen Faktoren des Unternehmertums vgl. Jürgen Kocka: Familie und soziale Platzierung. Studien zum Verhältnis von Familie, sozialer Mobilität und Heiratsverhalten an westfälischen Beispielen im späten 18. und 19. Jahrhundert, Opladen 1980; zu einem kollektiv-biografischen Vergleich zwischen deutschen und englischen Unternehmern, der sich dem Sozialprofil widmet, vgl. Hartmut Berghoff/Roland Möller: Unternehmer in Deutschland und England 1870–1914. Aspekte eines kollektiv-biografischen Vergleichs, in: HZ 256 (1993), S. 353–386; zu einer sozialgeschichtlich orientierten Einzelfallstudie, in der dezidiert auf die Erziehung des Nachwuchses zum Wirtschaftsbürger eingegangen wird vgl. Schäfer: Herren (2000); Soénius: Scheidt (2000). 75 Vgl. Toni Pierenkemper: „Theuerster Onkel!“ Rudolf und Gustav Böcking in Briefen an Carl Friedrich Stumm 1833–1835. Zum Qualifikationserwerb der frühindustriellen Unternehmerschaft, in: Francesca Schinzinger (Hg.): Unternehmer und technischer Fortschritt (Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit 20), München 1996, S. 155–187. Zu einer Schilderung des Qualifikationserwerbs aus autobiografischer Sicht eines Pioniers vgl. Bodo Herzog/Klaus J. Mattheier: Franz Haniel: 1779–1868: Materialien, Dokumente und Untersuchungen zu Leben und Werk des Industriepioniers Franz Haniel, Bonn 1979, S. 37 f. 76 Vgl. zu Kontrastierung der Fallbeispiele Beek, Karl Hermann (Hg.): Zur Einführung: Gründerzeit und Unternehmertum, in: ders. (Hg.): Bergische Unternehmergestalten im Umbruch zur Moderne (Bergische Forschungen XXV), Neustadt a. d. Aisch 1996, S. 5–18, S. 14 f.; zu den letztgenannten Fallbsp. vgl. Joachim Studberg: Johann Wilhelm Fischer (1779–1845) – ein Unternehmer im Umbruch zur Moderne, in: Beek (Hg.): Bergische Unternehmergestalten (1996), S. 121–160, S. 125 f.; Michael Jung: Josua Hasenclever – Unternehmer und Gestalter

1.2 Forschungsstand

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Die Weitergabe von explizitem Wissen77, z. B. technischen Fähigkeiten, Motivationen, Leitbildern, Traditionen und „tacit knowledge“, das in Unternehmerfamilien vor allem während der Sozialisationsphase weitergegeben wurde, wird von Jones/Rose (1993) als spezifischer Wettbewerbsvorteil für Familienunternehmen gesehen.78 Kocka (1982) betont, wie bedeutend die intergenerationale Wissensweitergabe gerade bei einem Mangel an externen Bildungsangeboten in der Zeit der Frühindustrialiserung war. In heutiger Zeit begreifen Tokarczyk/ Hansen/Green (2007) die Weitergabe von „tacit knowledge“ in Familienunternehmen aus Sicht des „ressource- und knowledge-based view“.79 Den Nutzen des freundschaftlichen und verwandtschaftlichen Netzwerkes bei der Organisation der unternehmerischen Ausbildung thematisieren neben Kocka (1982) auch Berghoff/Sydow (2007), die den sich aus solchen Beziehungen ergebenden Verpflichtungsaspekt betonen, z. B. Verwandte oder den Nachwuchs von Geschäftsfreunden bei sich auszubilden.80 Gorißen (1993) widmet sich ausgehend von dem Heiratsverhalten und den Heiratskreisen der Familie Harkort der Bedeutung der Querheiraten, z. B. als Strategie der Kapitalbindung und der sozialen Endogamie in Familien des frühen Unternehmertums.81 Den Zusammenhang einer Finanzierung aus familiären Netzwerken und endogamer Heiratspolitik betont auch Sachse (1991).82 Derartige Familienstrategien, die z. B. auf personelle Vernetzung zwischen Bankhäusern abzielten, weist auch Köhler (2000) anhand eines Samples

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der Moderne, in: Beek (Hg.): Bergische Unternehmergestalten (1996), S. 162–214; zu Auslandsaufenthalten und den Kontakten Hasenclevers vgl. S. 180 f. Vgl. Horst Beau: Das Leistungswissen des frühindustriellen Unternehmertums in Rheinland und Westfalen (Schriften zur rheinisch-westfälischen Wirtschaftsgeschichte 3), Köln 1959. Vgl. Sachse: Familienunternehmen (1991), S. 15; Jones/Rose: Family Capitalism (1993). Vgl. Kocka: Familie (1982), S. 167; John Tokarczyk/Eric Hansen/Mark Green u. a.: Resource-Based View and Market Orientation Theory Examination of the Role of „Familiness“ in Family Business Success, in: FBR 20 (2007), S. 17–31, S. 19. Vgl. Kocka: Familie (1982), S. 167; Berghoff/Sydow: Netzwerke (2007), S. 21. Vgl. Gorißen: Kaufleute (1999/2001), S. 53. Zu entsprechender Heiratspolitik siehe für Haniel James: Familienunternehmen in Europa (2005), S. 102; Ralf Stremmel: Tradition und Innovation: zum Profil der bergisch-märkischen Unternehmer während der Frühindustrialisierung, in: Jürgen Weise/Ralf Stremmel (Hg.): Bergisch-märkische Unternehmer der Frühindustrialisierung (Rheinisch-westfälische Wirtschaftsbiographien 18), Münster 2004, S. 7–38, S. 22. Stremmel relativiert eine rein ökonomisch motivierte Heiratspolitik in unternehmerischen Kreisen im Bergischen Land. Löther geht für die Wuppertaler Unternehmerschaft von einer hohen sozialen Endogamie, aber mehr von Liebesheiraten als von Zweckbündnissen aus. Vgl. hierzu Andrea Löther: Familie und Unternehmer. Dargestellt am Beispiel der Wuppertaler Textilunternehmer während der Frühindustrialisierung bis 1870, in: ZUG 36, 1991, S. 217–244, S. 225–228. Als historisches Beispiel, dass private und geschäftliche Verbindungen sich nicht zwangsläufig überlagerten, sind die Medici zu nennen. Die Strukturanalyse des Netzwerks der Medici ergab, dass sich die geschäftlichen und die Heiratsnetzwerke nicht überschnitten. Vgl. hierzu Dorothea Jansen: Einführung in die Netzwerkanalyse. Grundlagen, Methoden, Anwendungen, Wiesbaden 2006, S. 209; John F. Padget/Christopher K. Ansell: Robust Action and the Rise of the Medici, in: American Journal of Sociology 98 (1993), S. 1259–1319, S. 1276. Vgl. Sachse: Familienunternehmen (1991), S. 9–25, S. 16.

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1. Einleitung

von Privatbankiers nach.83 Gorißen (2006) äußert sich zum einen über die Schwierigkeit, in empirischen Analysen das Merkmal Reziprozität nachzuweisen, das konstitutiv für Netzwerke ist, und zum anderen über das Problem, einen konkreten geschäftlichen Nutzen, der sich aus solchen Verbindungen ergab, zu quantifizieren.84

1.2.4 Die Forschungslücke Aus den verschiedenen Forschungsdesideraten ergibt sich folgende Forschungslücke: Die Unternehmenssterblichkeit von Familienunternehmen wurde in sozialgeschichtlicher Lesart aufgegriffen und der Buddenbrook-Effekt, die Frage der Rekrutierung und Ausbildung von Nachfolgern und die Schwierigkeiten der familieninternen Nachfolge Ende des 19. Jahrhunderts thematisiert.85 Die Untersuchung der Unternehmensnachfolge und die langfristige Unternehmensentwicklung fanden in Untersuchungen über drei familiäre Generationen hinweg als Teilaspekt in komparativen unternehmensgeschichtlichen Studien im deutschen Raum bislang erst in jüngster Zeit Beachtung.86 Für die Erforschung der Vererbungspraxis konstatiert Boch (1999) einen Mangel an „systematischen Arbeiten, die sich der Untersuchung der Vererbungspraxis in Unternehmerfamilien widmen“87. Für den Untersuchungsgegenstand – nämlich die Nachfolge in Familienunternehmen neben der Analyse der Unternehmensentwicklung über personelle Zäsuren hinweg, insbesondere für die Vererbung von Vermögen und Besitz und Finanzierung von familieninternen Nachfolgen sowohl in regionalem Kontext für das Bergische Land als auch in zeitlicher Hinsicht für das späte 18. bis in das beginnende 20. Jahrhundert, mit einer in methodischer Hinsicht theoriegeleiteten, komparativen Herangehensweise – liegt eine Erkenntnislücke vor. Das Promotionsvorhaben leistet durch die Analyse der Nachfolgefrage in Familienunternehmen, die im Bergischen Land ansässig und über mehr als vier Generationen existent waren, einen Beitrag, diese Lücke zu schließen.

83 Vgl. Ingo Köhler: Wirtschaftsbürger und Unternehmer: zum Heiratsverhalten deutscher Privatbankiers im Übergang zum 20. Jahrhundert, in: Ziegler (Hg.): Großbürger und Unternehmer (2000), S. 116–143, S. 133. 84 Vgl. Stefan Gorißen, Netzwerkanalyse im Personenstandsarchiv? Probleme und Perspektiven einer historischen Verflechtungsanalyse, in: Bettina Joergens/Christian Reinicke (Hg.): Archive, Familienforschung und Geschichtswissenschaft. Annäherungen und Aufgaben, Düsseldorf 2006, S. 152–167, S. 162 f. 85 Vgl. Matis/Stiefel: Schenker (1995). 86 Vgl. Erker: Paradigmen (1997), S. 325 f.; zu Nachfolgestrategien vgl. Arnoldus: Family (2002), S. 59 f. 87 Vgl. Boch: Unternehmensnachfolge (1999), S. 164–171, S. 167.

1.3 Untersuchungsaufbau

37

1.3 UNTERSUCHUNGSAUFBAU Die Arbeit ist folgendermaßen aufgebaut: Nach dem ersten einleitenden Kapitel, in dem der Problemaufriss, die forschungsleitende Fragestellung, der Forschungsstand und die Forschungslücke vorgestellt wurden, widmet sich das folgende Kapitel der Begriffsdefinition, der Vorstellung des Samples, der Quellenlage bzw. dem Material und dem methodischen Zugang. Dieses zweite Kapitel endet mit dem theoretischen Bezugsrahmen, der auf zwei Forschungsansätzen basiert. Zum einen spannt sich der Bezugsrahmen aus institutionenökonomischen Ansätzen, der Property-Rights-Theorie unter Beachtung der Prinzipal-Agent- und der Transaktionskosten-Theorie, zum anderen aus in der Managementliteratur entwickelten Modellen speziell für Familienunternehmen auf. Für eine statische Betrachtung dienen die Kreismodelle nach Davis/Taguiri (1982), Simon/Wimmer/Groth (2005) und für eine dynamische Betrachtung Lebenszyklusmodelle, wie sie z. B. von Argenti (1976) oder Pümpin/Prange (1991) verwendet werden, und das Lebenszykluskräfte-Modell von Carlock/Ward (2001).88 Im Anschluss werden die modelltheoretischen Grundannahmen, die sich als Kondensat des Bezugsrahmens ergeben, vorgestellt. Das dritte Kapitel beleuchtet sowohl die wirtschaftlichen Hintergründe im Bergischen Land in der Zeit der Frühindustrialisierung ca. ab 1780 bis 185089 als auch die institutionell-rechtlichen Hintergründe des Handels- und Erbrechts, die für das Wirtschaften in Form des Familienunternehmens über mehrere Generationenwechsel als Rahmen fungierten. Der Hauptteil der Analyse umfasst die Kapital vier bis sechs und widmet jedem Unternehmen ein Kapitel: Im vierten Kapitel werden die Unternehmer aus der Familie Hardt und die sich im Eigentum und Besitz der Familie Hardt befindlichen Unternehmen, die Tuchfabrik Johann Wülfing & Sohn, die Spinnerei Hardt, Pocorny & Cie und das Handelshaus Hardt & Co, analysiert. Im fünften Kapitel folgt das Privatbankhaus von der Heydt-Kersten & Söhne und im sechsten Kapitel das in der Buchbinderei, im Verlagswesen, der Druckerei und Papierherstellung tätige Unternehmen Bagel mit seinen Unternehmern. Die Untersuchung für jedes Fallbeispiel erfolgt auf zwei Ebenen: 1. Die Nachfolgeprozesse in das Familienunternehmen werden zunächst auf der sozialberufsbiografischen Ebene im Hinblick auf die Unternehmensführung untersucht. 1.3 Untersuchungsaufbau

88 Vgl. John Argenti: Corporate Collapse, the Causes and Symptoms, London 1976. Zu dem Metarmorphosemodell vgl. Cuno Pümpin/Jürgen Prange: Management der Unternehmensentwicklung – Phasengerechte Führung und der Umgang mit Krisen, Frankfurt/Main 1991; zu dem Lebenszyklusmodell vgl. Randel S. Carlock/John L. Ward: Strategic Planning for the Family Business. Parallel Planning to Unify the Family and Business, New York 2001, S. 27; Kelin E.Gersick/John A. Davis/Marion McCollom Hampton u. a.: Generation to Generation. Life Cycles of the Family Business, Boston 1997, S. 6. 89 Vgl. zur Periodisierung der Industrialisisierungsphasen Toni Pierenkemper: Gewerbe und Industrie im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie deutscher Geschichte 29), München 1994, S. 49–51.

38

1. Einleitung

Diese Ebene ist stark mit der Unternehmensgeschichte verbunden, weist aber auch Ansatzpunkte in der jeweiligen Familiengeschichte auf. 2. Die zweite Ebene, die sich aus der langfristigen Kapitalakkumulation, der innerfamiliären Vermögensweitergabe bzw. der Unternehmensfinanzierung und aus den damit einhergehenden rechtlichen Aspekten aufspannt, nimmt insbesondere die Übergabezeitpunkte in den Blick. Es wird pro Fallbeispiel, mit der Familie Hardt beginnend, innerhalb der familiären Generationenfolge verglichen. Der Längsschnittvergleich erfolgt fortlaufend pro Fallbeispiel auf zwei Abstraktionsebenen; ab dem fünften Kapitel mit dem Fallbeispiel von der Heydt-Kersten und ab dem sechsten Kapitel mit Bagel. Die Kapitel vier bis sechs schließen mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse auf den beiden Untersuchungsebenen: der der Nachfolgeprozesse und dem Generationenwechsel in der Unternehmensführung und der der langfristigen Kapitalakkumulation, der Vermögensnachfolge und der Finanzierung der familieninternen Nachfolge. Die Teilergebnisse werden abschließend im siebten Kapitel im diachronen Vergleich zusammengefasst, in Bezug auf die forschungsleitende Fragestellung vergleichend diskutiert und in den Forschungszusammenhang gestellt. Unter Rekurs auf die in den theoretischen Bezugsrahmen eingeordneten zentralen Ergebnisse wird ein Resümee gezogen und ein Ausblick über die Zukunft von Familienunternehmen gewagt.

2. BEGRIFFE, THEORETISCHER BEZUGSRAHMEN UND METHODE 2.1 BEGRIFFSDEFINITIONEN 2.1.1 Unternehmer Der Begriff des Unternehmers, der schwer operationalisierbar ist, wird in der Literatur nicht einheitlich gebraucht. Das, was den Unternehmer ausmacht, ist schwer greifbar. Die begriffliche Fassung orientiert sich an zwei Hauptströmungen, dem indikativen und dem funktionalen Ansatz. Die erste Herangehensweise (die in der historischen Unternehmerforschung überwiegt) nähert sich dem Unternehmer als soziale Kategorie über sein Sozialprofil, seine Herkunft und soziale Mobilität, das Konnubium und als Vertreter einer bestimmten gesellschaftlichen Schichtung. Schumann (1991) bezeichnet diesen Forschungsansatz als eine sich als „Bürgertumsforschung begreifende Unternehmerforschung“1. Die Figur des Unternehmers als „ökonomische Kategorie“, wie bereits im Forschungsstand angedeutet, tritt bei dieser Betrachtung oft in den Hintergrund.2 In der historischen Unternehmerforschung wird der Begriff indikativ-positional, z. B. von Pierenkemper (1979), für den Unternehmer als ökonomische und soziale Kategorie eingeführt. In dieser Verwendung ist Unternehmer derjenige, der sich an der Spitze des Unternehmens befindet, der Eigentum und Leitung auf sich vereint. Neben diesem gut operationalisierbaren Konzept, bei dem sich der Unternehmer leicht verorten lässt und das auch Raum für sozialen Einfluss auf den wirtschaftlichen Erfolg bietet, wird z. B. von Casson (2001) versucht, sich dem Unternehmer über seine Funktion zu nähern. Den Unternehmer macht nach Casson folglich aus, „was ein Unternehmer tut“3. Kocka (1975) entwickelt die Unternehmer-Funktion basierend auf Arbeiten Chandlers und Redlichs. Diese besteht in dem „Treffen von wesentlichen („strategischen“) Entscheidungen über die Zielsetzung des Unternehmens, seine Position auf dem Markt und seine Beziehungen zur Umgebung überhaupt, wobei Profit- und Rentabilitätserwägungen eine hervorragende Bedeutung zukommt; zu diesen Entscheidungen gehören insbesondere Entscheidungen über die Mobilisierung und die Kombination der Produktionsfaktoren, so vor allem über die Investition und die Anstellung des leiten-

1 2 3

Vgl. Pierenkemper: Unternehmensgeschichte (2001), S. 187 f.; ders.: Schwerindustrielle (1979), S. 23; Schumann: Bayerns Unternehmer (1991), insb. S. 223 f. Vgl. hierzu auch Pierenkemper: Schwerindustrielle (1979), S. 23. Vgl. Mark Casson: Der Unternehmer. Versuch einer historisch-theoretischen Deutung, in: GG 27 (2001), S. 524–544, S. 533.

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2. Begriffe, theoretischer Bezugsrahmen und Methode

den Personals.“4 Jene Personen, bei deren Aufgaben diese Funktion überwiegt, werden Unternehmer genannt.5 Casson (2001) fasst unter Rekurs auf die Neue Institutionenökonomik den Unternehmer als „Spezialisten für entscheidungsorientierte Problemlösungen“ auf. Das Bild des Unternehmers bei Casson (2001) ist bestimmt durch den Unternehmer, der als Informationsbeschaffer, -verarbeiter und Entscheider fungiert. Die Beschaffung von Informationen kann er selbst übernehmen oder weitestgehend delegieren. Der Delegation geht aus Informationen generiertes Wissen über geeignete Informationslieferanten voraus, sodass seine Tätigkeit nie vollständig delegiert werden kann.6 Das Konzept widerspricht weder dem von Kocka (1975, 1982) noch dem Unternehmer-Typ eines Pioniers nach Schumpeter (1911), der neue Kombinationen, seien es innovative Produktionsverfahren, die Erschließung anderer Absatzmärkte oder die Nutzung neuer Rohstoffquellen, die Etablierung einer veränderten Organisation oder die Herstellung neuer Güter entwickelt.7 Bei dem Unternehmerbegriff Schumpeters handelt es sich um einen sehr weiten, abstrakten Begriff, der im Kontext der Untersuchung von Großunternehmen, die von einem Industriepionier etabliert wurden, entstanden ist.8 Für die frühindustrielle Phase wird kein Unterschied zwischen Kaufleuten, Fabrikanten, Verlegern und Unternehmern eingeführt, sondern in Anlehnung an Wischermann (2004) der Unternehmerbegriff in einer „branchenmäßig generalisierende[n] und auf die wirtschaftliche Leitungsfunktion“ abstellenden Zusammenfassung im Sinne von „Führungskräfte[n] der frühindustriellen Wirtschaft“ ausgegangen.9 Ebenso wird nicht zwischen Unternehmern und Privatbankiers, nach Born „Einzelunternehmer und geschäftsführenden Gesellschafter, die unter Einsatz des eigenen Kapitals, unter unbeschränkter Haftung ihres gesamten Vermögens mit alleiniger Entscheidungsgewalt Bankgeschäfte betreiben“10, unterschieden. Für die frühindustrielle Zeit waren diese oft noch im Handel engagiert, die Funktion als entscheidungsorientierter Problemlöser oder als „unternehmerische Führungsgruppen der Frühindustrialisierung“ gingen ihnen aufgrund der Tätigkeit im monetären Sektor nicht verloren. Unternehmer in einem Familienunternehmen ist anschließend an diese Betrachtung zunächst derjenige, der sich institutionell-rechtlich an der Spitze des Unter-

4 5 6 7

Vgl. Kocka: Unternehmer (1975), S. 14. Vgl. ebenda. Vgl. Casson: The Entrepreneur. An Economic Theory, Cheltenham 2003, S. 22 f., 146 f. Vgl. Joseph Schumpeter: Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Eine Untersuchung über Unternehmensgewinn, Kapital, Kredit, Zins und den Konjunkturzyklus, Berlin 1911, S. 100 f. 8 Vgl. Casson: Unternehmer (2001), S. 533; zu der konzeptionellen Einordnung und Würdigung des Schumpeter’schen Unternehmerbegriffs als Idealtypus vgl. Fritz Redlich: Der Unternehmer. Wirtschafts- und sozialgeschichtliche Studien, Göttingen 1964, S. 176 f. 9 Vgl. Clemens Wischermann/Anne Nieberding: Die institutionelle Revolution: eine Einführung in die deutsche Wirtschaftsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (Grundzüge der modernen Wirtschaftsgeschichte 5), Stuttgart 2004, S. 79, 80. 10 Vgl. Karl Erich Born: Geld und Banken im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1977, S. 48; Ernst Korach: Das deutsche Privatbankgeschäft, Diss. Berlin 1910, S. 32.

2.1 Begriffsdefinitionen

41

nehmens befindet und die Unternehmensleitung inne und seine Entscheidungsbefugnisse in seiner Stellung als Eigentümer verankert hat. Diese Verortung des Unternehmers nach organisatorischen Kriterien in der Unternehmensleitung entspricht dem positionalen Unternehmerbegriff wie ihn Pierenkemper (1979) verwendet. Darüber hinaus ist, dem institutionenökonomischen Ansatz von Casson (2001) folgend, derjenige Unternehmer, der als „entscheidungsorientierter Problemlöser“, hier besonders bei der Lösung der Unternehmensnachfolge, fungiert, und in einer Abgrenzung zum Manager derjenige, der der Trägergruppe des Unternehmens, der Familie angehört. Für das Familienunternehmen bleibt festzuhalten, dass der Schumpeter-Typus des Pionierunternehmers nicht mit dem Gründerunternehmer gleichzusetzen ist, da ein Pionierunternehmer auch in späteren familiären Generationen Wachstumspotenzial für das Familienunternehmen generieren kann.11 Der Begriff der Unternehmensführung wird im Folgenden in einer institutional-rechtlichen Betrachtungsweise unter Rückgriff auf die Konzepte der Unternehmensleitung, des Unternehmens, der Unternehmensverfassung und der Einbettung in wirtschaftliche und soziale Beziehungen erläutert. Unternehmensführung ist anschließend an Frese (1987, 2000) als „Aufgabe der Unternehmensleitung“ zu verstehen, bei der es sich um „ein Individuum oder eine Gruppe als höchste Ebene der Unternehmenshierarchie“ handelt, „die zur Formulierung der offiziellen, für alle Unternehmensaktivitäten verbindlichen Unternehmungsziele legitimiert ist.“12 2.1 Begriffsdefinitionen

2.1.2 Familie Seit Beginn des Untersuchungszeitraums, das späte 18. Jahrhundert, vollzog sich über das 19. Jahrhundert hinweg ein anhaltender institutioneller Wandel hinsichtlich der von der Familie als soziale Gruppe wahrgenommenen Funktionen.13 Institutionen, zu denen auch die Familie als soziale Gruppe gehört, ist gemein, dass sie Handlungen von Individuen innerhalb von sozialen Interaktionen zu steuern vermögen.14 North (1986) definiert Institutionen als, „jegliche Art von Beschränkungen, die Menschen zur Gestaltung menschlicher Interaktion ersinnen“, positiv formuliert als „regularities in repetative interactions among individuals“.15 Die 11 Vgl. Casson: Unternehmer (2001), S. 533; Pierenkemper: Unternehmensgeschichte (2000), S. 118; zur Unterscheidung von Unternehmensgründer und Pionierunternehmer vgl. Spielmann: Generationenwechsel (1994), S. 9. 12 Vgl. Erich Frese: Unternehmungsführung, Landsberg am Lech 1987, S. 15. 13 Vgl. zum Wandel der bürgerlichen Familie Rosenbaum: Familie (1982), S. 251 f.; zum Begriff der Familie als soziale Gruppe vgl. Bernhard Schäfers: Die soziale Gruppe, in: Hermann Korte/Bernhard Schäfers (Hg.): Einführung in die Hauptbegriffe der Soziologie, Opladen 2000, S. 125–140, S. 133; Schäfer: Herren (2000), S. 144–166, insb. S. 125 f. 14 Vgl. Rudolf Richter: Institutionen ökonomisch analysiert. Zur jüngeren Entwicklung auf dem Gebiet der Wirtschaftstheorie, Tübingen 1994, S. 17. 15 Vgl. Douglass C. North: Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 76), Tübingen 1992, S. 4; ders.: The New Institutio-

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2. Begriffe, theoretischer Bezugsrahmen und Methode

Beschränkungen bzw. Regelmäßigkeiten können sowohl formlos sein, wie z. B. Gewohnheiten, Traditionen, Bräuche, als auch formgebunden wie Verfassungen.16 Der Hauptzweck von Institutionen besteht in der Reduktion von Unsicherheit „durch Schaffung einer stabilen Ordnung“17. Ende des 18. Jahrhunderts bestanden mehrere Formen der traditionellen Familie – die bäuerliche, die Familie der Handwerker, Heimarbeiter und z. B. die der Handelsleute – nebeneinander, sodass man im Sinne von Gestrich (1999) nicht von der Familie, sondern von einer sozialen Vielfalt der Familie hinsichtlich ihrer ökonomischen und kulturellen Bedingungen sprechen kann.18 So variierte auch der von den einzelnen Familien umfasste Personenkreis von Groß- und Kleinfamilien bis hin zu Kernfamilien.19 Bei dem Wandel der Wirtschaft und dem Wandel der Familie handelt es sich um zwei stark verwobene und sich gegenseitig beeinflussende Prozesse, deren funktionale Ausdifferenzierung und Spezialisierung Hand in Hand gingen. Vor ihrem allmählichen Funktionsverlust, der Abgabe von Funktionen an gesellschaftliche Institutionen, nahmen Familien Funktionen der Reproduktion, Sozialisation und Erziehung, wirtschaftlichen Existenzsicherung, Platzierung und Regeneration in anderer Intensität und Gewichtung wahr.20 Während der fortschreitenden Industrialisierung, mit der Verlagerung des Ortes der Produktion aus der familiär-häuslichen Umgebung wandelten sich die Familie und ihr Charakter einer Arbeitsgemeinschaft. Funktionen der Familie, die im Rahmen der Familienwirtschaft z. B. traditionell im „ganzen Haus“ wahrgenommen worden waren, wurden von sich herausbildenden spezialisierenden Unternehmen weitgehend absorbiert.21 Nach Wimmer (2005) bildeten sich, „je nach Zugehörigkeit zu einer anderen sozialen Schicht, Stand oder Gruppierung und je nach Art und Form der Arbeitstätigkeit, unterschiedliche Muster und Kopplungen beziehungsweise eine Trennung von Berufs- und Privatwelten aus“22, zu denen nach Rosenbaum (1982) speziell für das 19. Jahrhundert auch die bürgerliche und proletarische Familie gehörten.23

16 17 18 19

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21 22 23

nal Economics, in: Journal of Institutional and Theoretical Economics 142 (1996), S. 230– 237, S. 231. Vgl. North: Institutionen (1992), S. 6. Vgl. ebenda. Vgl. Andreas Gestrich: Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 50), München 1999, S. 2; Rosenbaum: Familie (1982), S. 476. Vgl. zur Kernfamilie als zeitloses Phänomen, das nicht nur in der Moderne verortetet werden kann, Rosenbaum: Familie (1982), S. 27; Gestrich: Neuzeit (2003), S. 364–652, S. 397 f.; ders.: Geschichte der Familie (1999), S. 2. Vgl. zu den Funktionen der Familie Gestrich: Geschichte der Familie (1999), S. 86, zu Privatisierung und Emotionalisierung der Familie im Bürgertum S. 5; Rosenbaum: Familie (1982), S. 267. Als Gründe für den Funktionsverlust der Familie sind neben der fortschreitenden Industrialisierung der gesellschaftliche Wertewandel und die Individualisierung zu nennen. Vgl. Rosenbaum: Familie (1982), S. 484. Im säkularen Verlauf im Bergischen Land verschwand die Form des Heimgewerbes nicht vollständig. Vgl. Wimmer/Domayer/Oswald: Erfolgstyp (2005), S. 194. Vgl. Rosenbaum: Familie (1982), S. 484.

2.1 Begriffsdefinitionen

43

Ein für eine historische Untersuchung adäquater Begriff der Familie, der geeignet ist, die Familie im Sinne einer Unternehmerfamilie als einen zentralen Einflussfaktor auf ein mehrere familiäre Generationen24 überdauerndes Familienunternehmen zu fassen, darf nicht wie der Begriff der heutigen Kernfamilie auf einen Personenkreis (Vater-Mutter-Kinder) fixiert sein.25 Die Besonderheit, dass Unternehmerfamilien bzw. ihre Mitglieder aus ihrer Stellung im (klassischen) Familienunternehmen Rechte und Pflichten als Eigentümer, in der Unternehmensführung und als Mitarbeiter im Unternehmen wahrzunehmen hatten, grenzt sie sowohl historisch als auch in heutiger Zeit von anderen Formen der Familie ab. Durch den Besitz der Familie an Produktionsmitteln nahmen und nehmen sie die Produktionsfunktion von Gütern durch das Familienunternehmen wahr und geben die Produktionsfunktion der Familie bis in die Gegenwart nicht ab.26 Als spezielle Funktion der Familie von Klein (2004), als „hierarchisch organisierte Institution“ charakterisiert, ist die Ausübung von „Macht und Herrschaft“ zu nennen27 Die sich in „klaren Rolle[n]- und Rangdifferenzierung[en]“ 28 zwischen Generationen und den Geschlechtern in der Ehe wiederfindet. In Unternehmerfamilien spielt die Ausübung von „Macht und Herrschaft“ durch Einflussnahme auf ihr Unternehmen eine besondere Rolle, insbesondere wenn die Kontinuität zum (erklärten) Familienziel gehört.29 Schäfer (2000) attestiert der Unternehmerfamilie im 19. Jahrhundert und beginnenden 20. Jahrhundert eine „Schlüsselposition bei der Reproduktion des Wirtschaftsbürgertums in der Generationenfolge, die sowohl für das Unternehmen und für die Gesellschaft bedeutend war“30. 24 Der Begriff der Generation ist nicht als Alterskohorte im Sinne von Mannheimer zu verstehen, sondern wird im genealogischen Sinn als familiäre Generation verwendet. Vgl. zu einer Zusammenfassung von Generationenbegriffen François Höpflinger: Generationenfrage: Konzepte, theoretische Ansätze und Beobachtungen zu Generationenbeziehungen in späteren Lebensphasen, Lausanne 1999, S. 6 f. 25 Klein sieht für einen Begriff der heutigen Unternehmerfamilie als generationenübergreifender Einflussfaktor auf ein Unternehmen die moderne Kernfamilie, deren Bestand sich auf die primäre Sozialisationsphase der Kinder beschränkt, als ungeeignet an. Vgl. hierzu Klein: Familienunternehmen (2004), S. 58. Zu dem Begriff der Kernfamilie vgl. Schäfers: Gruppe (2000), S. 134; zum hohen Abstraktionsgrad des Konzeptes der Kernfamilie vgl. Rosenbaum: Familie (1982), S. 27. 26 Vgl. zu den Hauptfunktionen der modernen Familie Bernhard Schäfers: Die Kernfamilie als kleine Gruppe, in: ders. (Hg.): Einführung Gruppensoziologie, Geschichte, Theorien, Analysen, Wiesbaden 1999, S. 177–193, S. 179 f.; Klein: Familienunternehmen (2004), S. 3. 27 Vgl. Klein: Familienunternehmen (2004), S. 63 f.. 28 Vgl. zur Funktion von Macht und Herrschaft in Familien Klein: Familienunternehmen (2004), S. 65 f.; Elisabeth Göbel: Neue Institutionenökonomik, Stuttgart 2002, S. 8. Den Machtaspekt in der Familie betont Wolfgang Rau: Rechtsauffassungen zur familialen Herrschaft, in: Wigand Siebel (Hg.): Herrschaft und Liebe – Zur Soziologie der Familie (Soziologische Schriften 40), Berlin 1984, S. 30–82, S. 58 f. 29 Vgl. Zur Wirkung von Macht und Herrschaft in Zusammenhang mit dem Familienziel Klein: Familienunternehmen (2004), S. 63, 67; Wigand Siebel: Herrschaft und Liebe in der Familie, in: ders. (Hg.): Herrschaft und Liebe (1984), S. 200–305, S. 294 f. 30 Vgl. Schäfer: Herren (2000), S. 144–166, S. 145.

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2. Begriffe, theoretischer Bezugsrahmen und Methode

Klein (2004) stellt drei Formen der Unternehmerfamilie – die institutionelle, die dynastische sowie die Mischform der institutionell-dynastischen Familie – vor. Als konstituierende Merkmale fungieren der innerfamiliäre Bindungsaspekt, z. B. gemeinsames Vermögen, die generationenüberdauernde Bindung zwischen Familie und Unternehmen und der gesellschaftliche Bezug der Unternehmerfamilie. Die institutionelle Familie besteht aus mindestens einer Kernfamilie, lässt aber eine Erweiterung des Personenkreises durch Verwandte zu einer erweiterten Familie zu. Nach Klein (2004) „wollen [diese Familien] einen über ihre eigene Existenz hinausgehenden Auftrag als Teil ihrer Familienkultur“31. Der Charakter der institutionell-dynastischen Familie zeigt sich in ihrem zeitlich unbeschränkten Bestand, dem gemeinsamen Ursprung und der gemeinsamen Idee sowie der Vermittlung tradierter Lebensmuster an die kommende Generation.32 Klein (2004) definiert die dynastische Familie als „eine Gruppe von Menschen, die aus einer oder mehreren Kernfamilien und weiteren Einzelpersonen besteht, die ihr Zusammengehörigkeitsgefühl auf die Abstammung von einer klar benannten Kernfamilie herleitet, die ein Familienvermögen aufbaut oder erhält und die Einfluss nimmt auf gesellschaftliche Prozesse“33. In vielen dynastischen Familien ist es üblich, „dass dem Familienoberhaupt eine normgebende und richterliche Kompetenz zukommt. Er oder sie definiert dann, was ein Familienmitglied darf und was wie geahndet wird, bis hin zum Verlust des Schutzes der Familie“ und nimmt Anpassungen des Familienkodex vor.34 Letztendlich entsteht „eine Familienkultur vergleichbar einer Unternehmenskultur“. Eine so definierte dynastische Familie ist somit „eine Organisation im Sinne eines gegenüber seiner Umwelt offenen sozialen Gebildes, das zeitlich überdauernd existiert, bestimmte Ziele verfolgt und eine Struktur aufweist, mit deren Hilfe die Aktivitäten der Mitglieder auf die jeweiligen Ziele ausgerichtet werden.“35 Die Mischform dynastisch-institutionelle Familie erfüllt die Kriterien beider Formen, die der institutionellen Familie hinsichtlich des gesellschaftlichen Auftrags, der Abgabe bestimmter Leistungen an die Gesellschaft, der Vermittlung von Handlungsmustern an Familienmitglieder als auch die der dynastischen Familie, zu denen das gemeinsame Familienvermögen, die einheitliche Leitung der Familie und die Einflussnahme auf gesellschaftliche Prozesse gehören. Die institutionelle

31 Vgl. Klein: Familienunternehmen (2004), S. 63. 32 Vgl. Klein: Familienunternehmen (2004), S. 69. Zu Familienunternehmen als Element der intergenerationalen Sinnstiftung in Unternehmerfamilien Familien vgl. Schäfer: Herren (2000), S. 146 f. 33 Vgl. Klein: Familienunternehmen (2004), S. 69; David S. Landes: Die Macht der Familie: Wirtschaftsdynastien in der Weltgeschichte, München 2006, S. 13, 20. Der Vermögensaspekt wird von Klein stärker betont, während die Assoziation von Familien- bzw. Unternehmerdynastien mit Vermögen und Macht bei Landes eher indirekt über die Wahl der Beispiele, wie z. B. die Familien Rockefeller, Toyoda und Rothschild, hervortritt. 34 Vgl. Klein: Familienunternehmen (2004), S. 69. 35 Vgl. ebenda.

2.1 Begriffsdefinitionen

45

und die dynastische Komponente können in unterschiedlicher Gewichtung auftreten.36 Im Rahmen dieser Arbeit handelt es sich bei einer Unternehmerfamilie um eine soziale Gruppe nach Korte/Schäfers (2000)37, deren Personenkreis im Zeitverlauf des Familienzyklus38 von einer Kernfamilie bis zu einem ausgeprägten verwandtschaftlichen Netzwerk variieren kann. Trotz des im Untersuchungszeitraum einsetzenden institutionellen Wandels der Familie vereint sie eine Funktionsfülle auf sich. Als zentralen Einflussfaktor auf das Familienunternehmen nehmen die Unternehmerfamilien neben der Produktionsfunktion die Funktion der Reproduktion, die Erziehung, Ausbildung und Platzierung des Nachwuchses wahr.39 Der Einfluss der Unternehmerfamilie auf ihr „alter ego“40, die Einflussnahme über die Ebene von Eigentum und Leitung (und der Besitz von Produktionsmitteln) und die Kontrolle über mehr als drei familiäre Generationen in Folge durch eine Familie wird hier als dynastisches Motiv verstanden, ohne dass die übrigen der von Klein definierten Merkmale einer dynastischen Familie erfüllt sein müssen. Als Typologisierung der Unternehmerfamilie wird die von Klein (2004) verwendete Unterteilung zugrunde gelegt, danach unterscheidet man eine institutionelle, dynastische oder dynastisch-institutionelle Form.

2.1.3 Familienunternehmen Der Begriff des Familienunternehmens, der der Arbeit zugrunde liegt, baut sowohl auf dem des klassischen Familienunternehmens nach Colli (2003) als auch auf der weiteren Definition von Wimmer/Domayer/Oswald/Vater (2005) auf. Bei Colli (2003) liegt ein klassisches Familienunternehmen vor, wenn „property, control are firmly entwined, where family members are involved in both strategic and day by day decision-making, and the firm is shaped by a dynastic motive.“41 Im Rahmen einer weiten Definition, die verschiedene Kombinationen von Familie und Unternehmen zulässt, sprechen Wimmer/Domayer/Oswald/Vater (2005) von Familienunternehmen immer dann, „wenn sich eine Wirtschaftsorganisation im Eigentum einer Familie oder eines Familienverbandes befindet und diese deshalb einen bestimmenden Einfluss auf die Entwicklung des Unternehmens nehmen kann.“42

36 Vgl. Klein: Familienunternehmen (2004), S. 68. 37 Vgl. Schäfers: Gruppe (2000), S. 133. 38 Vgl. ebenda zum Begriff des Familienzyklus als dauernder Prozess der Veränderung, der durch familiale Werte und Normen geprägt wird. 39 Vgl. Angaben aus dem Forschungsstand, die die Rekrutierungsaufgabe der Unternehmerfamilie belegen; Klein: Familienunternehmen (2004), S. 73. 40 Vgl. Landes: Macht der Familie (2006), S. 20. 41 Vgl. Colli: Family Business (2003), S. 9. 42 Vgl. Wimmer/Domayer/Oswald: Erfolgstyp (2005), S. 6; zur Definition des Familienunternehmens vgl. Wimmer: Art. Familienunternehmen (2004), Sp. 269.

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2. Begriffe, theoretischer Bezugsrahmen und Methode

Ein Familienunternehmen liegt in der vorliegenden Arbeit unabhängig von der Rechtsform dann vor, wenn es sich um ein Unternehmen handelt, in dem Eigentums-, Besitz- und Kontrollrechte sich maßgeblich in der Hand einer Familie oder eines Familienverbandes als Trägergruppe eines Familienunternehmens befinden, diese somit einen bestimmenden Einfluss auf die Unternehmensentwicklung nehmen können, Familienmitglieder zumindest in das strategische Geschäft involviert sind und ein dynastisches Motiv vorliegt.43 Für das Ende des 18. und das frühe 19. Jahrhundert wird im Zusammenhang der drei Fallbeispiele der Begriff der Unternehmung/Familienunternehmen unabhängig von den verschiedenen Gewerbezweigen verwendet. Da in frühen Quellen bei Johann Wülfing & Sohn um 1805 rückblickend für die 1770er Jahre von „Gewinnst“ und erwirtschaftetem Überschuss gesprochen wurde, wird eine „frühkapitalistische“ profitorientierte Wirtschaftsweise unterstellt,44 auf die auch das Quellenmaterial von Heydt-Kersten & Söhne und die Zinsbücher des Gründers Johann Bagel hinweisen.45

2.1.4 Nachfolge und erfolgreiche Nachfolgestrategie Neubauer/Lank (1998) fassen Nachfolge sowohl als (geplanten) Prozess mit „identificable steps over time whose purpose is to ensure that the eventual successor will be ready“ als auch als Ereignis auf, wobei als Ziel der Nachfolge „the formal transfer of power“ von dem Vorgänger auf den Nachfolger genannt wird.46 Als Art der Nachfolge wird, je nachdem ob der Nachfolger aus der Familie stammt oder extern rekrutiert wird, zwischen familieninterner oder familienexterner Nachfolge unterschieden. Der Personenkreis der Familie enthält hier auch angeheiratete Schwiegerkinder.47 Die Dauer des Nachfolgeprozesses kann im Einzelfall und in Abhängigkeit der Gestaltung der Nachfolge wie in der hier betrachteten familieninternen Nachfolge, der familienexternen Nachfolge oder dem Verkauf sehr unterschiedlich sein und Jahre oder gar Jahrzehnte betragen. Bei der familieninternen Nachfolge ist die primäre Sozialisation48 des Nachfolgekandida43 Vgl. zu Merkmal der Rechtsformunabhängigkeit z. B. Sachse: Familienunternehmen (1991), S. 9–25, S. 11. 44 Vgl. RWWA 122-225-9. Nota von Johann Arnold Hardt sen., 1805. 45 Vgl. z. B. Firmenarchiv Bagel 193-4. Debitorenbuch Johann Bagel, 1825–1847; Firmenarchiv Bagel 193-5. Debitorenbuch, 1825–1854; Firmenarchiv Bagel 025. Debitorenbuch Johann Bagel, 1849–1855 von Johann Bagel; HAC 402/195. Handlungsbuch Daniel Heinrich von der Heydt. 46 Vgl. Neubauer/Lank: Governance (1998), S. 134. 47 Vgl. zu dem Begriff der erweiterten Familie Martine Segalen: Die Familie: Geschichte, Soziologie, Anthropologie, Frankfurt/New York 1990, S. 10. 48 Vgl. Schäfers: Gruppe (2000), S. 132 f.; Albert Scherr: Sozialisation, Person, Individuum, in: Korte/Schäfers (Hg.): Soziologie (2000), S. 45–64, insb. S. 48 f. Zu Phasierung der Sozialisation in primäre und sekundäre Sozialisation vgl. Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt 1970, S. 141, die die primäre Sozialisation als „die erste Phase, durch die der Mensch in sei-

2.1 Begriffsdefinitionen

47

ten einbezogen und verlängert die Dauer des Nachfolgeprozesses entsprechend. Als Endpunkt der Nachfolge wird nicht nur die formale Machtübergabe als Kriterium angesetzt, sondern die De-facto-Übergabe der Macht im Unternehmen verstanden, die voraussetzt, dass der Vorgänger nicht mehr physisch im Unternehmen anwesend oder tätig ist.49 Klein (1999/2004) unterscheidet in diesem Zusammenhang für die heutige Zeit die betriebswirtschaftliche, juristische und emotionale Ebene des Problems der Unternehmensnachfolge.50 Aus Nachfolgerperspektive können mehrere Formen der Nachfolge, kombiniert oder separat, vorliegen: Die Nachfolge in die Eigentümerschaft im Unternehmen bzw. in die vermögensrechtliche Stellung des Vorgängers, in die Unternehmensleitung und in die Funktion des Familienoberhaupts. Im Falle, dass die Ebenen Unternehmensführung und Eigentum tangiert werden, wird von Unternehmensnachfolge gesprochen, synonym wird hier der Begriff unternehmerische Nachfolge verwendet. Einer der zentralen neuralgischen Punkte der familieninternen Unternehmensnachfolge besteht darin, dass sich der Personenkreis der Betroffenen nicht nur auf die Nachfolgekandidaten beschränkt, sondern weitere Mitglieder der Unternehmerfamilie umfasst, die per Gesetz oder seitens des Senior-Unternehmers oder des Unternehmerehepaares als Berechtigte der im Erbfall zu verteilenden Vermögensmasse eingesetzt werden. Der familieninternen Nachfolge, mit der sich die Untersuchung beschäftigt, liegt das Ziel zugrunde, dass das Unternehmen im Besitz der Eignerfamilie verbleibt, die Familie ihre Eigentümerposition nicht verliert und das Unternehmen von einem familieninternen Nachfolger erfolgreich weitergeführt wird. Um das Problem der Nachfolge zu lösen, verfolgen die Entscheidungsträger in Familie und Unternehmen neben der Unternehmens- und Wettbewerbsstrategie eine bewusste oder im Generationenverlauf institutionalisierte Nachfolgestrategie, die die Existenz der Familie und die Kontinuität des Unternehmens als Familienunternehmen sichert. Die Wirkungsrichtung, die von der Trägergruppe der Familie formulierte Unternehmensstrategie51, die Zweck, Ziel sowie den Produkt-MarktBereich des Unternehmens festlegt, und die Wettbewerbsstrategie, die Aktivitäten des Unternehmens in dem jeweiligen Marktbereich bestimmt, sind auf das externe

ner Kindheit zum Mitglied der Gesellschaft wird“ und die sekundäre Sozialisation als „späteren Vorgang, der eine bereits sozialisierte Person in neue Abschnitte der objektiven Welt ihrer Gesellschaft einweist“, auffassen. 49 Vgl. Randolf Rodenstock: Lösung der Nachfolgeprobleme in Familienunternehmen, in: Arend Oetker (Hg.): Mittelstand in Zeiten struktureller Umbrüche, München 1997, S. 149–157, S. 155. 50 Vgl. zu Komplexität des Problems der Unternehmensnachfolge Klein: Erben lassen (1999), S. 210 f.; Klein: Familienunternehmen (2004), S. 317 f.; Wimmer: Art. Familienunternehmen (2004), Sp. 267–275. 51 Vgl. zu Unternehmensstrategie Robert M. Grant: Contemporary Strategy Analysis. Concepts, Techniques, Applications, Cambridge 1998, S. 19; Erich Frese: Grundlagen der Organisation, Konzepte – Strukturen – Prinzipien, Wiesbaden 2000, S. 284.

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2. Begriffe, theoretischer Bezugsrahmen und Methode

Umfeld des Familienunternehmens gerichtet, um am Markt erfolgreich Leistungen anzubieten.52 Demgegenüber zielt die Nachfolgestrategie darauf ab, die personellen und finanziellen Verbindungen der Familie zu sichern und zu erneuern, den Einfluss als Trägergruppe zu erhalten und weitere familiäre Ressourcen (z. B. soziales Kapital) an die folgende familiäre Generation weiterzugeben. Es wird davon ausgegangen, dass zwischen den genannten Strategien Beziehungen oder Interdependenzen bestehen. Das Verhältnis von Unternehmens- und Nachfolgestrategien wird hier zunächst zeitraumbezogen als simultan zu treffende Strategien, die sich auch in ihrem Inhalt verzahnen könnten, unterstellt. Dies gilt auch, wenn die jeweiligen Entscheidungsträger die Strategieentwicklung auf der Unternehmens- und Nachfolgeebene zu verschiedenen Zeitpunkten mit unterschiedlicher Intensität entwickelten. Nachfolgestrategie wird als Maßnahmenbündel aufgefasst, das von der Familie als Trägergruppe des Familienunternehmens formuliert wird. Die Maßnahmen sind sowohl auf juristische und betriebswirtschaftliche Aspekte als auch auf das Rekrutierungsproblem von Nachfolgekandidaten gerichtet. Eine der zentralen Maßnahmen ist die Gestaltung der Unternehmensverfassung vor dem Hintergrund des jeweiligen rechtlich-institutionellen Rahmens. Unternehmensverfassung wird hier nach Frese (2000) als „System gesetzlicher und vertraglicher Regelungen verstanden, das die Entscheidungs- und Anreizstruktur der Kerngruppe einer Unternehmung festlegt“53. Für die familieninterne Unternehmensnachfolge legen neben der Unternehmensverfassung, zu deren expliziten Regelungen der Gesellschaftsvertrag gehört, vor allem Testamente, Erb- und Heiratsverträge die Modalitäten der Vermögens- und Besitztransfers und Vermögensverteilungen innerhalb der Ehe des Unternehmerehepaares und zwischen den Eheleuten und der nachfolgenden Generation fest. Diese Reglements können von den Betroffenen ohne Widerspruch akzeptiert werden, sie bilden jedoch häufig den Nährboden für Rivalitäten und gefährliche Konflikte. Die Aktivitäten der familiären Vermögensverteilung beziehen sich auf den Transfer zu Lebzeiten und von Todes wegen mit dem Ziel, eine Gründungsfinanzierung für die Unternehmensnachfolge und Mittel für die Versorgung der nicht im Unternehmen tätigen Familienmitglieder bereitzustellen. Somit sind als weitere Gegenstände der Nachfolgestrategie in langfristiger Perspektive die Akkumulation, die Weitergabe, die Vererbung und der Wandel von Vermögens-/Eigentumsrechten und Kapital zu nennen.54 Im Hinblick auf die intergenerationalen Besitz-

52 Vgl. zu Wettbewerbsstrategie Grant: Strategy (1998), S. 19; Frese: Organisation (2000), S. 284. Als mögliche Interdependenzen können Ressourceninterdependenzen auftreten, je nach Ziel des Seniors konfligiert z. B. der Einsatz finanzieller Ressourcen im Unternehmen mit der Versorgung der Familie. 53 Vgl. zur Unternehmensverfassung Frese: Organisation (2000), S. 534. Die Definition umfasst auch das Erbrecht, das eine Entscheidungsgrundlage für Unternehmensnachfolgen bildet. Synonym zur Unternehmensverfassung wird corporate governance verwendet. 54 Unter Akkumulation von Kapital im Kontext des Unternehmens werden der Aufbau und die Zunahme/Wachstum von Eigenkapital, im privaten Kontext die Akkumulation von Haftungs-

2.1 Begriffsdefinitionen

49

und Vermögenstransfers in der Unternehmerfamilie wird mit der Kategorie Vermögen operiert, verstanden als Summe von Vermögensrechten i. S. in Geld bewertbarer Eigentumsrechte. Eigentumsrechte am Unternehmen werden i. S. von Anteilen am Eigenkapital aufgefasst.55 Die Maßnahmen der Unternehmerfamilie umfassen nicht nur die Kategorie Kapital im Sinne von Geldkapital und in finanzielle Mittel wandelbares betriebliches gebundenes Vermögen, sondern weitere familiäre Ressourcen, um das Unternehmen und den Einfluss der Familie darauf im Wechsel der Generationenfolge zu sichern. Es bietet sich daher an, einen erweiterten Kapitalbegriff zu verwenden, der sowohl Eigenkapital als auch Human- und Sozialkapital umfasst. Im Kontext des Unternehmens wird bei der Sozialisation, der Erziehung und Ausbildung von Nachfolgekandidaten statt von kulturellem Kapital von Humankapital gesprochen.56 Der Aufbau von Nachfolgekandidaten erfordert zeitlichen Einsatz der Familie sowie finanzielle Mittel und ist als Investition auffassbar.57 Aus Sicht der Unternehmensführung ist eine Investition in den Nachfolger finanziell und zeitlich nur lohnend, wenn sich eine Möglichkeit der Nutzung des durch Erziehung in der Sozialisation und Ausbildung aufgebauten Humankapitals erwarten lässt. Das vermittelte Wissen sollte in irgendeiner Form auch im Familienunternehmen nutzbar gemacht werden. Der Begrifflichkeit von Bourdieu (1983) folgend wird hier „soziales Kapital“ als die „Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind“58, verwendet.

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kapital/Haftungsmasse, falls es sich um Unternehmensformen mit privater Vermögenshaftung handelt (ansonsten privates Vermögen), verstanden. Dies folgt der Differenzierung von Wolfgang Theil: „nur Eigentumsrechte an einem Gegenstand stellen Vermögen dar. Wer einen Gegenstand nur besitzt, ohne Eigentumsrechte an ihm zu haben, kann ihn nicht zu seinem Vermögen rechnen“. Ders.: Eigentum und Verpflichtung: einige juristische Aspekte, in: Hans-Joachim Stadermann/Otto Steiger (Hg.): Verpflichtungsökonomik. Eigentum, Freiheit und Haftung in der Geldwirtschaft, Marburg 2001, S. 175–200, S. 180, 195. Das im Unternehmen befindliche Kapital wird im Sinne von Eigenkapitals verstanden. Die Eigentumsrechte am Unternehmen drücken sich als Eigenkapital, als Überschuss von Aktiva über Passiva aus. Vgl. zu der Unterscheidung von Human- und Sozialkapital Dieter Sadowski/Oliver Ludewig: Art. Organisationskapital, in: Schreyögg/Werder (Hg.): HWFü (2004), Sp. 1017–1025, Sp. 1019. Humankapital bezieht sich auf den Wert des Wissens und der Kompetenzen von Personen, während soziales in Beziehungen zwischen Personen entsteht. In diesem Zusammenhang spricht Bourdieu von der Vermittlung von kulturellem Kapital, das in drei Erscheinungsformen auftreten kann, im objektivierten Zustand, z. B. in Form von Büchern, Gemälden, in inkorporierten oder institutionalisierter Form (z. B. akademischer Grad, Bildungstitel). Das Kapital in inkorporierter Form, kulturelle Fähigkeiten, Wissen, Fertigkeiten (z. B. handwerklich), wird in der Familie und der Schule vermittelt und setzt einen Verinnerlichungsprozess voraus, der Zeit in Anspruch nimmt. Vgl. Pierre Bourdieu: Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hg.): Soziale Ungleichheiten (Soziale Welten, Sonderband 2), Göttingen 1983, S. 183–198; ders.: Ökonomisches, kulturelles, soziales Kapital, in: Reinhard Kreckel (Hg.): Soziale Ungleichheiten (Soziale Welt, Sonderband 2), Göttingen 1983, S. 183–

50

2. Begriffe, theoretischer Bezugsrahmen und Methode

Als Nachfolgestrategie wird hier das Maßnahmenbündel verstanden, das von der Familie als Trägergruppe des Familienunternehmens formuliert oder in der Generationenfolge institutionalisiert wird. Die Maßnahmen sind sowohl auf juristische und betriebswirtschaftliche Aspekte sowie auf das Rekrutierungsproblem von familieninternen Nachfolgekandidaten gerichtet. Für die Qualifizierung einer erfolgreichen familieninternen Nachfolgestrategie werden zwei zeitliche Perspektiven als maßgeblich betrachtet. Als erster Teilerfolg wird sowohl die Übergabe des Unternehmens an die nächste Generation angesehen als auch die Vermeidung von Erbfolgekriegen. In mittel- und langfristiger, mehrere familiäre Generationen umfassender Perspektive ist eine Nachfolgestrategie dann erfolgreich, wenn es gelingt, dass der aufgebaute Nachfolger das Familienunternehmen im fortgeschrittenen Lebenszyklus am Markt positioniert, Wachstum generiert und es durch ökonomische und familiäre Krisen steuert. Gradmesser des ökonomischen Erfolgs der Nachfolgestrategie wie auch der übrigen Strategien bleiben der Markt und das Weiterbestehen am selbigen, so gesehen das langfristige Überleben des Unternehmens. Der Markterfolg kann unterschiedlich gemessen werden anhand des erzielten Gewinns, des Marktanteils, der Eigenkapitalrendite oder anhand des hier neben dem Gewinn als Maßstab angesetzten langfristigen Kapitalwachstums i. S. der Erhöhung des Unternehmenswerts.59 2.2 Untersuchungssample, Material, Methode und Forschungsdesign

2.2 UNTERSUCHUNGSSAMPLE, MATERIAL, METHODE UND FORSCHUNGSDESIGN Ausgangspunkt der Untersuchung sind Fallbeispiele von kleineren und mittleren Familienunternehmen, die sich innerhalb des Untersuchungszeitraums des späten 18. bis frühen 20. Jahrhundert zu sog. Mehr-Generationen-Familienunternehmen, also zu solchen, die über mehrere Generationen der Eignerfamilie hinweg Bestand hatten, entwickelten.60 Sie erlagen gerade nicht – trotz möglicher Konfliktherde auf der Beziehungsebene der Unternehmerfamilie – der Buddenbrook-Hypothese, sondern schritten in ihrer Unternehmensentwicklung fort.61 Bei den ausgewählten

198, S. 190; Pierre Bourdieu: Die verborgenen Mechanismen der Macht (Schriften zu Polititk & Kultur 1), Hamburg 1992, S. 49–75. Von Prestige grenzt sich Sozialkapital dadurch ab, dass es sich um Ressourcen handelt, die auf Gruppenzugehörigkeit beruhen, während Prestige als „Ansehen“ erst durch die Bewertung und Anerkennung der Gesellschaft entsteht. Vgl. zu Prestige als Ansehen Stefan Hradil: Soziale Ungleichheit, soziale Schichtung und Mobilität, in: Korte/Schäfers (Hg.): Soziologie (2000), S. 193-251, S. 203. Bourdieu verwendet statt Prestige den Begriff des symbolischen Kapitals. 59 Vgl. zu Eigenkapitalrendite als einem ökonomischen Erfolgsmaßsstab Louis Perridon/Manfred Steiner: Finanzwirtschaft der Unternehmung, München 1999, S. 548 f. 60 Vgl. zu dem Begriff des Mehr-Familien-Unternehmens Simon/Wimmer/Groth: Mehr-Generationen (2005), insb. S. 13. 61 Vgl. zu Verteilungskonflikten in sozialen Gruppen Johanna Hartung: Sozialpsychologie (Psychologie der sozialen Arbeit 3), Stuttgart 2006, S. 123; zu deren Umgehung durch Etablierung einer Stammesorganisation Simon/Wimmer/Groth: Mehr-Generationen (2005), insb.

2.2 Untersuchungssample, Material, Methode und Forschungsdesign

51

Unternehmen handelt es sich in der Branche durchaus um relativ große Unternehmen, jedoch nicht um die größten in Familienhand befindlichen Industrieunternehmen, wie z. B. Krupp. Ein weiteres Auswahlkriterium neben der Langlebigkeit und dem Größenspektrum der Unternehmen ist der regionale Bezug zum Bergischen Land als eine der Trägerregionen der frühen Phase der Industrialisierung, die seit der französischen Besatzungszeit den rechtlich/institutionellen Rahmenbedingungen des französischen bzw. des rheinischen Rechts unterworfen war.62 Gegründet wurden die einbezogenen Unternehmen im Zeitraum der vorindustriellen Phase bis zum Wechsel vom 18. auf das 19. Jahrhundert. Ihre Wurzeln liegen im Handwerk, in der Manufaktur, im Speditions-, Kommissions- und Wechselhandel. Sie decken in ihrer Entwicklung zu Mehr-Generationen-Familienunternehmen möglichst verschiedene Branchen ab.63 Weitere qualitative Kriterien, die für die Vererbung eines Unternehmens interessant erscheinen, sind die Rechtsformwahl in den Führungs-/Leitungsperioden und der dynastische Charakter der Unternehmerfamilie.64 Als Untersuchungssample wurden Familienunternehmen primär anhand qualitativer Kriterien ausgewählt. Dazu zählen die Langlebigkeit, die Wurzeln der Familienunternehmen, unterschiedliche Branchenbezüge sowie der regionalökonomische Kontext. Somit fiel die Wahl auf 1. die Unternehmen der Familie Hardt, nämlich die Tuch- mit später angeschlossener Kammgarnfabrik Johann Wülfing & Sohn in Lennep, die Spinnerei Hardt, Pocorny & Cie in Dahlhausen und das Handelshaus Hardt & Co, zwar in Übersee und Berlin als eigenständiges Unternehmen etabliert, jedoch mit vielfältigem Bezug (familiär, Vertrieb und Kapital) zum Lenneper Stammsitz, 2. die Buchbinderei, Druckerei, Papierfabrik und das Verlagshaus Bagel. Die Familie stammte ursprünglich aus Wesel, bis man von dort in der zweiten Generation nach Düsseldorf und Ratingen in bzw. an die Grenze des Bergischen Landes übersiedelte, 3. das Bankhaus von der Heydt-Kersten & Söhne aus Elberfeld. Der Untersuchungszeitraum orientiert sich an den Generationenfolgen und somit nicht an einem strikt festgelegten Jahrzehnt, sodass die Unternehmensnachfolgen in der Familie Hardt und die des Bankhauses von der Heydt-Kersten & Söhne bis zum Ersten Weltkrieg, die im Hause Bagel bis 1936 nachvollzogen werden.

S. 57, 78; zu der Herausforderung der Ausbalancierung der Systemanforderungen Erker: Dachser (2008), S. 15. 62 Der Untersuchungszeitraum umschließt die Etablierung neuer Rechtsordnungen. So fanden im Rheinland innerhalb des Untersuchungszeitraums das Allgemeine Preussische Landrecht, der Code Civil und ab 1900 das BGB Anwendung. Der institutionelle/rechtliche Wandel galt auch dem Recht der Kaufleute. Da die Vererbung von Unternehmen kein gesondertes Erbrecht kannte, wird in der Untersuchung das Konstrukt der Vermögensmassen gewählt. 63 Vgl. Klein: Familienunternehmen (2004), S. 22 f. 64 Vgl. Klein: Familienunternehmen (2004), S. 68; Kocka: Familie (1982), S. 164.

52

2. Begriffe, theoretischer Bezugsrahmen und Methode

2.2.1 Material und Quellenlage Als zentrale Quellen für die Untersuchung fungieren: 1. die Kaufmannsbücher (Bilanz- und Geheimbücher, teilweise auch Haushaltsbücher65), 2. die Gruppe der Notariatsakten, Verfügungen und Vermögensaufstellungen (Gesellschafts-, Ehe-, Schenkungs-, Erbverträge, Testamente sowie Handelsregisterauszüge, Dokumente über Vermögensaufstellungen, Nachlassverzeichnisse und Nachlassverteilungen und ihre Abwicklungen, wie z. B. Erbverteilungsverträge bzw. Erbschaftskaufverträge und Stiftungsurkunden) und drittens die Quellengattung der Ego-Dokumente66 und literarischen Quellen (Tage- oder Reisetagebücher, private Korrespondenz, private Geschäftskorrespondenz, autobiografische Dokumente, Notizbücher), Lebensbeschreibungen oder Charakterisierungen einzelner Teilhaber seitens ihrer Nachkommen, 3. private Quellen, die Auskunft über Lebensdaten, familiäres Leben und Netzwerke geben sollen, sind: Stammbücher, Zeugnisse, Würdigungen (Kommerzienratspatente), Bücher über Familientreffen und Nachrufe. Im Materialvergleich zwischen den Unternehmen Johann Wülfing & Sohn (JW & S), Bagel und von der Heydt-Kersten & Söhne (vdH-K & S) ergibt sich, dass die Quellenlage der Bilanzen und Vermögensaufstellungen für die einzelnen Fallbeispiele bzw. für einzelne Generationen sehr unterschiedlich ist. Die Finanzierung der Unternehmensnachfolge durch Weitergabe von im Unternehmen gebundenen Vermögensmassen bzw. Eigenkapital ist über die Bilanzen bei JW & S ab 1824, bei Hardt, Pocorny & Cie (HP & Cie) ab 1872 und Hardt & Co (H & C) ab 1878 und bei vdH-K & S durch Geheimbücher ab 1803 darstellbar. Ein Handlungsbuch gibt bei von der Heydt-Kersten & Söhne bereits vor 1803 einen Einblick in das Wirken des Bank- und Handlungshauses. Für das Stammunternehmen der Familie Hardt JW & S und von der HeydtKersten & Söhne kann sowohl Sparsamkeit/Reinvestition finanzieller Mittel als auch die Akkumulation von Kapital anhand der für die einzelnen Teilhaber geführten Kapital- und Haushaltskonten nachvollzogen werden. Für HP & Cie wurden die Kapitalanteile der einzelnen Teilhaber nicht in den vorhandenen Bilanz-

65 Haushaltsbücher fungieren als Quelle, wenn sie Aufzeichnungen enthalten, die in Beziehung zu dem Vermögen des Teilhabers oder dem Unternehmen stehen. 66 Der Quellenbegriff der Ego-Dokumente, der im Rahmen der Arbeit benutzt wird, folgt der engeren Auslegung. Danach gehören zur Quellengattung Briefe, Tagebücher, Reiseberichte, Memoiren und Autobiografien. Er umfasst nicht die weite Auslegung nach Schulze, der nach Art der Äußerung (Quellen enthalten freiwillige oder unfreiwillige Äußerungen zu einer Person) auch Kaufmannsbücher zu den Ego-Dokumenten zählen würde. Vgl. zur Rezeption des Begriffs der Ego-Dokumente Andreas Rutz: Ego-Dokument oder Ich-Konstruktion? Selbstzeugnisse als Quellen zur Erforschung des frühneuzeitlichen Menschen, in: Zeitenblicke 1 (2002). Zu einer weiteren Auffassung des Ego-Dokuments vgl. Wilfried Schulze: EgoDokumente: Annäherungen an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung ‚Ego-Dokumente‘, in: ders. (Hg.): Ego-Dokumente. Annäherungen an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, S. 11–30, insb. S. 28.

2.2 Untersuchungssample, Material, Methode und Forschungsdesign

53

büchern offengelegt, sodass Abflüsse nicht zugeordnet werden können. Somit wird für HP & Cie und H & C auf einer höheren Aggregationsebene argumentiert. Festzustellen ist, dass in den Bilanzen, z. B. bei JW & S, die Rechnungslegungsfunktion und der Schutz des guten Glaubens auf die Verteilungen von Erbmassen übertragen (Beweismittel bei Gericht in Erbprozessen) und die Erbverteilungen der Teilhaber in den Bilanzen bis in die 1890er Jahre dargestellt wurden. Dies ermöglicht, soweit Dokumente über Nachlassverteilungen fehlen, den Abfluss von Kapitalien nach Erbfällen nachzuvollziehen. Bei Bagel ist die Quellenlage weniger dicht. Die Kapitalakkumulation, die Finanzierung und das Reinvestitionsverhalten lassen sich nicht über den gesamten Untersuchungszeitraum quantitativ nachvollziehen. Über die Kapitalakkumulation kann man auf lange Sicht nur näherungsweise Aussagen tätigen, Bilanzunterlagen existieren erst ab 1880. Für den Generationswechsel von Johann auf August Bagel kann der Mindestwert der innerhalb einer vorweggenommenen Erbfolge vorgenommenen Vermögensübertragung nur aus einem Abfindungsvertrag als Gegenwert der gezahlten Abfindungen angesetzt werden. Statt Quellen mit quantitativer Aussagekraft stehen hier die Briefwechsel zwischen dem Buchbinder Johann Bagel und seinem Sohn, dem späteren Verleger, Papierhersteller und Druckereibesitzer August Bagel dem Älteren zur Verfügung. Ein Ausgabenbuch, das Johann Bagel bis kurz vor seinem Tod geführt hat, gibt Auskunft über das Ausgabeverhalten im Alter. Die Vermögenssituation von August Bagel dem Jüngeren, ein Vertreter der dritten Generation, kann anhand der Aufstellungen über sein Vermögen aus den Jahren 1897–1903 rekonstruiert werden. Im Falle der Familie Bagel wurde in den 1880er Jahren ein Teil des Vermögens in eine Familienstiftung eingebracht. Die Betrachtung von Sondervermögensmassen, in der Form einer Stiftung gebunden, zeigt eine weitere Facette der Anlage unternehmerischer Vermögensmassen. Würdigung und Kritik an der Hauptquelle: Bei den Bilanzen (in Geheim- und Bilanzbüchern) handelt es sich fallübergreifend um die Hauptquelle. Die aus ihnen entnommenen Daten gehen sowohl in die biografische und unternehmensgeschichtliche Untersuchung als auch in die Analyse der Vermögensweitergabe ein. Innerhalb einer Quellenkritik muss die Aussagekraft der Bilanzen kontrovers diskutiert werden, da sich die Aufstellung von Bilanzen oder kaufmännischen Rechnungen lange an den Usancen der Zeit und nicht an allgemein gültigen Bilanzierungsvorschriften orientierte. Im Code de Commerce findet sich nur eine sehr allgemein gehaltene gesetzliche Anweisung für die Erstellung einer Bilanz durch den Kaufmann: „Er soll jährlich, unter Privat =Unterschrift ein Inventarium über sein Mobiliar= und Immobiliar Vermögen, und über seine Forderungen und Schulden errichten, und dieses in ein hiezu besonders bestimmtes Register Jahr für Jahr, abschreiben.“67 Für die Periode der frühen Industrialisierung finden sich keine gesetzlichen Vorschriften über Be-

67 Vgl. zu den Handelsbüchern Heinrich Gottfried Wilhelm Daniels: Gesetzbuch Napoleons, Cöln 1812, I. Buch. II Tit., S. 5 f.; zu Abs. 9, insb. S. 7. Im Folgenden wird der Code de Commerce mit CC abgekürzt.

54

2. Begriffe, theoretischer Bezugsrahmen und Methode

wertungsmaßstäbe im Code de Commerce. Diese wurden erst schriftlich fixiert, als das AHGB und das HGB eingeführt wurden.68 Die für die Fallbeispiele vorliegenden Bilanzen, wurden zunächst jeweils auf Methodenkonsistenz während des Untersuchungszeitraums überprüft. Diese ist in Bezug auf die Aufstellung der Bilanzen und der Kapitalkonten und der in ihnen enthalten Zu- und Abflussrechnungen bei JW & S und von der Heydt-Kersten über Jahrzehnte gegeben.69 Im Materialvergleich ergibt sich, dass die Gesellschaftsverträge für die Unternehmungen der Familie Hardt, Johann Wülfing & Sohn und Hardt, Pokorny & Cie ab 1830 und ab 1884 durchgängig vorhanden sind, während sie für das Exporthaus Hardt & Co fehlen. Für die Teilhaber von JW & S sind im Gegensatz zu denen von HP & Cie und H & C bis auf eine stille Teilhaberin alle Testamente und nach 1900 vorliegenden Erbverträge vorhanden. Die ehelichen Güterstände können bis auf einzelne Teilhaber angegeben werden. Schenkungsverträge, Erbverteilungsverträge und Erbschaftskaufverträge liegen nur vereinzelt vor. Schenkungen werden teilweise aus den Bilanzen oder aus Haushaltsbüchern entnommen. Stichprobenhaft werden Haushaltsbücher der Teilhaber von JW & S nach den üblichen Beträgen für Aussteuerzahlungen untersucht, um ihr Fehlen in den Bilanzen ab den 1860er Jahren zu überbrücken. Der Materialvergleich in Tabelle 2 zeigt, dass die Nachlassverzeichnisse nur in Einzelfällen vorliegen können, die Höhe des Gesamtnachlasses und seine wertmäßige Zusammensetzung, bestehend aus dem Unternehmensanteil und dem privaten Vermögen, nicht generationenübergreifend nachvollzogen werden. Die Verteilung der unternehmerischen Vermögensmasse, der Anteil, den ein Erblasser im Unternehmen investiert hatte (eine schwierige Abgrenzung in Abhängigkeit der Rechtsform) und seine Weitergabe innerhalb der Erbfolge, kann währenddessen auf Basis des Materials bei JW & S ab 1824 vollständig (für insgesamt vier Generationenwechsel und 13 Stammesnachfolgen70) nachvollzogen werden.

68 Vgl. zu Bestimmungen über die Handelsbücher Art. 28 f. AHGB, S. 42 f.; Art. 28 HGB, S. 60. Zu der Vorschrift der Bilanzierung der Aktiva nach Anschaffungswert vgl. Art. 31 AHGB, S. 43; Art. 31 HGB, S. 61. Zu der Quellengattung der Bilanz vgl. Markus A. Wenzel: Kaufmannsbücher und Handelspraktiken vom Spätmittelalter bis zum beginnenden 20. Jahrhundert, in: ders./Jean Claude Hoquet/Harald Witthöft (Hg.): Kaufmannsbücher und Handelspraktiken vom Spätmittelalter bis zum beginnenden 20. Jahrhundert (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Beiheft 163), Stuttgart 2002, S. 11–45, S. 11. Zu der Methode der historischen Bilanz-Analyse vgl. Reinhard Hanf: Veröffentlichte Unternehmensabschlüsse von Unternehmen im deutschen Kaiserreich: Bedeutung und Ausgangswert für wirtschaftshistorische Analysen, in: ZUG 23 (1978), S. 145–172; Mark Spoerer: „Wahre Bilanzen!“ Die Steuerbilanz als unternehmenshistorische Quelle, in: ZUG 40 (1995), S. 158–179. 69 Eine Gewinn- und Verlustrechnung wurde für die JW & S ab 1865, für HP & Cie ab 1872, für H & C nachweislich ab 1865, für von der Heydt-Kersten ab 1890 in den Bilanzen und für Bagel nachweislich ab den 1890er Jahren durchgeführt. 70 Die dreizehn Stammesnachfolgen beziehen auch zwei Nachfolgen bei einem eingeheirateten und einem Teilhaber aus der erweiterten Familie mit ein. Da familiäre Generationswechsel und Stammesnachfolgen auseinanderfallen können, werden sie hier separat erwähnt.

55

2.2 Untersuchungssample, Material, Methode und Forschungsdesign

Für die Teilhaber von Hardt & Co liegen keine Testamente und Nachlassverteilungen vor. Die Vermögenstransfers im Erbfall der Teilhaber werden mittels der jeweiligen Bilanz rekonstruiert. Die Vererbung von Anteilen an HP & Cie wird infolge von Querbeteiligungen von Teilhabern von JW & S an HP & Cie in die Schilderung der Erbfälle der Teilhaber von JW & S einbezogen. Der Materialvergleich stellt sich im Überblick folgendermaßen dar: Bei Bagel sind vollständige Gesellschaftsverträge erst ab 1921 mit den Statuten der Aktiengesellschaft A. Bagel vorhanden. Die Gesellschaftsformen sind ab den 1880er Jahren u. a. durch Handelsregisterauszüge und Zirkulare bekannt, vorher handelte es sich um eine Einzelunternehmung. Handelsregisterauszüge bei JW & S und Zirkulare bei von der Heydt-Kersten & Söhne geben weitere Auskünfte über Eintritts- oder Austrittsdaten der einzelnen Teilhaber. Bei von der HeydtKersten & Söhne liegt der erste schriftlich fixierte Gesellschaftsvertrag ab 1832 vor. Tab. 1

Materialvergleich für Unternehmensfinanzierung, Kapitalakkumulation und Vererbung Unternehmen der Familie Hardt

Quellen

JW & S

HP & Cie

H&C

Von der HeydtKersten & Söhne

A. Bagel

Bilanzen

ab 1824 vorhanden

von 1878 bis 1912

von 1878 bis 1912

vor 1803 Notizbuch, danach Geheimbücher

Abfindungsvertrag 1830er (Überbrückung) 1889–1896 1911–1921

Vermögensaufstellungen

nicht vorhanden

nicht vorhanden

nicht vorhanden

vereinzelt

vereinzelt

Nachlassverzeichnisse

Überbrückung bei den unternehm. Vermögen durch Bilanzen

nicht vorhanden

nicht vorhanden

fast durchgängig vorhanden

1881, 1916, 1918

Testamente, Schenkungsverträge

ab 1854 vorhanden

nicht vorhanden

1884, 1889

vorhanden

fast durchgängig vorhanden

Gesellschaftsverträge

in Einzelfällen vorhanden

nicht vorhanden

nicht vorhanden

vorhanden

Gesellschaftsformen bekannt: 1881 OHG, Einzelunternehmung, 1921 AG und 1936 KG

Heiratsverträge, Ehevertrag

eine Stiftung vorhanden

nicht vorhanden

nicht vorhanden

in Einzelfällen vorhanden

vereinzelt vorhanden

Stiftungsurkunden

ab 1824 vorhanden

von 1878 bis 1912

von 1878 bis 1912

nicht vorhanden

zwei Stiftungen vorhanden

Die Testamente, ggf. korrespondierende Ehe-, Schenkungs- und Erbverteilungsverträge, Nachlassverteilungen sind bei von der Heydt-Kersten & Söhne und bei Bagel fast durchgängig vorhanden. Nachlassverzeichnisse gibt es bei Bagel für die erste und dritte Generation, während umfassende Nachlassverzeichisse für die

56

2. Begriffe, theoretischer Bezugsrahmen und Methode

Teilhaber des Bankhauses von der Heydt-Kersten fehlen. Als weitere Quellen, die die unternehmerische Tätigkeit und das soziale Engagement beleuchten, werden Nachrufe, Chroniken, Festschriften71, statistische Zusammenstellungen über Produktion wie die der Spinnerei in Dahlhausen und der Kammgarnspinnerei hinzugezogen. Genealogische Daten Angehöriger verwandter Familien liegen im Falle der Familie Hardt für die Familien Buchholz, Bauendahl, Hasenclever, Rhodius, Petersen, Hentzen, aus’m Weerth, Scheidt, Tiemann, von Tiedemann aus Stammbüchern, Chroniken oder Festschriften vor.72 Für die Familie Bagel liegen u. a. für die Familienverbindung zu den Familien Luyken, Lueg, von Laer, Hammerschmidt73 und für die Familie von der Heydt-Kersten (vgl. Tab. 3) entsprechende Quellen vor.74 Als literarische Quelle ist für die erste Generation von Johann Arnold Hardt sen. eine Nota als schriftliches Vermächtnis an seine Kinder überliefert. Ab der dritten Generation gibt es vermehrt private Quellen, so z. B. Briefe des Nachfolgers Richard von Hardt an seine Eltern und von dem Senior Fritz Hardt an seine 71 Vgl. Adolf Böse: Johann Wülfing & Sohn, Lennep, Lennep 1948. Ein unternehmensgeschichtlicher Überblick des Bankhauses von der Heydt-Kersten & Söhne findet sich bei Detlef Krause: Garn, Geld und Wechsel. 250 Jahre von der Heydt-Kersten & Söhne, Wuppertal 2004. Dem Unternehmen A. Bagel widmen sich Gottfried Stoffers: August Bagel, Düsseldorf, Buch- und Kunstdruckerei, Lithographische Anstalt, Düsseldorf 1902; Ilse Barleben: Von der schwarzen und von der weißen Kunst. A. Bagel, 1801–1951, Düsseldorf 1951. 72 Vgl. Franz Werner von Wismar: Stammbaum der Familie Hardt und seine Ergänzungen 1560–1978 (masch.), Lennep 1979, mit Verweisen auf die Familien Masthoff, Schemmann, Müller, Rheinen, Neizert, Karsch; RWWA 122-229-3. Stammbaum Familie Hellmers; Carl vom Berg: Geschichte der Familie Buchholz, Düsseldorf 1920; Hermann Hasenclever: Stammbaum der Familie Hasenclever auf Ehringhausen, Eringhausen 1909; RWWA 122200-5. Familientag Rhodius; Carl vom Berg: Stammtafel der Familie Petersen mit Nachrichten über verwandte Familien und einer Nachfahrenliste, Düsseldorf 1926. Zu den Familien Hentzen, aus’m Weerth, Scheidt, Tiemann und von Tiedemann vgl. Dorothea Weichbrodt: Aus der sechshundertjährigen Geschichte des Geschlechts von Tiedemann in Danzig und Preussen (Bibliothek familiengeschichtlicher Arbeiten 41), Neustadt a. d. Aisch 1981; RWWA 122-319-8. Nachrichtenblatt des von Tiedemann’schen Familienverbandes. 1995. Zu Familie Crüwell vgl. RWWA 122-350-4. Die Familien Crüwell in Bielefeld und Dortmund, 1954. Zu den Familien von Bernuth bzw. Fuhrmann vgl. Das Bernuth-Buch für den von Bernuth’schen Familienverband e. V. aus Anlaß seines 75-jährigen Gründungsjubiläums zusammengest. von Wolf Dietloff von Bernuth, Neustadt a. d. Aisch 1986; Werner Genzmer: Fuhrmann: 200 Jahre Wollhandel; 1735–1935, Düsseldorf 1935. 73 Vgl. Peter Conze/Gisela Schniewind: Wilhelm Lueg 1792–1864 und die Familien seiner Söhne Carl und Heinrich (Deutsches Familienarchiv 120), Neustadt a. d. Aisch 1998; Caroline Bagel: Immortellen zur Erinnerung an meinen unvergeßlichen Mann August Bagel, Düsseldorf 1884. 74 Vgl. Sabine Fehlemann: Die von der Heydts. Bankiers, Christen und Mäzene, Wuppertal 2001; Marie-Luise Baum: Die von der Heydts aus Elberfeld, Wuppertal 1964; Gerda-Dorothea de Weerth/Gisela Schniewind: Nachkommen des Daniel von der Heydt und seiner Frau Bertha Wülfing, Neviges 1968; Robert Wichelhaus: Geschichte der Familie Wichelhaus, Düsseldorf 1922; Friedrich Kerst: Konrad Kersten (1683–1759), der eigentliche Begründer des Bankhauses von der Heydt-Kersten & Söhne. Das abenteuerliche Leben eines Vergessenen in Alt-Wuppertal, Wuppertal 1959; Krause:Wechsel (2004).

