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German Pages 352 Year 2011
Schriften zum Prozessrecht Band 222
Die Entwicklung des Ministerio Público Fiscal in Argentinien
Von David Kühn
Duncker & Humblot · Berlin
DAVID KÜHN
Die Entwicklung des Ministerio Público Fiscal in Argentinien
Schriften zum Prozessrecht Band 222
Die Entwicklung des Ministerio Público Fiscal in Argentinien Der staatliche Ankläger als Bindeglied zwischen Inquisitionsprozess und adversatorischem Verfahren
Von David Kühn
Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Universität Bremen hat diese Arbeit im Sommersemester 2010 als Dissertation angenommen.
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Fremddatenübernahme: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0219 ISBN 978-3-428-13411-3 (Print) ISBN 978-3-428-53411-1 (E-Book) ISBN 978-3-428-83411-2 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Meinem Vater Dr. Joachim Kühn gewidmet
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2010 von der Juristischen Fakultät der Universität Bremen als Dissertation angenommen. Für die Druck fassung konnten Rechtsprechung und Literatur aus Deutschland bis Oktober 2010, aus Argentinien bis April 2008 berücksichtigt werden. Besonders danken möchte ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Felix Herzog für seine fachlich wie auch menschlich ausgezeichnete Betreuung sowie der Zweit gutachterin Frau Prof. Dr. Edda Weßlau für ihr großes Interesse an meiner Arbeit. Dank schulde ich außerdem Herrn Dr. Roman Hamel für die Durchsicht der Ar beit und für fruchtbare Diskussionen während ihres Entstehungsprozesses, den Mitarbeitern der Bibliothek des Ibero-Amerikanischen Instituts Berlin für ihre stets freundliche und kompetente Hilfe sowie insbesondere auch dem Deutschen Akademischen Austauschdienst für die großzügige finanzielle Unterstützung eines Forschungsaufenthalts in Argentinien. Für die wundervolle Aufnahme und Unterstützung, die ich in Argentinien erfah ren habe, bin ich einer Vielzahl von Freunden und Kollegen zu großem Dank ver pflichtet. Danken möchte ich hier ausdrücklich den Dres. Martín Aldao, Alberto Bovino, Gustavo Bruzzone, Fernando Díaz Cantón, Abelardo Levaggi, Adrián Marchisio, Esteban Righi, Maximiliano Rusconi und Leticia Vita, die mir viele wertvolle Informationen zuteil werden ließen, Prof. Dr. Daniel Pastor für die Auf nahme in sein hochinteressantes Strafrechtsseminar und Dr. Carlos Cárcova sowie allen Mitarbeitern des Instituto de Investigaciones Jurídicas y Sociales Ambrosio L. Gioja der Universität Buenos Aires für die Möglichkeit, die dortigen hervorra genden Arbeitsbedingungen zu nutzen. Schließlich möchte ich meinen Eltern meinen tief empfundenen Dank ausspre chen. Ohne ihre immerwährende Unterstützung wäre die Entstehung dieser Arbeit nicht möglich gewesen. Köln, im Oktober 2010
David Kühn
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
1. Kapitel
Die Ausgestaltung der Figur des staatlichen Anklägers als Systemfrage
23
A. Adversatorisches Verfahren und Inquisitionsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 I. Der Ursprung des Strafprozesses: Das adversatorische Verfahren . . . . . . . . . . . . 23 II. Die Verstaatlichung des Strafverfahrens: Der Inquisitionsprozess . . . . . . . . . . . . 25 III. Die systematische Unterscheidung: Zwei Modelle der Wahrheitsfindung . . . . . . 27 B. Die moderne Form der Verfahrenssysteme und die Integration des staatlichen Anklägers 28 I. Die Integration des staatlichen Anklägers in die adversatorische Verfahrensstruk tur: Das verstaatlichte Parteiverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 II. Die Integration des staatlichen Anklägers in die inquisitorische Verfahrensstruk tur: Der reformierte Inquisitionsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 III. Der Staatsanwalt als Bindeglied zwischen den Verfahrenstypen . . . . . . . . . . . . . 40
2. Kapitel
Die Ankunft kontinentaleuropäischen und U. S.-amerikanischen Rechts in Argentinien
43