57

2.2 Untersuchungssample, Material, Methode und Forschungsdesign

Kinder. Für die Vertreter der fünften Generation existieren Reisetagebücher und Briefe von den Auslandsreisen. Des Weiteren liegen Lebensbeschreibungen oder Charakterisierungen einzelner Teilhaber seitens eines Nachkommen vor. Der Bestand Wülfing, zu dem die Unternehmen der Familie Hardt gehören, und der Bestand aus dem Firmenarchiv Bagel wurden vom RWWA Köln zur Verfügung gestellt. Teilbestände des Unternehmens Wülfing befinden sich im Tuchmuseum Lennep. Der Bestand des Bankhauses von der Heydt-Kersten & Söhne liegt im Archiv der Commerzbank Frankfurt. Tab. 2

Materialvergleich für Unternehmensverfassung, Nachfolgeprozesse und Nachfolgerlebensläufe Unternehmen der Familie Hardt

Quellen

Von der HeydtKersten & Söhne

A. Bagel

JW & S

HP & Cie

H&C

Lebensläufe der Nachfolger

vorhanden, teilweise Eckdaten

vorhanden, teilweise Eckdaten

vorhanden, teilweise Eckdaten

durchgängig vorhanden

durchgängig vorhanden (Heinrich, Julius, Fritz bruchstückhaft)

Literarische Quellen, Tagebücher, Briefe

Äußerungen von SeniorUnternehmern

nicht vorhanden

nicht vorhanden

Handlungsbüchlein, Tagebücher eines Teilhaberbruders

Briefe (aus der Lehrzeit) ABdÄ75, Briefe (aus der Lehrzeit) AbdJ, einige Briefe von Julius und Fritz, innerfamiliäre Korrespondenz

Handelsregisterauszüge

fast durchgängig vorhanden

nicht vorhanden

nicht vorhanden

Zirkulare vorhanden

teilweise vorhanden

Unternehmensaufbau und Zuständigkeiten

keine Organigramme, Zuständigkeiten rekonstruierbar

keine Organigramme, Zuständigkeiten rekonstruierbar

keine Organigramme, Zuständigkeiten rekonstruierbar

keine Organigramme, Zuständigkeiten rekonstruierbar

keine Organigramme, Zuständigkeiten rekonstruierbar

Als juristische Quellen wurden für die Arbeit herangezogen: für die Darstellung von rechtlichen Vorschriften des Code Civil Napoleons Gesetzbuch von 1810 und „Rheinisches Civilgesetzbuch“ von 1877, das BGB in der Reichsarchivsammlung, herausgegeben von Adolf Weißler (1909).76 Für das Handelsrecht, der Code de Commerce, wurden die Ausgaben von Daniels aus dem Jahr 1812 und von Broicher aus dem Jahr 1835, für das AHGB die Ausgabe aus dem Jahr 1861 und für das HGB die Ausgaben des Handelsgesetzbuches von Gareis aus dem Jahr 1897 75 Bei der Abkürzung ABdÄ handelt es sich um August Bagel den Älteren und bei ABdJ um seinen Sohn August Bagel den Jüngeren. 76 Vgl. zum Code Civil, Empereur I. Napoléon France: Code Napoléon = Napoleons Gesetzbuch. Einzig officielle Ausgabe für das Großherzogthum Berg, Düsseldorf 1810; Rheinisches Civilgesetzbuch, nebst den dasselbe ergänzenden oder abändernden Gesetzenrev., Düsseldorf 1877; BGB, in: Adolf Weißler (Hg.): Reichs-Archiv. Sammlung des gesamten Reichsrechts in seiner heute gültigen Gestalt Bd. 5, Leipzig 1909; ergänzend Karl Gareis: Erbschaftssteuergesetz vom 3. Juni 1906, Bd. 2, Gießen 1910.

58

2. Begriffe, theoretischer Bezugsrahmen und Methode

benutzt. Ergänzend wurde das Allgemeine Preußische Landrecht, herausgegeben von Hattenhauer (1996), herangezogen.77 Als frühe Statistiken, die den Status der Primärquelle aufweisen, dienen die Beiträge zur Statistik des Herzogtums Berg von Theodor J. Lenzen (1802/1805) sowie die Adelmann-Statistik (1967).78 Tab. 3

Materialvergleich für die Netzwerkuntersuchung Unternehmen der Familie Hardt

Quellen

JW & S

HP & Cie

H&C

Von der HeydtKersten & Söhne

A. Bagel

Familiäres Netzwerk Stammbäume

vorhanden genealogisches Buch der Familie Hardt

vorhanden

vorhanden

vorhanden, v. a. für Daniel von der Heydt

Eckdaten Urkunden vorhanden

Heiratskreise Stammbäume der angeheirateten Familien

Buchholz, Hasenclever, Scheidt, Rhodius, Bauendahl, Fuhrmann, Tiemann, Petersen, von Berrnuth, Crüwell

Pokorny, Sebes

von Tiedemann

Teschemacher, Frowein, Wichelhaus, Boeddinghaus, de Weerth etc.

Scholl, Luyken, Daenzer, Lueg, Mottau, Henkel etc.

Unternehmerisches Netzwerk, Handelskammer, Verbände

Lieferantenbeziehungen, Kreditbeziehungen (Herstatt, von der Heydt), Stadtverordnetenparlament, Handelskammer, Fachverbände

verbundene Unternehmen, König & Rhodius, v. Tiedemann, Stadtverordnetenparlament, Handelskammer

n. b.

Handelskammer, Gemeindeversammlung, Stadtverordnetenparlament, Handelskammer

Kondolenzkärtchen Tod August Bagel, Handelskammer, Verbände

Briefbücher Wende

Briefbücher Wende 18./19. Jh.

18./19. Jh.

77 Vgl. Daniels: Gesetzbuch Napoleons (1812); Carl A. Broicher/Franz F. Grimm: Das Handelsgesetzbuch der Königlich Preußischen Rheinprovinzen, Köln 1835, Allgemeines deutsches Handelsgesetzbuch, Berlin 1861 (AHGB); Karl Gareis: Handelsgesetzbuch vom 10. Mai 1897 nebst dem Einführungsgesetz vom 10. Mai 1897 unter Ausschluss des Seerechts, München 1900; Hans Hattenhauer (Hg.): Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten von 1794, Neuwied 1996. Broicher/Grimm werden im Folgenden nur angeführt, wenn Änderungen im Gesetzestext des Code de Commerce gegenüber der Ausgabe von Daniels aus dem Jahr 1812 vorlagen. 78 Vgl. Theodor J. J. Lenzen: Beiträge zur Statistik des Herzogtums Berg, Düsseldorf 1802; ders.: Beiträge zur Statistik des Herzogtums Berg, Zweites Heft, Düsseldorf 1805; Gerhard Adelmann: Der gewerblich-industrielle Zustand der Rheinprovinz im Jahre 1836, Bonn 1967.

59

2.2 Untersuchungssample, Material, Methode und Forschungsdesign

Unternehmen der Familie Hardt Quellen Gesellschaftliche Kreise (regionalüberregional, Schicht), politische Ämter

JW & S

HP & Cie

Tuchmacherfamilien und Wollhändler, Bergischer ReitClub

s. JW & S Bergischer ReitClub

H&C s. JW & S

Von der HeydtKersten & Söhne bekannt mit dem Kaiser, Karl von der Heydt „Unser Haus“ Berlin, Gemeindeversammlungsprotokoll, überregional

A. Bagel

Lueg, Haniel, Poensgen, Brügelmann, Künstler- und Schriftsteller, Stadtparlament

Bei der Sekundärliteratur liegt der Schwerpunkt auf unternehmenshistorischen Arbeiten von Schäfer (2000/2007), Reitmayer (1999) und Pierenkemper (1996) für den modelltheoretischen Hintergrund auf den Forschungsbeiträgen von Simon/Wimmer/Groth (2005), Viehl (2002), Carlock/Ward (2001), für den realwirtschaftlichen Hintergrund auf Stremmel (2004), Gorißen (2000), Reulecke (1980), Ringel (1980) und dem älteren Überblick von Strutz (1958), für den institutionellrechtlichen Hintergrund bei Wischermann/Nieberding (2004).79

2.2.2 Methode Die vorliegende Arbeit folgt primär einem qualitativen Forschungsparadigma und einem empirischen Erkenntnisweg. Sie versteht sich in großen Teilen als Grundlagenforschung, vor allem in der Darstellung familieninterner Unternehmensnachfolgen und Unternehmenskontinuität sowie der Vererbung von Vermögen und Besitz in Unternehmerfamilien über mehr als drei Generationen im Bergischen Land. Sowohl die Fragestellung, unter der das Thema Nachfolge in Familienunternehmen untersucht wird, als auch die Größe des Samples – drei Familien mit fünf Unternehmen – und die Dichte des historischen Materials, mit dem die Nachfolgeprozesse beschrieben werden, legen eine qualitative Herangehensweise nahe.80 Für die Untersuchung des Themas wird ein dreifacher methodischer Zugang gewählt. In einer explorativen Studie wird die Grounded Theory nach Glaser/Strauss (1967, 1998) mit ihrem Ziel der Generierung von „Theorie mittlerer Reichweite“ als Meta-Ansatz verwendet und mit einem komparativen Vorgehen auf Basis von case-studies und Elementen der qualitativen Biografieforschung

79 Vgl. Schäfer: Herren (2000); ders.: Unternehmerfamilien (2007); Reitmayer: Bankiers (1999); Pierenkemper: Qualifiktionserwerb (1996); Klein: Familienunternehmen (2004); Carlock/Ward: Strategic (2001); Gersick/Davis/McCollomHampton: Generation (1997); Pia Viehl: Familieninterne Unternehmensnachfolge. Eine Ex-post-Analyse aus Nachfolgersicht (Reihe Trierer Schriften zur Mittelstandsökonomie 6), Diss. Trier 2002; Wischermann/Nieberding: Institutionelle (2004). 80 Vgl. zur Angemessenheit qualitativer Ansätze bei „Felderkundung“ Uwe Flick/Ernst von Kardorff/Ines Steinke (Hg.): Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 25; Philipp Mayring: Qualitative Inhaltsanalyse Grundlagen und Techniken, Weinheim 2000, S. 21.

60

2. Begriffe, theoretischer Bezugsrahmen und Methode

kombiniert.81 Die Studie umfasst quantitative Bilanz-/Marktanalysen. Wo es das Material ermöglicht, erfolgt die von Tilly (1985) geforderte Quantifizierung unternehmerischen Handelns.82 Bei der Grounded Theory handelt es sich um eine Vorgehensweise, die, obwohl theoretisches Vorwissen in den Forschungsprozess einfließt, nicht die Verifizierung theoretischer Vorannahmen zum Ziel hat. Sie widerspricht somit nicht der theoriegeleiteten Wirtschaftsgeschichte, deren Ziel es ist, historische Phänomene unter methodisch-theoretischem Bezug zu untersuchen.83 Als Charakteristikum des Ansatzes der Grounded Theory hebt Hildebrand (2007) hervor, dass „die meisten Hypothesen und Konzepte nicht nur aus den Daten stammen, sondern im Laufe der Forschung systematisch mit Bezug auf die Daten ausgearbeitet werden“84. Der Forschungsprozess nach Glaser/Strauss (1967, 1998), der nicht nur in seiner Vorgehensweise, sondern auch in der Auswahl der Daten, z. B. der Kombination qualitativer und quantitativer Daten, ein hohes Maß an Offenheit85 besitzt, kann in drei simultane, in jeweils unterschiedlicher Gewichtung ablaufende Arbeitsschritte unterteilt werden: theoriegeleitete Datenerhebung, Kategorisierung und Analyse. Zwar kann mittels quantitativer Ansätze, Theorienund Thesenprüfung an statistisch ausgewählten (großen) repräsentativen Stichproben in einer deduktiven Vorgehensweise ein hohes Maß an Generalisierung erreicht werden, jedoch fehlt es den quantitativen Ansätzen wegen der Erhebung standardisierter Daten oft an Offenheit für neue in ihrem Kontext erhobene As-

81 Vgl. zu Grounded Theory grundlegend Barney Glaser/Anselm L. Strauss: The Discovery of Grounded Theory. Strategies for Qualitative Research, Chicago 1967; dies.: Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung, Bern 1998, insb. S. 15. Für die Gounded Theory werden in der deutschsprachigen Literatur unterschiedliche Übersetzungen wie „in den Daten verankerte“, „gegenstandsbezogene Theorie“, oder auf „empirisches Material gestützte Theorie“ verwendet, siehe auch S. 8; Flick/v. Kardorff/Steinke, Forschung (2000): S. 8. Vgl. zum dreifachen methodischen Zugang (Triangulation) und den von Flick in Anlehnung an Denzin vorgestellten Möglichkeiten der Triangulation (Theorien-, methodologische, Daten-, und Forscher-Triangulation) Uwe Flick: Triangulation: Methodologie und Anwendung, Opladen 2003, zu methodologischer Triangulation S. 27 f. 82 Vgl. Richard Tilly: Einleitung, Probleme, Methoden und Möglichkeiten einer quantitativ vergleichenden Unternehmensgeschichte, in: ders. (Hg.): Beiträge zur quantitativen vergleichenden Unternehmensgeschichte, Stuttgart 1985, S. 9–25; Pierenkemper: Unternehmensgeschichte (2000), S. 64. 83 Vgl. zur theoriegeleiteten Wirtschaftsgeschichte Hartmut Berghoff, Transaktionskosten. Generalschlüssel zum Verständnis langfristiger Unternehmensentwicklung? Zum Verhältnis von neuer Institutionenökonomik und moderner Unternehmensgeschichte, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 40 (1999), S. 159–176, insb. S. 165; Wischermann: Der Property-RightsAnsatz und die „neue“ Wirtschaftsgeschichte, in: ZUG 38, 1993, S. 239–258, S. 240; zu deren Desiderat vgl. Toni Pierenkemper: Was kann eine moderne Unternehmensgeschichtsschreibung leisten? Und was sollte sie tunlichst vermeiden, in: ZUG 44 (1999), S. 15–31, S. 19 f.; Erker: Paradigmen (1997), S. 322. 84 Vgl. Glaser/Strauss: Theory (1998), S. 15. 85 Vgl. Glaser/Strauss: Theory (1998), S. 26.

2.2 Untersuchungssample, Material, Methode und Forschungsdesign

61

pekte.86 Dies kann eine qualitativ angelegte historische Studie leisten, die Komplexität von Phänomenen und unterschiedlichstes Material in den Blick nimmt.87 Innerhalb des Prozesses der Konzeptionalisierung werden Kategorien (auf diese bezogene Eigenschaften und Hypothesen) gebildet, die im Zuge des „theoretical sampling“, der Auswahl von Bezugsgruppen, miteinander verglichen werden. Durch die theoriegeleitete Datenerhebung wird die entstehende Theorie kontrolliert, empirisch rückgekoppelt und weiterentwickelt, bis sich die zentralen Kategorien herausschälen (Sättigungsprinzip).88 Biografische Untersuchungen erleben seit Ende der 1970er und 1980er Jahre89 eine Renaissance.90 Die Biografieforschung rückt nach Sackmann (2007) „das Individuum als handelnde[n] Gestalter seiner Umwelt in den Vordergrund.“91 Grenzen der Methodik der Biografieforschung in der historischen Forschung hängen stark von dem vorliegenden Material ab, sodass eine detaillierte Erforschung der in Psychogrammen verdichteten Introspektive von Akteuren eher die Ausnahme in der historischen Biografieforschung bleibt.92 Ziel ist es, biografische Handlungsstrukturen der Unternehmer-Nachfolger, die sich aus verwobenen Strängen von Berufs- und privatfamiliärer Biografie und der den Lebensverlauf strukturierenden normativen Ereignissen (Heirat, Geburt von Kindern, Berufseintritt)93 und familiären Ressourcen ergeben, abzuleiten. Diese 86 Vgl. zur Gegenüberstellung von qualitativer und quantitativer Analyse Mayring: Qualitative Inhaltsanalyse (2000), S. 21; Flick/v. Kardorff/Steinke: Forschung (2000), S. 24 f., zu den Kennzeichen qualitativer Forschung S. 22 f.; zu Studien, die sich mit der Beweisführung der Eignung von qualitativer Forschung befassen, vgl. Susann Kluge: Empirisch begründete Typenbildung. Zur Konstruktion von Typen und Typologien in der qualitativen Sozialforschung, Opladen 1999. 87 Vgl. zu Vorteilen der qualitativen Forschung hinsichtlich ihres Datenzugriffs Glaser/Strauss: Theory (1998), insb. S. 25; Flick/v. Kardorff/Steinke: Forschung (2000), S. 24 f. 88 Vgl. Glaser/Strauss, Theory (1998), insb. S. 53 f., zu Theoretical Sampling und zur Methode des ständigen Vergleichs S. 77. 89 Vgl. zu Biografie- und Lebenslaufforschung als Analysetechniken dynamischer Prozesse und zur Abgrenzung der qualitativ orientierten Biografieforschung von der quantitativen Lebenslaufforschung auch Sackmann: Lebenslaufanalyse (2007), S. 85. Vgl. zu im Zuge der Renaissance der weiterentwickelten theoretisch-methodischen Ansätze der Biografieforschung wie z. B. das narrative Interview und zu Stärken und Schwächen der Biografieforschung als qualitativer Ansatz Susann Kelle/Udo Kluge: Methodeninnovation in der Lebenslaufforschung. Integration qualitativer und quantitativer Verfahren in der Lebenslauf- und Biographieforschung (Statuspassagen und Lebenslauf 4), München 2001, S. 82 f. 90 Vgl. zur Analyse von Unternehmerbiografien in historischen Studien z. B. Beek: Unternehmergestalten (2003); Stremmel/Weise: Bergisch-Märkische Unternehmer (2004). 91 Vgl. Sackmann: Lebenslaufanalyse (2007), S. 62. 92 Vgl. Hillen: König (2003), S. 193; zu Materialproblemen bei Unternehmerbiografien vgl. Köhler: Unternehmer (2000), S. 134 f. 93 Vgl. zu normativen Vorgaben an Altersgruppen Sackmann: Lebenslaufanalyse (2007), S. 32 f. Im Kontext der Unternehmensnachfolger finden sich normative als den Lebenslauf von Nachfolgern strukturierende Ereignisse bei Viehl: Unternehmensnachfolge (2002), S. 34. Die durchschnittliche Lebenserwartung eines Neugeborenen lag zwischen 1810 und 1880 infolge einer hohen Kindersterblichkeit bei 35 Jahren, für Menschen die das fünfzigste Lebensjahr erreicht hatten bereits bei 70. Vgl. Toni Pierenkemper: Arbeit und Alter in der Geschich-

62

2. Begriffe, theoretischer Bezugsrahmen und Methode

werden unter bedingenden Aspekten des institutionell-familiären Rahmens, wie z. B. die Planung der Nachfolge seitens der Seniorunternehmer und der Familien, betrachtet. Auf der mikrosozialen Ebene werden die Lebensläufe der einzelnen Nachfolger in Vorbereitung auf die komparative Analyse in die Unterabschnitte Kindheit, Jugend, mittleres Alter und Alter zerlegt.94 So können sowohl Altersgruppen als auch die biografischen Grunddaten wie Werdegang, Ausbildung im Familienunternehmen, Heiratsmuster, Strukturen der Familien- und Verkehrskreise verglichen werden. Für die Darstellung des Handelns als Unternehmer und der Vermögensperspektive und auch der Strukturierung der Lebensläufe durch Vermögenstransfers/finanzielle Ressourcen durch die Familie werden verstärkt quantitative Daten hinzugezogen. Diese ermöglichen, die Leistung der Unternehmer am Markt im intergenerationalen Vergleich zu messen. Für die Fallbeispiele JW & S und von der Heydt-Kersten & Söhne ist ein quantitativer Längsschnitt über fast den gesamten Untersuchungszeitraum möglich.95 Nach der Konzeptionalisierung der Kategorienbildung und der darauf bezogenen Eigenschaften mittels Biografieforschung werden in einem zweiten Arbeitsschritt die Fallgruppen innerhalb eines Fallbeispiels und abschließend zwischen den Fallbeispielen miteinander verglichen. Der Verdichtungsprozess wird so lange vorangetrieben, bis nach dem Sättigungsprinzip innerhalb des Samples keine neuen Erkenntnisse mehr auftreten.96 In einer generationenübergreifenden Perspektive werden Unterschiede und Ähnlichkeiten in Biografien, Lebenslaufstrukturen und in den Nachfolgeprozessen in die Unternehmensführung und das Muster intergenerationaler Transfers, z. B. durch Vererbung von Vermögen, analysiert und Kontinuität und Wandel im Vergleich zum Vorgänger aufgezeigt. Ziel ist es, eine gemeinsame Verlaufsstruktur

te (Otto-von-Freising-Vorlesungen der katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt 25), Wiesbaden 2006, S. 34. Für die Untergliederung des Lebensverlaufs als Grundlage der Schilderung der Berufsbiografie der Nachfolger wird zwecks Operationalisierbarkeit nach der Kindheit, die mit 14/15 Jahren endete, der Abschnitt der Jugend, der i. d. R. mit dem Beginn der Erwerbsphase zusammenfiel, gesetzt. Vgl. Karl Heinrich Kaufhold: Mitteleuropa: Deutschland 1650–1850, in: Wolfram Fischer/Jan A. Houtte/Hermann Kellenbenz (Hg.): Handbuch der europäischen Wirtschaftsgeschichte und Sozialgeschichte, Bd. 4, Stuttgart 1993, S. 523–588, S. 534. Die Erwerbsphase erstreckte sich i. d. R. über die Altersgrenze und das heutige Renteneintrittsalter von 60 bis 65 Jahren hinaus und umfasste somit Jugend, mittleres Alter und Alter. Zur Erwerbstätigkeit im Alter im 19. Jahrhundert vgl. Gerd Hardach: Optionen der Altersvorsorge im 19. und 20. Jahrhundert in Deutschland, ZUG 48 (2003), S. 5–28, S. 6. 94 Sowohl für zeitgenössische als auch historische Analysen sind die Altersgrenzen, die die Unterabschnitte des Lebensverlaufs, z. B. den Übergang von mittlerem Alter zum Alter markieren, nicht genau bestimmbar. Für historische Untersuchungen liegt vor allem für das 19. Jahrhundert und insbesondere vor 1850 Datenmangel vor. 95 Vgl. zu Datentriangulation Flick: Triangulation (2003), S. 76 f. 96 Als arbeitsökonomische Grenze fungiert der Untersuchungszeitraum der Fallbeispiele für JW & S und vdH-K Ende des 18. Jahrhunderts bis Anfang des 20. Jahrhunderts und bei A. Bagel die personelle Zäsur von 1936.

63

2.3 Theoretischer Bezugsrahmen

des Nachfolgeprozesses über den individuellen97 Lebenszyklus eines Nachfolgers herauszuarbeiten.98

2.3 THEORETISCHER BEZUGSRAHMEN Als theoretischer Bezugsrahmen, vor dessen Hintergrund die Unternehmensnachfolgen beleuchtet werden, fungieren institutionenökonomische Ansätze in Verbindung mit den Kreis- und Lebenszyklusmodellen, die im Folgenden vorgestellt und in Form von modelltheoretischen Annahmen zusammengefasst werden. 2.3 Theoretischer Bezugsrahmen

2.3.1 Institutionenökonomische Ansätze Die Neue Institutionenökonomik (NIÖ) beschäftigt sich mit dem Zusammenspiel von Individuen und Institutionen. Ihren Betrachtungsschwerpunkt von der Güterauf die Rechtssphäre verlagernd, geht die NIÖ im Kern davon aus, dass institutionelle Arrangements bedeutend sind, da ein Güteraustausch nicht kostenlos zu haben ist. Die NIÖ negiert somit nicht die Existenz von Transaktionskosten99 wie die Neoklassik, sondern macht diese gerade zum Referenzpunkt der Alternativenbeurteilung.100 Theorieimmanente Erklärungsansätze für den Unternehmer wie auch für das Familienunternehmen fehlen in der Neoklassik. Anhand des Transaktionskostenansatzes erklärt z. B. Casson (1999) die Existenz von Familienunternehmen als Mittelweg zwischen Markt und Hierarchie, die sich gerade in Zeiten hoher Unsicherheiten der Umweltbedingungen, u.a da sie in vertrauensbasierte soziale Beziehungen als Basis eines Ressourcen- und Informationsflusses eingebettet wa97 Vgl. Udo Kelle/Susann Kluge: Vom Einzelfall zum Typus. Fallvergleich und Fallkontrastierung in der qualitativen Sozialforschung (Qualitative Sozialforschung 4), Opladen 1999, S. 54. 98 Anhand von Alterskohorten und ihres Ausbildungsstands entwickeln Stremmel und Pierenkemper verschiedene Unternehmertypen. Für die frühindustriellen bergisch-märkischen Unternehmer, im Zeitraum von 1780–1850 tätige Alterskohorte (Basis: 28 Unternehmerbiografien) leitet Stremmel die Typisierung Traditionalist, rationaler Pragmatiker, Adliger und Handwerker-Tüftler her, die zwischen den Kategorien Tradition und Moderne angesiedelt waren. Vgl. dazu Stremmel: Tradition und Innovation (2004), S. 18. Zu der Verortung einer Zwischengeneration zwischen den Autodidakten des frühen Wirtschaftsbürgertums und dem technisch versierten Unternehmer der Hochindustrialisierung vgl. Pierenkemper: Qualifikationserwerb (1996), S. 164. 99 Vgl. grundlegend zu NIÖ, z. B. Rudolf Richter/Eirik Furubotn: Neue Institutionenökonomik. Eine Einführung und kritische Würdigung, Tübingen 1999, zum Begriff der Transaktionskosten (TAK) S. 523. Die TAK werden generell als Kosten der Marktbenutzung zusammengefasst, zu denen im Einzelnen die Kosten der Errichtung, Bereitstellung und Durchsetzung von institutionellen Arrangements zählen und hier insb. die Informationskosten. 100 Vgl. zur Gegenüberstellung von Unternehmen und Markt z. B. Göbel: Institutionenökonomik (2002), S. 30.

64

2. Begriffe, theoretischer Bezugsrahmen und Methode

ren, behaupten konnten.101 Bei der NIÖ handelt es sich nicht um ein geschlossenes Theoriegebäude, sondern um ein Forschungsprogramm, innerhalb dessen sich drei Hauptlinien identifizieren lassen: die Ansätze der Property-Rights-Theorie102, die ökonomische Vertragstheorie (Prinzipal-Agent-Theorie103, relationale Verträge und Theorie impliziter Verträge104) und die Transaktionskostenstheorie105. Teilweise kommt es hierbei zu Überschneidungen.106 Hinsichtlich ihrer Verhaltensannahmen des methodologischen Individualismus, des nutzenmaximierenden, sich in diesem Sinne auch opportunistisch verhaltenden Wirtschaftssubjekts fußt die NIÖ auf der Neoklassik, unterscheidet sich aber dahingehend, dass sie nicht sämtliche der starken Verhaltensannahmen der orthodoxen Neoklassik übernimmt. So unterstellt sie, dass sich Individuen nur begrenzt rational entscheiden.107 Darüber hinaus ist die NIÖ offen für einen kognitiven Verhaltensansatz, der von einer Handlungsveränderung oder -anpassung durch neues Wissen und Lernen ausgeht. Sie ermöglicht eine Integration der sozialen Sphäre, die Einbettung des Individuums in soziale und kulturelle Beziehungen.108 Die Property-Rights-Theorie als eine Theorie der Verfügungsrechte untersucht den Inhalt und die Struktur von Verfügungsrechten, die einzelne Individuen oder Gruppen an Gütern besitzen. Sie geht davon aus, dass sich die aus Verfügungsrechtsstrukturen ergebenden Anreize die Nutzung von Ressourcen in spezifisch vorhersagbarer Weise beeinflussen. Der Begriff der Property Rights wird im Deutschen nicht einheitlich gebraucht und oft nur mit Verfügungsrechten übersetzt. Unterschieden wird die Aufspaltung des Eigentums in ein Rechtsbündel aus 101 Vgl. Colli: Family Business (2003), S. 23; Mark Casson: The Economics of the Family Firm, in: Scandinavian Economic History Review 47 (1999), S. 10–23. 102 Die Property-Rights-Theorie geht auf die Arbeiten von Armen Albert Alchian/Harold Demsetz: Toward a Theory of Property Rights, in: American Economic Review 57 (1967), S. 347–359; Armen Albert Alchian: Some Economics of Property Rights, in: ders.: Economic Forces at Work, Indianapolis 1977, S. 127–149; ders.: Some Implications of Recognition of Property Right Costs, in: Karl Brunner (Hg.): Economics and Social Institutions, Boston 1979, S. 233–254; Eirik G. Furubotn/Svetozar Pejovich: Property Rights and Economic Theory: A Survey of Literature 10 (1972), S. 1137–1162 zurück. Eine Beurteilung des Ansatzes für die Wirtschaftsgeschichte nimmt Clemens Wischermann: Der Property-Rights-Ansatz und die „neue“ Wirtschaftsgeschichte, in: ZUG 38 (1993), S. 239–258 vor. 103 Vgl. zu einer Übersicht der Prinzipal-Agent-Theorie Göbel: Institutionenökonomik (2002), S. 98 f.; Richter/Furubotn: Neue Institutionenökonomik (1999), S. 224 f.; Tanja Ripperger: Ökonomik des Vertrauens. Analyse eines Organisationsprinzips (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 101), Tübingen 1998, S. 63 f. 104 Vgl. zu Theorie der relationalen und impliziten Verträge Rudolf Richter/Eirik Furubotn: Neue Institutionenökonomik. Eine Einführung und kritische Würdigung, Tübingen 1996, S. 173 f. 105 Vgl. grundlegend zur Transaktionskostentheorie Ronald Coase: The Nature of the Firm, in: Economica, New Series 4 (1937), S. 386–405, Oliver E. Williamson: Markets and Hierarchies. Analysis and Antitrust Implications: A Study in the Economics of Internal Organization, New York 1975. 106 Vgl. zu fehlender Trennschärfe der Ansätze Göbel: Institutionenökonomik (2002), S. 60. 107 Vgl. zu Verhaltensannahmen der NIÖ in Abgrenzung zur Neoklassik Richter/Furubotn: Institutionenökonomik (1999), S. 2; Richter: Institutionen (1994), S. 2 f. 108 Vgl. North: Institutionen (1992), S. 43 f.; Granovetter: Social Structure (1992), S. 53–81.

2.3 Theoretischer Bezugsrahmen

65

fünf Einzelrechten: Nutzung des Gutes (usus), Recht der Veränderung des Gutes in Form und Substanz (abusus), Recht der Einbehaltung entstehender Gewinne bzw. Tragen von Verlusten (usus fructus), Recht auf Transferierbarkeit durch Veräußerung oder Vererbung und z. B. die Vereinnahmung des Liquidationserlöses (ius abutendi) und das Recht, andere von der Nutzung auszuschließen (Exklusivität).109 Der Verfügungsrechtsbegriff umfasst hier auch die Verfügungsrechte an Sozialkapital, die im weiteren Sinn dem Vermögen einer Person zurechenbar sind. Ripperger (1998) geht davon aus, dass sie nicht nur „direkt zum Wohlbefinden beitragen“, sondern auch „wirtschaftliche Transaktionen erleichtern und effizienter machen. Sie ersparen Kontrollkosten. Außerdem ermöglichen sie bei Bedarf den Zugriff auf die Ressourcen derjenigen, die einem verpflichtet sind.“110 Mit Vertrauen als Koordinationsmechanismus, der geeignet ist, Transaktionen mitunter bei gegenseitigen Vorbehalten zu ermöglichen, beschäftigen sich neben Ripperger (1998) auch Coleman (1990), Berghoff (2003) und Fiedler (2001). Coleman (1990) betrachtet Vertrauensgewährung analog zu Kreditvergaben, bei der eine Partei in Vorleistung tritt und von zukünftigen Gegenleistungen ausgeht. Langfristige Beziehungen, die als soziale Netze aufgebaut wurden, begünstigen durch das in ihnen gebundene Vertrauen, dass Kooperationen und Transaktionen zustande kommen. Coleman spricht in diesem Zusammenhang von Verfügungsrechten über „credit slips“, die von Beteiligten abgerufen werden können.111 Die obige Unterteilung ergibt, dass der hier gebrauchte Property-Rights-Begriff mit Eigentums-, Verfügungs- und sich daraus ableitenden Handlungsrechten, im Folgenden EuV-Rechten, unter Einbeziehung von Sozialkapital als EuV-Rechte i. w. S., verwendet wird.112 109 Vgl. Elmar Gerum: Property Rights, in: Erich Frese (Hg.): Handwörterbuch der Organisation (Enzyklopädie der Betriebswirtschaftslehre, Bd. 2), Stuttgart 1992, Sp. 2116–2128, Sp. 2119; Alchian/Demsetz: Property Rights (1967), S. 347–359, S. 347. 110 Vgl. Ripperger: Ökonomik (1998), S. 166; Richter/Furubotn: Neue Institutionenökonomik (1999), S. 95; Göbel: Institutionenökonomik (2002), S. 67. 111 Vgl. James S. Coleman: Foundations of Social Theory, Cambridge 1990, S. 306; Hartmut Berghoff: Vertrauen als ökonomische Schlüsselvariable. Zur Theorie des Vertrauens und der Geschichte seiner privatwirtschaftlichen Produktion, in: Karl-Peter Ellerbrock/Clemens Wischermann (Hg.): Die Wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics (Untersuchungen zur Wirtschafts-, Sozial- und Technikgeschichte 24), Dortmund 2004, S. 576–592; Martin Fiedler: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist teuer. Vertrauen als Schlüsselkategorie wirtschaftlichen Handelns, in: GG 27 (2001), S. 576–592. 112 Vgl. Günter Hesse: Zur Erklärung der Änderung von Handlungsrechten mit Hilfe ökonomischer Theorie, in: Alfred Schüller: Property Rights und ökonomische Theorie, München 1983, S. 79–109; ders.: Property Rights, Theorie der Firma und wettbewerbliches Marktsystem, in: ders. (Hg.): Property Rights (1983), S. 145-183; Alfred Reckendrees: Der PropertyRights-Ansatz und sein möglicher Nutzen für die historische Unternehmensforschung. Ein Versuch, in: Ellerbrock/Wischermann (Hg.): New Institutional Economics (2004), S. 272– 290, S. 272. Vgl. zu einer Abgrenzung des Eigentumsbegriffes Wischermann/Nieberding: Institutionelle (2004), S. 54. Der EuV-Begriff der NIÖ, der „als Bündel von Rechten in soziale und kulturelle Beziehungen eingebettet ist“, ist von dem zeitgenössischen Eigentumsbegriff des 19. Jahrhunderts, der von Eigentum als absolutem Recht ausging, das sich auf die „Relation zwischen Menschen und Gütern“ bezog, abzugrenzen. Zu der vor der Einführung der

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2. Begriffe, theoretischer Bezugsrahmen und Methode

Nach Furubotn/Pejovich (1972) stellen Property-Rights-Strukturen „für die davon Betroffenen, ihren Nutzen maximierenden Individuen ein Anreizsystem mit ganz bestimmten Gratifikations-, d. h. Belohnungs- und Bestrafungspotentialen dar.“113 Die EuV-Strukturen führen über die von ihnen ausgehenden Anreizwirkungen zu bestimmten Arten der Ressourcennutzung, die folglich über Strukturveränderung auch steuerbar sein können. Von einer Verdünnung von EuVRechten spricht man, wenn das Recht, über eine Ressource zu verfügen, nicht wie im optimalen Fall bei einer Person oder Gruppe liegt, sondern die Rechte auseinanderfallen und sich folglich der Wert der Ressource und die Anreizwirkungen im Vergleich zum optimalen Zustand des ungetrennten Rechtsbündels in einer Hand verändern.114 Bei einem Auseinanderfallen von EuV-Rechten, im juristischen Duktus von Eigentum und Besitz115, wie z. B. in einem Pachtverhältnis eines Fabrikgeländes oder der Tätigkeit als Geschäftsführer, liegt auch eine der Überschneidungen zu der Prinzipal-Agent-Theorie vor, derzufolge ein Auftraggeber (Prinzipal) einen Auftragnehmer (Agenten) mit einer Aufgabe betraut, die er nicht selbst wahrnehmen will, kann oder soll. Die Entscheidungs- und Handlungsbefugnis liegt nach der Delegation vollständig oder partiell bei dem Agenten, der über die Ressourcen, hier das Gelände oder die Geschäftsführung, verfügen kann. Zentrales Kennzeichen zwischen Prinzipal und Agenten ist ihr unterschiedlicher Informationsstand, die Informationsasymmetrie und das Problem des Risikos eines opportunistischen Verhaltens des Agenten. Dieser kann z. B. den Wert der Ressourcen aus Sicht des Prinzipals nachteilig verändern (moral hazard), sodass u. U. als eine mögliche Lösung des Kooperationsproblems Kontrollmechanismen zu installieren sind und dementsprechend Transkationskosten im Sinne von Überwachungskosten anfallen.116 Ein Vorteil innerhalb der Familie als Trägergruppe liegt in ihrem Koordinationsmechanismus, der sich auf gegenseitiges Vertrauen gründet. Statt Monitoring, aufwendig und kostenintensiv,

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privaten Eigentumsordnung durchgeführten Unterscheidung in Ober- und Untereigentum, die sich an das römische Recht anlehnte, vgl. Hans-Rudolf Hagemann: Art. Eigentum, in: Adalbert Erler/Ekkehard Kaufmann (Hg.): Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, Berlin 1971, Sp. 882–896, Sp. 893. Vgl. Furubotn/Pejovich: Economic Theory (1972), S. 1137–1162, S. 1138. Vgl. Richter/Furubotn: Neue Institutionenökonomik (1999), S. 109 f.; Richter: Institutionen (1994), S. 14. Vgl. zur Verdünnung von Eigentumsrechten Göbel: Institutionenökonomik (2002), S. 78. In diesem Zusammenhang wird zwischen einer Arten- und Mengenteilung unterschieden. Unter einer Artenteilung versteht man das Auseinanderfallen von Eigentums- und Verfügungsrechten, die sich z. B. i. S. in der an die Jurisprudenz angelehnten Unterscheidung vom Eigentum an einer Sache und dem Besitz einer Sache äußern kann. Eine Mengenteilung liegt dann vor, wenn Eigentumsrechte sich nicht bei einer Person konzentrieren, sondern sich wie z. B. bei Handelsgesellschaften auf mehrere Personen verteilen. Vgl. grundlegend zu Verhaltensrisiko des Moral Hazard seitens des Agenten bei Ex-postInformationsasymmetrie nach Vertragsabschluss North: Institutionen (1992), S. 38 f.; Richter: Institutionen (1994), S. 17; ders./Furubotn: Neue Institutionenökonomik (1999), S. 224; Ripperger: Ökonomik (1998), S. 63 f.

2.3 Theoretischer Bezugsrahmen

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kann die soziale Kontrolle greifen, die z. B. von Ouchi (1980) für Familien-Clans als Clanmechanismus bezeichnet wird.117 In einer dynamischen Betrachtung wird der Einfluss von EuV-Strukturen auf die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung von North/Thomas (1973) untersucht mit dem Ergebnis, dass wirtschaftliches Wachstum maßgeblich von der institutionellen Weichenstellung beeinflusst wird.118 Institutionelle Weichenstellungen, die sich in EuV-Rechtsstrukturen niederschlagen, sind effizient, wenn sie einen hohen Internalisierungsgrad aufweisen. Dies bedeutet, dass die sich aus der Verteilung ergebenden Konsequenzen, die sogenannten externen Effekte, dem Rechtsinhaber zuzuordnen sind und dieser die Kosten für seine Entscheidungen und Handlungen übernimmt, wobei er bei positiven Folgen seiner Entscheidungen auch Nutznießer der Rechte ist.119 Der Effizienzbegriff von North geht einen Schritt weiter von der herkömmlichen allokativen zu einer adaptiven, einer Anpassungseffzienz. Die Anpassungseffizienz, die North als Schlüssel zum Wachstum sieht, ist dann gegeben, wenn die institutionelle Struktur so flexibel ist, dass sie Krisen und Wandel übersteht.120 In einer institutionenökonomischen Herangehensweise zeigt Viehl (2002) die tendenzielle Verteilungsstruktur der EuV-Rechte zwischen Senior-Unternehmer und familieninternem Nachfolger im Nachfolgeprozess für die heutige Zeit. Der Begriff der EuV-Rechte umfasst nicht das Sozialkapital der Familie oder des Seniorunternehmers.121 Die ersten beiden Phasen, die Vorbereitungs- und Entwicklungsphase des als Prinzipal-Agent-Beziehung modellierten Vorgänger-Nachfolger-Verhältnisses, kennzeichnen die starke Stellung des Vorgängers seitens seiner Position als Eigentümer und Entscheider und möglicherweise weiterer Familienmitglieder innerhalb des Unternehmens. Die Verteilung ändert sich erst mit der Nachfolge in der Geschäftsführung, die einen neuen Abschnitt in der Führungs117 Vgl. Berghoff: Vertrauen (2003), S. 269. Berghoff betont die Reduzierung von Kontrollmechanismen in Familienunternehmen gegenüber den managergeführten Unternehmen durch den Wirkungsmechanismus der sozialen Kontrolle. Vgl. zu Vertrauen als Koordinationsmechanismus Fiedler: Vertrauen ist gut (2001), S. 576–592, S. 582 f.; Francis Fukuyama: Trust. The Social Virtues and the Creation of Prosperity, New York 1996, S. 7, 21 f.; zu Clanmechanismus William. G. Ouchi: Markets, Bureaucracies, and Clans, in: Administrative Science Quaterly 25 (1980), S. 129–141. 118 Vgl. Douglas North/Robert P. Thomas: The Rise of the Western World. A New Economic History, Cambridge 1973; Douglas North: Theorie des institutionellen Wandels (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 56), Tübingen 1988, S. 34; ders.: Institutionen (1992), S. 109 f.; zu einer Kritik der Annahme des Nationalstaates vgl. Berghoff: Vertrauen (2003), S. 63. 119 Vgl. zum neoklassischen Effizienzbegriff Richter/Furubotn: Neue Institutionenökonomik (1999), S. 117, zu Internalisierung von externen Effekten S. 109. 120 Vgl. North: Institutionen (1992), S. 96 f. 121 Die Untersuchung basiert auf einer Befragung von Familienunternehmern (N = 97 geführte Interviews). Die intergenerationalen Eigentumsanteile an den Familienunternehmen in den jeweiligen Phasen wurden nicht quantifiziert. Vgl. hierzu Viehl: Unternehmensnachfolge (2002), S. 31 f.; zum Begriff des Sozialkapitals vgl. Coleman: Social Capital (1990), S. 300 f., das sich zum Humankapital dadurch abgrenzt, dass es durch Interaktion zwischen Individuen entsteht und nicht das Individuum per se Träger desselben ist.

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2. Begriffe, theoretischer Bezugsrahmen und Methode

phase markiert. Als Koordinationsmechanismus innerhalb der Prinzipal-AgentBeziehung hebt Viehl (2002) Vertrauen hervor.122

2.3.2 Kreis-Modelle Die Kreis-Modelle basieren auf dem zentralen Unterschied von Familienunternehmen zu anderen Unternehmen, nämlich der Kombination von den sozialen Systemen Familie und Unternehmen.123 Seit den 1960er Jahren werden Familienunternehmen und ihr sogenanntes fundamentales Dilemma, ihr Bestehen aus zwei sich überlappenden Subsystemen, die nicht zwangsläufig protagonistisch funktionieren, mit dem Zwei-Kreis-Modell erklärt.124 So bewegen sich die Beteiligten eines Familienunternehmens zwischen den Polen der Familie als Personeneinheit und dem Unternehmen als Wirtschaftseinheit, bei dem das ökonomische Kalkül statt der Befriedigung der emotionalen Bedürfnisse im Mittelpunkt steht. Die Subsysteme folgen jeweils eigenen Zielen, Wertsystemen/Normen, Logiken, Organisationsstrukturen und Funktionsweisen.125 Idealtypische Unterschiede von Familien und Unternehmen bestehen in der bereits erwähnten Ausrichtung der Systeme auf Personen bzw. auf Funktionserfüllung, bei der Gestaltung von Beziehungen in ihrer Austauschbarkeit. In der Familie ist es im Gegensatz zum Unternehmen nicht möglich, dass Personen gekündigt werden. Es wird personenorientiert und informell statt formell, sach- und entscheidungsorientiert kommuniziert.126 Hilse/Wimmer (2001) formulieren den Unterschied zwischen Familie und Unternehmen wie folgt: „Während in Familien die Personen, ihre Beziehungen, Emotionen und langfristige Entwicklungsprozesse im Vordergrund stehen, sind Unternehmen eher Systeme, die auf Basis formaler Funktionen, personenunabhängiger

122 Vgl. Viehl: Unternehmensnachfolge (2002), S. 31 f. 123 Vgl. Gersick/Davis/McCollom Hampton: Generation (1997), S. 2; Denise Kenyon-Rouvinez/John L. Ward: Family Business: Key Issues, Basingstoke 2005, S. 4. Vgl. grundlegend zur Systemtheorie Niklas Luhmann: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt/Main 1999. Als konstituierend für soziale Systeme werden die Beziehungen ihrer Systemelemente zueinander angesehen. In Abhängigkeit ihrer vorhandenen Austauschbeziehungen mit der Umwelt wird zwischen offenen und geschlossenen Systemen unterschieden. Ein weiteres Kriterium stellt die Kopplung zwischen organischen und psychischen Systemen dar, wobei unter Unternehmen lose gekoppelte Systeme und unter Familien feste gekoppelte Systeme verstanden werden. Vgl. hierzu Hans Ulrich: Management, Bern 1992, S. 21 f. 124 Vgl. grundlegend zu Zwei-Kreis-Modell Ivan Lansberg: Managing Human Resources in Family Firms: The Problem of Institutional Overlap, in: Organizational Dynamics 12 (1983), S. 39–46; Richard Backhard/W. Gibb Dyer Jr.: Managing Continutity in the Family-Owned Business, in: Organizational Dynamics 12 (1983), S. 5–12. 125 Vgl. Simon: Organisationen (1999), S. 181–200; ders.: Das Dilemma des Nachfolgers. Konflikte zwischen traditionellen und modernen Familienformen, in: ders. (Hg.): Die Familie des Familienunternehmens. Ein System zwischen Gefühl und Geschäft, Heidelberg 2002, S. 187– 208. 126 Vgl. Simon: Dilemma (2002), S. 12; Wimmer/Domayer/Oswald: Erfolgstyp (2005), S. 1; Kenyon-Rouvinez/Ward: Family business (2005), S. 4.

2.3 Theoretischer Bezugsrahmen

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Regeln und künftiger Ertragserwartungen operieren“.127 Im Falle des Familienunternehmens sind zwei soziale Systeme, die einer unterschiedlichen Logik folgen, miteinander strukturell gekoppelt. Beide „stören“ sich gegenseitig und durchlaufen eine Koevolution miteinander und liefern sich gegenseitig Anstöße für ihre Entwicklung.128 Abb. 1

Drei-Kreis-Modell

Quelle: Simon/Wimmer/Groth, Mehr-Generationen (2005), S. 92 f.

Innerhalb des Drei-Kreis-Modells werden z. B. nach Simon/Wimmer/Groth (2005) – ähnlich bei Gersick/Davis/McCollom Hampton(1997) – sieben mögliche Positionierungen des einzelnen Familienmitglieds innerhalb der drei Subsysteme Familie, Unternehmen und Eigentum differenziert: 1. Familienmitglied, Anteilseigner, im Unternehmen tätig, 2. Anteilseigner, im Unternehmen tätig, aber nicht zur Familie gehörend, 3. Familienmitglied, im Unternehmen tätig, 4. Familienmitglied, Anteilseigner, 5. Anteilseigner, 6. kein Familienmitglied, im Unternehmen tätig, 7. Familienmitglied. Die Rollen, die von einer Person in Unternehmerfamilien je nach Zugehörigkeit zu den Subsystemen wahrgenommen werden, können somit von einer bis zu drei Rollen variieren, sodass es zwischen Personen, Gruppen oder im Falle der Familie zwischen Familienstämmen (interpersonell) oder innerhalb der Person (intrapersonell) zu Zielkonflikten kommen kann, da sich die Logiken nicht entsprechen

127 Vgl. Heiko Hilse/Rudolf Wimmer: Führung in Familienunternehmen, zu Herausforderungen und Professionalisierungsbedarfen in familiengeführten Betrieben, in: zfo 70 (2001), S. 20– 28. 128 Vgl. Simon: Dilemma (2002), S. 41.

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2. Begriffe, theoretischer Bezugsrahmen und Methode

müssen.129 Besonders im Falle der Nachfolge kann es zu Problemen und Konflikten kommen, wenn der Seniorunternehmer als Vater eines seiner Kinder zum Nachfolger zu bestimmen hat. Er agiert gleichzeitig in zwei Rollen: als gerechter, alle Kinder gleich behandelnder Vater und als Unternehmer, der nur den fähigsten Bewerber auszuwählen hat.130 Die Kreis-Modelle, in der Theorie und Praxis bewährt, eignen sich gut für einen Zugang zu Familienunternehmen als soziale Systeme sowie für die in der vorliegenden Arbeit eingeschlossene Beleuchtung der weichen Faktoren und der Konflikte aus sich widerstrebenden Motivationen und Zielen einzelner Familienmitglieder oder innerfamiliärer Gruppen. Sowohl für die Entwicklung von Familienunternehmen als auch für Unternehmensnachfolgen sind die Kreis-Modelle ein Bezugspunkt. Das für die Ziele und Motivationen der Akteure zentrale Subsystem Eigentum wirkt sich auf den Umgang mit Ressourcen aus. In der Literatur wird nicht zwischen Eigentum und Besitz differenziert. In Bezug auf das Modell wäre eine Differenzierung in dreierlei Hinsicht notwendig: 1. kann die Trägergruppe im Rahmen der Unternehmensverfassung i. w. S. so konzipiert sein, dass einzelne Personen in der Unternehmensleitung zwar Eigentümer sind, darüber hinaus aber über Delegationsverhältnisse, d. h. durch Übertragung von Verfügungsmacht durch andere nicht in der Unternehmensführung des Familienunternehmens tätige Eigentümer im Verhältnis zu ihrem Eigentumsanteil überproportionale Verfügungsmacht besitzen, 2. können die Personen, die „nur Familienmitglieder sind“, auch im Besitz wichtiger Ressourcen sein, z. B. über wichtige Informationsquellen für das Familienunternehmen verfügen,131 3. müssen Betriebsgrundstücke oder Produktionsmittel nicht vollständig eigenfinanziert sein, sodass z. B. bei Eintragung einer Grundschuld entsprechend der Fremdfinanzierung nur ein Besitzverhältnis vorliegt. Für eine historische Betrachtungsweise muss mit der Unterteilung zwischen den Subsystemen Familie und Unternehmen vorsichtig umgegangen werden, da die funktionale Ausdifferenzierung von Familien und Unternehmen in der frühen Neuzeit erst begann. Generell kann den Kreis-Modellen eine Idealisierung von Funktionsweisen der Subsysteme vorgeworfen werden, da Familien nicht zwangsläufig altruistisch handeln und ein ökonomisches Kalkül in heutiger Zeit wie in der frühen Neuzeit in der Familie als Wirtschaftseinheit ebenso auf der Tagesordnung stehen kann bzw. konnte.132 129 Vgl. Simon/Wimmer/Groth: Mehr-Generationen (2005), S. 92 f.; Gersick/Davis/McCollom Hampton: Generation (1997), S. 6; Renato Taguiri/John Davis: Bivalent Attributes of the Family Firm, in: FBR 9 (1996), S. 199–208, S. 200. 130 Zu drei wahrgenommenen Rollen als ein im Unternehmen tätiges Familienmitglied, das zugleich Anteilseigner ist, siehe Bereich 1 in Abb. 1. 131 Über Sozialkapital, das Zugang zu Informationen ermöglicht, kann nur verfügt werden. Personen können in einer freiheitlichen Ordnung nicht Eigentümer einer anderen Person sein. 132 Vgl. zur Integration eines vierten Subsystems, des Individuums, und zur Beurteilung der Kreismodelle Viehl: Unternehmensnachfolge (2002), S. 24. Der Vorschlag eines vierten Sub-

2.3 Theoretischer Bezugsrahmen

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2.3.3 Lebenszyklusmodelle Für den vorliegenden langen Untersuchungszeitraum eignen sich die Kreis-Modelle, die die Familienunternehmen nur in einer Momentaufnahme zu einem bestimmten Zeitpunkt sehen, nur bedingt, z. B. für die Erläuterung von Dynamiken nach personellen Zäsuren. Um zu erklären, wie sich Familienunternehmen in der Zeit entwickelten, werden Modelle, die die Tatsache, dass Systeme und Organisationen in Analogie zu biologischen Organismen altern, als Ausgangspunkt verwendet. Das dreidimensionale Entwicklungsmodell von Gersick/Davis/Lansberg (1997) überträgt die Kreis-Modelle für die Dimensionen Eigentümerschaft, Familie und Unternehmen in die Zeit und zeigt die Verwobenheit und Koevolution der Lebenszyklen der Familie und als Trägergruppe des Unternehmens mit demselbigen.133 Die typischen Abfolgen der Eigentümerstruktur (stages of ownership) vom Gründerunternehmen über die Geschwister-Partnerschaft zum Vettern-Konsortium basieren auf Arbeiten von John Ward aus dem Jahr 1987, die sich bei zunehmender Eigentümeranzahl in der Generationenfolge durch Vererbung hinsichtlich der Entscheidungs- und Konsensfähigkeit, aber auch durch das Ausmaß des persönlichen Interesses unterscheiden.134 Die Eigentümerstruktur bewegt sich in einer Bandbreite zwischen Alleineigentümer und Hunderten von Familienangehörigen, die Eigentumsanteile an einem Unternehmen halten können. Als zweite Dimension wird der Familienlebenszyklus mit dem Ausgangspunkt der Unternehmerehe und den Stadien „young business family“, „entering the business“, „working together“ und „passing the baton“ genannt, die in Unternehmen mit mehreren beteiligten Stämmen nicht synchron verlaufen müssen.135 Die dritte Dimension des dreidimensionalen Entwicklungsmodells ist die der Unternehmensentwicklung.136 Als Grundlage fungieren Lebenszyklusmodelle von Unternehmen, denen gemäß jedes Unternehmen die idealtypischen Phasen Pionier-, Wachstums-

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systems, das des Individuums, besitzt ebenfalls nur für einen kleinen Ausschnitt zum Ende des Untersuchungszeitraums um die Wende vom 19. auf das 20. Jahrhundert Relevanz, als zunehmende Individualisierungstendenzen im Wirtschaftsbürgertum zu beobachten waren. Vgl. zum verwobenen Familienlebenszyklus und Unternehmenslebenszyklus, Gersick/Davis/McCollom Hampton: Generation (1997), S. 16; Simon: Dilemma (2002), S. 41. John L. Ward: Keeping the Family Business Healthy, San Francisco 1987; ders./Christina Dolan: Defining and Describing Familiy Business Ownership Configurations, in: FBR 11 (1998), S. 305–330; zu Ownership developmental Dimension vgl. Gersick/Davis/McCollom Hampton: Generation (1997), S. 18 f.; Viehl: Unternehmensnachfolge (2002), S. 23; KenyonRouvinez/Ward: Family Business (2005), S. 10 f., die den einzelnen Stufen des Organisationsmodells des Eigentums ein abnehmendes Maß an Entscheidungs- und Konsensfähigkeit zuweisen. Vgl. Gersick/Davis/McCollom Hampton: Generation (1997), S. 19. Die Modellierung des Familienlebenszyklus basiert bei ihnen auf Daniel J. Levinson: The Seasons of a Man’s Life, New York 1978; ders.: The Seasons of a Woman’s Life, New York, 1996; Klein: Familienunternehmen (2004), S. 73. Klein setzt die einzelnen Stufen gemessen an dem Alter der älteren Generation bei jünger als 40 Jahren, 35–55 Jahren, 50–65 Jahren und über 60 Jahren an. Vgl. Gersick/Davis/McCollom Hampton: Generation (1997), insb. S. 104 f.

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2. Begriffe, theoretischer Bezugsrahmen und Methode

und Phase der reifen Unternehmung durchläuft. Der gesteigerte Finanzierungsbedarf in der Wachstumsphase stellt für nicht börsennotierte Familienunternehmen eine große Herausforderung dar, ebenso wie der Aufbau einer formalen Organisation.137 In der Reifephase mit zunehmendem Wettbewerbsdruck und abnehmenden Erträgen gelingt es entweder, das Unternehmen zu revitalisieren und eine Wende herbeizuführen, oder das Unternehmen scheidet aus dem Markt aus.138 In der deutschsprachigen Literatur existieren derzeit drei Ansätze von Goehler (1993), Rosenbauer (1994) und Klein (2004), die Lebenszyklusmodelle speziell auf Familienunternehmen anwenden. Der Ansatz von Goehler (1993) basiert auf dem Krisenmodell von Argenti (1976), demzufolge ein Unternehmen typische Krisen durchläuft, bis es eine neue Entwicklungsstufe erklimmen kann.139 Rosenbauer (1994) und Klein (2004) fußen modelltheoretisch auf dem Metamorphosemodell von Pümpin/Prange (1991). Jedes Stadium weist ein bestimmtes Krisenpotenzial auf. Wenn dieses gemeistert ist und es dem Unternehmen gelingt, neues Nutzenpotenzial für seine Kunden zu entdecken, schafft es den Übergang (Metamorphose) zum nächsten Stadium, nachdem es für sich den kriseninduzierten Veränderungsdruck nutzbar gemacht hat. Klein (2004) knüpft in ihrem Modell an Rosenbauers Kritik an, bei der die Familien-, Unternehmens- und Eigentümerlebenszyklen zeitlich synchron verlaufen, sodass z. B. die Familiengründung in der Unternehmenswachstumsphase angesiedelt wird. Die Bedeutung der Unternehmensführung für die Transformation des Unternehmens ist allen Ansätzen gemein.140 Die Dilemmata entstehen im Übergang von einem auf ein anderes Stadium. So wandelt sich das System Familienunternehmen, wenn z. B. ein Individuum von einem in ein anderes Subsystem wandert, ein potenzieller Nachfolger, der zunächst nur im Unternehmen angestellt war, plötzlich Anteilseigner wird oder ein Teilhaber gegen Abzug seines Kapitals aus dem Unternehmen ausscheidet.141 137 Vgl. zur Wachstumsfinanzierung Pierenkemper: Unternehmensgeschichte (2000), S. 123; Bertsch: Die industrielle Familienunternehmung (1964). 138 Vgl. zu den typischerweise zugeschriebenen Herausforderungen in der Gründungsphase Klein: Familienunternehmen (2004), S. 282 f., in der Wachstumsphase S. 285 f.; Gersick/Davis/McCollom Hampton: Generation (1997), S. 23, für die Reifephase S. 24; Klein: Familienunternehmen (2004), S. 301 f. Der am Produktlebenszyklus orientierte Verlauf muss nicht synchron mit den Lebenszyklen der Eigner verlaufen. 139 Vgl. Goehler: Erfolg (1993), S. 79 f.; Claudia C. Rosenbauer: Strategische Erfolgsfaktoren des Familien-Unternehmens im Rahmen seines Lebenszyklus, Diss. St. Gallen 1994, Klein: Familienunternehmen (2004), S. 279; Argenti: Corporate Collapse (1976), S. 148 f.; Pümpin/Prange: Unternehmensentwicklung (1991), S. 23. 140 Vgl. Goehler: Erfolg (1993), S. 79 f.; Rosenbauer: Erfolgsfaktoren (1994), S. 74; Klein: Familienunternehmen (2004), S. 280; zum Metamorphosemodell vgl. Pümpin/Prange: Unternehmensentwicklung (1991), S. 131. Im Modell von Rosenbauer endet der Lebenszyklus mit der Übergabe des Familienunternehmens, während bei Goehler und Klein der Lebenszyklus nicht auf den Generationenwechsel hin skaliert ist und bereits in der Wachstumsphase auftreten kann. 141 Vgl. Carlock/Ward: Strategic (2001), S. 27; Gersick/Davis/McCollom Hampton: Generation (1997), S. 15.

2.3 Theoretischer Bezugsrahmen

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Das Lebenszykluskräftemodell von Carlock/Ward (2001) erweitert das dreidimensionale Entwicklungsmodell um den Lebenszyklus von Individuen als Teil der Unternehmerfamilie und den Faktor Markt als Unternehmensumwelt. In ihrer Modellwelt befindet sich ein Familienunternehmen in einem Kräftefeld dieser sich verändernden Faktoren, von denen sogenannte Lebenszykluskräfte ausgehen. In ihrem Zusammenspiel vermögen sie ein Familienunternehmen in seiner Entwicklung zu beeinflussen.142 Im Unterschied zu den übrigen Modellen sprechen Carlock/Ward (2001) bei der Dimension des Eigentums nicht von Phasen, sondern von Eigentumskonfigurationen. Insbesondere zu Zeiten, in denen sogenannte „life cycle events“ wie Geburt, Heirat, Rente oder Tod geschehen bzw. Transitionen innerhalb von Lebenszyklen der Familie oder Individuen vonstatten gehen, entsteht Potenzial, dass sich die Konfigurationen ändern. Insgesamt werden sechs Konfigurationen, nämlich „entrepreneurship“, „owner-managed“, „family partnership“, „sibling partnership“, „cousins collaboration“ (die Vettern-Partnerschaft) und das durch Eigentümer verschiedener Generationen geprägte „family syndicate“ unterschieden, die in ihrer Abfolge nicht linear sind, sondern übersprungen werden oder sich erneut ergeben können.143 Der Mechanismus, der die Stadien ineinander überführt, wird von Gersick (1999) untersucht, der drei Typen der Transition innerhalb der Eigentümerstrukturabfolgen unterscheidet. Eine Wiederholung der Stadien, z. B. der des Alleineigentümers bezeichnet Gersick mit „recycle“, den Übergang in weniger komplexere Strukturen, z. B. von Alleineigentümern zur Geschwisterpartnerschaft, als evolutionäre Transitionen und den entgegengesetzten Weg, der mit einer Komplexitätsreduktion der Eigentümerstruktur einhergeht, als devolutionäre Transition.144 Als besondere Herausforderung der Eigentümerstruktur betonen Carlock/Ward (2001) und Simon/Wimmer/Groth (2005) diejenigen Konstellationen, in denen die Eigentümerzahl im fortgeschrittenen Familienlebenszyklus steigt und sich folglich die Beschlussfassung erschwert. Hinzu kann eine Partizipation mehrerer Generationen mit großen Altersunterschieden Konflikte, z. B. in der Investitionspolitik aufgrund differierender Risikoaversion, hervorrufen.145 Als weiteres Problem nennen sie die Separation von Eigentum und Unternehmensleitung bei Delegation an einen Manager, die zu einer Kollision von Entnahmeinteressen seitens des Management und langfristig orientierter Reinvestition führen können.146 Die indivi-

142 Vgl. Gersick/Davis/McCollom Hampton: Generation (1997), S. 27. 143 Vgl. Gersick/Davis/McCollom Hampton: Generation (1997), S. 120. 144 Vgl. Kelin E. Gersick: Stages and Transitions: Managing Change in the Family Business, in: FBR 12 (1999), S. 287–297. 145 Vgl. Carlock/Ward: Strategic (2001), S. 27; Gersick/Davis/McCollom Hampton: Generation (1997), S. 124. 146 Vgl. Gersick/Davis/McCollom Hampton: Generation (1997), S. 125; Carlock/Ward: Strategic (2001), S. 27; grundlegend Michael Jensen/William Meckling: Theory of the Firm. Managerial Behavior, Agency Costs, and Ownership Structure, in: Journal of Financial Economics 3 (1976), S. 305–360.

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2. Begriffe, theoretischer Bezugsrahmen und Methode

duellen Herausforderungen für Familien und ihre Unternehmen liegen in der Strategieentwicklung, um dem Systemwandel gerecht zu werden.147 Abb. 2

Lebenszykluskräftemodell

Quelle: Carlock/Ward, Strategic (2001), S. 27.

Gersick (1997) nimmt mögliche Kritik vorweg, indem er betont, dass die verschiedenen Phasen idealtypisch vereinfacht sind. Unternehmen befinden sich in der Realität oft in hybriden Zuständen. So handelt es sich i. d. R. nicht um EinProdukt-Unternehmen, sondern um Unternehmen, deren Produkte sowohl vor der Reife als auch kurz vor der Markteinführung stehen können. Trotz der Kritik an Lebenszyklusmodellen ist auf ihren heuristischen Wert zu verweisen.148

2.3.4 Modelltheoretische Grundannahmen der Arbeit Einen Anhaltspunkt für die Allokation der EuV-Rechte i. w. S. innerhalb der Nachfolgeprozesse unter Einbeziehung von Sozialkapital geben die Kreismodelle. Sie bilden die Akteure und ihre Zugehörigkeit innerhalb des Systems Familienun147 Vgl. Erker: Dachser (2007), S. 15. 148 Vgl. A. M. O’Rand/M. L. Krecker: Concepts of the Life Cycle, Their History, Meanings, and Uses in the Social Sciences, Annual Review of Sociology 16 (1990), S. 241–262.

2.3 Theoretischer Bezugsrahmen

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ternehmen wie auch die Veränderung durch Wechsel der Zugehörigkeit zu einzelnen Subsystemen und den dort üblichen Verhaltensweisen ab. Wie die KreisModelle dienen die Lebenszyklusmodelle als Heuristik, um die Entwicklung der Familienunternehmen einzuordnen. Da die Nachfolgeprozesse in die Entwicklungsphasen eingefasst sind und simultan ablaufen, orientiert sich hier der Unternehmenslebenszyklus an dem Metamorphose-Modell von Pümpin/Prange (1991) und dem ihm nahestehenden Modell des Vitallebenszyklus von Klein (2004) und nicht an dem sich auf die reinen Phasenübergänge konzentrierenden CorporateHealth-Ansatz von Argenti (1979).149 Die Modelle werden mit der für historische Untersuchungen dargelegten Einschränkung, z. B. hinsichtlich der funktionalen Ausdifferenzierung der Subsysteme des Familienunternehmens, verwendet. Der Prozess der Nachfolge, wie das Nachfolgearrangement eingegangen wurde, wird unter einem institutionenökonomischen Blickwinkel als Agency-Problem mit dem Senior als Prinzipal150, der seinen Nachfolger151 mit der Weiterführung des Familienunternehmens betraut, modelliert. Das Agency-Problem kann bei Perspektivenwechsel auch aus Sicht des Nachfolgers als Prinzipal aufgefasst und in diesem Kontext als wechselseitiges Problem dargestellt werden. Der Nachfolger erbringt in institutionenökonomischer Sicht ein „Freiheitsopfer“ auf seinem Lebensweg. Dies ist tendenziell umso höher, je stärker er die Nachfolge in dem Familienunternehmen als Pflicht wahrnimmt und er Alternativen in seiner individuellen Entwicklung ausschließt oder ausschließen muss. Das dem Senior immanente Verhaltensrisiko liegt darin begründet, dass der Agent Lebenszeit in das Familienunternehmen investiert und erwartet, dass eines Tages die Führung des Unternehmens auf ihn übergehen wird, was nicht unbedingt garantiert sein muss und für ihn ex ante unsicher ist. Der Senior könnte seine Verfügungsfreiheit über sein Eigentum dahingehend nutzen und eventuell die Spitzenposition trotz Anstrengung oder Einbringen eigener Ideen und Wissens des Juniors an ein Geschwister oder gar einen externen Manager übertragen oder wie im Fall Zeiss das Familienunternehmen in eine Stiftung umwandeln.152 Obwohl die Vorgänger-Nachfolger-Beziehungen in Anlehnung an Ripperger (1998) als Vertrauensgeber- (Prinzipal-) und Vertrauensnehmer- (Agent-)Beziehung153 aufgefasst wird, die von einem dem Familienunternehmen nachgesagten speziellen Transaktionsklima getragen wird, werden die die Nachfolge(-strategie) absichernden systemimmanenten Elemente nicht ausgeklammert, da nicht von blindem Vertrauen ausgegangen wird. Hierzu gehören soziale Kontrolle oder sozialer Druck sowie flankierende vertrauensschaffende Maßnahmen wie z. B. bei149 Vgl. zu heuristischer Nützlichkeit der Modelle Mark Ringlstetter/Stephan Kaiser: Art. Organisationaler Lebenszyklus, in: Schreyögg/von Werder (Hg.): HWFü (2004), Sp. 725–739, Sp. 731. 150 Vgl. Göbel: Institutionenökonomik (2002), S. 107 zum Mehr-Prinzipal-Fall, der z. B. im Mehr-Stämme-Familienunternehmen auftauchen kann. 151 Vgl. zu dem Fall, dass es sich um mehrere Aufträge oder mehrere Agenten handelt Göbel: Institutionenökonomik (2002), S. 105. 152 Vgl. Schomerus: Zeiss (1940), S. 79 f. 153 Vgl. Ripperger: Ökonomik (1998), S. 68 f., 168 f.

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2. Begriffe, theoretischer Bezugsrahmen und Methode

derseitiges Signaling, z. B. auf Seite des Nachfolgers durch Aufbau von Reputation oder glaubhafte Drohungen des Seniors wie Enterbung. Eine Stützung und Stabilisierung der Nachfolgeprozesse durch Institutionalisierung von Übergabeund Vererbungsmustern i. S. einer Unsicherheitsreduktion hinsichtlich von Verhaltensrisiken ist ebenso denkbar. Abbildung 3 zeigt das für eine Drei-Phasen-Betrachtung um Wissenstransfer und Einführung in soziale Netzwerke und Verkehrskreise erweiterte Modell von Viehl (2002), in dem von einer Umverteilung der EuV-Rechte i. w. S. zu Lebzeiten ausgegangen wird. Die Verfügungsrechte über Sozialkapital und Wissen können nicht so trennscharf wie die Umverteilung von Eigentumsrechten festgemacht werden. Gestützt auf die Ansätze zur Ausbildung und Erziehung in gewerblichen Kreisen von Kocka (1982) und Longenecker/Schoen (1978) wird auf der ersten Untersuchungsebene davon ausgegangen, dass der Nachfolger in die sozialen Verkehrs- und Heiratskreise eingeführt und positioniert wird. Zeitlich parallel erfolgt auch die Investition in Humankapital durch intergenerationalen über die Schulbildung hinausgehenden Wissenstransfer, „tacit knowledge“154, die kulturelle Bildung und die Weitergabe von Werten oder Leitbildern in der Hoffnung, dass sich die zeitlichen und monetären Investitionen auszahlen. Der um das Sozialkapital erweiterte EuV-Begriff i. w. S. kommt in der biografischen Betrachtung der Nachfolger mehr zum Tragen als auf der zweiten, der instituionell-rechtlichen Untersuchungsebene, die die Nachfolgefinanzierung fokussiert. Das Schema des Nachfolgeprozesses wird in der Fallanalyse erneut aufgegriffen und entsprechend angepasst. So bezieht sich die Nachfolgestrategie des Seniors auf eine Art Nachfolgevertrag. Dieser kann als Kontraktbündel mit (oft unbewusst) impliziten sich selbst durch den Clanmechanismus durchsetzenden informellen Kontrakten wie die Ausbildung sowie expliziten formellen, wenn auch unvollständigen Regelungen wie Gesellschaftsverträge aufgefasst werden.155 Auf der zweiten, der institutionell-rechtlichen Untersuchungsebene verschiebt sich der Fokus der Schnittmenge der Ansätze. Die Property-Rights-Theorie im Zusammenhang mit der Unternehmensverfassung, der gewählten Rechtsform, Testamenten und Gesellschaftsverträgen dominiert als Bezugspunkt. Konnten die Verfügungsrechte nicht eindeutig zugewiesen werden, kommt es post mortem also zu Ex-post-Nachverhandlungen in der Familie. Verfügungsrechte über Sozialkapital treten in der Analyse zurück. 154 Vgl. Kocka: Familie (1982), S. 167; Justin G. Longnecker/J. E.Schoen: Management Succession in the Family Business, in: Journal of Small Business Management 16 (1978), S. 1–6. Zu zeit- und ortsgebundenem Wissen („tacit knowledge“) als Wettbewerbsvorteil von Familienunternehmen in einer ressourcenorientierten Sichtweise vgl. Tokarczyk/Hansen/Green/Down: Familiness (2007), S. 19. Das idiosynkratische Wissen kommt dem intuitiven personengebundenen Wissen bei Williamson nahe. Vgl. hierzu Susanne Royer/Roland Simons/Britta Boyd u. a.: Promoting Family: A Contingency Model of Family Business Succession, FBR 21 (2008), S. 15–30, insb. S. 18; Williamson: Markets and Hierarchies (1975), S. 3. 155 Gesellschaftsverträge, Erbverträge sind explizite, aber unvollständige Verträge, da sie nicht alle Eventualitäten abdecken können und eine Unsicherheit verbleibt.

2.3 Theoretischer Bezugsrahmen

Abb. 3

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Prozess der familieninternen Nachfolge

Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Viehl, Unternehmensnachfolge (2002), S. 31 f.

Für die Beleuchtung der institutionellen Reglements innerhalb des Unternehmens und die im Zusammenhang der Unternehmensnachfolge untersuchten Erbfälle, die in der zweiten Untersuchungsebene zum Tragen kommen, wird das Drei-KreisModell, wie z. B. bei Simon/Wimmer/Groth (2005) dargestellt, um eine institutionenökonomische Perspektive der EuV-Rechte erweitert und zwischen Eigentum und Besitz differenziert. Dies wurde bislang in den üblichen Darstellungen vernachlässigt. Der Bezugsrahmen für die Property-Rights-Verteilungen ist die erweiterte Familie (inklusive Schwiegersöhnen) als Besitzer/Eigentümer und ggf. externe Anteilseigner. Die Nachfolge wird im Sinne von „boundry-crossing-journeys“156 innerhalb der Kreismodelle modelliert, bei der die betroffenen Personen, insbesondere die Familienmitglieder, neue Positionen bzw. veränderte Konstellationen hinsichtlich Eigentums oder Besitzes über die Unternehmens- und/oder privaten Familienvermögen einnehmen, die Rechtsbündel der Transfergeber dementsprechend verdünnt werden (Mengen- oder Artenteilung) und Anreizprobleme entstehen können. Unter Rückgriff auf die bisherigen Positionen im Drei-Kreis-Modell ergibt sich Governance-Bedarf, wenn familieninterne Anteilseigner (Abb. 3; Bereiche Nr. 1, Nr. 4) eine Verdünnung von EuV-Rechten (Arten- und Mengenteilung) vornehmen würden.157 Das Drei-Kreis-Modell wird durch eine institutionenökonomische Perspektive erweitert, indem Eigentums- und Verfügungsrechte eingeführt werden. So können z. B. die Folgen einer Erbeinsetzung eines Familienmitglieds ohne Eigentumsrecht und ohne Tätigkeit im Unternehmen (Akteur Nr. 7) dargestellt und die anschließende Umverteilung der Rechte innerhalb der Familie 156 Vgl. Gersick/Davis/McCollom Hampton: Generation (1997), S. 16. 157 Corporate Governance und Unternehmensverfassung werden im Folgenden synonym gebraucht.

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2. Begriffe, theoretischer Bezugsrahmen und Methode

modelliert werden. Die konkrete Lösung des Umverteilungsproblems während des Nachfolgeprozesses rückt in das Zentrum des Interesses und damit auch eine Postmortem-Nachverhandlung. Entspricht die Rechteverteilung nicht der gewünschten, wird eine Reallokation vorgenommen. Die Verteilung der Property Rights bei Wahl einer bestimmten Rechtsform wird in Grundzügen in Kapitel 3 unter Rückgriff auf die rechtlichen Rahmenbedingungen analysiert, die Problematiken werden aufgezeigt, um in der Fallanalyse an die Referenzpunkte, u. U. Limitierungen anknüpfen zu können.

3. WIRTSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG DES BERGISCHEN LANDES SEIT DEM SPÄTEN 18. JH. Die Vorstellung des realwirtschaftlichen Hintergrunds im Bergischen Land ist so angelegt, dass die generellen Besonderheiten in Kapitel 3 herausgearbeitet werden. Um Redundanzen zu vermeiden, werden spätere Entwicklungen, die für die Fallbeispiele relevant waren, erst in den Fallanalysen erörtert. Das Bergische Land, das seinen Namen der hügeligen Landschaft und seinen leichten Anhöhen verdankt, dehnt sich westlich bis zum Urstromtal des Rheins, nordöstlich bis zur Ruhr und südlich bis zur Sieg aus und umschließt östlich den heutigen Naturpark Bergisches Land. Es wird von Westen nach Osten von der Wupper durchkreuzt. Während der wechselhaften Territorialgeschichte einzelner Gebiete der späteren preußischen Rheinprovinz umschloss die durch das Bergische Land umspannte Fläche das ehemalige Herzogtum Berg, das 1666 nach der Herauslösung von Berg aus dem Herrschaftsverbund Jülich-Berg im Zuge der Erbfolgestreitigkeiten zwischen Brandenburg und Pfalz-Neuburg/Wittelsbacher entstanden war.1 1777 fiel das Herzogtum Berg durch Erbfolge an die pfälzische Linie der Wittelsbacher, unter die Regentschaft von Kurfürst Karl Theodor und 1799 an Kurfürst Maximilian IV (Pfalz-Zweibrücken) von Bayern.2 Napoleon vereinigte 1806 das durch Bayern abgetretene Herzogtum Berg mit den 1805 von Preußen abgetretenen rechtsrheinischen Gebieten des Herzogtums Kleve. Der französische Satellitenstaat, der unter die Regentschaft von Napoleons Schwager Joachim Murat gestellt wurde, hieß nun Großherzogtum Berg (GHT Berg).3 Die Tradition des Bergischen Landes als frühe Gewerbelandschaft reicht lange vor die Einführung der Gewerbefreiheit im Jahr 1809 zurück. Obwohl in den Berichten des seitens des Kürfürsten gesandten Hofkammerrats Jacobi 1773/74 wie auch 25 Jahre später von Justus Gruner und zahlreichen anderen Reiseberichten der Zeit der blühende Zustand des bergischen Gewerbes und „seiner beispiellosen Industrie“ hervorgehoben wurde, blieb das Bergische Land „Pionier und Nachzügler zugleich“4. 1

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Das Herzogtum Kleve und die Grafschaft Mark gelangten in Folge des Jülicher Erbfolgestreites an Brandenburg Preußen. Vgl. hierzu Wilfried Reininghaus: Über die Wupper gehen … Aspekte einer vergleichenden Geschichte der benachbarten Territorien Berg und Mark vor 1806, in: ZBGV 99 (1999/2001), S. 9–26, S. 13. Vgl. Hermann Ringel: Bergische Wirtschaft zwischen 1790 und 1860. Probleme der Anpassung einer frühindustriellen Landschaft, Neustadt a. d. Aisch 1966, S. 17. Vgl. Max Bär: Die Behördenverfassung der Rheinprovinz seit 1815 (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 35), Bonn 1919, S. 63–68; Gerhard Köbler: Historisches Lexikon der deutschen Länder. Die deutschen Territorien und reichsunmittelbaren Geschlechter vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Darmstadt 1999, S. 54. Vgl. Jürgen Reulecke: Pionier und Nachzügler zugleich: das Bergische Land und der Beginn der Industrialisierung in Deutschland, in: Sidney Pollard (Hg.): Region und Industrialisierung,

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3. Wirtschaftliche Entwicklung des Bergischen Landes seit dem späten 18. Jh.