A. Die Verwurzelung des Inquisitionsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 I. Entstehung des derecho indiano und Transplantation des kastilischen Inquisi tionsprozesses nach Südamerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 II. Die Organisation der Fiskale in den Indias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 III. Die Stellung des amerikanischen Fiskals im gemeinrechtlichen Inquisitions prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 1. Die Entwicklung des Fiskals zum öffentlichen Ankläger im Strafverfahren . . 54 2. Vorverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 3. Hauptverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 4. Rechtsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 IV. Zusammenfassung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
10
Inhaltsverzeichnis
B. Die argentinische Verfassung von 1853/1860 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 I. Entstehungsgeschichte und Grundzüge der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 II. Verfassungsvorgaben zur Organisation der Staatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . 67 1. Die Trennung zwischen Bundes- und Provinzgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . 67 2. Die Einordnung der Staatsanwaltschaft in das Verfassungsgefüge . . . . . . . . . . 68 3. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 III. Verfassungsvorgaben zur Stellung der Staatsanwaltschaft im Verfahren . . . . . . . 70 IV. Zusammenfassung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
3. Kapitel
Die Entscheidung für den Inquisitionsprozess
76
A. Das U. S.-amerikanische Modell: Der Entwurf González/De la Plaza von 1873 . . . . 76 I. Entstehungsgeschichte und Grundzüge des Entwurfs González/De la Plaza . . . . 76 II. Die Stellung der Staatsanwaltschaft im Verfahren des Entwurfs González/De la Plaza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 1. Die Verstaatlichung der Anklagefunktion im Entwurf González/De la Plaza . 82 2. Vorverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 3. Zwischenverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 4. Hauptverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 5. Rechtsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 III. Zusammenfassung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 B. Das spanische Modell: Die Bundesstrafverfahrensordnung von 1889 . . . . . . . . . . . . 98 I. Entstehungsgeschichte und Grundzüge der Bundesstrafverfahrensordnung von 1889 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 II. Die Organisation der neugeschaffenen Bundesstaatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . 104 1. Entstehung der Bundesgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 2. Amtsträger der Bundesstaatsanwaltschaft nach den Bundesgesetzen Nr. 27 vom 16.10.1862, Nr. 43 vom 26.8.1863, Nr. 1893 vom 12.11.1886, Nr. 2372 vom 16.10.1888 (CPPN 1889), Nr. 4055 vom 11.01.1902 und Nr. 7099 vom 27.09.1910 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 3. Die interne Struktur der Bundesstaatsanwaltschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 4. Die Einordnung der Bundesstaatsanwaltschaft in das Staatsgefüge als Ganzes 110 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 III. Die Stellung der Staatsanwaltschaft im Verfahren des CPPN (1889) . . . . . . . . . . 124 1. Die Einführung des Anklagegrundsatzes in den argentinischen Inquisitions prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
Inhaltsverzeichnis
11
2. Vorverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 3. Hauptverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 a) Die Entscheidung über die Anklageerhebung und ihre Überprüfung . . . . . 127 b) Entscheidungsmaßstab des Fiskals: Das Legalitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . 129 c) Die Hauptverhandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 4. Rechtsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 IV. Zusammenfassung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135
4. Kapitel
Die Rezeption kontinentaleuropäischer Reformen des Inquisitionsprozesses
138
A. Das italienische Modell: Die Strafverfahrensordnung der Provinz Córdoba von 1940 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 I. Entstehungsgeschichte und Grundzüge des CPP Córdoba (1940) . . . . . . . . . . . . 138 II. Die Organisation der Staatsanwaltschaft in der Provinz Córdoba . . . . . . . . . . . . 144 1. Amtsträger der Staatsanwaltschaft in der Provinz Córdoba . . . . . . . . . . . . . . . 144 2. Die interne Struktur der Staatsanwaltschaft in der Provinz Córdoba . . . . . . . . 146 3. Die Einordnung der Staatsanwaltschaft in der Provinz Córdoba in das Staats gefüge als Ganzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 III. Die Stellung der Staatsanwaltschaft im Verfahren des CPP Córdoba (1940) . . . . 153 1. Vorverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 2. Hauptverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 3. Rechtsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 IV. Zusammenfassung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 B. Das deutsch-italienische Modell: Der „Entwurf Maier“ von 1986 . . . . . . . . . . . . . . . 169 I. Entstehungsgeschichte und Grundzüge des Entwurfs Maier . . . . . . . . . . . . . . . . 169 II. Die Organisation der Bundesstaatsanwaltschaft nach dem VE Maier Org. . . . . . 176 1. Amtsträger der Bundesstaatsanwaltschaft nach dem VE Maier Org. . . . . . . . . 176 2. Die interne Struktur der Bundesstaatsanwaltschaft nach dem VE Maier Org. . 178 3. Die Stellung der Bundesstaatsanwaltschaft im Staatsgefüge als Ganzes nach dem VE Maier Org. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 III. Die Stellung der Staatsanwaltschaft im Verfahren des Entwurfs Maier . . . . . . . . 184 1. Vorverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 2. Zwischenverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
12
Inhaltsverzeichnis 3. Das abgekürzte Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 4. Hauptverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 5. Rechtsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 IV. Zusammenfassung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
5. Kapitel
Der formale Anklagegrundsatz in der Krise und ein eigener Weg
206
A. Die Bundesstrafverfahrensordnung von 1992 und ihre Weiterentwicklung . . . . . . . . 206 I. Entstehungsgeschichte und Grundzüge des CPPN (1992) sowie der Verfassungs reform von 1994 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 II. Die organisatorische Reform der Bundesstaatsanwaltschaft im Zuge der Ver fassungsreform des Jahres 1994 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 1. Amtsträger der Bundesstaatsanwaltschaft nach der argentinischen Bundes verfassung vom 22.08.1994, Bundesgesetz Nr. 23.984 vom 04.09.1991 (CPPN 1992) sowie Bundesgesetz Nr. 24.946 vom 11.03.1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 2. Die interne Struktur der Bundesstaatsanwaltschaft nach dem ley org.MP (1998) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 3. Die Stellung der Bundesstaatsanwaltschaft im Staatsgefüge als Ganzes nach Art. 120 CN sowie dem ley org.MP (1998) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 III. Die Stellung der Staatsanwaltschaft im Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 1. Vorverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 a) Einleitung des Vorverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 b) Durchführung der Ermittlungen durch den Staatsanwalt, Art. 196 CPPN (1992) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 c) Die nachträgliche Ausweitung der staatsanwaltlichen Ermittlungsbefugnisse 234 d) Das Verhältnis des ermittelnden Staatsanwalts zur Polizei . . . . . . . . . . . . . 245 e) Der Abschluss des Vorverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 f) Entscheidungsmaßstab des Fiskals: Legalität und Opportunität . . . . . . . . . 258 2. Hauptverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 3. Rechtsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 IV. Zusammenfassung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 B. Der „Entwurf Beraldi“ von 2007 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 I. Entstehungsgeschichte und Grundzüge des Entwurfs Beraldi . . . . . . . . . . . . . . . 299 II. Die Organisation der Bundesstaatsanwaltschaft nach dem VE Beraldi Org. . . . . 303 1. Die Amtsträger der Bundesstaatsanwaltschaft nach dem VE Beraldi Org. . . . 303