War das Bergische Land gegenüber den Gewerbezentren Englands und Belgiens ein Nachzügler, so schritt es gleichzeitig dem landwirtschaftlich dominierten Preußen voran.5 Die Janusköpfigkeit der Region kann in einer regionalökonomischen Betrachtungsweise wie bei Gerschenkron (1976) mit einer „relativen Rückständigkeit“ einerseits und einer in ihrer Dynamik alternierenden Aufholjagd andererseits beschrieben werden, die das Aufschließen der Region gegenüber der raschen industriellen Umwälzung des Ruhrgebiets um 1850 kennzeichnet.6 Der evolutionäre Charakter, ein vergleichsweise abrupter Übergang in eine Industrieregion sowie mannigfaltige Kooperationsformen, Unternehmenstypen, Produktionsweisen, aber auch Produktpaletten, die sich innerhalb der Eisen- und Textilverarbeitung auffächerten, kennzeichneten das Bergische Land. An die teilweise bis ins Mittelalter zurückreichenden Gewerbetraditionen, die sich während der 80jährigen Friedensperiode des 18. Jahrhunderts weiterentwickeln konnten, durfte in der frühen Phase der Industrialisierung angeknüpft werden.7 Die Entstehungsgründe für die vorindustriellen Traditionen im Eisen- und Textilgewerbe lagen zum einen in den kargen Bodenverhältnissen, die eine Vollexistenz aus der Landwirtschaft nicht zuließen, sowie an beachtlichen bzw. leicht zugänglichen Rohstoffvorkommen, zum anderen in der in Berg üblichen Realteilungssitte begründet. Diese hatte zu einer Zerstückelung der Landparzellen geführt, sodass ein gewerblicher Nebenerwerb notwendig war, um die Existenz zu sichern.8 Die in Berg bis auf das Gebiet um Kleve bereits gebräuchliche Realteilung wurde im Zuge der Einführung des Code Civil und des dort enthaltenen französischen Erbrechts im Rheinland in Kraft gesetzt.9 Bei seiner Konstituierung fanden Napoleons machtpolitische Ziele der Schwächung der Eliten des „ancien regime“, der adeligen Grundbesitzer, ihren Niederschlag.10 Durch Zersplitterung des

Göttingen 1980, S. 54. Der Industriebegriff der Zeitgenossen ist i. S. von Gewerbefleiß zu verstehen und setzte keine bestimmten organisatorische Kriterien der Produktionsweise voraus, vgl. hierzu Pierenkemper: Gewerbe und Industrie (1994), S. 3. 5 Vgl. Reulecke: Pionier (1980), S. 52 f.; Ringel: Wirtschaft (1966), S. 34. 6 Vgl. zu dem Konzept des industriellen Nachzüglers und dem Zusammenspiel, der die Aufholjagd gegenüber fortschrittlicheren Regionen bedingenden Einflussfaktoren Alexander Gerschenkron: Economic backwardness in historical perspective: a book of essays, Cambridge 1976, S. 5 f.; ders.: Wirtschaftliche Rückständigkeit in historischer Perspektive, in: HansUlrich Wehler (Hg.): Geschichte und Ökonomie (Neue wissenschaftliche Bibiothek 58), Köln 1973, S. 121–129. 7 Vgl. zu einer Darstellung der Gewerbetraditionen im Eisen- und Textilgewerbe im Bergischen Land Edmund Strutz: Bergische Wirtschaftsgeschichte, in: Justus Hashagen/Karl J. Narr/Wilhem Rees u. a. (Hg.): Bergische Geschichte, Remscheid-Lennep 1958, S. 297–446. 8 Vgl. Eckard Bolenz: Johann Gottfried Brügelmann. Ein rheinischer Unternehmer zu Beginn der Industrialisierung und seine bürgerliche Lebenswelt (Beiträge zur Industrie- und Sozialgeschichte 4), Köln 1993, S. 34; Reulecke: Pionier (1980), S. 53. Strutz verortet das Aufkommen der Eisenindustrie um Hückeswagen um 1700, während die Tradition in Solingen und Remscheid länger zurückreichte. Vgl. hierzu Strutz: Bergische (1958), S. 309 f. 9 Vgl. Fehrenbach: Gesellschaft (1974), S. 84. 10 Vgl. zu machtpolitischen Zielen Napoleons Fehrenbach: Gesellschaft (1974), S. 24; Ernst Holthöfer: Fortschritte in der Erbrechtsgesetzgebung seit der französischen Revolution, in:

3. Wirtschaftliche Entwicklung des Bergischen Landes seit dem späten 18. Jh.

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Grundbesitzes sollte mit der Besitzwahrung über den Familienfideikommiss im Zuge der Generationenfolge in adeligen Familien gebrochen werden.11 Die Gleichverteilung unter den Nachkömmlingen, die Stärkung der Familie im Verwandtschaftserbrecht gegenüber der Freiheit der Selbstbestimmung der individuellen Vermögensnachfolge galt auch für die sich formierende Trägergruppe von Gewerbe und Industrie.12 Das Bergische Land war in sich kein homogenes Gebiet, vielmehr wies es Inseln höherer Gewerbedichte auf. So fanden sich erste Zentren mit der Eisen- und Kleineisenindustrie in Solingen und Remscheid und vor allem im Städtedreieck Lennep, Radevormwald, Hückeswagen mit der Garnproduktion, Tuchweberei und Feintuchherstellung. Im Wuppertal waren zudem Bettzeughandlungen, Lohgerbereien, Lint-Band und Garnmanufakturen13 sowie Papiermühlen, wie bspw. die Gohrsmühle in Bergisch Gladbach, die seit 1602 Papier herstellte, vertreten.14 Das Oberbergische, der Kreis Gummersbach und Waldbröl wiesen keine Rohstoffvorkommen von Eisenerzen wie das Siegerländer Gebiet an der Dhünn auf. Im Siegerland fehlte es wiederum an der nötigen Infrastruktur im 18. Jahrhundert und die schlechte Transportanbindung im 19. Jahrhundert wirkte einem Abbau lange Zeit entgegen, da dieser relativ gesehen zu teuer war.15 Die Zweige der Weiterverarbeitung, auf die sich das Bergische Land spezialisierte, waren auf Rohstoffimporte, Garn aus Hessen oder Braunschweig, Roheisen aus der Mark und Ravensberg für die Eisenverarbeitung oder den Antransport von Lumpen angewiesen, nur Holz und Wasser waren als natürliche Rohstoffe vorhanden.16 Standen die hohen Niederschlagsmengen der Landwirtschaft entgegen, gehörten der Niederschlag und die Fluss- und Bachlandschaften der Wupper neben den Holzvorkommen zu den zentralen Standortvorteilen des Bergischen Landes. Die Wasservorkommen konnten sowohl in mechanischer Hinsicht über Ausnutzung der Gefälle im Tal für die früh um 1700 an der Wupper angesiedelten Eisenhäm-

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Heinz Mohnhaupt (Hg.): Zur Geschichte des Familien- und Erbrechtes (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte 32), Frankfurt/Main 1987, S. 121–175, insb. S. 125. Vgl. zu Historie des Fideikommiss als „eine auf rechtsgeschäftliche Stiftung beruhende Bindung des Familiengutes im Mannesstamm“ Dieter Schwab: Art. Familienfideikommiss, in: Erler/Kaufmann (Hg.): HRG, Bd. 1 (1971), Sp. 1071–1073, insb. Sp. 1072; zu ordnungspolitischen Qualifizierung des Fideikommiss als unerwünschterweise dem Umlauf entzogenes Gut Holthöfer: Erbrechtsgesetzgebung (1987), insb. S. 125. Vgl. Holthöfer: Erbrechtsgesetzgebung (1987), S. 123 f. Vgl.Jacobi, Friedrich Heinrich: Bericht des Hof-Kammerrats Friedrich Heinrich Jacobi über die Industrie der Herzogtümer Jülich und Berg aus den Jahren 1773 und 1774 (Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins, Sonderabzug 18), Bonn 1883, S. 33 f.; zum Umsatz der Wuppertaler Industrie, der 1809 um 2,752 Mio. Taler betrug, vgl. Strutz: Bergische (1958), S. 394. Vgl. Strutz: Bergische (1958), S. 324 f., 374 f. Vgl. zu Rohstoffvorkommen Ringel: Wirtschaft (1966), S. 3 f.; Strutz: Bergische (1958), S. 15. Zur Infrastruktur vgl. Strutz: Bergische (1958), S. 38 f.; Reulecke: Pionier (1980), S. 54 f. Die Bedeutung des Rohstoffimports und der linksrheinischen Agrarimporte betonen Ringel: Wirtschaft (1966), S. 40; Reulecke: Pionier (1980), S. 55; zu Eisenimporten aus der Mark vgl. Reininghaus: Wupper (1999/2001), S. 22.

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mer17 als auch nach ihrer Schließung für das Textilgewerbe zunächst in chemischer Hinsicht, z. B. für die Garnbleiche und Tuchfärberei genutzt werden. Für die Maschinenspinnerei wurde der mechanische Antrieb durch Wasserkraft erstmalig 1783/84 von Johann Gottfried Brügelmann, Elberfelder Unternehmer und Gründer der Maschinenspinnerei Cromford bei Ratingen, genutzt.18 Den Ressourcenzugang in Form von Wassergerechtsamen machten sich Gründer von Unternehmen und Familienunternehmen in Verbindung mit Grundbesitz zu eigen – und somit einen in der Generationenfolge transferierbaren Standortvorteil.19 Die Spezialisierung der Region auf die Weiterverarbeitung beruhte stark auf ihren speziellen naturgegebenen Standortvoraussetzungen. Die Spezialisierung ging mit einer von Gorißen (1999/2000) im Vergleich zur Mark hervorgehobenen Kaufmannsdichte einher.20 Träger der Blütezeit des Bergischen Landes im 18. Jahrhundert waren die Garnkaufleute21 und Handelshäuser, die den Import des Garns und die Vermarktung der bergischen Waren besorgten. Die zwei Verkehrsadern, die Straße nach Süddeutschland von Dortmund ins Siegerland über Frankfurt und in den östlichen Teil Deutschlands über Schwelm, Hagen und Soest sowie die innerhalb eines halben Tages zu bewältigende Strecke zum Rhein machten sich Elberfelder/Barmer Garnkaufleute und/oder Kolonialwarenhändler wie Abraham Siebel, de Weerth & Noot und Gebrüder Kersten zunutze.22 Zu diesem Zeitpunkt hatten einige von ihnen bereits mehrere Generationenwechsel im Unternehmen gemeistert, wie z. B. die Familie Hasenclever, die mit Eisen, Stahl und Sensen seit 1632 handelte.23

17 Vgl. Ringel: Wirtschaft (1966), S. 3, 5. Auf 10,5 Gevertmeilen siedelten sich 381 Mühlen-, Schleif- und Hammerwerke an. 18 Vgl. zu Tätigkeit der Witwe Anna Christine Brügelmann für das Unternehmen Bolenz: Brügelmann (1993), S. 60; Reulecke: Pionier (1980), S. 59. 19 Vgl. Franz Gruss: Geschichte des Bergischen Landes, Leverkusen 1994, S. 270; Ringel: Wirtschaft (1966), S. 5, 11. 20 Vgl. Gorißen: Kaufleute (1999/2001), S. 44; Reininghaus: Wupper (1999/2001), S. 19. 21 Vgl. zu Kooperationsform der Garnnahrung im Wuppertal Walter Dietz: Die Wuppertaler Garnnahrung. Geschichte der Industrie und des Handels von Elberfeld und Barmen 1400 bis 1800, Neustadt a. d. Aisch 1957, ders.: Die Wuppertaler Garnnahrung, in: Horst Jordan/Heinz Wolff (Hg.): Werden und Wachsen der Wuppertaler Wirtschaft, Wuppertal 1977, S. 23–48; Herbert Kisch: From Monopoly to Laissez Faire: The Early Groth of Wupper Valley Textile Trades, in: Journal of European Economic History 1 (1972), S. 298–407. 22 Vgl. Ringel: Wirtschaft (1966), S. 108, der von 50 Außenhandelskaufleuten in Remscheid und Solingen ausgeht, und insb. zu Garnkaufleuten Edmund Strutz: 175 Jahre Abr. Frowein jun., Abr. & Gebr. Frowein, Frowein & Co. A.-G. Ein Beitr. zur Wuppertaler Wirtschaftsgeschichte, Düsseldorf 1938, S. 29. Als weitere sind Siebel, von Carnap, Abr. & Gebr. Frowein, die Gebrüder Kersten sowie die Remscheider und Solinger Kaufleute Josua Hasenclever, Gottlieb Diederichs, Johann Caspar Halbach & Söhne zu nennen. Zum Verkehrsnetz im Bergischen Land um 1800 vgl. Gerhard Huck/Jürgen Reulecke: … und reges Leben ist überall sichtbar! Reisen im Bergischen Land um 1800 (Bergische Forschungen XV), Neustadt a. d. Aisch 1978, S. 15; Reulecke: Pionier (1980), S. 55. 23 Vgl. Josua Hasenclever: Josua Hasenclever aus Remscheid-Ehringhausen: Erinnerungen und Briefe, herausg. v. Adolf Hasenclever, Halle/Saale 1922, S. 3.

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Zu den Absatzgebieten, die die Kaufmannschaft im späten 18. Jahrhundert für die bergischen Waren erschlossen hatte, gehörten auch schon Nord- und Südamerika, die entweder über Bordeaux oder über die Hansestädte beliefert wurden.24 Einige Handelshäuser wie Gebrüder Kersten, später Wichelhaus & Sohn und J. H. Brink hatten sich neben dem Sortenhandel auf das Speditions- und Wechselgeschäft spezialisiert und nahmen die Wechselplätze Köln, Amsterdam und Antwerpen in Anspruch. Sie finanzierten so ihren Eigenhandel und sorgten auch für die Finanzierung anderer Händler und Produzenten. Abgesehen von den ortsansässigen „merchant bankern“ besaßen die Wuppertaler Unternehmer auch Verbindungen zu Kölner „merchant banks“, den späteren Privatbanken, wie z. B. A. Schaaffhausen.25 Die bergische Wirtschaft kam seit den napoleonischen Kriegen und den Handelsbeschränkungen, dem Gegenteil der vorherigen Wirtschaftspolitik des Laisser-Faire des Kurfürsten Karl-Theodor, ins Stocken. Der sich 1792 zuspitzenden Gewerbekrise26 folgten zahlreiche Zollerhöhungen, die Kontinentalsperre von 1806, die auch den bergischen Export traf und 1810 im Zolldekret von Trianon gipfelte, das den Handel mit Kolonialwaren vollständig verbot. Durch den Zoll wurden die Waren in ihren angestammten linksrheinischen Absatzgebieten zu teuer und der Export nach Übersee scheiterte u. a. auch an der Verschiffung durch Angriffe englischer Kriegsschiffe.27 Der Widerstand der bergischen Kaufleute reichte von Ausweichreaktionen wie der Eröffnung von linksrheinischen, oft nur dem Handel dienenden Zweigniederlassungen seitens der bergischen Textilindustrie, über Schmuggel, diplomatische Ansätze wie Petitionen oder Verhandlungsversuche über nach Paris beorderte Gesandte, um eine Verbesserung der Lage herbeizuführen, bis zur Bitte um Zusammenschluss mit dem Kaiserreich.28 Nach der napoleonischen Herrschaft und den damit einhergegangenen Kriegswirren war von der wirtschaftlichen Blütezeit des Bergischen Landes im 18. Jahrhundert nichts mehr zu spüren, der Export war zusammengebrochen und die Märkte wurden mit englischen Waren überflutet. Als weiteres Hindernis des raschen Wideraufbaus der Region kam abgesehen von der Verteuerung der Rohstoffe wie Baumwolle ein neues Wettbewerbsumfeld hinzu. Der französische Protektionismus hatte nicht nur in Frankreich 24 Vgl. Hasenclever: Erinnerungen (1922), S. 7; Reininghaus: Wupper (1999/2001), S. 14. 25 Bei merchant banks kann es sich um eine Vorstufe von Privatbankhäusern handeln, die das Bankgeschäft noch nicht als Vollzeitbankier tätigten, sondern sie meist mit Handels- oder Speditionstätigkeiten kombinierten. Vgl. hierzu und zu einem Überblick der frühen Wuppertaler Bankiers Richard Tilly: Financial Institutions und Industrialization in the Rhineland 1815–1870, London, S. 49, 50 f.; zu den Kölner Privatbankiers vgl. Alfred Krüger: Das Kölner Bankiersgewerbe von Ende des 18. Jahrhunderts bis 1875, Essen 1925. 26 Vgl. Lenzen: Statistik (1802); zur Wirtschaftspolitik des Kurfürsten vgl. Reininghaus: Wupper (1999/2001), S. 14; Ringel: Wirtschaft (1966), S. 16. 27 Vgl. zu den Auswirkungen der französischen Zollpolitik Ringel: Wirtschaft (1966), S. 19; Strutz: Bergische (1958), S. 389, insb. S. 392, 394. Seit 1806 wurde u. a. die Einfuhr von baumwollartigen Kurz- und Bandwaren in Italien verboten, durch das Dekret von Trianon ging der holländische Markt verloren. Zum Widerstand bergischer Kaufleute vgl. Ringel: Wirtschaft (1966), S. 108. 28 Vgl. zu den Folgen der französischen Handelspolitik Strutz: Bergische (1958), S. 390 f.

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selbst, sondern auch in Gebieten links des Rheins wie im Aachener Raum zum Aufblühen der Textilindustrie geführt.29Als Konkurrenten in der Baumwoll- und Wollindustrie traten im Osten Sachsen und Schlesien auf, die ihre Konkurrenzfähigkeit ihrem vergleichsweise niedrigen Lohnniveau und der langen Abschirmung des Bergischen Landes von seinen früheren Märkten verdankten.30 Der Fall des Herzogtums Berg an Preußen wurde von den Gewerbetreibenden wegen des kriegsbedingten Kaufkraftverlustes nicht einheitlich beurteilt. Obwohl den Kriegswirren und den Auswirkungen der Kontinentalsperre alteingessessene Unternehmen aus dem Wuppertaler Garnhandel und der Garnbleiche zum Opfer fielen,31 handelte es sich beim Bergischen Land um einen Rekonvaleszenten, der durchaus an frühere Ressourcen anknüpfen konnte und dessen im 18. Jahrhundert ausgebauter Vorsprung noch nicht gänzlich aufgezehrt worden war. So war das im 18. Jahrhundert im Handel akkumulierte Kapital trotz zusammengebrochener Unternehmungen nicht gänzlich vernichtet worden.32 Arbeitskräftepotenzial mit entsprechenden Kenntnissen war ungeachtet der Abwanderungen nach wie vor vorhanden oder zurückgekehrt. Die Bevölkerung wuchs vor allem in Elberfeld und Barmen stetig an und sicherte den Zufluss an neuen Arbeitskräften.33 Die sich im 18. Jahrhundert aufgefächerte Produktpalette blieb mit Veränderungen und flexiblen Anpassungen, wie in der Bandindustrie z. B. das Umschwenken von Leinenund Baumwolle auf modische Seidenbänder, bestehen. Die Diversität der Gewerbe bzw. Industrien sorgte für eine gewisse Krisenresistenz aus Sicht der gesamten regionalen Wirtschaft.34 Die französische Zeit hatte zwar die Wirtschaft zurückgeworfen, aber im gleichen Zug einen institutionellen Wettbewerbsvorteil mit Gewerbefreiheit und Etablierung einer gesetzlich verankerten privatrechtlichen Eigentumsordnung gebracht.35 Vor der Besetzung des Rheinlands durch Napoleon waren die Rechtsverhältnisse durch eine Mannigfaltigkeit der geschriebenen Rechtsordnung und der Gewohnheitsrechte geprägt worden. Erst während der französischen Besat29 Vgl. zu der Mechanisierung der Tuchproduktion in Aachen, Karl Ganser: Die Wirkungen der französischen Herrschaft, Gesetzgebung und Verwaltung auf das Aachener Wirtschaftsleben, Diss. Tübingen 1922, S. 22 f.; Hans-Karl Rouette: Aachener Textilgeschichte(n) im 19. und 20. Jahrhundert, Aachen 1992, S. 57–59. 30 Vgl. Horst Blumberg: Die deutsche Textilindustrie in der industriellen Revolution, Berlin 1965, S. 55 f.; Ganser: Wirkungen (1922), S. 22 f. 31 Vgl. Strutz: Bergische (1958), S. 390 f. 32 Vgl. Reulecke: Pionier (1980), S. 62; Hasenclever: Erinnerungen (1922), S. 7. 33 Vgl. zu Arbeitskräftepotenzial und zu Bevölkerungszuwachstum Ringel: Wirtschaft (1966), S. 29. Ringel beziffert den Zuwachs von 1815 bis 1849 im RBZ Düsseldorf von 475.000 auf 907.000 Einwohner, Dietz geht im Zeitraum von 1700 bis 1800 von einem Bevölkerungszuwachs der Städte Elberfeld und Barmen von 5.500 auf ca. 32.000 Einwohner aus. Vgl. Dietz: Garnnahrung (1957), S. 44; Wolfgang Köllmann: Die Bevölkerung in der Industriegroßstadt Barmen vor und während der Industrialisierungsperiode, in: ders. (Hg.): Bevölkerung in der industriellen Revolution (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 12), S. 186–207. 34 Vgl. Reulecke: Pionier (1980), S. 55, 61. 35 Vgl. zum institutionellen Wandel im Rheinland Wischermann/Nieberding: Institutionelle (2004), S. 62.

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zungszeit vollzog sich ein tief greifender institutioneller Wandel im Rheinland in Richtung der Modernisierung, der „im Kern noch durch mittelalterliche Verhältnisse“ bestimmten Rechtsordnungen.36 Im Zuge der durchgeführten Justiz- und Verwaltungsreform wurde französisches Recht, die sogenannten „Cinq Codes“, eingeführt und das Recht im Rheinland vereinheitlicht. Das Rheinland wurde in zentralisierte Verwaltungseinheiten – Departments, Arrondissments und Kantone – nach französischem Muster unterteilt. Zu den „Cinq Codes“ gehörten der Code Civil von 1804 und das Handelsrecht, der Code de Commerce von 1808 wurde im GHT Berg zu Beginn des Jahres 1810 ohne Abänderung übernommen.37 Dem einzelnen Bürger wurden Freiheitsrechte, wie die Betätigungs- und Vertragsfreiheit und freiheitliche Eigentumsrechte/Privateigentum zuerkannt.38 Wurde die soziale Mobilität durch die Gewerbefreiheit in gewissem Maße gefördert, so handelte es sich im Bergischen Land wie in anderen Gewerbezentren des Rheinlande bei den Trägern der ersten Phase der Industrialisierung bis 1850 um alteingesessene Familien, aus denen sich die Unternehmerschaft rekrutierte. In Elberfeld und Barmen entstammten diese den Garnkaufleuten, wie z. B. Abr. & Gebrüder Frowein, in Remscheid den Handelshäusern wie Hasenclever und Lenneper Tuchverlegern wie Hardt und Schürmann.39 Im Zusammenhang der Frage der Mentalität der wirtschaftlichen Führungskräfte des Bergischen Landes sind die plausiblen, wenn auch nicht messbaren sozioökonomischen Prädispositionen bzw. Einflussfaktoren, wie die protestantische Prägung der Kaufleute im Wuppertal, zu nennen. Diese mischte sich vermutlich mit der Dynamik des persönlichen Strebens nach Unabhängigkeit und Existenzsicherung in der Aufbauphase nach 1814. Das webersche Argument des ökonomischen Antriebs aus religiöser Rechtschaffenheit heraus besitzt für die Träger in unterschiedlicher Stärke 36 Zum Vertrag von Schönbrunn vgl. Bär: Behördenverfassung (1919), S. 41 f. Das Herzogtum Berg und mit ihm Düsseldorf fielen 1777 mit der Pfalz an Bayern, das es 1805/06 an Napoleon abtrat, vgl. Bär: Behördenverfassung (1919), S. 63–68; Köbler: Länder (1999), S. 54; Dieter Strauch: Der rheinische Beitrag zur Entstehung des BGB (2005), S. 2Für den Raum vom Bodensee bis zum Niederrhein nennt Strauch „das Badische Landrecht von 1755, das erneuerte und vermehrte Kurtrierische Landrecht von 1713, die Kurkölnische Rechtsordnung von 1663 und die (1556 und 1564 erneuerte) Rechtsordnung von Jülich-Berg aus dem Jahre 1555“ als geltende Rechtsordnungen. 37 Vgl. Elisabeth Fehrenbach: Traditionale Gesellschaft und revolutionäres Recht. Die Einführung des Code Napoléon in den Rheinbundstaaten (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 13), Habil-.Schr. Gießen 1974, S. 9. Zu den Cinq Codes gehörten weiter der Code de procédure civile, die Zivilprozessordnung von 1807, der Code d’instruction criminelle, die Strafprozessordnung von 1809 und der Code pénal von 1811. Zu Rezeption der Rechtsordnung in den Modellstaaten Berg und Westphalen, vgl. Fehrenbach: Gesellschaft (1974), S. 79 f. 38 Vgl. ebenda, S. 9 f. 14 f.; insb. zur Gewerbefreiheit Wischermann/Nieberding: Institutionelle (2004), S. 58. 39 Vgl. zu Trägern des Wiederaufbaus nach 1814 und der ersten Industrialisierungsphase Strutz: Bergische (1958), S. 390 f.; Reulecke: Pionier (1980), S. 63; Rudolf Boch: Grenzenloses Wachstum?: Das rheinische Wirtschaftsbürgertum und seine Industrialisierungsdebatte 1814– 1857, Göttingen 1991, S. 41 f.

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gewisse Plausibilität.40 Neben die Zentren – für die Textilindustrie Lennep, mit weiteren Spezialisierungen, wie z. B. der Strumpfherstellung, für die Kleineisenindustrie in Remscheid und Solingen, für die Eisenindustrie im späteren oberbergischen Kreis Gummersbach und Waldbröl und für die Papierherstellung in Bergisch Gladbach – traten Mitte des Jahrhunderts die Industrie der Steine und Erden, der Kalkabbau um Erkrath und die pharmazeutische Industrie, die als Nebenzweig der Farbenfabrik Friedrich Bayer & Co im Wuppertal fortbestand.41 Für den evolutionären Übergang von der noch handwerklich geprägten Produktion zu einer zentral zusammengefassten industriellen Produktion in den genannten „Gewerbeinseln“ der Textilindustrie und Eisenverarbeitung werden hier, da diese stark spezialisiert und aufgefächert waren, nur Eckpunkte genannt. In der Eisenindustrie in Velbert, wo Schlösser und Beschläge hergestellt wurden, und der Bandindustrie in Elberfeld und Barmen konnten sich handwerkliche Produktionen, in Kleinstbetrieben oder im Verlagssystem organisiert, auch noch im 19. Jahrhundert behaupten. In der bergischen Tuchherstellung hielt zwar in der ersten Hälfte des Jahrhunderts der maschinell betriebene Webstuhl Einzug, daneben fand man aber auch noch Tuchherstellung auf Basis der Hausindustrie.42 In der Spinnerei bestanden Handarbeit und maschinelle Verarbeitung nebeneinander, wobei sich im säkularen Verlauf die Maschinenspinnerei durchsetzte. In der Tuchweberei begannen einige Unternehmen vor 1850 mit der kapitalintensiven Fertigung und setzten Dampfmaschinen ein. Die Wuppertaler Bandindustrie, die das Baumwollsegment während der Franzosenzeit an die linksrheinische Konkurrenz verloren hatte, wies auch nach der Umstellung auf modische Seidenbänder bis Ende des Jahrhunderts einen geringen Mechanisierungsgrad auf. Sie blieb in der Hausindustrie und der handwerklichen Herstellung verhaftet. So gehörte die Betriebsgröße von Abr. & Gebr. Frowein mit mehreren Hundert Mitarbeitern zu den Einzelfällen.43 In der oberbergischen Eisenindustrie und den dort ansässigen Hütten führten die Verfahrensinnovationen und die verspätete infrastrukturelle Anbindung dazu, dass die Region aufgrund der anfallenden Transportwege immer weniger konkurrenzfähig war. In der Kleineisenindustrie entwickelte sich die Besteck-, Klingenund Messerherstellung von J. A. Henckels, die von Feilen bei den Gebrüdern Mannesmann und die Kesselherstellung in Gummersbach.44

40 Vgl. Max Weber: Die protestantische Ethik, hrsg. von Johannes v. Winkelmann, Hamburg 1972, S. 56 f. Zur Funktion der Religiosität siehe Reulecke: Pionier (1980), S. 63; Boch: Wachstum (1991), S. 44, 174 f.; zu Glauben und Familienmotivation siehe bspw. Hasenclever: Erinnerungen (1922), S. 20; zu der Rolle sozioökonomischer Prädispositionen vgl. Gerschenkron: Economic backwardness (1976), S. 7, 52 f. 41 Vgl. zur Industrie der Steine und Erden und zur Pharmazie Strutz: Bergische (1958), S. 405, 434 f. 42 Vgl. zu gewerblichen Verhältnissen im Wuppertal (Kreis Elberfeld) unter preußischer Herrschaft Adelmann: Rheinprovinz (1967), S. 46 f.; Strutz: Bergische (1958), S. 397 f. 43 Vgl. Strutz: Bergische (1958), S. 401 f.; ders.: Frowein (1938), S. 67. 44 Vgl. Strutz: Bergische (1958), S. 424.

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Das im Ruhrgebiet eingeführte Walzverfahren überholte und verdrängte weitestgehend die alte veraltete Bandeisenherstellung. Die Verhüttungsindustrie im Bergischen Land verschwand bis 1880 im Zuge des Durchbruchs des SiemensMartin-Verfahrens.45 Von den Gewerbetreibenden zunächst nicht begrüßt, entstanden für das GHT Berg, das in der preußischen Rheinprovinz nördlich zum RBZ Düsseldorf und südlich zum RBZ Köln gehörte, mittelfristig Vorteile durch den Anschluss an die Zoll- und Währungsunion. Für den Exporthandel wurde die Anbindung an das ab Ende der 1820er Jahre schnell wachsende Verkehrsnetz, vor allem die Anlage von Staatschausseen durch die preußische Regierung im Rheinland und Preußen, genutzt und begonnen, die bislang wenig bearbeiteten Märkte im Osten zu erschließen.46 Letztlich führte der ungebrochene Initiativgeist der bergischen Unternehmer zu einer raschen Wiederbelebung des Exporthandels mit Nord- und Südamerika. Hier ist die errichtete Rheinisch-Westindische Handelscompagnie, der nur eine kurze Existenz vergönnt war, zu nennen.47 Von weitaus größerer Relevanz für die Entwicklung der Region waren ihr Einsatz für den Straßen- und Eisenbahnbau und der private Wegebau. Seit dem Mittelalter durchzogen die zwei Hauptverkehrsadern das Bergische Land: die bergische Eisenstraße und die Verbindung zu dem im Siegerland ansässigen Eisenbergbau mit Hüttenwerken und dem Erzbergbau. Die dezentrale, oftmals nicht verkehrsgünstige Fertigung erhöhte die Transportkosten. Mitte des 18. Jahrhunderts setzte durch den Kunststraßenbau eine langsame Verbesserung der Verkehrsverhältnisse ein, z. B. durch die westfälische Straße, die von Düsseldorf am Rhein über Mettmann nach Schwelm führte. Mit der preußischen Herrschaft wurde der Chausseenbau fortgesetzt und die Anschlüsse über den privaten Wegebau von den Unternehmern errichtet. Es entstanden die Barmer, Wetterauer und die Burger Straße. Belege über Transportkostensenkungen finden sich z. B. in den Erinnerungen von Josua Hasenclever aus dem Jahr 1830. Für den Zeitraum von 1814 bis 1830 lag die Einsparung bei der Beschaffung einer Karre Steinkohle aus dem Siegerland zu 1.000 Pfund bei 20 %, von 1804 bis 1830 bei einem Eimer Steinkohle aus der Mark bei 16 % und von Hamburg über Hannover von 1819 bis 1830 bei 20 %.48 Der Errichtung der Eisenbahnstrecke Düsseldorf-Erkrath 1838, auf der zunächst über Pferde gezogene Wagen fuhren, folgten weitere Strecken wie die Elberfelder-Düsseldorfer 1840. Auf die Reduktion der Transportkosten gegenüber den Handkarren und Fuhrwerken war die bergische Wirtschaft dringend angewie-

45 Vgl. Strutz: Bergische (1958), S. 431. 46 Vgl. Reulecke: Pionier (1980), S. 54 f. Zu Gründungen der Eisenbahngesellschaften im Rheinland vgl. Krüger: Kölner Bankiersgewerbe (1925), S. 138 f. 47 Vgl. zur Historie der Rheinisch-Westindischen Compagnie Hans-Joachim Oehm: Die rheinisch-westindische Kompagnie (Bergische Forschungen VII), Neustadt a. d. Aisch 1968. 48 Vgl. Ringel: Wirtschaft (1966), S. 48 f. Bis 1836 waren östlich des Rheins 520 km Kunststraßen angelegt worden, im RBZ Düsseldorf erweiterte sich das Straßennetz von 1816–1840 von 448,5 km auf 751 km. Vgl. zu Beschreibung des Straßennetzes auch Hasenclever: Erinnerungen (1922), S. 32.

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sen.49 Der Nebeneffekt des Ausbaus der Infrastruktur war, dass die Frequenz der Kundenkontakte erhöht, Reise- und Versendungszeiten von Post reduziert werden konnten, was eine Erleichterung der Geschäftsverbindungen und gesenkte Informationskosten bedeutete.50 Für den Austausch untereinander nutzen die bergischen Unternehmer und Bankiers wie die Rheinländer, z. B. die Kölner und Aachener, den persönlichen Austausch in Handelskammern. Durch diese neu eingeführten Institutionen, die im Wuppertal seit den 1830er Jahren eingerichtet wurden, entstanden vertrauensbasierte Netzwerke ergänzend zu bereits bestehenden Verbindungen innerhalb und über die Grenzen der jeweiligen Gewerbezentren hinweg.51 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es sich bei dem Bergischen Land um eine stark exportabhängige Region handelte, die einen spezifischen Weg in die Moderne einschlug, obwohl einige Standortvorteile für die Eisenindustrie sich bereits Ende des 18. Jahrhunderts relativiert hatten und andere Standortvorteile zum Teil ungenutzt blieben.52

49 Vgl. zur Infrastrukturentwicklung im Bergischen Land Ringel: Wirtschaft (1966), S. 38 f. 50 Vgl. Hasenclever: Erinnerungen (1922), S. 51. 51 Vgl. Strutz: Bergische (1958), S. 438. Zur Gründung der Wuppertaler Handelskammer 1830 und der Lenneper Handelskammer 1840 vgl. Reinhard Thom: Bergische Unternehmer in der Selbstverwaltung: zu ihrem 125-jährigen Jubiläum, Remscheid 1965, S. 1. Als Beispiel für derartige Kooperationen in Netzwerkwerken unter Kölner Privatbankiers und Mitgliedern der Kölner Handelskammer als Träger der Industriefinanzierung im Rheinland in der frühen Industrialisierungsphase vgl. Sandra Zeumer: Die Kölner Privatbanken und die Industriefinanzierung im frühen 19. Jh., Dipl. Köln 2003, S. 30 f. 52 Vgl. Ringel: Wirtschaft (1966), S. 49.

4. DIE UNTERNEHMEN DER FAMILIE HARDT: JOHANN WÜLFING & SOHN, HARDT & CO UND HARDT, POKORNY & CIE 4.1 VORBEREITUNG IM NACHFOLGEPROZESS UND GENERATIONSWECHSEL IN DER UNTERNEHMENSFÜHRUNG 4.1.1 Weiterführung von Johann Wülfing & Sohn durch den Schwiegersohn Johann Arnold Hardt sen. Das Vorläuferunternehmen von Johann Wülfing & Sohn lässt sich auf die Tuchfabrikation der Familie Wülfing zurückverfolgen, die um 1674 durch Gottfried Wülfing gegründet und 1721 von seinem Sohn Kaspar unter der Firmierung Kaspar Wülfing & Söhne weitergeführt wurde. In der dritten Generation der Wülfings ging das Unternehmen um 1760 an Kaspars Sohn Johann Wülfing.1 1774 nahm Johann Wülfing seinen Schwiegersohn, den 34-jährigen Johann Arnold (1740– 1815), der seit 1772 mit Wülfings Tochter und seiner Kusine Anna verheiratet war, mangels eines familieneigenen männlichen Nachfolgers in sein Unternehmen als Teilhaber auf. Die Firma hieß nun Johann Wülfing & Sohn.2 Johann Arnold sen. stammte ebenfalls aus einer alteingesessenen Tuchmacherfamilie, deren Vertreter seit dem 17. Jahrhundert mehrmals den Bürgermeister in Lennep gestellt hatten. Seine Eltern Engelbert Hardt (1714–1756) und C. Gertrud, geb. Tuckermann (1718–1788) waren nach dem großen Stadtbrand in Lennep 1746 nach Duisburg verzogen, um dort erneut eine Tuchherstellung aufzubauen. Ob Johann Arnold dort keinen Platz gefunden oder sich bewusst für die Arbeit bei seinem Schwiegervater und Onkel entschieden hat, ist nicht bekannt.3 Zu der Familie Wülfing bestanden bereits Verwandtschaftsbeziehungen. Innerhalb von vier Generationen handelte es sich um die vierte Verbindung zwischen den Familien. Die Schwiegermutter von Johann Arnold, Anna Christine, war eine geborene Hardt

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Das Gründungsjahr 1674 ergibt sich aus der firmeneigenen Überlieferung und ist nicht durch Quellen gesichert. Vgl. hierzu Christian Hillen: Arnold Wilhelm Hardt (1805–1878), Lennep, in: Stremmel/Weise (Hg.): Bergisch-Märkische Unternehmer (2004), S. 445–460, S. 446. Als Anhaltspunkt für den ungefähren Übernahmezeitpunkt der Tuchfabrikation durch Kaspar Wülfing wurde das Todesjahr von Gottfried Wülfing gewählt. Vgl. RWWA.122-228-3. Nachlassinventar Johann Arnold Hardt vom 13.05.1824. Die familiären Generationen werden im Folgenden ab Gründung/Übernahme eines Unternehmens gezählt. Johann Arnold Hardt läuft unter der ersten Generation der Hardts im Unternehmen Wülfing, seine Nachkommen als zweite, dritte, vierte. etc. Innerhalb der genealogischen Überlieferung der Familie Hardt war Johann Arnold Hardt ein Vertreter der IX. Generation. Vgl. RWWA 122-212-3. Liste der Bürgermeister aus Lennep, o. D.; von Wismar: Stammbaum (1979), S. 16, 20.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

und seine Tante. Der Bruder von Johann Arnold, Engelbert Hardt (1742–1826), heiratete die Schwester von Anna Wülfing, Clara Christine Wülfing.4 Die folgende Abb. 4 zeigt die Abstammung von Arnold Hardt sen. und seiner Frau Anna Wülfing und die geschäftsführenden Gesellschafter der Unternehmen der Hardt-Dynastie bis zur 5. Generation.5 Um 1774, das Eintrittsjahr von Johann Arnold Hardt bei seinem Schwiegervater, waren im Raum Lennep, Hückeswagen, Radevormwald und Lüttringhausen nach der Auszählung von Hofkammerrat Johann Friedrich Jacobi (1773) rund 365 Tuchstühle im Handbetrieb in normalen bzw. 434 Handstühle in guten Zeiten beschäftigt. Bei einem durchschnittlichen jährlichen Wollverbrauch von 295.000 kg an spanischer, schlesischer und münsterischer Wolle wurden 6.960 Stück Tuch mit einem Produktionswert von 790.794 Reichstalern hergestellt. Auf die Lenneper Tuchmacher entfielen 280 bzw. 330 Stühle. Ihr Wollverbrauch betrug 238.000 kg bei einer Produktion von 5.600 Stück Tuch und einem Produktionswert von 790.194 Rth.6 Isenburg (1906) und Böse (1948) gehen von einer Konkurrenzfähigkeit der bergischen mit der Niederlausitzer Tuchweberei aus, die zu dieser Zeit 414 Tuchstühle mit einem Produktionswert von 154.573 Rth. beschäftigte.7 Die Produktion unterlag zu dieser Zeit noch den Beschränkungen der Zünfte. Die Tuchfabrikation war noch nicht zentralisiert, sondern im dezentralen Verlagssystem organisiert. Tuchfabrikanten wie Johann Wülfing, Johann Arnold Hardt und ihre Konkurrenten, darunter weitere Mitglieder der Familie Hardt, Wülfing sowie die Familien Buchholz, Strohn, Tuckermann, Moll und Schürmann, waren mehr als Handelsleute und Verleger denn als Produzenten tätig. Sie kauften Material und Farbstoffe für die Weber ein, organisierten als Verleger den Weiterverkauf des Tuches auf Märkten und Messen, wie z. B. Braunschweig, Leipzig, Frankfurt, oder durch Versand in linksrheinische Gebiete wie Frankreich oder Holland. Das laufende Geschäft wurde über Wechsel und Lieferantenkredite (à 4.1 Vorbereitung im Nachfolgeprozess und Generationswechsel

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Vgl. zu den Verbindungen zwischen Gottfried Wülfing (1651–1721) und Anna Margarethe Hardt (1654–1696), Johann Wülfing (1719–1793) und Anna Christine Hardt (1728–1799), Anna Wülfing (1749–1815) und Johann Arnold Hardt (1740–1815) sowie Engelbert Hardt (1742–1826) und Clara Christine Wülfing (1728–1799) von Wismar: Stammbaum (1979), S. 22 f. Neben der Verbindung Hardt-Wülfing bestanden sowohl seitens der Wülfings als auch seitens der Hardts weitere familiäre Verbindungen zu Familien aus dem Tuchmachergewerbe, wie z. B. Moll, von Pollheim, Tuckermann, Strohn, Buchholz, und zu der in der Eisenindustrie tätigen Familie Clarenbach. Vgl. von Wismar: Stammbaum (1979), S. 10 f.; Weichbrodt: Von Tiedemann (1981), S. 297 f. Zum Stammbaum der Teilhaber von Hardt & Co, der die Mitglieder der Familie Hardt beinhaltet vgl. Anhang Stammbäume I, S. 353. Vgl. Richard Isenburg: Untersuchungen über die Entwicklung der bergischen Wollindustrie, Diss. Heidelberg 1906, S. 14. Der Produktionswert der Lenneper Wolltuche ist prozentual zum gesamten Produktionswert des Raums Lennep, Hückeswagen, Radevormwald und Lüttringhausen berechnet worden. Vgl. Isenburg: Wollindustrie (1906), S. 14 f.; Böse: Wülfing (1948), S. 18, 19. Isenburg nimmt Bezug auf die Zahlen von Quandt aus dem Jahr 1800, der für die Niederlausitz (für Cottbus, Peitz, Krossen und Sommerfeld) mit 414 Tuchstühlen einen Produktionswert von 154.573 Reichsthalern angibt, und schätzt diese Werte als zu niedrig ein.

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4.1 Vorbereitung im Nachfolgeprozess und Generationswechsel

detto) finanziert. Ihre Tätigkeit als Produzent beschränkte sich auf das Färben der Wolle.8 Abb. 4

Stammbaum der geschäftsführenden Gesellschafter bei JW & S

Gottfried Wülfing 1651-1721

Anna Marg. Hardt 1654-1696

Anna Clara Hackenberg 1692-1781

Kaspar Wülfing 1685-1710

Johann Wülfing 1719-1793

Anna Chr. Hardt 1728-1799

Engelbert Hardt 1714-1756

Anna Wülfing 1749-1815

Johann Arnold Hardt sen. 1740-1815

Johann Arnold Hardt jr. 1778-1824 Elise Paas -1818 Helene Karsch *1794

Arnold Wilhelm HardtI 1805-1878 Cornelie Hasenclever 1813-1871

Arnold Wilhelm Hardt II 1843-1897 Mathilde Rheinen 1849-1916

Rudolf Hardt 1846-1926 Anna Sebes 1856-1916

Arnold Wilhelm Hardt III 1882-1875 Lili Schröder 1886-1975

Rudolf Hardt II 1876-1960 Marie Crüwell 1883-1966

C. Gertrud Tuckermann 1718-1788

Christine Hardt Johann Buchholz 1775-1850/51

Albert Hardt I 1811-1890 Auguste Müller 1813-1894

Albert Hardt II 1853-1900 Clara Hausmann 1856-1932

Friedrich Hardt I 1817-1880 Hermine Masthoff 1820-1868

Fritz Hardt II 1844-1906 Auguste Karsch 1846-1929

Fritz Hardt III 1844-1906 Auguste Scheidt 1881-1962

Anna Hardt 1779-1838

Johann Engelbert Hardt 1783-1850 Louise Hasenclever 1787-1867

Heinrich Hardt 1822-1889 Ottilie von Bernuth 1827-1910

Richard Hardt 1824-1898 Elise Schemmann 1828-1894

Robert Hardt 1851-1906 Louis Neizert 1858-1930

Caroline Hardt 1788-1863 Johann Buchholz 1775-1850/51

Hermann Hardt I 1828-1895 Louise Bauendahl 1835-1918

Caroline Louise Hardt 1826-1870 Johann Gustav Hardt 1815-1910

Hermann Hardt II 1866-1938 Augusta Fuhrmann 1876-1954

Engelbert II 1847-1919 Hugo 1861-1942 Gustav 1861-1940

Heinrich Hardt 1877-1903 Marie Luise Pokorny 1880-1956

Quelle: von Wismar, Stammbaum (1979); Böse, Wülfing (1948).

Eine Produktverbesserung in Richtung edlerer Tuche feinerer Qualitäten durch Erhöhung der Anzahl der Kettfäden war von den Fabrikanten gegen den Widerstand der Zünfte lange Zeit nicht durchzusetzen. Reklamationen, um die gewünschte Qualität der Tuche in ihrer Appretur von den Tuchscherern zu erhalten, die bei guter Geschäftslage zu Nachlässigkeit neigten und die Qualitätsanforderungen der Fabrikanten nicht erfüllten, gehörten zum Tagesgeschäft von Johann Arnold sen. Die Verleger versuchten dennoch ihre Qualitätsvorstellungen zu erreichen, die Färberei, die Spinnerei und die Appretur durch höhere Lohnzahlungen an die Tuchscherer zu verbessern, bis die Lenneper Tuche in den 1770er Jahren in Holland, Deutschland und vor allem bei den Hamburger und Bremer 8

Zum Verlagssystem Pierenkemper: Gewerbe und Industrie (1994), S. 3; zur Präsenz von JW & S auf der Braunschweiger Messe vgl. RWWA 122-219-4. Aufsatz Detmar Hardt, o. D. sowie allgemein zu Messebesuchen der bergischen Kaufleute vgl. Gorißen: Kaufleute (1999/2001), S. 51; zu Bemühungen der bergischen Tuchfabrikanten bezüglich der Qualitätsverbesserung vgl. Isenburg: Wollindustrie (1906), S. 14.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

Kommissionshäusern abgesetzt werden konnten.9 Auf die Gewinnsituation und die Beteiligungsverhältnisse zu Lebzeiten des Seniors Johann Wülfing kann aus der von Johann Arnold im Jahr 1805 verfassten Nota geschlossen werden. Als Startkapital brachte Johann Arnold Hardt sen. insgesamt 3.500 Taler ein, wovon 1.000 Taler von seiner Mutter und 2.500 Taler von seinem Schwiegervater als Heiratspfennig stammten.10 Der Gesamtgewinn von Johann Wülfing & Söhne war beachtlich, in der Zeit von 1774 bis 1778 betrug er hochgerechnet insgesamt 28.206 Taler, von 1778 bis 1781 14.334 Taler bei einem Durchschnitt von 5.318 Talern. Von dem Gesamtgewinn erhielt Johann Arnold sen. zu Lebzeiten seines Schwiegervaters ein Drittel mit 7.051 bzw. 3.052 Talern bezogen auf obige Zeiträume, auf den gesamten Zeitraum durchschnittlich pro Jahr 1.505 Taler gutgeschrieben. Das eingesetzte Kapital wurde ihm zu 4 % jährlich verzinst. Der Gewinn, den Johann Arnold sen. in zwanzig Jahren, also bis 1794 zum Zeitpunkt der Übernahme von Johann Wülfing & Sohn von seinem Schwiegervater, nach Zinsen und Haushaltung erwirtschaften konnte, betrug 12.781 Taler, was einem jährlichen Überschuss von 639 Talern (nach Zinsen und Haushaltung) entsprach.11 Als Johann Wülfing 1793 mit 74 Jahren starb, führte sein Schwiegersohn Johann Arnold sen. das Unternehmen weiter. In den 1790ern änderten sich die Rahmenbedingungen der Fertigung. Ferner durften die Fabrikanten mehr als einen Webstuhl im eigenen Haus beschäftigen und edlere Tuche mit feineren Qualitäten herstellen und anbieten.12 Johann Arnold sen. konnte den so entstandenen Wettbewerbsvorteil in den 1790er Jahren aufgrund der neuen französischen Zollgesetzgebung nur begrenzt für bestimmte Absatzgebiete und den Kommissionshandel mit den Hansestädten gewinnbringend nutzen. Bereits 1791 wurden auf den Export in linksrheinische Gebiete 10 % Zoll auf den Warenwert und 150 Livres pro Zentner, 1806 bereits 50 % und schließlich 275 % Zoll auf den Warenwert erhoben.13 Rohstoffe für die Färberei waren ebenfalls nur gegen Aufpreis weiter erhältlich. Der Rohstoff Wolle wurde vermehrt aus Schlesien und dem Münsterischen bezogen.14 Als zweites Standbein betrieb Johann Arnold sen., den Angaben von 9

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Vgl. zu ersten Experimenten mit der Feintuchherstellung mit spanischer Wolle unter Gottfried Wülfing Böse: Wülfing (1948), S. 15; Paul Zeit: Dahlhausen an der Wupper und seine Industrie-Anlagen, Bonn 1948, S. 30. Zur Tuchschererzunft als Hindernis für die Verbesserung der Appretur vgl. Isenburg: Wollindustrie (1906), S. 19. Vgl. RWWA 122-228-3. Der Gesamtgewinn wurde über die Gewinnbeteiligung von Johann Arnold von einem Drittel hochgerechnet. Vgl. RWWA 122-225-9. Nota von Johann Arnold Hardt sen., 1805.; RWWA 122-228-3. Vgl. Ringel: Wirtschaft (1966), S. 63; Isenburg: Wollindustrie (1906), S. 20; zum Wegfall der Tuchschererzunft vgl. Böse: Wülfing (1948), S. 20. Vgl. Isenburg: Wollindustrie (1906), S. 21; Wilhelm Meiners: Die bergische Industrie während der Fremdherrschaft (1806–1813) mit besonderer Berücksichtigung Elberfelds, in: Monatsschrift des Bergischen Geschichtsvereins 13 (1906), S. 16–39, für das Zollgesetz vom 30.03.1806 vgl. S. 19 f. Es verteuerte sich nicht nur der Absatz nach Spanien, sondern auch der nach Amerika über Frankreich. Vgl. Ringel: Wirtschaft (1966), S. 134; Isenburg: Wollindustrie (1906), S. 14; Genzmer: Fuhrmann (1936), S. 35.

4.1 Vorbereitung im Nachfolgeprozess und Generationswechsel

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Lenzen (1802) zufolge, unter der Firma JW & S einen Weinhandel.15 Neben seiner Tätigkeit als Fabrikant setzte Johann Arnold sen. die Familientradition fort. Er bekleidete im Jahr 1800 das Amt des Bürgermeisters und wiederholt das des Stadtrichters in Lennep. Sein Amt als Landtagsabgeordneter führte ihn am 24.03.1806 an den Düsseldorfer Hof, um an einem Zeremoniell zur Huldigung von Joachim Murat bei dessen Amtseinführung teilzunehmen.16 Während der französischen Besatzungszeit gehörte Johann Wülfing & Sohn zu den 39 Lenneper Tuchfabrikanten, die an den Rand ihrer Existenzfähigkeit gedrängt wurden.17 Die legalen Handelswege wurden den bergischen Fabrikanten von Frankreich sukzessive abgeschnitten. In dem von Napoleon neu gegründeten Königreich Westfalen, das östlich an das Bergische Land angrenzte, führten die Franzosen Transitzölle ein. Bald darauf stockte auch der Absatz über die Frankfurter Messe durch Zölle in den Rheinbundstaaten.18 Nach Isenburg (1906) hatte „wohl nie eine so hoch industriell entwickelte Gegend Deutschlands solche Notjahre erlebt wie die bergische von 1808–1813.“19 Johann Arnold sen. entschied sich wie auch Peter Schürmann & Söhne und Adolph Bauendahl, deren Lager mittlerweile die Produktion von drei Jahren fassten,20 ins französische Zollgebiet nach Eupen abzuwandern. Dieses hatte wie Montjoie und der Aachener Raum von der Schutzzollpolitik und der Diskriminierung der englischen Waren und der bergischen Tuche infolge der Kontinentalsperre profitiert. Nur ein Teil der Produktion wurde in Lennep belassen.21 Die arbeitsintensive Fertigung ohne Maschinenpark ermöglichte eine schnell realisierbare und kostengünstige Verlagerung der Produktion. Neue Arbeitskräfte konnten vor Ort angeworben werden. In welchem Ausmaß seitens JW & S in der neuen Niederlassung in Eupen produziert oder auch die weit verbreiteten Schmuggelgeschäfte betrieben wurden, ist nicht nachvollziehbar.22 Die Abwanderung nach Eupen infolge der Schutzzollpolitik gegenüber dem GHT Berg eröffnete den Hardts vor allem im Bereich des Technologietransfers Chancen, den momentanen regionalen Vorsprung der Aachener und Eupener Region wieder einzuholen und indirekt von der dortigen napoleonischen Gewerbeförderung zu profitieren. 15 Vgl. Lenzen: Statistik (1802), S. 125. Es ist durchaus möglich, dass Johann Arnold bereits gemeinsam mit seinem Schwiegervater dem Weinhandel nachgegangen ist. 16 Vgl. RWWA 122-219-4; Böse: Wülfing (1948), S. 32. 17 Zur Aufzählung Lenneper Tuchfabrikanten vgl. Lenzen: Statistik (1802), S. 122 f. 18 Vgl. Strutz: Bergische (1958), S. 390 f.; Isenburg: Wollindustrie (1906), S. 23. 19 Vgl. ebenda. 20 Vgl. ebenda; Zeit: Dahlhausen (1948), S. 31. 21 Vgl. RWWA 122-219-13. Abschrift des Berichts des Lenneper Kreisblattes aus 1897 no.7, 16; RWWA 122-219-13. Nachforschungen Adolf Böse, 1941–1944; Böse: Wülfing (1948), S. 35. Der Umfang der Abwanderung lässt sich anhand der Einwohnerzahlen von Lennep und Radevormwald nachvollziehen, die von 1792/1800 bis 1807/09 um tausend Personen zurückgingen. Dazu vgl. Zeit: Dahlhausen (1948), S. 31. 22 Vgl. Strutz: Bergische (1958), S. 390 f.; Isenburg: Wollindustrie (1906), S. 23; Silke Fengler/Stefan Krebs: Die Aachener Frühindustrialisierung: Belgisch-deutscher Technologietransfer 1815–1860 (2005), S. 22; Ganser: Wirkungen (1922), insb. S. 11, 21 f.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

Johann Arnold und seine Söhne Johann Arnold jr. (1778–1824) und Engelbert (1783–1850) kamen dort mit neuen Maschinen und betrieblichen Organisationsformen in der Weberei und Spinnerei in Berührung. Vor allem der Fertigungsprozess der Appretur war in einigen Webereien zentralisiert unter einem Dach zusammengefasst, anstatt im Verlagssystem organisiert. Neue Krempel-, Rauh-, Walk- und Schermaschinen erleichterten die Arbeit in den Webereien. In der Spinnerei wurden bereits vereinzelt coquerillsche Spinnmaschinen verwendet.23 Während der französischen Besatzungszeit baute Johann Arnold sen. den Weinhandel weiter aus. Seit 1811 betrieb Johann Arnold sen. zusammen mit Johann Friedrich Hellmers die Weinhandlung Johann Arnold Hardt & Hellmers. Die Erlaubnis, dem Weinhandel als „negocians du vins en gros“ in der Strassbürgergasse 1110 in Köln nachzugehen, erhielten sie von den französischen Behörden.24 Nach dem Sieg der Verbündeten über Napoleon kehrten die Familie Hardt und mit ihr die Produktion von JW & S 1814 aus Eupen zurück nach Lennep. Kurz nach der Rückkehr verstarb Johann Arnold Hardt sen. 1815 im Alter von 75 Jahren. Die erste untersuchte Nachfolge von Johann Wülfing durch Johann Arnold Hardt sen. zeigt eine Strategievariante, bei fehlendem Sohn als Nachfolger und gleichzeitigem Wunsch der Unternehmenskontinuität auf einen Verwandten aus der erweiterten Familie, hier den Schwiegersohn und Neffen zurückzugreifen. Dass der rekrutierte Neffe in einer im Tuchgewerbe tätigen Familie sozialisiert worden war, deren Wurzeln in Lennep lagen und über entsprechende Kenntnisse über Tuche und Färberei sowie kaufmännische Korrespondenz, Erstellung von Rechnungen und Zahlungsmodalitäten verfügte, fiel bei der Auswahl vermutlich ins Gewicht. Inwiefern der Nachfolger durch einen potenziellen sozialen Aufstieg nach Lennep „gelockt“ wurde, er sich frei für JW & S entschied oder die Nachfolge ausschließlich von den Familien geplant wurde, ist den Quellen nicht zu entnehmen. Die Familie seines Onkels gehörte zu den alteingesessenen, saturierten Familien, die sich in Lennep lokalpolitisch engagierten, in die evangelische Gemeinde eingebunden waren und zu deren Verkehrskreisen die ansässigen Gewerbetreibenden gehörten. Das soziale Engagement der Wülfings fokussierte sich innerhalb des Familienverbands. Für ärmere Mitglieder wurden nach dem Tod

23 Vgl. zur Mechanisierung der Tuchproduktion in Aachen Ganser: Wirkungen (1922), S. 22 f.; Rouette: Textilgeschichte(n) (1992), S. 57–59, ders.: Der historische Umbruch der Aachener Tuchherstellung vom Handwerk zur Industrie, in: Gerhard Fehl/Dieter Kaspari-Küffen/LutzHenning Meyer (Hg.): Mit Wasser und Dampf ins Industriezeitalter: Zeitzeugen der frühen Industrialisierung im belgisch-deutschen Grenzraum, Aachen 1991, S. 172–173, S. 173; Böse: Wülfing (1948), S. 36. 24 Vgl. RWWA 122-225-9. Kaufvertrag Johann Arnold Hardt für Haus in der Burggasse 14, März 1811. Zwischen den Unternehmen Johann Wülfing & Sohn und Hardt & Hellmers gab es insofern Verflechtungen, als Johann Arnold Zahlungsmittel aus dem einen Unternehmen entnahm und dem anderen zur Verfügung stellte. Auch nach seinem Tod war die Buchführung der beiden Unternehmen noch nicht getrennt. Vgl. RWWA 122-M1. Bilanzbuch JW & S 1823–1850; RWWA 122-223-9. Ausgabenbuch von Johann Arnold Hardt, fortgeführt von Helene Hardt, geb. Karsch von 1809–1846.

4.1 Vorbereitung im Nachfolgeprozess und Generationswechsel

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von Johann Wülfing, wie von ihm bestimmt, Unterstützungen vorgehalten, die von dem neuen Familienoberhaupt Johann Arnold sen. zu verwalten waren. In den Heiratskreisen der Familien dominierten die lokalen Verbindungen in Lennep zu den dort ansässigen Familien, den Tuchfärbern und Verlegern. Darüber hinaus wurden aber auch Verbindungen zu weggezogenen Familienstämmen gefestigt sowie die Verbindung Wülfing-Hardt erneuert. Die Heiratskreise der Familien Wülfing-Hardt wiesen Querverbindungen innerhalb von drei Generationen auf, über die Familie Moll reichten die Verbindungen z. B. bis zu der Familie Harkort.25 Die Heirat des Nachfolgers, zwei Jahre vor seiner Aufnahme als Teilhaber, wies nicht nur eine soziale – zur Stärkung der Familienbande –, sondern auch eine wirtschaftliche Dimension auf. Die erhaltene Aussteuer wurde nicht ausgegeben, sondern als Startkapital bei JW & S investiert und bildete den Grundstein für den personellen wirtschaftlichen Aufstieg. Mit der Teilhaberschaft von Johann Arnold sen. im Alter von 34 Jahren, nach einer vermutlich zweijährigen Tätigkeit als Angestellter, änderten sich für ihn auch die Einkommenssituation und die Anreizstruktur. Das Einkommen war nun an einen Überschuss gekoppelt, der nur durch unternehmerisches Handeln, die Vermarktung des Tuchs und durch Steuerung der Haushaltsentnahmen und Reinvestition generiert werden konnte. Die auf dem Eigenkapital beruhenden Machtverhältnisse wurden während der Zeit der Zusammenarbeit des 21 Jahre älteren Schwiegervaters mit seinem Schwiegersohn konserviert, u. a. dadurch, dass der Senior den zweifachen Gewinn seines designierten Nachfolgers vereinnahmen konnte. Dies änderte sich erst 1793 mit dem Tod des Seniors. In der Phase der Zusammenarbeit begann Johann Arnold Hardt sen. sich lokalpolitisch zu engagieren, seine Position und sein Ansehen sowie das seiner neu gegründeten Familie im Ort zu festigen. So ist zu vermuten, dass er den Status der Familie sozial wie auch ökonomisch gegenüber seiner Herkunftsfamilie, den Hardts, aber auch gegenüber seinem Schwiegervater Wülfing heben konnte. Die Aufzeichnungen aus dem 7. Lebensjahrzehnt von Johann Arnold Hardt sen. machen seine moderne ökonomische Denkweise in Kategorien des Profits, des Überschusses und der Kapitalverzinsung transparent. Darüber hinaus verweisen die Aufzeichnungen auf den von Schumpeter betonten familiären Bezug des Unternehmertums zur Familie,26 da ihr Johann Arnold Hardt sen. Rechenschaft über seinen wirtschaftlichen Erfolg ablegte. Begann der Nachfolger mit 34 Jahren seine Tätigkeit bei JW & S in einer Phase der politischen Stabilität, der Friedensperiode unter dem Kurfürsten und vor allem ohne Handelshemmnisse im Absatz und der Beschaffung, so fiel die Führungsphase 20 Jahre später in eine Zeit der zunehmenden unsicheren politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Johann Arnold sen. versuchte sowohl die Branchen, namentlich die Produkte Tuch und Wein, als auch die Standorte zu diversifizieren. Durch Wegfall der Tuchschererzünfte eröffneten sich Möglichkeiten, in den der Wertkette nachgelagerten Aktivitäten der Appretur einen Wettbewerbsvorteil zu generieren. Das politische Enga25 Vgl. zu den Verbindungen Moll-Harkort Gorißen: Kaufleute (1999/2001), S. 53 f. 26 Vgl. Schumpeter: Theorie (1911), S. 99 f.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

gement, eventuell als Gegengewicht für die Machtstruktur im Unternehmen begonnen, führte er während der französischen Herrschaft erfolgreich bis zu seiner Präsenz im Landtag weiter. Gerade kurz vor der Zeit der Fremdherrschaft begannen Umwälzungen im Produktionsregime. Johann Arnold Hardt sen. präsentiert sich als entscheidungs- und handlungsorientierter Pragmatiker, dem während der Besetzung des Bergischen Landes die unternehmerische Leistung der Aufrechterhaltung der Handelsaktivitäten mitunter durch eine zeitweilige Standortverlagerung gelang. Nach der französischen Herrschaft gehörte seine Familie zu denjenigen, die über Kapital für den Wiederaufbau verfügten. Ein förderndes Moment für die nächste Generation lag nicht zuletzt darin begründet, sich in einer Zone fortschrittlicher Produktion aufgehalten zu haben und die aus der Konkurrenzanalyse gewonnenen Erkenntnisse in das Bergische Land zu importieren.

4.1.2 Die Brüder: Johann Arnold jr. und Engelbert Hardt unter Mitwirkung der Familienmitglieder F. W. Hasenclever und Johann Buchholz Die beiden Söhne von Johann Arnold Hardt sen., Engelbert (1783–1850) und Johann Arnold jr. (1778–1824), führten das Unternehmen JW & S nach dessen Tod unter der Mitwirkung ihres Schwagers Johann Buchholz, der wie die Söhne mindestens seit 1805 in der Unternehmung seines Schwiegervaters tätig war, und Friedrich W. Hasenclevers in Lennep weiter.27 Im Geschäftsfeld des Weinhandels dominierte Johann Arnold jr., der diesen auf Grundlage der Partnerschaft von Hardt & Hellmers28 betrieb. Sein Bruder Johann Engelbert und sein Schwager Johann Buchholz waren nur als stille Teilhaber zu je einem Sechstel beteiligt.29 Die stille Teilhaberschaft von Johann Buchholz zeigt eine Variante, wie Fami27 Vgl. RWWA 122-228-3, RWWA 122-199-10. Aufzeichnungen Richard von Hardt über Engelbert Hardt; RWWA 122-225-9. Der Gesellschaftsvertrag, 20.11.1829, 01.03.1830; Böse: Wülfing (1948), S. 40. 28 Vgl. zu Gesellschaftsformen des Code de Commerce I. Buch III Tit. CC (1812), S. 9 f.; zu Handelsgesellschaften (en nom collectif) als eine der drei Gattungen neben der Kommanditund der erstmalig gesetzlich verankerten Aktiengesellschaft, in denen sich Kaufleute und Gewerbetreibende nach Code de Commerce zusammenschließen konnten, vgl. Art. 20–24 CC (1812), S. 11 f. Neben den Rechtsformen, die einen Zusammenschluss von mehreren Gesellschaftern ermöglichten, kannte die Rechtsordnung auch den einzelnen Kaufmann, den Handelsmann. Vgl. I. Buch Tit. I von den Handelsleuten CC (1812), S. 3 f.; zur Geschichte der offenen Handelsgesellschaften vgl. Hermann Kellenbenz: Art. Handelsgesellschaft, in: Erler/Kaufmann (Hg.): HRG, Bd. 1 (1971), Sp. 1936–1942, Sp. 1938 f. 29 Vgl. RWWA 122-228-3; RWWA 122-M1. Die Bilanzen wurden erst ab Juni 1828 in preußisch Courant geführt. Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Bilanzen in bergisch Courant denominiert und wurden für die Untersuchung auf preußische Taler umgerechnet. Die stille Teilhaberschaft geht laut Nachlassverzeichnis von Johann Arnold jr. von 1824 und aus dem zweiten Artikel des Gesellschaftsvertrags von Johann Wülfing & Sohn zwischen Johann Engelbert und Johann Arnold und ihrem Schwager hervor. Der Gesellschaftsvertrag von Hardt & Hellmers nennt nur seine Namensgeber als Gesellschafter.

4.1 Vorbereitung im Nachfolgeprozess und Generationswechsel

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lienmitglieder als reine Financiers des Familienunternehmens mit einbezogen wurden. Der stille Gesellschafter blieb von der Geschäftsführung ausgeschlossen und trat nach außen nicht in Erscheinung. Seine Haftung war auf die Einlage beschränkt.30 Die Familie Hardt hielt 88 % des Eigenkapitals innerhalb der Handelsgesellschaft, während auf Friedrich Hellmers nur 12 % entfielen. An Gewinn und Verlust waren beide Familien hälftig beteiligt, wenn man von der letzten Bilanz vor dem Tod von Johann Arnold Hardt jr. 1824 ausgeht.31 Engelbert, der jüngere der beiden Brüder Hardt, hatte die Schule in Lennep besucht. Während der Zeit des Verlusts der französischen Absatzgebiete wurde er Ende der 1790er Jahre mit 16 Jahren von seinem Vater auf eine Handelsschule nach Hamburg geschickt.32 Die älteste Tochter von Johann Arnold sen., Christine Hardt (1775–1804), hatte Johann Buchholz (1775–1850) geheiratet. Dieser stammte ebenfalls aus einer Lenneper Tuchmacherfamilie, die in den 1790er Jahren den Lenneper Bürgermeister gestellt hatte. Seine Eltern waren Johann Peter Johannes Buchholz (1751–1774) und Christina Catharina Tuckermann (geb. 1753).33 Zwar ist über die Ausbildung von Johann Buchholz nichts bekannt, jedoch dient das Zeugnis eines seiner Verwandten als Anhaltspunkt für die mögliche Ausbildung in der Familie Buchholz, aber auch für die generellen Lehrinhalte auf damaligen Handelschulen. Auf der Handelsschule dominierte als Schwerpunkt das Erlernen von Fremdsprachen, sodass in diesen Instituten vor allem die Basis für den Schriftverkehr im Fernhandel gelegt wurde.34 Johann Arnold jr. hatte 1804 Elise Paas, die Tochter des Stadtoberoffiziers und Inhabers der Färberei Johann Wilhelm Paas35 aus Lennep, geheiratet. Sein Bruder Engelbert ehelichte Louise Hasenclever (1787–1867), die Tochter von Johann Friedrich (1751–1820) und Anna Dorothea Hasenclever (1762–1823) aus Ehringhausen. Die Ehe begründete die Verbindungen zu einer der im Überseehandel versiertesten und erfolgreichsten Kaufmannsfamilien des Bergischen Landes.36 Laut der Nota von 1805 hatte Johann Arnold sen. einen Heiratspfennig in Höhe von 2.000 Talern für Johann Arnold Hardt jr. und seinen Schwager Johann Buchholz bei dessen Wiederverheiratung vorgesehen, der spätestens bis zum Versterben von Johann Arnold sen. ausgezahlt werden sollte.37 30 Vgl. zu Haftungsbeschränkung Art. 26 CC (1812), S. 14. 31 Vgl. RWWA 122-228-3. Während die persönliche Haftung der Gesellschafter im CC vorgegeben wurde, fehlen detaillierte Angaben zur Gewinnverteilung, vgl. Art. 23 CC (1812), S. 11. 32 Vgl. von Wismar: Stammbaum (1979), S. 27. 33 Vgl. vom Berg: Familie Buchholz (1920), Tafel 1. 34 Vgl. vom Berg: Familie Buchholz (1920), S. 151. 35 Vgl. zu Färberei Paas Lenzen: Statistik (1802), S. 123; RWWA 122-228-3. Das Nachlassverzeichnis von 1824 gibt Auskunft darüber, dass auch nach dem Tod von Elise Paas zwischen Johann Arnold und seinem Schwiegervater ein Pachtverhältnis bestand. 36 Vgl. von Wismar: Stammbaum (1979), S. 27; zu Johann Friedrich Hasenclever (1751–1820) und Anna Dorothea Hasenclever (1762–1823), den Eltern von Louise, verh. Hardt vgl. Weichbrodt: Von Tiedemann (1981), S. 297. 37 Vgl. RWWA 122-225-9. Nota von Johann Arnold Hardt sen., 1805.

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Der erwähnten Nota von Johann Arnold sen. lässt sich entnehmen, dass bereits 1805 Johann Arnold Hardts Söhne, der 27-jährige Johann Arnold jr. und der 22jährige Johann Engelbert, sowie sein 30-jähriger Schwiegersohn Johann Buchholz tätig, wenn auch nicht kapitalmäßig beteiligt waren. Johann Arnold sen. sah in der Nota vor, dass Buchholz später eine Option hatte, mit seinen Söhnen tätig zu werden. Nach dem Tod seiner Frau wohnte dieser bei seinem Schwiegervater, durfte Brautschatz, Möbel und Leinwand behalten. Die jährliche Vergütung von Johann Buchholz betrug 600 Taler, die von Johann Arnold jr. zwischen 1.200 und 1.500 Talern, die von Engelbert 200 Taler. Im Zusammenhang mit der Erhöhung der Bezüge von Johann Arnold jr. nach seiner Hochzeit schrieb der Senior: „Da ich aber laut anliegenden Extraction befunden, dass er jährlich mehr zu seiner Haushaltung ausgenommen, als derselbe von mir zu geniessen hat, so will ich aus besonderer Consideration und in Hoffnung das derselbe in der Folge, so wie ich m/selbsten in m/ersten Jahren gethan seine Haushaltungs-Ausgaben einschränken wird, so soll derselbe jährlich von der Zeit seyner Verheiratung fünfzehn hundert von mir zu geniessen haben bis daran ich meinen Kindern die Handlung völlig übertrage.“38 Aus der Nota geht klar hervor, welches Verhalten Johann Arnold sen. von seinen Söhnen erwartete. Die Bezüge der Söhne sind nach familiärer Situation gestaffelt, eine Übertragung des Kapitals sah er vorerst nicht vor. Zu dem Aufgabenfeld des ältesten Sohnes Johann Arnold jr. gehörte nachweislich auch der Weinhandel. Dies geht aus seinem Ausgabenbuch für 1809 und die folgenden Jahre hervor, es sind Auszüge aus dem Weinversendungsbuch enthalten. Welches Ausmaß der Handel zu diesem Zeitpunkt hatte, ist nicht rekonstruierbar, wohl aber, dass sich der Weinhandel unter Johann Arnold jr. zu einem Großhandel mit verschiedenen Lagern für Weinversand entwickelte.39 In Eupen kamen die Söhne von Johann Arnold sen. bereits sehr früh mit neuen Maschinen und der Neuerung in der betrieblichen Organisationsform, der zentralisierten Weberei in Berührung. Nach ihrer Rückkehr in das Bergische Land setzten die Brüder Johann Arnold jr. und Engelbert Hardt nach dem Tod des Seniors das aus Eupen ins Bergische Land importierte Know-how, das sich sowohl auf Organisation als auch auf Kenntnisse der mechanisierten Fertigung bezogen haben muss, um. Sie begannen mit der maschinellen Produktion von Tuchen in einer eigenen Tuchfabrik. Um den Antrieb der Maschinen durch Wasserkraft zu gewährleisten, setzte 1815–1819 zwischen den Fabrikanten ein Wettlauf um Produktionsstandorte an den Bach- und Flussläufen der Wupper ein, an denen im 18. Jahrhundert die Eisenindustrie angesiedelt war.40 Ein Platz an der Wupper ermöglichte es den Fabrikanten, durch maschinell bedingte Produktionssteigerungen rentabler zu produzieren.41 Seit Cleve und Berg an Preußen gefallen waren, konnten die Lenneper Tuchfabrikanten, darunter Johann Wülfing & Sohn wieder über38 Vgl. ebenda. 39 Vgl. ebenda. Entnahmen aus der Weinhandlung, z. B. von Johann Arnold Hardt jr. getätigt, sind seit 1812 in der Bilanz von Hardt & Hellmers vermerkt. Vgl. RWWA 122-228-3. 40 Vgl. zur bergischen Eisenindustrie an der Wupper Zeit: Dahlhausen (1948), S. 20 f. 41 Vgl. Reulecke: Pionier (1980), S. 59; Ringel: Wirtschaft (1966), S. 5, 11.

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regionale Märkte beliefern. So berichtete der preußische Kantonvogt: „Die Lenneper Wollentuchmanufakturen befinden sich in dem blühendsten Zustand. Es wird von morgens 5 bis abends 9 Uhr gearbeitet.“ Inwieweit die Hardts von der „preußischen Nachkriegskonjunktur besonders profitierten“, wie von Böse (1948) behauptet wurde, sei es (primär) in der Tuchfabrikation oder im Weinhandel, ist mangels Zahlenmaterial nicht nachweisbar; dass die Hardts jedoch 1824 – trotz der schlechten Wirtschaftslage in den Jahren um 1818 – zurück im Geschäft waren, dem kann auf Basis der Bilanzen nur zugestimmt werden. Johann Wülfing & Sohn erwarben 1816 ein Drittel der Dahlerau, einer ehemaligen wasserbetriebenen Fertigungsstraße für Sensen, von dem Fabrikanten Peter Walther für 7.100 Reichstaler.42 In der dort etablierten Tuchfabrik produzierten die Parteien gemeinsam. Die Tatsache, dass ihre Fabrikationsbereiche nicht voneinander getrennt waren, war für die damalige Zeit durchaus üblich.43 Von dem Kontorhaus in der Poststrasse in Lennep, in dem die Geschäftsleitung angesiedelt war, wurde die Produktion koordiniert. Die Firmierung des Unternehmens war zu diesem Zeitpunkt noch nicht einheitlich, so findet man neben Hardt & Co auch die Bezeichnung Peter Walther & Co.44 Johann Arnold jr. überlebte die Gründung der Tuchfabrik nur um neun Jahre. Er verstarb 1824 im Alter von 46 Jahren und hinterließ neben seiner zweiten Frau Helene, geb. Karsch zwei minderjährige Kinder aus erster Ehe. Sein Sohn konnte seine Nachfolge im Unternehmen noch nicht antreten.45 Die Kapitalbasis der Weinhandlung betrug laut der Schlussbilanz von Hardt & Hellmers aus dem Jahr 1823 insgesamt 53.750 Taler, bei einer Bilanzsumme von 66.970 Talern. Die Handlung wurde zu einem hohen Anteil durch Eigenkapital der Familie Hardt finanziert. Die Eigenkapitalquote betrug 80,26 %. Im Fremdkapital, unter der Position „fremde Creditores“ in Höhe von 9.897 Talern befanden sich keine Bankkredite, sondern nur Lieferantenverbindlichkeiten.46 Der Gewinn der Weinhandlung im Zeitraum 1811–1824 ist nicht überliefert, sodass die Leistung von Johann Arnold jr. und seinem Partner Hellmers nicht über die Gewinnentwicklung erfasst werden kann. Da der Handel mit Weinen auch von anderen, z. B. den Kölner Bankiers Oppenheim und Herstatt als zweites Standbein

42 Vgl. zur Geschichte der Buschhämmer, die 1788 von Peter Busch errichtet wurden und zu denen eine Fertigungsstraße mit sieben Wasserrädern gehörte, Strutz: Bergische (1958), S. 40. Zum Kaufakt der Buschhämmer vom 10.01.1816 durch JW & S (Abschrift) vgl. RWWA 122-279-2. Aufsätze zur Familiengeschichte Hardt und Firmengeschichte Wülfing; RWWA 122-200-14. Abschrift des ersten Vertrags des Ankaufs der Buschhämmer und des notariellen Kaufakts des letzten Drittels der Dahlerau von Peter Walther, 02.04.1833. 43 Vgl. Hillen: Hardt (2004), S. 449; Hans Pohl: Wirtschaftsgeschichte des Oberbergischen Kreises seit Mitte des 19. Jahrhunderts, Köln 1994, S. 44. 44 Vgl. Hillen: Hardt (2004), S. 449. 45 Vgl. RWWA 122-M1. Bis in das Jahr 1825 war der Zeitraum des Geschäftsjahrs vom 01.03.1823 bis zum 01.03. des Folgejahrs, dann vom 01.06.1826 bis zum 01.06. des Folgejahrs. Im Jahr 1827 wurde keine Bilanz erstellt. Anschließend erfolgte eine Periodisierung nach Kalenderjahren. 46 Vgl. RWWA 122-228-3. Bilanz Hardt & Hellmers, 1823.

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genutzt wurde, schien es sich um ein einträgliches Geschäft zu handeln.47 Im Jahr vor seinem Tod betrug der Gewinn mit 6.593 Talern ungefähr ein Drittel des Gewinns der Tuchfabrikation. Die Weinhandlung hatte Johann Arnold jr. über mehrere Zwischenlager, u. a. in Mühlheim am Rhein, Bingen, Braunschweig und ein Lager in Lennep organisiert. Ein Dreh- und Angelpunkt war die Immobilie am Umschlag- und Stapelplatz Köln, um die Ware über den Rhein weiterzutransportieren. Der Wert des gelagerten Weins wurde 1824 mit 11.604 Talern angegeben. Das breite Sortiment umfasste Rot- und Weißweine unterschiedlicher Jahrgänge aus dem Rheingau, der Mosel und aus der Pfalz.48 Über die Situation des Hauptengagements der Hardts, die Tuchfabrikation, kann ein Einblick auf Basis der ersten noch erhaltenen Bilanz von Johann Wülfing & Sohn aus dem Jahr 1823/24 gewonnen werden. Die Bilanz wies Eigenkapital von 202.092 Talern preußisch und eine gegenüber dem Weinhandel um 10 % höhere Eigenkapitalquote von 90 % auf.49 Im Jahr des Versterbens von Johann Arnold Hardt jr. verteilte sich das Eigenkapital von JW & S auf den Erblasser Johann Arnold Hardt jr. Hardt (28 %), seinen Bruder Engelbert Hardt (36 %), Johann Buchholz (22 %), Friedrich Hasenclever (2 %) und Anna Hardt (12 %).50 Der Bilanz zufolge lag der Fokus der Brüder Hardt zunächst auf der Sicherung des Standorts mit dem Kauf von Anteilen an der Dahlerau und der Zentralisierung eines Teils der Weberei und des Appreturprozesses bei relativ geringem Mechanisierungsgrad. Dies zeigt sich aus der Gegenüberstellung der Position Immobilien und Mobiliar von 51.887 Talern, unter der im Jahr 1823/24 mit einem Bilanzansatz der Dahlerau von 34.615 Talern und der weitaus geringeren Position von 3.848 Talern, unter der elf Webstühle, zehn Scheertische, 16 Scheren und Farbwaren zusammengefasst wurden. Die Zahl der Webstühle stieg 1825 bereits auf 14 Stück. In den textilen Zentren der Rheinprovinz, darunter Aachen und Lennep, wurde in der Tuchherstellung zunächst der Appreturprozess mechanisiert. Bereits 1804 wurde im Bergischen Land die erste Zylinderschermaschine für 1.700 Taler eingesetzt. Die 21 Schermaschinen in Hückeswagen ersetzten 84 geübte Handscherer. 1811 wurde die erste Krempelmaschine bei E. Strohn eingesetzt. Durch die Einführung derartiger Maschinen konnten gleichbleibende Qualitäten produziert werden, auf die sich die Reputation des Tuchs begründete. Die Maschinen mussten speziell angefertigt werden, wie im Falle von Engelbert Hardt, der 1826 47 Vgl. Stürmer/Teichmann/Treue: Wägen und Wagen (1989), S. 39; zur Betonung des Weinhandels als Ertragsquelle vgl. Tilly: Financial Institutions (1966), S. 55 f. 48 Vgl. RWWA 122-M1; RWWA 122-228-3. Bilanz Hardt & Hellmers, 1823. Der in der Bilanz angesetzte Wert des Lagerbestands in Bingen betrug 9.635 Taler, der in Köln 12.038 Taler. 49 Vgl. ebenda; RWWA 122-M1. Zu vermerken ist, dass das Weinlager in Lennep in der Bilanz von JW & S angesetzt wurde und die Zahlungsströme nach den Engagements nicht strikt voneinander getrennt wurden. Eingänge der Kapitalverzinsung oder Gewinnanteile von Hardt & Hellmers wurden z. T. bis in die 1830er Jahre auch auf den Kapitalkonten der Bilanzen von JW & S verbucht. Die somit in den Bilanzen bis in die 1830er Jahre abgebildete Entwicklung des Weinhandels kann aufgrund des fehlenden Bilanzmaterials von Hardt & Hellmers nicht separiert werden. 50 Vgl. RWWA 122-M1; RWWA 122-228-3. Bilanz Hardt & Hellmers, 1823.