Inhaltsverzeichnis
13
2. Die interne Struktur der Bundesstaatsanwaltschaft nach dem VE Beraldi Org. 304 3. Die Stellung der Bundesstaatsanwaltschaft im Staatsgefüge als Ganzes nach dem VE Beraldi Org. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 III. Die Stellung der Staatsanwaltschaft im Verfahren des Entwurfs Beraldi . . . . . . . 308 1. Vorverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 a) Staatsanwalt als Herr des Vorverfahrens, Ermittlungsrichter mit Garantie funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 b) Kontrolle der Abschlussverfügung des Staatsanwalts . . . . . . . . . . . . . . . . . 310 c) Entscheidungsmaßstab des Fiskals: Legalität und Opportunität . . . . . . . . . 311 2. Zwischenverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 3. Hauptverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 4. Rechtsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 IV. Zusammenfassung und Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 Schlussbetrachtung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348
Einleitung Die Ausübung der Strafgewalt ist die intensivste Form eines staatlichen Ein griffs, Freiheit oder gar Leben des Angeklagten sind bedroht. Entsprechend ist der Strafprozess der Inbegriff staatlicher Machtausübung.1 Nirgendwo hat die Selbst bindung des Staates durch das Recht, welche ihn als Rechtsstaat auszeichnet2, eine größere Bedeutung für das Individuum als hier. Der Strafprozess ist Ausdruck die ser Selbstbindung des Staates. Er wendet seine Machtbefugnisse nicht willkürlich und ungehemmt an, sondern führt in jedem Einzelfall ein Verfahren nach festge schriebenen und nachprüfbaren Regeln durch, um objektiv festzustellen, ob die Voraussetzungen für die Verhängung der im materiellen Strafrecht vorgeschriebe nen Sanktionen vorliegen. Um das Ziel einer gleichmäßigen und objektiven Anwendung des Strafrechts zu erreichen, spaltet sich die Staatsmacht im modernen Strafprozess funktional und personell in das Gericht und den Staatsanwalt auf. Die Bedeutung der Staats anwaltschaft als vom Gericht unabhängige staatliche Anklagebehörde ist dabei trotz ihrer erst jungen Geschichte3 kaum hoch genug einzuschätzen. Ist alle Staats gewalt in der Figur eines anklagenden und urteilenden Richters vereint, wird die Selbstbindung des Staates gegenüber dem Individuum praktisch zur Makulatur, da der Beschuldigte einem Staatsvertreter ausgeliefert ist, welcher zwar gewissen for malen Zwängen unterliegt, im Übrigen aber ungehindert und ohne Kontrolle die ihm verliehenen Befugnisse wahrnimmt.4 Beschränkt sich der Staat dagegen von vornherein allein auf die Urteilsfunktion und wartet darauf, dass die Bürger erlit
1
2
Gössel, GA 1980, S. 325 ff. (328): „Machtausübung par excellence“. Maurer, Staatsrecht I, S. 206; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 134. 3 Siehe für den kontinentaleuropäischen Rechtskreis bspw.: Deutschland: Carsten, Die Ge schichte der Staatsanwaltschaft in Deutschland bis zur Gegenwart (1932); Wohlers, Entstehung und Funktion der Staatsanwaltschaft (1994); Frankreich: Sättler, Die Entwicklung der franzö sischen Staatsanwaltschaft (1956); Spanien: Marchena Gómez, El Ministerio Fiscal: Su pasado y su futuro (1992); Volkmann-Schluck, Der spanische Strafprozess zwischen Inquisitions- und Parteiverfahren (1979). Siehe für den anglo-amerikanischen Rechtskreis bspw.: USA: Shoemaker, in: Durand u. a. (Hrsg.), Staatsanwaltschaft- Europäische und amerikanische Geschichten (2005), S. 339–355; Schottland: Buchholz, Der Staatsanwalt im schottischen Recht (1990); in England existiert die Staatsanwaltschaft in ihrer heutigen Form sogar erst seit 1985, vgl. Ashworth/Redmayne, The Criminal Process (2005); Bland, in: Eser (Hrsg.), Strafjustiz im Spannungsfeld von Effizienz und Fairness (2004), S. 91–97. 4 Zum Problem der Vereinigung von Anklage- und Urteilsfunktion im kontinentaleuropä ischen Inquisitionsprozess vgl. E. Schmidt, Dt. Strafprozessrecht, S. 24; ders., Lehrkommentar StPO und GVG Bd. 1, S. 78: psychologische Überforderung des Richters, dem erster Angriff, Verdachtsermittlung und Schuldfeststellung obliegen.