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den Bau einer Tuchschermaschine bei dem Mechaniker Haas in Auftrag gab, der diese nach Plänen einer Maschine aus Verviers nachbaute.51 Das eigentliche industrielle Moment, die Veränderung der Input-Output-Relationen in der Fertigung, setzte nicht in der Weberei, sondern in der Nachbehandlung des Tuches an. Die Nähe Lenneps zu der französisch-belgischen Textilregion, wo solche Maschinen ausgekundschaftet werden konnten, darf als Faktor nicht unterschätzt werden. In Sachsen ging man erst in den 1840ern dazu über, den Appreturprozess zu mechanisieren.52 Der Vertrieb des Tuches wurde über Tuchlager in Halberstadt, Braunschweig, Eupen, Hamburg, über Anhalt & Wagner Berlin und Fromme in Königsberg organisiert. Der Warenbestand lässt auf einen noch wenig differenzierten Geschmack der Kunden schließen, es dominieren die Farben Schwarz, Wollblau, Dunkelblau, Hellblau und Oliv. Der Gewinn lag 1823/24 bei 20.608 Talern und verteilte sich zu je 3/9 auf die Brüder Hardt, während Johann Buchholz 2/9 und F.W. Hasenclever 1/9 erhielten.53 Engelbert übernahm nach dem Tod seines Bruders die Leitung sowohl des Unternehmens JW & S als auch die Partnerschaft in der Weinhandlung Hardt & Hellmers. Bis zu seinem Umzug nach Duisburg im Jahr 1830 wirkte sein Schwager Johann Buchholz weiter in der Tuchfabrikation mit. Anschließend wurde dieser eine Art stiller Teilhaber.54 Engelbert war vor die Aufgabe gestellt, die Folgen des frühen Todes seines Bruders für die Unternehmensführung personell zu überbrücken, da sich der Sohn seines Bruders noch in der Ausbildung befand und seine eigenen Söhne zu jung waren. Den Aufzeichnungen seines Sohnes Richard zufolge, hatte er mit seinem Schwager F. W. Hasenclever „[…] einen besonders tüchtigen Associé […] der den Absatz der Tuche über ganz Deutschland so förderte, dass die Vergrösserung der Fabrik dringend geboten war.“55 Neben den personellen Veränderungen fällt in diese Zeit auch die beginnende Ausdifferenzierung der Leitung bei JW & S. Seit 1822 trat Johannes Hilger für JW & S als Direktor auf. 1835 war dieser auch als Schulvorstand in der von den Fabrikanten Hardt, Bauendahl und Schröder initiierten Fabrikschule tätig.56 1827 begann Engelbert Hardt, gemeinsam mit Bauendahl und Schröder, mit der Anlage einer Chaussee von Grünental bis zur Vogelsmühle, um die Transportwege von der Dahlerau und Dahlhausen für die Handkarren mit Rohmateria51 52 53 54

Vgl. ebenda; RWWA 122-M1; Ringel: Wirtschaft (1966), S. 63. Vgl. Blumberg: Textilindustrie (1965), S. 76; Isenburg: Wollindustrie (1906), S. 26. Vgl. RWWA 122-M1; Isenburg: Wollindustrie (1906), S. 26. Vgl. RWWA 122-285-6. Der Gesellschaftsvertrag, 20.11.1829, 01.03.1830 nennt Buchholz nicht mehr als Teilhaber. Seine Kapitaleinlage stellte er weiterhin dem Unternehmen JW & S und der Weinhandlung gegen eine Verzinsung zu 6 % zur Verfügung. Vgl. hierzu ebenda; RWWA 122-M1. 55 Vgl. RWWA 122-199-10. Paul Zeit geht davon aus, dass Engelbert Hardt nach dem Tod seines Bruders allein als Repräsentant in Erscheinung trat und Friedrich W. Hasenclever von 1830–1854 Mitinhaber bei Johann Wülfing & Sohn wurde. Da Hasenclever bereits 1824 ein eigenes Kapitalkonto besaß und am Gewinn beteiligt wurde, ist dies anzuzweifeln. Vgl. Zeit: Dahlhausen (1948), S. 45. Zur Teilhaberschaft von F. W. Hasenclever vgl. RWWA 122-2856. Gesellschaftsvertrag JW & S OHG, 01.01.1894. 56 Vgl. Böse: Wülfing (1948), S. 40; Ringel: Wirtschaft (1966), S. 24.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

lien, Kohle sowie Tuche zu verbessern.57 Neben den genannten Tuchlagern und dem Absatz auf dem regionalen Markt Lennep, Elberfeld und Barmen bestanden Geschäftsbeziehungen gen Westen in die Niederlande, nach Amsterdam und Delft, nördlich nach Hamburg, Bremen, Kiel, Lübeck und Kopenhagen und ostwärts nach Danzig und Königsberg bis ins Memelgebiet und nach Breslau.58 1833 erwarb Johann Engelbert das Eigentum des fehlenden Drittels der Buschhämmer von Peter Walther für 20.000 Taler, sodass das Werk in Dahlerau in den Alleinbesitz von JW & S gelangte. Der Kauf der Immobilie beinhaltete auch Wegerechte, Maschinen, Karden und Vorräte, er wurde bei Peter Walther über einen Kredit mit einer Laufzeit von vier Jahren zu 4 % p. a. finanziert und in den folgenden Jahren zurückgeführt.59 Als die Wasserkraft für den Maschinenantrieb allein nicht mehr ausreichte, setzten einige Lenneper Fabrikanten, allen voran Peter Schürmann, ab 1831 zusätzlich Dampfmaschinen ein.60 1830/34 wurden in der Lenneper Tuchindustrie bereits acht Dampfmaschinen genutzt, in den 1860er Jahren bereits 34.61 Eine Dampfmaschine kostete in den 1830er Jahren um 5.000 Reichstaler.62 Dies entsprach einer Investition von 13 % des durchschnittlichen Gewinns der Tuchfabrik JW & S von 37.659 Talern in den 1830er Jahren. Als Zulieferer für Maschinen nennt die Bilanz 1834 die Aachener Maschinenbauanstalt Dobbs & Nellessen, bei der eine Maschine für 5.800 Taler gekauft wurde.63 Mit der Investition in die leistungsstärkste Dampfmaschine des Wuppertals von 50 PS im Jahr 1834 übernahmen JW & S eine technische Vorreiterrolle in Lennep. 1833/34 wurde die vierstöckige Hauptfabrik in Bruchsteinen64 errichtet. Die Position Anlagen stieg von 1833/34 bis 1834/35 bereits auf 62.200 Taler.65 Richard Hardt fasst die Entwicklung über die aktive Zeit seines Vaters Engelbert zusammen: „Seine Firma war eine der ersten, die die neu erfundenen Maschinen einführte, wodurch die Fabrikation einen grossen Aufschwung erhielt und einige Jahre später noch mehr durch die Verarbeitung und direkten Einkauf von sächsischer Wolle, die durch sachgemäße Züchtung die bis jetzt verarbeitete spanische Wolle ersetzte.“66 Der Aufschwung der Fabrikation spiegelt sich in der Bilanzsumme, der produzierten Stückzahl, dem Wachstum des Eigenkapitals und in der Gewinnentwicklung wider. Engelbert erhöhte die Tuchproduktion im Zeit-

57 58 59 60 61 62 63 64

Vgl. Ringel: Wirtschaft (1966), S. 64; Zeit: Dahlhausen (1948), S. 32. Vgl. RWWA 122-M1. Vgl. RWWA 122-200-14; zur Aktivierung der Dahlerau in der Bilanz vgl. RWWA 122-M1. Vgl. Ringel: Wirtschaft (1966), S. 58. Vgl. Adelmann: Rheinprovinz (1967), S. 168. Vgl. Ringel: Wirtschaft (1966), S. 60. Vgl. RWWA 122-M1. Als weitere Zulieferer werden Dobbs & Poensgen erwähnt. Vgl. RWWA 122-210-1. Die Entwicklungsgeschichte von Dahlerau nach den Lebenserinnerungen von Baurat Albert Schmidt, 1927. 65 Vgl. RWWA 122-M1. 66 Vgl. RWWA 122-199-10.

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raum von 1831 bis 1840 von 2.000 Stück auf 5.000 Stück Tuch um 150 %.67 Im Zeitraum 1830–1840 weitete sich die Geschäftstätigkeit von 328.089 Talern auf 690.997 Taler um 111 % aus. Die Bilanzsumme wuchs jährlich im Durchschnitt 8 %, das Eigenkapital 8,84 %.68 Da die Lenneper Strichtuche zu den englischen mittlerweile konkurrenzfähig waren, konnten die Hardts nach Nordamerika exportieren. So führte die Schutzzollpolitik von Österreich und Schweden, die nun nach französischem Vorbild agierten, nicht zu einem Wachstumseinbruch.69 Auf der einen Seite konnten bis Ende der 1830er Jahre weiterhin Zuflüsse aus dem Weinhandel70 generiert werden, auf der anderen Seite änderten die Hardts, wie andere vergleichsweise kapitalintensiv fertigende Betriebe des Bergischen Lands ihre Vertriebsstrategie und lieferten verstärkt nach Übersee. Trotz des dort ebenfalls wachsenden Wettbewerbsdrucks blieb das Qualitätssegment, zu dem die feinen Lenneper Tuche gehörten, noch relativ lange bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts wettbewerbsfähig.71 Der Export wurde über Bremer und Hamburger Zwischenhändler wie Meier & Co und Schmidt & Moll abgewickelt.72 Trotz der amerikanischen Einfuhrzölle von 20 bis 25 % des Warenwerts blieb der Export nach Amerika bis zur amerikanischen Rezession vor 1837 äußerst lukrativ.73 Der durchschnittliche Gewinn konnte in den 1830er gegenüber den 1820er Jahren um 67 % gesteigert werden.74 Im Jahr 1836 brannte die Fabrik mitsamt den neuen technischen Anlagen ab. Richard beschrieb die Mentalität seines 53-jährigen Vaters: „Engelbert Hardt [stand] vor den rauchenden Trümmern und schien es, als ob die Arbeit seines Lebens zerstört sei, doch liess er den Mut nicht sinken, mit aller Energie wurde an dem Wiederaufbau gearbeitet und nach 1 bis 2 Jahren erstanden grössere und stärkere Gebäude gefüllt mit Maschinen der neuesten Erfindungen.“75 Die Erneuerung der technischen Anlagen bei JW & S erfolgte vor dem Hintergrund des sich in der Textilbranche vollziehenden Konzentrationsprozesses nach der Maxime der Lenneper Handelskammer: „[…] nur durch Modernisierung und mit kostspieligen Investitionen könnten die Betriebe in einem immer schwieriger werdenden wirtschaftlichen Umfeld überleben.“76 Der Bilanzwert der Anlage 67 Vgl. Frauke Schönert-Röhlk: Die Organisation des Überseegeschäfts in der deutschen Wollindustrie um die Mitte des 19. Jahrhunderts: Die Firma Johann Wülfing & Sohn, RemscheidLennep, in: Jürgen Schneider et al. (Hg.): Wirtschaftskräfte und Wirtschaftswege IV: Übersee und allgemeine Wirtschaftsgeschichte. Festschrift für Hermann Kellenbenz, Stuttgart 1978, S. 383–394, S. 386. 68 Vgl. RWWA 122-M1. Die jährlichen durchschnittlichen Wachstumsraten wurden als geometrische Mittel berechnet. 69 Vgl. zum Verlust des Transithandels mit Österreich Blumberg: Textilindustrie (1965), S. 151. 70 Vgl. RWWA 122-M1. Ab 1839 finden sich keine Angaben mehr zu Hardt & Hellmers in den Bilanzen. 71 Vgl. Schönert-Röhlk: Überseegeschäft (1978), S. 388. 72 Vgl. RWWA 122-M1. 73 Vgl. Böse: Wülfing (1948), S. 43. 74 Vgl. RWWA 122-M1. 75 Vgl. RWWA 122-199-10. 76 Vgl. zum Konzentrationsprozess im Tuchgewerbe Ringel: Wirtschaft (1966), S. 134.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

Dahlerau wuchs von 1835/36 bis 1839/40 von 124.000 auf 190.000 Taler trotz hoher Abschreibungen infolge des Brandschadens. Im Zeitraum von 1829/30 bis nach dem Brand 1835/36 sank die Eigenkapitalquote von 93 % auf 88 %. Durch die gute Gewinnlage wurde der Verlust der Anlage bzw. ihre Wertminderung Ende der 1830er teilweise kompensiert. Mittels Selbstfinanzierung allein konnten die Folgen des Brandes nicht kompensiert und neue Maschinen angeschafft werden. 1838/39 wuchs die Fremdkapitalquote auf ca. 9 %. In diesem Jahr fällt das bei den Bankhäusern von der Heydt-Kersten & Söhne und I. D. Herstatt aufgenommene Kreditvolumen, das gegenüber den Bankenforderungen der 1820er Jahre, die maximal 10.000 Taler betrugen, auf. Neben den Darlehen der Hausbankbeziehungen sind als hohe Einzelpositionen die der angeheirateten Familie Karsch von 4.000 bis 6.000 Taler zu vermerken.77 Nach dem Brand begann für die Hardts ein langes Jahrzehnt der Investition und Modernisierung, sodass 1846 in der Fabrik 30 Rauh-, 40 Schermaschinen, 46 Maschinenwebstühle, 13 Walkanlagen und 13 Assortiments für die Spinnerei eingesetzt wurden. JW & S beschäftigten 450 Arbeiter. Die Jahresproduktion belief sich auf ca. 6.000 Stück Tuch, das 12-Fache der Produktion von 1810.78 Die leistungsstärkste Dampfmaschine von 50 PS des Wuppertals lieferte seit 1834 neben der Wasserkraft den Antrieb. Die Eigenkapitalbasis wuchs von 1830/31 bis 1849/50 von 298.157 Talern auf 657.000 Taler um 120 % bei Eigenkapitalquoten von 95 % bis 97 %. Bis auf Lieferantenkredite und vereinzelte Forderungen von Banken unter 5.000 Talern finden sich Forderungen von Engelbert Karsch in den Bilanzen. Von einer Finanzierung durch Banken nahmen die Hardts in regulären Zeiten Abstand. Die Krisenjahre um 1848 setzten zwar auch JW & S zu, in der Bilanz 1848/49 hieß es: „[…] durch die traurigen Verhältnisse sind Wollcomparenten ausgefallen. so wird solcher [Gewinn] gemäß Übereinkunft nicht verteilt.“79 Jedoch fiel das Unternehmen nicht dem fortschreitenden Konzentrationsprozess zum Opfer, der vor allem die kleinen Betriebe traf.80 Der Gewinn entwickelte sich in den 1840er Jahren positiv und betrug zwischen 39.230 bis 79.990 Taler, bei einem Durchschnitt von 53.935 Talern. Es gelang, die Jahre aus eigenen Mitteln bzw.

77 Vgl. RWWA 122-M1. 1836/37 wurden nur Kapitalkonten aufgestellt. 78 Vgl. RWWA 122-199-10; Ringel: Wirtschaft (1966), S. 49 f. Zu den Produktionszahlen von 1847 von 6.830 Stück Tuch vgl. Schönert-Röhlk: Überseegeschäft (1978), S. 386. In den Jahren 1841/42–1848/49 wurden in den Bilanzen u. a. folgende Anschaffungen aufgeführt: 20 mechanische Webstühle aus Chemnitz 4.000 Taler,12 Webstühle mit Fracht 2.390 Taler, 1 Dampfkessel mit Anlagen 3.000 Taler, 7 Webstühle 1.260 pro Webstuhl ca. 200 Taler, 1843/44 10 Walken von Haas 3.800 Taler, 1841/42 1 Bürstmaschine 260 Taler, 1841/42 9 Contenue und Kratzen 2.230 Taler, 1841/42 neues Wollager in Lennep 1.500 Taler, 1843/44 Webstühle 1.200 Taler, 1843/44 1 Wolf als Drousette 350 Taler, 1843/44 1 Kratze mit Contenue 500 Taler, 1843/44 1 Longitinal 2.000 Taler, 1843/44 Hidrolich Presse 650 Taler. 79 Vgl. RWWA 122-0132. 80 Vgl. zur Mechanisierung und zum Konzentrationsprozess Ringel: Wirtschaft (1966), S. 49 f.

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durch Innenfinanzierung angesichts des hohen Gewinns im Jahr 1849/50 von 108.318 Talern zu finanzieren.81 In den Jahren 1840 bis 1860 entstanden weitere Bauten und für die Fabrikation wurde eine große Zahl von Webstühlen, Walken, Dampfkesseln, Turbinen, Spinnerei-Assortiments und eine Trockenmaschine neu angeschafft. Die Geschäfte entwickelten sich in durchaus befriedigender Weise, sodass Rückschläge durch die englische Bankenkrise, die Unruhen der Revolutionszeit und Notjahre durch die 1849 ausbrechende Cholera, die viele kleine Firmen zum Erliegen brachten, gut überwunden wurden.82 In der zweiten familiären Generation wurden die soziale Endogamie unter Selbstständigen und die lokalen Verbindungen nach Duisburg beibehalten. Hinsichtlich der lokalen Bezüge weiteten sich die Heiratskreise nach Remscheid und die Branchenbezüge der Heiratspartner durch die Verbindung mit der Familie Hasenclever in die Eisenindustrie aus. Die Nachfolger heirateten, nachdem sie ihre Ausbildung beendet hatten und bereits im Unternehmen tätig waren. Die familiäre Machtstruktur war dadurch gekennzeichnet, dass die Verfügungsmacht über das Vermögen zugunsten der älteren Generation bis zu ihrem Versterben beibehalten wurde. Bei dem zweiten Sohn Engelbert wurde Wert auf eine spezielle Ausbildung auf einer Handelsschule gelegt. Hier ist zu vermuten, dass Johann Arnold sen. seine Verbindungen in der Hansestadt aktiviert und den Sohn bei Handelspartnern untergebracht hatte. Nach ihrer Ausbildung, vermutlich überwiegend in Lennep und Eupen, waren beide Söhne, auch Engelbert und der Schwiegersohn, als Angestellte für den Vater bis zu seinem Tod tätig. Hohe Priorität hatte die Fähigkeit zur Haushaltung mit vorgegebenen Budgets. Um dies zu verdeutlichen, exponierte sich der Senior in der Rechenschaftslegung seines eigenen Wirkens als eine Art Leitbild für seine Kinder. Mit der Ausbildung begann auch die Phase der Kapitalakkumulation wie in der vorherigen Generation mit der im Unternehmen stehen gelassenen Aussteuer und ferner der Verankerung von organisationalem Wissen und der Sammlung von Vertriebserfahrung. Die Kapitalbestandswahrung wurde durch eine zweimalige Heirat von Johann Buchholz mit Töchtern der Familie Hardt gewährleistet. Nach der napoleonischen Herrschaft, in der Zeit des Wiederaufbaus, lag in der Familie Hardt ein Generationenwechsel. Seitens der äußeren Umstände war der Beginn der eigenverantwortlichen Führungsphase günstig. Vom Vater her eingeleitet gelang es den Brüdern Hardt, nach 1824 Engelbert und F. W. Hasenclever, sich weiter aus den traditionellen Bezügen zu lösen. Den Rahmen des evolutionären Prozesses im Übergang zur industriellen Fertigungsweise setzten sie durch Sicherung des Standortvorteils, Technologietransfer aus belgisch-französischem Gebiet, Investitionen in Maschinen, Grundstücke und Immobilien und den Anschluss an die Infrastruktur mit eigenen Straßenanschlüssen. 81 Vgl. RWWA 122-M1; RWWA 122-200-17. Geschichte der Firma Johann Wülfing & Sohn (Manuskript), o. D. 82 Vgl. RWWA 122-225-8. Testament Friedrich Wilhelm Hasenclever, 17.09.1849.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

Die beiden Brüder übernahmen völlig eigenverantwortlich zu einem früheren Zeitpunkt als ihr Vater die Unternehmensführung bereits in einem Alter von 32 bzw. 37 Jahren. Die Hardt-Brüder, originär keine Produzenten, begannen mit der Tuchproduktion bzw. mit einer räumlich zentralisierten Abdeckung des gesamten Produktionsprozesses von feinem Tuch, wobei sie parallel auch heimgewerblich produzieren ließen. Neben der Tuchfabrik betrieben sie den Weinhandel weiter. Ermöglicht wurde ihr Start als Produzenten durch Kapitalien, die aus der Verleger- und Weinhändlerzeit stammten. Bei dem übernommenen Kapital handelte es sich sowohl um Handelskapital (Geldmittel) als auch um im Handel erworbenes Sozialkapital in Form eines über den Westen und Norden Deutschlands aufgespannten Kommissions- und Vertriebsnetzes. Dies war, wie es sich in der Bilanz 1824 darstellte, zu Teilen aus den Zeiten des Vaters übernommen worden. Das unternehmerische Moment der zweiten Generation lag darin, dass sie eine neue Produkt-Markt-Kombination durchsetzte. Die Hardts lieferten verbessertes Tuch aus der Region dauerhaft über ein eigenes Handelshaus nach Übersee und schufen Qualitätsstandards als Vermarktungsvoraussetzung. Auch wenn sie nicht die Einzigen waren, gehörten sie doch zu den „first movern“ innerhalb der Region, die den Pfad der Mechanisierung der Tuchproduktion weiter beschritten, den Industrialisierungshebel in der Appretur ansetzten und sich hierfür eine eigene interne Organisation mit zwei Leitungsebenen Direktor und Meister unter der Unternehmensführung schufen. Aus einigen Überlieferungen geht das unternehmerische Moment bei Engelbert Hardt hervor, der als Mitfünfziger nach Vernichtung der Produktionsanlage einen weiteren kostspieligen Anlauf nahm, um diese erneut und noch moderner aufzubauen. Trotz der Absatzschwierigkeiten nach Nordamerika in den Jahren des Brandes blieb Engelbert auf dem Modernisierungspfad. Dies deutet auf seine Bereitschaft zu Risikoübernahme und Wagnis hin. Modernisierungen setzte er beharrlich durch. Selbst mit Mitte 60 ritt er, nachdem er von Schwierigkeiten eines Handelspartners gehört hatte, neun Tage nach Lübeck, um die Forderung für das Unternehmen zu sichern.83 Als „der entschlossene und tatkräftige Modernisierer“ nutzte Engelbert nicht nur räumliche Preisdifferenzen aus, sondern schlug mit neuer Proudukt-MarktKombination den Weg der „schöpferischen Zerstörung“ ein.84

4.1.3 Die dritte Generation: Expansion statt Niedergang Die 1850er Jahre begannen bei JW & S mit einem Wechsel in der Unternehmensführung. Mit Johann Engelbert und Johann Buchholz, beide im Jahr 1850 sowie Friedrich W. Hasenclever 1854, verstarben die letzten Vertreter der zweiten Generation. Zu den Führungsaufgaben von Engelbert hatte seit dem Tod seines Bruders 1824 auch die Regelung der Nachfolge in der Familie Hardt und die Aufnahme seines Neffen Arnold Wilhelm I (1805–1875) in das Unternehmen gezählt. Seit 83 Vgl. Ringel: Wirtschaft (1966), S. 53. 84 Vgl. Schumpeter: Theorie (1911), S. 99 f.

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den 1840er Jahren widmete sich der Senior der Vorbereitung der Nachfolge in seinem Familienstamm, der fünf männliche Nachfolger und die zwei Töchter Laura und Caroline Louise umfasste. Sein Neffe Arnold Wilhelm I, der älteste Vertreter der dritten Generation der Familie Hardt und einziger Sohn von Johann Arnold jr., war 1830 in das Unternehmen eingetreten. Vor dem Tod seines Vaters und dem Abschluss der Schule hatte er im Alter von 15 bis 16 Jahren ca. 1 1/2 Jahre lang die Handelsschule in Lübeck besucht, zu einer Zeit, in der sich bei JW & S der Außenhandel über die Hansestädte ausweitete. In seinem Zeugnis wurde ihm bescheinigt, dass er „[…] während dieser Zeit stets den ausgezeichnetsten Fleiß, Folgsamkeit, Pünktlichkeit und Ordnungsliebe bewies und mit diesen Eigenschaften die besten, ganz der Zeit angemessenen Fortschritte machte.“85 Vermutlich arbeitete er, nachdem er die Handelsakademie frühzeitig abgebrochen hatte, in Lennep im Familienunternehmen. Seit 1826/27 verfügte er dort über ein eigenes Kapitalkonto in Höhe von 26.250 Talern. Auf diesem war sein Erbteil nach seinem Vater gutgeschrieben worden und hier ging eine Gewinnbeteiligung von 4/45 ein. Bis er eintrat, hatte er ein Drittel des Lohns für eine kaufmännische Fachkraft in Höhe von ca. 308 Talern p. a. zu bezahlen. Nach seinem Eintritt 1830 erhöhte sich seine Gewinnbeteiligung auf 5/18, die Kapitalverzinsung betrug weiterhin jährlich 4 %.86 Im Jahr 1832, ungefähr 2 1/2 Jahre nach seinem Eintritt bei JW & S heiratete Arnold Wilhelm Hardt im Alter von 27 Jahren Cornelie Hasenclever, die Tochter des Eisenwarenhändlers und Sensenfabrikanten Josua und dessen Frau Gertrude Hasenclever aus Remscheid, eine Verwandte der Frau seines Onkels Engelbert. Mit der Heirat festigte sich die Verbindung mit einer der einflussreichsten Unternehmerfamilien des Bergischen Landes, deren Verbindungen sich bis nach Übersee, u. a. nach Südamerika erstreckten.87 Arnold Wilhelms Schwester Elise (1810–1895) hatte 1829 ihren Cousin Engelbert, den jüngsten Sohn der in Mülheim/Ruhr ansässigen Familie Rhodius, geheiratet. Die Familie Rhodius war unter anderem wie die Familie Hardt im Weinhandel tätig gewesen und mittlerweile nach Köln verzogen.88 Engelbert Rhodius und sein Bruder verlagerten das Geschäftsfeld auf den Bergbau und betrieben unter Gebrüder Rhodius in Linz am Rhein u. a. die Sternerhütte. Bis 1830 hatte Elise ihren Erbteil, der bis dato bei JW & S geführt worden war, abgezogen und vermutlich im Unternehmen ihres Mannes investiert.89 Wie die Familie Hasenclever verfügte auch die Familie Rhodius über zahlreiche Handelsverbindungen und familiäre Verbindungen nach 85 Vgl. RWWA 122-201-6. Zeugnis der praktischen Handelsakademie Lübeck, April 1822. 86 Vgl. RWWA 122-M1; RWWA 122-285-6. Gesellschaftsvertrag, 1829/1830. 87 Vgl. RWWA 122-228-12. Heiratskontrakt zwischen Cornelie und Arnold Wilhelm, 1832. Zur Genealogie der Familie Hasenclever vgl. RWWA 122-197-3. Lebensbild Bernhard Goldenberg, o. D. Zum Überseehandel der Familie Hasenclever vor 1830 und um 1840 vgl. Hasenclever: Erinnerungen (1922), S. 8 f. 88 Vgl. zur Weinhandlung der Familie Rhodius Lenzen: Statistik (1802), S. 110; RWWA 122200-5. Familientag Rhodius. Kopie der Festschrift zum Familientag, 18.06.1938. Die Eltern von Engelbert Rhodius waren Johann Christian (1857–1829) und Anna Sara Moll. 89 Vgl. RWWA 122-M1.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

Südamerika.90 Die nachfolgenden Generationen eingerechnet ergaben sich durch die Ehe von Elise Hardt und Engelbert Rhodius Verbindungen zu bekannten rheinischen Unternehmerfamilien wie der Familie Hösch, Andrae und der Familie Goldenberg aus Remscheid.91 Die ältesten Vettern von Arnold Wilhelm I, Albert I (1811–1890) und Friedrich I (1817–1880), wurden in den 1820ern und 1830ern ausgebildet. Über ihre Ausbildung geben die Quellen keine Auskunft, wohl aber über den Zeitpunkt ihres Eintritts, vor dem sie bei JW & S gegen Entlohnung tätig gewesen waren. Albert I erhielt mindestens seit 1830 vor seinem Eintritt 1840 ein jährliches Salär von 173 Talern von seinem Vater ausgezahlt. Sein Bruder Friedrich I rückte 1846 an Alberts Stelle. Im Gesellschaftsvertrag war eine Entlohnung von 100 Talern vorgesehen.92 Albert I heiratete im Jahr 1839, einige Monate vor seinem Eintritt, die Fabrikantentochter Auguste Müller (1817–1894) aus dem Nachbarort Hückeswagen. Sein Bruder Friedrich I ehelichte vor seinem Eintritt Hermine Masthoff (1820–1868) aus Magdeburg.93 Engelbert zahlte Albert I eine Aussteuer von 10.500 Talern. Friedrich I erhielt 6.000 Taler, die ihm ebenfalls auf seinem Kapitalkonto gutgeschrieben wurden. Seine Tochter Caroline Louise (1826–1870) ging mit ihrem Großcousin Gustav Hardt 1845 aus der Duisburger Linie der Hardts eine eheliche Verbindung ein.94 Der vierte Sohn Engelberts, Richard (1824–1898), absolvierte mit 22 Jahren 1846 eine kaufmännische Ausbildung in Hamburg bei Geschäftspartnern von JW & S, dem Handelshaus Schemmann & Schulte. Das Ehepaar Schemmann gehörte auch zu den Freunden seines Vaters, der eine Patenschaft in der Familie Schemmann übernommen hatte.95 Die Schilderung der Ausbildung der Vertreter der dritten Generation aus dem Stamm Engelbert basiert auf den Briefen, die Richard im Jahr 1847/48 an seine Familie in Lennep schrieb. Über die Arbeit im Kontor in Hamburg, die Pflicht der Beziehungspflege schrieb er 1846 an seinen älteren Bruder Albert, „[…] dass ich nach meiner Rückkehr hier, stets mit so viel Arbeiten überhäuft gewesen bin, dass ich ausser gewissen Engagements in Familien, von denen man sich nicht ganz entschlagen darf, fast keinen Augenblick frei gewesen bin; seit meiner Rückkehr habe ich auf unserm Comptoir ebenfalls die Stelle des Cassierers übernommen, was besonders im Anfang des Jahres viel zu thun macht, zuweilen auch viele Sorgen verursacht, wenn man nicht mit der nöthigen Genauigkeit gearbeitet hat.“96 Er lernte im Kontor neben seiner Tätigkeit als Kassierer 90 Vgl. RWWA 122-200-5 zur Familie Rhodius und ihren familiären Verbindungen. 91 Vgl. RWWA 122-197-3; zur Familie Goldenberg vgl. auch Lenzen: Statistik (1802), S. 19. 92 Vgl. RWWA 122-285-6. Gesellschaftsvertrag, 1829/1830; zum Eintritt von Albert I 1840 vgl. RWWA 122-M1. 93 Vgl. von Wismar: Stammbaum (1979), S. 32 f. Hermine Masthoff war die Tochter von Conrad Masthoff (1780–1822) und Marie Rummel. Bei Auguste Müller handelte es sich um die Tochter von Johann Gottfried (1781–1845) und Marie Antoinette Müller (1793–1875), geborene Wuppermann. 94 Vgl. von Wismar: Stammbaum (1979), S. 25. 95 Vgl. RWWA 122-201-8. Richard Hardt – Briefe an seine Familie, 01.01.1846–30.03.1847. 96 Vgl. ebenda.

4.1 Vorbereitung im Nachfolgeprozess und Generationswechsel

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auch die für den Außenhandel bedeutenden Finanzierungsformen des Akzeptkredits97 wie auch die Probleme der Bonitätsbeurteilung von Handelspartnern sowie das Delkredererisiko, Abschluss zu guten Versicherungskonditionen, den rechtlichen Rahmen des preußischen Havarie- und Assekuranzrechts und den praktischen Abschluss von Versicherungsgeschäften im Außenhandel kennen. Während seiner Ausbildung war er in Korrespondenzen mit Fragen aus Lennep, z. B. zu der Versicherung des Brasiliengeschäfts sowie den Plänen seines Vaters, der mit einigen Tuchballen, die er nach Mexiko verschicken wollte, den dortigen Markt testete, konfrontiert und bereits in die familiären Entscheidungen mit eingebunden.98 Der Wegfall der portugiesischen und spanischen Vorherrschaft im Südamerikahandel, die Unabhängigkeit vieler Staaten und die Loslösung von Mexiko bot neue Marktchancen, da die südamerikanischen Märkte nicht mehr durch Spanien und Portugal kontrolliert wurden.99 Bei der Auswahl eines Versicherungspartners für die Brasilienexporte gab Richard seinem über zehn Jahre älteren Bruder Albert I, in dessen Ressort in Lennep die Versicherung des Auslandsgeschäfts gehörte, zu bedenken: „[…] eine Hauptfrage dabei ist auch, ob die Compagnie ausreichende Sicherheit gewährt und ob ihre Handlungsweise eine coulante ist“. Die Auswahl war so zu gestalten, dass „Ihr so jährlich ein bedeutendes spart“100. Er lernte mögliche sich z. B. aus der Veränderung von Zolltarifen ergebende Chancen im Handel einzuschätzen und sie 1846 für Mexiko und gegen andere wie politische Risiken im Absatzland abzuwägen: „die politischen Unruhen in diesem Lande sind, wenn die Häfen nicht von fremden Mächten blockiert werden, nicht von dauerndem Einfluss auf das Geschäft und ist eine solche Störung jetzt nicht zu befürchten“101. Die Frage, wie der Exporthandel zu organisieren sei, hatte sich zu einer der entscheidenden Fragen seit der Krise bei Hamburger und Bremer Zwischenhändlern infolge der amerikanischen Rezession Ende der 1830er herauskristallisiert.102 Seit dieser Zeit suchten die Hardts alternative Möglichkeiten des Vertriebs und die sich daraus ergebenden Einsparungspotenziale der Vermittlungsgebühren, aber auch die Umgehung des Risikos des Untergangs von Handelspartnern. Im 97 Vgl. zur Historie des Akzeptkredits Bernhard Benning/Günter Schmölders: Art. Akzeptkredit, in: dies. (Hg.): Enzyklopädisches Lexikon für das Geld-, Bank- und Börsenwesen, Bd. 1, Frankfurt/Main 1957, S. 45. Siehe auch Krüger: Kölner Bankiersgewerbe (1925), S. 116 f. Bei Akzeptkrediten werden die auf den Kreditnehmer gezogenen Wechsel mit zwei- bis dreimonatiger Laufzeit kurzfristig von Banken angenommen. So können Vorschüsse refinanziert werden. Im Vergleich zum Buchkredit konnte das Kapital beim Akzeptkredit 1/2–1 % unter dem offiziellen Wechselzinsfuß zum Privatdiskont aufgenommen werden. Die Provision betrug im Durchschnitt 1/3 % und lag über der für Buchkredite. 98 Vgl. RWWA 122-201-8. 99 Vgl. zur Öffnung der südamerikanischen Märkte Blumberg: Textilindustrie (1965), S. 42 f. 400. 100 Vgl. zum Brasilienexport ebenda; RWWA 122-201-8. 101 Vgl. ebenda. 102 Vgl. zu Organisation des Handels Blumberg: Textilindustrie (1965), S. 199; zur Entwicklung des amerikanischen Wollhandels mit den Zentren New York und Boston vgl. Arthur Harrison Cole: The American Wool Manufacture, Bd. 1, New York 1969, S. 211 f.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

Fall Mexiko war in der Familie Hardt alternativ zum Kommissionshandel eine eigene Präsenz im Absatzland im Gespräch.103 Hinsichtlich der in dieser Situation geeignetsten Vertriebsform schätzte Richard, dass der Vertrieb über Kommissionäre und deren bereits bestehende Verbindungen zu den hiesigen Kunden „ der geeigneste Weg ist, um möglichst rasch in dieses Geschäft hineinzukommen.“104 Als möglichen Handelspartner schlug er vor, Fr. Schneider & Co, eine Verbindung seines Ausbildungsbetriebs nach Vera Cruz, Mexiko, aufgrund ihres guten Kredits zu nutzen. Für den Handel mit Lima, ein weiteres nachweisliches Absatzgebiet, besorgte er die Verschiffung der Ware, die Einhaltung der englischen Maße und zwei Monate nach den ersten Anfragen von Lennep den Abschluss der Versicherung: „Die Assecuranz ist heute 2 % wie vorgeschrieben besorgt.“105 Der Vorteil der Konsignationslager lag in der Fixkostenersparnis für JW & S und der Etablierung eines Vertriebs, der die Kapitalbindung des Konsignateurs reduzierte, da die Ware in den ausländischen Tuchlagern im Eigentum der Fabrikanten verblieb. JW & S als Fabrikant finanzierte das Lager und entlohnte die Handelspartner gegen festgelegte Provision. Bei der Bestückung der Lager waren Fabrikanten auf die Einschätzung der Absatzchancen der Waren durch die Konsignateure angewiesen.106 Im Vorfeld verschickten sie Musterkarten mit Stoffproben an die Handelspartner, auf deren Basis sie ihre Bestellungen tätigten. Neben der praktischen Abwicklung von Geschäften finden sich auch erste Verbesserungsvorschläge für das familiäre Unternehmen, z. B. wie Musterkarten präsentiert werden sollten. Hier bemängelte er die fehlende Akuratesse der Lenneper in produktpolitischen Details. Er erwähnte einfache, aber effektive Mittel der Farbgestaltung: „dunkles Papier mit Golddruck und anderen Verzierungen. Brilliante Musterkarten erleichtern den Verkauf sehr und glaube ich fast, dass die Tuche, die sehr wenig Decke haben, dieser Erleichterung vielleicht bedurft hätten“, und bat um Erlaubnis, die Verkaufsförderungsmaßnahmen einleiten zu dürfen.107 Bereits im März wurde er bei Schulte & Schemmann mit dem Abschluss der Bilanzen betraut. Während seiner Hamburger Zeit wurde Richard über die Akkreditierung seines Vaters bei seinem Lehrbetrieb entlohnt. Für jede größere Anschaffung, z. B. den Kauf von zwölf Hemden für seine Amerikareise, legte er „als gehorsamer Sohn“ gegenüber seinem Vater mit der Beteuerung „und könnt ihr überzeugt sein, dass ich alles aufbieten werde um billig und gut anzukommen“ 103 Vgl. RWWA 122-201-8; zum Kommissionär vgl. Art. 360 AHGB, S. 114; § 394 HGB, S. 134. Die Haftung gegenüber Dritten für Verbindlichkeiten übernahm der Kommissionär für den Kommittenten (Auftraggeber) gegen eine Delkredereprovision. 104 Vgl. RWWA 122-201-8. 105 Vgl. ebenda. 106 Vgl. zu verschiedenen Absatzorganisationen im Handel und ihren Vorteilen, insb. des Kommissionshandels, Dünkel: Hasenclever (2005), S. 541 f. Als Nachteile verbleiben das Problem der Durchsetzung von Ansprüchen gegenüber Handelshäusern in Übersee und das Betrugsund Diebstahlsrisiko. 107 Vgl. zur Verbreitung von Musterkarten in den 1870er Jahren Hugo Ephraim: Organisation und Betrieb einer Tuchfabrik (Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Separatabdruck 6), Tübingen 1906, S. 41.

4.1 Vorbereitung im Nachfolgeprozess und Generationswechsel

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Rechenschaft ab.108 Durch Richard erhielten die Lenneper Informationen über das Marktgeschehen: „Nach den Berichten zu urtheilen, die ich über den Breslauer Wollmarkt vernommen habe, glaube ich, dass Euch dieses Resultat nur angenehm sein kann. Angenehm war es mit von Euch zu vernehmen, dass Ihr im Ganzen mit dem diesjährigen Geschäftsgang zufrieden seid und wünsch ich von Herzen, dass dieser Zustand fortdauernd werden möchte. Hier sieht es im Allgemeinen im Handel sehr traurig aus, da fast alle Unternehmungen in Colonial Produkten Verlust bringend sind. Diskonto schwankt zwischen 4 u. 5 %“109. Diese Berichte gingen ihnen aus erster Hand auf dem Postweg innerhalb von drei Tagen zu. Die Tätigkeit im Kontor erlaubte in den Sommermonaten kleine Reisen nach Kopenhagen, nach Helgoland zu den Schemmanns, zu denen Richard familiären Anschluss gefunden hatte. Über diese pflegte er auch die Verbindungen zu seinem Onkel Josua Hasenclever und seiner Frau Gertrude und mit deren engem Freund, dem Senator Dr. Schröder und seiner Familie, aber auch mit den Handelspartnern seines Vaters wie Herrn Strack.110 Während sich an Richards Lehrzeit gleich Praxiserfahrungen anknüpften, war sein Bruder, der drittälteste Sohn Engelberts, Heinrich (1822–1889) bereits 1845 nach New York geschickt worden, um die dortige Lage zu sondieren und Kontakte für ein eigenes Handelshaus der Hardts zu knüpfen. Heinrich war 1844/45 an Friedrichs I Stelle gerückt und hatte ein Gehalt von 100 Talern, dann 1.000 Taler und in den folgenden Jahren 1848/49 um 2.500 Taler erhalten.111 Nach einer kurzen Zeit der Eingewöhnung schrieb Richard über die dortige Marktentwicklung: „In Dry goods ist in diesem Monat weniger umgegangen, da wegen dem langen Ausbleiben der Paketschiffe die Lager schlechter sortiert waren, man erwartet deshalb noch ein gutes Geschäft im April. Man ist hier sehr bange, dass in Europa bei den Herbstaussendungen den hiesigen Bedarf überschätzt und dass zuviel Waaren den gehofften Nutzen sehr schmälern werden, doch dem mag sein wie ihm wolle, der blühende Zustand des hiesigen Landes wird bedeutend grössere Quantitäten Waare consumieren und die zu erwartende Überfüllung des Marktes nicht so nachtheilig als sonst fühlen lassen “. Die politische Lage schätzte er trotz des Krieges mit Mexiko positiv ein. Die Vereinigten Staaten befanden sich in einem „blühenden Zustand“, „die Schulden, die jetzt die Regierung contrahieren muss, sind auch kein Nachtheil.“112 Das saisonale Geschäft erlaubte es Richard, eine Reise nach Westen zu machen, um Land und Leute kennenzulernen.113 Die Entscheidung, ob ein Handelshaus gegründet werden sollte, musste nach Zusammenbrüchen Hamburger und Bremer Kommissionshäuser infolge des Exportrückgangs während der amerikani-

108 Vgl. RWWA 122-201-8. 109 Vgl. ebenda. 110 Vgl. ebenda; zu Fr. Strack & Co vgl. RWWA 122-0132. JW & S, Bilanzbuch, Lennep, 1850– 1871; zur Freundschaft Hasenclever-Schröder vgl. Hasenclever: Erinnerungen (1922), S. 20. 111 Vgl. zu Heinrich Hardt RWWA 122-0132; RWWA 122-285-6. Gesellschaftsvertrag, 1850. 112 Vgl. RWWA 122-201-8. 113 Vgl. ebenda.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

schen Rezession 1837114 gereift sein. Zu diesem Problem kam die Tatsache, dass bei JW & S seit Mitte der 1840er Jahre ein Überangebot an männlichen Führungskräften aus dem Stamm von Engelbert Hardt herrschte. Er hatte sechs Söhne. Um die Führungspositionen in Lennep selbst nicht überzubesetzen, wurde den Junioren ein Tätigkeitsfeld geboten, indem nach Richards Ankunft am ersten Juli 1847 das Handelshaus Hardt & Co New York mit einem Startkapital von 12.000 Dollar (17.142 Taler) gegründet wurde.115 Das Gründungskapital stammte von ihrem Vater, der 3,5 % seines eigenen Kapitals den Söhnen überließ. In den Anfangszeiten, in denen die Söhne Lehrgeld bezahlten, reagierte Engelbert nachsichtig und ermunterte zum Weitermachen. „Es tut mir zwar mit Euch leid, dass Ihr so viel Geld verloren habt, jedoch hab ich noch Vertrauen zu Euch und der Zukunft und bin zuversichtlich, dass euch der Verlust nur um so fleissiger und umsichtiger machen wird.“116 So wohnten sie in den ersten Jahren um 1850 noch sehr bescheiden in einem Boarding House in Brooklyn, das eine halbe Stunde vom Comptoir entfernt lag.117 Mit 28 und 26 Jahren heirateten die mittleren Söhne, Richard und Heinrich. Ersterer die Tochter des Inhabers seines Lehrbetriebes, Elise Schemmann (1828–1894), und der andere die des Landrats Emil von Bernuth, Ottilie.118 Die dritte Generation der Familie Hardt übernahm die Verantwortung bei JW & S nach dem Tod von Engelbert Hardt. Der „Dreier-Spitze“, bestehend aus Arnold Wilhelm I, Albert I und Friedrich I, stand bis 1854 F. W. Hasenclever als Senior zur Seite. Nach dem Generationenwechsel wurde die Leitung bei JW & S ab 1855 um Hermann I (1828–1895) zu einer Vierer-Konstellation erweitert. Über die Zuständigkeiten in der Unternehmensleitung bzw. aufgabenbezogen in der Unternehmensführung nach dem Tod von Johann Engelbert schrieb sein Enkel 1913: „Gemeinsam mit ihrem Vetter Arnold leiteten die Brüder Albert, Friedrich und Hermann die Lenneper Firma. Wenn auch die Ressorts keineswegs streng 114 Vgl. zur amerikanischen Rezession 1837 Reginald C. MacGrane: The Panic of 1837: Some Financial Problems of the Jacksonian Era, Chicago 1965, S. 43 f.; James Roger Sharp: Jacksonians Versus the Banks: Politics in the States After the Panic of 1837, Columbia 1970, S. 9 f.; Peter L Rousseau: Jacksonian Monetary Policy, Specie Flows, and the Panic of 1837, Cambridge 2000, S. 1. 115 Vgl. RWWA 122-251-9. Geschichte von Hardt & Co und Filialen, 1906. Die Umrechnung basiert auf dem Kurs ein Dollar = 1,43 Taler p. Ct., nach Christian Noback/Friedrich Noback: Vollständiges Taschenbuch der Münz-, Mass- und Gewichts-Verhältnisse, der Staatspapiere, des Wechsel- und Bankwesens und der Usanzen aller Länder und Handelsplätze, Leipzig 1850, S. 734; Schönert-Röhlk: Überseegeschäft (1978), S. 384. Mit der Eröffnung eines Tuchlagers in New York folgten Scheidts erst 1854. Remscheider Kaufleute waren bereits seit 1808 vor Ort. Josua Hasenclever hatte seit 1830 ein Verkaufsbüro in Rio de Janeiro. Vgl. Jung: Josua Hasenclever (1996), S. 172 116 Vgl. RWWA 122-250-7. Aufzeichnungen zur Geschichte Hardt & Co, zusammengestellt von Gustav Hardt,März 1934. 117 Vgl. RWWA 122-201-8. 118 Vgl. von Wismar: Stammbaum (1979), S. 33, 35; von Bernuth: Bernuth-Buch (1986), S. 49. Zum Eintritt von Fritz, dem jüngeren Bruder von Ottilie, bei Hardt & Co NY im Jahr 1862 vgl. von Bernuth: Bernuth-Buch (1986), S. 51.

4.1 Vorbereitung im Nachfolgeprozess und Generationswechsel

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voneinander geschieden waren, so ruhte doch auf Arnold als dem Aeltesten ein Teil der Repräsentation nach außen. Er machte außerdem den Einkauf der Wolle und traf auch Bestimmungen über die Verwaltung derselben, während Albert die allgemeine Leitung der Fabrik und Hermann die Leitung des Exports und die Repräsentation der Firma namentlich im überseeischen Geschäft in die Hand nahm.“119 Zwischen 1850 und 1855 wurden Gewinn und Verlust wie folgt verteilt: Aus der „Dreier-Spitze“ erhielten Albert und Arnold Wilhelm jeder 9/36, der jüngere Friedrich I 6/36, F. W. Hasenclever 4/36 und die Witwe Engelbert Hardt 3/36. Ab 1855 verzichtete die Witwe auf 3/36 zugunsten ihrer Söhne. Ihr Anteil und der von F. W. Hasenclever wurde auf die Söhne umgelegt, sodass die älteren und ihr Vetter jeweils 19/72 und der jüngste, Hermann I, 15/72 erhielt.120 Zu Beginn des Jahres 1854 betrug das Eigenkapital 1.332.908 Taler. Die Eigenkapitalquote von 88 % war seit 1850 um 7 % gesunken. Dies ist neben der ausgedehnten Geschäftstätigkeit auch auf die Erbfälle von F. W. Hasenclever und Johann Buchholz zurückzuführen.121 Die Witwen der beiden Teilhaber hatten deren Anteile übernommen und stellten nun gemeinsam bis 1857 ca. 50 %, anschließend um 40 % (bis 1867) des Eigenkapitals zur Finanzierung der nächsten Generation. Auf die Familie von Engelbert Hardt entfielen 66 %, auf Arnold Wilhelm Hardt, den Sohn von Johann Arnold jr. 26 % und auf die Witwe Buchholz 8 %. Innerhalb von 30 Jahren hatten sich die Eigentümerverhältnisse stark zugunsten des Familienstamms von Engelbert Hardt verschoben.122 Um sich im wandelnden Wettbewerbsumfeld weiter zu behaupten, wurde die Mechanisierung nach der Bestellung von zwei Jonvial-Turbinen der Firma Köchlin & Co aus Mühlhausen weiter fortgesetzt123 und die für die Maschinen notwendigen baulichen Erweiterungen vorgenommen. 1847 wurden 38 Webstühle der sächsischen Maschinenfabrik Compagnie Schönherr aus Leipzig zu je 250 Talern bestellt, eine zweite Turbinenanlage, Henschel-Jonvialturbinen, ersetzten ab 1854 die Wasserräder. Weitere Dampfmaschinen mit den dazugehörigen Dampfkesselanlagen wurden angeschafft.124 Auch die Konkurrenten von JW & S im Kreis Lennep mechanisierten ihre Anlagen. Auf die sieben größten Lenneper Textilunternehmen entfielen 308 Maschinenwebstühle sowie 270 Handstühle, von denen 259 in Lohnarbeit genutzt wurden.125 Das Lenneper Produktionsvolumen an schweren Tuchen und Buckskins belief sich auf 40.000 Stück jährlich mit einem Wert von drei Millionen Reichstalern, wobei ein Viertel der Gesamtproduk-

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Vgl. RWWA 122-199-10. Vgl. RWWA 122-0132; RWWA 122-205-10. Gesellschaftsvertrag, 1855. Vgl. ebenda. Vgl. ebenda. Vgl. RWWA 122-M1. Vgl. Ringel: Wirtschaft (1966), S. 65; RWWA 122-0132. Vgl. Böse: Wülfing (1948), S. 45; zum Mechanisierungsgrad vgl. Ringel: Wirtschaft (1966) S. 59.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

tion, 8.000–10.000 Stück, auf JW & S entfiel.126 Bis in die 1860er Jahre wurden 93 Webstühle, vier Selfaktoren, eine Trockenmaschine und Dampfmaschinen angeschafft und ein weiteres Stockwerk auf die Weberei aufgesetzt. Die Tuchfabriken um 1854 bezogen ihr Garn von den 20 mit insgesamt 28.000 Spindeln produzierenden Maschinenspinnereien, für die 1.022 Arbeiter tätig waren. In Lennep selbst gab es 36, in Hückeswagen 13 und auf dem Land 14 Tuchfabriken, die 119 mechanische und 519 Handwebstühle und insgesamt 1.931 Arbeiter beschäftigten. Daneben waren 32 Appretur-, Walk-, Press- und Scheranstalten mit 532 Arbeitern und 17 Färbereien angesiedelt, die selbstständig tätig waren. Bis 1865 beschleunigte sich der Mechanisierungsprozess, ohne die Handarbeit gänzlich zu verdrängen. Es gab noch mindestens 1.000 Handweber, die abwechselnd für verschiedene Firmen arbeiteten. Die Anzahl der mechanischen Webstühle verdoppelte sich auf 400. In der Spinnerei wurden 100 Assortimente127 eingesetzt, die über 40.000 Zentner Kolonial-Wolle verarbeiteten.128 In den 1860ern und 1870ern setzte sowohl auf der Dahlerau als auch in der Spinnerei in Lennep eine rege Bautätigkeit, begleitet von Grundstücksankäufen, ein. Eine Fabrikstadt enstand. In den Jahren 1867–1871 wurde das Hauptgebäude der Fabrik auf fünf Stockwerke erhöht und der erste Shedbau zwischen dem Fabrikgebäude und der Wupper gebaut.129 Das Hauptgebäude wurde um 25 Meter in der Länge in Richtung des Flusses Ülfe und 20 Meter in der Breite erweitert. Ein dritter Vorbau entstand auf der Frontseite. 1873/74 begann man mit dem Neubau der Färberei, um die Garne gemäß den Kundenwünschen auch farbig anbieten zu können. Eine Turbinenanlage am Südende des Gebäudes in 100 Meter Entfernung wupperaufwärts, eine 120 PS starke Zweizylinder-Schieberdampfmaschine aus Mülhausen und eine Woolf’sche Balancierdampfmaschine dienten zur Energieversorgung für die Shedbauten hinter der Fabrik. Die Baumaßnahmen bezogen sich nicht nur auf die Fabrik, sondern weiteten sich auf den Bau von Arbeiterwohnungen aus. Um qualifizierte Arbeitskräfte im Sinne einer „Werksfamilie“ an sich zu binden, bauten die Hardts Arbeiterwohnungen. Die Anlagen wurden um 1860 um zwei Wohnhäuser am Obergraben und eines in der Wupperstraße130 und 1868–1873 um drei Arbeiterwohnhäuser am Raderberg, ein Volksschul- und ein

126 Ringel beziffert die Produktion für 1810 mit 500 Stück und für 1840 mit 6.000 Stück Tuch. Vgl. Ringel: Bergische Wirtschaft (1966), S. 64; Sander Terstegen: Bekanntschaft mit feiner Gewandschaft: die Firma Johann Wülfing & Sohn, Remscheid-Lennep im Leben ihrer Zeit, Berlin 1954, S. 45. 127 Ein Assortiment bestand aus einem Krempelsatz mit dazugehörigen Spinn- und Hilfsmaschinen. Vgl. Ringel: Wirtschaft (1966), S. 65. 128 Vgl. ebenda. 129 Vgl. Zeit: Dahlhausen (1948), S. 59. 130 Vgl. RWWA 122-201-1. Lebenserinnerungen des Baumeisters Albert Schmidt. Siehe auch Gisela Schmoeckel: Betriebliche Fürsorge im 19. Jahrhundert am Beispiel der Firma Johann Wülfing & Sohn in Dahlerau und Remscheid-Lennep, in: Bergische Blätter 14 (1991), S. 8– 10, S. 9.

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Konsumvereinsgebäude, zwei Arbeiterwohnhäuser und zwei Direktoren- und Beamtenwohnhäuser erweitert.131 Die Webereibücher zeigen eine differenzierte Produktpalette. Neben den groben Stoffen, z. B. farbige Duffel und Doeskin mit 5.400 Kettfäden, wurden Satins mit 6.000–8.000 Kettfäden fabriziert und angeboten. Die Tuche erhielten als weiteres Differenzierungsmerkmal englisch und französisch klingende Fantasienamen wie Painbrulé, Lordgrey, Claret, Dehlia, Bouteillon, Corbean, Bayrisch-bleu und Bronce und wurden in den Webereibüchern fortlaufend nummeriert, ihre Qualität von den Meistern festgehalten.132 Es ist zu vermuten, dass die kaufmännischen Dispositionen über die Investitionen in das Ressort von Albert I fielen, die Entscheidungen über große Investitionen mit hoher Kapitalbindung aber von allen im Unternehmen involvierten Teilhabern gefällt wurden. Fritz I, der die technische Gesamtleitung der Tuchfabrik und der Spinnerei Dahlhausen innehatte, bereitete die bau- und maschinentechnische Umsetzung vor und betreute anschließend auch deren Ausführung. Hierbei arbeitete er seit Ende der 1860er Jahre mit dem Baumeister Albert Schmidt zusammen.133 Um auf dem neuesten Stand der Technik zu bleiben, regte Fritz I 1873 gegenüber dem Baurat Schmidt an: „Sie müssen unbedingt nach Wien zur Ausstellung [Weltausstellung; Anm.] reisen, um das Neueste auf dem Gebiete der Technik zu studieren, damit wir es hier verwenden können.“134 Die zweite Leitungsebene wurde unter anderem mit Personen aus dem Familienkreis besetzt, wie Fritz Goldenberg, ein Vetter der Söhne Engelberts, der ab 1860 Färbereileiter war.135 Für die Position der Direktoren wurden Familienexterne, wie Karl Pulvermacher für die Tuchfabrik, gefolgt ab 1870 von Otto Hoesterey aus Hückeswagen, 1868 Theodor Pokorny für die Spinnerei Dahlhausen und 1880 Hauschel für die neu errichtete Kammgarnspinnerei rekrutiert.136 Wie für ihre Vorgänger blieb für die „Vierer-Spitze“ der sich zwischen 1850 und 1861 erholende amerikanische Markt der umsatzstärkste Schlüsselmarkt. Richard von Hardt & Co und Hermann I drängten als „treibende Kräfte“ auf die Erschließung neuer Absatzgebiete, da die inländische Konkurrenz in Amerika stärker wurde.137 Hermann I war wie sein älterer Bruder Richard im Alter von 22 Jahren als Handlungsgehilfe in Hamburg tätig gewesen, wo er sich schon Ende

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Vgl. Zeit: Dahlhausen (1954), S. 59 f.; Schmoeckel: Fürsorge (1991), S. 9. Vgl. Böse: Wülfing (1948), S. 46. Vgl. RWWA 122-201-1; Zeit: Dahlhausen (1954), S. 45. Vgl. RWWA 122-201-1. Vgl. zu Fritz Goldenberg RWWA 122-197-3. Fritz Goldenberg (1830–1894) war der Sohn von Flora Hasenclever, der Schwester von Louise und F. W. Hasenclever. Vgl. zum Verwandtschaftsverhältnis der Familien Hasenclever und Goldenberg sowie zu einer Verbindung der Familien Hasenclever(-Loesch) und Goldenberg RWWA 122-225-8; RWWA 122-197-3. 136 Vgl. Böse: Wülfing (1948), S. 59, 69; RWWA 122-201-1. 137 Vgl. RWWA 122-285-6. Aufzeichnungen Engelbert Hardt, Berlin 1913.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

der 1840er aufhielt.138 Seit 1850 wurde er in der Bilanz von JW & S geführt und erhielt vor seiner Teilhaberschaft Zahlungen von bis zu 1.200 Talern als Salär. Wie seine Brüder Heinrich und Albert I heiratete auch Hermann I nicht fern der Verkehrskreise der Familie. Seine Braut Louise war die Tochter des Fabrikanten Adolph Bauendahl, dessen Familie wiederum Verbindungen zu den Rhodius’ aufwies und mit den Buchholz’ über fünf Grade verwandt war.139 1855, im Jahr seiner Hochzeit, trat Hermann I mit 27 Jahren bei JW & S ein. Von seiner Mutter erhielt er eine Aussteuer von 8.000 Talern und per Gesellschaftsvertrag eine Gewinnbeteiligung von 15/72, während seine zwei älteren Brüder und sein Cousin jeweils 19/72 zugewiesen bekamen.140 Die beiden im Außenhandel ausgebildeten Söhne Engelberts entwickelten sich als treibende Kräfte für die Erschließung neuer Absatzgebiete.141 Vorausschauend wurden gemeinschaftlich die seit Ende der 1840er Jahre bestehenden Geschäftskontakte nach Südamerika weiter aus- und ein Netz von Konsignationslagern an allen wichtigen Handelsplätzen in Südamerika, z. B. in Buenos Aires, Valparaiso, Lima und Rio de Janeiro, aufgebaut.142 Die Bilanzen von JW & S zeigen für die zweite Hälfte der 1850er Jahre die geografische Reichweite des Exporthandels und geben Anhaltspunkte über die Absatzorganisation über Konsignationslager. International agierend gehörte auch die Kalkulation von Fremdwährungsrisiken zu den Aufgaben der dritten Generation, denn aus diesen Transaktionen ergaben sich eine Vielzahl von Kontraktwährungen wie Dollar, britisches Pfund, holländischer Courant, Real, Rubel, Lira und Franken.143 Basierend auf dem 1854 in der Unterwasserstraße 6 in Berlin von Richard und Heinrich ursprünglich für den New Yorker Vertrieb gegründeten selbstständigen Einkaufshauses Hardt & Co wurde der Einkauf zentralisiert. In den 1850er Jahren wurde das Sortiment von JW & S erweitert, indem zugekaufte Waren in Form von À-meta-Geschäften unter der Leitung des auch als „merchant bank“ tätigen Handelshauses Hardt & Co Berlin exportiert wurden.144 Bei Hardt & Co wurden aus persönlich bekannten alteingesessenen Tuchmacherfamilien stammende Teilhaber aufgenommen, so in den 1850er Jahren zeitweilig Robert von Polheim145, bei

138 Vgl. RWWA 122-201-8; zu Hermanns Aufenthalt in Hamburg vgl. RWWA 122-228-13. Testament Caroline Buchholz, 26.02.1863. 139 Über die Schwester von Johann Buchholz (1775–1850), Johanna Maria Buchholz (1776– 1783), ergab sich ein Verwandtschaftsverhältnis fünften Grades zu Adeline Louise Buchholz, der Ehefrau des Fabrikanten Adolph Bauendahl. Die Tochter von Louise und Adolph, Louise heiratete Hermann Hardt. Die Schwestern von Louise Bauendahl, Auguste und Adele heirateten Albert und Robert Rhodius, Kousins von Hermann. So ergaben sich erneut Verbindungen zu der Familie Rhodius. Vgl. vom Berg: Familie Buchholz (1920), Tafel 2. 140 Vgl. RWWA 122-0132; RWWA 122-285-6. Gesellschaftsvertrag, 28.02.1855–1860. 141 Vgl. ebenda Aufzeichnungen Engelbert Hardt, Berlin 1913. 142 Vgl. ebenda; RWWA 122-251-9; RWWA 122-0132. 143 Vgl. ebenda. 144 Vgl. RWWA 122-251-9. 145 Vgl. ebenda; Ringel: Bergische Wirtschaft (1966), S. 63. Die Familie von Polheim gehörte zu denjenigen, die um 1805 ins Eupener Exil abgewandert waren. Als weiterer Teilhaber wird

4.1 Vorbereitung im Nachfolgeprozess und Generationswechsel

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Hardt & Co New York der Schwager von Heinrich, Fritz von Bernuth. Die Leitung von Hardt & Co wurde zwischen Heinrich und Richard koordiniert. Im DreiJahres-Wechsel hielten sich die Brüder abwechselnd in New York auf, um dann den Einkauf in Europa zu übernehmen. Richard war zuletzt 1856–59 und Heinrich 1860– 62 in New York. Die Funktion der beiden Teilhaber von Polheim bzw. von Bernuth schien die des zweiten Mannes vor Ort in Berlin und New York zu sein, während die Hardt-Brüder pendelten.146 In den 1850er Jahren standen die Hardts vor der Frage der Wachstumsfinanzierung bei gleichzeitiger Wahrung der Unabhängigkeit, die im Gesellschaftsvertrag zu einem der höchsten Ziele erklärt worden war, „weil wir gegenseitig Vertrauen zueinander haben, daß ein Jeder von uns das Interesse der Witwe wie sein eigen wahren werde und weil wir nicht wollen, daß dritte Personen, es seien Verwandte, Vormünder oder Behörden, kurz solche welche nicht wirklich Theilhaber sind, Einsicht in die Bücher und Geschäftsführung nehmen und Einfluß darauf ausüben.“147 Abbildung 5 a zeigt einen typischen Verlauf von Eigenkapital- und Bilanzsummenentwicklung im Zeitraum von 1823–1870 mit einer sich seit Mitte der 1840er Jahre andeutenden Wachstumsschere, die bei JW & S auf Kapitalbedarf für die Finanzierung des Exports, der Bautätigkeit und von Anlage- und Gebäudeinvestitionen beruhte. Die Herausforderung bestand darin, die Ausweitung der Geschäftstätigkeit, die sich, gemessen an der Bilanzsumme in den 1850ern jährlich durchschnittlich um 6 %, im Zeitraum von 1855 bis 1857 sogar um 9 % ausdehnte, während einer Zeit der personellen Zäsuren zu finanzieren. Die sinkende Eigenkapitalquote weist auf diese Entwicklung hin. Innerhalb von 20 Jahren sank die durchschnittliche Eigenkapitalquote mit 97 % in den 1840er Jahren in den 1850er Jahren zeitweilig auf 76 % in den 1860er Jahren ab und blieb in den 1870er Jahren konstant bei 76 % (vgl. Tab. 4).148 Dass sich eine Wachstumslücke im Eigenkapital aus realwirtschaftlichen Gründen auftat, geht auch aus der Analyse der Gewinnentwicklung und des Reinvestitionsverhaltens auf Unternehmensebene (aller Gesellschafter) hervor, bei denen keine regelmäßigen Überentnahmen und eine daraus folgende Abschmelzung des Eigenkapitals festgestellt werden können. Als ein Jahr singulärer Überentnahmen ist 1855 zu nennen, in dem Engelberts Witwe Louise ihrer Tochter einen größeren Betrag schenkte. In den Jahren schlechterer Gewinnlage schlugen solche Transfers besonders auf die Eigenkapitaldecke durch.149

146 147 148 149

Robert von Polheim genannt. Ein Gesellschaftsvertrag von Hardt & Co liegt nicht vor; in den ab 1878 vorhandenen Bilanzen taucht dieser nicht auf. Vgl. RWWA 122-250-7; RWWA 122-285-6. Gesellschaftsvertrag, 1855; RWWA 122-251-9. Vgl. RWWA 122-285-6. Gesellschaftsvertrag, 1855. Vgl. RWWA 122-0132. Vgl. ebenda. Die Bilanz von 1858 weist eine Zahlung von Louise Hardt, Witwe von Engelbert Hardt, an ihre Tochter Caroline von 63.092 Talern sowie eine Zahlung an ihren Schwiegersohn Gustav von 100.000 Talern auf. In den folgenden Jahren sind in der Bilanz keine Zins- und Tilgungszahlungen für die beiden genannten Beträge eingegangen.

118 Abb. 5 a

4. Die Unternehmen der Familie Hardt

Bilanzsumme, Eigenkapital 1823–1871

Quelle: RWWA 122-M1; RWWA 122-0132.

Abb. 5 b

Gewinnentwicklung bei JW & S 1824–1871

4.1 Vorbereitung im Nachfolgeprozess und Generationswechsel

Abb. 6

Eigenkapitalquoten JW & S 1824–1871

Abb. 7

Reinvestitionsquoten JW & S 1824–1871

119

Quelle: RWWA 122-M1; RWWA 122-0132.150

Da das Unternehmenswachstum nicht gänzlich über eigene Mittel finanziert werden konnte, wurden ab 1857 vermehrt kurzfristige Kredite bei den Hausbanken Herstatt, von der Heydt-Kersten & Söhne und bei A. Schaaffhausen aufgenommen. Die jährlichen Gesamtkreditvolumina rangierten zwischen 35.000 und 135.000 Talern und wurden bis Anfang der 1860er Jahre wieder zurückgeführt.151 150 Vgl. RWWA 122-M1. Die Bilanz vom 01.06.1829 enthält keinen Gewinn- oder Verlustausweis. 151 Vgl. RWWA 122-0132.

120

4. Die Unternehmen der Familie Hardt

Die durchschnittlichen Wachstumsraten der Bilanzsumme, des Eigenkapitals und die durchschnitte Eigenkapitalquote in den jeweiligen Jahrzehnten sind in folgender Tabelle zusammengefasst. Das Eigenkapital, das ab 1868 auch Bestandteile der späteren Hardt, Pokorny & Co KG und sich ab 1881 aus Einlagen in der Kammgarnspinnerei Lennep speiste, wuchs exponenziell. Die Eigenkapitalrenditen beziehen sich auf JW & S und enthalten ab 1868 die (anteiligen) Ergebnisse der späteren Hardt, Pokorny & Co KG und der Kammgarnspinnerei. Tab. 4

Durchschnittliche Wachstumsraten Bilanzsumme, Eigenkapital und Eigenkapitalquote JW & S OHG 1824–1910

Jahr

Jährliches Wachstum Bilanzsumme

Jährliches Wachstum Eigenkapital152

EK-quote arithm. Mittel

2. Generation 1824–1829

6,22 %

5,69 %

97,0 % (6 Jahre außer 1828/29)

1830–1839

8,00 %

8,84 %

81,0 % (außer 1836/37)

1840–1849

5,86 %

6,09 %

96,5 %

3. Generation 1850–1859

5,68 %

3,31 %

87,0 %

1860–1869

7,71 %

12,99 %

76,0 %

1870–1879

1,24 %

3,69 %

76,0 %

1880–1889

5,48 %

4,25 %

87,2 %

1890–1899

4,03 %

-10,42 %

1900–1909

-0,01 %

0,62 %

ab 1895 4. Generation 68,0 % (60,0 % nur Lennep) 37,0 %

Quelle: RWWA 122-M1; RWWA 122-0132; RWWA 122-0131; RWWA 122-0133.

Die langfristige Gewinnentwicklung von JW & S, die von der Umstellung auf Fabrikantenhandel getragen wurde, gab den Hardts, insbesondere Richard und Hermann I Recht. Wurden 1859 noch 49 % der Wollwarenexporte über Hamburger und Bremer Häuser vermittelt, so waren es 1864 noch 27 %.153 Zwar reduzierte sich die Abhängigkeit vom nordamerikanischen Markt, das Geschäft war aber zunehmend von den politischen Risiken in den südamerikanischen Absatzgebieten abhängig.154

152 Die Wachstumsraten ab 1868 beziehen sich auf das Totalkapital, das das Eigenkapital der Tuchfabrik nicht isoliert abbildet, sondern die Eigenkapitalanteile der JW-&-S-Teilhaber an der Spinnerei Dahlhausen, der späteren HP & Cie KG und die an der Kammgarnspinnerei mit einbezieht. 153 Vgl. Blumberg: Textilindustrie (1965), S. 249. 154 Vgl. zu Schießerei und Lagerbrand RWWA 122-250-7.

4.1 Vorbereitung im Nachfolgeprozess und Generationswechsel

121

Hatten die Hardts in der zweiten Generation begonnen, die Produktion zu mechanisieren, so integrierte die dritte Generation die Produktionsprozesse und machte die Ausweitung und Veränderung der Absatzorganisation zu ihrer Aufgabe. Trotz des Verlusts an der Börse155 erwarb die Familie 1862 das Kontor des Fabrikanten Bauendahl in der Schwelmer Straße und Grundbesitz in der Kölner Straße, wohin 1862 das Woll- und Tuchlager verlegt wurde. Durch den Eisenbahnanschluss von Lennep im Jahr 1867 konnte die gute Verkehrsanbindung für den Warenversand genutzt werden.156 Im Jahr 1866 wurde die leerstehende Bauendahl’sche Fabrik in Dahlhausen für 52.050 Taler erworben, um auf dem Gelände eine Streichgarnspinnerei einzurichten.157 Deren Anzahl hatte sich von 1846 bis 1861 im Rheinland um 22 % auf 208 Spinnereien und die der Webstühle auf 9.717 ausgeweitet.158 Der Standort war aufgrund der baulichen Substanz des in den 1820er Jahren von Bauendahl dort errichteten dreistöckigen Baus von 75 Metern Länge gut geeignet. Um 1855 wurde der Betrieb aufgrund eines Bruderzwistes der Brüder Bauendahl stillgelegt. Dieser Streit der Söhne Adolf Bauendahls, Adolf der Jüngere und Heinrich, die das Familienunternehmen nicht weiterführten, eröffnete den Hardts sogar erst die Chance, die Spinnerei zu erwerben.159 Noch bevor die Streichgarnspinnerei fertig umgebaut war, wurde die Produktion 1867 wieder aufgenommen. Als die bauendahlsche Fabrik im Dezember 1866 erworben wurde, spielte neben der expansiven Strategie der Hardts, wie eine Generation zuvor auch, die Etablierung eines Tätigkeitsfelds für die zweitgeborenen Söhne von Fritz und Arnold Wilhelm Hardt, Robert (1831–1908) und Rudolf (1846–1926), eine Rolle, auf die im folgenden Gliederungspunkt genauer eingegangen wird. Als Direktor übernahm Theodor Pokorny, Sohn eines Spinnereibesitzers aus Schlesien,160 eines der Wettbewerbsgebiete der bergischen Textilindustrie, die Leitung vor Ort. Bis dato lagen bei den Hardts keine praktischen Erfahrungen vor, wie Prozesse einer Streichgarnspinnerei industriell organisiert wurden. Somit besaßen sie weder in der Streichgarnproduktion noch im Streichgarnvertrieb eigenes Know-how. Pokorny war der „Vierer-Spitze“ unterstellt.161 Er sollte den „Geschäftsbetrieb des neuen selbständig arbeitenden Geschäftes 155 Vgl. RWWA 122-0132. 156 Vgl. zum Lenneper Eisenbahnanschluss RWWA 122-210-1. 157 Vgl. RWWA 122-258-18. Kaufvertrag Dahlhausen, 1866. Zu Adolph Bauendahl, der das Gelände zwischen 1812 bis 1830 aufgekauft und zunächst gemeinsam mit Peter Schürmann & Schröder produziert hatte, vgl. Ringel: Wirtschaft (1966), S. 63 f. 158 Vgl. Blumberg: Textilindustrie (1965), S. 400. 159 Vgl. Böse: Wülfing (1948), S. 47. Adolf Bauendahl errichtete eine Fabrik in Elstal bei Luckenwalde, sein Bruder Heinrich eröffnete ein Bankgeschäft in Köln. Vgl. hierzu Ringel: Wirtschaft (1966), S. 63. 160 Vgl. zur schlesischen Textilindustrie Blumberg: Textilindustrie (1965), S. 400 f. 1841 und 1861 lag die Rheinprovinz hinsichtlich der Zahl der Webstühle und der Feinspindeln vor Schlesien. Bei Albert Marx: Die Kammgarn- und die Streichgarnspinnerei. Eine Gegenüberstellung der beiden Hauptzweige der Wollindustrie, Diss. Leipzig 1927, S. 32, findet sich ein Vergleich für Brandenburg-Schlesien und Rheinland/Bergisches Land. 161 Vgl. RWWA 122-201-1.

122

4. Die Unternehmen der Familie Hardt

einrichten und betreiben sowie den Ein- und Verkauf besorgen“162. So lautete seine Stellenbeschreibung. Von Baumeister Schmidt zusammengefasst: „er musste spinnen und das Resultat auch verkaufen“. Nach Schmidts Einschätzung war Pokorny „der leitende Geist bei allen Unternehmungen und Wandlungen des Geschäftes“163. Seine Entscheidungsbefugnis war jedoch beschränkt. Bei Budgetfragen bzw. bei großen Investitionen stimmte er sich mit den Eigentümern ab. Mit Senior Fritz I hatte er täglichen Kontakt, da zu dessen Aufgabenbereich die Überwachung der bautechnischen Arbeiten gehörte.164 Bei der Entlohnung von Pokorny fällt auf, dass er neben seinem Fixgehalt einen gewinnabhängigen Gehaltsbestandteil in Form einer 10%igen Gewinnbeteiligung erhielt, der von ihm im Unternehmen auf seinem Kapitalkonto gegen eine 4%ige Verzinsung stehengelassen wurde.165 Auch für die zweite Leitungsebene schien die Investition in das Unternehmen des Arbeitgebers verbreitet zu sein. Als weiteres Beispiel sei der Färbereileiter Fritz Goldenberg, der zu den Erben von F. W. Hasenclever gehört hatte, genannt.166 Im Folgenden wird die wirtschaftliche Entwicklung der Spinnerei Dahlhausen, zunächst als Unternehmung der JW & S OHG geführt167, anhand von Bilanzen von JW & S und der Spinnerei bis zu ihrer Umwandlung in die Kommanditgesellschaft Hardt, Pokorny & Cie, die von der vierten Generation weitergeführt wurde, bis 1884 nachvollzogen. 1866 wurde die Spinnerei mit 78.551 Talern in der Bilanz von JW & S aktiviert. Die Bilanzsumme wies für den Zeitraum bis 1884 ein rasches Wachstum der Geschäftstätigkeit von 1868 mit 460.834 Talern um etwa das 7,54 fache auf 3.475.355 Mark auf. In der Zeit, in der sich die Bilanzsumme reduzierte, wurde die KG gegründet und die Haftung der Einlage von JW & S beschränkt. Ferner ist für 1872–1884 unter Pokornys Leitung, später unter Mitwirkung der Söhne von Fritz I und Arnold Wilhelm I eine Steigerung des Eigenkapitals um das Zweieinhalbfache feststellbar.168 Die Finanzierungsquote der Bilanzsumme der Seniorteilhaber ging von 72 % 1884 bis 1885 um 26 % zurück. In der Spinnerei wurden in den 1870er und 1880er Jahren durchschnittlich 7–9 % des bei JW & S ausgewiesenen Totalkapitals gebunden, das zu 5 % statt zu 4 % verzinst wurde. Die Zinsdifferenz sowie der auf die Seniorteilhaber der „Vierer-Spitze“ anfallende Gewinnanteil wurden an diese abgeführt und auf ihren Kapitalkonten bei JW & S

162 163 164 165

Vgl. ebenda. Vgl. ebenda. Vgl. ebenda. Vgl. RWWA 122-253-13. Hardt, Pocorny & Co. Firmenstatistik 1898–1936; RWWA 122253-17. Bilanz Spinnerei Dahlhausen 1872–1898. 166 Vgl. RWWA 122-0132. Auch Fritz Goldenberg verfügte über ein Kontokorrentkonto bei JW & S. 167 Vgl. RWWA 122-0132. Die Geschäftstätigkeit der Spinnerei Dahlhausen floss von 1868 bis 1872 über das Konto Dahlhausen in die Bilanz von JW & S mit ein. 168 Vgl. RWWA 122-253-17.

4.1 Vorbereitung im Nachfolgeprozess und Generationswechsel

123

gutgeschrieben.169 Somit hatten der mittlerweile 38 Jahre alte Rudolf, der fünf Jahre jüngere Robert und Direktor Pokorny für das Kapital von JW & S eine Verzinsung von 5 % erwirtschaftet. Da sich die Spinnerei bis auf die Jahre 1876, 1885 und die Krisenjahre 1890/94 gemessen an den Gewinnen vorteilhaft entwickelte, wie Abb. 8 zeigt, konnte dieser gegenüber den älteren Brüdern höhere Kapitaldienst erbracht werden. Die Bilanzsumme verringerte sich seit 1877 mit 5,4 Mio. Mark auf 1884 3,48 Mio. Mark um 35 % und pendelte sich 1885–1898 bei 2,8 Mio. Mark ein.170 Diese Entwicklung hatte der Großbrand vom 12.12.1880, bei dem das Werk Dahlhausen mitsamt den Spinnereimaschinen, die eine Tagesleistung von 3.000 kg besaßen, unterbrochen. Der Schaden betrug 1,2 Millionen Mark.171 Nach dem Wiederaufbau, der an den Brand der Tuchfabrik von 1837 erinnerte, konnte die neue Spinnerei am zweiten Mai 1881 wiedereröffnet werden. Bereits im Juni brannten Wäscherei, Sortiererei und Trocknerei erneut ab. Nach dem Brand wurden Abschreibungen in der Bilanz von 1883 454.212 Mark notwendig.172 Abb. 8

Gewinn Spinnerei Dahlhausen/HP & Cie KG 1868–1898

Quelle: RWWA 122-253-17.

Das Unternehmen, das für die jüngsten Söhne vorgesehen war, wurde wieder aufgebaut und der Export des Stammhauses weiter forciert. Betrug die Bilanzsumme von JW & S zu Beginn der 1860er 2,12 Mio. Taler, war sie Anfang der 1870er bereits auf 4,457 Mio. Taler, bei einer Zunahme im Zehnjahreszeitraum 1860– 169 Vgl. RWWA 122-0132; RWWA 122-131. An dem Gewinnanteil war die Vierer-Spitze zu je einem Viertel beteiligt. 170 Vgl. RWWA 122-253-17. 171 Vgl. Zeit: Dahlhausen (1954), S. 52. 172 Vgl. RWWA 122-253-13.

124

4. Die Unternehmen der Familie Hardt

1869 von 103 % gestiegen. Die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate lag bei 7,71 %. Im folgenden Jahrzehnt von 1870–1879 weitete sich die Bilanzsumme jährlich um 1,24 % aus. Der Gewinn entwickelte sich 1861–62 und 1866 rückläufig.173 Das Eigenkapital nahm im Zeitraum von 1860 bis 1869 von 1.784.458 Talern auf 2.903.148 Taler bei einer jährlichen Wachstumsrate von 12,99 % trotz zweier Veränderungen bei den Eigenkapitalgebern zu. 1871, einige Jahre nachdem die Witwe Buchholz und die von Engelbert Hardt todesbedingt ausgeschieden waren, verteilte sich das Eigenkapital auf die einzelnen Familienmitglieder und Familienstämme wie folgt: Auf die Linie von Johann Arnold jr. entfielen 33 %, während die Linie von Engelbert Hardt 67 % des Totalkapitals der Tuchfabrik und der Spinnerei auf sich vereinigte. Bei der Spinnerei hielt jeder der „Vierer-Spitze“ 25 % des auf sie entfallenen Eigenkapitals von 142.302 Talern. Gemeinsam waren die beiden Witwen im Zeitraum von 1850 bis 1863/67 mit durchschnittlich 40 % des Eigenkapitals die Hauptkapitalgeberinnen für die Vertreter der dritten Generation der Familie Hardt gewesen.174 Durch die rasche Ausweitung der Geschäftstätigkeit, mit der das Eigenkapital nicht Schritt halten konnte, sank die Eigenkapitalquote von 77 % auf 65 % im Zeitraum von 1860 bis 1869. Allein durch das durch die Gesellschafter eingebrachte Eigenkapital gelang es somit nicht mehr, das Wachstum des Unternehmens im Rahmen der Selbstfinanzierung zu bewerkstelligen, wohl aber ergänzend durch Familiendarlehen. Diese Darlehen speisten sich aus den Einlagen nicht eintrittsberechtigter Erben, wie z. B. Lina Hardt, aus den angeheirateten Familien wie den Hasenclevers und den Goldenbergs.175 Die Bedeutung der Bankkredite innerhalb des Fremdkapitals nahm ab 1861 wieder ab, die sich zudem weiter auf die bereits bekannten Banken von der Heydt-Kersten & Söhne, A. Schaaffhausen, I. D. Herstatt sowie als neue Bankverbindung auf den Barmer Bankverein und die Disconto-Gesellschaft verteilten. Abhängigkeiten von einem Institut wurden gezielt vermieden. Die Positionen wurden zügig zurückgeführt.176 Seit Ende der 1850er Jahre und ab 1865 ist eine kontinuierliche Ausweitung der Kontokorrentguthaben im Zuge des wachsenden gemeinsamen als À-meta-Geschäft177 konzipierten Exportgeschäfts feststellbar. Sie wurden von Hardt & Co bis 1862 bevorschusst und von den angebundenen ausländischen Vertriebsfirmen wie Hardt & Co Verviers und z. B. Hardt & Co New York abgewickelt. Bis 1869 stieg diese 173 Vgl. RWWA 122-0132. 1861 betrug der Gewinn weniger als 9.000 Taler und 1862 war das erste Verlustjahr mit 70.000 Talern. Die Verluste um 1866 waren durch das Südamerikageschäft bzw. die dortigen Unruhen verursacht. Vgl. Blumberg: Textilindustrie (1965), S. 279. 174 Vgl. RWWA 122-0132. 175 Vgl. RWWA 122-0132. In den Bilanzen finden sich als langjährige Fremdkapitalgeber die Hasenclever-Schwestern von 1854–1873, die Verwandten Marie und Friedrich Goldenberg sowie aus der Reihe der Angestellten Emil Nacke, Zurhellen und Schuckard. Vgl. zum Verwandtschaftsverhältnis von Hasenclever-Loesch und Familie Zurhellen RWWA 122-197-3; sowie Böse: Wülfing (1948), S. 59. 176 Vgl. RWWA 122-0132; zu den Filialgründungen von Hardt & Co vgl. RWWA 122-251-9. Bei den angegebenen Wachstumsraten handelt es sich um geometrische Mittel. 177 Bei À-meta-Geschäften handelt es sich um Partizipationsgeschäfte.

4.1 Vorbereitung im Nachfolgeprozess und Generationswechsel

125

Position auf 943.776 Taler, was einem Fremdkapitalanteil von 60 % entsprach. Die Fremdkapitalquote lag zwischen 25 und 30 %.178 Seit den 1850er Jahren begann sich der geografische Schwerpunkt der Absatzgebiete des Fabrikgeschäftes von Nord- nach Südamerika zu verschieben. Damit blühte das vor allem mit Hardt & Co betriebene Exportgeschäft mit zugekauften Waren auf. Die Organisation des Handels und die hierfür bemühten Verbindungen können vor 1865 anhand der Außenstände in den Konsignationslagern und ab 1865 in der Gewinn- und Verlustrechnung von JW & S nachvollzogen werden. Neben den Kennzahlen Gewinn und Umsatz finden sich ab 1865 Steuerungsgrößen in den Bilanzen wie die Umsatzrentabilität und Kapitalverzinsung für die Konsignationslager.179 Nordamerika, das mit eigenen Fabrikaten (Fabrikgeschäft) über Hardt & Co New York beliefert wurde, war bis in die 1870er Jahre absolut betrachtet umsatzstärkstes Absatzgebiet. Während des amerikanischen Sezessionskrieges ab 1861 kauften Hardt & Co und JW & S die verfügbaren Bestände an Tuchen in Lennep auf und begegneten so der in Amerika kriegsbedingt gestiegenen Nachfrage. Der Sohn des Fabrikanten und Lenneper Wettbewerbers Schürmann & Schröder hielt in der von ihm verfassten Chronik fest, dass die Hardts handelten, während sein Vater und sein Onkel zauderten.180 1865 entfielen 52 % des Umsatzes mit eigenen Fabrikwaren auf Nordamerika, bereits 17 % auf Latein- und Südamerika und 10 % auf Deutschland.181 Die Feststellung eines amtlichen Berichts um 1865 – „der amerikanische Export ist fast ganz verloren gegangen infolge der Konkurrenz mit den neuen amerikanischen Fabriken und durch die Verarmung des Südens, dessen Konsumkraft infolge des verlorenen Krieges bedeutend geringer geworden ist, was sich vor allem am Fehlen jedes Bedarfes an feinen Tuchen bemerkbar macht“182 – ist für JW & S nicht haltbar, wohl aber, dass die umgesetzten Volumina aufgrund erstarkender Konkurrenz in den USA sanken. Die Umsatzrentabilität, die in den Jahren 1865/66 8–9 %, zwischenzeitlich im Jahr 1867 17 % betrug, pendelte sich 1871 erneut im einstelligen Bereich mit 8 % ein.183

178 Vgl. ebenda. Die Fremdkapitalquote betrug in den 1860er Jahren zwischen 25 % und 30 %. 179 Vgl. ebenda. Bei dem Fabrikgeschäft wurde die Umsatzrentabilität netto nach Kosten in den Bilanzen ausgewiesen. 180 Vgl. RWWA 122-302-5. Peter Schürmann Schröder – Auszug aus der Firmenchronik 1900; zur Bedeutung des amerikanischen Bürgerkriegs 1861–1865 für Hardt & Co vgl. RWWA 122-251-9, sowie Blumberg: Textilindustrie (1965), S. 248. 181 Vgl. RWWA 122-0132. 182 Vgl. „Aus einem amtl. Bericht“, zit. nach Böse: Wülfing (1948), S. 49. 183 Vgl. ebenda; RWWA 122-0131. JW & S, Bilanzbuch, Lennep, 1872–1889.

126

4. Die Unternehmen der Familie Hardt

Abb. 9 a

Umsatzentwicklung Nord-/Südamerika im Fabrikgeschäft mit eigenen Waren 1865–1903

Abb. 9 b

Umsatzrentabilität Nord-/Südamerika im Fabrikgeschäft 1865–1903

Quelle: RWWA 122-0132.

Maßgeblich wurde die Rentabilität durch die amerikanischen Zölle, die Ende der 1860er 60–100 Prozent des Warenwerts betrugen, gemindert.184 In den folgenden Jahrzehnten waren die Umsatzrentabilitäten im Nordamerikageschäft mit Fabrikwaren volatil und lagen, wie Abb. 9 b zeigt, sowohl im ein- als auch zweistelligen Bereich. Darüber hinaus war das Fabrikgeschäft nicht nur in Nordamerika, son184 Vgl. RWWA 122-0132. Zu Zolltarifen vgl. Blumberg: Textilindustrie (1965), S. 274, 275; Böse: Wülfing (1948), S. 48.

4.1 Vorbereitung im Nachfolgeprozess und Generationswechsel

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dern auch in Deutschland, Italien, Frankreich und Holland und bei den Südamerikaumsätzen rückläufig, während das Geschäft mit zugekauften Waren wuchs. Die Hochkonjunktur im Fabrikgeschäft bei JW & S führt Schönert-Röhlk (1978) auf die kriegsbedingte Nachfrage zurück, die sich mit Beruhigung der politischen Lage wieder glättete. Dies erklärt die Abkühlung des boomenden Handels mit Fremdwaren und einem Einpendeln des Umsatzes bei 1,1 Mio. Mark zu Beginn der 1870er Jahre.185 Wie schon unter Engelbert wurde im Absatzgebiet über Konsignateure, im Fall der „Vierer-Spitze“ über Hasenclever in Rio de Janeiro (HHR), Hollweg & Scheele und Strack & Co verkauft. Zu den ersten beiden bestanden familiäre Verbindungen. Seit 1862 begannen Richard und Heinrich und die Lenneper von JW & S Vertretungen in Buenos Aires zu etablieren, darunter Rhodius & Co für den Wollhandel.186 Mit der Familie Rhodius war man seit mehreren Generationen familiär verbunden. In Valparaiso wurde mit der persönlich bekannten und aus Lennep stammenden Familie Fuhrmann187 und Fischer & Co zusammengearbeitet.188 Als nächster Schritt im Aufbau eines internationalen Handelsnetzes wurden in Gebieten hoher Umsatzrentabilität und besserer Eigenkapitalrenditen Kommanditbeteiligungen eingegangen und 1871 in Buenos Aires und Valparaiso, 1875 in Rio Grande und um 1872 in Lima Vertretungen mit Kapitaleinlagen von 400.000 Mark, 375.000 Mark und 30.000 Mark errichtet.189 1877 gründeten die Hardts die in Südamerika kommanditierten Handelshäuser um. Die Firmen wurden in Lima in Hardt & Voigt, in Valparaiso in Hardt & Vermehren und in Buenos Aires in Hardt, Koch & Co umbenannt, daneben wohl auch Kommanditanteile von Th. König & Co in Buenos Aires, Pfeiffer & Thiele in Valparaiso und Redlich in Lima gehalten.190 Die Niederlassungen in Lyon und Verviers, die erst 1863 eingerichtet worden waren, wurden bereits Anfang der 1870er wieder geschlossen, da der Umsatzanteil zu gering war.191 Zwischen 1873 und 1875 wurden z. B. nur etwa 8–12 % des gesamten Fremdgeschäfts (1873–1875 durchschnittlich 2 Mio. Mark pro Jahr) über Verviers und aus seiner Umgebung bezogen.192 Betrachtet man den Export sowohl von Fabrikwaren als auch von zugekauften Waren, wurde der Schwerpunkt der Handelsaktivitäten auf Südamerika verlegt. Gleichzeitig wurden neue Marktchancen in Brasilien, Chile oder Argentinien genutzt. Eine

185 Vgl. Schönert-Röhlk: Überseegeschäft (1978), S. 389; RWWA 122-0132. 186 Vgl. RWWA 122-200-5; RWWA 122-250-7. 187 Vgl. Genzmer: Fuhrmann (1935), S. 31. Der Woll-Lederwaren- und Tuchhandel der Familie Fuhrmann bestand seit 1735 in der Hermannsmühle bei Lennep. 188 Vgl. RWWA 122-251-3. Notizen zur Geschichte der Südamerika-Filialen, o. D. 189 Vgl. RWWA 122-0131. Die Kapitaleinlage in Lima wurde 1875 nicht angegeben. Die Aufteilung des Kommanditkapitals sowie die Entwicklung der Eigenkapitalrendite im Zeitverlauf partiell für die vier Engagements sind den Bilanzen nicht entnehmbar. 190 Vgl. ebenda, insb. die Bilanz v. 31.12.1880; RWWA 122-251-9. 191 Vgl. ebenda. Zu den geringen Umsätzen mit Fabrikwaren in Verviers, der z. B. im Jahr 1865 nur 198 Taler betrug, vgl. RWWA 122-0132. 192 Vgl. Schönert-Röhlk: Überseegeschäft (1978), S. 387. Über die Volumina, die über Verviers an Fremdwaren eingekauft wurden, geben die Bilanzen keine Auskunft.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

wichtige Präsenz sowohl im Eigen- als auch im Fremdgeschäft bildete ergänzend zu der Präsenz über Hardt & Co und bei Neueintritt in andere Gebiete weiterhin der Auftritt über Konsignateure im Absatzgebiet, die gegen Provision arbeiteten.193 Als jüngster der Senior-Teilhaber reiste mit 38 Jahren 1866 Hermann I als Sonderbeauftragter nach Lima, um sich am Hauptumschlagplatz der chilenischen Westküste ein Bild über seine Tauglichkeit für ein größeres Engagement vor Ort in Form einer Filiale zu machen. Mit der Leitung des dann kommanditierten Handelshauses wurde 1872 der Lenneper Hermann zur Hellen betraut.194 Hermann I übernahm bis 1885 den Einkauf von Tuchen und sonstigen Textilien in Lennep, der 1885 nach Berlin verlegt wurde. Die Exporteure und Vertreter trafen sich im Deutschen Verein, wo wahrscheinlich auch Hermann Hardt 1866 bei seinem Aufenthalt in Lima Kontakte knüpfte.195 Die internationale Handelsorganisation bzw. ihr Aufbau und Besetzung mit Familienangehörigen oder langjährigen Angestellten beruhte hauptsächlich auf persönlichen Loyalitäten. Innerhalb des Handelsnetzes wurde über das Post- und Nachrichtenwesen kommuniziert. Die langen Strecken führten dazu, dass das Stammhaus über die Lage in Südamerika erst mehrere Wochen später unterrichtet wurde. War kein Gesellschafter vor Ort, verblieb das Kontrollproblem, z. B. ob der Konsignateur korrekt den Warenverkauf abrechnete oder es zu Unterschlagungen kam. Aufgrund der immer wieder auftretenden Betrugsfälle wechselten die Geschäftsführer sehr häufig.196 Neben dem Post-, Nachrichten- und Frachtwesen, das den Überseehandel ermöglichte, sind die Entwicklung zum Stückgutverkehr und das Vorhandensein eines internationalen Zahlungsverkehrs zu nennen.197 Für den internationalen Zahlungsverkehr nahmen die Hardts verstärkt kurzfristige Kredite für den Außenhandel bei ausländischen Banken wie der Banque centrale americaine, Antwerpen, Disconto-Gesellschaft London, Kleinwort & Sohn, London, Koenigs, London, Horstmann & Co, London, Marcuard & Co, Paris, Nast

193 Vgl. RWWA 122-251-9; zu Exportgeschäft vgl. RWWA 122-0132; RWWA 122-0131; RWWA 122-0133. JW & S, Bilanzbuch, Lennep, 1890–1903. Die Umsätze im Exportgeschäft mit Fremdwaren wuchsen von 1868 bis 1871 und kompensierten in den Jahren nach 1872 den Umsatzeinbruch mit Fabrikwaren. Die rentabelsten Geschäfte wurden über die Kommandite getätigt, für die nur Gewinne, jedoch keine Umsätze bilanziert wurden. Ab 1890 wurden im Fremdgeschäft mit Hardt & Co und anderen Handelshäusern nur noch die Gewinne, aber nicht mehr die Umsätze erfasst, sodass das Verhältnis von Eigen- zu Fremdgeschäft nicht mehr abgebildet werden kann. 194 Vgl. RWWA 122-250-7; RWWA 122-251-3; RWWA 122-0132 zur jahrelangen Fremdkapitaleinlage von Hermann zur Hellen. 195 Vgl. RWWA 122-251-9; zum Deutschen Verein in Chile vgl. Hermann Kellenbenz: Deutsche Kaufleute in Valparaiso (bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts), in: Titus Heydenreich (Hg.): Chile: Geschichte, Wirtschaft und Kultur der Gegenwart (Lateinamerika Studien 25), Frankfurt/Main 1990, S. 127–144, S. 143. 196 Vgl. RWWA 122-251-3. 197 Vgl. Schönert-Röhlk: Überseegeschäft (1978), S. 383.

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Kolb & Schuhmacher, Rom und Antwerpen und bei Frederik Huth in London in Anspruch.198 Da die südamerikanischen Standorte aufgrund zunehmender politischer Risiken unsicher wurden, bemühte man sich, weitere Absatzmöglichkeiten aufzutun. So sorgten Holland, Frankreich oder Italien für gleichförmigen Absatz. Skandinavien, später Australien und der Balkan kamen als Abnehmer hinzu.199 Neben die Herausforderung, neue Märkte infolge des veränderten Wettbewerbsumfelds in Amerika und der Unsicherheit in Südamerika zu erschließen, trat die Problematik, dass das angebotene Sortiment an die veränderte Nachfrage angepasst werden musste. Die Lenneper Fabrikanten, darunter die dritte und bereits für JW & S tätigen Vertreter der vierten Generation, waren gezwungen umzudenken und mussten sich entscheiden, ob sie bereit waren, ihre Produktion auf leichtere Ware mit Dessins nach englischem oder französischem Vorbild umzustellen. Diese grundsätzliche strategische Entscheidung wurde von vielen Produzenten vertagt, wie z. B. bei Peter Schürmann & Schröder, die weiterhin an den Strichtuchen festhielten.200 Nach dem Sturz der Wollpreise auf den Weltmärkten waren 1868 große Aufträge aus den skandinavischen Ländern eingegangen, nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71201 hatte sich auch der Amerikaexport von Strichtuchen wieder erholt (vgl. Abb. 9 a). Es herrschte eine große Nachfrage nach Militärtuchen und Streichgarngespinsten.202 Der Krieg und sein für Deutschland günstiger Ausgang unterstützte die Tendenz zur Erholung. Die Lenneper Produzenten wiegten sich infolge der erneuten Aufträge für Strichtuche in Sicherheit. Der warme Winter 1872/73 führte dazu, dass der Verkauf von Paletostoffen ins Stocken geriet und die Fabrikanten auf ihren Lagerbeständen sitzen blieben. In dem Bericht der Handelskammer hieß es, „man hätte in den Tag hineingelebt.“203 Die Mode, als Spiegel des Zeitgeistes, gestaltete sich in der Gründerzeit anders als in den Zeiten der wirtschaftlichen Depression. Ein Umschwung der Mode von Strichtuchen auf Kammgarngewebe war verstärkt seit 1875 zu beobachten.204 Um 1875 entschie-

198 Vgl. RWWA 122-0132; zum Handelshaus Frederik Huth vgl. Kellenbenz: Valparaiso (1990), S. 131. Frederik Huth unterhielt auch das Handelshaus Huth, Grüning y Cia in Lima. Zu inländischen Instituten gehörten Delbrück Leo & Co Berlin, Disconto-Gesellschaft Berlin, A. Schaaffhausen’scher Bankverein und die Bergisch Märkische Bank. Vgl. hierzu RWWA 1220131; RWWA 122-0132; RWWA 122-0133; RWWA 122-0134. Bilanzbuch, Centrale, 1904– 1923. 199 Vgl. Böse: Wülfing (1948), S. 51; RWWA 122-251-9. Zum Orient- und Balkanhandel vgl. Blumberg: Textilindustrie (1965), S. 252. 200 Vgl. RWWA 122-302-5. 201 Vgl. RWWA 122-352-21. Brief von Fritz I an seine Familie, 1871. 202 Vgl. Böse: Wülfing (1948), S. 51; RWWA 122-209-14. Berichte zur Lage des Wollhandels 1842–1892. 203 Zitiert nach Böse: Wülfing (1948), S. 51. Zum Modeumschwung in den 1870er Jahren vgl. Blumberg: Textilindustrie (1965), S. 246; Terstegen: Gewandschaft (1954), S. 49, 54. 204 Vgl. Blumberg: Textilindustrie (1965), S. 246. Blumberg geht auf Basis der Zusammensetzung der Wollexporte seit den 1860er Jahren von einer zunehmenden Beliebtheit von Kamm-

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den sich Arnold Wilhelm I, Friedrich I, Albert I und Hermann I, die Fabrikation von Kammgarnstoffen anzugehen. Anstatt auf Lager zu produzieren, wollten sie den kürzer werdenden Produktionszyklen folgen. Zweimal pro Jahr wurden kostspielige Musterkollektionen entworfen und den Abnehmern, darunter Grossisten und Schneider, präsentiert.205 Die Entscheidung für die Kammgarnspinnerei wurde durch die Tatsache erleichtert bzw. erst in Betracht gezogen, dass für die Finanzierung zusätzliche Mittel aus erfolgreichen Börsenspekulationen bereitstanden, ohne die eine Kammgarnspinnerei mit teuren Maschinen nicht ohne Weiteres hätte finanziert werden können. So lag ein Grund für die Investition in eine Kammgarnspinnerei auch in der Suche nach Anlagemöglichkeiten, die Fritz I für den bei erfolgreichen Börsenspekulationen gemachten Gewinn suchte. Dieser betrug laut Albert Schmidt 1878 um die 278.409 Mark und 1879 um 1.080.030 Mark.206 Wie einige Jahre zuvor, als der Spinnereibetrieb in Dahlhausen eingerichtet wurde, erforderte auch der Aufbau der Kammgarnspinnerei neue Anlagen mit einem neuen Maschinenpark.207 Zwar wurden sowohl in der Streichgarn- als auch in der Kammgarnspinnerei Merinoqualitäten eingesetzt, jedoch differiert deren Beschaffenheit. In der Kammgarnspinnerei wird lange glatte anstatt kurzer krauser Wolle verarbeitet, die andere Maschinen erfordert. Weder der kranke Fritz I, der bislang die technische Leitung innehatte, noch die übrigen Familienmitglieder verfügten über Spezialwissen hinsichtlich der Produktionsorganisation im Kammgarnbereich. So musste derartiges Wissen hinzugekauft werden. Dies geschah in der Form eines Fachmanns, der als Direktor angestellt wurde. Die Kammgarnspinnerei wurde in unmittelbarer Nähe zum Bahnhof errichtet und in den folgenden zwei Jahrzehnten kontinuierlich ausgebaut, bis der Produktionsablauf horizontal über Wollwäscherei, -sortiererei, Kämmerei, Färberei, Spinnerei und Zwirnerei mit den dazu gehörenden Nebenbetrieben integriert war. Ausgehend vom Rohprodukt entstand fertiges Garn, das an Tuchfabriken und Wirkereien verkauft wurde.208 Nicht nur der Tuch-, sondern auch der vorgelagerte Wollmarkt war in der zweiten Jahrhunderthälfte hinsichtlich Produktqualität und Handelsorganisation im Umbruch begriffen. Die Wolle, vornehmlich Merino-Qualitäten, wurde nicht mehr in Deutschland beschafft. Statt schlesischer oder sächsischer Wolle war Kolonial-Wolle aus der

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garngeweben aus. Marx verortet die Beliebtheit von Kammgarngeweben zwischen 1840 bis 1861, vgl. hierzu Marx: Kammgarn- und Streichgarnspinnerei (1927), S. 31 f. Vgl. zur Vorbereitung der Musterkollektionen als Ordergrundlage für die Händler und Schneider für Scheidt Verena Pleitgen: Die Entwicklung des betriebswirtschaftlichen Rechnungswesens von 1890 bis 1940 am Beispiel der Firmen Krupp, Scheidt und Farina, Diss. Köln 2005, S. 125; Ephraim, Tuchfabrik (1906), S. 5 f. Vgl. RWWA 122-210-1. Albert Schmidt ging von mehreren Millionen Mark Kursgewinn durch Spekulation in Deutsche-Bank-Aktien aus. Vgl. auch RWWA 122-0131. Vgl. zu Oberflächenstruktur als Differenzierungsmerkmal Zeit: Dahlhausen (1948), S. 38; zu Kammgarn- als der kapitalintensiveren Form gegenüber der Streichgarnspinnerei vgl. Marx: Kammgarn- und Streichgarnspinnerei (1927), S. 51. Zum Investitionsbedarf in Kammgarnspinnereien vgl. Pleitgen: Rechnungswesen (2005), S. 119. Vgl. RWWA 122-210-1.

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La-Plata-Region oder Australien gefragt. Laut den Aufzeichnungen von Fritz II verdreifachte sich der Import von Kolonial-Wolle 1864–1874 an den Hauptumschlagplätzen London, Antwerpen, Le Havre.209 Das Kammgarn musste jedoch aus dem Ausland, insbesondere aus England bezogen werden, sodass sich die Produktion verteuerte. Die Herstellung der Kammgarnstoffe wurde zum Risikogeschäft der Hardts, da die Produktionskosten erheblich von der Wollpreisentwicklung auf den Terminmärkten abhingen. Lindner (2001) und Pleitgen (2005) schätzen den Einfluss des Rohstoffwerts der Wolle auf den Erzeugniswert auf 65–75 % in Spinnereien, in Webereien auf 50 %. Als wichtiger Einflussfaktor neben Transportkosten und Kosten der zwischengeschalteten Handelsstufe war es die Wollqualität, v. a. der Verschmutzungsgrad, der die Einkaufspreise über das Gewicht verzerrte und Kosten in der Nachbearbeitung hervorrief. In der Zeit, als Arnold Wilhelm I Wolleinkäufer für JW & S war, begannen die Tuchproduzenten mit dem Einkauf von Kolonial-Wolle. Konkurrenten wie Scheidts kauften seit 1857 Wolle aus Übersee.210 In diese Zeit des Umbruchs des Wollmarkts fiel 1861 die Heirat von Laura, der Tochter von Albert I, mit Daniel Fuhrmann (1839–1911), Sohn der alteingesessenen Wollhändler Fuhrmann, mit denen die Hardts seit Jahrzehnten Geschäfte machten.211 So war in Antwerpen aufgrund der familiären Beziehungen keine direkte Filiale der Hardts notwendig, da die Verbindung nach Antwerpen für den Wolleinkauf sowohl für die Tuchfabrik als auch für die Spinnerei Dahlhausen genutzt werden konnte. Arnold Wilhelm I, als Rohstoffeinkäufer für JW & S tätig, erschloss zusätzlich über die bestehenden Verbindungen hinaus Kontakte und Handelsverbindungen in Südamerika. Die Verbindungen nach Buenos Aires wurden nicht nur für den Export, sondern auch für den Rohstoffeinkauf genutzt. Der partielle Übergang zu direktem Wollimport und die Aussparung einer Handelsstufe können anhand des Gewinnausweises auf dem Wollkonto Buenos Aires vorgenommen und zeitlich eingegrenzt werden. Dies wies 1870 einen Gewinn von über 5.422 Talern aus. Vor dem Hintergrund, dass es möglich war, die Handelsströme in beide Richtungen zu nutzen, ist die Umstellung auf Direkteinkauf des Rohstoffs über Filialen von Hardt & Co einzuordnen, der es erlaubte, den kostspieligen Zwischenhandel zu umgehen.

209 Vgl. RWWA 122-209-14. Berichte zur Lage des Wollhandels, 1842–1892; sowie Genzmer: Fuhrmann (1935), S. 44 f. 210 Vgl. Pleitgen: Rechnungswesen. (2005), S. 122; Stephan H. Lindner: Den Faden verloren: die westdeutsche und die französische Textilindustrie auf dem Rückzug (1930/45–1990) (Schriftenreihe zur Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 7), Habil.-Schr. München 2001, S. 30. Zu einer Umkehrung des Verhältnisses Rohstoff zu Veredlung im Zeitraum 1861–1880 von 44,5 % zu 55,5 % vgl. Marx: Kammgarn- und Streichgarnspinnerei (1927), S. 36; RWWA 122-209-14; Genzmer: Fuhrmann (1935), S. 44 f. 211 Vgl. von Wismar: Stammbaum (1979), S. 41; zum geschäftlichen Kontakt mit Fuhrmann aus dem Jahr 1826 vgl. RWWA 122-M1. Bereits 1826 waren die Fuhrmanns als Wolllieferanten mit einer Sendung für 544 bergische Taler für JW & S tätig. Die zweite Verbindung zur Wollhändlerdynastie Fuhrmann ergab sich 1871 über die Heirat von Arnold Wilhelm II.

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Ein Bericht der Chemnitzer Handelskammer verdeutlicht den Vorteil der Hardts, der darin bestand, sich selbst über die „Spezialitäten des Marktes zu informieren“ und „nicht wie andere Fabrikanten Märkte zu beliefern ohne die Kundenwünsche zu kennen, so dass die Kenntnisse den hanseatischen Zwischenhändlern vorbehalten blieben“212. 1872 wurde Richard Rhodius, bei dem es sich vermutlich um den Neffen von Arnold Wilhelm I handelte, für Hardt & Co mit dem Wolleinkauf von Kolonial-Wolle in Buenos Aires betraut. 1874 wurde für diesen Zweck die Firma König, Rhodius & Co gegründet.213 Das Engagement von Arnold Wilhelm I in der evangelischen Kirchengemeinde Lennep kann nicht genau nachvollzogen werden, jedoch lautete der Wahlspruch seines Vaters: „Ich und mein Haus wollen dem Herrn dienen“. In seinem Testament finden sich zahlreiche Legate in einer Gesamthöhe von 28.500 Mark, die er an wohltätige Zwecke aussetzte, so z. B. an das Lenneper Presbyterium der evangelischen Kirchengemeinde Lennep.214 Arnold Wilhelm I war wie schon sein Großvater und nun auch sein Vetter Fritz I im kommunalen Rahmen politisch engagiert, so gehörte er dem Stadtverordnetenkollegium an.215 Darüber hinaus war er Mitglied der Rheinischen Provinziallandtage als Abgeordneter des dritten Standes, in den Jahren 1864–1868 und 1874–1875 auch persönlich anwesend.216 Als neues gesellschaftliches Betätigungsfeld kam die langjährige Mitgliedschaft in der Lenneper Handelskammer hinzu, deren Sitzungen Arnold Wilhelm I bis kurz vor seinem Tod beiwohnte. Zusammen mit den Brüdern Mannesmann, Peter Schürmann, H. Bleckmann und C. F. Bauer wurde er als Delegierter für den Allgemeinen Deutschen Handelstag von 1862 ausgewählt.217 Aus dem Themenspektrum, über das die Fabrikanten und Gewerbetreibenden im Bergischen Land berieten, ist vor allem die Eisenbahnanbindung herauszuheben. Die älteren drei der „ViererSpitze“ erhielten bereits in den späten Vierziger- und frühen Fünfzigerjahren den

212 Vgl. Blumberg: Textilindustrie (1965), S. 252. 213 Richard Rhodius (1841–1917), Sohn von Arnold Wilhelms I Schwester Elise und Engelbert Rhodius, war mit der Tochter des Papierfabrikanten Schoeller aus Düren, Jenny Schoeller (1856–1930) verheiratet. Vgl. von Wismar: Stammbaum (1979), S. 48; RWWA 122-251-3. Testament von Arnold Wilhelm Hardt, 26.05.1876. 214 Vgl. RWWA 122-201-6. Quittung des Presbyteriums, 4.01.1879. Die Legate blieben zwischenzeitlich im Unternehmen angelegt. 215 Vgl. ebenda. 216 1871/72 und 1875 bis 1877 wurde er u. a für die Wahlkreise Lennep und Hückeswagen gewählt, ließ sich aber vertreten. Vgl. Vera Torunsky: Die Abgeordneten der Rheinischen Provinziallandtage und Landschaftsversammlungen. Ein biographisches Handbuch, Bd. 1: Die Abgeordneten der Provinziallandtage und ihre Stellvertreter 1825–1888 (Rheinprovinz 12), Köln 1998, S. 189. 217 Vgl. Hillen: Hardt (2004), S. 454; Heinz Kluthe: Die Tätigkeit der Bergischen Industrie- und Handelskammer zu Remscheid auf den Gebieten des Verkehrs und des Außenhandels seit 1840, Diss. Köln 1950, S. 50; Wolfgang Hoth: Die Geschichte der Bergischen Industrie- und Handelskammer zu Remscheid und ihrer Vorläufer bis 1943, Dipl. Köln 1970, S. 46.

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Titel des Kommerzienrats, während Arnold Wilhelm I und Albert diese Ehrung mit 69 Jahren zuteil wurde.218 Den Äußerungen Engelberts zufolge handelte es sich bei der „Vierer-Spitze“ um eine harmonische Leitungsspitze, die über den familiären Zusammenhalt erfolgreich wirkte. Der Familiensinn wurde auch innerhalb der Familienstämme gepflegt. So hatte Arnold Wilhelm I nicht nur ein gutes Verhältnis zu seiner Schwester, sondern organisierte Familientreffen, um das Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken.219 Die Ausbildung der dritten Generation fokussierte sich auf den Vertrieb, für den die Nachfolger theoretisch auf der Handelsakademie oder praktisch durch eine Lehre in der Hansestadt Hamburg ausgebildet wurden. Für die Lehrstelle und Unterbringung wurden Geschäftsfreunde aktiviert, bei denen kaufmännische Rechnungslegung und Korrespondenz, der Umgang mit verschiedenen Finanzierungsformen des Handels, dem Frachtwesen und den Kunden erlernt wurden. Neben der Vermittlung des kaufmännischen Handwerkszeugs und Leitungswissens trat das Erlernen der Fähigkeit, Informationen einzuholen, diese nach Nützlichkeit zu filtern und darauf basierend Entscheidungen vorzuschlagen, hinzu. Das Eintrittsalter bewegte sich zwischen dem 22. bis 30. Lebensjahr. Zuvor erhielten die Söhne einige Jahre ein Salär wie eine kaufmännische Fachkraft. Die Nachfolger agierten als Glied in der Informationskette des Seniors, beschafften oder filterten Informationen für diesen. Die Zusammenarbeit der zweiten und dritten Generation dauerte zwischen vier und zwanzig Jahren wie bei Arnold Wilhelm I und seinem Onkel Engelbert. Bei der Gewinnbeteiligung galt zu Lebzeiten der älteren Teilhaber das Senioritätsprinzip. Die jüngsten Söhne zeigen die planerische Herangehensweise an die Ausbildung auf. Die Richtung der Ausbildung, sei es im Tuchhandel oder in der Tuchfabrik passte zu den Problemen, anders gesagt zu den Chancen der Dekade, die im Handel mit Nordamerika lagen. Die Ausbildung in Hamburg wurde von den Senioren finanziert. Obwohl die Nachfolger vor allem in Geldangelegenheiten streng erzogen wurden – sie hatten Rechenschaft über ihre Ausgaben abzulegen – schenkte Engelbert ihnen Gehör, beauftragte sie mit verantwortungsvollen Aufgaben und unterstützte sie trotz erster Fehlschläge. Die dritte Generation gab sich das Familienmotiv und die Unabhängigkeit als Leitbild bereits im Gesellschaftsvertrag formuliert mit auf den Weg. Die Familie stieg gesellschaftlich weiter auf. Die konnubialen Verbindungen fanden weiterhin unter Selbstständigen, hauptsächlich mit Fabrikantenkindern der Umgebung statt. Geografisch weiteten sich die Kreise bis nach Hamburg aus. Auch in adelige Familien, wie die von Bernuths wurde mittlerweile eingeheiratet. Die Töchter heirateten ebenfalls nach diesem Muster. Bestehende Verbindungen, wie zu den Ha218 Vgl. RWWA 122-207-7. Patent des Geheimen Kommerzienrates von Arnold Wilhelm I, 1874, RWWA 122-199-7. Kommerzienrat Patent, 31.08.1899; Patent des Geheimen Kommerzienrates, 30.03.1903 für Friedrich Hardt II; RWWA 122-221-8. Kommerzienrat Patent, 02.06.1880 für Albert I. 219 Vgl. RWWA 122-207-7. Schilderung der Familientage durch Arnold Wilhelm I.

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senclevers, wurden intensiviert und durch drei Ehen in zwei familiären Generationen dauerhaft stabilisiert. In den Verkehrskreisen der Familien Hardt und Hasenclever sind starke Überschneidungen wie z. B. in Hamburg feststellbar. Die Heirats- und Geschäftskreise waren nicht voneinander getrennt, über Handelshäuser von Schwiegersöhnen wurde z. T. der Südamerikahandel betrieben. Die Schwiegersöhne wurden seit 1830 keine Teilhaber mehr im Stammhaus JW & S. Dass die Familie wirtschaftlich aufstieg, zeigte sich auch in der Höhe der Aussteuern, die sie ihren Nachkommen gewährte. Sie betrugen mit 6.000 bis 10.000 Talern ein Vielfaches der vorherigen Generation, behielten aber ihre Funktion als Startkapital. Die dritte Generation der Familie Hardt, die aufgrund des Merkmals der Vermögensbindung im Unternehmen und der Wahrnehmung gesellschaftlicher Funktionen als Dynastie zu bezeichnen ist, steht für Expansion statt Niedergang. Die Expansionsbestrebungen äußerten sich in der Ausweitung der Produktionskapazitäten, des Handelsnetzes und des Sortiments. Für die gleichzeitig angestrebte Bewahrung der Unabhängigkeit des Familienunternehmens wurde Wolle partiell direkt importiert. Die Tradition und vor allem das Wissen im Kommissionshandel und die Qualitätsmaxime, konnten weitergegeben werden. Neue Steuerungskonzepte der absatzmarktspezifischen Umsatzrentabilität und Kapitalverzinsung wurden in die Gewinn- und Verlustrechnung aufgenommen und als Entscheidungsgrundlage, ob Kommandite etabliert werden sollten, genutzt. Innerhalb der Organisation bildeten sich Spezialisierungen für Beschaffung, Produktion und Absatz in den einzelnen Familienstämmen heraus. Die Abstimmung zwischen den Seniorteilhabern erfolgte informell mündlich, morgens vor der Fahrt in die Betriebsstätten, und auf dem Postweg zwischen Berlin und Lennep. Die Familie bzw. der Überschuss an Nachfolgern in der dritten Generation fungierte als Auslöser, neue Marktchancen wahrzunehmen bzw. eine dauerhafte Organisation des Überseeabsatzes durch ein eigenes Handelshaus in New York zu schaffen. Lagen erste Schritte im Kommissionshandel, gefolgt von der räumlichen Ausweitung, agierten die Hardts bereits vor dem Wandel von Stapelware auf Modezyklen, denn das Erscheinungsbild des Tuchs erfolgte marktbezogen. Nach dem sich räumlich weiter ausweitenden Kommissionshandel nahm man in einem zweiten Schritt Sortimentsanpassungen vor und kaufte speziell Waren für den Südamerikahandel zu. Die dritte Generation verwendete neben der Qualität für die Stoffbezeichnungen französisch und englisch anmutende Fantasienamen als Marketing-Maßnahmen, um dem Sortiment einen Hauch von Internationalität zu verleihen. Um sich nicht gänzlich voneinander abhängig zu machen, betrieben JW & S und Hardt & Co parallel auch separate Geschäfte auf eigene Rechnung. Die internationale Handelsorganisation der Hardts stützte sich hauptsächlich auf persönliche Loyalitäten innerhalb der Familie. Geschäftspartner, wie die Familie Fuhrmann oder auch die Familie Rhodius, waren seit Jahrzehnten bekannt. Da Betrug und Diebstahl häufig anzutreffen, die Kontrolle über diese Distanzen außerordentlich zeitaufwendig und die Reisen kostspielig waren, gehörte die Weitergabe des verwobenen Netzes zu dem unternehmerischen Startkapital der nachfolgenden Generation. Dies war nicht nur für die Anbahnung von Geschäften und

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für die Informationsübermittlung wertvoll, sondern ermöglichte erst die Unternehmensführung und Kontrolle über größere räumliche Distanzen. Beide Leitungen, die der Vierer-Spitze, die in dieser Konstellation JW & S fast 30 Jahre, und die Doppel-Spitze, die Hardt & Co über 30 Jahre gemeinsam leitete, taten dies sehr erfolgreich mit Eigenkapitalrenditen im langjährigen Mittel über 9 % und einer Zunahme des Eigenkapitals bei Hardt & Co auf 5,64 Mio. Mark.220 Größere Streitigkeiten sucht man vergeblich. Zwei Gründe schienen hier maßgeblich zu sein. Zum einen entstanden keine Konflikte aufgrund zu großer Nähe, da zwischen Engelbert und seinen Söhnen oft monate- oder zwischen den Brüdern wie Richard und Heinrich manchmal jahrelang räumliche Distanz vorlag. Zum anderen schien sich jeder der Brüder seine unternehmerische Nische mitunter nach Interessenschwerpunkten gesucht zu haben. Als „market maker“ des Familienunternehmens stachen Hermann I und Richard, beide in Hamburg sozialisiert hervor, die gemeinsam den Südamerikahandel forcierten: Friedrich I war technisch versiert und interessiert, Arnold Wilhelm I der Repräsentant und Wolleinkäufer. Bei Albert I sind administrative Tätigkeiten als Schwerpunkt zu vermuten. Die Gegenüberstellung der gesellschaftlichen Aktivitäten und des sozialen Engagements zur Vorgängergeneration zeigt, dass sich die Vertreter der ViererSpitze der dritten Generation mit ihren Aktivitäten in der Trias Lokalpolitik, Handelskammer und soziale Fürsorge bewegten, an die die Nachfolger zu Lebzeiten ihrer Vorgänger herangeführt worden waren. Die ersten beiden Prestige und Status abstrahlenden Aktivitäten wurden im Hinblick auf das Familienunternehmen auch aus einer Zweckorientierung heraus verfolgt. Zum einen begaben sich die Unternehmer in die Nähe Gleichgesinnter und tauschten Informationen aus, zum anderen galt es, eigene Interessen, wie die Eisenbahnanbindung des Standorts der eigenen Fabrik durchzusetzen, sei es in Interessenvertretungen oder über Einflussnahme durch politische Ämter. Inwieweit ein religiöses Motiv über Gottverbundenheit im Stamm von Arnold Wilhelm I neben dem im Gesellschaftsvertrag manifestierten Familienmotiv, das auf familiäre Unternehmenskontinuität und Unabhängigkeit zielte, griff, ist nicht nachvollziehbar.

4.1.4 Die Globalisierer und ihre Nachfolger Die Zeitpunkte der Generationenfolge in den Familienstämmen Arnold Wilhelm I und Fritz I in den späten 1870er Jahren und von Albert I im Jahr 1890 fiel mit der im Stamm von Hermann I 1895 auseinander. So werden an dieser Stelle nicht sämtliche Stammesnachfolgen bis zum Generationenwechsel 1895 von der dritten auf die vierte Generation in der gesamten Eignerfamilie Hardt geschlossen präsentiert. Die Darstellung orientiert sich an verschiedenen Leitungsperioden, der der „Vierer-Spitze“ bis 1878, der bereits zwei Nachfolger zur Seite standen, bis hin zu dem Leitungsgespann, bestehend aus einem Senior, Hermann I und zwei 220 Jährliche Wachstumsraten des Eigenkapitals können für Hardt & Co mangels Daten über die Verzinsung des Eigenkapitals nicht berechnet werden.

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Stammesnachfolgern, seinen Neffen Fritz II und seinem Vetter Arnold Wilhelm II. Wie die Kinder von Hermann I ausgebildet wurden und wen sie heirateten, wird aufgrund der Annäherung des Alters gemeinsam mit der fünften Generation aus dem Stamm von Fritz II nachvollzogen. Zunächst wird der Werdegang der Vettern Arnold Wilhelm II (1843–1897) und Fritz II (1851–1906) präsentiert, um im Anschluss Leistungen, Veränderungen und Kontinuitätslinien in der Unternehmensführung des Leitungsgespanns, das sich ab 1880 aus zwei Senior-Unternehmern und zwei Nachfolgern rekrutierte, aufzuzeigen. Beide Vettern waren 1871 nach dem ratifizierten Frankfurter Frieden221 in die JW & S OHG als Gesellschafter eingetreten und hatten jeweils 1/16 Gewinn- und Verlustbeteiligung von ihren Vätern übernommen. Eine Kapitalbeteiligung an der Spinnerei Dahlhausen blieb ihnen vorerst vorenthalten.222 Arnold Wilhelm II hatte die Volksschule und die höhere Bürgerschule besucht, nahm Privatunterricht und beendete krankheitsbedingt vorzeitig seine Schullaufbahn in Lippstadt. Seit seinem 16. Lebensjahr war er bei der Firma Redlich in Brünn, im Familienunternehmen sowohl im Stammhaus als auch in New York bei Hardt & Co tätig gewesen. Mit Mitte bis Ende zwanzig, in der üblichen Zeit des Eintritts als Gesellschafter bei JW & S, wurden der bereits Verheiratete und sein acht Jahre jüngerer Vetter Fritz II von ihren Vätern und Onkeln abwechselnd nach New York geschickt. Trotz ihres Altersunterschieds erhielten beide um 500 Taler, ab 1871 mit einem vertraglich festgelegten Salär von 2.000 Talern in Lennep und 3.000 Taler in New York, mehr als die früheren Nachfolger.223 In der praktischen Ausbildung von Fritz II setzte sein Vater einen kaufmännischen und einen technischen Schwerpunkt. Während der kaufmännischen Ausbildung lernte Fritz II den Tuchhandel im Ein- und Verkauf in New York und im Stammhaus in Lennep kennen. Darüber hinaus absolvierte er ein Volontariat in einer Textilfabrik in Nordfrankreich. Er studierte die dortigen technischen Lösungen in der Tuchproduktion224 und bereitete sich darauf vor, die Position des Vaters in der technischen Gesamtleitung zu übernehmen. Die Briefe von Fritz I aus dem Sommer 1871 geben nicht nur Einblicke in die von den Senior-Unternehmern geplanten Auslandseinsätze der Nachfolger, sondern auch in den patriarchalischen Erziehungsstil der sieben Kinder, der wenig bis keine Freiheitsgrade zuließ. So erwartete er, dass sein ältester Sohn zu den ge-

221 Vgl. Friedensvertrag von Frankfurt vom 10.05.1871; RWWA 122-285-6. Gesellschaftsvertragnachtrag, 01.07.1871, 04.12.1874. 222 Vgl. ebenda; RWWA 122-0131; zu OHG vgl. Art. 85–149 AGHB, S. 54–68. Die Gesellschafter hafteten in Kontinuität zum Code de Commerce mit ihrem gesamten Vermögen für ihr unternehmerisches Tun. Zur Gewinn- und Verlustbeteiligung (grundsätzlich Gewinnverteilung nach Köpfen) vgl. Art. 106, Art. 107 i. V. m. Art. 109 AHGB, S. 59. 223 Vgl. RWWA 122-0131; RWWA 122-285-6. Gesellschaftsvertragnachtrag, 01.07.1871, 04.12. 1874; RWWA 122-352-21; Thom: Bergische Unternehmer (1965), S. 44–52, hier zu Schullaufbahn und frühem Werdegang S. 44 f. Arnold Wilhelm II war seit 1870 in New York. 224 Vgl. RWWA 122-210-1; Böse: Wülfing (1948), S. 60.

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setzten Terminen nach Lennep zurückkehrte und dass seine Kinder „ihm Freude machten “225. Im August 1871 schrieb Fritz I über seinen Sohn Fritz II, der seit 1869 in New York tätig war und kurz vor seiner Abberufung ins Stammhaus nach Lennep stand: „Fritz thut es ungemein leid, sich von New York trennen zu müssen. Die ersten 1½ Jahre seines Dortseins schreibt er, wären für ihn nicht etwa die Angenehmsten gewesen, und habe mit vielen Unannehmlichkeiten zu kämpfen gehabt. Jetzt wo er mit allem bekannt und betraut, und das Geschäft eine bessere Aussicht genommen, sollte er scheiden, und die Früchte seiner Arbeit einem Anderen überlassen. Und doch hat er sich auf der anderen Seite willig in meinen Wunsch gefügt. Ich habe ein rechtes Verlangen nach dem Jungen, und denke mir ein gegenseitiges angenehmes Zusammenleben.“226 Mitunter fügten sich die Söhne nicht immer reibungslos in die Pläne des Vaters respektive die der Unternehmensleitung von JW & S. Während sich der jüngste Julius gut führte – „Julius ist auch ganz brav und hatte auch ein gutes Zeugnis“ – und er auch mit Walter „im Ganzen zufrieden“ war, denn dieser arbeitete „jetzt seit Ostern ohne Nachhilfe“, handelte es sich in den Augen des Vaters bei seinem Sohn Hermann um ein „Sorgenkind“, das sich nicht in die Pläne des Vaters und seiner Onkel fügte. Hermann (Stamm Fritz I) war nach Rio geschickt worden, um dort eine Auslandsstation zu absolvieren. Dort verfolgte er die Idee, in Paris als Comis tätig zu werden, was der Vater als „corrupte Idee“ ansah und ihm in Briefen kundtat, „was er zu thun habe“. Dies hatte ihm der Vater nach eigenen Worten „klar auseinandergesetzt“. Dass der jüngste Sohn den vorgezeichneten Weg nicht einschlug, führte beinahe zum Bruch zwischen ihm und seinem Vater. Über sein geplantes Vorgehen schrieb Fritz I seinen übrigen Kindern: „im Anschluss auf diese Briefe habe ich ihm seitdem mal entschieden meine Ansicht auseinander gesetzt und ihm dem Standpunkt unmissverständlich zu verstehen [gegeben] ohne meinen Willen einen Ort und eine Stellung zu verlassen, ging doch ein Bischen zu weit. Ich habe ihn väterlich auf seine Fehler aufmerksam gemacht, ihm den Weg gezeigt den er zu machen, und dabei nur unbedingten Gehorsam verlangt. Ich hoffe, er wird meine Willensmeinung richtig auffassen und befolgen, sonst habe ich ihm erklärt, würden sich unsere Wege scheiden und er könne machen was er wolle.“227 Hermann widersetzte sich den Androhungen des Vaters. Er war nach seiner Rückkehr für eigene Rechnung im Textilhandel tätig und stand mit der Spinnerei Dahlhausen in Geschäftsbeziehungen,228 war in Paris tätig und verzog mit seiner Frau nach Wien.229 Inwiefern die Verbindungen des Vaters außerhalb der Geschäfte mit der Spinnerei genutzt wurden, geht nicht hervor. Die spannungsreiche Beziehung zwischen Fritz I und seinem Sohn zog sich bis ins hohe Alter des Vaters. Er stufte seinen Sohn als wenig vertrauenswürdigen Kandidaten ein, was sich letztendlich 225 226 227 228 229

Vgl. RWWA 122-351-22. Vgl. ebenda. Vgl. RWWA 122-351-22. Vgl. RWWA 122-253-17. Vgl. RWWA 122-201-1.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

in seinem Testament offenbart. Ihm missfielen die risikoreichen Geschäfte seines Sohnes derart, dass er die Auszahlung des Erbteils an seinen Sohn an die Bedingung der Aufgabe dieser Geschäfte knüpfte und ihn unter Verwaltung des Bruders von Hermann stellte.230 Durch die Heirat von Fritz II mit Auguste Karsch, eine Verwandte von Helene, zweite Frau seines früh verstorbenen Onkels Johann Arnold jr., wurde erneut an die familiären Verbindungen zu den Familien Karsch und Goldenberg angeknüpft. Auch die Schwestern von Auguste waren allesamt mit Kaufleuten verheiratet, die aus der Textilbranche stammten und zu den alteingesessenen Lenneper Familien gehörten.231 Arnold Wilhelm II heiratete nicht in die bislang üblichen Kreise der lokalen Textilwirtschaft oder der überregionalen Unternehmerschaft, sondern nahm Mathilde Rheinen, eine Arzttochter aus Blankenstein zur Frau. Robert ehelichte Louise Neizert aus Neuwied, sein Bruder Walter Emmy Stollé aus Mülheim a. d. Ruhr und der Sohn von Fritz I, Hermann, Adele Clavé aus Köln.232 Als Aussteuern erhielten die Söhne von Fritz I, geht man nach der Aussteuer von Robert, um die 30.000 Mark.233 Für die Kinder von Arnold Wilhelm I gehen die Aussteuern nicht explizit aus den Bilanzen hervor. 1871 erhielt Rudolf eine Gutschrift von 10.000 Talern von seinem Vater. In dieser Bandbreite hatten sich vermutlich auch die Aussteuern der übrigen Kinder bewegt.234 Die Töchter von Fritz I und Arnold Wilhelm I heirateten, wie ihre Tanten väterlicherseits seit Ende der 1860er, zwischen dem 20. und 28. Lebensjahr. Die Heiratspartner der Schwestern von Fritz II und von Arnold Wilhelm II stammten aus den Familien Petersen235, aus’m Weerth, Richter, Hollweg, Hentzen und bis auf Heinrich Tieman, den bereits erwähnten Antwerpener Wollhändler und Handelspartner von JW & S, aus dem Rheinland und Westfalen.236 Julius Wiesmann heiratete seine Kusine Helene Hardt.237 Antonie verband sich mit Viktor Boelcke und Auguste heiratete Eduard Werlé, den Besitzer eines Weinguts. Die älteste Tochter von Albert I, Laura, heiratete zwei Jahre nach ihrer Base Elise, die 1859 in die Familie Tieman eingeheiratet hatte, ebenfalls in eine Wollhändlerfamilie ein. Ihr Ehemann Daniel Fuhrmann stammte aus der Lenneper Familie Fuhrmann, für die er in Antwerpen,

230 Vgl. RWWA 122-226-8. Liquidation der Erbschaftsmasse Fritz I und Aufstellung; Vereinbarung über Aufteilung des Erbes, 20. März 1880. 231 Zu den Heiratskreisen der Familie Karsch gehörten die Familie Budde, Petersen und Hilger. Vgl. RWWA 122-220-7. Kaufakt, 24.04.1894. 232 Vgl. von Wismar: Stammbaum (1979), S. 42. 1880 trat der Kommerzienrat Max Johann Karl Neizert nach der Heirat mit Elly Rhodius in das Burgbrohler Unternehmen ein. Zur Historie der Fa. Rhodius vgl. Gebrüder Rhodius 1827–2002, S. 60. 233 Vgl. RWWA 122-0132. Erbverteilung, 31.12.1880. 234 Vgl. RWWA 122-223-10. Ausgabenbuch II Arnold Wilhelm Hardt I, 1857–1872 235 Vgl. von Wismar: Stammbaum (1979), S. 42; Lambert Rospatt: Nachrichten über die Familie Fuhrmann zu Lennep und einige mit derselben verwandte Familien, Wiesbaden 1904, Tafel VIII. 236 Vgl. RWWA 122-0131; von Wismar: Stammbaum (1979), S. 42 f. 237 Vgl. von Wismar: Stammbaum (1979), S. 41.

4.1 Vorbereitung im Nachfolgeprozess und Generationswechsel

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einem der damaligen Hauptumschlagsplätze für Kolonial-Wollen, tätig war.238 Zu den Heiratskreisen der Fuhrmanns gehörten die Familie Scheidt, Petersen, Bernuth und Schürmann.239 Die Onkel von Daniel Fuhrmann waren Julius Wilhelm Erhard Scheidt (1813–1874) und Gustav Petersen (1805–1885). Daniels Schwester Elise (1836–1920) war mit Bernhard von Bernuth (1832–1925) verheiratet. August Hollweg, Verfügungsberechtigter seiner Frau Marie, legte das Geschenk seines Schwiegervaters von 30.000 Talern in seiner Firma Scheele & Hollweg an, über die die Hardts Teile ihres Südamerikahandels mit zugekauften Waren abwickelten.240 Bei den angeheirateten Familien stechen die Familien Fuhrmann, Tieman und Hollweg heraus, da es sich nicht nur um lokal oder regional angesehene Familien wie die des Regierungsrats Wiesmann, des Landgerichtsdirektors Hentzen oder des Pastor Richter aus Soest handelte, sondern um Familien, die auch Handelspartner bzw. Lieferanten von JW & S waren. Es ist zu vermuten, dass insbesondere Arnold Wilhelm I, der den Wolleinkauf besorgte, einen besonders engen Kontakt zu den Wollhändlern pflegte.241 Im Stamm von Arnold Wilhelm I ist ersichtlich, dass den Geschenken, die im Zeitraum von 1870 bis 1873 pro Kind vermutlich 30.000 Taler betrugen, eine strikte Erziehung zur Sparsamkeit vorausging. Diese spiegelt sich in dem Haushaltsbuch von Arnold Wilhelm I wider. Er führte für jedes seiner Kinder und auch für seine Enkel ein separates Konto, auf das z. B. Vermächtnisse von verstorbenen Tanten oder Geldgeschenke der Großmutter detailliert verbucht wurden. Die Zinszahlungen gaben den Kindern Anreize, das Geld weiter anzusparen.242 1875, nach vier Jahren als Gesellschafter, erhielten die Vettern von ihren Vätern jeweils eine Schenkung eines Anteils von der Spinnerei Dahlhausen: 15.541 Mark, ca. 1,51 % des gesamten von den Senior-Teilhabern bereitgestellten Eigenkapitals von 1.026.283 Mark. Der Stamm von Arnold Wilhelm I besaß den zweitgrößten Eigenkapitalanteil mit 24 %, während auf Albert I und Hermann I je 27,8 % und auf den Stamm von Friedrich I 20,5 % entfielen. Die Nachkommen von Engelbert Hardt besaßen wie bei JW & S die Kapitalmehrheit gegenüber ihrem Vetter Arnold Wilhelm I und ihrem Neffen Arnold Wilhelm II.243 Die familiären Beteili-

238 Die jüngeren Töchter von Albert, Auguste und Antonie heirateten im Jahr 1862 bzw. 1875 Eduard Werlé und Viktor Boelke. Vgl. von Wismar: Stammbaum (1979), S. 41, zu Elise insb. S. 39. Zu den Heiratskreisen der Fuhrmanns vgl. Rospatt: Nachrichten (1904), Tafel VIII. 239 Vgl. zu Daniel Fuhrmann (III), der 1870 die Leitung der Fuhrmann-Filiale in Antwerpen übernommen hatte, Genzmer: Fuhrmann (1935), S. 52. 240 Vgl. zu Handelsgeschäften mit Scheele & Hollweg vor und nach der Einheirat in die Familie Hardt RWWA 122-0131; RWWA 122-0132. Die Umsätze betrugen um 20.000 bis 30.000 Taler und 1875 fast 215.000 Mark in Rio de Janeiro. Frühe Verbindungen nach Australien wurden 1868 und 1870 vermerkt. 241 Vgl. von Wismar: Stammbaum (1979), S. 40 f. 242 Vgl. RWWA 122-223-10; RWWA 122-223-12. Ausgabenbuch Arnold Wilhelm Hardt, nach seinem Tode fortgeführt, 1873–1893. 243 Vgl. RWWA 122-0132.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

gungsverhältnisse und wie sich diese in der Spinnerei Dahlhausen im Zuge des Eintritts der Nachfolger in zwei Familienstämmen änderten, erfasst Abbildung 10. Auch in der vierten Generation übernahmen mit Ausnahme von Albert II die ältesten Söhne die Funktion ihres Vaters im Familienunternehmen bzw. im Stammhaus: Für Fritz II war die Leitung der Tuchfabrik und für seinen Vetter Arnold Wilhelm II die der Kammgarnspinnerei angedacht. Durch die vielen männlichen Nachkommen in den drei Familienstämmen Fritz I, Arnold Wilhelm I und Albert I, die seit Ende der 1860er und Anfang der 1870er Jahre um die zwanzig bis Mitte zwanzig waren, bestand das Problem, für jeden einen Wirkungskreis zu schaffen. So wurde bei den jüngeren Vertretern der vierten Generation Albert II, vermutlich aus seiner Stellung als einzig männlicher Stammesnachfolger von Albert I heraus, bei JW & S in Lennep tätig. Ab 1881 erhielt er 28-jährig zwölf Monate nach seiner Hochzeit mit Clara Hausmann Prokura als Teilhaber und eine Gewinnbeteiligung von 1/16 zzgl. eines jährlichen Fixums von 7.500 Mark. Über seine Tätigkeit im Familienunternehmen JW & S, für das er scheinbar nur bis Ende der 1880er Jahre tätig war, ist fast nichts bekannt.244 Abb. 10

Änderung der Beteiligungsverhältnisse in der Spinnerei Dahlhausen im Zuge des Eintritts der vierten Generation bei JW & S245

Quelle: RWWA 122-0131; RWWA 122-079; RWWA 122-251-3.

244 Vgl. RWWA 122-285-6. Gesellschaftsvertrag der JW & S OHG, 1.10.1881,1.01.1884, zur Ehe mit Clara Hausmann vgl. von Wismar: Stammbaum (1979), S. 42. 245 Die Namen Albert I, Hermann I, Arnold Wilhelm I, Fritz I, Fritz II, Arnold Wilhelm II, Richard, Heinrich und Engelbert wurden durch die entsprechenden Anfangsbuchstaben abgekürzt. Die römischen Zahlen kennzeichnen die Generation im jeweiligen Familienstamm. Ausnahme ist der mit TP abgekürzte Direktor Theodor Pokorny.

4.1 Vorbereitung im Nachfolgeprozess und Generationswechsel

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So wurde 1868 die Spinnerei Dahlhausen laut Hermann I zu einer Streichgarnspinnerei umgebaut, „um den zweiten Söhnen von Fritz I und Arnold Wilhelm I einen Wirkungskreis zu schaffen“, und „solche bis 1875 unter Direction von Pokorny für alleinige Rechnung von JW & S geführt.“246 In den 1870er Jahren hatten sich die jüngsten Söhne von Arnold Wilhelm I, Rudolf Hardt (1846–1926) nach seinem Militär- und Kriegsdienst 1870/71,247 und Fritz I, Sohn von Robert, unter Theodor Pokorny (1840–1915), dem Direktor in Dahlhausen, zu bewähren. Beide Vettern waren auf der Dahlerau in die Lehre gegangen. Rudolf erhielt 1871 mit 25 Jahren ein Salär von 1.000 Talern jährlich.248 Vater Fritz I verfolgte die Fortschritte seines jüngsten Sohnes in der praktischen Ausbildung auf Dahlhausen: „Robert macht sich ganz gut auf Dahlhausen, und kann ich Euch nicht sagen, wie froh ich bin, ihn aus der Schule zu haben. Er selbst hatte die Schulbücher auch herzlich satt.“249 Die nächste Phase in der Nachfolge – nach Ausbildung und Bewährung, Familiengründung und Gewährung der Zeichnungsbefugnis der Vettern Rudolf und Robert, mittlerweile 38 und 33 Jahre alt – begann 1884 mit der Übernahme der persönlichen Haftung für ihr unternehmerisches Wirken in der Spinnerei. Zeitgleich mit der vertraglich fixierten Gesellschafterstellung der Vettern wurde die Restrukturierung des Eigenkapitals der Senioren, Hermann I und Albert I, die nach den personellen Zäsuren in den Jahren 1878 und 1880 federführend waren, eingeleitet. Die Senioren der JW & S OHG reduzierten die Eigenkapitaleinlage der OHG in der in eine KG umgewandelten Spinnerei auf eine Kommanditeinlage von 500.000 Mark, eine Reduktion innerhalb eines Jahres um 747.104 Mark und folglich um 60 % gegenüber 1883.250 Die Spinnerei wurde ab 1884 unter dem Namen Hardt, Pocorny & Cie als Kommanditgesellschaft251 geführt. Die jüngsten Söhne konnten in die persönliche Haftung genommen werden. Im Gegensatz zu dem Wirkungskreis der jüngsten Söhne in der dritten Generation, aus dem Hardt & Co entstanden war, das ein rechtlich und faktisch selbstständiges Handelshaus war und über gemeinsame Kommanditierungen und Export- und Importgeschäfte mit JW & S zusammenarbeitete, handelte es sich bei der Spinnerei Dahlhausen um eine Tochtergesellschaft. Diese agierte zwar rechtlich, jedoch nicht wirtschaftlich selbstständig. Ein Großteil des Kapitals der Kommanditeinlage von 500.000 Mark, die 1884 25 % des Eigenkapitals darstellten, stammte weiterhin von der JW & S OHG, die offiziell als Kommanditistin, aber auch als Fremdkapitalgeber fungierte.252 Die Kommanditistin JW & S OHG und damit ihre Seniorteilhaber Albert I und Hermann I und die Nachfolger in den Stämmen bzw. die 246 247 248 249 250 251

Vgl. RWWA 122-246-9. Aufzeichnungen von Hermann Hardt I aus dem Jahr 1892. Vgl. Zeit: Dahlhausen (1948), S. 85. Vgl. RWWA 122-0131. Zu Militärzeit von Fritz II vgl. Zeit: Dahlhausen (1948), S. 85. Vgl. RWWA 122-351-22. Fritz an seine Kinder, 1871 Vgl. RWWA 122-259-13. Gesellschaftsvertrag der HP & Cie KG,1884; RWWA 122-253-17. Vgl. zu Handelsgesellschaften (en commandite) Art. 24–29 (1812), S. 14 f.; zu KG vgl. Art. 150–206 AGHB, S. 68–71; zu späteren Normen die KG betreffend vgl. §§ 161–177 HGB, S. 49 f. 252 Vgl. RWWA 122-253-17. Bilanz Spinnerei Dahlhausen 1872–1898. JW & S finanzierte als Kommanditistin 14,5 % der Bilanzsumme der Spinnerei.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

älteren Brüder Fritz II und Arnold Wilhelm II sicherten sich weiterhin bestimmenden Einfluss auf die Geschäfte der Spinnerei. Diese war sowohl über gegenseitige Lieferbeziehungen als auch über Finanzbeziehungen abhängig.253 Neben der Streichgarnherstellung hatten Pokorny und die Hardts das Sortiment um preiswertere Garne erweitert und 1882 im großen Stil mit der Kunstwollherstellung aus Lumpen, für die eine Lumpensortierung eingerichtet wurde, begonnen. Für die Einrichtung der Produktion wurde Adalbert Hanner, ein Fachmann aus Paderborn engagiert.254 Die Produktion der Kunstwolle konnte innerhalb eines Jahres von 1882 auf 1883, ausgehend von 25.195 Kilogramm, fast vervierfacht werden und betrug mengenmäßig 20–30 % der Streichgarnproduktion bis in die 1890er Jahre. Die Kunstwollproduktion, die ab 1897 einige Jahre um 200.000 kg betrug,255 bot eine Ergänzung zu den Streichgarnen im niedrigeren Preissegment.256 Dem Abzug von Eigenkapital und der Reduktion auf eine Kommanditeinlage 1884 folgten einige Jahre der Stagnation der Eigenkapitalentwicklung in der Spinnerei. 1892 schied Robert krankheitsbedingt bei HP & Cie aus. Der langjährige Durchschnitt des Gewinns 1868–1893 belief sich bis auf 130.072 Mark.257 1898 wurde eine Dividende von 4 %, dann erst wieder eine 1904 bzw. 1910 ausbezahlt.258 Bis Anfang der 1880er Jahre verstarben der seit 1830 für JW & S tätige Arnold Wilhelm I (1878) und der 1847 eingetretene Friedrich I (1880), sodass nun Albert I und Hermann I die Stellung als Senioren einnahmen. Die Söhne der Ver253 Vgl. RWWA 122-259-13. Gesellschaftsvertrag der HP & Cie KG von 1884, insb. § 9. In der Kommanditgesellschaft wurde zwischen zwei Gesellschaftertypen unterschieden. Diese waren seit dem CC bekannt und wurden seit dem AHGB und HGB als offener Gesellschafter/persönlich haftender Gesellschafter (phG) bzw. Komplementär und als Kommanditist bezeichnet. Die Haftung der in der KG hinzutretenden Kommanditisten begrenzte sich auf ihre Einlage. Im gleichen Zug wurden ihre sich aus ihren Eigentumsrechten ableitenden Verfügungsrechte in institutionenökonomischer Terminologie verdünnt und ihr Einkommen aus dem Unternehmen zur Verfügung gestellten Kapital ab AHGB auf dessen Verzinsung reduziert. Die Kontrolle der Kommanditisten erstreckte sich im Code de Commerce auf die Möglichkeit der Einsicht in die Handelsbücher. Die kaufmännische Rechnungslegung war zu Beginn des Untersuchungszeitraums wenig reglementiert. Die Bücher waren aber vor den Gerichten als Beweismittel zugelassen. Vgl. zu Haftungsbegrenzung auf die Vermögenseinlage Art. 26 CC (1812), S. 14; Art. 150, S. 68 i. V. m. Art. 161, Abs. 2 AHGB, S. 70 f.; § 167 i. V. m. § 161 HGB, S. 49. Zum Begriff der Verdünnung von Verfügungsrechten vgl. Göbel: Institutionenökonomik (2002), S. 78. Zur Gewinnbeteiligung von Kommanditisten vgl. Art. 161 AHGB, S. 70 f.; analog zu phG vgl. Art. 106–108 AHGB, S. 59; § 167 i. V. m. § 120 HGB, S. 50, 36. Vgl. zur indirekten Kontrolle durch den offenen Rechtsweg bei Streitigkeiten unter Gesellschaftern, Art. 51 CC (1812), S. 25. Ein Recht auf Einsicht in die Papiere und Kaufmannsbücher wurde erst im AHGB gesetzlich verankert. Die Zulassung als Beweismittel vor Gericht galt seit CC. Vgl. Art. 160 AHGB, S. 70; Art. 12 CC (1812), S. 8. 254 Vgl. Zeit: Dahlhausen (1948), S. 63. 255 Vgl. RWWA 122-253-13. 256 Vgl. ebenda. 257 Vgl. RWWA 122-253-17. 258 Vgl. RWWA 122-253-13.

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storbenen Arnold Wilhelm I und Fritz I waren beide 1871 eingetreten. 1875 hatte Fritz II für seinen Vater alters- und krankheitsbedingt die Leitung der Tuchfabrik übernommen.259 Die neue Unternehmensleitung, die sich aus Vertretern der dritten und vierten Generation rekrutierte, versuchte in den Wachstumsmarkt Kammgarnstoffe einzutreten. Gleichzeitig zielte ihr Angebot guter, aber günstigerer Qualitäten darauf ab, im Existenzkampf im Bereich der Streichgarnstoffe, mittlerweile im fortgeschrittenen Marktzyklus, nicht unterzugehen.260 Seit die Branche von der Mode abhängig geworden war, besaßen die Kunden eine geringere Zahlungsbereitschaft für Kleidung. Die Kleidung wurde nun nicht mehr über Generationen vererbt, sondern nach der Mode angeschafft.261 Um sich im Wettbewerb neu zu positionieren, begann man sich bei der Strichtuchherstellung erfolgreich auf Gala-Uniformstoffe und hochfeine Wagentuche zu konzentrieren. In die Türkei wurde feines, blaues Strichtuch, nach Griechenland Doeskin für Trachten, nach Italien kaisergrauer Eskimo für Offiziersuniformen und nach Japan grobes Mannschaftstuch geliefert.262 In die Zeit der Gesamtleitung der Tuchfabrik durch Fritz Hardt II fiel auch die Eisenbahnanbindung der Dahlerau, die 1884 eröffnet und bis Rittershausen erweitert wurde, sodass der Transport rationalisiert und Versandkosten reduziert werden konnten.263 Die junge Generation initiierte nach der Herstellung von Kammgarnstoffen auch den Bau einer Kammgarnspinnerei, um eine größere Unabhängigkeit von Garnlieferanten bei der Produktion von Kammgarnstoffen zu erreichen. In ganz Deutschland wagten nur zwei Tuchfabriken, eine eigene Kammgarnspinnerei zu errichten. Das befreundete Unternehmen, die Kettwiger Tuchfabrik Scheidt, begann erst 1882/1883 mit der Errichtung.264 Die Tuchfabrik Gebrüder Hilger ging in Konkurs, weil sie nicht rechtzeitig auf Kammgarn umgestellt hatte.265 Mit dem Bau einer Kammgarnspinnerei wurde 1879, in der Nähe des Güterbahnhofs in Lennep begonnen. Fritz Hardt II hatte 1878 gemeinsam mit dem Baumeister Albert Schmidt und dem französischen Ingenieur Bolland eine Erkundungsfahrt nach Frankreich und Belgien unternommen, um sich Anregungen für die neue Anlage zu holen. Sie entschieden sich für die neuartige Shedbauweise. Das Gebäude umfasste 23 Sheds à 3,75 Meter und beherbergte Kämmerei, Vorspinnerei und eine Selfaktor-Spinnerei bei einer Länge von 88 Metern und einer Breite von 30 Metern. Um die eigenen Qualitätsstandards einzuhalten, wurde die Woll-Sortierung in eigener Regie durchgeführt und dazu eine WollSortierung und ein Woll-Lager mit den Ausmaßen 75 mal 48 Metern eingerichtet. Die Anlage erweiterten sie um eine Färberei, sodass auch farbiges Garn angeboten werden konnte. Johann Arnold Hardt jr. (1843–1897) wurde mit der Leitung und

259 260 261 262 263 264 265

Vgl. Böse: Wülfing (1948), S. 59, 69. Vgl. RWWA 122-210-1; Zeit: Dahlhausen (1948), S. 59. Vgl. ebenda; Marx: Kammgarn- und Streichgarnspinnerei (1927), S. 50. Vgl. Böse: Wülfing (1948), S. 53. Vgl. Böse: Wülfing (1948), S. 62. Vgl. zur Kammgarnspinnerei der Scheidts Pleitgen: Rechnungswesen (2005), S. 119. Vgl. Böse: Wülfing (1948), S. 53.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

dem Ausbau der Kammgarnspinnerei betraut, deren Betrieb man zum Winter 1880 aufnahm.266 Ähnlich der Vorgehensweise bei der Einrichtung von Dahlhausen verpflichteten die Hardts einen Fachmann, Direktor Hauschel. Er legte die Modalitäten der Einrichtung fest, sodass die Kammgarnspinnerei 1880 eröffnet werden konnte.267 Die zweite Leitungsebene wurde geteilt, kaufmännisch und technisch organisiert. Geeignete Fachleute waren schwer zu finden, die technische Leitung musste in den ersten drei Jahren zweimal ausgetauscht werden, da es den Direktoren nicht gelang, die Kammgarnspinnerei aufzubauen. Mit Georg Zeutschel und Emil Friedel fanden sie Kandidaten, die die Aufgaben der technischen und kaufmännischen Leitung von 1883–1918 bzw. von 1881–1905 übernahmen.268 Einem patriarchalischen Unternehmertum verpflichtet entstanden in den 1880er Jahren Arbeiterhäuser auf dem Weg nach Beyenburg und ein Konsumvereinsgebäude, in dem sich die Arbeiter mit Waren des täglichen Bedarfs zu günstigen Preisen eindecken konnten.269 Die Baumaßnahmen wurden 1890, nachdem die Webereibauten mit Wäscherei und Walkerei fertiggestellt waren, durch die Flut im November 1890 unterbrochen. Die Überflutung von Teilen des Betriebs veranlasste Fritz II den Bau einer Talsperre zu initiieren. Im gleichen Jahr beleuchtete man bei JW & S die Fabrikanlagen erstmals in Deutschland nicht mehr mit Gas, sondern elektrisch. Die Gleichstrommaschinen stammten von Siemens & Halske. Um 1900 sorgten 1.526 Glühlampen und sechs Bogenlampen für die Beleuchtung. 1899 wurde auf dem Hof Schlenke ein Elektrizitätswerk errichtet, das gemeinsam mit den Dampfzentralen Lennep und Dahlerau die Hardt’sche Fabrikstadt und die gesamte Umgebung mit Strom versorgte. Eine CompoundDampfmaschine mit 520 PS sorgte für den Antrieb in der Tuchfabrik.270 Nach den Kommanditierungen in Südamerika und der Überführung der Spinnerei in eine KG entwickelte sich seit 1884 eine Art Dachorganisation der Unternehmen, die aufgrund ihres hybriden Charakters zwischen Netzwerk und Konzern einzuordnen ist. Die Beteiligungen der einzelnen Familienstämme sind in Abb. 11 ersichtlich. Die Brüder Albert I und Hermann I vereinten 69 % des Eigenkapitals auf sich bei einer Gewinnbeteiligung von zwei und einem Achtel. Die vierte Generation Arnold Wilhelm II, Fritz II und Albert II hielten jeweils 15 % und 2 %. Arnold Wilhelm II erhielt 2/8, während die anderen Nachfolger je 1/8 erhielten. Die zwei tragenden Säulen JW & S und Hardt & Co waren weiterhin über familiäre Netzwerke miteinander verbunden, die Beteiligungen von JW & S und die überseeischen Kommanditierungen von JW & S und Hardt & Co in einer frühen 266 Vgl. RWWA 122-210-1. 267 Vgl. RWWA 122-200-18. Firmengeschichte: Die Entwicklung der Abteilung Kammgarnspinnerei [Manuskript], o. D. 268 Vgl. RWWA 122-210-1; RWWA 122-200-18. Die Direktoren der Kammgarnspinnerei waren 1880–1882 Th. Hauschel, technisch, 1882–1883 Hermann Brück, technisch, 1881–1905 Emil Friedel, kaufmännisch, 1883–1918 Georg Zeutschel, technisch, 1905–1932 Carl Schultz, kaufmännisch, seit 1920 Prokura. 269 Vgl. Schmoeckel: Fürsorge (1991), S. 8–10, S. 9. 270 Vgl. Böse: Wülfing (1948), S. 65; RWWA 122-0133.

4.1 Vorbereitung im Nachfolgeprozess und Generationswechsel

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Konzernstruktur eingebunden. Die tragende Verbindung, Hermann I bei JW & S und Richard bei Hardt & Co, bestand über 40 Jahre, in denen beide in jeweiligen Unternehmen Gesellschafter waren. Die Gemeinschaftsgeschäfte wurden in den 1890er Jahren formalisiert. Hardt & Co erhielt eine 10%ige Leitungsprovision. Die Besorgung von Akzeptkrediten, der Erhalt von Kreditlinien und Liquidität von JW & S wurde zu einer der Hauptaufgaben der Berliner.271 Auf die Nachkommen der Linien Engelbert Hardt und Johann Arnold jr. wurde die Leitungsverantwortung bei JW & S, der Tuchfabrik und der Kammgarnspinnerei aufgeteilt. Als neues Geschäftsfeld kamen 1883 Grundstücksankäufe, sogenannte Estancien in Südamerika, hinzu, die gemeinsam mit der verwandtschaftlich verbundenen und befreundeten Familie, z. B. dem Wollhändler Tieman, betrieben wurden.272 Abb. 11

Hybride Unternehmensorganisation 1884

Quelle: RWWA 122-0131; RWWA 0132; RWWA 122-079; RWWA 122-078.

Seit Mitte der 1870er Jahre konnte der Nordamerikahandel (bis auf 1876) wieder ausgedehnt werden. Die Umsatzrentabilität blieb jedoch im einstelligen Bereich. Der Export nach Sydney und Melbourne brachte bis auf 1881 und 1884 keine konstanten Ergebnisse im Absatz. Australien blieb wie Neuseeland als Beschaffungsmarkt interessant. Kaufkraft und Witterung hingen in Australien zusammen: In Dürreperioden fehlte den Arbeitern das Geld für Tuch. Das von den niedrigen Zollsätzen her interessante Geschäft nach Asien, Japan, Hongkong, China, wo man mit Siemmsen & Co zusammenarbeitete, war von den Volumina 271 Vgl. RWWA 122-274-5. Johann Wülfing & Sohn – Geschäftliche Privatbriefe an Hardt & Co., 1896–1899; RWWA 122-274-3. Dass., 1904–1906. 272 Vgl. RWWA 122-251-3; RWWA 122-251-9; RWWA 122-0131; RWWA 122-0133.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

eher gering.273 Der europäische Handel mit Holland, Frankreich, Italien und der heimische Absatz sowie die Zinseinnahmen von HP & Cie und der Kammgarnspinnerei brachten in den 1880er und 1890er Jahren sichere Einkünfte (vgl. Abb. 12).274 Um 1880 erholte sich der nordamerikanische Markt, 1880–1886 wurden hohe Umsätze getätigt. Der zu Ausbildungszeiten der vierten Generation einsetzende Rückgang der Rentabilität des amerikanischen Markts erlebte mit der MacKinley-Bill in den 1890er Jahren, die die Textilindustrie gleichermaßen traf, einen neuen Höhepunkt. Von 1891 bis 1900 hatten sich die Umsätze in Nordamerika bei JW & S um 59 % reduziert.275 Die Volatilität des Absatzes der Stoffe schwankte mit der wirtschaftlichen Konjunktur, der Mode und den Witterungsbedingungen. Die Winter durften nicht zu kalt und nicht zu mild sein, um Textilien gut verkaufen zu können. Es durften keine großen Teile der Verbraucherbudgets für Kohle und Lebensmittel gebunden sein. Milde Winter wie 1891 konnten den Abverkauf des Lagers verhindern. Von der Drosselung der Textilexporte wurden z. B. auch die Kettwiger Tuchfabrikanten Scheidt erfasst.276Auch das Exportgeschäft (Fremdwaren) mit Südamerika war nicht mehr so stark wie in den 1870er Jahren. Der südamerikanische Markt war in den 1890er Jahren durch Geldentwertungen in Argentinien und Chile geschwächt worden. Nach 1895 erholte sich der Absatz.277 Bei der Finanzierung hielten sich Richard und Heinrich an die Grundsätze, die auch ihre großen Brüder verfolgten: Minimierung der Bankkredite und Wahrung der Unabhängigkeit. Im Export mit zugekauften Waren dominierten weiterhin die gemeinschaftlichen Geschäfte, à meta mit Hardt & Co, die im Familienverbund über die Verbindungen der Senioren und Brüder Hermann I, Albert I, Richard und Heinrich koordiniert wurden. Im Zeitraum von 1880 bis 1889 stieg die Bilanzsumme bei Hardt & Co von 5.413.663 Mark auf 14.463.631 Mark um 167 %. Das Eigenkapital wuchs zwar jährlich durchschnittlich um 6,45 %, weitete sich aber nicht proportional zur Bilanzsumme aus. Somit konnte die Eigenkapitalquote nicht auf dem Niveau des Jahres 1880 von 61 % gehalten werden, sondern sank bis 1889 auf 39 %.

273 Vgl. RWWA 122-251-3; RWWA 122-251-9; RWWA 122-0131; RWWA 122-0133. 273 Vgl. RWWA 122-245-2. Kalkulation Japangeschäft, 11.05.1897. Der Zoll in der Kalkulation betrug 4,6 %, Kommission 5 %, Delkredere 1 %, Feuer 0,5 %. 274 Vgl. RWWA 122-0133. 275 Vgl. ebenda. Die Umsätze haben 1891 565.769 Mark und im Jahr 1900 nur noch 238.221 Mark betragen. Zu amerikanischer Zollpolitik und Exportproblemen nach Brasilien, Argentinien und Chile vgl. Thom: Bergische Unternehmer (1965), S. 51. 276 Vgl. Pleitgen: Rechnungswesen (2005), S. 125 f. 277 Vgl. RWWA 122-0134. Eine parallele Entwicklung fand sich bei Scheidt. Dazu Pleitgen: Rechnungswesen (2005), S. 126.

4.1 Vorbereitung im Nachfolgeprozess und Generationswechsel

Abb. 12 Abb. 12 a

Gegenüberstellung der Absatz- und Gewinnentwicklung 1870–1903. Deutschland

Abb. 12 b

Europa (Frankreich, Italien und Holland)

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Quelle: RWWA 122-0132; RWWA 122-0131; RWWA 122-0133; RWWA 122-0134.