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Einleitung
tene Rechtsverletzungen im Klagewege an ihn herantragen, so kann er den An spruch einer gleichmäßigen Strafverfolgung nicht aufrechterhalten, da eine große Anzahl von Straftaten mangels Kläger nie zu seiner Kenntnis gelangt und unge sühnt bleibt.5 Die Figur des staatlichen Anklägers ist also notwendig, damit die Strafverfolgung einerseits nicht zu lückenhaft, andererseits aber auch nicht exzes siv und unkontrolliert stattfindet. Trotz der heute allgemein anerkannten Unentbehrlichkeit des Staatsanwalts für das Strafverfahren ist allerdings keineswegs geklärt, was seine genaue Aufgaben stellung ist, wie also die Aufspaltung der Staatsgewalt im Strafprozess eigent lich im Einzelnen aussehen soll. Schaut man auf die drei wesentlichen Beteilig ten eines modernen Strafverfahrens, den Staatsanwalt, den Beschuldigten und das Gericht, so lässt sich zumindest für die beiden Letzteren eine klare Rollenvertei lung ausmachen. Das Gericht, ob aktiv inquirierender Rechtsgelehrter oder weit gehend passive zwölfköpfige Laienjury, hat als unparteilicher Dritter objektiv nach Recht und Gesetz über den ihm vorliegenden Sachverhalt zu entscheiden. Umge kehrt wird man niemals eine vergleichbare Objektivität vom Beschuldigten verlan gen, der seine ureigensten Interessen von der Anwendung des materiellen Straf rechts bedroht sieht und sich dagegen verteidigt. Für den Staatsanwalt lässt sich dagegen nicht einmal seine grundsätzliche Rolle so einfach definieren. Unzwei felhaft ist, dass er als vom Gericht unabhängiges Staatsorgan die Anklage zu ver treten hat. Ob dies aber impliziert, dass er als Gegenspieler der Verteidigung auf einer Ebene mit dieser einseitig das Anklageinteresse vertritt, oder ob er nicht viel mehr als Vertreter des Staates wie das Gericht objektiv zu sein hat und eher diesem gleichzustellen ist, schon darüber bestehen vollkommen verschiedene Vorstellun gen. Die beiden großen Strafverfahrenssysteme in der Rechtsfamilie der westli chen Welt6, das im angloamerikanischen Raum verbreitete adversatorische Ver fahren und der aus Kontinentaleuropa stammende reformierte Inquisitionsprozess, verfolgen hierzu entgegengesetzte Ansätze. Während im adversatorischen Verfah ren die Vorstellung vom Staatsanwalt als einseitigem Ankläger verwirklicht ist, soll er im reformierten Inquisitionsprozess als objektiver Gesetzeswächter7 das 5 Die institutionelle Ausgestaltung der staatlichen Pflicht, die Begehung von Straftaten zu untersuchen und vor Gericht zu bringen, ist demgegenüber eine Errungenschaft des Inquisi tionsprozesses, vgl. Ignor, Geschichte, S. 17 f. Auch in Verfahrensordnungen, die ursprünglich keinen staatlichen Ankläger kannten, hat sich heute weitgehend die Erkenntnis durchgesetzt, dass er für eine gleichmäßige Strafverfolgung unerlässlich ist. Siehe etwa für England Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 174 ff. 6 René David, der den Begriff der Rechtsfamilie geprägt hat, unterscheidet noch zwischen der römisch-germanischen Rechtsfamilie sowie derjenigen des common law, meint aber auch, dass diese beiden Familien sich in einer „großen Familie der abendländischen Rechtsordnun gen“ zusammenfassen lassen, vgl. ders., Einführung in die Rechtssysteme der Gegenwart, S. 24. Auf die Stellung der Staatsanwaltschaft innerhalb dieser großen Rechtsfamilie soll sich die folgende Darstellung beschränken. 7 Zum Ursprung der Bezeichnung des Staatsanwalts als „Wächter des Gesetzes“, die auf die preußischen Justizminister Savigny und Uhden zurückgeht, vgl. Gössel, GA 1980, S. 325 ff. (326).