Das Fremdkapital bei Hardt & Co Berlin war ähnlich wie das von JW & S strukturiert. Banken gehörten auch bei Hardt & Co zunächst nicht zu den Hauptkapitalgebern. Im Durchschnitt entfielen nur 5 % des Fremdkapitals auf Bankkredite, ausgenommen das Jahr 1883, in dem ein Kredit in Höhe von 941.395 Mark bei der Deutschen Bank (16,5 % des Fremdkapitals) aufgenommen wurde. Die Bankkredite wurden in der Regel kurz- bis mittelfristig ausgeliehen und von Hardt & Co schnell zurückgeführt. Hardt & Co finanzierte die Einkäufe von Textilien und

148

4. Die Unternehmen der Familie Hardt

Kurzwaren hauptsächlich über Akzepte, die im Zeitraum von 1880 bis 1889 einen Anteil zwischen 16 % und 47 % am Fremdkapital aufwiesen, und über kurzfristige Lieferantenkredite.278 Die aus der Familie Hardt und dem Freundeskreis akquirierten Gelder waren im Vergleich zu JW & S eher gering. In den 1880ern betrugen diese maximal 450.000 Mark.279 Bei der Unternehmensleitung von Hardt & Co zeichnete sich Mitte der 1870er eine Nachfolgelücke mangels männlicher Nachkommen ab. Richard, mittlerweile in den Adelsstand erhoben, und Heinrich, der vermutlich über seine Ehe mit Ottilie von Bernuth Verbindungen zu adeligen Kreisen pflegte, hatten jeder eine Tochter. Beide, Dora und Louise, heirateten 1868 und 1872 in die Familie von Tiedemann ein. Die von Tiedemanns waren wiederum verwandtschaftlich mit der Familie Schemmann, aus der die Frau von Richard stammte, verbunden.280 Louise (1851–1930) heiratete Erich von Tiedemann (1840–1897), sie erwarben das Rittergut Kranz, auf das zwei weitere mit Betrieb einer Brennerei und einer Zuckerfabrik folgten. Er war im preußischen Parlament als Abgeordneter der freikonservativen Partei und im Ostmarkenverein aktiv.281 Da Richards Sohn Friedrich Wilhelm keine Nachfolge bei Hardt & Co anstrebte, hatten Richard und Heinrich einen Neffen als Nachfolger aufgebaut.282 1875 war der 34-jährige Neffe Engelbert (1847–1919), ältester Sohn von Caroline und Gustav Hardt aus der Duisburger Linie der Familie Hardt, bei Hardt & Co eingetreten und 1878 nach Berlin übergesiedelt, wo er Elisabeth Storp-Hergersberg (geb. 1858) heiratete.283 Nachdem er aus dem Ausland zurückgekehrt war, wurde ein Kapitalkonto auf seinen Namen eröffnet, auf das 309.207 Mark als Kapitaleinlage aktiviert wurden. Von seiner Mutter Caroline stammte ab 1883 ein Darlehen von 177.000 Mark.284 Engelbert Hardt errichtete als eigene Firma z. B. die Firma Engelbert Hardt & Co in Buenos Aires und Montevideo, für die er getrennt Gewinne in Berlin gutgeschrieben bekam. Diese entwickelten sich positiv.285 Er übernahm in der DreierSpitze vermutlich auch die Reisen, da Heinrich 1860–1862 das letzte Mal in New 278 Vgl. RWWA 122-079. Bilanzbuch Hardt & Co, Berlin für 1878–1894. 279 Vgl. ebenda. Zu den Financiers aus der Familie Hardt gehörten außer Ottilie, Walter und Aline auch Vertreter der Duisburger Linie Gustav und Lina Hardt. Seit dem Eintritt von Engelbert findet sich eine Position über 177.000 Mark seiner Mutter Caroline „Lina“ Hardt. Ferner erscheint der leitende Angestellte Walter Quincke mit einer Position um 200.000 Mark im Kontokorrent. 280 Vgl. zur Familie von Tiedemann Weichbrodt: Von Tiedemann (1981), S. 152 f. ; zur Verbindung v. Tiedemann und Familie Schemmann aus Hamburg vgl. S. 297. 281 Vgl. zu Erich von Tiedemann Weichbrodt: Von Tiedemann (1981), 153 f. 282 Vgl. RWWA 122-251-9; von Wismar: Stammbaum (1979), S. 45. 283 Vgl. von Wismar: Stammbaum (1979), S. 38, 39; zur Teilhaberschaft der Duisburger Linie der Familie Hardt bei Hardt & Co vgl. RWWA 122-079. 284 Vgl. ebenda. Elisabeth Storp-Hergersberg war die Tochter von August Storp-Hergersberg (1818–1866) und Elisabeth Scheffer-Boichorst (1833–1914). Vgl. hierzu von Wismar: Stammbaum (1979), S. 38. 285 Vgl. zu den Firmen RWWA 122-206-5. Zirkular und Adressatenliste, 01.08.1898; zu den Gewinnen vgl. RWWA 122-079; RWWA 122-078. Bilanzbuch Hardt & Co für 1895–1912.

4.1 Vorbereitung im Nachfolgeprozess und Generationswechsel

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York war. Er vereinte zahlreiche Aufsichtsratsmandate auf sich, wie das der Disconto-Gesellschaft, des Deutschen Lloyds, des Internationalen Lloyds und von Versicherungsgesellschaften in Berlin sowie des Aufsichtsrats des Phoenix’ in Hoerde, der Landbank in Berlin und der C. A. Köhlmann & Co, Stärkezuckerfabrik in Frankfurt an der Oder und wurde zum Geheimen Kommerzienrat ernannt.286 Zu der Geschäftstätigkeit von Hardt & Co, À-meta-Geschäfte mit JW & S, wurden auch selbständig Geschäfte abgewickelt. Zu den angestammten Geschäften handelten die Hardts in dieser Zeit mit Immobilien in Südamerika, indem Estancien an- und verkauft wurden. Durch Hypotheken- und Grundstücksgeschäfte federten sie den Gewinneinbruch ab.287 1889 verstarb Heinrich Hardt. In seinem Todesjahr hielt er einen Anteil am Eigenkapital von 40 %. Seine Witwe Ottilie, geb. von Bernuth, übernahm den Anteil ihres Mannes bei Hardt & Co. In den Folgejahren wurde der Anteil mit einem konstanten Wert von 2,1 Mio. Mark weitergeführt.288 Der langjährige Vergleich des Reinvesitionsverhaltens weist, wie in Abb. 13 c dargestellt, auf einen Kapitalabzug in den 1890er Jahren, auf die Stammesnachfolgen und den 1895 nach dem Tod von Hermann I stattfindenden Generationenwechsel hin. Ab 1897 arbeitete der junge Senior Fritz II mit zwei Nachfolgern, Hermann II und Fritz III, zusammen. Die personellen Zäsuren im Stammhaus in den 1890er Jahren führten zu einer größeren Finanzierungslücke als bei Hardt & Co 1889. Die Eigenkapitalquote fiel nach dem Versterben von Hermann I und Arnold Wilhelm II von 1895 bis 1897 unter 40 %. Das Reinvestitionsverhalten weist jedoch nicht auf systematische Überentnahmen hin. Der Gesamtgewinn durch das von Fritz II akquirierte Fahrradwerk Elite, das sich zu einem Desaster entwickelt hatte, machte bereits in den Jahren 1897 und 1898 400.000 Mark Verlust. Darüber hinaus wurden Verluste auf den Immobilienkonten ausgewiesen.289 Politisch engagierten sich auch die Vettern Fritz II und Arnold Wilhelm II auf lokaler Ebene, wie es bereits seit Johann Arnold sen. bei den Hardts üblich war.290 Seit 1882 war Fritz II mit 25 Jahren die nächsten 25 Jahren lang bis kurz vor seinem Tod wie der Vater Mitglied des Stadtverordneten-Kollegiums, des Kreisausschusses und darüber hinaus auch auf regionaler Ebene wie sein Onkel Arnold Wilhelm I Vertreter des Kreises Lennep im Provinziallandtag.291 Noch zu Lebzeiten seines Vaters wurde Fritz II Mitglied des Landrats und später der Handelskammer. Zu seinen sozialen Projekten gehörten der Krankenkassenverein und die Reorganisation der freiwilligen Feuerwehr. In seinem Nachruf wurde er als Person „ausgezeichnet mit scharfem Urteil und weitem, klarem Blick“, „von schlichtem, biedern Wesen stand er allen Kreisen der Bürgerschaft, auch den 286 Vgl. von Wismar: Stammbaum (1979), S. 38. 287 Vgl. RWWA 122-0133. Ab 1890 wurde von Hardt & Co für die Gemeinschaftsgeschäfte eine 10%ige Provision vereinnahmt. 288 Vgl. RWWA 122-079. 289 Vgl. RWWA 122-0133; RWWA 122-0134. 290 Vgl. RWWA 122-207-5. Arnold Wilhelm II war 1879 an die Stelle seines verstorbenen Vaters ins Stadtverordnetenkollegium nachgerückt. 291 Vgl. ebenda; RWWA 122-206-7. Nachruf auf Fritz II, in: Kölnischen Zeitung, 21.09.1906.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

Kleinsten unter ihnen nahe“ und „mit hohem Gemeinsinn ausgezeichnet“ beschrieben.292 Am 05.10.1898 erhielt er den Roten Adlerordens vierter Klasse.293 1897 wurde er zum Kommerzienrat, 1903 zum Geheimen Kommerzienrat ernannt. Zu seinen privaten Aktivitäten gehörte, wie bei seinem Onkel Arnold Wilhelm I, die Jagd.294 Arnold Wilhelm II blieb dem Wahlspruch seines Großvaters „Ich und mein Haus wollen dem Herrn dienen“ treu. Seine Aktivitäten ähnelten mit dem Stadtverordneten-Kollegium, in das er 1879 eintrat, und den erhaltenen Ehrungen, wie dem Kommerzienratstitel, denen seines Vaters.295 Abb. 13 a

Bilanzsumme und Eigenkapital JW & S 1871–1915

292 Vgl. ebenda. Mitglied des Landrates 1876–1906. Nachruf erschienen in der Kölnischen Zeitung, 21.09.1906; RWWA 122-206-6. Lenneper Kreisblatt, 17.03.1880, Nr. 25; Lenneper Kreisblatt 26.03.1880, Nr. 22. Seine Witwe Auguste stiftete der Pensionskasse von JW & S 125.000 Mark. 293 Vgl. RWWA 122-199-7. Verleihung des Roten Adlerordens vierter Klasse, 5. Okt. 1898; Verleihung des Titels „Kommerzienrat“, 31. Aug. 1899, und des Titels „Geheimer Kommerzienrat“. Patent, 30. März 1903. 294 Vgl. RWWA 122-276-13. Jagdpacht und Jagdpachtsteuern, 1896–1897; RWWA 122-206-1. Jagdbücher Arnold Wilhelm I. 295 Vgl. RWWA 122-207-5. Nachruf auf Arnold Wilhelm II, ersch. im Lenneper Kreisblatt, 28.11.1897, Nr. 184, 68. Jg.

4.1 Vorbereitung im Nachfolgeprozess und Generationswechsel

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Abb. 13 b

Gewinne JW & S 1871–1915

Abb. 13 c

Reinvestition unter der 3./4. und 5. Generation bei JW & S von 1870–1903

Quelle: RWWA 122-0132; RWWA 122-0133.

Im Nachfolgeprozess wurde nicht von den Stufen Ausbildung, Probephase, frühe und späte Entwicklungs- und Führungsphase abgewichen. Bereits im Kindesalter lernten die Kinder Sparsamkeit kennen. Als weitere zentrale Tugend ist Gehorsam zu nennen. Das Eintrittsalter als Gesellschafter lag bei Ende 20 mit Ausnahme von Fritz II, der aufgrund des gesundheitlichen Zustands seines Vaters früher aufgenommen wurde. Die Ausbildung war so angelegt, dass intern eine Arbeitstei-

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

lung umgesetzt werden konnte. Die Jüngeren wurden mit anstrengenden Reisen betraut, während die Älteren im Stammhaus blieben. Die 1850er Jahre hatten gezeigt, dass auf die Besonderheiten der regionalen Absatzregionen bis hin zum einzelnen Händler zu achten war. Die hierfür notwendigen Marktkenntnisse wurden durch eine „marktnahe Ausbildung“ in den Auslandsfilialen von Hardt & Co und JW & S erworben. Die Ausbildung selbst wurde zum Wettbewerbsvorteil gegenüber kleineren Wettbewerbern, die zu profunden Kenntnissen ohne Präsenz vor Ort keinen Zugang hatten und diese folglich nicht an ihre Nachfolger weitergeben konnten. Für die jüngeren Söhne wurde versucht, bei Überbesetzung des Stammhauses die Unternehmens- und Nachfolgestrategie zweckmäßig zu kombinieren. Sie erhielten Wirkungskreise, die sich in die Wertkette einpassten bzw. zu ihrer Integration den Anstoß gaben. Durch die Einrichtung einer Streichgarnspinnerei konnte die Integration des Produktionsprozesses von der Vorbehandlung der Wolle über Spinnerei, Weberei und Färberei des Tuchs bis zu ihrem Versand und Verkauf vorangetrieben werden. Es gelang jedoch zu diesem Zeitpunkt noch nicht, die gesamte Wertschöpfungskette zentralisiert an einem Ort zu konzentrieren. Zwischen der Tuchfabrikation auf der Dahlerau, der Spinnerei in Dahlhausen und dem Kontor in Lennep fielen Transporte an, die die Kosten, aber den Wert der Produkte nicht erhöhten. Nicht alle Söhne akzeptierten die geringe Entscheidungsfreiheit über den eigenen Lebensentwurf, so z. B. bereits in den 1870er Jahren Fritz’ Sohn Hermann oder Richards Sohn Friedrich Wilhelm, aber auch Ende der 1880er Jahre Albert II. Unterwarfen sie sich nicht den Plänen der Seniorunternehmer, wurde versucht, über stammesübergreifende Familiendisziplin einen solchen Junior wie z. B. Hermann wieder auf Linie zu bringen. Dies führte zu Konflikten innerhalb der Familie und beinahe zum Bruch zwischen Vater und Sohn. Die Söhne besaßen bis zu ihrem Eintritt wenig Entscheidungsfreiheit, waren sie doch weitgehend eher Befehlsempfänger. Die Machtverteilung bei der Erziehung und später bei der Verteilung der EuV-Rechte im Unternehmen blieb während der Überlappungsphase der Generationen bei JW & S und auch zwischen Tuchfabrik und Spinnerei weitgehend erhalten. Diese und mit ihr auch die jüngsten Söhne waren weiterhin von JW & S bzw. ihren Vätern und Senior-Unternehmern und später von ihren älteren Brüdern, die Anteile der Spinnerei 1874 als Geschenk erhielten, abhängig. Die jüngeren Gesellschafter arbeiteten zwischen sieben und neun Jahre als Gesellschafter mit ihren Vätern und bis zu 24 Jahre mit ihrem Onkel Hermann I zusammen. Sie waren kurz nach Kriegsende 1871 eingetreten und erlebten gemeinsam den Gründerboom. In dieser Zeit wurden die Weichen für die Kammgarnproduktion, den Fabrikantenhandel und den Direkteinkauf von Rohstoffen gestellt. Die Schwiegersöhne rückten nur bei Hardt & Co als Gesellschafter nach, im Stammhaus wurden angeheiratete Familienmitglieder nicht als Gesellschafter zugelassen. Eine starke familiäre Kohäsion ist für die fünf Brüder der dritten Generation festzustellen, sowohl bei den Lennepern als auch bei den Berlinern. Letztere bewohnten sogar gemeinsam mit ihren Familien einen Repräsentationsbau in Berlin. Auch zwischen der Linie von Engelbert, die den Großteil des Eigentums

4.1 Vorbereitung im Nachfolgeprozess und Generationswechsel

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auf sich vereinte, und der von Arnold Wilhelm gab es keine überlieferten Auseinandersetzungen. Der Zusammenhalt wirkte als ein Erfolgsfaktor für die dritte, nicht zuletzt aber auch als Leitbild für die vierte Generation, die im Klima der familiären Kohäsion sozialisiert wurde. Für die Stärkung der Familienbande organisierte Arnold Wilhelm I für seinen Stamm Familienfeste. Die anderen Stämme verfuhren vermutlich ähnlich. Die Teilhaber des Stammhauses wohnten mit ihren Familien allesamt in Lennep und trafen sich stammesübergreifend bei Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen und zu Feiertagen. Die Hardts, vor allem der Berliner Zweig, legten nun bei ihrem Lebensstil, betrachtet man den Bau am Tiergarten, Wert auf Repräsentation. Ob Richard die politische Gesinnung des Schwiegersohnes von Tiedemann, der Mitglied in der freikonservativen Partei war und sich dem Ostmarkenverein zugewandt hatte, teilte, ist nicht überliefert. Eine Annäherung an adelige Kreise ist bei den Teilhabern von Hardt & Co in der Wahl der Heiratspartner der Töchter, aber auch in Richards Erhebung in den Adelsstand zu erkennen. Auf dem Land in Lennep waren Arnold Wilhelm I und der Stamm von Fritz I zwar in Jagdgesellschaften aktiv und erwarben Grundbesitz, ohne jedoch bürgerliche Bezüge zu verlassen und sich dem Adel allzusehr anzunähern. In Lennep wurden die Nachfolger fern der Hauptstadt in gewohnten Bahnen des Großbürgertums sozialisiert. Die Nachfolger Fritz II und Arnold Wilhelm II wurden bereits zu Lebzeiten ihrer Väter politisch auf lokaler und regionaler Ebene aktiv. Sie folgten ihren Vätern nach deren Tod in die Ämter im Stadtverordneten-Kollegium, in dem die Familie traditionell mehrfach präsent war. Sie erhielten Ehrungen wie den prestigekräftigen Kommerzienratstitel. Die Familie Hardt versuchte nicht nur, eine gefühlsmäßige Verbindung von Familie und Unternehmen zu erhalten, sondern auch eine Bindung der Angestellten mit dem Unternehmen zu erzeugen. Die Werksfamilie wurde durch den Bau von Arbeiterwohnungen und sozialen Maßnahmen konstituiert. Fritz II gab sich trotz des patriarchalischen Führungsstils durch seine Mundart sehr volksnah und schien über seine physische Präsenz greifbar zu sein. Die unternehmerischen Entscheidungen der späten dritten/vierten Generation vereinten erneut Handel, Innovation und institutionelle Weiterentwicklung. Wie bei der Streichgarnspinnerei wurde für neue Geschäftsbereiche in der angestammten Textilbranche wiederholt Fachwissen über die Anstellung von Direktoren für die Kammgarn- und Kunstwollherstellung zugekauft.

4.1.5 Übergabe an die 5. Generation, Nachfolger im globalen Textil- und Wollhandel Beide Stammesnachfolger Hermann II und Fritz III traten im Vergleich zu ihren Vorgängern beim Generationenwechsel ein vergleichbar schweres Erbe an, da sich die Textilbranche in den 1890er Jahren wegen der amerikanischen Handels-

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

politik in einer Existenzkrise befand.296 Hermann II (1866–1938) hatte seine Lehre bei dem befreundeten Handels- und Speditionshaus Tieman in Antwerpen, einem der Hauptumschlagsplätze für Kolonial-Wolle, und seinen Militärdienst bei den Husaren in Düsseldorf absolviert. Hermann II gehörte als Nachkomme von Louise Hardt, geb. Bauendahl zu den Stipendiaten der Walter Bauendahl’schen Familienstiftung, die für Aussteuern, das Startkapital für die Selbstständigkeit oder „zur Gewährung von Stipendien, zur Gewährung von Erziehungsgeldern zur Unterstützung von Hilfsbedürftiger unter den Berechtigten“ dienen sollte.297 1897, zwei Jahre nach dem Tod seines Vaters und drei Jahre nach dem Eintritt bei JW & S heiratete er im Alter von 31 Jahren seine Cousine Auguste (1876–1954), die Tochter des Handelspartners Daniel Fuhrmann und Laura, geb. Hardt aus Antwerpen.298 Durch diese Heirat kam es innerhalb von zwei Generationen zu einer zweiten Verbindung der in der Textilbranche tätigen Familien Hardt und Fuhrmann. Heiratete Hermann II im Verwandtenkreis, dehnte Großcousin Fritz III (1873–1959) im Jahr 1901 mit seiner Heirat von Auguste (1881–1962), der Tochter des Konkurrenten Johann Wilhelm Scheidt, die Heiratskreise seiner Familie in das Ruhrgebiet aus.299 Die üppige Aussteuer, die Auguste Scheidt in die Ehe mitgegeben wurde, zeigt, dass die Familie Hardt Ende des Jahrhunderts fest im Großbürgertum verankert war.300 Die Braut hatte vor ihrer Ehe zusammen mit anderen Unternehmertöchtern, z. B. aus den Familien Prym und Hengstenberg oder den Schwestern Schuchard, ein Pensionat für höhere Töchter besucht.301 Fritz III hatte seine Schulzeit in Lennep verbracht. 1890 verließ er das Realgymnasium nach der mittleren Reife mit gutem Erfolg, „um sich dem Kaufmannsstande zu widmen“302. Er machte eine Tuchmacherlehre in der familieneigenen Tuchfabrik auf der Dahlerau. Vor seinem Eintritt im August 1898 mit 25 Jahren wurde Fritz III, wie zuvor sein Großcousin Hermann II, 1892 auf Auslandsreisen geschickt.303 Die Fernreisen waren vor dem Hintergrund der international unterschiedlichen Marktansprache und sehr zu differenzierenden Sortimentspolitik der lokalen Händlerschaft sinnvoll und galten nicht dem Amusement der Nachfolger. Dies zeigen die Tagebücher von Arnold Wilhelm III aus dem Jahr 1907/08, der wie sein Vater und Großcousin Fritz III auf Auslandsreise geschickt wurde, bei denen er monierte, dass ihm der „Genuß“ und kulturelles Vergnügen fehlte.304 296 Vgl. zu amerikanischer Handelspolitik der 1890er Jahre Pleitgen: Rechnungswesen (2005), S. 126; Thom: Bergische Unternehmer (1965), S. 51. 297 Vgl. RWWA 122-155-13. Testament, 17.02.1882 von Walther Bauendahl (gest. 22.06.1886). Das Stiftungskapital für 17 Berechtigte und ihre Erben betrug 1 Mio. Mark. 298 Vgl. von Wismar: Stammbaum (1979), S. 45; Rospatt: Nachrichten (1904), Tafel VI. 299 Vgl. RWWA 122-226-5. Gedenkblatt zur Hochzeit von Fritz III und Auguste Scheidt; von Wismar: Stammbaum (1979), S. 54. 300 Vgl. RWWA 122-245-4. Hausbau von Fritz III, 1902–1902, der von Fritz II mitfinanziert wurde. 301 Vgl. RWWA 122-324-2. Poesiealbum Auguste Hardt, geb. Scheidt, 1896–1898. 302 Vgl. ebenda; RWWA 122-226-4. Schulzeugnisse Fritz Hardt III, 1880–1890. 303 Die Auslandsreise 1892 von Hermann ist den diesbezüglichen Spesenzuweisungen zu entnehmen. Vgl. hierzu RWWA 122-0133. 304 Vgl. RWWA 122-174-4. Reisetagebuch Arnold Hardt III, 1907–1908.

4.1 Vorbereitung im Nachfolgeprozess und Generationswechsel

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Fritz III unternahm zwei große Auslandsreisen im Zeitraum von 1895 bis 98 und 1904. Auf seinen Reisen besuchte er einen Großteil der Handelspartner, die via Zirkular über seinen Eintritt 1898 unterrichtet worden waren.305 Die erste Reise führte ihn in die New Yorker Filiale von Hardt & Co, mittlerweile Hardt, Bernuth & Co. Von New York aus reiste er nach Pittsburgh, Cincinnati, St. Louis, Louisville und Milwaukee.306 Zu den Abnehmern während der ersten Jahre von Fritz III und Hermann III gehörten u. a.: Gravier, Gaspari, Jules Violet, die „frères“ Smyrna, Sofia307, die mit sehr unterschiedlichen Qualitäten beliefert wurden. Nach Nordamerika verkauften sich vor dem Ersten Weltkrieg auch Wagentuche308. Wie die Nachfolger die Markt-, genauer gesagt die Ansprache des einzelnen Abnehmers erlernten, erfährt man aus den Briefen von Fritz III an seine Familie und seinen Vater. In einem Turnus von sieben bis zehn Tagen schrieb er nach Lennep, wobei der Postweg ungefähr zwölf Tage betrug. Nach sechs Monaten hatte er sich auch gesellschaftlich eingelebt, ging ins Theater, in den Deutschen Club, in den Athletic Sport Club und pflegte die Beziehungen mit der Familie von Bernuth. Im Frühjahr 1897 besucht er eine Kammgarnspinnerei im Umkreis von New York und lernte Frederik Fleitmann, einen amerikanischen Fabrikanten, kennen. 1896 wurde sein Bruder Heinrich (1877–1903) in der Tuchfabrik und anschließend um 1903 bei Hardt & Co tätig und heiratete im gleichen Jahr Marie Luise (1880–1956), die Tochter von Theodor Pokorny.309 Bereits im Mai 1897 erfuhr Fritz III, dass er über San Francisco und Canada, 4.300 Meilen, eine zweiwöchige Reise nach Yokohama, von dort nach Australien und Neuseeland antreten würde. Er freute sich auf die Reise und hoffte, „daß auch geschäftlich mein Hingehen nicht nutzlos sein wird “310. War Fritz III zu einer Zeit der Belebung des Nordamerikahandels aufgrund der Mitte des Jahrzehnts gesunkenen Zollsätze nach New York gegangen, wurde er, als die Handelspolitik restriktiver wurde, nach Australien und Asien abberufen. Den Kalkulationen zufolge handelte es sich bei Australien, Neuseeland und Japan um Gebiete gemäßigter Zölle.311

305 Vgl. RWWA 122-206-5. Zirkular und Adressatenliste, 01.08.1898; RWWA 122-285-6; RWWA 122-244-6. Fritz III an seine Mutter, Hamburg 28.10.1896. 306 Vgl. RWWA 122-244-6. Briefe von Fritz Hardt III aus dem Jahr 1897; RWWA 122-245-1. Briefe von Fritz Hardt III Weltreise, 1896–1998, 1904–1909; RWWA 122-245-2. Fritz Hardt III Korrespondenz, 1896–1897, bspw. Paul Hoesterey von Hardt, Bernuth & Co, New York an Fritz III, 28.09.1897 307 Vgl. ebenda; RWWA 122-206-5. Zirkular und Adressatenliste, 01.08.1898; RWWA 122-20117. Fritz III an seinen Vater, Constantinopel 25.10.1904. 308 Vgl. RWWA 122-204-4. Fabrikation der Uni-Qualitäten 1872–1899; Exportländer der UniQualitäten, 1884, 1893–1894 und 1898–1914. 309 Vgl. RWWA 122-0133; von Wismar: Stammbaum (1979), S. 56. Die Mutter von Marie Luise war Marie Mühlinghaus (1854–1938). 310 Vgl. RWWA 122-245-2. Fritz III an seine Mutter, South Hampton 07.08.1897. 311 Vgl. zur amerikanischen Zollpolitik Pleitgen: Rechnungswesen (2005), S. 126; RWWA 122245-2. Kalkulation Japangeschäft (4,5 % Zoll), 14.05.1897, und Australienkalkulation Hermann II an Fritz III, 18.05.1897 (16,5 % Zoll).

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

In Australien, wo JW & S gemeinsam mit Hardt & Co in Sydney eine eigene Filiale, die Wülfing Woolen Co. gegründet hatte, wurde er in Adelaide von dem dortigen Vertreter Herrn von Drehnen und in Melbourne bei Andrews Brothers vorstellig. Zu den Handelspartnern gehörte auch Fuhrmann & Co in Sydney/Melbourne.312 Sein Gehalt betrug im Jahr 1897 6.000 Mark.313 Erst nach seinem Eintritt 1898 wurde er mit 10 % an dem Gewinn beteiligt.314 Fritz III erhielt aus Lennep die Kalkulationen von seinem Vater oder seinem Großcousin zugesandt, um vor Ort im Verkauf tätig werden zu können. In Australien lernte er wie 1892 Hermann II die beschwerlichen Handelsreisen durch die Weiten des Landes kennen. Teilweise Tage unterwegs, schrieb Fritz III an seinen Vater, wie er Minenarbeitern, die anscheinend entsprechend kaufkräftig waren, Tuche verkaufte. Über die Korrespondenz mit seinem Großcousin Hermann II, z. B. zum Umgang mit Kundenreklamationen, übte er die Zusammenarbeit für das künftige Leitungsgespann. Bei den Vertretern genoss er Familienanschluss. Die Wolleinkäufer trafen sich während der Wolleinkaufszeit im Deutschen Verein.315 Seine Reisen führten ihn 1897/98 auch nach Hongkong und China, wo er Siemssen & Co besuchte.316 Auf der Heimroute, die über Südafrika führte, kaufte er Wolle ein. In Johannesburg, das sich zur Goldgräberstadt mit 100.000 Einwohnern seit den ersten Goldfunden ausgeweitet hatte, kam er über Kapstadt nach Port Elisabeth, dem „wichtigsten Geschäftszentrum“, wo er 1.000 Ballen Wolle per Dampfer verschickte.317 Für die Südafrikareise von Fritz III lagen keine Erfahrungswerte hinsichtlich verlässlicher Handelspartner vor, sodass sich Hermann II an das dortige Konsulat

312 Vgl. RWWA 122-206-5. Eintritt in die Firma als Teilhaber, Zirkular und Adressatenliste, 01.08.1898. Als weitere Handelspartner sind Justus Scharff, Martin Drydale & Co und Wengs & Co, allesamt in Sydney/Melbourne tätig, zu nennen. 313 Vgl. RWWA 122-245-2. Fritz III an Fritz II, Sydney 05.10.1897, und Andrews Brothers an Fritz III, Melbourne 09.09.1897. 314 Vgl. RWWA 122-0133. Die erste Gewinnbeteiligung wurde 1899 vermerkt. 315 Vgl. RWWA 122-245-2. Fritz III an seine Mutter, Sydney 18.10.1897, 01.11.1897. Zur Zeit des Wolleinkaufs und zum diesbezügliches Treffen mit einem Mitarbeiter von Fuhrmann & Co und zu Zusammenkünften im Deutschen Verein vgl. Fritz III an seine Mutter, Sydney 31.12.1897. 316 Vgl. RWWA 122-206-5. Zirkular und Adressatenliste, 01.08.1898. Zu den Geschäftspartnern in Asien und Indien gehörten Reimers & Reiff, Kobe; Bergers & Co, Yokohama; Siemssen & Co, Hongkong; Heilgers & Co, Calcutta. Zum Aufenthalt in Hongkong und China vgl. RWWA 122-244-6. Fritz III an Fritz II, Honkong 09.09.1997. In guten Jahren wollten Siemssen & Co die Stoffe für eigene Rechnung übernehmen und verlangten ab Hamburg 10 % Spesen. Vgl. auch Guido G. Möring/Maria Möring: Siemssen & Co. 1846–1996 (Veröffentlichungen der Wirtschaftsgeschichtlichen Forschungsstelle Hamburg 33), Hamburg 1996; zu Asienreise vgl. RWWA 122-245-2. Fritz III an Fritz II, Adelaide 05.10.1897, Sydney 01.11.1897, Hongkong 9.08.1897; RWWA 122-245-2. Kalkulation Japangeschäft, 14.05.1897. 317 Vgl. ebenda. Fritz III an seine Mutter, South Hampton 07.08.1897.

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wandte. Für die Zusammenarbeit mit Siemssen & Co war seinerseits sogar eine Auskunftei beauftragt worden.318 Fritz II und Engelbert II gründeten weitere Filialen in Südamerika, 1897 kam Montevideo hinzu. Im Vorfeld wurde die Sortimentspolitik festgelegt: Es sollte ein kleines Lager von schwarzen Stoffen angelegt werden, da Dessins nicht für Canada geeignet waren. Die Gewebe wurden so ausgewählt, dass man Garne, die höhere Zölle auslösen würden, mied oder durch andere substituierte, wie Seide durch merzerisierte Baumwolle. Die Preispolitik wurde für Schneider und Lager, die 8 % weniger zu zahlen hatten, differenziert und Zahlungsmodalitäten festgelegt.319 1904 führte ihn seine Balkanreise über Bukarest, wo die teuren Artikel nicht nachgefragt wurden, bis nach Konstantinopel.320 Er machte einen Zwischenhalt bei dem langjährigen Geschäftspartner seines Vaters, Herrn Violet, der ihn in die Besonderheiten des lokalen Markts einführte,321 indem er in seinem Geschäft Einblicke in sein Lager gewährte und ihn dort verkaufen ließ. Über all diese Erlebnisse erhielt sein Vater, wie schon Generationen zuvor die anderen Väter, dezidiert Bericht, so z. B. über die Einschätzung des Sohnes zu dem in Bukarest ansässigen Handelspartner, Efrain, der auf Fritz III „einen sehr tüchtigen Eindruck“ machte.322 Zu dem Handelspartner in Konstantinopel, Herrn Violet, bestanden seit Längerem Kontakte. Seit den späten 1870er Jahren hatte sich der Nahe Osten als äußerst lukratives Absatzgebiet, wenn auch mit geringeren Volumina als Nord- und Südamerika, entwickelt.323 1904, zur Zeit des Aufenthalts von Fritz III, war man nach zwei schwierigen Jahren wieder leicht in die Gewinnzone gekommen. Die Umsätze waren auf 60.000 bis 70.000 Mark gegenüber den Höchstständen von 1886 mit 226.684 Mark gesunken. Bis zur Jahrhundertwende hatten JW & S noch Gewinne über 10.000 Mark mit Umsatzrentabilitäten über 10 % gemacht. Dies ist darauf zurückzuführen, dass sich Konstantinopel als Absatzgebiet für schwerere Qualitäten im höheren Preissegment als die westlichen Absatzgebiete herausgebildet hatte. Fritz III sollte durch seinen Besuch bei dem Händler nachfassen, dass dieser mehr verkaufen sollte.324 Nach dem Militärdienst im Jahr 1900 und der Krise in der Tuchindustrie, seiner Heirat, der Geburt der Tochter übernahm Fritz III 1903 die verantwortungsvolle Aufgabe des Aufbaus einer kanadischen Vertretung, die

318 Vgl. RWWA 122-244-6. Hermann II an Fritz III, Lennep 21.10.1897, 06.11.1897; zur Übersendung der vorbereitenden Informationen für die Südafrikareise vgl. RWWA 122-244-6. Hermann II an Fritz III, Lennep 18.03.1898. 319 Vgl. RWWA 122-245-2. Fritz III an Hardt, Bernuth & Co New York, 11.03.1903. Auf den Lagerverkauf wurden 15 % Kommission veranschlagt. Die Konditionen wurden auf sechs Monate netto ausgewiesen, bei Barzahlung 3 % Skonto gewährt. 320 Vgl. RWWA 122-201-17. Fritz III an seinen Vater, Constantinopel 25.10.1904. 321 Vgl. ebenda. 322 Vgl. ebenda. Fritz III an seinen Vater, Bukarest 19.10.1904. 323 Vgl. RWWA 122-0131. 324 Vgl. RWWA 122-201-17. Fritz III an seinen Vater, Constantinopel 25.10.1904, zu Absatz und Umsatzrentabilität des Handels über Constantinopel.

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über New York beliefert werden sollte, während der Nordamerikahandel wieder zugenommen hatte.325 Während Fritz III 1898 in Australien weilte, wurde er vom Senior Fritz II unterrichtet, dass Dahlhausen nun „unter Dach und Fach“ sei. Gemeint war die Umwandlung der Streichgarnspinnerei HP & Cie KG, die als Tochtergesellschaft auf dem Markt auftrat, in eine GmbH.326 Die GmbH mit dem der AG ähnlichen Umgang mit der Haftungs- und Finanzierungsfrage erfreute sich seit 1892 größter Beliebtheit und verbreitete sich zunehmend.327 Dreierlei Dinge schienen die Umwandlung notwendig zu machen: Wollten die Hardts die Wettbewerbsfähigkeit der Spinnerei auch im Hinblick von Rudolf jr. und Hermann Pokorny jr., die in den Startlöchern standen, nicht verlieren, musste auch hier auf Kammgarnproduktion umgestellt werden. Seitens von JW & S wurde das finanzielle Engagement gedrosselt, wenn auch auf Nachdruck von Hermann I weniger stark als vorgesehen. Daher musste eine neue Struktur gefunden werden, die geeignet war, sowohl die Finanzierung als auch die Streuung der Risiken, die infolge der hohen Investitionskosten für die Anlage auf die Familie hätten zurückwirken können, sicherzustellen. So wurde als erste Gesellschaft der Familie Hardt die KG am 17.03.1898 in eine GmbH mit einem Stammkapital von zwei Mio. Mark gegründet, das weit über dem üblichen Durchschnitt von 376.000 Mark lag.328 Die Anteile waren auf zwölf Kapitalgeber, die aus allen Unternehmungen von der Familie Hardt stammten, sowie drei Gesellschafterwitwen und zwei Direktoren verteilt. Ein Anteil von 45 % stammte von Rudolf Hardt und Theodor Pokorny, den ehemaligen Komplementären der Personengesellschaft. Von Richard und Engelbert II, den Teilhabern von Hardt & Co, stammten 15 %, von Robert 10 %, von den JW-&-S-Gesellschaftern Fritz und Hermann 10 %. Weitere 15 % legten die Witwen von Hermann, Arnold und Heinrich und weitere 5 % Emil von Bernuth ein.329 Die Produktion organisierte man in zwei Abteilungen, der Kamm- und der Streichgarnabteilung, auf die das Stammkapital im Verhältnis 1,2 Mio. zu 0,8 Mio. Mark aufgeteilt wurde. Eine vollständige Umstellung auf Kammgarn zog sich bis in das 325 Vgl. RWWA 122-245-2. Fritz III an die Herren von Hardt, Bernuth & Co New York, 11.03.1903 und Preislisten für Canada. 326 Vgl. ebenda. Fritz II an Fritz III, Lennep 30.03.1898. 327 Vgl. zur Haftungsbeschränkung auf die Einlage in der AG und zur Haftungsbeschränkung auf den Anteil Art. 30 CC, S. 16; Art. 207 i. V. m. Art. 218 AHGB, S. 18 f.; § 178 HGB, S. 53. Zur Haftungsbeschränkung auf die Stammeinlage in einer GmbH vgl. § 13 GmbH-Gesetz vom 20.04.1892, in: Richard Förtsch: Gesetz, betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung, in der am 1. Januar in Wirksamkeit tretenden Fassung, Leipzig 1899, S. 214–224, S. 216. 328 Vgl. Roland in der Stroth: Das Recht der GmbH bis 1933. Tatsache, Kritik, Reformvorschläge, Diss. Tübingen 1992, Tabelle 4, S. 140. Die Schwankungsbreite des Mindestkapitals von Aktiengesellschaften betrug vorher in der Montanindustrie zwischen 100.000 und mehreren Millionen Talern, vgl. Wischermann/Nieberding: Institutionelle (2004), S. 89. Das Mindestkapital der GmbH wurde im Gegensatz zur AG festgeschrieben. Vgl. § 5 GmbH-Gesetz, S. 214. 329 Vgl. RWWA 122-195-5. Gesellschaftsvertrag der HP & C GmbH, 17.03.1898.

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Jahr 1928. Versuche mit Glaswolle waren nicht so von Erfolg gekrönt. Rudolf I und Theodor Pokorny entschlossen sich letztendlich, die Streichgarnspinnerei um ein Drittel zu reduzieren und eine Kammgarnspinnerei für grobe Crossbredes (Vorprodukt für Cheviotstoffe) aufzubauen.330 Die Bereiche Kammgarn- und Streichgarnspinnerei wurden Rudolf Hardt und seinem einzigen Sohn Rudolf II (1876–1960) und Theodor und Hermann Pokorny als getrennte Abteilungen zugewiesen.331 Rudolf II heiratete 1907 Marie Crüwell (1883–1966), die Tochter des Dortmunder Druckerei, Verlags- und Buchhandlungsbesitzers Wilhelm Crüwell.332 1908 wurden 900 Arbeiter bei HP & Cie beschäftigt.333 Abb. 14

Gesamtkapital- und Gewinnentwicklung HP & Cie GmbH 1899–1918

Quelle: RWWA 122-252-3.

Die Garnpreise im Jahr 1900 stürzten innerhalb von wenigen Monaten um 38 % von 5,2 Mark auf 3,2 Mark für ein Kilogramm. Dies führte zu einem beachtlichen Verlust von 301.733 Mark bei HP & Cie.334 Im Jahr 1902 erreichte man wieder die Gewinnzone,335 blieb aber weiterhin von Wollpreisschwankungen und dem modischen Geschmack abhängig. War die Konfektion 1902 und 1904 an Cheviot interessiert, waren dann bis 1907 feinere Qualitäten gefragt. Für bestimmte Quali330 Vgl. Zeit: Dahlhausen (1948), S. 64; Maximilian Pietsch: Wolle und Wollhandel, Bd. 2, Rohstoffe und ihre Verwertung, Leipzig 1920, S. 65; Marx: Kammgarn- und Streichgarnspinnerei (1927), S. 3 f. 331 Vgl. Zeit: Dahlhausen (1948), S. 66. 332 Vgl. RWWA 122-350-4. Die Familien Crüwell in Bielefeld und Dortmund; von Wismar: Stammbaum (1979), S. 53. Die Eltern von Marie, Wilhelm Crüwell (1843–1910) und Anna Halbrock (1849–1915). 333 Vgl. RWWA 122-252-3. Hardt, Pocorny & Co – Firmenstatistik, 1898–1936. 334 Vgl. ebenda; RWWA122-252-6. Geschäftsbericht der HP & Co GmbH, 1900. 335 Vgl. ebenda; RWWA 122-252-3.

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täten konnten Kapazitäten von JW & S genutzt werden. Bis 1913 hatte sich die Bilanzsumme auf 4.651.194 Mark seit dem Niveau von 1898 fast verdoppelt, im Jahr 1914 gegenüber 1898 um 230 % auf 7.997.793 Mark ausgeweitet. Seit 1910 war die Eigenkapitalquote unter 50 % gesunken.336 Das Notizbuch von Fritz III gibt Auskunft über die breit gefächerten Themata von Konkurrenzanalyse bis Lohnpolitik und Aufbau einer Betriebskrankenkasse, mit denen sich ein Nachfolger um die 30 Jahre beschäftigte. Im Zusammenhang mit der Konkurrenzanalyse fällt auf, dass Fritz III sich die Preise und Kalkulationen seines Schwiegervaters E. Scheidt notierte und wohl zu einem Referenzpunkt für die eigene Preisgestaltung machte. Die Beiträge zu der Betriebskrankenkasse mit 608 Mitgliedern übernahm zu einem Drittel JW & S. Beträge in Höhe von 2,5 % des durchschnittlichen Tageslohnes, der auf Akkordbasis pro Kilogramm Gewebe um die 14 Pfennig betrug, wurden eingezahlt.337 1902 umfasste der Grundbesitz der Estancia Isla Verde 88.000 Morgen (220 Quadratkilometer) und der Viehbestand 17.000 Rindviecher und 17.000 Schafe. Die Hardts besaßen in Lüttringhausen und Radevormwald Grundbesitz von 40 Hektar und 55 Hektar. In der Tuchfabrik wurden 1901 589 Arbeiter, davon 324 männlich, 211 weiblich und 36 unter 16 Jahren, an 222 Webstühlen und 20 Schermaschinen beschäftigt.338 1901 wurden vier Dampfmaschinen eingesetzt. Diese waren zwischen elf und 30 Jahre alt.339 Der Maschinenbestand war relativ überaltert. Keine der Maschinen war jünger als zehn Jahre. Die Reinvestitionszyklen begannen sich um die Jahrhundertwende zu verlängern. Hermann Hardt II (1866–1938) übernahm nach dem Tod seines Vetters Arnold Wilhelm II mit 31 Jahren die Leitung der Kammgarnspinnerei in Lennep, die sich seit Mitte der 1880er Jahre positiv entwickelt hatte (Abb. 15).340 Nach der Jahrhundertwende waren dort 960 Mitarbeiter, mehrheitlich Arbeiterinnen beschäftigt. Pro Woche wurden 41.500 Kilogramm (ca. 2.158 Tonnen im Jahr) Rohwolle, überwiegend Austral-, La-Plata- und Kapwolle versponnen. Den Antrieb der Spinnerei lieferte eine Dampfmaschine mit 1.500 PS und eine für die Färberei mit 150 PS. Hermann II versuchte auch Abfallprodukte, wie die WollSchweißasche, um 1905 60.000 Kilogramm im Wert von 15.000 Mark, zu vermarkten.341 Wie die Tuchfabrik Dahlerau und die Kammgarnspinnerei Lennep technisch ausgestattet waren, hielt Fritz Hardt in seinen Aufzeichnungen fest: Die Produktion der 36.000 Feinspindeln und 10.000 Zwirnspindeln lag bei einer Tonne Garn jährlich. Die Maschinenausstattung umfasste um 1905 zwei Waschbatterien, 26 Krempeln, 36 Kammstühle, 56 Selfaktoren à 550 Spindeln, 22 Ringspinnenspin336 Vgl. RWWA 122-253-13. 337 Vgl. RWWA 122-219-1. Notizbuch Fritz Hardt III; Notizen zu Betrieb und Personal; RWWA 122-209-13. Notizen von Fritz Hardt jun. [zu verschiedenen Angelegenheiten von Betrieb und Personal], 1901. 338 Vgl. RWWA 122-219-1. 339 Vgl. ebenda. 340 Vgl. RWWA 122-219-1. 341 Vgl. ebenda.

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deln, 17 Maschinen à 332 Spindeln. 1908 wurden aus Übersee 12.000 Ballen Australwolle, 2.500 Ballen La Plata und 1.000 Ballen Kap, zusammen 15.000 Ballen oder 3,5 Tonnen importiert.342 Abb. 15

Gewinn der Kammgarnspinnerei Lennep 1886–1900

Quelle: RWWA 122-0133; RWWA 122-0134.

1904 wurden die einzelnen Unternehmungen und Beteiligungen von JW & S, die Tuchfabrikation in Dahlerau, die Kammgarnspinnerei Lennep, das Elektrizitätswerk Schlencke, die Beteiligung an Hardt, Bernuth & Co New York und die Exportgeschäfte mit Hardt & Co Berlin in der Zentrale in Lennep zusammengeführt und ab 1904 in einer Gemeinschaftsbilanz der Zentrale konsolidiert.343 Das errichtete Zentralkontor in Lennep war nach dem Umzug in der Kölner Straße ansässig, wo neben der Gesamtverwaltung auch die Feinappretur vorgenommen wurde.344 Die Bilanzsumme und das Eigenkapital der Zentrale betrugen 16.548.475 Mark bzw. 6.053.819 Mark. Die Eigenkapitalquote der Zentrale lag 1904 bei 36,6 %. Die Zusammensetzung des Fremdkapitals (Bilanzquote von 63,4 %), mit der sich die Zentrale überwiegend finanzierte, zeigt, dass dies zu über 76 % aus Darlehen von Familienmitgliedern, befreundeten Familien und Kontokorrent-Positionen führender Angestellten bestand. Nur etwa 18 % des Fremdkapitals wurden bei Banken aufgenommen. Bei den Fremdkapitalgebern war die Zentrale vor allem auf die Erben der ehemaligen Gesellschafter von JW & S Hermann und Arnold Hardt angewiesen, die mit über 7,1 Mio. Mark ca. 68 % des Fremdkapitals zur 342 Vgl. ebenda. 343 Vgl. RWWA 122-0134; zur Errichtung des Elektrizitätswerks Schlencke und der Zentrale in Lennep vgl. Böse: Wülfing (1948), S. 71, 88. 344 Vgl. Böse: Wülfing (1948), S. 71; RWWA 122-279-2. Die Zentrale in ihren Beziehungen zur Geldwirtschaft.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

Verfügung stellten.345 Die aufgenommenen Bankkredite beliefen sich zwischen 300.000 und 470.000 Mark und verteilten sich auf sieben Banken, darunter die Disconto-Gesellschaft als größter Kreditgeber im In- und Ausland.346 Unter dem Senior Fritz II waren als zweite Reorganisationsmaßnahme nach der Zentralisierung von 1904 die Gemeinschaftsgeschäfte von JW & S und Hardt & Co in der Hardt-Wülfing AG, Berlin zusammengefasst worden (Abb. 16).347 Diese wurde Ende des Zweiten Weltkriegs wieder aufgelöst und in eine Personengesellschaft umgewandelt.348 Nach dem überraschenden Tod von Fritz II 1906 begann die Führungsphase von Fritz III mit 33 Jahren, zu deren Beginn der Abschluss der Etablierung der AG in den letzten Zügen lag. Am 04.12.1906 gingen sämtliche Rechte und Pflichten an den Firmen Engelbert, Hardt & Co, Buenos Aires, Bahia Blanca, Montevideo und Punta Arenas, E. & W. Hardt, Valparaiso, Santiago, Concepcion, Lima und Arequipa, G. Hardt & Co Limited, Manchester Sydney, Melbourne, Adelaide und Wellington auf die Hardt-Wülfing AG über. Durch die Verschmelzung hatte die AG „massgeblichen Einfluss in diesen Firmen gewonnen“349. Die Verhältnisse in den Trägergesellschaften, Hardt & Co und JW & S, die zu 60 % und zu 40 % an dem Aktienkapital von 16 Mio. Mark beteiligt waren, hatten sich nach dem Tod von Arnold Wilhelm II 1897 und Richard 1898 verändert. Der Reingewinn betrug 1907 1.111.913 Mark.350 Nach dem Tod von Arnold Wilhelm II 1897 war die Eigentümerschaft bei der JW & S OHG vollkommen auf

345 Vgl. RWWA 122-0134. 346 Vgl. ebenda. Die Disconto-Gesellschaft verlieh 1904 Gelder in Höhe von 471.724 Mark an JW & S. 347 Vgl. Böse: Wülfing (1948), S. 71; zur Aktiengesellschaft vgl. Art. 29 CC (1812), S. 15; Art. 207–249 AHGB, S. 81–92; §§ 178–319 HGB, S. 53–115. Für Familienunternehmen, meist ab einer bestimmten Größenordnung, mitunter vor dem Hintergrund einer Wachstumsfinanzierung, setzte sich die Aktiengesellschaft vermehrt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch, wenn auch weniger als Publikumsgesellschaft. Vgl. zur langsamen Verbreitung der Aktiengesellschaft Wischermann/Nieberding: Institutionelle (2004), S. 88. Als Gründe der langsamen Verbreitung der Aktiengesellschaft über Großprojekte wie den Eisenbahnbau, die den üblichen Kapitalbedarf sprengten, sind die Mentalität der Unternehmer in der Frühindustrialisierung mit dem Niederschlag ihres Verständnisses von „Bonität und Ehre“ in der persönlichen Haftung sowie die ablehnende Haltung und Rolle des preußischen Staates mit seiner restriktiven Konzessionierungspraxis zu nennen. Dazu vgl. Wischermann/Nieberding: Institutionelle (2004), S. 86 f.; Pierenkemper: Unternehmensgeschichte (2000), S. 96 f.; zur Konzessionierungspflicht im CC vgl. Art. 208 CC (1812), S. 88, die erst mit der Aktienrechtsnovelle von 1871 entfiel; zum generellen Durchbruch der AG mit der fortschreitenden Industrialisierung und dem Aufschwung in der Montanindustrie seit den 1850er Jahren vgl. Wischermann/Nieberding: Institutionelle (2004), S. 88. 348 Vgl. RWWA 122-209-5. Gesellschaftsvertrag Johann Wülfing & Sohn KG, 1936. 349 Vgl. RWWA 122-219-12. Geschäftsbericht Hardt-Wülfing AG, Juni 1907. 350 Vgl. RWWA 122-251-8. Statuten der Hardt-Wülfing AG. Es wurden 7,5 Mio. Mark Vorzugaktien und 7,5 Mio. Mark Stammaktien ausgegeben. Ein gewisser Anteil wurde in der Familie platziert. Vgl. hierzu RWWA 122- 223-8. Erbschaftsverteilung Mathilde Rheinen, 1916.

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zwei Stämme der Linie von Engelbert Hardt übergegangen.351 Die Erben von Arnold Wilhelm II fungierten nur noch als Fremdkapitalgeber wie die Witwe von Hermann I und später die Witwe von Fritz II. Die Beteiligungen der Familienstämme fielen sehr unterschiedlich mit einem starken Übergewicht des Stamms von Fritz mit 66 % gegenüber dem von Hermann II mit 34 % aus. In Berlin hatten die Nachkommen der Duisburger Linie Engelbert, sein Bruder Gustav und Richards Schwiegersohn Heinrich von Tiedemann die Leitung übernommen. Der Duisburger Familienzweig, der erst ab 1874 unternehmerische Verantwortung im Familienkonzern erhalten hatte, stellte nun mit Gustav (1861–1940), der seit 1899 mit seiner Großcousine Adeline Hardt (1899–1953)352 verheiratet war, den Vorstand der AG.353

351 Vgl. RWWA 122-285-6. Gesellschaftsvertrag JW & S OHG, 1894. Der Vertrag von 1894 widersprach nicht den Normen des zum Zeitpunkt der Vertragserrichtung noch nicht gültigen HGB. Vgl. §§ 105–160 HGB, S. 32 f.; zu Gewinn- und Verlustverteilung vgl. §§ 121 HGB, S. 36; zu persönlicher Haftung vgl. §§ 105 f. HGB, S. 32. 352 Bei den Eltern von Adeline handelte es sich um Fritz II und Auguste Karsch. 353 Vgl. zur Entwicklung der internen Organisationsstruktur der AG von einem zweistufigen Aufbau ohne Kontrollorgan Art. 29–45 C. C. (1812), S. 15 f.; zum fakultativen Kontrollorgan des Vorstands, dem Aufsichtsrat vgl. Art. 225 AHGB, S. 84; zum dreistufigen Aufbau in der Unternehmensverfassung vgl. §§ 231–273 HGB, S. 73 f. Zur Generalversammlung vgl. Art. 224 AHGB, S. 84; §§ 253 HGB, S. 81 f. Vgl. zum Verwalter Art. 31–32 C. C., S. 16; zum Vorstand vgl. Art. 227 AHGB, S. 86 f.; §§ 231–242 HGB, S. 73 f. Die Entlohnung des Verwalters und späteren Vorstands war bis zum HGB nicht gesetzlich verankert. Vgl. zur Haftung im Außenverhältnis des Verwalters Art. 32 C. C. (1812), S. 65. Zur Haftung des Vorstands vgl. Art. 227 AHGB, S. 86 f.; § 241 HGB, S. 76. In institutionenökonomischer Perspektive waren die Vorteile der Kapitalgesellschaften – die Möglichkeit der Kapitalmobilisierung, Hierarchisierung und Risikostreuung – mit Anreizproblemen und einer veränderten Kostensituation zu erkaufen. Mit der fortschreitenden Ausdifferenzierung und Hierarchisierung der internen Leitungs- und Organisationsstruktur der Unternehmen, insbesondere der Kapitalgesellschaften mit der Trennung von Verfügungsmacht, Risiko und Erfolgsbeteiligung nahmen auch die innerhalb von Principal-Agent-Beziehungen modellierbaren Anreizproblematiken durch Aufspaltung der Rechtsbündel im Vergleich zur Figur des Ein-MannUnternehmers zu. Dieser konnte für sein Tun in die persönliche Haftung genommen werden, aber auch den gesamten Gewinn vereinnahmen. Da es sich im Fallbeispiel mit Gustav um einen Vorstand handelte, der zugleich Eigentümer-Gesellschafter war, sind abgemilderte Motivationsprobleme gegenüber der Variante eines nichtfamiliären Vorstands zu vermuten. Vgl. allgemein Göbel: Institutionenökonomik (2002), S. 224 f.; Richter/Furubotn: Neue Institutionenökonomik (1999), S. 421 f.; Richter: Institutionen (1994), S. 34. Grundlegend zu Vertretungskosten vgl. Jensen/Meckling: Firm (1976), S. 305–360, S. 312 f., Göbel: Institutionenökonomik (2002), S. 226, 228; Richter/Furubotn: Neue Institutionenökonomik (1999), S. 420 f.; Wischermann/Nieberding: Institutionelle (2004), S. 62. Die Figur des Ein-MannUnternehmers abstrahiert hier auch von sich innerhalb von Beschäftigungsverhältnissen hierarchisch durchschlagenden Delegationsproblemen. Vgl. zur Haftung im Außenverhältnis des Verwalters Art. 32 CC (1812), S. 65; zu der des Vorstands vgl. Art. 227 AHGB, S. 86 f.; § 241 HGB, S. 76.

164 Abb. 16

4. Die Unternehmen der Familie Hardt

Unternehmensaufbau des Konzerns der Hardt-Dynastie um 1906354

Quellen: RWWA 122-0134; RWWA 122-251-8.

Hermann II wurde Mitglied des Aufsichtsrats, der aus Vertretern beider Gesellschaften besetzt wurde. Stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrats wurde Fritz III.355 In die Zeit von Fritz III als Nachfolger fielen bei JW & S die Erweiterungen des Südamerikageschäfts durch Engelbert II, der eine Filiale in Punta Arenas eröffnete. Im Jahr 1904 wurde auch eine Gerberei, die Curtiembre August Niesel und eine Vertretung der Roland-Linie übernommen. Durch die mit Krechlinger & Co erworbenen Küstendampfer sollte die eingekaufte Wolle abtransportiert werden. In der Vielzahl der ausländischen Filialen kam es zu häufigen Geschäftsführerwechseln, zu Unterschlagungen und Betrugsfällen. Walter Hardt überprüfte 1887 einen solchen Fall in Valparaiso und tauschte die Geschäftsführung aus.356 Zu den erfolglosen Engagements, die von dem Gespann Fritz II, Hermann II und Hardt &

354 Es wurden folgende Abkürzungen verwendet: Hermann II (HII), Fritz II (FII), Fritz III (FIII), von Tiedemann (vT), Engelbert (E), Gustav (G), Rudolf I (R), Theodor Pokorny (TP), Rudolf II (RII) und Hermann Pokorny (HP). 355 Vgl. RWWA 122-219-12; RWWA 122-251-8. Der Vorstand wurde in den Statuten als Direktor der Hardt-Wülfing AG bezeichnet. Der dritte Bruder Hugo (1861–1940) aus der Duisburger Linie war ebenfalls für Hardt & Co tätig und hatte 1909 169.487 Mark eingebracht. Vgl. RWWA 122-078. Gesellschafterkonten. Engelbert II gehörte dem Aufsichtsrat der Disconto-Gesellschaft, des Deutschen Lloyds, des Internationalen Lloyds und der Versicherungs-gesellschaften in Berlin sowie des Phoenix’ in Hoerde, der Landbank in Berlin und der C. A. Köhlmann & Co, Stärkezuckerfabrik in Frankfurt an der Oder an. Vgl. von Wismar: Stammbaum (1979), S. 39. 356 Vgl. RWWA 122-245-2.

4.1 Vorbereitung im Nachfolgeprozess und Generationswechsel

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Co getätigt und von der fünften Generation liquidiert oder reorganisiert wurden, gehörten die Filiale in Montevideo und die Gerberei in Punta Arenas, deren Verluste sich 1908 auf 656.000 Mark beliefen, und vor allem die von JW & S getätigte Beteiligung an dem Fahrradwerk Elite.357 Gegen Ende des Jahrzehnts galt es, die späte fünfte Generation in das Familienunternehmen einzuarbeiten. Hermann II nahm Arnold Wilhelm III (1882– 1975) in die Lehre in der Kammgarnspinnerei Lennep.358 Anschließend wurde er wie schon seine Großonkel auf Auslandsreise geschickt.359 Als erste Stationen waren in Südamerika Argentinien, Brasilien und Paraquay vorgesehen, wofür er auf der Reise über Lissabon noch Spanisch lernte. Seine Tagebücher geben einen Eindruck über die Reisen und seine Ausbildung. Im Juni 1907 war er in Buenos Aires und wurde vor Ort in den Vertrieb eingearbeitet: „Die Besuche der Kundschaft mit der neuen HC und W-Collection fangen […] an, und jetzt heisst es für mich, doppelt die Augen aufzumachen, um zu sehen, wie hier alles läuft und ob nicht etwas besser zu machen ist im Interesse von JWu.S, Die Concurrenz ist stark im Markt, und was der möglich ist, sollte uns auch möglich sein. – Leicht ist es für mich nicht, wo ich hier als Neuling hineinkomme, aber doch hoffe ich, etwas zu erreichen, wenn auch nicht direkt offensichtlich, so doch wenigstens als Grund für späteren Aufbau.“360 Auch Arnold Wilhelm III heiratete in die gewohnten Kreise ein. Nach seiner Rückkehr nahm er 1909 Lili Schröder (1886–1975), zu deren Familie seit über einem halben Jahrhundert Beziehungen gepflegt wurden, zur Frau.361 Während der Schulzeit des jüngeren Vertreters der fünften Generation hatte der Wettbewerbsdruck zugenommen. Da sich der Vertrieb über New York nicht mehr rentiert hatte, waren Hardt & Co bei Hardt, Bernuth & Co ausgestiegen.362 Neben der Etablierung exklusiver Zirkel und dem tradierten Engagement im Stadtverordneten-Kollegium waren Fritz III und Hermann II in Interessenvertretungen der Textilindustrie tätig. Fritz III war an der Gründung der Deutschen Tuchkonvention, die sich die Durchsetzung einheitlicher Liefer- und Absatzbedingungen auf die Fahnen geschrieben hatte, beteiligt. Aus der Tätigkeit in der Kammgarnspinnerei entwickelte sich das Engagement von Hermann II im Verein Deutscher Wollkämmer und Kammgarnspinner, Unterabteilung Vereinigung deutscher Kammgarn-Buntspinnerei.363 357 358 359 360

Vgl. RWWA 122-251-3; RWWA 122-0134 zu Verlusten aus der Elite-Beteiligung. Vgl. RWWA 122-251-3. Vgl. von Wismar: Stammbaum (1979), S. 52; RWWA 122-174-4. Vgl. ebenda. Die Abkürzungen HC und W beziehen sich auf die Kollektionen von Hardt & Co und JW & S. 361 Vgl. von Wismar: Stammbaum (1979), S. 52. Ihre Eltern waren Emil Schröder (1853–194) und Bertha Müller (1858–1944). 362 Vgl. RWWA 122-250-7; von Bernuth: Bernuth-Buch (1986), S. 52. 363 Vgl. RWWA 122-291-5. Deutsche Tuchkonvention e. V., Korrespondenz 1914–1919, RWWA 122-11-1. Mitgliedschaft im Verein Deutscher Wollkämmer und Kammgarnspinner, 1893–1903; RWWA 122-42-2. Verein Deutscher Wollkämmer und Kammgarnspinner, 1884–1892; RWWA 122-012. Verein Deutscher Wollkämmer und Kammgarnspinner. Zu

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

Rudolf I und Hermann II gründeten den Bergischen Reit-Club, der zu einem Treffpunkt Bergischer Unternehmer wie Mannesmann, Vorwerk, Halbach, Hasenclever, Böker und Pokorny und den Scheidts avancierte.364 Den räumlich entfernteren Familienzweigen, wie das verwandtschaftlich verbundene Handelshaus Tieman, das sich in Südamerika verspekuliert hatte, blieben die Lenneper weiterhin verbunden. Auf die Initiative von Hermann II, an der sich auch Vertreter der Familie Rhodius beteiligten, wurde ihm durch eine Umwandlung von Forderungen in Anteile geholfen und ein Konkurs vermieden.365 Die Bilanzsumme von JW & S stieg von 1904 bis 1913 um 19,5 %, von 1913 auf 1914 bedingt durch die Umstellung auf Kriegswirtschaft um 30 %. Das Eigenkapital erhöhte sich im gleichen Zeitraum von 6.053.818 Mark auf 7.191.399 Mark. Die Eigenkapitalquote blieb mit 36,5 % nahezu konstant und fiel im Folgejahr um 10 % auf 26,5 %, sodass die fünfte Generation weiterhin auf finanzielle Ressourcen der Familie, aber nunmehr auch vermehrt auf Banken angewiesen war.366 Seitdem die Zentrale gegründet worden war, hatte sich die Anhängigkeit von den Banken erhöht, die 1913 25,9 % des Fremdkapitals stellten. Nach den Verlustjahren 1907 und 1908 konnte bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs in der Zentrale wieder Gewinn ausgewiesen werden.367 Ab Oktober 1912 trat die Tuchkonvention in Kraft, durch die sowohl einheitliche Verkaufsund Lieferbedingungen als auch normierte Zahlungsziele festgelegt wurden. Vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs war Arnold Wilhelm III als Gesellschafter aufgenommen worden. Die Teilhaberverhältnisse stellten sich wie folgt dar: Fritz III und seine Mutter partizipierten mit 43,7 %, Hermann II mit 50,6 % und Arnold Wilhelm III mit 5,7 % am Eigenkapital von 9,686 Mio. Mark von JW & S.368 Die Tuchfabrik JW & S blieb bis in die späten 1990er Jahre im Besitz der Familie Hardt. Unternehmer wurden die Nachfolger in der Familie Hardt nicht durch ein Universitätsstudium, sondern sie lernten in der Praxis, vor allem auf den Auslandsreisen – sei es im Wolleinkauf oder dem Tuchverkauf, obwohl es möglich gewesen wäre, technische Hochschulen zu besuchen. Durch das Engagement eines erfahrenen Direktors, der das organisationale und technische Wissen bei der Umsetzung weiterentwickelte, ergab sich ein Know-how-Transfer, der einer formalen universitären Ausbildung vorgezogen wurde. Die Phase der Zusammenarbeit mit den Vorgängern war wesentlich kürzer als die Überlappungsphase von zweiter oder früher dritter Generation und lag zwischen zwei und acht Jahren, wobei Fritz III in den acht Jahren selten in Lennep war. Vor allem Fritz III, der spätere „Vater der

364 365

366 367 368

seiner Zielsetzung der Erreichung einheitlicher Zahlungs- und Lieferbedingungen vgl. Marx: Kammgarn- und Streichgarnspinnerei (1927), S. 39. Vgl. RWWA 122-0229. Protokollbuch Bergischer-Jagd-Reit-Club, 1906–1912. Vgl. RWWA 122-244-6. E. Bunge/Kreglinger an die Gläubiger von H. Tieman, Antwerpen 03.04.1901, H. Tieman an JW & S, 30.04.1901; Einlagen Tieman, 01.05.1904 von Frau Arnold Hardt, Engelbert und Hermann II; von JW & S über 18.263 Mark. Vgl. RWWA 122-0134. Vgl. ebenda. Vgl. RWWA 122-0132.

4.1 Vorbereitung im Nachfolgeprozess und Generationswechsel

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Dahlerau“ begeisterte sich für seine Ausbildung. Er war dankbar, dass ihm eine solche Chance geboten wurde, während das bei seinem Vetter Hermann III zehn Jahre später weniger der Fall war. Beide zeigen die Ausprägungen des kaufmännischen und künstlerischen, hier musisch-literarisch interessierten Typus des Nachfolgers. Die Führungsphase begann bei den Großcousins mit Herausforderungen, bei Hermann II mit einer Branchenkrise der Textilindustrie, die sich in Absatzschwierigkeiten, Liquiditätsproblemen im Jahr 1900, die sowohl JW & S als auch HP & Cie traf, zeigten. Fritz III übernahm 1906 die Leitungsposition seines Vaters. Die Zentralisierung war seit 1904 eingeleitet, das Familienunternehmen jedoch noch nicht abschließend von einer Netzwerk- in eine formelle Konzernstruktur umstrukturiert. Im Folgejahr mangelte es Fritz III zeitweilig an ausgebildeten Arbeitskräften. Die Koordination erfolgte weiterhin auf höchster Ebene über persönliche Loyalitäten. Die Nachfolger in den einzelnen Stämmen besuchten in mehrjährigen Abständen die Auslandsfilialen persönlich. Das Betrugsrisiko und der häufige Geschäftsführerwechsel offenbarten Probleme bei den Auslandsniederlassungen.369 Als besonders tragfähig erwies sich die familiäre Beziehung zur Familie Scheidt, vor allem die Freundschaft von Fritz III und August Erhardt, die sich gegenseitig in einer Zeit des zunehmenden Preiswettbewerbs mit Informationen über die erzielten Preise und Umsätze der Konkurrenz informierten. So erschlossen sie sich Preiskorridore für den eigenen Abverkauf und begannen den Wettbewerb im fortgeschrittenen Reifestadium des Markts auszuhebeln. Den Umsatz über geografische Expansion auszuweiten, stieß an Grenzen. Der Gewinneinbruch bei JW & S lag zum einen an der Branchenkrise, aber auch an Fehlinvestitionen wie in das Fahrradwerk Elite und in einige Südamerikafilialen. Die vermehrten Erbfälle führten dazu, dass Kapital abgezogen und nicht reinvestiert wurde. Der Pfad der finanziellen Stabilität mit hoher Eigenfinanzierung wurde verlassen. Die Eigenkapitalquoten bei JW & S lagen bis zur Wende vom 19. auf das 20. Jahrhundert nur noch um 30 bis 40 %. Die Hardts – sowohl bei JW & S als auch bei HP & Cie – griffen verstärkt über den Berliner Kapitalmarkt, aber auch durch ihnen seitens ausländischer Institute offerierte Kredite auf rollierende kurzfristige Fremdfinanzierung zurück. Die Verpflichtungen waren oftmals nicht fristenkongruent durch Mittelzuflüsse und Liquiditätshaltung gedeckt, sodass die Akzeptverpflichtungen zudem in ausländischer Valuta riskant wurden. Die Eigenkapitalrenditen fielen in manchen Jahren unter 5 %.370 Die fünfte und die jüngsten Vertreter der vierten Generation bewegten sich weiter in der Trias der gesellschaftlichen Aktivitäten Stadt, lokale Vereine, Kirche und Handelskammer. Gemeinsam mit befreundeten Familien der bergischen Eliten schufen sich die Hardts formellere Strukturen für private Zusammenkünfte, 369 Vgl. RWWA 122-245-5; zu Auslandsniederlassungen und Betrugsrisiko vgl. RWWA 122250-7; Hardt&Co RWWA 122-251-9. 370 Vgl. RWWA 122-0134. Die Höhe der Bankenfinanzierung lag zwischen 1,8 und 4 Mio. Mark.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

wie den Bergischen Reit-Club, der an englische „gentlemen clubs“ erinnert. So war auch in der fünften und späten vierten familiären Generation der Anschluss zu den Verkehrskreisen weiter gewährleistet. Geschäftsinteressen wurden mittlerweile nicht mehr nur informell, sondern auch formalisierter durch Vertretungen, wie z. B. Zusammenschlüsse von Spinnereibesitzern wahrgenommen.

4.2 KAPITALAKKUMULATIONSMODI/GRÜNDUNGSFINANZIERUNG DER FOLGENDEN GENERATION, BESITZ- UND VERMÖGENSTRANSFERS IM RAHMEN GESELLSCHAFTSRECHTLICHER UND ERBRECHTLICHER REGLEMENTS 4.2.1 Übergabe 1: Erbmodalitäten bei Johann Arnold Hardt sen. 1815 Über das Vererbungsverhalten hinsichtlich der Kapitaleinlagen bei Johann Wülfing & Sohn innerhalb der Familie Wülfing, bevor die Hardts im Jahre 1794 die Unternehmung übernahmen, können nur Vermutungen angestellt werden. Abgesehen von der Tatsache, dass ausgehend von Gottfried Wülfing (1631–1721) das Unternehmen von seinem Sohn Kaspar (1685–1760) und später durch dessen Sohn Johann (1719–1793) weitergeführt wurde, ist nicht mehr nachvollziehbar, ob das unternehmerische Vermögen in der Familie Wülfing im Rahmen von testamentarischen Verfügungen oder durch Rückgriff auf Institutionen wie die Primogenitur oder eine im Bergischen Land übliche Vererbungspraxis weitergegeben wurde.371 In ihrem Testament disponierten die Eheleute Wülfing nicht über die Kapitaleinlage von Johann Wülfing, sondern vermachten nur drei Legate in Höhe von 200 Talern für die hiesigen Armen, 200 Talern für das Waisenhaus und 300 Talern für Bedürftige aus der Familie Wülfing und Hardt. Der Schwiegersohn Johann Arnold sen. sollte den familiären Unterstützungsfonds verwalten.372 Darüber hinaus ist für den Erbfall von Johann Wülfing im Jahr 1793 anzunehmen, dass seine Ehefrau Anna Christine neben seinen lebenden Töchtern Anna und Clara Christine zu seiner Erbin berufen wurde.373 Eine Tradition gewillkürter Regelungen wie die des Testaments oder des Heiratsvertrags in der Familie Hardt lässt sich bis in die erste Generation der Familie Hardt als Unternehmenseigner von Johann Wülfing & Sohn zurückverfolgen. Johann Arnold sen. errichtete gemeinsam mit seiner Ehefrau Anna, geb. Wülfing am 19.08.1805 im Alter von 65 Jahren eine testamentarische Verfügung vor Einführung des Code Civil im Bergischen Land. Das Vermögen der Eheleute sollte nach ihrem Versterben auf die vier noch lebenden Kinder Caroline, Anna, Johann Arnold jr. und Johann Engelbert übergehen. Über die mögliche Höhe des Nach4.2 Kapitalakkumulationsmodi/Gründungsfinanzierung

371 Vgl. zur familieninternen Nachfolge im Vorgängerunternehmen von Wismar: Stammbaum (1979), S. 6, 15; Böse: Wülfing (1948), S. 45. 372 Vgl. RWWA 122-225-11. Testament Johann und Anna Christine Wülfing, 21.06.1790. 373 Vgl. RWWA 122-M1.

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4.2 Kapitalakkumulationsmodi/Gründungsfinanzierung

lasses gibt der Auszug des Testaments keine Auskunft374, wohl aber die im gleichen Jahr verfasste Nota, in der er sein gesamtes bis 1794 erwirtschaftetes Nettovermögen mit 12.781 Reichstalern ansetzte.375 Ein weiterer Anhaltspunkt für eine Untergrenze des Vermögens von Johann Arnold Hardt sen. in seinem Todesjahr 1815 kann aus dem Nachlassverzeichnis seines Sohnes Johann Arnold Hardt jr. aus dem Jahr 1824 entnommen werden. In diesem sind diejenigen Vermögensgegenstände aufgelistet, die sich bis zum Todeszeitpunkt von Johann Arnold Hardt jr. 1824 noch im Besitz der Erbengemeinschaft nach Johann Arnold sen. befanden. Tab. 5

Zusammensetzung des Vermögensanteils von Johann Arnold Hardt sen.

Art des Vermögens Privater Immobilienbesitz und ein Pferd Anteil bei Hardt & Hellmers Forderungen (Obligationen und Wechsel) Nachlassverbindlichkeit Nachlasswert netto

Zusammensetzung des Anteils in Reichstalern

Prozentualer Anteil

4.614

8%

48.070

79 %

8.716

14 %

-640

-1 %

60.760

100 %

Quelle: RWWA 122-228-3.376

Da die Kapitaleinlage von Johann Arnold sen. bei JW & S nicht mehr in diesem Verzeichnis auftaucht, ist davon auszugehen, dass eine Auseinandersetzung unter den Erben Johann Arnold jr., Engelbert, Caroline und Anna bereits vor 1824 stattgefunden hatte und somit eine Untergrenze des Vermögens von Johann Arnold Hardt sen. bei 60.760 Rth. angesetzt werden kann.377 Gemäß eigenen Angaben hatte Johann Arnold sen. seine Haushaltsausgaben in den ersten Jahren der Tätigkeit bei seinem Schwiegervater eingeschränkt.378 Sein lebzeitiges Reinvestitionsverhalten lässt sich für den Zeitraum 1774–1781 bei einem mittleren Gewinn zzgl. Zinsen von 1.505 Talern und Nettoüberschuss von 696 Talern auf eine durchschnittliche jährliche Reinvestitionsquote von ca. 43 % beziffern. Die Tatsache, dass der ungeteilte Anteil der Erbengemeinschaft nach Johann Arnold sen. neun Jahre nach seinem Tod noch 65 % des Eigenkapitalanteils der Familie Hardt bei Hardt & Hellmers betrug, zeigt, dass seine Nachfolger noch relativ lange nach seinem Versterben auf die durch den Senior geschaffene Eigenkapitalgrundlage angewiesen waren. Somit profitierten sie davon, dass ihr Vater so sparsam gewe-

374 Vgl. RWWA 122-221-7. Testament Johann Arnold sen. und Anna, geb. Wülfing, 19.08.1805. 375 Vgl. RWWA 122-225-9. Nota von Johann Arnold Hardt sen., 1805. 376 Vgl. RWWA 122-228-3. Nachlassverzeichnis, 12.04.1824. Der Vermögensanteil befand sich bis 1824 in ungeteilter Erbengemeinschaft seiner Kinder und ist aus den diesbezüglichen Aufzeichnungen entnommen. Die Positionen wurden im Verhältnis Reichstalern zu bergischen Talern (1:1,12995) vereinheitlicht. 377 Vgl. RWWA 122-228-3. Bilanz Hardt & Hellmers, 1823; Nachlassverzeichnis, 12.04.1824. 378 Vgl. RWWA 122-225-9. Nota von Johann Arnold Hardt sen., 1805.

170

4. Die Unternehmen der Familie Hardt

sen war. Caroline Hardt, verheiratete Buchholz, eine der Töchter und Erbinnen von Johann Arnold sen., taucht in den ab 1823 verfügbaren Bilanzen nicht selbst als Anteilseignerin von JW & S auf. Ihren Anteil übernahm ihr Ehemann Johann Buchholz, der als Teilhaber bei JW & S tätig war. Nach den Gepflogenheiten des Güterrechts führte ihr Mann ihren Anteil gemeinsam mit seinem eigenen.379 Für den Generationenwechsel 1794 bleibt festzuhalten, dass das Testament der Eheleute Wülfing weder eine Funktion für die Zuweisung der Weiterführung des Unternehmens noch für die Verteilung der Vermögensmasse bis auf einige für die Familie vorgesehene Unterstützungszahlungen besaß. Johann Arnold sen. übertrug zu Lebzeiten wenig Vermögen. Dies vervielfachte sich seit 1794 von 12.781 Talern (ohne Immobilien) auf mindestens 60.760 Taler. Den größten Anteil wies der nachvollziehbare Eigenkapitalanteil von Hardt & Hellmers auf.380 Die Vererbung seines Vermögens und der Fortbestand des Unternehmens in den Händen seiner Familie wurden zunächst dadurch ermöglicht, dass die Eigentumsrechte gemäß Code Civil transferierbar waren. Ein gesondertes Erbrecht für Unternehmen bzw. in Unternehmen gebundene Vermögensmassen war gesetzlich nicht vorgesehen, sodass das gesamte Vermögen – das private und das im Unternehmen gebundene381 – gemäß dem Erbrecht des Code Civil zu vererben war. Es existierte keine Einzelrechtsnachfolge oder frei bestimmbare Nachfolge in Teile des Rechtsbündels Unternehmen, z. B. eine Nachfolge nur in die Geschäftsführung durch Zuweisung der Verfügungs- und Handlungsrechte.382 Einstige Institutionen, die die Steuerung des Unternehmenserben durch geschlechtsspezifische Vererbung, nach Rangfolge der Geburten wie bei der Primogenitur oder einer speziellen Sukzession in bestimmte Rechte erlaubt hatten, waren mit dem Code Civil abgeschafft worden. Die Universalsukzession im CC sah die Gesamtrechtsnachfolge der Erben in die Rechte und Pflichten des Erblassers vor, die die Vererbung von

379 Vgl. RWWA 122-M1. Zur Bestimmung der Verwaltung des Vermögens der Frauen durch ihre Ehemänner (Ausnahme: Sondergut der Frau), vgl. Art. 1388 i. V. m. Art. 1421 C. C. (1810), S. 264, 272. 380 Wäre sein JW-&-S-Kapitalanteil bezifferbar, würde er die im Unternehmen gebundene Vermögensmasse erhöhen. Der Anteil, der auf die „private Sphäre“ entfiele, wäre dann noch geringer. 381 Der dem C. C. zugrunde liegende Eigentums- bzw. Vermögensbegriff umfasste auch Verbindlichkeiten, die im Zuge der Vererbung bei Nachlässen mit oder ohne Unternehmensbezug auf den oder die Erben übergingen. Das C. C. sah eine Haftungsbeschränkung, die Annahme der Erbschaft vorausgesetzt, auf den Nachlass vor. Vgl. zur Geschichte des rechtsimmanenten Eigentums- und Vermögensbegriff Hagemann: Art. Eigentum (1971), Sp. 889–889; Lutz Sedatis: Art. Vermögen, in: Erler/Kaufmann (Hg.): HRG, Bd. 5 (1998), Sp. 769–779; zum vertraglich-privatrechtlich begründeten kapitalistischen Eigentumsbegriff vgl. Fehrenbach: Gesellschaft (1974), S. 79. 382 Vgl. zur Unterscheidung des früheren Erbrechts hinsichtlich verschiedener Vermögensmassen (Fahrende, Habe, Lehnsgüter, Allodialgüter, Heergeräte, Gerade), derer jede sich nach besonderer Weise nach Land-, Lehn-, Anerbenrecht, Manns-, Frauenerbrecht vererbte, siehe Hagemann: Art. Erbrecht, in: Erler/Kaufmann (Hg.): HRG, Bd. 1 (1971), Sp. 971–977, Sp. 972 f. Im altdeutschen Recht ging die Spezialsukzession, die teils im ALR wieder aufgegriffen worden war, sehr weit.

4.2 Kapitalakkumulationsmodi/Gründungsfinanzierung

171

Unternehmen oder Unternehmensanteilen einschloss.383 Die testamentarische Verfügung Johann Arnolds folgte der gesetzlichen Erbfolge (des CC) – er vererbte zu gleichen Teilen.384 Eine testamentarische Bestimmung der Nachfolge und Vererbung des Unternehmens an männliche Nachkommen war aufgrund des geringen Freiteils und des starken Verwandtenerbrechts nicht möglich.385 Da weder die Eigentums- noch die Verfügungsrechte separat zugewiesen werden konnten, dies möglicherweise unter einem Primat der Familienlogik überhaupt nicht intendiert war, musste letztendlich ein institutionelles Post-mortem-Arrangement der vier Erben in der Erbengemeinschaft gefunden werden. Ein Streit unter ihnen und der Abzug der finanzierungsrelevanten Kapitalien hätte eine Gefahr für den Neustart und die Modernisierung des Unternehmens nach 1815 im Bergischen Land bedeutet. Die Vermögensmasse der Erbengemeinschaft wurde nicht in einem Zug, sondern sukzessiv auseinandergesetzt. Zunächst wurde wohl der Anteil von JW & S, die verbleibende Masse erst nach dem Tod von Johann Arnold jr. geteilt. Zwar kann über 383 Vgl. zur von Rangfolge der Geburten oder Geschlecht abgekoppelten Erbfähigkeit als Voraussetzung des Erwerbs der Erbenstellung (Erbfähigkeit) Art. 725 C. C. (1810), S. 138; zu Erbwürdigkeit vgl. Art. 727 C. C. (1810), S. 139; zur Universalsukzession vgl. Art. 724 C. C. (1810), S. 138. Zum Begriff der Universalsukzession als Gesamtrechtsnachfolge im Gegensatz zur Nachfolge in einzelne Vermögensmassen vgl. Hagemann: Art. Erbrecht, Sp. 972 f. Eine noch heute gültige Form der Spezialsukzession ist die Vererbung in der Landwirtschaft. Dazu Gestrich: Neuzeit (2003), S. 394. 384 Bei der Erbfolge waren grundsätzlich die gesetzliche, die die Erbberechtigung vorgab, und gewillkürte zu unterscheiden. Vererbung im Rahmen der gewillkürten durch Testament war möglich, fand aber seine Grenzen im Pflichtteilsrecht, das auf der gesetzlichen Erbfolge basierte. Die vier Kinder von Johann Arnold Hardt sen. waren als Vertreter der ersten Ordnung in der Erbfolgeordnung nach dem Verwandtenerbrecht des C. C. erbberechtigt. Vgl. zum Begriff der Erbfolgeordnung, die den Kreis der zu Erben berufenen Personen festlegt, Ekkehard Kaufmann: Art. Erbfolgeordnung, in: Erler/Kaufmann (Hg.): HRG, Bd. 1 (1971), Sp. 959– 962. Im C. C. schlossen vorrangige Ordnungen bei Wahrnehmung ihres Erbrechts nachrangige Ordnungen von der Erbfolge aus. Vgl. Art. 734 C. C., S. 140; zur Einteilung in Ordnungen vgl. Art. 731 C. C. (1810), S. 139; zu Erbfolge-Deszendenten Art. 745 C. C. (1810), S. 137. In der ersten Ordnung erbten die Kinder des Erblassers nach Köpfen, Abkömmlinge vorverstorbener Kinder des Erblassers kraft Repräsentationsrecht nach Stämmen. Vgl. zur Ermittlung der Erbquoten Art. 739–740 C. C. (1810), S. 144. Die Abkömmlinge der Kinder des Erblassers erbten nach Stämmen, „in stirpes“ (Art. 745 C. C.), S. 79; Johann Josef Bauerband: Institutionen des französischen in den deutschen Landen des linken Rheinufers: insbesondere des im Bezirke des königl. Rheinischen Appellations-Gerichtshofes zu Cöln geltenden Civilrechtes, Bonn 1873, S. 137. Nach dem Repräsentationsprinzip besaß der Repräsentant eines Stamms das Erbrecht auf den Anteil seines Stamms am Nachlass. Er schloss seine Abkömmlinge von der Erbfolge aus. Sollte der Repräsentant verstorben sein, besaßen seine Abkömmlinge das Eintrittsrecht in die Rechtsstellung ihres Vorfahren. In der absteigenden Linie setzte sich das Repräsentationsrecht ins Unendliche fort. Vgl. hierzu Art. 746 f. C. C. (1810), S. 140; Anke Baumann: Gesetzliche Erbfolge und Möglichkeiten testamentarischer Erbeinsetzung im französischen Code Civil, Diss. Münster 1995, S. 17. Trafen mehrere Seitenverwandte gleichen Grades zusammen, so teilten sie nach Anzahl der Köpfe „in capita“. 385 Das Gesamtvermögen war nicht hoch genug, dass das Unternehmen bzw. die Unternehmensanteile ausschließlich über den Freiteil hätten zugewiesen werden können.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

die gewählte Rechtsform nach dem Code de Commerce keine Aussage gemacht werden, das Vorliegen einer Handelsgesellschaft ist jedoch anzunehmen. Institutionenökonomisch betrachtet wurde nach der Mengenteilung der EuVRechte an JW & S bei den weiblichen Erben Anna und Caroline eine Verdünnung der EuV-Rechte vorgenommen. Trotz ihres Kapitaleigentums waren sie an der Geschäftsführung nicht selbst beteiligt, sondern hatten ihre Rechte an die männlichen Teilhaber zu delegieren. Im Fall der verheirateten Schwester nahm der Ehemann, wie gesetzlich verankert, die Verfügungsmacht über das Vermögen seiner Frau wahr.

4.2.2 Übergabe 2: Erbmodalitäten in vier Familienstämmen bei JW & S (1824–1854) Der älteste Sohn von Johann Arnold Hardt sen., Johann Arnold jr., überlebte seinen Vater nur um neun Jahre und starb 1824 im Alter von 46 Jahren. Er hinterließ seine zweite Ehefrau Helene, geb. Karsch und seine beiden minderjährigen Kinder Arnold Wilhelm I und Elise aus erster Ehe mit Elise Paas. Für die Vermögensverteilung nach dem Erbgang nach Johann Arnold Hardt jr. waren innerhalb der gewillkürten Erbfolge der am 08.07.1819 im Alter von 41 Jahren mit seiner zweiten Ehefrau Helene abgeschlossene Heiratsvertrag386 mit seinen erbrechtlichen Bestimmungen, der entsprechende Gesellschaftsvertrag387 der Handelsgesellschaft Johann Wülfing & Sohn, der am 26.06.1823 zwischen dem Erblasser und Johann Friedrich Hellmers abgeschlossene Gesellschaftsvertrag und die Bilanzen von 386 Im C. C. besaß der überlebende Ehegatte nur ein außergewöhnliches Erbrecht. Er nahm die Stellung als Irregularerbe ein, wenn der Erblasser weder Deszendenten, Aszendenten, Seitenverwandte bis zum 12. Grad noch uneheliche Kinder hinterlassen hatte. Vgl. zu außerordentlicher Erbfolge des überlebenden Ehegatten Art. 767 C. C. (1810), S. 146. Der überlebende Ehegatte konnte seine Versorgung nur durch Bestimmungen eines abgeschlossenen Heiratsvertrags, durch seine Ansprüche aus dem Güterrecht und/oder durch eine testamentarische Einsetzung durch den vorverstorbenen Ehegatten sicherstellen. Im Falle, dass kein notariell beglaubigter Ehevertrag vor der Heirat abgeschlossen worden war, sah der Code Civil die Gütergemeinschaft als gesetzlichen Güterstand der Eheleute vor. Die Gütergemeinschaft nach C. C. erstreckte sich auf das Gesamtgut, das das in die Ehe eingebrachte und das während der Ehe erworbene Mobiliar- sowie Immobiliarvermögen und die das Aktivvermögen beschwerenden Schulden umfasste. Die Verwaltung des Vermögens oblag dem Ehemann. Wurde eine Ehe von Todes wegen beendet, hatte dies wie die Ehescheidung die Auflösung der Gütergemeinschaft zur Folge. Der überlebende Ehegatte oder seine Erben erhielten aus dem gemeinsamen Vermögen den sog. Voraus vorab und die Hälfte auf das um den Voraus gekürzte gemeinsame Vermögen. Vgl. zu außerordentlichem Erbrecht des Ehegatten Art. 767 C. C. (1810), S. 144. Zu den güterrechtlichen Ansprüchen des überlebenden Ehegatten vgl. Art. 1474 C. C. (1810), S. 284; Art. 1394 C. C. (1810), S. 265; Art. 916 C. C. (1810), S. 172; zu Vermögensverwaltung durch den Ehemann vgl. Art. 1421 C. C. Die Dispositionsbefugnis erstreckte sich nicht auf das Sondergut der Frau, Art. 1428–1430 C. C., S. 249 f. 387 Bezüglich des Wahlrechts der Eintrittsberechtigung, Verwehrung des Eintritts und entsprechenden Abfindungsmodus ließ der Code Civil vertraglichen Spielraum. Vgl. Art. 18 C. C. (1812), S. 9.

4.2 Kapitalakkumulationsmodi/Gründungsfinanzierung

173

Hardt & Hellmers und Johann Wülfing & Sohn von 1823/1824 relevant.388 Das Gesetz sah nicht per se vor, dass Handelsgesellschaften langfristig über mehrere familiäre Generationen fortbestanden. Personengesellschaften konnten jedoch nach Tod oder Austritt eines Gesellschafters durch entsprechende Bestimmungen im Gesellschaftsvertrag fortgeführt werden.389 Nachdem das Eigentum von Helene Karsch von der Erbmasse separiert war, betrug der Nachlasswert gemäß Nachlassverzeichnis 81.470 Taler. Tabelle 7 zeigt, wie sich der Nachlass von Johann Arnold jr. zusammensetzte. Neben seinem in den Unternehmen JW & S und Hardt & Hellmers gebundenen Vermögen besaß er wenig Haftungsmasse im privaten Bereich in Form von Immobilien, werthaltigem Mobiliar, Wertpapieren oder Schmuck.390 Johann Arnold jr. hatte seine beiden minderjährigen Kinder als Erben eingesetzt. Seine Ehefrau Helene erhielt ein Fünftel seiner Kapitaleinlagen bei JW & S und Hardt & Hellmers und ihr in die Ehe eingebrachtes Vermögen gemäß dem Heiratsvertrag vom 08.07.1819. Das Ehepaar war nicht im Güterstand der Gütergemeinschaft nach dem Code Civil verheiratet, sodass die Errungenschaft, zu der die Kapitaleinlagen gehörten, den güterrechtlichen Ansprüchen der Frau entzogen war. Gemäß der Bilanz verteilte sich das Eigenkapital innerhalb der Familie Hardt wie folgt: Die Brüder Hardt hielten zusammen 64 % des Eigenkapitals bei JW & S. Die Position von Johann Arnold jr. betrug ca. 28 % und somit 8 % weniger als die seines Bruders. Auf die Schwäger und Schwestern entfielen 36 %. 1823/24 ist sowohl eine Differenz der Eigenkapitalanteile als auch der auf die Vertreter entfallenden Gewinnbeteiligungen zwischen den Familienstämmen, aber auch zwischen den männlichen und weiblichen Vertretern bzw. den Schwägern zu beobachten. Die Söhne von Johann Arnold Hardt sen. erhielten jeweils 3/9, insgesamt 6/9, während die angeheirateten Teilhaber 2/9 bzw. 1/9 neben der Kapitalverzinsung von 4 % erhielten. Die stille Teilhaberin Anna Hardt erhielt nur eine Kapitalverzinsung zu 4 %. An Elise und Arnold Wilhelm I gingen jeweils 2/5 der Anteile ihres Vaters, der bei JW & S 55.965 Taler und bei Hardt & Hellmers 3.478 Taler zuzüglich des quotalen Anteils ihres Vaters an der Erbengemeinschaft nach ihrem Großvater ausmachte. Der Anteil, der sich nur auf Hardt & Hellmers bezog, betrug 9.113 Taler. Bis zur Volljährigkeit ihrer Stiefkinder wurde der Witwe ein 388 Vgl. RWWA 122-225-9. Nota von Johann Arnold sen., 1805; RWWA 122-M1; RWWA 122228-3. Aus dem Nachlassverzeichnis können Hinweise auf den Inhalt des Gesellschaftsvertrags von JW & S und den vom 26.06.1822 zwischen dem Erblasser und Johann Friedrich Hellmers abgeschlossenen Gesellschaftsvertrag, eine Bilanz der Weinhandlung von Hardt und Hellmers vom 01.02.1823 und eine Bilanz von JW & S vom 01.03.1824 entnommen werden. 389 Vgl. zum Gesellschaftsvertrag und seiner Reichweite Art. 18 CC (1812), S. 9; zum Vorrang des Gesellschaftsvertrags und der subsidiären Wirkung des Handelsrechts für die OHG vgl. Art. 90 AHGB, S. 55; § 109 HGB, S. 3. Für die KG vgl. hierzu Art. 157 AHGB, S. 55, 70; § 163 HGB, S. 49. 390 Vgl. RWWA 122-228-3. Nachlassverzeichnis, 12.04.1824. Der Nachlass bzw. die Erbteile waren mit drei Leibrenten u. a. an die Eheleute Engelbert Hardt in Duisburg in einer Höhe von insgesamt 883 Talern beschwert. Von den Leibrenten hatte Arnold Wilhelm jährlich 220 Taler zu tragen.

174

4. Die Unternehmen der Familie Hardt

Nießbrauch an den Erbteilen ihrer Stiefkinder von jährlich 980 Talern eingeräumt. Sowohl die Witwe als auch die Erben mussten aus den Erträgen die kaufmännische Fachkraft Friedrich Springmann mit 1.500 Talern im Jahr bezahlen. Nach dem Tod von Johann Arnold jr. änderte sich 1824 die Gewinnverteilung. Auf seinen ehemaligen Anteil entfiel nach seinem Tod nicht mehr 1/3, sondern nur noch 2/9 des Gewinns, sodass sich die Fünftel seiner Erben auf diese 2/9 bezogen. Helene Hardt war somit zu 1/45, ihre Stiefkinder zu je 2/45 an Gewinn und Verlust beteiligt. Tab. 6

Nachlass von Johann Arnold Hardt jr. aus dem Jahr 1824

Art des Vermögens

Werte in p. Ct.

Anteil am Nachlasswert

Barvermögen

einige Taler

Forderungen

5.028

6,17 %

2.571 (11.685391)

2,81 % (14,34 %)

3.478 9.113

4,00 % 11,19 %

Kapitalanteil bei JW & S

55.965

68,69 %

Im Unternehmen gebundenes Vermögen

Anteil am Vermögen des Vaters Kapitalanteil bei Hardt & Hellmers zzgl. Anteil aus dem Nachlass des Vaters

n. b.

68.556

83,88 %

Privates Immobilienvermögen

3.623

4,75 %

Privates Mobiliar, Wertgegenstände

2.673

3,28 %

Nachlassverbindlichkeiten Summe, Nettonachlasswert

981

-1,20 %

81.469

100,00 %

Quelle: RWWA 122-228-3.

Aufgrund der Nießbrauchslösung besaß die Witwe Helene keine Möglichkeit, die Kapitalien der unter der Vormundschaft von Engelbert Hardt stehenden Stiefkinder abzuziehen, sodass die Kapitalsubstanz der Erbteile bis zu ihrer Volljährigkeit dem Unternehmen erhalten blieb. Während der an den designierten Nachfolger von Johann Arnold jr., Arnold Wilhelm, vererbte Anteil zu 100 % reinvestiert wurde, zog Elise ihren Erbteil nach ihrer Heirat mit Engelbert Rhodius bis 1831 ab. Der frühzeitige Tod Helenes Gatten, die Entlohnung eines Gehilfen und die anteilig zu tragenden Verluste aus Immobiliengeschäften führten zu einer Reduzierung ihrer Versorgungsgrundlage. Der Gewinnanteil von 1/45 wurde zu Beginn der 1830er Jahre nicht mehr bezahlt. Da der Nießbrauch bei Volljährigkeit der Stiefkinder entfiel und Helene Hardt relativ große Entnahmen tätigte, wie z. B. 8.513 Taler im Jahr 1831, war ihr Erbteil bis auf einige Hundert Taler, die vereinzelt als Kontokorrent wieder auftauchen, aufgebraucht.392 Insgesamt standen JW & S mittelfristig ca. 100 % und 391 Vom ursprünglichen Wert von 11.685 Talern fallen 78 % bzw. 9.113 Taler in die Kategorie des im Unternehmen gebundenen Vermögens. 392 In der Bilanz ist die erste höhere Entnahme von Elise von 8.106 Talern 1829 feststellbar, gefolgt 1830 von einer Überweisung von 20.177 Talern auf ein Kontokorrentkonto. Vgl.

4.2 Kapitalakkumulationsmodi/Gründungsfinanzierung

175

langfristig nach 1830 ca. 40 % des ursprünglichen Kapitalanteils des Erblassers zur Verfügung. Am 30.03.1838 verstarb Anna (1779–1838), die Schwester von Johann Arnold jr. und Johann Engelbert, die seit dem Tod ihres Vaters 1815 als eine Art stille Teilhaberin bei JW & S beteiligt gewesen war. Ihr Kapitalanteil bei JW & S im Todesjahr betrug 47.041 Taler, ca. 8 % des gesamten Eigenkapitals im Jahr 1837/38. Anna Hardt, die nicht verheiratet und kinderlos war, vererbte jeweils 17.066 Taler, 36 % ihres Anteils, an ihren Bruder Engelbert und ihren Schwager Johann Buchholz. Ihr 33-jähriger Neffe Arnold Wilhelm, ein Vertreter der dritten Generation, erhielt 8.533 Taler, 18 % ihres Anteils.393 In die aus ihrem sozialen Engagement entstandene Anna-Hardt-Stiftung wurden 1.000 Taler eingebracht. Das Stiftungskapital wurde in der Bilanz unter der Position fremde Creditoren geführt.394 Bis auf 3 %, die im Bereich des Fremdkapitals nachweisbar sind, und 7 %, die abflossen, blieben 90 % ihres ursprünglichen Anteils mittels Vererbung an die Teilhaber dem Eigenkapital des Familienunternehmens erhalten. Nach dem Erbfall von Anna Hardt 1838 wurden die Verteilungen der unternehmerischen Vermögensmassen der Erblasser in den entsprechenden Bilanzen vorgenommen und gezahlte Aussteuern vermerkt. Die Beweismittelfunktion der Bilanzen weitete sich auf Erbfälle und auf die vorweggenommene Erbfolge aus. Da Bilanzen gesetzlich zugelassene Beweismittel waren, bildeten diese Dokumentationen nützliche Vorsorge in der kaufmännischen Praxis für etwaige Erbstreitigkeiten. Zu Beginn der 1850er Jahre häuften sich die personellen Zäsuren bei JW & S. Es verstarben die zwei Seniorteilhaber Engelbert Hardt und sein Schwager Friedrich W. Hasenclever sowie der stille Teilhaber Johann Buchholz. Engelbert, der am 7. April 1850 im Alter von 66 Jahren verstarb, war laut der letzten Bilanz vor dem Erbfall mit 489.752 Talern zu 41 % an der gesamten Eigenkapitalausstattung der Handelsgesellschaft JW & S beteiligt. Auf seinen Neffen Arnold Wilhelm entfielen 24 % und auf seine Söhne 14 %.395 Wie es Engelbert gelang, diesen vergleichsweise hohen Anteil als der seit Mitte der 1820er Jahre dominierende Teilhaber zu generieren und weiter auszubauen, verdeutlicht sich bei der Betrachtung von Engelberts Entnahmeverhalten im Zeitraum von 1823/24 bis 1849/50 (Abb. 17 b).396 Durchschnittlich flossen 63 % sei-

393

394 395 396

RWWA 122-M1. Im Jahr 1855 findet sich z. B. eine Kontokorrentposition von Helene Hardt über 2.114 Taler. Vgl. hierzu RWWA 122-0132. Da die Verteilung von der gesetzlichen Erbfolge des C. C. abweicht, innerhalb derer auf Engelbert ein Drittel, Caroline ein Drittel und Arnold Wilhelm I und seine Schwester Elise als Abkömmlinge von Johann Arnold Hardt jr. je ein Sechstel entfallen wäre, ist davon auszugehen, dass Anna Hardt eine letztwillige Verfügung errichtet hatte. Vgl. RWWA 122-M1. Für eine stille Teilhaberschaft spricht die Tatsache, dass Anna Hardt nur Zinsen auf ihren Kapitalanteil und keine Gewinnbeteiligung erhielt. Vgl. RWWA 122-M1; RWWA 122-0132. Die jährlichen durchschnittlichen Reinvestitionsquoten ergeben sich als Summe der Quotienten der jährlichen Veränderungen des Eigenkapitalbestands auf Basis der jeweiligen Schlussbilanzen und der Einnahmen der Gesellschafter bestehend aus Zins- und Gewinneinnahmen. In den Jahren der Erbschaftsverteilungen nach personellen Zäsuren gehen auch zugewiesene

176

4. Die Unternehmen der Familie Hardt

ner Einnahmen, bestehend aus der Kapitalverzinsung von 4 % und der Gewinnbeteiligung, zurück. In den Wert gehen einmal die Erbschaft seiner Schwester aus dem Jahr 1838 und der Abzug des Gründungskapitals für Hardt & Co im Jahr 1847 ein. Abb. 17 a

Wachstum des Eigenkapitalanteils von Engelbert 1824–1850

Abb. 17 b

Reinvestitionsverhalten von Engelbert 1824–1850

Quelle: RWWA 122-M1; RWWA 122-0132.

Erbteile in die Berechnungen mit ein, die, falls sie nicht abgezogen wurden, die durchschnittlichen Reinvestitionsquoten der jeweiligen Jahre anheben.

177

4.2 Kapitalakkumulationsmodi/Gründungsfinanzierung

Für den Zeitraum 1823/24 bis 1850, in dem simultan zwei Generationen der Familie im Unternehmen JW & S tätig waren, können für alle Teilhaber insgesamt keine mehrjährigen Überentnahmeperioden festgestellt werden. Bis Ende der 1830er Jahre stiegen die durchschnittlichen Reinvestitionsquoten auf 74 %. Tab. 7

Durchschnittliche Reinvestitionsquoten aller Teilhaber pro Jahrzehnt 1823–1900

Zeitraum

Durchschnittliche Reinvestitionsquote

Zeitraum

Durchschnittliche Reinvestitionsquote

1823/24–1829/30

44 %

1860–1869

42 %

1830/31–1839/40

74 %

1870–1879

76 %

1840/4 –1849/50

59 %

1880–1889

70 %

1850–1859

34 %

1890–1899

-222 %

Quelle: RWWA 122-M1; RWWA 122-0132; RWWA 122-0131; RWWA 122-0133; RWWA 1220134397

Dies ist vor allem darauf zurückzuführen, dass Finanzmittel und Gewinne von Hardt & Hellmers in den Jahren 1834–1836 zugeführt wurden, ohne die der Durchschnittswert bei 61 % gelegen hätte.398 In den 1840er Jahren sank der Durchschnitt bedingt durch die Krisenjahre um 1848 auf 59 % ab. Tabelle 7399 fasst die durchschnittlichen Reinvestitionsquoten für die einzelnen Zeiträume bei JW & S zusammen. Entwickelte sich der Gewinn schlecht, zu nennen sind hier das Jahr 1848 oder die Jahre außerordentlicher Ereignisse wie der Brand von 1838, reinvestierte Engelbert unter 50 % seiner dann verringerten Zuflüsse. Als Abflüsse in den Jahren 1838, 1841 und 1846 gingen von seinem Kapitalkonto Aussteuerzahlungen von insgesamt 21.142 Talern sowie die von ihm geleisteten Lohnzahlungen an seine Söhne ab. Seit Anfang der 1840er verminderten sich Engelberts Gewinneinnahmen relativ um 30 % infolge der vorweggenommenen Erbfolge durch die Übertragung von Gewinnanteilen auf seine Söhne Albert I und Friedrich I. Diese waren 1840 und 1847 in das Unternehmen eingetreten und mit 25 % und 12,5 % beteiligt.400 Vor der Änderung der Gesellschaftsverträge wurden die Gewinne bereits nach neuen Verteilungsschlüsseln zugewiesen. Da für den Erbfall Engelbert Hardt kein Nachlassverzeichnis vorliegt und eine Gesamtvermögensmasse für das Jahr 1850 so nicht ermittelbar ist, wurden für das Verhältnis von Prae-mortem- zu Mortis-causa-Transfer in einem ersten Schritt die zu 4 % bis 1850 verrenteten Prae-mortem-Transfers, die Aussteuern, das Startkapital von Hardt & Co sowie der quotale jährliche Gewinnverzicht auf den potenziellen Eigenkapitalanteil bei 397 Die Reinvestitionsraten wurden als arithmetische Mittel des Jahrzehnts berechnet. Die Berechnung basiert auf einer indirekten Berechnung über die jährliche Veränderung des Eigenkapitals. 398 Vgl. RWWA 122-M1. Der Mittelzufluss betrug im Jahr 1836 15.620 Taler. 399 Vgl. RWWA 122-M1; RWWA 122-0132; RWWA 122-133; RWWA 122-0134. 400 Vgl. RWWA 122-M1; RWWA 122-285-6. Der Gesellschaftsvertrag, 20.11.1829, 01.03.1830;

178

4. Die Unternehmen der Familie Hardt

JW & S bezogen, der ohne Prae-mortem-Transfer bei konstantem Entnahmeverhalten möglich gewesen wäre. Der potenzielle Eigenkapitalanteil wird aufgefasst als tatsächlicher Eigenkapitalanteil von 489.753 Talern zuzüglich der bis zum Todesjahr aufgezinsten Prae-mortem-Transfers. Bezogen auf den potenziellen Eigenkapitalanteil von 572.434 Talern weisen die Prae-mortem-Transfers, die Engelbert zwischen seinem 55. und 63. Lebensjahr getätigt hat, einen Anteil von 14 % auf, die aus der Sicht von 1850 bereits als Eigenkapital an die nächste Generation weitergegeben wurden. Ein Testament von Engelbert Hardt liegt nicht vor. Die für das Familienunternehmen wirksamen Erbfolgeklauseln können aus dem Gesellschaftsvertrag vom 26.03.1850 entnommen werden. Eine Witwe, die die Rechtsnachfolge ihres verstorbenen Mannes antrat, war weder zur Zeichnung noch zur Geschäftsführung berechtigt. Sie hatte notfalls sogar einen Gehilfen einzustellen und zu entlohnen, der die Tätigkeit des Verstorbenen übernahm. Die Erben eines verstorbenen Gesellschafters oder einer Witwe eines Gesellschafters konnten nur mit Zustimmung der übrigen Gesellschafter in die Rechtsposition als Teilhaber eintreten, besaßen also nicht per se ein Eintrittsrecht. In einem späteren Gesellschaftsvertrag wurde eine Art Vertrauensklausel aufgenommen, dass die überlebenden Gesellschafter den Stammesnachfolger als Gesellschafter aufzunehmen hatten.401 Der Auszahlungszeitraum der Kapitaleinlage bei Separation war auf insgesamt sechs Jahre festgelegt und galt auch in dem Fall, dass der Gesellschafter weder eine Witwe noch Erben hatte, die per Gesellschafterbeschluss in den Gesellschafterkreis aufgenommen worden wären. Die Rückzahlung des ersten Drittels sollte nach zwei Jahren, ein weiteres nach vier Jahren und das verbleibende Drittel nach sechs Jahren ausbezahlt werden. In der Gesellschaft behielt man sich vor, abweichend zu disponieren.402 Nach der gesetzlichen Erbfolge des rheinischen Rechts/Code Civil wären Engelberts acht bereits volljährige Kinder zu gleichen Teilen als Erben berufen gewesen. Im Falle, dass seine Ehefrau Louise ihre Ansprüche aus dem Güterrecht geltend gemacht hätte, hätte jedes Kind ein Achtel aus der Erbmasse erhalten.403 Abweichend von der gesetzlichen Erbfolge trat die Witwe Louise auf Basis des Gesellschaftsvertrags von 1850, den ihr Ehemann nur wenige Wochen vor seinem Tod unterzeichnet hatte, in die Rechtsposition ihres verstorbenen Ehegatten bei JW & S ein und wurde ab 1855 eine Art stille Teilhaberin.404 Der Vertrag von 401 Vgl. RWWA 122-285-6. Dritter Anhang Gesellschaftsvertrag, 26.03.1850. 402 Vgl. ebenda.. Zur Kontinuität späterer Verträge vgl. RWWA 122-205-10; RWWA 122-225-9. Gesellschaftsvertrag, 28.02.1855. 403 Der güterrechtliche Anspruch der Witwe hätte sich nach dem vom Ehepaar Hardt gewählten Güterstand, bei dem es sich vermutlich um die Gütergemeinschaft handelte, bestimmt. Vgl. zu Gütergemeinschaft Art. 1400 C. C. (1810), S. 266 f. Dem überlebenden Ehegatten stand es nach Art. 1483 C. C. (1810), S. 280, frei, die Gütergemeinschaft mit den Erben eine gewisse Zeit fortzusetzen. 404 Vgl. RWWA 122-0132; Art. 745 C. C. (1810), S. 142. Vgl. zur Haftungsbeschränkung Art. 26 CC (1812), S. 14; Art. 255 Abs. 2 AHGB, S. 94; zur Gewinn- und Verlustbeteiligung bei einer stillen Beteiligung vgl. Art. 250 i. V. m. Art. 253 u. Art. 254 AGHB, S. 93–96. Die Witwe Louise trat in die Rechtsposition ihres verstorbenen Mannes, die beide Merkmale, Ge-

4.2 Kapitalakkumulationsmodi/Gründungsfinanzierung

179

1850 regelte sowohl die Nachfolge von Gesellschaftern, die eine Witwe oder keine Witwe, sondern nur Erben hinterließen. Im gleichen Jahr wie Engelbert Hardt verstarb der kinderlose Johann Buchholz, der seit 1830 stiller Gesellschafter bei JW & S mit 95.147 Talern, ca. 8 % des Eigenkapitals, gewesen war. Wie bei seinem Schwager Engelbert übernahm seine ihn überlebende Ehefrau Caroline, geb. Hardt seinen Kapitalanteil bei JW & S und konnte aus den erzielten Einnahmen aus der Kapitalverzinsung ihren Lebensunterhalt bestreiten.405 Ihre durchschnittlichen jährlichen Versorgungsbezüge lagen im Zeitraum von 1850 bis 1862 bei 3.791 Talern, die Bezüge der Witwe von Engelbert Hardt aus Gewinn und Kapitalverzinsung betrugen 26.922 Taler. Ab 1855 bis 1866 fielen nach dem Gewinnverzicht von Louise Hardt Zinseinnahmen von 21.508 Talern an. Beide Witwen schöpften ihre Zinseinnahmen nicht völlig aus und reinvestierten durchschnittlich 14 % bis 29 % p. a.406 Der dritte der Seniorteilhaber, Friedrich W. Hasenclever, verstarb 1854. Zu seinen Erben zählten auf Basis seines 1849 errichteten Testamentes neben seinen Schwestern Henriette, Julie, Christine und Therese Vertreter der Familien Goldenberg und Hardt.407 Die hinterlassene, bei JW & S gebundene Vermögensmasse betrug 162.300 Taler. Diese setzte sich aus seinem Anteil bei JW & S von 135.731 Talern, einer Forderung gegenüber seiner Schwester Louise von 10.000 Talern und einer Einlage in dem Unternehmen Goldenberg & Seiffert Mülheim von 16.569 Talern zusammen. Von den 162.300 Talern entfielen auf seine vier Schwestern insgesamt 37.794 Taler (23 %), auf Vertreter der Familie Goldenberg 46.792 Taler (29 %) und auf Angehörige der Familie Hardt 65.527 Taler (40 %). Aus der Familie Hardt erbten die acht Kinder seiner Schwester Louise Hardt, geb. Hasenclever je 8.189 Taler. Albert I, Friedrich I und Hermann I, die zum Zeitpunkt des Erbfalls von F. W. Hasenclever Teilhaber bei JW & S waren, ließen sich ihre Erbschaft auf ihr Kapitalkonto gutschreiben. Bezogen auf den ursprünglichen Anteil bei JW & S von 135.731 Talern, der 1853 ca. 10 % des Eigenkapitals ausmachte, gelangten im Rahmen der Erbfolge von F. W. Hasenclever 24 % zurück in das Eigenkapital. Die Erbteile von Fritz Goldenberg, später Färbereileiter bei JW & S, und Marie Goldenberg, Arnold Kayser, den Schwestern Hasenclever, Emilie und Lina Hardt in Höhe von insgesamt 89.266 Talern wurden nicht abgezogen. Somit verblieben 66 % der Kapitaleinlage unter der Bilanzsposition

schäftsführung und volle Verlusthaftung, aufwies. In Bezug auf die Partizipation an der Geschäftsführung rückte die Witwe in die Nähe einer stillen Teilhaberin, während für die Haftung keine Einschränkung wie bei Johann Buchholz vertraglich festgelegt war. 405 Vgl. RWWA 122-0132, zur Erwähnung der stillen Teilhaberschaft mit dem Ehepaar Buchholz im Gesellschaftsvertrag, 26.03.1850, und den folgenden Gesellschaftsverträgen vgl. RWWA 122-205-10. 406 Vgl. RWWA 122-0132. Die durchschnittliche prozentuale Quote der Witwe Buchholz wurde in erster Annäherung ohne den verzerrenden Wert im Jahr 1857 berechnet. 407 Vgl. Hasenclever: Stammbaum der Familie Hasenclever (1909), Tafel 6.

180

4. Die Unternehmen der Familie Hardt

„fremde Creditoren“ als Kontokorrentposition, die zu 4 % verzinst wurde.408 Die Positionen der Goldenbergs und der Schwestern Hasenclever, die zwar zum Verwandtschaftsnetz, jedoch nicht zum Kern der Familie Hardt gehörten, blieben trotz der Anlagemöglichkeiten in eigenen Familienunternehmen dem Unternehmen JW & S selbst nach der im Gesellschaftsvertrag vorgesehenen Auszahlungszeit von sechs Jahren erhalten. Den Teilhabern von Hardt & Co, Heinrich und Richard Hardt, wurden ungefähr 10 % des Anteils vererbt, den man ihnen vermutlich auszahlte, denn in den Bilanzen der Folgejahre erschien der Betrag nicht mehr.409 Die Witwe von Johann Buchholz, eine geborene Hardt, verstarb 1862. Seit dem Tod ihres Mannes 1850 war Caroline stille Teilhaberin bei JW & S gewesen. Der Vererbung ihres Nachlasses lag eine testamentarische Verfügung zugrunde. Mangels leiblicher Erben vererbte sie Teile ihrer Kapitaleinlage von 92.258 Talern, 5,2 % des Eigenkapitals an ihre Nichten und Neffen. Ungefähr 30 % ihres Nachlasses (27.550 Taler) wurden für Legate aufgewendet. Von dem ursprünglichen Anteil flossen nachweislich ca. 33 % in das Eigenkapital und 16 % in das Fremdkapital zurück.410 Louise Hardt verschied 1867 im Alter von 80 Jahren. Von ihrem Unternehmensanteil hatte sie zwischenzeitlich bis auf die Darlehen und Schenkungen an ihre Tochter Caroline und deren Mann Gustav und die Aussteuer an ihren Sohn Hermann keine großen Entnahmen getätigt.411 Die Beträge, die sie im Jahr 1858/59 ihrer Tochter schenkte, stellten eine erste Zäsur in der Praxis der vorweggenommenen Erbfolge dar. Das Volumen des 1858/59 vorgenommenen Praemortem-Transfers ist wesentlich höher als die bis dahin üblichen. Es kann eine gewisse Bereitschaft, Transfers vom Todeszeitpunkt zu entkoppeln, festgestellt 408 Vgl. RWWA 122-0132. Die 89.266 Taler setzen sich aus dem Erbteil der Schwestern Hasenclever in Höhe von 37.794 Talern, aus zwei Erbteilen zu 8.189 Talern der Schwestern Hardt und aus drei Erbteilen zu 11.698 Talern der Goldenbergs und Arnold Kayser zusammen. 409 Vgl. ebenda.. Neben Kosten und Stempelgebühren flossen aus der Nachlassmasse von 162.300 Talern Zahlungen für Vermächtnisse ab. Hasenclever vermachte über 8.000 Taler für wohltätige Zwecke und kleinere Geldvermächtnisse an Angestellte. Der Erbteil von Julie Kayser, eine verheiratete Rudolph Goldenberg, wurde mit der Einlage Hasenclevers bei Goldenberg und Seiffert verrechnet und der restliche Anteil ausbezahlt. Der Erbteil der Kinder von Laura Hardt und Julius Wiesmann von 8.189 Talern wurde ihrer Mutter Louise gutgeschrieben und gelangte so ins Eigenkapital. Julius Wiesmann hatte vermutlich eine Forderung seiner Schwiegermutter mit dem Erbteil beglichen. 410 Vgl. RWWA 122-0132. Die Eigenkapitalanteile beziehen sich auf die Schlussbilanz von 1862. Die 30.204 Taler, die in den Bereich des Eigenkapitals zurückflossen, entstammten den Erbteilen der Brüder Albert I, Hermann I und Friedrich I in Höhe von je 7.286 Talern und dem Erbteil von Arnold Wilhelm I in Höhe von 8.446 Talern. Die Nichte Emilie und die Kinder der vorverstorbenen Laura ließen ihren Erbteil als Kontokorrentposition stehen. 411 Vgl. RWWA 122-225-9. Schenkungsvertrag, 21.03.1859; Nachtrag zum Testament, 23.03.1859. Aus dem Schenkungsvertrag geht hervor, dass Caroline und Gustav Hardt bei Carolines Mutter Louise Hardt Schulden in Höhe von 140.000 Talern hatten. Von diesem Forderungsbetrag schenkte Louise ihrer Tochter 70.000 Taler als Voraus auf ihren Erbteil. Die verbliebene Schuld hatte das gemeinsam haftende Ehepaar spätestens bis zur Verteilung des Nachlasses von Louise zurückzuführen.

4.2 Kapitalakkumulationsmodi/Gründungsfinanzierung

181

werden.412 In einem Nachtrag zu ihrem Testament vom 23.03.1859 vermachte Louise ihrer Tochter Caroline weitere 50.000 Taler, die explizit von ihrer Gütergemeinschaft mit dem Ehemann Gustav ausgenommen wurden. Gustav erhielt zwar das Nießbrauchsrecht an den Erträgen auf das zwingend bei JW & S anzulegende Vermächtnis, durfte aber nicht darüber verfügen. Louise sicherte so die Versorgung ihrer Tochter und Enkel, da das Vermächtnis von 50.000 Talern aus dem Gemeingut der Gütergemeinschaft ausgeschlossen wurde. Das bedeutete auch einen Ausschluss von der Haftungsmasse des als Kaufmann tätigen Gustav.413 Gleichzeitig wurde durch die geforderte Anlage der Substanz bei JW & S dem Unternehmen kein Kapital entzogen. Seit 1855 war Louise vermutlich nur noch stille Teilhaberin gewesen und im Gesellschaftsvertrag von 1855 nicht mehr explizit als Gesellschafterin vermerkt. Nach Arnold Wilhelm I, der eine Kapitaleinlage von 30 % stellte, war Louise mit ihrer Einlage von 22 % vor ihrem Sohn Albert I die bedeutendste Kapitalgeberin von JW & S. Ihre Kapitaleinlage erhöhte sich nach Anrechnung offener Forderungen auf 692.000 Taler. Davon erhielten die Kinder ihrer 1855 verstorbenen Tochter Laura, verheiratete Wiesmann ein Achtel, nämlich 86.500 Taler. Die verbleibenden 585.500 Taler wurden unter ihren sieben lebenden Kindern zu je einem Siebtel verteilt. Die sonstigen Wertgegenstände und das Haus in Lennep wurden, wie 1856 testamentarisch verfügt, in Form von Vermächtnissen weitergegeben. Bis auf Albert I, dem das Haus seiner Eltern und das Pferdegespann seiner Mutter gegen Zahlung von 10.000 Talern an die Erbengemeinschaft vermacht wurden, erhielt jedes der Kinder Mobiliar und Silberzeug. Die Schwester Christine wurde mit einer jährlichen Rente von 300 Talern bedacht. Für soziale Zwecke waren 3.000 Taler vorgesehen. Verwunderlich ist, dass im Testament keinerlei Hinweise auf ein Wertpapier- oder Wechselportefeuille zu finden sind, sodass eine ähnliche Zusammensetzung des Nachlasses wie bei Johann Arnold jr. und Johann Arnold sen. mit wenig privater Haftungsmasse oder Liquiditätsquellen naheliegt.414 Louise Hardt sah in ihrem Testament für den Auszahlungsmodus der Erbteile vor, „dass beim Todesfalle eines Gesellschafters das demselben zukommende Kapital erst in sechs Jahren nach der Convinienz der bleibenden Gesellschafter auszuzahlen wäre, damit das so lange mit Segen betriebene Geschäft keine Störung erlitte.“415 Setzt man 627.965 Taler als unternehmerische Vermögensmasse von Louise Hardt an, ist ersichtlich, dass 124.785 Talern (20 %) auf die Söhne Heinrich und Richard, die Eigentümer von Hardt & Co umverteilt wurden. Ihre drei Söhne Albert I, Friedrich I und Hermann I stockten ihre Kapitaleinlage bei JW & S um ihren Erbteil von insgesamt 250.929 Talern auf. Die Erbteile der Töchter Emilie und Caroline wurden dem Lenneper Stammhaus als Kontokorrent zur Verfügung 412 Vgl. ebenda. Die Nachlassminderung ergibt sich aus dem akkumulierten Gewinnanteil von 3/36, der jeweils zu 4 % reinvestiert wurde. 413 Vgl. ebenda; zur Möglichkeit des Schenkers, eine Absonderung des Transfers vom ehelichen Gemeingut festzulegen, vgl. Art. 1401 C. C. (1810), S. 267; zu Schenkungen vgl. RWWA 122-0132. 414 Vgl. RWWA 122-225-9. Notarielles Testament Louise Hardt, 09.12.1856. 415 Vgl. ebenda.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

gestellt. Insgesamt verblieben 40 % im Eigenkapital und 37 % wurden als Familiendarlehen, für das keine Sicherheit in Form einer Hypothek eingetragen werden musste, reinvestiert.416 Die Hardts führten ihre Unternehmungen, JW & S nachweislich seit 1830 und Hardt & Hellmers bereits vor 1824, in der Form der Handelsgesellschaft, die sich bei Einbindung verschiedenster Teilhaberkonstellationen, u. a. auch mit stillen Teilhabern bewährte. Die seit Johann Wülfing praktizierte intergenerationale Transferstruktur mit Dominanz der Mortis-causa-Transfers wurde wie das Reinvestitionsverhalten mit hoher Thesaurierung beibehalten. Die Prae-mortemTransfers erhöhten sich entsprechend dem wirtschaftlichen Aufstieg der Familie in absoluter Höhe. Die Gewinne richteten sich weder nach Köpfen noch nach Stämmen. Engelbert transferierte seinen Söhnen nach Alter gestaffelt einen Teil seines Gewinnanteils. Eine Reduktion der Gewinnanteile der übrigen Gesellschafter wurde parallel ausgehandelt. Die Gewinn- und Verlustbeteiligung war zunächst disquotal zum Eigenkapitalanteil, der Haftungsmasse der Nachfolger. Die Machtstruktur unter den Eignern bzw. den Familienstämmen in der zweiten Generation nach dem Erbfall 1824 veränderte sich, sodass der Patriarch Engelbert Hardt seine bis dato geringe Vormachtstellung bis 1850 gegenüber seinem Neffen und F. W. Hasenclever weiter ausbaute. Engelbert konnte mit seinem Familienstamm in drei Gesellschafter-Konstellationen Einfluss auf die Entscheidungen nehmen: allein, mit seinen Söhnen und zusammen mit den übrigen Seniorteilhabern. Allen Teilhabern/Teilhaberehen war gemein, dass der größte Anteil des Vermögens im Unternehmen gebunden war, z. B. bei Johann Arnold jr., der über 80 % seines Vermögens in den Unternehmen JW & S und Hardt & Hellmers investiert hatte. Weder die Vermögenshöhe, die -allokation noch die Liquiditätssituation in den Unternehmungen ließ es zu, die Ansprüche der Witwen und der weichenden Erben zu kompensieren. Seit dem Tod von Johann Arnold sen. 1815 ergab sich aus diesem Grund als institutionelles Arrangement zwischen den weichenden Erbinnen bei Gleichverteilung und (ab 1824) zwischen Witwen und den designierten Nachfolgern im Familienunternehmen, dass Eigentum und Leitung getrennt wurden. Die Lösung wird als geschlechtsspezifische Verdünnung von EuV-Rechten bezeichnet. Die Witwen erhielten zu der Kapitalverzinsung 1824 und 1850 eine reduzierte Gewinnbeteiligung. 1824 wurden darüber hinaus Personalkosten auf die Witwen und Erben abgewälzt, sodass sich die Einkommenssituation aufgrund dieser abzuführenden Kosten unter der Witwe und den zwei Erben verschlechterte.417 Die Versorgung nur aus Zinseinnahmen und reduziertem GuV-Anteil erwies sich 1824 im Gegensatz zu den späteren Erbfällen als schwierig, da die Verlustbeteili416 Vgl. ebenda; RWWA 122-0132. Der eigentliche Erbteil von Richard und Heinrich von insgesamt 167.285 Talern wurde mit der Forderung der Erblasserin über 42.500 Taler verrechnet, sodass sich eine Nettoforderung der Brüder an die Erbmasse von 124.785 Talern ergab. Der Erbteil von Caroline in Höhe von 83.643 Talern wurde mit den Schulden von Gustav bei seiner Schwiegermutter in Höhe von 20.000 Talern verrechnet. 417 Vgl. zur Verdünnung (hier Mengenteilung bzw. Verkürzung) von EuV-Rechten Göbel: Institutionenökonomik (2002), S. 78.

4.2 Kapitalakkumulationsmodi/Gründungsfinanzierung

183

gung die Kapitalbasis, den Grundstock des zweiten Versorgungsbestandteils in schlechten Jahren minderte. Die Fälle Helene und Elise verdeutlichen, wie riskant der Kapitalabzug von jungen Erbinnen im heiratsfähigen Alter oder von jüngeren Witwen war. Die Erfahrungen des Kapitalabzugs in den 1820er Jahren führten zu Lerneffekten und mündeten in einer Veränderung der Unternehmensverfassung. Die Regelungen zur Erbfolge 1850 waren in Gesellschaftsverträgen bereits stärker formalisiert als 1824. Mindestens seit der Nachvollziehbarkeit der Gesellschaftsverträge fungierten sie als zentrales und kostengünstig zu errichtendes Steuerungsinstrument für die Bereiche, die das Erbrecht für die Unternehmensnachfolge nicht leistete. Die Testamente entfalteten bis dato keine Verteilungswirkungen über die der gesetzlichen Erbfolge hinaus. Durch die Güterstandswahl wurde die Versorgung der Witwe festgelegt. Engelbert sah für den Erbfall den Eintritt der Witwe und keine Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft vor. Dies vermied, dass Mittel abflossen, und stellte einen Kapitalrückfluss von 100 % und die Finanzierung über 16 Jahre bis zum Versterben von Louise sicher. Die Eintritts- und Erbfolgeklausel der Handelsgesellschaft war geeignet, die Gesellschafterzahl zu begrenzen führte aber langfristig zu einer Kapitalumschichtung von Eigen- in Fremdkapital, zu „Familiendarlehen“ von denjenigen Erben, die vor dem Erbfall des versterbenden Gesellschafter noch keine Gesellschafter waren. So fungierten weichende Erbinnen wie die Schwestern Hasenclever, Erbinnen von F. W. Hasenclever und wie Anna Hardt als sichere Kapitalquelle, hier über 20 Jahre. Die Kapitalbindungsfristen, die durch die Abzugsklauseln festgelegt wurden, waren geeignet, die Auszahlung an die Erben nach Liquiditätslage des Unternehmens zu steuern, sodass eine Anschlussfinanzierung der Nachfolger zu bekannten Kapitalkosten von 4 % sichergestellt werden konnte. Vor dem Hintergrund der frühindustriellen Finanzierungssituation im Bergischen Land wären Darlehen in der Höhe der Erbteile der weichenden Erben von mehreren Hunderttausend Talern nicht verfügbar gewesen. Die Bindung der Familie war während der Leitungsperiode der dritten Generation ungebrochen hoch, sodass familiäre Kohäsion unterstützt und einen Abzug erschwert wurde. Die gesellschaftsrechtliche Klausel-Trias war geeignet für mittel- bis langfristige finanzwirtschaftliche Stabilität zu sorgen. Innerhalb des Familiensystems ist zu vermuten, dass sie als Klammer zwischen ihren Kindern wirkte. Louise Hardt agierte als eine Art Familienvorstand. Ein weiterer Vorteil dieser Lösung lag darin, dass sich die reinvestierenden Witwen äußerst positiv auf die Entwicklung des Eigenkapitals auswirkten.

184

4. Die Unternehmen der Familie Hardt

4.2.3 Übergabe 3 I: Erbmodalitäten in zwei Familienstämmen in der JW & S OHG (bis 1880) Arnold Wilhelm Hardt I, der älteste Vertreter der dritten Generation, verstarb 1878 in Lennep im Alter von 73 Jahren. In seinem zwei Jahre zuvor eigenhändig errichteten Testament hatte er Legate in Höhe von 84.000 Mark disponiert.418 Für die Verteilung der Erbmasse galt die gesetzliche Erbfolge nach dem Code Civil. Wie sich der Nachlass bzw. das Verhältnis von privater Haftungsmasse zu dem im Unternehmen gebundenen Vermögen zusammensetzte, unterschied sich kaum zu den vorhergehenden Generationen. Für den ersten Erbfall nach Arnold Wilhelm I als Vertreter der dritten Generation dominierte weiterhin das im Unternehmen gebundene Vermögen. Als Gesellschafter der JW & S OHG besaß er als private Haftungsmasse nur eine Immobilie, die 1,5 % des Netto-Nachlasses ausmachte.419 Er reinvestierte 1827–1878 durchschnittlich 62 % seiner jährlichen Einnahmen (18b).420 In welcher Höhe Arnold Wilhelm I Wertpapiervermögen hielt und wie sich der Wert des Mobiliars bemaß, geht aus den Quellen nicht hervor, sodass an dieser Stelle nur die genannten Kategorien im Zeitverlauf untersucht werden konnten. Die Verteilung des Netto-Nachlasses von 3.082.182 Mark, in den das bei JW & S und das in der Spinnerei Dahlhausen gebundene Vermögen sowie eine mit 45.000 Mark angesetzte Immobilie eingingen, wurde bereits Ende 1878, nicht ganz einen Monat nach dem Erbfall, in der Bilanz schriftlich fixiert. Das Datum weist darauf hin, dass der Nachlass rasch auseinandergesetzt wurde.421 Der Nachlass verteilte sich auf den Kreis der lebenden Erben bzw. der Anspruchsberechtigten. Dieser unterschied sich gegenüber seinem Vater dahingehend, dass seine Kinder bereits volljährig, ein Sohn schon Gesellschafter, ein anderer Prokurist, seine Töchter verheiratet waren. Da seine Ehefrau bereits verstorben war, wurde der Nachlass im Vergleich zu seinen Onkeln Engelbert und Buchholz sofort verteilt. Der Kreis der Erben, unter denen geschlechterunabhängig gleich verteilt wurde, rekrutierte sich somit aus seinen sieben Kindern, den fünf verheirateten Töchtern Elise Tieman, Marie Hollweg, Cornelie Hentzen, Helene Wiesmann, Bertha Richter, den zwei Söhnen, dem Teilhaber von JW & S Arnold Wilhelm II und dem Prokuristen in der Spinnerei Rudolf Hardt.422 Die Regelung des Erbfalls von Arnold 418 Vgl. RWWA 122-235-13. Testament von Arnold Wilhelm I, 26.05.1876; zu seinem Nachlass vgl. RWWA 122-0131. In Relation zum gesamten Kapitalvermögen, das in den Unternehmungen der Familie investiert war, und dem geringen Immobilienvermögen in Form eines Hauses machten die Legate 2,7 % des Brutto-Nachlasses vor Verbindlichkeiten aus. Dies war der absolut höchste Betrag, der bis dato für Legate für soziale Einrichtungen ausgesetzt worden war. 419 Vgl. RWWA 122-0132. Bilanz, 1878. Der angesetzter Wert der Immobilie betrug 45.000 Mark, der des Netto-Nachlasses 3.082.182 Mark. 420 Vgl. ebenda; RWWA 122-0131. 421 Vgl. RWWA 122-0131. 422 Vgl. RWWA 122-253-17; von Wismar: Stammbaum (1979), S. 42 f.; RWWA 122-0131. Die Kapitaleinlage von Arnold Wilhelm II betrug 1877 3 %.

4.2 Kapitalakkumulationsmodi/Gründungsfinanzierung

185

Wilhelm I entsprechend dem Verteilungsmodus der gesetzlichen Erbfolge nach dem Code Civil führte dazu, dass das Gesamtkapital der JW & S OHG umstrukturiert wurde.423 An dem Total-Eigenkapital hielt Arnold Wilhelm I 23 %.424 Abb. 18 a

Wachstum der Eigenkapitalanteile von Arnold Wilhelm I und Fritz I 1825–1880

Abb. 18 b

Reinvestitionsverhalten von Arnold Wilhelm I und Fritz I 1825–1880

Quelle: RWWA 122-M1; RWWA 122-0132; RWWA 122-0131; RWWA 122-0133;RWWA 122

423 Vgl. RWWA 122-235-13. 424 Vgl. RWWA 122-0131.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

Für die Verteilung der Erbmasse, in die der Anteil an der JW & S OHG fiel, war neben dem Testament der ab dem 1. Januar 1875 gültige Gesellschaftsvertrag zu beachten, demzufolge die Witwe eines verstorbenen Teilhabers das Eintrittsrecht für die Dauer des laufenden Vertrags besaß und bei Wiederverheiratung das Gesellschafterverhältnis endete. Während der Zeit als Gesellschafterin hatte sie auf Leitungs- und Zeichnungsbefugnis zu verzichten und eine Fachkraft zu entlohnen.425 Zwar war dieser Passus nicht für Arnold Wilhelm I relevant, zeigt er jedoch eine Kontinuität in der vertraglichen Gestaltung seit den 1820er Jahren. Während der Witwe ein zeitlich begrenztes Eintrittsrecht gewährt wurde, besaßen die Erben, also i. d. R. die Kinder des Erblassers – unabhängig davon, ob der Gesellschafter verheiratet oder ledig war –, nicht per se ein Eintrittsrecht in die Gesellschaft. Ein Eintritt war nur mit Zustimmung der anderen Teilhaber möglich. Die Erben, die keine Gesellschafter waren, hatten, wie bereits oben im Fall des Ehepaars Engelbert und Louise Hardt beschrieben, nur schuldrechtliche Ansprüche gegen die Gesellschaft bzw. gegen die persönlich haftenden Gesellschafter, zu denen nach dem Erbfall die verbleibenden Teilhaber, unter denen sich die Nachfolger des Stammes, aber auch die der übrigen Familienstämme befanden.426 Bei den Eintritts- und Fortsetzungsklauseln des am 01.07.1871, nicht ganz zwei Monate nach dem im deutsch-französischen Krieg ratifizierten Frankfurter Frieden427, geschlossenen Gesellschaftsvertrags wurde der für den Fall des Todes der in diesen unsicheren Zeiten neu eingetretenen Associée Arnold Wilhelm II und Fritz II, bei denen eine Einberufung bei erneutem Kriegsausbruch möglich gewesen wäre, modifiziert. Im Falle ihres Versterbens hatten „die übrigen Asssociées bei dessen Tode zu bestimmen, ob die Beteiligung der Erben mit der nächstfolgenden Bilance oder mit dem Ende dieses Contractes aufhören“ sollte.428 Der Anteil der Vettern sollte im Falle, dass sie kinderlos blieben und bei Verzicht auf einen Salär durch die Erben an die Väter, in die Linie der Aszendenten zurückfließen. Rudolf, der bis dato Prokurist war und nach § 9 nicht in die Gesellschaft eintreten durfte, erhielt durch das Novum der Regelungen des Gesellschaftsvertrags die Möglichkeit, den Kapitalanteil seines Vaters zu übernehmen, da er ansonsten kein Eintrittsrecht in die OHG besaß und andernfalls auf den guten Willen der übrigen Gesellschafter angewiesen gewesen wäre.429 Die in dem Familienunternehmen tätigen Söhne Arnold Wilhelm II und Rudolf erhielten ihren Erbteil, der bei jedem der Kinder vor Verrechnungen 430.000 Mark betrug, auf ihr Kapitalkonto bei JW & S und der Spinnerei gutgeschrieben. Der prozentuale Kapitalanteil von Arnold Wilhelm II erhöhte sich von 3 % auf 8 % und auf 2,3 % bezogen auf das Eigenkapital (total) von JW & S und der Spinnerei Dahlhausen.430 Bei der Spinnerei kam es nicht zu einem Abzug von Kapita-

425 426 427 428 429 430

Vgl. RWWA 122-285-6. Nachtrag Gesellschaftsvertrag, 04.12.1874 für 01.01.1875–80. Vgl. ebenda. Vgl. ebenda. Vgl. ebenda. Vgl. ebenda. Vgl. RWWA 122-0132; RWWA 122-0131.

4.2 Kapitalakkumulationsmodi/Gründungsfinanzierung

187

lien, sondern nur zu einer relativen Veränderung seines Anteils im Vergleich zu Vetter Robert, Theodor Pokorny sowie den übrigen Senior-Gesellschaftern, da Rudolf den gesamten Anteil seines Vaters übertragen bekam.431 Sein Bruder, der 35 Jahre alte Arnold Wihelm II, seit sieben Jahren haftender Gesellschafter in der JW & S OHG, war, seitdem ihm sein Vater im Jahr 1877 25.110 Mark geschenkt hatte, ebenfalls an der Spinnerei beteiligt. Er besaß nach dem Versterben eine GuV-Beteiligung von einem Viertel der JW & S OHG. Innerhalb von sieben Jahren hatte er diese durch vorweggenommene Erbfolge im Jahr 1871 von 1/16 auf 3/16 gesteigert. Im Vergleich zu den Senior-Teilhabern fällt das disquotale Verhältnis seines Rechts zur Gewinnvereinnahmung und in negativer Vermögenssichtweise seine Haftung zu seinem Kapitalvermögen auf. Als Teil seines Erbes erhielt er das Eigentum an dem Haus von 125.000 Mark, das nunmehr vermutlich einen Großteil seiner Haftungsmasse ausmachte.432 Von dem ursprünglichen Eigenkapitalanteil des Erblassers an der Tuchfabrik in Höhe von 2.789.350 Mark gelangten 13,8 % über Arnold Wilhelm II zurück in das Eigenkapital der Tuchfabrik, 6,53 % flossen von der Tuchfabrik in die Spinnerei. Der ursprüngliche Anteil an Dahlhausen in Höhe von 247.833 Mark ging an Rudolf.433 Die relative Position des Nachfolgers Arnold Wilhelm II im Stamm Arnold Wilhelm I verschlechterte sich. Anstatt 23 % entfielen auf den Familienstamm von Arnold Wilhelm II Ende des Jahres 1878 nur noch 8 % des gesamten Eigenkapitals. Infolge des Erbfalls gelangten 77,08 % des ursprünglichen Anteils des Vaters an der Tuchfabrik in ihr Fremdkapital. Die Darlehen wurden zu 4 % verzinst und waren bei Staffelung in drei Tranchen durch die Töchter respektive die für ihr Vermögen verfügungsberechtigten Ehemänner, die Schwäger der Brüder Arnold Wilhelm II und Rudolf, innerhalb von vier Jahren abziehbar.434 Friedrich Hardt I verstarb nur vier Jahre nach seinem Vetter Arnold Wilhelm I, zehn Jahre jünger als dieser, plötzlich an „einem Herzschlag“ im Alter von 63 Jahren.435 Wie bei Arnold Wilhelm I war seine Ehefrau Hermine Masthoff bereits verstorben und somit aus dem Kreis der Anspruchsberechtigten ausgeschieden.436 Die für die Abwicklung der Nachlassangelegenheiten bereits dargelegten Bestimmungen des Gesellschaftsvertrags, insbesondere die Fortsetzungs-, Eintritts- und Abzugsklausel, waren auch für Fritz I relevant.437 Die Zusammensetzung des Nachlasses von Friedrich I erinnert bis auf die ausstehenden Forderungen gegenüber seinen Schwiegersöhnen und dem Wertpapiervermögen an die seines Vetters

431 Vgl. ebenda; RWWA 122-253-17. Bei dem von Rudolf übernommenen Kapital handelte es sich streng genommen und nach heutiger Ansicht nicht um Eigenkapital, sondern höchstens um eine familienunternehmenspezifische Zwischenform, die aufgrund der Bindungsfrist dem Eigenkapital nahekommt. 432 Vgl. RWWA 122-0131. 433 Vgl. ebenda. 434 Vgl. RWWA 122-285-6. Nachtrag Gesellschaftsvertrag, 04.12.1874 für 01.01.1875–80. 435 Vgl. RWWA 122-206-6. Nachruf auf Fritz Hardt I, Lenneper Kreisblatt Nr. 25, 17.03.1880. 436 Vgl. ebenda. 437 Vgl. RWWA 122-285-6. Nachtrag Gesellschaftsvertrag, 04.12.1874 für 01.01.1875–80.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

Arnold Wilhelm I.438 Der Kreis seiner lebenden Erbberechtigten bestand aus den sechs Kindern, von denen zwei Söhne für das Familienunternehmen tätig waren. Sein ältester Sohn Fritz II war seit 1871 Gesellschafter der JW & S Tuchfabrik und hielt seit 1875 einen Anteil an der Spinnerei Dahlhausen, für die sein jüngerer Bruder Robert seit 1877 als Prokurist tätig war.439 Die jüngeren Söhne Walter und Hermann arbeiteten nicht für JW & S. Walter war wie Hermann in Südamerika für Hardt & Co tätig gewesen. Letzterer betrieb nach seiner Rückkehr auf eigene Rechnung Handelsgeschäfte mit Textilien.440 Die Töchter Hermine und Louise waren bei seinem Versterben bereits verheiratet. Sein siebtes Kind, der Sohn Julius, war 1872, im Alter von 18 Jahren während der Ausbildung vorverstorben, sodass sich die Erbquoten der verbliebenen Kinder bei Gleichverteilung von 1/7 auf 1/6 erhöhten.441 Die Akkumulation des Eigenkapitalanteils von Fritz I war ebenso wie bei seinem Vater nicht nur durch die empfangenen Prae-mortem-Transfers von seinen Eltern und Erbschaften nach seinen Eltern und den Tanten Anna und Caroline begründet, sondern basierte auf seinen Einnahmen aus Gewinn und Zinsen und seinem Entnahmeverhalten. Das Reinvestitionsverhalten von Arnold Wilhelm I wich wie das von Fritz I trotz seines Status als der Enkelgeneration zugehörend nicht erheblich von dem der Ahnen ab. Bis auf das Jahr 1848 hatte Fritz I keine Überentnahmen getätigt. Seine Reinvestitionsquoten lagen bis auf die 1820er Jahre konstant über 50 % und stiegen im Alter, obwohl er weniger am Gewinn beteiligt war. Seit 1871 hatte er Eigentumtransfers an seine Kinder geleistet, darunter 30.000 Mark an quantifizierbaren Aussteuern. Es kann davon ausgegangen werden, dass die übrigen vier Kinder ohne den vorverstorbenen Julius ebenfalls Aussteuern in dieser Höhe erhalten haben. Es wurden 520.577 Mark an Schenkungen vorgenommen, darunter der Anteil an Dahlhausen 1875 in Höhe von 15.540 und Gewinnverzicht zugunsten des Sohnes in den Jahren 1875 und 1878. Bei Beachtung von Opportunitätskosten (Alternativverzinsung zu 4 %) ergibt sich eine Quote von Prae-mortem-Transfers zum gesamten möglichen Vermögen von 13 %.442 Tatsächlich erwirtschaftete Fritz I im Verlauf seines Lebens ein Vermögen von 3,4 Mio. Mark, darunter den Kapitalanteil bei der JW & S OHG, der 2.955.604 Mark betrug (Abb. 18 a). Von dem Anteil von Fritz I flossen wie bei Arnold Wilhelm I nur der Erbteil des ältesten Sohnes zurück, der nunmehr an beiden Unternehmungen mit 12,3 % (Total-Eigenkapital) in der Tuchfabrik Lennep 12,8 % und 7,7 % des Eigenkapitals an der Spinnerei besaß. Roberts Erbteil, der zu diesem Zeitpunkt noch kein

438 Vgl. RWWA 122-0131. 439 Vgl. ebenda; RWWA 122-285-6. Nachtrag Gesellschaftsvertrag, 04.12.1874 für 01.01.1875– 80. 440 Vgl. zu Hermann Hardt, Sohn von Fritz I, und zu Walter RWWA 122-251-3. 441 Vgl. zu den Heiraten der Schwestern von Wismar: Stammbaum (1979), S. 42, 44. 442 Vgl. RWWA 122-0131. Nicht alle Aussteuern der fünf überlebenden Kinder sind nachvollziehbar. Die Aussteuern von Robert und Walter in Höhe von 30.000 Mark wurden im Zuge der Nachlassverteilung ausbezahlt.

4.2 Kapitalakkumulationsmodi/Gründungsfinanzierung

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Gesellschafter war, wurde in der Spinnerei und mit 276.356 Mark gutgeschrieben.443 Die generellen Verteilungswirkungen, die Zuweisung der EuV-Rechte an die einzelnen Familienmitglieder, wurden weiterhin per Gesellschaftsvertrag und gesetzlicher Erbfolge statt von Testamenten i. S. der Nutzung von Testierfreiheit bestimmt. Testamente wurden relativ spät, i. d. R. im siebten/achten Lebensjahrzehnt errichtet und besaßen daher wenig Vorsorgecharakter. Die Funktion der Vorsorge für die überlebende Ehefrau wurde durch den Güterstand oder durch Heiratsverträge übernommen. Bei den Erbfällen 1878 und 1880 wirkte erneut die Trias der Klauseln (Fortsetzungs-, Eintritts- und Abzugsklausel) auf die Gesellschafterzahl, die Rechteverteilung sowie die Kapitalkosten und Kapitalstruktur. Zum weiteren Pfeiler der Unternehmensverfassung der Personengesellschaften wurde die Wiederverheiratungsklausel, die darauf abzielte, Kapitalabfluss bei Neuverheiratung von Unternehmerwitwen bzw. auf Leitungsansprüche neuer Ehepartner durch Wahrnehmung von Verfügungsrechten der Ehefrau bei JW & S zu verhindern. Der innerfamiliäre Koordinationsmechanismus des Vertrauens wirkte im Zusammenhang mit vertraglichen Absicherungsmechanismen nach der Maxime „Vertrauen ist gut, vertragliche Erwähnung oder Absicherung noch besser“, um den Einfluss der Stämme auf die Spinnerei zu sichern und die Kontrolle über die jüngeren Teilhaber zu behalten. Der 1855 eingeführte, als „Absicherungsklausel“ bezeichenbare Passus bezog sich auf den Fall der Absicherung des Eintritts eines noch nicht eingetretenen Sohnes für den Fall, dass sein Vater verstarb. Während die Vermögensstruktur, das Kapitalakkumulations- und Reinvestitionsverhalten sich bei Fritz I und Arnold Wilhelm I sehr ähnlich darstellten, zeigte die Anreizstruktur während ihrer späten ersten Phase ein disquotales Verhältnis von Gewinn- und Verlustbeteiligung zur Eigenkapitaleinlage. Diese war in diesem Stadium meist gleichbedeutend mit der privaten Haftungsmasse. Ging der Nachfolger zu große Risiken ein, haftete er vergleichsweise überproportional zu den Senior-Unternehmern für seine Entscheidungen. Folge konnte sein, dass er innerhalb des Familienstamms, der die Brüder umfasste, und gegenüber den Vettern in der Eigenkapitalposition zurückgeworfen wurde. Auf der anderen Seite ermöglichte die Gewinnpartizipation durch wahrgenommene Marktchancen den Aufbau einer hohen Beteiligung am Unternehmen als Abgrenzung zur Phase als Angestellter. Das Reproduktionsverhalten der Vettern mit über fünf Nachkommen und einem unausgewogenen Geschlechterverhältnis in Kombination mit dem tradierten Vererbungsmodus der Gleichverteilung führte zu einer sukzessiven Veränderung der Kapitalstruktur. Die Eigenkapitalbasis wurde zugunsten des langfristigen Fremdkapitals der Familiendarlehen reduziert. Im Stamm Arnold Wilhelm I wurden das familiäre Motiv und die Kohäsion der Gruppe durch spezielle Treffen im Familienstamm gestärkt. Die Verteilungen innerhalb der Familie erfolgten sehr 443 Vgl. RWWA 122-0131; zu Kapitalkonten Robert vgl. RWWA 122-253-17. Streng genommen handelte es sich zu diesem Zeitpunkt noch um langfristiges Fremdkapital.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

schnell und kostengünstig, ohne Notare einzuschalten, durch schriftliche Fixierung der Erbverteilung in der Bilanz. Große Kontinuität lag auch in der lebzeitigen Vermögenstransmission vom Senior-Unternehmer an seine Kinder. Die Anhebung der Prae-mortem-Transfers um ca. 25 % innerhalb einer Generation als Ausdruck des gehobenen Wohlstands der Familie Hardt fiel innerhalb der Transferstruktur nicht ins Gewicht. Die Praemortem-Transfers betrugen ca. 15 % des Lebenszeitvermögens, wobei einige Aussteuern erst bei der Nachlassabwicklung ausbezahlt wurden.

4.2.4 Übergabe 3 II: Erbmodalitäten in vier Familienstämmen bei JW & S 1890–1906 Im Zeitraum 1890 bis 1906 fungierten sechs Teilhaber aus der Familie Hardt als Gesellschafter, darunter die zwei Senioren Albert I und Hermann I, und es verstarben die Stammesnachfolger Arnold Wilhelm II und Fritz II. Obwohl der Nachfragerückgang nach Strichtuchen durch die hinzugenommene Produktion von Kammgarnstoffen abgefedert wurde, war die Periode von einem enormen Gewinneinbruch 1895/96 von 744.041 Mark auf einen Verlust von 9.796 Mark gekennzeichnet. Die schlechte Wirtschaftslage im Jahr 1900 begleitete dies.444 Albert I verstarb 1890, nachdem er 50 Jahre als Gesellschafter in der Unternehmensleitung tätig war. Die Besonderheit des Falles Albert I liegt zum einen darin begründet, dass er, anders als sein Vater und seine älteren Brüder mit sechs oder sieben Kindern, nur zwei Kinder hatte und sein einziger Sohn Albert II 1889, ein Jahr vor dem Tod seines Vaters, als Gesellschafter ausgetreten war. Albert II war bis 1889 zeichnungsberechtigter Teilhaber gewesen, der mit 1/8 an Gewinn und Verlust beteiligt war. Ab 1889 tauchte er nicht mehr in den Bilanzen auf. Teile seines Guthabens von 875.624 Mark waren Ende des Jahres 1888 auf den Kapitalkonten seines Vaters gutgeschrieben worden, der 16.293 Mark von Dahlhausen, 163.035 Mark der Kammgarnspinnerei und die Gewinnbeteiligung von 1/8 seines Sohnes übernahm. Seine Position von 891.585 Mark findet sich 1891 als langfristiges Fremdkapital, das vertragsgemäß der Abzugsfrist von vier Jahren unterlag.445 Wie ihre Schwiegermutter Louise Bauendahl im Jahr 1850 trat Auguste, geb. Müller, die mit Albert I im gesetzlichen Güterstand der Gütergemeinschaft nach rheinischem Recht verheiratetet war, im Jahr 1890 in die Rechtsposition ihres Mannes ein. Sie verzichtete auf Geschäftsführung und Zeichnungsbefugnis und übernahm seinen Anteil in Höhe von 6.477.895 Mark bei einer GuV-Beteiligung von 25 %, die nicht reduziert wurde. Ende des Jahres 1889 entfielen 31,6 % des Total-Eigenkapitals auf Albert I. Die 1850 von Engelbert mitverfasste und seitdem im Kern fortgeschriebene Eintrittsklausel ermöglichte ihr einzutreten.446 Die 444 Vgl. RWWA 122-0133. 445 Vgl. RWWA 122-0132. 446 Vgl. RWWA 122-0133.

4.2 Kapitalakkumulationsmodi/Gründungsfinanzierung

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Finanzierungswirkung des Eintritts von Auguste entsprach, wenn auch nicht in zeitlicher Hinsicht, der im Fall von Louise beobachtbaren Kapitalbindung. Der Eigenkapitalanteil von Albert I blieb vier, wenn auch nicht 17 Jahre wie nach dem Erbfall von Engelbert unverteilt, um nach dem Tod der Witwe in ihren Nachlass zu fallen, der unter ihren Kindern zu verteilen wäre. So galt im Vergleich von Engelbert zu Albert I für den Erbfall ein ähnlicher institutioneller Rahmen der Unternehmensverfassung. Der Unterschied lag hier vielmehr auf personeller Ebene, in der Kinderzahl und dem Interesse des Sohnes an der Nachfolge. Zum Zeitpunkt des Todesfalls von Albert I war keines seiner zwei Kinder Gesellschafter und auch nach dem Tod der eingetretenen Witwe 1894 war kein Enkel im entsprechenden Alter, um nach Zustimmung der verbliebenen Gesellschafter eine Gesellschafterstellung zu erlangen. So schied der Familienstamm von Albert I aus dem Unternehmen aus.447 Nach der Verteilung flossen die mit einer Abzugsklausel von vier Jahren belegten geldwerten Erbansprüche in Höhe von 5.581.732 Mark ins Fremdkapital. Der Erbfall von Albert I gehört zu den wenigen Zäsuren, nach denen die Familiendarlehen rasch nach Ablauf der Kapitalbindungsfrist abgezogen wurden. Über die Rückzahlung berichtete 1898 Fritz II an seinen Sohn: „eine Million sind an die Erben Alberts zu zahlen“448. Es kann vermutet werden, dass mangels der (zukünftigen) Gesellschafterstellung in dem Familienstamm von Albert I die finanziellen Mittel eine andere Verwendung fanden. Der Erbfall nach Hermann I, der fünf Jahre nach seinem Bruder Albert I verstarb, verdeutlicht den Einfluss des veränderten Reproduktionsverhaltens bei gleichzeitiger Veränderung des Gesellschaftsvertrags. Ferner zeigt der Fall, dass es auch für die jüngsten Generationenvertreter eines Familienstamms auf lange Sicht möglich war, die zentrale Stellung im Familienunternehmen einzunehmen. Hermann I, der jüngste Sohn von Engelbert, hatte 1883 im Alter von 55 Jahren, zwölf Jahre vor seinem Tod, sein Testament errichtet. Da sein Sohn Hermann II zu diesem Zeitpunkt noch minderjährig war, regelte es auch, dass die Mutter die Vormundschaft erhalten sollte.449 Wie sein Vater Engelbert verstarb Hermann I vor seiner Ehefrau, während seine Brüder Fritz I und Albert I die ihren überlebten. Der Unterschied der Erbfolgen zwischen der zweiten und dritten Generation in der Linie von Engelbert, hier betrachtet am Beispiel von Vater und jüngstem Sohn, lag nicht in der Abfolge der Erbfälle, Ehegatte und Ehefrau innerhalb der Ehepaare, sondern in der Kinderzahl und damit der Anzahl der gesetzlich berechtigten Erben. Diese lagen bei Engelbert mit sechs ihn überlebenden Kindern wesentlich höher als bei Hermann I, der nur zwei Kinder hatte, seinen Sohn Hermann II, der seit 1894 Gesellschafter bei JW & S war, und seine verheiratete Tochter Ady Keller. In der Linie von Engelbert näherten sich die zwei älteren Söhne seinem Reproduktionsverhalten an. Seine Tochter Caroline hatte vier Kin-

447 Vgl. RWWA 122-285-6. Gesellschaftsverträge, 1830–1890. 448 Vgl. RWWA 122-245-2. Fritz II an Fritz III, Lennep 30.03.1898. 449 Vgl. RWWA 122-150-1. Eigenhändiges Testament von Hermann I, 14.04.1883.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

der, während die drei jüngeren Söhne Engelberts wie ihr früh verstorbener Onkel Johann Arnold jr. ein bis zwei Kinder hatten.450 Eine weitere Gemeinsamkeit in der auf der Ebene der für die Regulierung der Erbfälle maßgebenden Bestimmungen der Unternehmensverfassung lag in beiden Linien, der von Engelbert und der von Johann Arnold sen., in der Ausgestaltung der Testamente und der Wahl der ehelichen Güterstände. Die Testamente enthielten die Zuweisung von Legaten, wie bei Arnold Wilhelm I oder Johann Arnold sen., Bestimmungen über Vormundschaften wie bei Johann Arnold jr. und Hermann I, oder Schenkungen wie im zweiten Erbgang nach der Witwe von Engelbert, Louise Hardt. Sie enthielten jedoch keine Bestimmungen, die der gesetzlichen Gleichverteilung der Erben widersprochen oder deren Erbteile sich durch Freiteilszuweisungen verringert hätten. In den Testamenten fanden sich somit auch keine Zuweisungen von Freiteilen an die überlebenden Ehefrauen über ihre güterrechtlichen Ansprüche hinaus.451 Erinnerten die Bestimmungen seines Ehevertrags, der noch nach rheinischem Recht abgeschlossen wurde, an frühere gewillkürte Regelungen, so enthielt der Gesellschaftsvertrag eine neue Erbfolgeklausel. Das sich aus dem 1894 abgeschlossenen Gesellschaftsvertrag ergebende Novum war die Eintrittsklausel, die sowohl den Eintritt von Gesellschafterwitwen, sonstigen Erben von Gesellschaftern oder Erben von Gesellschafterwitwen ausschloss: „bei Versterben eines Gesellschafters galt der Verstorbene als mit der dem Todestage letzten vorhergehenden Bilanz als ausgeschieden“. Die Gesellschaft sollte nicht aufgelöst, sondern mit den verbliebenen Gesellschaftern weitergeführt werden. Dies bedeutete, dass weder für die Witwe noch für sonstige Erben der Gesellschafter ein Eintrittsrecht in das Unternehmen bestand.452 Das Unternehmen JW & S wurde 1895 erstmalig nur mit überlebenden Gesellschaftern fortgeführt, nämlich mit den drei Gesellschaftern Fritz II, Arnold Wilhelm II und dem erst 1894 als persönlich haftender Gesellschafter eingetretenen Hermann II.453 Dessen Vater Hermann I war der Haupt-Eigentümer des mittlerweile als Konzern zu bezeichnenden Familienunternehmens, der JW & S OHG. Auf ihn entfielen 44,79 % des gesamten Eigenkapitals, 47 % der Tuchfabrik und 33,16 % der Kammgarnspinnerei. Auf seinen Familienstamm, der außer ihm seinen Sohn Hermann II als Gesellschafter umfasste, entfielen 48,7 % gegenüber 25,4 % des Stamms von Fritz II und 25,9 % des Eigenkapitals, gehalten von Arnold Wilhelm II.454 Abb. 19 a zeigt den Wachstumsverlauf der Eigenkapitalanteile des le-

450 Vgl. von Wismar: Stammbaum (1979), S. 33, 42. 451 Vgl. zu den Testamenten der Gesellschafter Hermann I, Arnold Wilhelm I und Johann Arnold Hardt jr. RWWA 122-150-1; RWWA 122-235-13; RWWA 122-228-3. 452 Vgl. RWWA 122-285-6. Gesellschaftsvertrag JW & S OHG, 1894. 453 Vgl. ebenda. Der Vertrag von 1894 widersprach nicht den Normen des zum Zeitpunkt der Vertragserrichtung noch nicht gültigen HGB. Vgl. §§ 105–160 HGB, S. 32 f.; zur Gewinnund Verlustverteilung vgl. §§ 121 HGB, S. 36; zur persönlichen Haftung vgl. §§ 105 f. HGB, S. 32. 454 Vgl. RWWA 122-0133; RWWA 122-285-6. Gesellschaftsvertrag JW & S OHG, 1894.