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Gericht kontrollieren. Die unterschiedliche Einordnung der Staatsanwaltschaft auf der Ebene des Beschuldigten bzw. des Gerichts ergibt sich aus dem jeweiligen Ver ständnis der Art und Weise, wie der Staat sein Strafmonopol durchsetzt. Besteht das adversatorische Strafverfahren aus einem Konflikt entgegengesetzter Interes sen, welchen das Urteilsorgan als eine Art Schiedsrichter zu lösen hat, so ist der Inquisitionsprozess eine einseitige Machtausübung des Staates, der von sich aus aktiv untersucht, ob die Voraussetzungen für die Verhängung einer Strafe vorlie gen.8 Die Rolle des Staatsanwalts im Strafverfahren ist also keineswegs vorgege ben, sie wirft vielmehr Grundfragen darüber auf, wie der Staat sein schärfstes Ein griffsrecht in die Rechtsgüter seiner Bürger, die Strafgewalt, wahrnimmt. Schon dieser kurze Überblick macht die Berechtigung der Aussage des spanischen Straf rechtsexperten Aragoneses deutlich, wonach der Staatsanwalt die komplexeste Fi gur im Strafprozess ist und ihre Einrichtung sowohl auf organisatorischer als auch funktionaler Ebene die größten Probleme bereitet.9 In Deutschland wird die Frage nach der Stellung des Staatsanwalts im Straf prozess heute dennoch praktisch nicht diskutiert. Die großen Kämpfe um die Ausgestaltung der Staatsanwaltschaft und des Strafverfahrens insgesamt wurden in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ausgefochten und mit der 1879 in Kraft getretenen Reichsstrafprozessordnung zu Gunsten des reformier ten Inquisitionsprozesses entschieden.10 Wie sehr sich seitdem das aus diesem Prozesstyp resultierende Verständnis des Staatsanwalts als Gesetzeswächter ver festigt hat, zeigt sich darin, dass die Staatsanwaltschaft gern und häufig als „ob jektivste Behörde der Welt“ bezeichnet wird.11 Erst in jüngster Zeit wird die Rolle des staatlichen Anklägers wieder vereinzelt hinterfragt, was nicht zuletzt mit der Entwicklung des internationalen Verfahrensrechts und dem damit verbundenen Vergleich zwischen den verschiedenen strafprozessualen Systemen zusammen hängen dürfte.12 Die weitgehend fehlende Beschäftigung mit diesem Thema ist 8 Siehe dazu Langer, Harvard International Law Journal 45 (2004), S. 1 ff. (4) sowie aus führlich unten 1. Kapitel. 9 Aragoneses, Instituciones, S. 103. 10 Vgl. zum Streit um die Reform des deutschen Strafverfahrens und die Ausgestaltung der Staatsanwaltschaft die Zusammenfassungen bei Carsten, Geschichte, S. 15 ff. und Meckbach, Inquisitionsrichter, S. 69 ff. 11 Vgl. Wagner, JZ 1974, S. 212 ff. (212), der von einem „geflügelten Wort“ spricht. 12 Zu nennen ist hier insbesondere der Aufsatz von Kelker, ZStW 118 (2006), S. 389 ff., die im Ergebnis aber wiederum die gegenwärtige Stellung des deutschen Staatsanwalts als Geset zeswächter verteidigt. Ausgesprochen interessant ist auch die Arbeit von Haas, der die Kon struktion des deutschen Strafprozesses grundlegend hinterfragt und im Kern zu dem Ergeb nis gelangt, dass die inquirierende Tätigkeit des Gerichts in der Hauptverhandlung gegen die Rechtsweggarantie des deutschen Grundgesetzes verstoße, da sie exekutivische Tätigkeit sei, die ihrerseits keiner Überprüfung durch einen neutralen Dritten zugänglich gemacht werde. Daraus folgert Haas, dass es verfassungsrechtlich geboten sei, die Untersuchungsfunktion voll ständig auf die Staatsanwaltschaft zu übertragen und das Gericht in der Hauptverhandlung auf die Überprüfung der Rechtmäßigkeit des staatsanwaltlichen Strafantrags zu beschränken. Vgl. dazu Haas, Strafbegriff, S. 409 ff., 421 ff.