4.2 Kapitalakkumulationsmodi/Gründungsfinanzierung

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benszeitlich erworbenen Vermögens in Mark455 der Brüder Albert I und Hermann I über die Zeiträume als persönlich haftende Gesellschafter in der JW & S OHG, 1839–1890 bzw. 1855–1897 im paarweisen Vergleich. Bei den Vettern stellten sich bis auf die ersten Jahre als Gesellschafter in den 1870er Jahren sowohl die Verläufe der lebenszeitlichen Vermögensakkumulation als auch die Verläufe der Reinvestitionsquoten untereinander und auch im Vergleich zu ihrem Vater ähnlich dar, wobei Hermann I sieben Jahre länger als sein Bruder verantwortlich tätig war. Eine Neigung zu Überentnahmen über längere Zeiträume, bis auf die vereinzelten konjunkturell bedingten in den Jahren 1848, 1861/62 und 1872, ist nicht erkennbar (Abb. 19 b). Wie ihr Bruder Fritz und ihr Vetter Arnold Wilhelm I hatten die beiden als Prae-mortem-Transfers Aussteuern, Gewinnverzicht ihres Vaters bzw. Hermann I von der Mutter456 im Jahr 1855 sowie 1867 einen Erbteil von je 83.571 Talern von der Mutter erhalten. Für die Feststellung des Nachlasses von Hermann I wurden das Immobilienund Wertpapiervermögen und die ausstehenden Forderungen in Höhe von 488.000 Mark addiert. Die Aufteilung zeigt, wenn auch die Bewertung der Immobilien konservativ gewesen sein wird, dass das Privatvermögen gegenüber dem im Unternehmen gebundenen Vermögen im Generationenwechsel zunahm.457 Sowohl die Verläufe als auch die Phasierung der lebenszeitlichen Vermögensakkumulation weichen nur unwesentlich von dem Verlauf ihres Vaters und der Linie ihres Onkels Johann Arnold jr. ab. Hermann I hatte zu Lebzeiten ein Vermögen von 6,852 Mio. Mark, davon machte der Unternehmensanteil 6,36 Mio. Mark und sein nachweisbares privates Vermögen 488.000 Mark aus. Sein älterer Bruder hatte mit 6,476 Mio. Mark geringfügig mehr bei JW & S akkumuliert.458 Die Jahre 1852–1871 und 1862–1870 markieren bei Hermann I und Albert I die Zeiträume des beschleunigten Vermögensaufbaus mit durchschnittlichen Wachstumsraten von 36 % gegenüber 10,9 % in der Phase, als sie die Unternehmensführung übernommen hatten. Wie die Brüder während ihrer Führungsphase ihre eigenen Nachfolger finanzierten, macht ihre individuelle Transferstruktur deutlich: Der Anteil ihrer in der

455 Das lebenszeitliche Vermögen von Albert I und Hermann I wird durch ihren jeweiligen Eigenkapitalanteil bei JW & S abgebildet, da aus den Erbverteilungen keine weiteren Informationen über den Wert ausschließlich privaten Immobilien- und Wertpapiervermögens hervorgehen. 456 Es wird unterstellt, dass Hermann, dessen Gewinnanteil 1855 20,83 % betrug, den Gewinnanteil seiner Mutter in Höhe von 15,62 % und 5,21 % im Wege der Umverteilung von seinen Brüdern erhalten hat. Die 15,62 % werden auf den Gewinn der Jahre 1855–1867 bezogen, sodass sich bei einer jährlichen Verzinsung von 4 % der ihm durch die Schenkung zugegangenen Gewinnanteile ein Wert von 183.263 Talern, bezogen auf das Jahr 1867, ergibt. 457 Vgl. RWWA 122-0133. Das Immobilien- und Wertpapiervermögen von Hermann I wurde nicht in der Bilanz erwähnt. Mangels Nachlassverzeichnis wird davon ausgegangen, dass die in der Bilanz im Zuge des Erbfalls von Hermann I vorgenommene Verteilung die im Rahmen des Erbschaftskaufs übertragenen Immobilien nicht enthielt und diese zusätzlich im Privatvermögen gehalten wurden. 458 Vgl. RWWA 122-0133.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

Seniorphase getätigten Prae-mortem-Transfers lag bei Albert I mit 34 %459 wesentlich höher als bei Hermann I mit 7 %. Da Hermann II, der Sohn von Hermann I, erst zwei Jahre vor dem Tod des Vaters als Gesellschafter eingetreten war, fiel der gesamte Gewinnverzicht des Vaters sehr gering aus und damit bei der Betrachtung wenig ins Gewicht. Die höheren Prae-mortem-Transfers in seinem siebten Lebensjahrzehnt erklären sich bei Albert I durch das Ausscheiden seines Sohnes bei JW & S. Der Fall Albert I zeigt, dass ein Senior-Unternehmer mit weiblichen Erben, jedoch ohne direkten Nachfolger im Unternehmen sich dem Familienunternehmen weiter verpflichtet fühlte und nicht zwangsläufig sein gesamtes Eigenkapital abzog. So blieben dem Unternehmen die auf die Witwe und schließlich auf die Erben übergegangenen Anteile erhalten. Abb. 19 a

Lebenszeitliche Vermögensakkumulation von Albert I und Hermann I 1830–1895

459 Vgl. RWWA 122-227-15. Ausgabenbuch Albert Hardt/Albert Hardt Erben, 1839–1895.

4.2 Kapitalakkumulationsmodi/Gründungsfinanzierung

Abb. 19 b

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Reinvestitonsverhalten von Albert I und Hermann I 1830–1895

Quelle: RWWA 122-M1; RWWA 122-0132; RWWA 122-0131; RWWA 122-0133; RWWA 1220134. Bei PV handelt es sich um das Privatvermögen.

Die Eintrittsklausel machte es im Erbfall von Hermann I notwendig, die Vermögensgemeinschaft zwischen seiner Witwe und seinen Erben auseinanderzusetzen. Hinzu kam, dass das Privatvermögen des Erblassers wertmäßig nicht den quotalen Ansprüchen seiner Witwe entsprach. Der Anteil von Hermann II reichte nach zwei Jahren nicht aus, um die Forderung seiner Mutter für die mit ihren Kindern fortgesetzte Vermögensgemeinschaft zu regulieren, zudem der Großteil des Vermögens seines Vaters bei JW & S gebunden und nicht frei verfügbar war. So bewahrte, wie bei den vorhergehenden personellen Zäsuren, geht man von der Möglichkeit des Abzugs aus, die Abzugsklausel vor einem Einbruch der Eigenkapitalquote. Im Rahmen eines Erbschaftskaufs einen Monat nach dem Tod von Hermann I einigten sich die Erben460 mit ihrer Mutter auf klare Besitzverhältnisse an den Vermögensrechten. Die güterrechtlichen Ansprüche der Mutter wurden aus dem Privatvermögen ihres Mannes befriedigt, das sie in ihren Besitz übernahm und so „Alleineigentümerin des ganzen nicht in der Fa. JW & S angelegten Vermögens des Erblassers“461 wurde. Sie erhielt durch Zession ausstehender Forderungen von 234.000 Mark Wertpapiere in Höhe von 54.000 Mark und das Haus in der Kölner Straße in Lennep, das mit einem Wert von 200.000 Mark angesetzt wurde.462 Durch Auflösung der Erbengemeinschaft konnte Hermann II seinen Eigentumsanteil um die Höhe seines Erbteils an der JW & S OHG vermehren. Im glei-

460 Vgl. RWWA 122-150-1. Erbbescheinigung vom 30.09.1895 von Hermann II und Ady Keller. 461 Vgl. ebenda. Erbschaftskaufvertrag und Vollmacht, 22.10.1895. 462 Vgl. ebenda.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

chen Zug wurde sein Gewinnanteil von 10 %463 auf 33 % durch Neufestlegung auf Basis des Gesellschaftsvertrags von 1894 erhöht. Für den Fall des Versterbens von Hermann Hardt I wurde bestimmt, dass „dessen Gewinn- und Verlustbeteiligung zu je einem Drittel auf seinen Sohn sowie Arnold Wilhelm und Fritz Hardt übergehen sollte“464. Dem ersten Augenschein nach sprang der quotale Eigentumsanteil des Erben und Nachfolgers Hermann II unvermittelt von 3,95 % auf 41,14 %. Dies ist durch die mittlerweile eingetretene Reduzierung des Total-Eigenkapitals des Konzerns von 14,3 Mio. Mark auf 9,7 Mio. Mark zu relativieren. Die hohe Restforderung der Mutter und der Erbteil seiner Schwester Ady in Höhe von insgesamt 3.261.397 Mark flossen in das langfristig durch die Familie gestellte Fremdkapital ab.465 Aus personeller und aus Sicht der Familienstämme hatten sich die Machtverhältnisse zwischen den Familienstämmen nur geringfügig verändert. Die Linie von Hermann I mit dem Stamm Hermann II behielt die Vormachtstellung und er blieb wie zuvor sein Vater die entscheidende Kraft auf der Eigentümerseite. Aus dem Blickwinkel des Unternehmens hatte sich die Eigenkapitaldecke reduziert, da der Erbfall in eine Zeit fiel, in der der Gewinn rückläufig war. Seit 1894 war dieser von 1.214.519 Mark auf 744.041 Mark gefallen und bis 1896 in die Verlustzone, mit einem Verlust von 9.796 Mark. Die Eigenkapitalquote lag bei 62 %, im Folgejahr bei 39 %.466 Bereits 1897, nur zwei Jahre nach Hermann I, verstarb Arnold Wilhelm II als erster Vertreter der vierten Generation vergleichsweise jung im Alter von 54 Jahren. Der Erbfall von Arnold Wilhelm II zeigt, wie infolge seines zeitigen Versterbens bzw. der Minderjährigkeit seines potenziellen Nachfolgers, sein 15-jähriger Sohn Arnold Wilhelm III, und der veränderten Eintrittsklausel im Gesellschaftsvertrag von 1894 die Linie Johann Arnold jr. ihre seit drei Generationen bestehende Eigentümerstellung und die Leitungsbefugnis im Familienunternehmen einbüßte.467 Die Umstrukturierungen des Eigentümerkreises nach den vorangegangenen Erbfällen hatten dazu geführt, dass es sich im Jahr 1896 bei Arnold Wilhelm II, der 41 % an der JW & S OHG hielt, um den Haupt-Eigenkapitalgeber des Unternehmens gehandelt hatte. Seine Vettern Hermann I und Fritz II hielten 40 % bzw. 19 % des Unternehmens bei einer Gewinnbeteiligung von je 33 %.468 Die Veränderung des Gesellschaftsvertrags von 1894 zog wie zwei Jahre zuvor bei Hermann I einen Ausschluss der Witwe des Erblassers aus der OHG nach sich. Mathilde, geb. Rheinen besaß wie 1895 Louise, geb. Bauendahl kein Eintrittsrecht in die Rechtsposition ihres Mannes, jedoch aus der ehelichen Vermö-

463 Vgl. RWWA 122-0133. Vor dem Tod der Witwe Albert waren sämtliche Teilhaber zu 25 % an GuV beteiligt, nach ihrem Tod zu je 1/3, nach dem Eintritt von Hermann II zu je 30 %. Hermann II hat von jedem der Teilhaber 3,33 % erhalten, insgesamt 10 %. 464 Vgl. RWWA 122-232-19. Gesellschaftsvertrag vom 01.10.1894. 465 Vgl. RWWA 122-0133. 466 Vgl. ebenda. 467 Vgl. RWWA 122-285-6. Gesellschaftsvertrag von JW & S, 01.10.1894. 468 Vgl. RWWA 122-0133.

4.2 Kapitalakkumulationsmodi/Gründungsfinanzierung

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gensgemeinschaft mit ihrem Mann resultierende Ansprüche auf das im Unternehmen gebundene Vermögen.469 In seinem Testament hatte Arnold Wilhelm II die Stellung seiner Witwe im Kreis der Erben gegenüber den Verteilungswirkungen des Ehevertrags von 1871, der ihre Ansprüche auf Errungenschaft reduziert hatte, gestärkt. Im Rahmen der gewillkürten Erbfolge räumte er ihr einen Freiteil von einem Viertel und ein Nießbrauchsrecht auf die Hälfte der Erbquote der Kinder von ½ ein. Im Vergleich zu den übrigen Witwen aus dem Familienstamm bzw. der Linie Johann Arnold jr. sowie der Witwen aus der Linie Engelberts besaß sie eine Stellung als Erbin und den bislang höchsten quotalen Anspruch an der Erbmasse. Ihr gesamter Anspruch betrug 2,79 Mio. Mark, 72 % bezogen auf den Nachlass in Höhe von 3,92 Mio. Mark.470 Wie die Witwe von Hermann I hatte sie ihre Versorgung aus dem dem Unternehmen zur Verfügung gestellten Kapital sowie dem ihr eingeräumten Nießbrauchsrecht an dem Immobilienvermögen zu bestreiten und war als Fremdkapitalgeberin nicht in der Situation, im Insolvenzfall persönlich über ihre Einlage hinaus haften zu müssen. Auf ihre Kinder entfielen nach der Auseinandersetzung der im ersten Erbgang entstandenen Vermögensgemeinschaft, bestehend aus der Witwe und den Kindern, 1,13 Mio. Mark zu gleichen Teilen. Der Kreis der Erben rekrutierte sich bis auf den einzigen Sohn aus vier Töchtern: Margret, verh. von Bernuth, Luise, Helene und Marie Helene. Die minderjährigen Kinder erhielten ihr Erbteil vermutlich erst bei Volljährigkeit oder Hochzeit.471 Die Folge für die Finanzierung, die Reduktion des Eigenkapitals und folglich die der Haftungsmasse des Familienunternehmens entsprach generell der des Erbfalls von Hermann I. Die Veränderung der Kapitalstruktur resultierte hier u. a. aus dem der Witwe eingeräumten Freiteil und den mangelnden Rückflussmöglichkeiten an Gesellschafter aus dem Familienstamm Arnold Wilhelm II, da der potenzielle Nachfolger noch minderjährig war. Nach dem Erbfall von Arnold Wilhelm II wurde das Eigenkapital der JW & S OHG um seinen gesamten Anteil von 3,92 Mio. Mark reduziert, der vollständig in das Fremdkapital überführt wurde. Die Auswirkungen auf die Eigenkapitalquote waren stärker als in denen von der Konstellation des Erstversterbens des Ehemannes vergleichbaren Fällen Hermann I oder Albert I. Der Eigenkapitalabzug konnte nicht wie 1897 durch eine gute Gewinnlage und nicht wie 1890 durch den Eintritt der Ehefrau kompensiert werden, sodass die Quote innerhalb eines Jahres von 62 % auf 39 % bei einem nahezu konstanten Entnahmeverhalten sank.472 Selbst bei einer Reinvestition des gesamten Gewinns von 59.014 Mark im Jahr 1897 hätte nur ein Bruchteil der Absenkung der Eigenkapitalquote verhindert werden können.473 Die Witwe und Erben von Arnold Wilhelm II blieben den das Unternehmen JW & S fortführenden Gesellschaftern Hermann I und Fritz II und dem 1899 neu eingetretenen Ge469 470 471 472 473

Vgl. RWWA 122-285-6. Gesellschaftsvertrag JW & S OHG, 01.10.1894. Vgl. RWWA 122-0131. Vgl. RWWA 122-0133. Vgl. RWWA 122-0133. Vgl. ebenda.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

sellschafter Fritz III auch über die Dauer der Abzugsfrist von sechs Jahren als Fremdkapitalgeber größtenteils erhalten. Bezogen auf den ursprünglichen Anteil von 3,92 Mio. Mark wurden nur die Erbteile der Töchter in Höhe von 14,4 % abgezogen.474 Das Konto von Mathilde Rheinen wies sogar 1906 nach einer Reduktion von 0,3 Mio. Mark noch 2,4 Mio. Mark und 1911 noch 1,73 Mio. Mark auf, zudem hielt sie seit 1898 einen Kapitalanteil in Höhe von 100.000 Mark (5 %) an der HP & Cie GmbH475, Anteile an den Tochtergesellschaften, der Südamerikanischen Land- und Hypotheken Gesellschaft und der Hardt-Wülfing AG sowie einen Anteil an H. Tieman, Antwerpen in ihrem Besitz.476 Der Erbteil ihres mittlerweile für Hardt & Co tätigen Sohns Arnold Wilhelm III findet sich bis 1911 auf der Passivseite der Bilanzen und wurde ihm anschließend als neu eingetretenem Gesellschafter auf sein Kapitalkonto von JW & S gutgeschrieben.477 Nach der für die Eigentümer- und Finanzierungsverhältnisse der JW & S OHG einschneidenden Zäsur von 1897 reduzierte sich die Eigenkapitaldecke, die Eignerschaft verschob sich schwerpunktmäßig auf die Linie von Engelbert und die Gesellschaft hatte nur noch drei persönlich haftende Gesellschafter. Neben Hermann II kamen zwei Gesellschafter aus dem Familienstamm Fritz II. Die „DreierSpitze“ der Vettern wurde seitdem zu 45 % durch langfristiges Fremdkapital aus der Familie finanziert. 1906, im elften Jahr nach dem Generationswechsel der dritten auf die vierte Generation und neun Jahre nach dem Tod seines Vetters Arnold Wilhelm II, verstarb Fritz Hardt II als zweiter Vertreter der vierten Generation im Alter von 55 Jahren. Als Haupteigner von JW & S hielt Fritz II Ende 1905 mit 4,57 Mio. Mark 63 % des Eigenkapitals des Konzerns, gemeinsam mit seinem Sohn 66 % gegenüber Hermann II, auf den 34 % entfielen.478 Die lebenszeitliche Vermögensakkumulation folgte wie in vorhergehenden Generationen grob in drei Phasen: zunächst die des Transferhaltes bis zum Versterben der Eltern, hier des Vaters. Es folgte die Phase, in der die Unternehmensführung übernommen wurde, danach begann die Phase der Übertragung des eigenen Vermögens an die folgende Generation, die hier aufgrund des frühen Todes von Arnold Wilhelm II nur am Beispiel von Fritz II nachvollzogen werden kann. Abb. 20 zeigt die Wachstumsverläufe der Eigenkapitalanteile der Vettern Fritz II und des relativ jung verstorbenen Arnold Wilhelm II im Vergleich. Abgesehen von den ersten Jahren als Gesellschafter in den 1870er Jahren und dem Ende der Seniorphase mit Transfers bei Fritz II (im frühen sechsten Lebensjahr474 Vgl. RWWA 122-0134. 475 Vgl. RWWA 122-195-5. 476 Vgl. RWWA 122-0134; RWWA 122-223-8. Erbschaftsverteilung Mathilde Hardt, geb. Rheinen 1916. Das Wertpapiervermögen von Mathilde Rheinen umfasste u. a. 360.000 Mark an der Südamerikanischen Land- und Hypotheken Gesellschaft, 502.000 Mark Hardt-WülfingAktien, 43.000 Mark an H. Tiemann, Antwerpen sowie Anteile der HP & C GmbH über 170.000 Mark. 477 Vgl. RWWA 122-0134. 478 Vgl. RWWA 122-0134.

4.2 Kapitalakkumulationsmodi/Gründungsfinanzierung

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zehnt) akkumulierten sie ihr lebenszeitliches Vermögen ähnlich.479 Im Zeitpunkt des Todesfalls betrug das vorhandene und großteils erwirtschaftete Vermögen bei Arnold Wilhelm II 3,92 Mio. Mark und bei Fritz II 4,62 Mio. Mark. Die beiden betrachteten Vertreter der vierten Generation neigten nicht zu kontinuierlichen Überentnahmen. Die Zeiten der Herabsetzung des Gewinnanteils der Väter zugunsten der Söhne führten zu einer disquotalen Verteilung von Eigenkapitalanteil, der Substanz und Rechten auf Gewinnvereinnahmung in den jeweiligen Familienstämmen. In dieser Subphase wuchs der Eigenkapitalanteil vergleichsweise am stärksten, bei Fritz II zwischen 1873–1880 und bei Arnold Wilhelm II im Zeitraum 1873–1878 durchschnittlich um 27 % im Vergleich zu den die Führungsphase umschließenden Zeiträumen 1881–1906 und 1879–1897 mit Wachstumsraten von 5 % und 8 %.480 Der Verlauf der Reinvestitionsquoten der Gesellschafter differiert in der ersten Zeit als Gesellschafter des Familienunternehmens. Während Fritz II eine Überentnahme im Jahr 1875 tätigte, die vermutlich mit seiner Familiengründung zusammenhing, reinvestierte sein Vetter Arnold Wilhelm II in den Jahren 1878 und 1880, kurz vor und nach dem Erbfalls seines Vaters. Die Mortis-causa-Transfers von seinem Vater reinvestierte Fritz II im Jahr 1880. In den 1890er Jahren entnahm Arnold Wilhelm II zwischen 3.200 und 5.300 Mark von seinem Haushaltskonto, wesentlich weniger als sein Vetter Fritz II. Der Rückgang des Eigenkapitalanteils bei Fritz II im Jahr 1900 erklärt sich teilweise durch den Prae-mortem-Transfer von 251.000 Mark an seine Söhne Fritz III und Heinrich II.481 Bei Fritz II lag der Anteil der Prae-mortem-Transfers bezogen auf das Gesamtvermögen bei 37 % bzw. 55 % (bezogen auf Gesamtvermögen ohne empfangene Transfers).482 Der Nachlass bzw. die Erbmasse von Fritz II wurde wie die von Arnold Wilhelm II basierend auf einem Ehevertrag und den Gesellschaftsverträgen von JW & S und dem Vertrag der in die HP & Cie GmbH umgewandelten HP & Cie KG, an der Fritz II zu 5 % beteiligt war, verteilt.

479 Das lebenszeitliche Vermögen von Arnold Wilhelm II undFritz II wird durch ihren jeweiligen Eigenkapitalanteil bei JW & S abgebildet, da aus den Erbverteilungen keine weiteren Informationen über den Wert von ausschließlich privaten Immobilien- und Wertpapiervermögen hervorgehen. 480 Vgl. RWWA 122-M1; RWWA 122-0132; RWWA 122-0131; RWWA 122-0133; RWWA 122-0134. 481 Vgl. RWWA 122-274-6. Aussteuer Auguste Scheidt; RWWA 122-245-4; zu Schenkungen und Gewinnverzicht ggü. Fritz II vgl. RWWA 122-0133; RWWA 122-0134. 482 Vgl. RWWA 122-245-4. Zum Hausbau von Fritz III steuerte Vater Fritz II 50.935 Mark bei; zu Schenkungen und Gewinnverzicht vgl. RWWA 122-0133; RWWA 122-0134.

200 Abb. 20

4. Die Unternehmen der Familie Hardt

Lebenszeitliche Vermögensakkumulation von Arnold Wilhelm II und Fritz II

Quelle: RWWA 122-M1; RWWA 122-0132; RWWA 122-0131; RWWA 122-0133; RWWA 1220134.

Die Konten „Fritz Hardt sen. Wwe [Witwe] Kinder“ (wobei auf das Konto die Zahlungen aus dem Nießbrauchsrecht an einem Viertel der Erbmasse eingingen) und „Elisabeth Hentzen Lennep“ entwickelten sich bei anfänglichem Wert von 948.242 Mark unterschiedlich. 1913 wies alleinig das von Elisabeth Hentzen noch 11.329 Mark auf, sodass hier erstmalig seit 1824, dem Erbfall von Johann Arnold sen., ein Abzug nach Ende der Bindungsfrist vorlag. Der Hauptteil der Ansprüche der Witwe wurde in der Zentrale auf einem Kapitalkonto im Anschluss an die übrigen Gesellschafter geführt. Ohne Stellung als phG bekam sie im Jahr 1909 einen Gewinnanteil von 10 % zugewiesen. Da es ihr nicht möglich war, in die Rechtsposition ihres verstorbenen Gatten einzutreten, ist eine vertragliche Abmachung zwischen ihr und den übrigen Gesellschaftern zu vermuten.483 Die kurz vor dem Tod von Fritz II am 06.11.1906 durch JW & S und Hardt & Co eingeleitete Umstrukturierung des Konzerns, die sich in der Überführung der gemeinsamen risikoreichen Exportgeschäfte im Mantel der AG niederschlug, wurde von Fritz III und Hermann II weiter umgesetzt.484 Die Entscheidung wurde vermutlich angesichts der Finanzierungslage und der nach der Jahrhundertwende noch vorhandenen Haftungsmasse der phG und weniger aus einer Modelaune heraus getroffen. Für die beiden Nachfolger der vierten Generation Fritz III und 483 Vgl. RWWA 122-0134. Über die genaue Abmachung im Innenverhältnis liegen keine Verträge vor. 484 Vgl. RWWA 122-251-12. Geschäftsbericht der Hardt-Wülfing, 1906/1907; RWWA 122-2518. Statuten der Hardt-Wülfing AG, 1906.

4.2 Kapitalakkumulationsmodi/Gründungsfinanzierung

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Hermann II wirkte sich die Gründung der AG auf die Risikoübernahme der Muttergesellschaft, an der sie beteiligt waren, und die Reichweite ihrer persönlichen Haftung aus. Dies galt auch für ihre künftigen Erben sowie für die weiblichen Financiers der Familie. Die Witwen verstorbener Gesellschafter übernahmen sowohl GmbH-Anteile als auch erhebliche Aktienpakete, so besaß z. B. Mathilde, die Witwe von Arnold Willhelm II, in ihrem Todesjahr 1916 ein Aktienpaket von 502.000 Mark, mit dem Kontroll-, jedoch keine Leitungsrechte verbunden waren.485 Der Vorteil der doppelstöckigen Konstruktion des Konzerns aus Sicht der 1906 nachfolgenden Leitungsspitze bestand darin, dass sich der Einfluss derjenigen Familienmitglieder ohne Gesellschafterstellung in der OHG nur auf die AG, über die die Gemeinschaftsgeschäfte der JW & S OHG und der Hardt & Co abgewickelt wurden, erstreckte. Die Aktien konnten losgelöst von Ansprüchen auf eine Stellung als phG in der JW & S OHG und bei Hardt & Co in den Familienstämmen, die Aktienpakte hielten, vererbt werden.486 Die Leitungsebene in der Muttergesellschaft blieb denjenigen Familienmitgliedern/Familienstämmen vorbehalten, die bereits phG in der OHG waren. Als Beispiel sei hier der Stamm von Arnold Wilhelm I genannt. Die Witwe von Arnold Wilhelm I hatte Aktien gezeichnet, ohne dass sie oder ihr Sohn im Zeitraum von 1906 bis 1910 Gesellschafter waren.487 Dass die Erbmasse unter den Deszendenten gleich verteilt wurde, blieb in der Familie Hardt auch nach Einführung des BGB erhalten. Dies zeigt der Erbfall der Witwe von Arnold Wilhelm II Mathilde, geb. Rheinen im Jahr 1916. Gegenüber dem ersten Erbgang ihres Mannes hinterließ sie ein höheres Wertpapiervermögen. Albert I und Hermann I waren wie die übrigen Vertreter der dritten Generation vermutlich beide in der Gütergemeinschaft nach rheinischem Recht verheiratet. Im Vergleich hierzu hatten sich ihre beiden Vettern Arnold Wilhelm II und Fritz II im Jahr 1871 für Ehekontrakte, die die Gütergemeinschaft auf die Errungenschaft als das gemeinschaftlich während der Ehe erworbene Vermögen beschränkten, entschieden. Der quotale Anspruch des den Ehefrauen aus dem Güterrecht zustehenden Vermögens (positiv wie auch negativ mit etwaigen Haftungskonsequenzen) war somit grundsätzlich bei den betrachteten Vertretern der dritten Generation höher, da aus dem Gemeingut nicht das eingebrachte und das durch Erbschaft erworbene Vermögen des Ehemannes ausgenommen wurde. Ein Novum in der vierten Generation war die testamentarische Einsetzung der Witwen auf ein Viertel an der Erbmasse. So wurde ihre Position über die güterrechtlichen Ansprüche hinaus gestärkt, zusätzlich erhielten sie einen Nießbrauch an einem Viertel des Erbteils der Kinder bzw. an den Immobilien. Der noch minderjährige Sohn von Arnold Wilhelm II konnte ohne Gesellschafter in der OHG seinen Unternehmensanteil nicht um seinen Erbteil erhöhen. Die Verteilungswirkungen auf das gesamte Vermögen des Erblassers basierten auf 485 Vgl. RWWA 122-223-8. Erbschaftsverteilung Mathilde Hardt, geb. Rheinen, 1916. 486 Vgl. ebenda. 487 Vgl. RWWA 122-0134 zum ersten Kapitalkonto von Arnold Wilhelm II, 1910.

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4. Die Unternehmen der Familie Hardt

dem Ehevertrag488 und seinem Testament mit den Bestimmungen des Nießbrauchsrechts bezüglich des Immobilienvermögens – darunter Berliner Terrains. Für die Auseinandersetzung der Erbengemeinschaft, zu der die Witwe aufgrund der Zuweisung eines Freiteils von einem Viertel gehörte, war die Zustimmung ihrer Kinder notwendig. Die Bindung an das Familienunternehmen zeigte sich auch bei Albert I, der trotz gescheiterter Stammesnachfolge sein Eigenkapital nicht vollständig abzog, sondern nur Beträge, die er für angemessen hielt, an seine Enkelinnen und Töchter verschenkte. Testamente wurden in der vierten Generation und der späten dritten Generation Mitte der 1880er bedeutsamer, sodass erstmals von Unternehmertestamenten aufgrund der Vorsorge- und Verteilungswirkung gesprochen werden kann. In den späteren Erbfällen der dritten Generation, sowohl bei JW & S als auch bei Hardt & Co Berlin, wurden die Witwen wie bisher Rechtsnachfolgerinnen ihrer Ehemänner im Familienunternehmen. Erst Mitte der 1890er Jahre wurde mit diesem Vererbungsmuster gebrochen. Die Witwen gelangten weder durch den Gesellschaftsvertrag noch durch das Testament, wie bei Hermann I, in die Position der Rechtsnachfolger. Durch die Trennung der Vermögenssphären wurde ihr eigenes und ererbtes Vermögen im Alter aus dem Unternehmen gezogen. Statt das Damoklesschwert einer persönlichen Haftung in der wirtschaftlich unsicheren Situation über sich schweben zu haben, erhielten sie privates Vermögen und wurden zu einer Art „lender of last resort“. Die Kooperationslösung, die dies ermöglichte, war die Institution des Erbschaftskaufs. So wurde innerhalb des Familienstamms Hermann I die Zuweisung von Immobilieneigentum gegen Unternehmensanteile verkauft. Durch testamentarische Verfügungen wurden die Kinder auf Erbquoten gesetzt, die den Pflichtteilen entsprachen. Für den Fall einer Auseinandersetzung handelte es sich bei der Variante, die Kinder auf den Pflichtteil zu setzen, um eine liquiditätsschonende Strategie, da die Kinder im ersten Erbgang als Teil der Erbengemeinschaft innerhalb der Kapitalbindungsfrist gebunden waren und nicht wie im Falle der Einforderung des Pflichtteils schuldrechtliche rasch zu befriedigende Ansprüche gegen die Gesellschaft hatten. Die 1890er Jahre kennzeichneten das instabile wirtschaftliche Umfeld, die Branchenkrise der Textilindustrie und die gehäuften personellen Zäsuren. Es kam zu vier Nachfolgen innerhalb von 16 Jahren, zwei Familienstämme schieden aus und die Duisburger Linie der Hardts trat in die Unternehmungen mangels (volljähriger) Nachfolger – dies war vor allem bei Hardt & Co der Fall – ein. Durch die Branchenkrise ging das Nordamerikageschäft zurück, ohne eine entsprechende Marktausweitung in Asien oder Australien. Verluste in den Grundstücksgeschäften in Südamerika und die verlustreiche Beteiligung an dem Fahrradwerk Elite waren für die finanzwirtschaftliche Stabilität des Familienunternehmens riskant. Hinzu kamen hohe laufende Akzeptverpflichtungen, die von den Banken lange Zeit freigiebig gewährt wurden. In dieser Zeit wurde der Konzern der Hardt-Dynastie unter dem Primat der Haftungsbegrenzung von Teilen der Trägergruppe der 488 Vgl. RWWA 122-223-8. Ehevertrag Arnold Wilhelm Hardt II und Mathilde Rheinen, 1871.

4.2 Kapitalakkumulationsmodi/Gründungsfinanzierung

203

Familienmitglieder ohne Leitungsverantwortung reorganisiert, sodass die risikobehafteten Gemeinschaftsgeschäfte der zwei OHGs, JW & S und Hardt & Co mit Südamerika und Australien unter dem Dach einer AG, der Hardt-Wülfing AG abgewickelt wurden.489 Die Hardts folgten weiterhin dem Unabhängigkeitsgrundsatz, so blieben die Aktien im Familienbesitz. Das Kapital der Witwen war weiterhin eine wichtige Ressource für das Familienunternehmen. Sie erhielten bei verringerten Stimmrechten Dividenden und hafteten nicht mehr privat, sodass sich zwar das institutionelle Arrangement dieser Gruppe innerhalb der Familie geändert hatte, sie sich im Kern aber weiterhin als Ressourcengeber definierte. Für die Leitungsspitze blieb der Reproduktionsmechanismus, dass die Rechte an der OHG weitergegeben wurden, erhalten. Über die Dachgesellschaften, die JW & S OHG und die Hardt & Co OHG, konnten die Gesellschafter nach Familienherkunft und Anzahl gesteuert und gleichzeitig die Aktien der Hardt-Wülfing AG in der Familie gestreut werden. Die Bindung derjenigen Familienstämme, von denen kein Mitglied in der Unternehmensleitung des Familienunternehmens tätig war, wurde, den Indikator des Kapitalabzugs nach Auslaufen der Bindungsfrist zugrunde legend, nach den Erbfällen schwächer. Obwohl bereits Erben der zweiten Generationen Kapitalien abzogen, kam es mit zunehmendem Alter des Familienunternehmens vermehrt dazu. Als ein Grund für das veränderte Abzugsverhalten, z. B. in den Stämmen Albert I und Arnold Wilhelm II, ist neben der fehlenden Bezugsperson in der Unternehmensleitung die räumliche Entfernung zu nennen, da die Familien nicht mehr in Lennep als Teil der dortigen sozialen und wirtschaftlichen Trägerschaft ansässig waren. So konnten sie der sozialen Kontrolle und Verpflichtung entgehen. Zudem gab es mittlerweile zunehmend Alternativanlagen im Bereich der Wertpapiere. Mit dem Reproduktionsverhalten der jüngeren Teilhaber zeichnete sich einer der Risikofaktoren für das Reservoir an Nachfolgern in Lennep, Berlin und den Auslandsfilialen ab. Der Markt familieninterner Nachfolgekandidaten verengte sich. Die Akkumulationsmuster wiederholten sich auch in der vierten Generation bei reduzierter relativer Reinvestitionsquote, höherem absoluten Niveau, jedoch ohne Regelmäßigkeiten im Netto-Abzug.

489 Neben dem Vorteil der Haftungsbeschränkung und dem der Kapitalmobilisierung nutzten Familien wie die Haniels die Organisationsstruktur der AG, um sich trotz einer Vielzahl von Familienmitgliedern, d. h. Eigentümern in zweiter Generation, auf die Leitungsspitze zu einigen. Vgl. James: Familienunternehmen (2005), S. 121. Bereits in der auf Brüder Haniel folgenden Generation gab es 47 Anteilseigner. Zur Abstimmungs- und Handlungsbeitragsproblematik in großen Gruppen bspw. bei einer Personengesellschaft mit hoher Anzahl Gesellschafter vgl. Mancur Olson: Die Logik des kollektiven Handelns (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 10), Tübingen 1998, S. 52 f.

204

4. Die Unternehmen der Familie Hardt

4.2.5 Übergabe 3 III: Umwandlung von HP & Cie in eine GmbH und Wandel der Beteiligungsverhältnisse Im Folgenden werden die zwei personellen Zäsuren bei Hardt & Co, dem Handelspartner, der Hausbank von JW & S und zweiten Säule im Konzern der HardtDynastie angerissen, deren Bedeutung durch die finanziellen Verflechtungen über Hardt & Co hinausreichte. Abschließend wird am Beispiel der Hardt, Pokorny & Cie GmbH beleuchtet, wie einfach Anteile von Kapitalgesellschaften übertragen werden konnten. Seit 1881 hatten Richard und Heinrich den Gesellschafterkreis um ihren bei Hardt & Co ausgebildeten Neffen Engelbert erweitert – eine Lösung die bereits Johann Wülfing gewählt hatte, da er nicht auf leibliche Deszendenten zurückgreifen konnte.490 Wie auch bei JW & S in den Erbfällen seit 1850 üblich trat nach dem Tod von Heinrich, 42 Jahre nach der Gründung von Hardt & Co und einige Jahre nach der Umwandlung der Kommandite in eigene Filialen, seine Ehefrau Ottilie in seinen Anteil von 2,1 Mio. Mark ein. Dies führte zu einer Kapitalbindung bei Hardt & Co.491 Eine direkte Vererbung des halben Anteils an die Tochter und ihr Abzug des Anteils hätte vor dem Hintergrund des Wachstums der Bilanzsumme von 5.413.663 Mark auf 14.463.631 Mark um 167 % im Zeitraum von 1878 bis 1889 bei einer Eigenkapitalquote von 39 % erhebliche Refinanzierungsschwierigkeiten bedeuten können.492 1898 verstarb Richard, der mit einer Einlage von ca. 5 Mio. Mark über 63 % des Eigenkapitals verfügte. Seinen Anteil übernahm sein Schwiegersohn Heinrich von Tiedemann, der jährlich 5 % Kapitalverzinsung und eine Gewinnbeteiligung erhielt. Die Weiterführung des Anteils bedeutete für den Konzern der Hardt-Dynastie in dieser Zeit, dass neben der Handelspartnerschaft die Hausbankfunktion von Hardt & Co aufrechterhalten werden konnte. Ohne diese wäre die Refinanzierungsquelle des Berliner Kapitalmarkts versiegt.493 Im Vergleich des Lebenszeitvermögens der Vertreter der dritten Generation schnitten Heinrich und Richard etwas schlechter als ihre Brüder ab. Heinrich hatte gegenüber Fritz I und Arnold Wilhelm um 1,1 Mio. weniger erwirtschaftet, Richard gegenüber Albert I und Hermann I zwischen 1,36 und 1,48 Mio. Mark weniger. Betrachtet man jedoch die Ausgangslage, dass beide ein neu etabliertes Handelsunternehmen mit wesentlich geringerer Kapitalausstattung als JW & S aufgebaut hatten, muss der Vergleich relativiert werden. In den folgenden Jahren nahm die Duisburger Linie mit dem Eintritt von Gustav und Hugo, gefolgt von ihren Söhnen Gustav jr. und Hugo jr., die beide 1909 eintraten, verstärkt Einfluss bei Hardt & Co.494 490 Vgl. RWWA 122-079. 491 Vgl. ebenda. Der Anteil von Heinrich 1889 betrug 40 % des Eigenkapitals, der in den Folgejahren weitergeführt wurde. 492 Vgl. RWWA 122-078. 493 Vgl. ebenda. 494 Vgl. RWWA 122-078.

205

4.3 Ergebniszusammenfassung

Ohne auf sämtliche Erbgänge in den Familienstämmen mit Anteilen der HP & Cie GmbH eingehen zu wollen, soll ein Vorteil – dass GmbH-Anteile einfach übertragbar und in der Familie aufteilbar waren aufgrund des Merkmals der Haftungsbeschränkung –, der von den Hardts im Zuge der Erbfälle genutzt wurde, kurz nachvollzogen werden. 1898, im Gründungsjahr der GmbH waren die Anteile auf zwölf Kapitalgeber verteilt, darunter Vertreter von JW & S, Hardt & Co sowie Rudolf Hardt und Theodor Pokorny, wobei Letztere gemeinsam 45 % des Kapitals hielten.495 Die Produktion wurde in zwei Abteilungen, der Kamm- und der Streichgarnabteilung organisiert, auf die das Stammkapital im Verhältnis 1,2 Mio. zu 0,8 Mio. Mark aufgeteilt wurde.496 Gegenüber der ursprünglichen familiären Verteilung von 1898 hatten der Nachfolger im Stamm von Rudolf sen., Rudolf jr., und seine Schwester Ottilie von Wülfing497 und im Stamm der Familie Pokorny, Hermann jr., den jeweiligen Anteil des Vaters übernommen und ihre Position beibehalten. Durch den innerfamiliären Verkauf, von der Witwe von Arnold Wilhelm II an Rudolf jr. und den weitergegebenen Anteil an Arnold Hardt, der nicht wie die Eintritte in die Personengesellschaft gesteuert werden konnte, hatten diese Stämme ihre Position verstärkt. Durch Vererbung an Dora von Tiedemann und an die Witwe von Engelbert und die Übernahme einer kleinen Position von Gustav Hardt konnten sowohl die Familienzweige in der Trägergruppe von Hardt & Co als auch auch die Duisburger Linie als Anteilseigner Einfluss auf die GmbH nehmen, ohne privat haften zu müssen.498

4.3 ERGEBNISZUSAMMENFASSUNG 4.3.1 Vergleich der Nachfolgeprozesse in der Generationenfolge der Familie Hardt Im Entwicklungsmodell Chandlers blieb das Familienunternehmen bzw. blieben die Familienunternehmen der Hardts trotz angestellter Direktoren bis in die fünfte Generation dem „entrepreneurial enterprise“ verhaftet. Die Familie ist unter Rückgriff auf die bei Klein (2004) genannten Kategorien bereits in den Zeiten von Johann Arnold sen., der als Schwiegersohn bei Wülfings aufgenommen wurde, als Dynastie zu bezeichnen. Sie behielt diese komplexe Beziehungsstruktur bei und konnte den Einfluss auf das Unternehmen durch starke Bindung an das Familienunternehmen und eine hohe familiäre Kohäsion bewahren.499 Bis in die fünfte Generation stellte die Familie Hardt, die Duisburger Linie mitgezählt, 23 Nachfolgekandidaten aus verschiedenen Familienstämmen. Die Fami4.3 Ergebniszusammenfassung

495 496 497 498 499

Vgl. RWWA 122-195-5; RWWA 122-253-13. Vgl. ebenda. Vgl. ebenda. Vgl. RWWA 122-223-8. Erbschaftsverteilung Mathilde Rheinen, 1916. Vgl. Klein: Familienunternehmen (2004), S. 68; Chandler: Visible Hand (1978), S. 3 f. Die Delegation an Direktoren und Geschäftsführer der Überseefilialen nahm im 19. Jahrhundert zu.

206

4. Die Unternehmen der Familie Hardt

lie bzw. der Überschuss an Nachfolgern in der dritten und vierten Generation von JW-&-S-Gesellschaftern fungierte als Auslöser, um neue Marktchancen wahrzunehmen und ermöglichte eine dauerhafte Organisation des Überseeabsatzes durch Hardt & Co – und die Kommanditierungen zu schaffen. Die rückgängige Reproduktion in Unternehmerfamilien Ende des 19. Jahrhunderts, auf die Schäfer (2000) hinweist, war bei den Hardts nicht in sämtlichen Stämmen gegeben.500 Das Problem bei den Hardts lag vielmehr in dem ungünstigen Geschlechterverhältnis begründet: Arnold Wilhelm II hatte fünf Kinder, jedoch nur einen Sohn. In der Gesamtschau der Nachfolgeprozesse blieb der Ablauf in kennzeichenbaren Phasen in dem hier erweiterten Modell nach Viehl (2002) Sozialisation und Ausbildung sowie Probe- gefolgt von Entwicklungs- und Führungsphasen erhalten.501 Der Beginn der eigentlichen Führungsphase des Nachfolgers fiel bei den Hardts stets mit dem Versterben des Vorgängers zusammen. Vorzeitig schieden die Senioren nur krankheitsbeding aus. Tabelle 8 zeigt, dass bei den Hardts die Schulbildung im 16./17. Lebensjahr endete. Bei ihnen lautete die Maxime, dass man nicht durch die Universität zum Unternehmer wird. Selbst als es vermehrt technische Hochschulen gab, behielten die Senioren die tradierte Ausbildungsgestaltung bei. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts wurden noch Geschäftspartner um Lehrstellen bemüht – eine weit verbreitete Variante, auf die bereits in der grundlegenden Arbeit von Kocka (1982) hingewiesen wurde.502 Tab. 8

Prozess der familieninternen Nachfolge

Phasen

Sozialisation Ausbildung

Vorbereitung und Probe

Frühe Entwicklungsphase

Späte Entwicklungsphase

Führungsphase

Beginn der jeweiligen Phase

Geburt des Nachfolgers

Eintritt des Nachfolgers als Lehrling/ Angestellter

Eintritt des Nachfolgers in die Eigentümerstellung

Nachfolger als stellvertretender Geschäftsführer

Nachfolger als Senior-Unternehmer

16./17. Lj.

22.– 30. Lj.

4./5. Lebensjahrzehnt

4./5. Lebensjahrzehnt

beim Vorgänger (evtl. auch bei anderen Familienmitgliedern)

zumindest Teil V-Rechte beim Nachfolger;

größerer Teil VRechte beim Nachfolger;

Umverteilung der EuV-Rechte in der Familie

mehrheitl. ERechte beim Vorgänger

mehrheitl. ERechte beim Vorgänger

6,25–10 %

max. 33 %

Verteilung der EuV-Rechte

Beteiligung GuV

beim Vorgänger (evtl. auch bei anderen Familienmitgliedern)

(Lohn)

Übernahme der Verfügungs-

500 Vgl. Schäfer: Herren (2000), S. 145; Kaelble: Sozialstruktur (1990), S. 152 f.; Rosenbaum: Familie (1982), S. 352. 501 Vgl. Viehl: Unternehmensnachfolge (2002), S. 31 f. Das Modell wurde um die Probe- und die späte Entwicklungsphase erweitert und ein erweiterter EuV-Begriff verwendet. 502 Vgl. Kocka: Familie (1982), S. 167; Berghoff/Sydow: Netzwerke (2007), S. 21.

207

4.3 Ergebniszusammenfassung

Phasen

Sozialisation Ausbildung

Vorbereitung und Probe

Frühe Entwicklungsphase

Späte Entwicklungsphase

Führungsphase rechte

Weitergabe der Verfügungsrechte an Sozialkapital

langsame Übertragung Einführung in Verkehrskreise

langsame Übertragung Einführung in Verkehrskreise

Aufbau neuer Verbindung durch Heirat

Integration

Integration

Aufbau von Humankapital, Wissenstransfer

Schulbildung tacit knowledge

Mitarbeit und Lehre

Aufbau und Transfer

Aufbau und Transfer an die folgende Generation

Aufbau und Transfer an die folgende Generation

Ende der jeweiligen Phase

Eintritt des Nachfolgers als Lehrling/ Angestellter

Eintritt des Nachfolgers in die Eigentümerstellung

Nachfolger als Geschäftsführer

Tod des Vorgängers

Tod oder Austritt des SeniorUnternehmers

Dieser Teilaspekt der sozialen Platzierung wurde, sobald ein eigenes Handelsnetz oder Fabriken bestanden, selbst übernommen. Im Vertrieb wurden die Nachfolger zur Ausbildung, z. B. zu Hardt & Co New York oder zu Wülfing Woolen in Sydney geschickt. Eine Ausnahme war Ende des 19. Jahrhunderts die Lehre von Hermann II bei dem verwandten Wollhändler Tieman. Bevor sie als Gesellschafter aufgenommen wurden, lernten alle Nachfolger sich als Angestellte gegen Lohnzahlung für JW & S zu bewähren. Dies geschah mittels Korrespondenz zu den Senioren, in der über die Fortschritte und Erfahrungen im Verkauf und Einkauf berichtet wurde. Die Korrespondenz, im Kontext Vertrauen schaffender Maßnahmen betrachtet, kann als Signaling verstanden werden und stellt eine mögliche Koordinationsform zur Überbrückung von Informationsasymmetrien in Prinzipal-Agent-Beziehungen, wie der von Vorgängern und Nachfolgern,503 dar. Fügten sich die älteren Söhne bis zu Beginn der 1870er Jahre in die Nachfolgepläne ein, traten ab der vierten Generation Individualisierungstendenzen einzelner Söhne zutage, die auf eigene Lebensgestaltung Wert legten oder nach einigen Jahren erfüllter Pflicht austraten.504 Alle Nachfolgekandidaten, die sich im Sinne ihrer Väter und Onkel verhielten, konnten sich sicher sein, als Gesellschafter eintreten zu dürfen und ihr erstes Stück Selbstständigkeit mit Prokura und der in den jeweiligen Gesellschaftsverträgen festgeschriebenen Gewinn- und Verlustbeteiligung zwischen 6,25 und 10 % zu erhalten. Nicht gehorsam war Hermann (Stamm Fritz I). Ihm wurde mit dem familiären Bruch gedroht und die Verfügungsrechte über seinen Erbteil eingeschränkt.

503 Zum Signaling als Variante der Überbrückung des Kooperationsproblems vgl. Michael Spence: Job Market Signaling, in: Quarterly Journals of Economics 87 (1973), S. 355–374; Göbel: Institutionenökonomik (2002), S. 294; zu glaubhafter Drohung als Durchsetzungsinstrument vgl. Richter: Institutionen (1994,) S. 14. 504 Vgl. Reitmayer: Bankiers (1999), S. 248; Schäfer, Herren (2000), S. 145.

208

4. Die Unternehmen der Familie Hardt

Das durchschnittliche Heiratsalter der Nachfolger lag zwischen Mitte zwanzig und Anfang dreißig und bewegte sich in den für bürgerliche Familien üblichen Bandbreiten.505 Geheiratet wurde in der Regel erst, nachdem man Gesellschafter und fähig war, eine Familie zu ernähren. Tab. 9

Heiratsalter der Nachfolger Geburtsjahr

1. Generation

Anzahl der Söhne mit Gesellschafterstatus bei JW & S, H & C, HP & Cie

Durchschnittliches Heiratsalter (erste Ehe)

1

31

*1740

Bandbreite Heiratsalter



2. Generation

1770–1780

2

25

24–25

3. Generation

1805–1830

6

26

25–27

4. Generation

1843–1876

7 bzw. 8

29

20–31

29

26–30

5. Generation

1873–1882

506

5 (6 )

Quelle: von Wismar, Stammbaum (1979).

Abb. 21 zeigt in Netzwerkdarstellung um Familie Wülfing/Hardt im Mittelpunkt die Herkunft der Ehepartner der Teilhaber aus der Familie Hardt und ihrer Geschwister im Generationenverlauf, die fortlaufend für die jeweilige familiäre Generation auf einer elliptischen Kurve liegen. Die Strukturanalyse weist auf ein hohes Maß sozialer Endogamie hin. Die Ehen sowohl der Gesellschafter als auch ihrer Schwestern wurden überwiegend in Unternehmerkreisen geschlossen. Nur vereinzelt heiratete man in adelige Kreise hinein, sodass keine übermäßigen Feudalisierungstendenzen in der Familie vorkamen.507 Über die Generationen blieb ein hoher Bezug zur Textilbranche erhalten. Bei den Verbindungen kann kein offizielles Arrangement gegen finanziellen Ressourcenfluss bei den Teilhaberehen festgestellt werden, die diesbezüglich in den 1980ern aufgestellten Thesen erweisen sich nicht als haltbar.508 Für die fünfte Generation ist z. B. nachweisbar, dass

505 Vgl. Rosenbaum: Familie (1982), S. 331. Zum durchschnittlichen europäischen und schichtenunspezifischen Heiratsalter ab 1880 (Männer: 28 Jahre; Frauen: 25,5 Jahre) vgl. Gestrich: Neuzeit (2003), S. 415. Die Bandbreiten bei den männlichen Nachkommen der Hardts entsprechen denen der angeheirateten Familie Scheidt. Vgl. zum Heiratsalter im Generationenverlauf bei Scheidt Soénius: Scheidt (2000), S. 169 f. 506 Von Hugo jr. ist das Heiratsalter nicht bekannt. 507 Vgl. zur Feudalisierungsthese Hartmut Kaelble: Wie feudal waren die deutschen Unternehmer im Kaiserreich? Ein Zwischenbericht, in: Richard H. Tilly (Hg.): Beiträge zur quantitativen vergleichenden Unternehmensgeschichte (Historisch-Sozialwissenschaftliche Forschungen 19), Stuttgart 1985, S. 148–171. Reitmayer sieht die Feudalisierungsthese nicht durch den Akt der Nobilitierung bestätigt. Vgl. Reitmayer: Bankiers (1999), S. 152. 508 Vgl. Rosenbaum: Familie (1982), S. 332. Sie geht davon aus, das Heiraten in Unternehmerfamilien immer zugleich Geschäftsverbindungen gewesen seien. Siehe auch Kocka: Familie (1982), S. 173.

4.3 Ergebniszusammenfassung

209

die Ehe von Arnold Wilhelm III und Lili Schröder eine Liebesheirat war.509 Der Gewinn lag eher in der wechselseitigen Potenzierung von Prestige wie bei den Verbindungen zu anderen bergischen Dynastien wie den Hasenclevers, Scheidts und Fuhrmanns in der gemeinsamen Verfügung an Sozialkapital.510 Das schwer nachvollziehbare konstituierende Element der Reziprozität in Netzwerken ist im Rahmen der Hilfsaktion der Umschuldung für Tieman, Antwerpen Ende des 19. Jahrhunderts nachweisbar, sodass es sich bei zentralen Verbindungen nicht nur um ein familiäres, sondern auch um ein ökonomisches Netzwerk gehandelt hat.511 Der ökonomische Nutzen ergab sich dadurch, dass sich infolge ehelicher Verbindungen das familiär-freundschaftliche Netzwerk um Informationslieferanten erweiterte. In institutionenökonomischer Lesart war es ein Weg, der als Voraussetzung der Informationsgenerierung diente, um die Funktion als Unternehmer zu erfüllen.512 Die gesamte Entwicklungsphase, in der Senior und Nachfolger bzw. mehrere Nachfolger zusammenarbeiteten, umfasste – ab Eintrittszeitpunkt gerechnet – 1,5 bis 13 Jahre, zwischen Neffen und Onkeln bis zu 20 Jahre, und begann spätestens mit dem 30. Lebensjahr. Im Bereich der längeren Phasen der Zusammenarbeit ergab sich eine Unterteilung der Entwicklungsphase in einen frühen und späteren Abschnitt. Letztere umfasste eine Erhöhung der Gewinnbeteiligung, des sozialen Engagements und der Präsenz in einschlägigen Institutionen wie der Handelskammer und bereits die Erziehung und Ausbildung des eigenen Nachwuchses.

509 Vgl. RWWA 122-174-4. 510 Vgl. zu wechselseitiger Potenzierung von Sozialkapital Ripperger: Ökonomik (1998), S. 168. 511 Vgl. RWWA 122-244-6. E. Bunge/Kreglinger an die Gläubiger von H. Tieman, Antwerpen 03.04.1901, H. Tieman an JW & S, 30.04.1901; Einlagen Tieman, 01.05.1904 von Frau Arnold, Engelbert und Hermann II; JW & S über 18.263 Mark. 512 Vgl. Pierenkemper: Unternehmensgeschichte (2000), S. 263; Schreyögg: Organisation (1999), S. 73; zur Betonung der Informationsfunktion in Netzwerken vgl. Adelheid von Saldern, Netzwerke und Unternehmensentwicklung im frühen 19. Jahrhundert. Das Beispiel der Schoeller-Häuser, in: ZUG 53 (2008), S. 147–176, S. 156. Die Abbildung hält über die Bezeichnung linker Verbindungen (hier Carstanjen und Schoeller) zu den anderen Fallbeispielen fest. Die Qualität der Verbindungen gibt die Bezeichnung „linker“ hier nicht wieder.

210 Abb. 21

4. Die Unternehmen der Familie Hardt

Heirats- und Geschäftskreise der Hardt-Dynastie

Quelle: RWWA 122-M1; RWWA 122-0132; RWWA 122-0133; von Wismar, Stammbaum (1979), RWWA 122-245-2; RWWA 122-303-3.

Da eigene Wirkungskreise, zunächst Ressorts, in der vierten Generation auch Unternehmungen etabliert wurden, spezialisierten sich die Nachfolger auf kaufmännische oder technische Ressorts. Vor allem durch übernommene Reisetätigkeiten wurden inhaltliche Überschneidungen und zu lange andauernde räumliche Nähe mit einer Ballung aller männlichen Gesellschafter in der Tuchfabrik umgangen. Der psychologische Effekt zwischen Senior und Nachfolger lag vermutlich darin, dass die Empfindung des Seniors, ihm mache jemand seine Führungsansprüche streitig, abgemildert wurde.513

513 Vgl. Hillen: König (2003), S. 198; zu Machtverlustängsten des Senior-Unternehmers vgl. Gerke-Holzhäuer: Generationswechsel (1996), S. 72.

4.3 Ergebniszusammenfassung

211

Die brüderliche Loyalität, die die dritte Generation vorgelebt hatte, wurde von den Vettern übernommen. Bereits in den Probe- und Entwicklungsphasen korrespondierten sie miteinander und entwickelten Problemlösungen wie Richard und Albert I oder Fritz III und Hermann II. So entstanden in (horizontal) und zwischen (vertikal) der vierten und fünften Generation Routinen in der Korrespondenz als Koordinationsform.514 Reisetätigkeiten wurden an die Jüngeren delegiert, die von ihren Vätern, den älteren Vettern oder Onkeln Weisungen und Aufträge empfingen. Die personellen Spezialisierungen auf die Fabrikation und den Vertrieb mündeten im Generationenverlauf in Spezialisierungen der einzelnen Familienstämme, u. a. für spezielle Absatzmärkte. Diese führten jedoch nicht dazu, dass sich die Familienstämme die Gebiete des Weltmarkts explizit zuwiesen oder aufteilten.515 Ein wichtiger Aspekt war, dass durch die Auslandsreisen und die Spezialisierungen die Beziehungen inhaltlich und räumlich entzerrt und Konflikte aufgrund zu großer Nähe entschärft wurden. Nach positionaler Auffassung handelte es sich bei den Nachfolgern um Unternehmer ab der Übernahme der Unternehmensführung, also mit Beginn der Führungsphase. Diese begann bei den Hardts zwischen dem vierten und fünften Lebensjahrzehnt. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwieweit die Nachfolger über die positionale Auffassung des Unternehmers hinaus unternehmerische Leistungen erbrachten.516 Die nach Schumpeter als unternehmerische Leistung qualifizierbaren Aktivitäten der „schöpferischen Zerstörung“ waren in der Familie Hardt oftmals intergenerational angelegt und können nicht eindeutig zugeordnet werden. Erfahrungen der vorhergehenden Generation/Unternehmensführung, die ein neues Produkt herausgebracht oder in einem neuen Markt getestet hat, wurden von der nächsten Generation/Unternehmensführung517 mit ihren Erkenntnissen neu kombiniert. In der Zeit der Übernahme durch Johann Arnold Hardt sen. bereits gegründet, durchlief das Unternehmen JW & S unter den Brüdern Johann Arnold jr. und Engelbert, später unter Engelbert, das Wachstumsstadium durch die Einführung verbesserter Tuchqualitäten in Nordamerika. Engelbert, der den Schlüsselmarkt Nordamerika für JW & S entdeckt und den Vertriebsweg über New York erschlossen hatte, fühlte bereits Ende der 1840er Jahre hinsichtlich der Absatzmöglichkeiten in Südamerika vor. In der dritten Generation mit Albert I, Friedrich I, Hermann I, Arnold Wilhelm I, Richard und Heinrich basierte die Erweiterung des 514 Vgl. Kocka: Industrial culture (1999), S. 3, 13. Diese Art der Unternehmensführung über räumliche Distanzen beschreibt Kocka für die Siemens-Brüder. Für die Stollwerck-Brüder beschreibt Epple mit Fraternalismus einen Führungsstil als Teil der „family governance“, die sich an Paternalismus anlehnt, aber auch Elemente der Managerführung in sich vereint und geeignet war, die Internationalisierung bei Stollwerck voranzutreiben. Vgl. Zusammenfassung des Beitrags von Angelika Epple: Kontrolle der Globalisierung? Fraternalismus als Führungsstil der Gebr. Stollwerck mbH/AG (1872–1932) Tagungsbericht, in: H-Soz-u-Kult. 515 Vgl. Schäfer: Herren (2000), S. 118. 516 Vgl. Pierenkemper: Schwerindustrielle (1977), S. 22 f. 517 Es werden sowohl die familiäre Generation als auch die Leitungsspitze genannt, da 1871– 1895 bis zum Wechsel von der dritten auf die vierte Generation die Unternehmensführung nach Stammesnachfolgen wie 1875, 1880 intergenerational besetzt war.

212

4. Die Unternehmen der Familie Hardt

Südamerikageschäfts auf den Erfahrungen des Vaters bzw. Onkels. Die zielmarktgerechte Veränderung des Sortiments wurde durch die „market maker“ Richard und Hermann I, die durch ihre Ausbildung auf den Außenhandel spezialisiert waren, initiiert. Ein Wissenstransfer durch die Nachfolger ist bei Richard bereits in seiner Probephase feststellbar. Die Verbesserung der Margen im Einkauf durch Direkteinkauf wurde durch Arnold Wilhelm I initiiert. Dass unternehmerische Beiträge nicht zwangsläufig in Führungsphasen lagen, ist für einige Nachfolger der vierten Generation nachvollziehbar, die in ihrer Entwicklungsphase den Eintritt von JW & S in den Kammgarnmarkt mit initiierten. Da die Familie keine diesbezüglichen Erfahrungen hatte, griff sie auf die sich bereits bei der Spinnerei Dahlhausen bewährte Strategie des Zukaufs von Know-how zurück. Die Ausweitung des Kammgarnengagements wurde in der vierten Generation weiter forciert, auf der vorgelagerten Stufe eine Kammgarnspinnerei aufgebaut und das Prinzip der vertikalen Integration, mit dem die dritte Generation begonnen hatte, fortgesetzt. Durch den Eintritt in den Kammgarnmarkt seitens der Tuchfabrik und Spinnerei und der Kunstwollherstellung bei HP & Cie konnte „das Ruder“ im fortgeschrittenen Lebenszyklus von JW & S herumgerissen werden. Die Gewebe erhielten saisonal ein neues Erscheinungsbild im Gegensatz zu der einstigen Stapelware.518 Die späte dritte/vierte Generation von 1871 bis 1906 war die, die den Wandel vorantrieb und die institutionellen Arrangements weiter formalisierte. Die durch familiäre Netzwerke getragene Verbindung von JW & S und H & C wurde vertraglich geregelt. Gemeinsam waren beide Unternehmen an überseeischen Vertriebsunternehmen beteiligt. Sämtliche Generationen hielten an dem Vertrieb über Konsignation fest, der bereits für den Weinvertrieb zu Beginn des Jahrhunderts genutzt worden war. Die fünfte Generation unter Fritz III brachte Teile der Geschäftsaktivitäten in die „institutionelle Basisinnovation“ der Kapitalgesellschaft, eine Familien-Aktiengesellschaft ein. Der Prozess der Haftungsbeschränkung der Familie hatte in den 1890er Jahren mit der Gründung der HP & Cie GmbH begonnen und wurde nun weitergeführt. Der Einfluss und die Entscheidungsmacht verblieben jedoch in den Personengesellschaften. Die vierte Generation hatte weitere Engagements, dem Diversifikations-Prinzip folgend, in das Tätigkeitsspektrum mit aufgenommen: das E-Werk, eine Gerberei, ein Fahrradwerk und einen Immobilienhandel. Die späte vierte/fünfte Generation musste sich von Teilen dieser Geschäftsbereiche wieder trennen, so ist das verlustreiche Fahrradwerk Elite ein Beispiel unternehmerischer Fehlentscheidungen von Fritz II. Eine Konstante lag in dem Fokus auf finanzieller Stabilität, der seit Johann Arnold sen. verfolgt worden war. Selbst in Wachstumsperioden wie Ende der 1850er Jahre wurde eine Bankenfinanzierung, eine „temporäre Verschuldung“, nur als Zwischenlösung genutzt. Das Unabhängigkeitsstreben der Familie fand seinen Niederschlag in der Finanzierung ihrer Unternehmen.519 Mit der stark ausgeweiteten Geschäftstätig518 Vgl. Gersick/Davis/McCollom Hampton u. a.: Generation (1997), S. 24; Klein: Familienunternehmen (2004), S. 301 f. 519 Vgl. Lindenlaub: Krupp (2006), S. 435.

4.3 Ergebniszusammenfassung

213

keit konnte das Wachstum des Eigenkapitals nicht Schritt halten. Die Eigenkapitalquote reduzierte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts um ca. zwei Drittel auf 26 %. Die finanzielle Stabilität hielt mit dem Wachstum internationaler Geschäfte nicht mit. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts zeichnete sich ein Wandel deutlich ab, Akzeptkredite gingen mit einer Risikoerhöhung einher. Des Weiteren hatte jedes Leitungsgespann Krisen und besondere Herausforderungen zu überwinden, die teilweise unterschiedliche Schwerpunkte aufwiesen: politische, wirtschaftliche oder unvorhergesehene Ereignisse und Naturkatastrophen. Bei Johann Arnold sen. war es die französische Besatzungszeit, bei seinem Sohn Engelbert der Brand der neuen Fabrik, die dritte Generation erlebte die Jahre um 1848 und in den 1870er Jahren die Gründerkrise, die vierte Generation die Überschwemmungen und die fünfte Leitung hatte den Ersten Weltkrieg zu überwinden. Im Generationenverlauf entstand eine Art Krisenresistenz des Systems. Darauf aufbauend ergab sich eine Mentalität, die einen lösungsorientierten Umgang mit Krisen förderte, den Nachfolgern anhand von Leitbildern mitgegeben und in der familiären Erinnerung, wie in von Familienmitgliedern verfassten Chroniken, gepflegt wurde.520 Die Nachfolger erhielten über die Erfahrungsweitergabe das Rüstzeug, das Familienunternehmen sowohl im Bereich der Chance, aber auch im Bereich der Krise „im Spiel“ zu halten. In der institutionenökonomischen Sichtweise des Unternehmers als Informationsbeschaffer und Entscheider interessieren die Möglichkeiten an Informationskanälen, die die Hardts zur Wahrnehmung der Unternehmerfunktion nutzen konnten. Es stellt sich die Frage nach einer Einbettung des Familienunternehmens, nach dem Umweltbezug der Trägergruppe durch familiäre und/oder geschäftliche Beziehungen und Netzwerke und die Integration des Außenbezugs in das Drei-Kreis-Modell. Die Besonderheit des Außenbezugs bei den Hardts schlägt sich in der Reproduktion von Beziehungen nieder, die dem System Familienunternehmen Stabilität und Robustheit verleihen konnten. Auf die Verbindungen, die sich durch Heiraten mitunter durch soziale Platzierung durch die Eltern ergeben hatten, wie zu den Fuhrmanns oder Scheidts, wurde bereits hingewiesen. Der hohe Anteil von Vertretern der Textilbranche weist auf die Speicherung und Abrufbarkeit von Brancheninformation in dem hardtschen familiären Netzwerk hin. Ein Beispiel für häufigen Informationstransfer sind Fritz III und sein Schwager August Scheidt. Über das familiäre Netzwerk hinaus, das sich manchmal mit den Geschäftskreisen überschneiden konnte, wurden gesellschaftliche/soziale und politische Engagements als Informations- und Kontaktbörse genutzt. Das Sozialkapital wurde über die individuellen Familienzyklen in den einzelnen Familienstämmen neu kombiniert. Durch Integration neu erworbener Kontakte in einzelnen Generationen ergab auch dies eine variable Komponente, die dem System neue Impulse gab, wie die Verbindungen mit Wollhändlerfamilien in Zeiten des Übergangs auf den Direkteinkauf von Wolle. Die Mehrfachpräsenz über Generationen festigte den regionalen Bezug, die Bedeutung der Familie für die Region. Der Koordinati520 Vgl. RWWA 122-285-6. Aufzeichnungen Engelbert Hardt, Berlin 1913.

214

4. Die Unternehmen der Familie Hardt

onsmechanismus des Vertrauens, aber auch der der sozialen Kontrolle wirkte geografisch gesehen bis an die Peripherie des weit verzweigten sozialen Netzes. Seit der Gründung der Handelskammer in Remscheid in der Leitungsperiode von Engelbert, erweiterten die Hardts ihre Aktivitäten auf den Feldern Stadt, Kirche und Gemeinwohl um die Handelskammer. Das politische Engagement weitete sich zunächst von der lokalen Ebene auf die regionale und nationale Ebene aus, verblieb jedoch nicht in der Ausweitung über die Generationen erhalten. Als Zusammentreffen mit hohem Grad gesellschaftlicher Exklusivität kam der an englische „gentlemen clubs“ angelehnte Bergische Reit-Club hinzu, in dem alteingesessene Unternehmer der Region zusammentrafen. Ein Vorgänger dieser Zusammenkünfte waren vor der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die Jagdgesellschaften. Vertreter der vierten und fünften Generation schlossen sich Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Ziel, die Rahmenbedingungen der Branche zu ändern, in Verbänden und Interessenvertretungen in der Textilbranche zusammen. Prestigekräftige Ehrungen wie den Kommerzienratstitel und Verleihung des roten Adlerordens gehörten seit der dritten Generation zu den wiederkehrenden Ereignissen im fortgeschrittenen Alter der Unternehmer.521

4.3.2 Vergleich der Kapitalakkumulation und der Vererbung in der Generationenfolge der Familie Hardt Die Verfassung der Unternehmen bzw. des Familienkonzerns, die sich über fünf Generationen in der Hardt-Dynastie herausbildete, war bis in die 1890er Jahre durch eine stabile Binnenstruktur hinsichtlich der Anzahl der familiären Teilgruppen mit maximal vier Stämmen bei JW & S gekennzeichnet. Lange Leitungsperioden (bis zu 50 Jahre) der einzelnen Teilhaber oder Gruppenkonstellationen wie die Vierer-Spitze in der dritten Generation waren Ausdruck davon. Eine Separation von Familienstämmen wie es z. B. bei Haniel oder Hasenclever der Fall war, gab es bei den Hardts nicht.522 Nach der bis 1824 währenden Bruderpartnerschaft kam es seit 1850 zur Wiederauflage von Strukturen der Kombination von Bruderpartnerschaften und Vettern-Consortien bei begrenzter Anzahl der Stämme und ohne Beteiligung von Schwiegersöhnen in den engeren Zirkeln.523 Durch die gemischte Altersstruktur in der Leitung und den damit gegebenen Bezug zur Tradition und Moderne durch ältere und jüngere Vertreter schien die Gefahr der Ver521 Zu Bedeutung der Ehrungen und Auszeichnungen vgl. Schumann: Bayerns Unternehmer (1991), S. 134 f. 522 Vgl. zur Separation bei Partnerschaften von Brüdern wie bei Franz und Gerhard Haniel James: Familienunternehmen (2005), S. 85; Herzog/Mattheier: Franz Haniel (1979), S. 129; Hasenclever: Erinnerungen (1922), S. 4. 523 In der Terminologie von Carlock/Ward handelt es sich bei den Eigentümerkonfigurationen der Hardts seit der Zusammenarbeit von der zweiten und dritten ab 1830 bis 1850 und der dritten und vierten Generation ab 1871 bis 1895 um ein family syndicate, das sich aus den genannten Strukturen zusammensetzte. Vgl. Carlock/Ward: Strategic (2001), S. 27.

4.3 Ergebniszusammenfassung

215

krustungen durch wiederholte Strukturen und eine überalterte Führungsspitze abgemildert, wenn nicht sogar neutralisiert worden zu sein. Die sich entwickelnde vertikale Struktur über die einzelnen Unternehmungen der Hardt-Dynastie hinweg ließ zu, dass mehrerer Familienstämme koexistierten. Eine Koexistenz wurde innerhalb einer Unternehmung durch Spezialisierungen von Familienstämmen für die technische oder kaufmännische Leitung organisiert. Ein weiteres Merkmal war die finanzwirtschaftliche Stabilität, die auf lebenslang dem Familienunternehmen zur Verfügung gestellten Eigenkapitaleinlagen bei kontinuierlicher Reinvestition der persönlich haftenden Gesellschafter und langfristigen Familiendarlehen fußte. Erst in den 1890er Jahren wurden die Beziehungen von Teilen der Trägergruppe unter dem Primat der Haftungsbeschränkung reorganisiert. Eine gängige Strategie in den größeren Familienunternehmen der Zeit lag darin, das Unternehmen in eine Kapitalgesellschaft zu überführen.524 Mindestens seit der Nachvollziehbarkeit der Gesellschaftsverträge fungierten diese als zentrales und kostengünstig zu errichtendes Steuerungsinstrument für die Belange, die das Erbrecht im 19. Jahrhundert für die Unternehmensnachfolge nicht leistete. Eine erste Unternehmensverfassung, die sich explizit mit der familieninternen Unternehmensnachfolge beschäftigte, wurzelte in den frühen Gesellschaftsverträgen von JW & S aus dem Jahr 1824. Bis in die 1890er Jahre wurde die Trias der Klauseln (Fortsetzungs-, Eintritts- und Abzugsklausel) mit Wirkung auf Gesellschafterzahl, die Rechteverteilung zwischen den Gesellschaftern und die Bewertung der Eigentumsrechte als Pfeiler der Unternehmensverfassung der Personengesellschaften institutionalisiert. Die Trias der Klauseln wurde um die Wiederverheiratungsklausel ergänzt, die auf Verhinderung von Kapitalabfluss bei Neuverheiratung von Unternehmerwitwen bzw. auf Leitungsansprüche neuer Ehepartner durch Wahrnehmung von Verfügungsrechten der Ehefrau bei JW & S abzielte. Zum Ende des Jahrhunderts fand sich in der Familie Hardt in der Stärkung des Testaments mit seiner Verteilungsfunktion eine institutionelle Diskontinuität. Diese Entwicklung verstärkte sich nochmals nach Einführung des BGB mit größerer Testierfreiheit, die z. B. von Fritz II wahrgenommen wurde. So gewann das Testament für die Zuweisung von Erbteilen innerhalb der gewillkürten Erbfolge an Bedeutung. Institutionelle Kontinuität fand sich im Gegensatz zu Testamenten in der Güterstandsregelung. In beiden Linien wurde über dem Minimum des Brautschatzes als gesetzlicher Güterstand die Gütergemeinschaft gewählt oder Heiratsverträge abgeschlossen. Die Verfügungsrechte der Vermögensmasse der Unternehmerehepaare blieb bis zum Tode des Mannes unter seiner Verfügung, obwohl die Ehefrau Eigentümerin an der Hälfte des während der Ehe erworbenen Vermögens war, sodass sie eine sehr starke Position im Familiensystem innehatte. Die Versorgung der Witwen war seit der Witwe von Engelbert über zeitweilige Gewinnbeteiligung und Kapitalverzinsung gesichert, solange das Unternehmen florierte. Verfügte die Witwe über ein ausreichend hohes Sondergut, war für sie auch im Falle des Fallimentes vorgesorgt. 524 Vgl. Boch: Unternehmensnachfolge (1999), S. 168; Sachse: Familienunternehmen (1991), S. 17; James: Familienunternehmen in Europa (2005), S. 102.

216

4. Die Unternehmen der Familie Hardt

Die Unternehmensverfassung gab den Rahmen der Anreizgrundlage für die Kapitalakkumulation vor, innerhalb dessen die Gesellschafter den Erwerbsteil ihres Lebenszeitvermögens erwirtschafteten. Dies lässt sich durch normative Ereignisse sowie die daran gekoppelten Transfererhalt und -vergabe in Abschnitte strukturieren: als Lohnempfänger in der Probephase, die Phase nach dem Eintritt mit der Reinvestition eines Großteils der Aussteuer, die Institutionalisierung von Wachstum durch Reinvestition der Einnahmen. Ein Niederschlag des „Gesetzes der dritten Generation“, Verschwendungssucht und Instrumentalisierung des Familienunternehmens als „Melkkuh“ wie bei Albach/Freund (1989), Gallo/Sveen (1991) und Göhler (1993) betont ist für keine der Trägergruppen von JW & S, H & C oder HP & Cie feststellbar.525 Abb. 22

Kapitalakkumulation und Prae-mortem-Transferstruktur im Generationenverlauf

Quelle: RWWA 122-M1; RWWA 122-0132; RWWA 122-0131; RWWA 122-0133; RWWA 1220134.

Abb. 22 zeigt die individuelle Eigenkapitalakkumulation der Vertreter der zweiten bis vierten Generation, allesamt persönlich haftende Gesellschafter in den OHGs in Abhängigkeit der Gesellschafterjahre, beginnend mit dem Eintritt der Entwicklungsphase im Generationenverlauf im Alter zwischen 22 und 30 Jahren. Zuvor waren die Nachfolger während ihrer Lehrzeit und Probephase Lohnempfänger. Teile des Lohns wurden, betrachtet man die im ersten Gesellschafterjahr abgetragenen Anfangswerte, reinvestiert. 525 Vgl. zu Familienunternehmen als „Melkkuh“ auch Albach/Freund: Generationswechsel (1989), S. 266 f.; Miguel A. Gallo/Jannicke Sveen: Internationalizing the Family Business; Faciliating and Restraining Factors, in: FBR 4 (1991), S. 181–190, S. 184; Goehler: Erfolg (1993), S. 82.

217

4.3 Ergebniszusammenfassung

In späteren Generationen zeigen sich steilere Wachstumsverläufe bei höherem absoluten Eigenkapital und Gewinnniveau. Die Gewinn- und Verlustbeteiligung war in den frühen Entwicklungsphasen zunächst disquotal zu dem Eigenkapitalanteil, der Haftungsmasse der Nachfolger. Unabhängig von den familiären Generationen war die Reinvestitionsneigung gegeben. Auch in der dritten und vierten Generation waren über den gesamten Lebenszyklus keine systematischen Abzüge feststellbar. Der Einbruch gegen Ende der Gesellschafterkarriere ist allen gemein und deutet auf systematische Abzüge im Lebenszyklus hin. Bei den Abzügen handelte es sich nicht um Konsumausgaben, sondern um Prae-mortem-Transfers. Tabelle 11 fasst die Prae-mortem-Transferstruktur zusammen. Als diese gingen, soweit nachvollziehbar, Aussteuern, Gewinnverzicht und Schenkungen mit ein.526 In der Seniorphase nach Übernahme der Unternehmensführung nach dem Ausscheiden des Vorgängers – im 7. Lebensjahrzehnt, in der vierten Generation schon im 5. und 6. Lebensjahrzehnt – liegen die Transfers an die eigenen Kinder gemessen am Lebenszeitvermögen um die 6,5–15 %. Sie erwiesen sich über drei Generationen als stabil. Bei dem ausscheidenden Albert I lag die Transferquote höher. Dieser schien den Statuserhalt seiner aus dem Unternehmen ausgeschiedenen Familie durch Schenkungen an seine Kinder und Aussteuern für seine Enkel erhalten zu wollen. Anfang des 20. Jahrhunderts deutete sich eine veränderte Transferstruktur bei Fritz II an. Ob sie in den folgenden Generationen konsistent weitergeführt wurden, kann in diesem Rahmen nicht weiter überprüft werden. Tab. 10

Prae-mortem-Transferstruktur in der Familie Hardt 1815–1906

Todesjahr

Gesellschafter (und Ehefrau)

Anteil geleisteter Prae-mortemTransfers am gesamten Lebenszeitvermögen

Lebensjahrzehnt Transferleistung

1815

Johann Arnold sen. (1740–1815)

6,5–13,0 %

7.

1824

Johann Arnold jr. (1778–1824)





1850

Engelbert (1783–1850)

14,0 %

6./7.

1878

Arnold Wilhelm (1805–1878)

15,0 % (Aussteuer n. b.)

7.

1880

Fritz I (1817–1880)

13,0 % (Aussteuer n. b.)

7.

1890

Albert I (1811–1890)

34,0 % (Ausscheiden des Stammes)

7./8.

1895

Hermann I (1828–1895)

7,0 % (Aussteuer an Tochter n. b.)

7.

1897

Arnold Wilhelm II

– (Kinder minderjährig)



526 Die Transferquote wurde als Quotient der zu 4 % ab dem Zeitpunkt des Abflusses verrenteten Transfers bezogen auf das Lebenszeitvermögen (Netto-Nachlass zuzüglich auf den Todeszeitpunkt verrentete Transfers) berechnet.

218 Todesjahr

4. Die Unternehmen der Familie Hardt

Gesellschafter (und Ehefrau)

Anteil geleisteter Prae-mortemTransfers am gesamten Lebenszeitvermögen

Lebensjahrzehnt Transferleistung

37,0 %

5./6.

(1843 – 1897) 1906

Fritz II (1851 – 1906)

Quelle: RWWA 122-M1; RWWA 122-0132; RWWA 122-0131; RWWA 122-0133; RWWA 1220134; RWWA 122-227-15; RWWA 122-223-10; RWWA 122-223-12; RWWA 122-22313.

Die intergenerationale Transferquote gibt Auskunft über die Property-Rights- und Machtstrukturen, über die Anreizgestaltung in der Unternehmensleitung und der Familie. Da es sich um eine eher niedrige Quote handelte, lagen Autorität und Macht in dem Familiensystem weiter bei der Eltern-Generation. Die Mortiscausa-Transfers blieben in Unternehmerfamilien im 19. Jahrhundert bis über die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert hinaus dominant. Ein tiefer Bruch mit den von Goody (1976) und Gestrich (2003) vorgestellten Vererbungsmodi in ländlichen Gesellschaften kann für die Familie des Fallbeispiels nicht in Bezug auf das Senioritätsprinzip, jedoch auf die Stellung der Witwen im Familiensystem festgestellt werden. Autorität und Sicherheit behielten sich die Senioren vor. Die Substanz wurde lange Zeit erst im zweiten Erbgang umverteilt.527 Die Tatsache, dass der Hauptbestandteil des Vermögens in den einzelnen Familienstämmen über die dritte Generation hinaus im Unternehmen gebunden war, verdeutlicht, dass eine Post-mortem-Kooperation innerhalb der Erbengemeinschaft, sei es nach dem Vater oder der Mutter notwendig war. Die stete Reinvestition in das Unternehmen, einerseits begrüßenswert, führte auf der anderen Seite dazu, dass eine Vermögensmasse zur Abfindung von Ansprüchen außerhalb der im Familienunternehmen gebundenen, nicht vorhanden war. Wie das institutionelle Arrangement im Einzelnen aussah und wie viel es kostete, hing von der Folge der Erbfälle innerhalb der Unternehmerehe ab. Hinsichtlich der Rechtsnachfolge und der Folgen auf die Unternehmensfinanzierung durch Kapitalrückfluss der weichenden Erben sind vier Varianten zu nennen, die in Tabelle 11 für die Erbfälle der Gesellschafter im Zeitraum von 1815 bis 1906 zusammengefasst sind: erstens die Witwen-Lösung (Fall Witwe Engelbert, Buchholz und Albert I), die bis 1894 von Vertrags wegen die Rechtsnachfolge im Unternehmen antreten konnten. Dies führte zu einer Regentschaft auf Zeit und einer Verteilung der Vermögensmasse, die sich zeitlich in die Zukunft bis zum Erbfall nach der Witwe verschob.

527 Vgl. Goody: Introduction (1978), S. 2 f.; zu dem Senioritätsprinzip und seiner Begünstitung durch das Linearsystem ders., Inheritance, Property and Women: Some Comparative Considerations, in: ders./Thirsk/Thompson (Hg.): Family and Inheritance (1976), S. 10–36, S. 11, 25; Gestrich: Neuzeit (2003), S. 399.

219

4.3 Ergebniszusammenfassung

Tab. 11:

Kapitalrückfluss des ursprünglichen Anteils bei JW & S und Veränderung der Kapitalstruktur 1815–1906

Todesjahr

Gesellschafter

Rückfluss ins FK-JW & S nach dem Erbfall

langfristiges FK (total) über Abzugsfrist hinaus

Rückfluss ins EK-JW &S

1815

JAH sen.



– (n. b.)

100,00 % (für H & H)

40,00 %

1824

JAH jr.



1838

Anna

3,00 %

1850

Engelbert



1850

J. Buchholz

1854

Rückfluss ins EK-HP & Cie

Rückfluss ins EK-H &C



100,00 %





90,00 %







100,00 %







100,00 %



F. W. Hasenclever

56,00 %

56,00 %