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bedauerlich, nicht nur weil die Entscheidung für die jetzige Ausgestaltung der deutschen Staatsanwaltschaft keineswegs vorrangig rechtsstaatlich motiviert war13, sondern vor allem weil in den letzten Jahrzehnten eine Entwicklung des Straf verfahrensrechts stattgefunden hat, die zur damaligen Zeit in keiner Weise ab sehbar war. Das letztlich auf praktische Zwänge rückführbare zunehmende Ein dringen von Zweckmäßigkeitserwägungen und konsensualen Erledigungsformen in den deutschen Strafprozess hat zu einer Krise des gegenwärtigen Systems ge führt und macht die Neubewertung bestehender Dogmen erforderlich.14 Gerade die Figur des Staatsanwalts, der heute mittels seiner umfangreichen Einstellungs befugnisse einen Großteil der Verfahren bereits im Vorverfahren ausfiltert15 und auch danach noch die Wahrheitsfindung durch Absprachen mit dem Beschuldigten nahezu ersetzen kann, hat faktisch bereits einen entscheidenden Wandel durch gemacht.16 Es lohnt sich vor diesem Hintergrund ein Blick ins Ausland, denn in anderen Teilen der Welt wird auch heute noch über die Ausrichtung des Strafverfahrens im Allgemeinen und der Staatsanwaltschaft im Besonderen genauso umfassend dis kutiert wie im Deutschland des neunzehnten Jahrhunderts. Ein besonders bedeut samer Reformprozess mit dem Ziel einer fundamentalen Erneuerung des Straf verfahrens findet seit einiger Zeit in Lateinamerika statt. Das Strafverfahrensrecht dieser Region ist traditionell kontinentaleuropäisch geprägt, mit der Kolonisation durch Spanien und Portugal gelangte der Inquisitionsprozess auch auf den ameri kanischen Kontinent. Ganz anders als in seinen Mutterländern, wo nach der Fran zösischen Revolution der reformierte Inquisitionsprozess entstand, sah sich der gemeinrechtliche Prozessgang in Amerika aber keiner grundsätzlichen Umgestal tung ausgesetzt. Kaum beeinflusst durch die Weiterentwicklung des Strafverfah rensrechts in der übrigen Welt, blieb er in seinen wesentlichen Zügen bis in die neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts oder gar bis in das neue Jahrtausend bestehen. In den letzten Jahrzehnten bemühen sich die Gesetzgeber in den Staaten
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Vgl. Collin, Wächter des Gesetzes, S. 405 f., 414 f., der nachweist, dass die preußische Re gierung mit der Schaffung der Staatsanwaltschaft den Zweck verfolgte, verlorengegangenen Einfluss auf den Strafprozess zurückzugewinnen. Entsprechend vertrat das vom Justizministe rium gelenkte Anklageorgan gezielt Regierungsinteressen, rechtfertigte aber gleichzeitig seine überlegene Stellung noch damit, dass es, anders als die Verteidigung als Partei, objektiv sei. Auch heute ist die Weisungsbindung der Staatsanwaltschaft an die Exekutive nicht vollkom men unproblematisch. Es gibt eine Reihe von Beispielen aus jüngerer Vergangenheit, wo Wei sungen an die Staatsanwaltschaft ergingen, deren Motivation wenigstens zweifelhaft ist, vgl. die ausführlichen Aufzählungen bei Knobloch, Legalität, S. 22–27 sowie bei Krebs, Weisungs gebundenheit, S. 269 ff. 14 Schünemann, in: Arzt u. a. (Hrsg.), FS Baumann, S. 365 ff.; Wohlers, Staatsanwaltschaft, S. 302 f.; Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 104 ff., 140 f. 15 Siehe dazu die recht aktuellen Zahlen bei Dengler, Kontrolle, S. 17 f. 16 Vgl. Kühne, Strafprozessrecht, S. 100 f., der eine mangelnde Objektivität der deutschen Staatsanwaltschaft in der Praxis und eine damit einhergehende Abfälschung des deutschen Strafprozessrechts in Richtung eines Parteiprozesses angloamerikanischer Prägung beklagt.
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Lateinamerikas allerdings, diesen Rückstand aufzuholen, und orientieren sich da bei ausgiebig an ausländischen Vorbildern.17 Die Dynamik dieser Reformbewe gung bietet ihnen die Chance, über das in Europa Erreichte hinauszugehen und die neuesten Erkenntnisse der internationalen Rechtswissenschaft für sich nutzbar zu machen, um ein Verfahren zu schaffen, das die derzeit bestmögliche Synthese aus Effektivität und Rechtsstaatlichkeit bietet. Von besonderem Interesse ist hier das Strafverfahrensrecht Argentiniens, wel ches allerdings von deutscher Seite bisher nur sehr beschränkt Beachtung erfah ren hat.18 Das nach Brasilien zweitgrößte Land Südamerikas ist wahrscheinlich dasjenige mit den stärksten kulturellen Bindungen zu Europa.19 Das von den spa nischen Kolonialherren eingeführte Inquisitionsverfahren ist tief in der Rechtstra dition des Landes verwurzelt. Argentinische Rechtswissenschaftler haben auch bei ihren vorsichtigen Reformversuchen des Strafverfahrensrechts von jeher enge Kontakte nach Kontinentaleuropa, nicht zuletzt nach Deutschland, gepflegt.20 Es verwundert daher nicht, dass das kontinentaleuropäische Verständnis des Straf prozesses und der Staatsanwaltschaft bis heute in Argentinien eine dominante
17 Siehe dazu die umfangreiche von Maier, Ambos und Woischnik herausgegebene Unter suchung „Las Reformas Procesales Penales en América Latina“ aus dem Jahr 2000. Einen Überblick in deutscher Sprache zu den Strafverfahrensrechtsreformen in Lateinamerika bieten Ambos/Woischnik, ZStW 113 (2001), S. 334 ff. 18 Hier ist vor allem die Dissertation Woischniks mit dem Titel „Untersuchungsrichter und Beschuldigtenrechte in Argentinien“ aus dem Jahr 2001 zu nennen, in welcher er die Stellung des Untersuchungsrichters in der argentinischen Bundesstrafverfahrensordnung von 1992 un tersucht. Daneben existieren in deutscher Sprache nur noch einige kleinere Beiträge in Zeitund Festschriften, vgl. Levene (h.), Reformprobleme des argentinischen Strafprozessrechts, ZStW 84 (1972), S. 480–496; Schöne, Zur Strafprozessreform in Argentinien, in: Dornseifer u. a. (Hrsg.), GS A. Kaufmann, S. 795–817; Gropengießer, Die neue argentinische Bundes strafprozessordnung, ZStW 105 (1993), S. 169–203; Maier, Kleine Geschichte der Strafrechts pflege Argentiniens, in: Dölling (Hrsg.), FS Gössel, S. 697–708. 19 Lewis, History, S. 1 ff., 6 f. 20 Bspw. veranstaltete der Schöpfer der gegenwärtigen argentinischen Bundesstrafprozess ordnung aus dem Jahre 1992, Ricardo Levene (h.), bereits 1971 gemeinsam mit dem damali gen Freiburger Strafrechtsprofessor Hans-Heinrich Jescheck ein Seminar zum „strafrechtli chen Rechtsfolgensystem in Lateinamerika“ und hielt an der genannten Universität am 2. Juli 1971 einen Vortrag zu den Reformproblemen des argentinischen Strafprozessrechts, siehe dazu Levene (h.), ZStW 84 (1972), S. 480 ff. (480). Der Urheber des der Vorlage Levenes (h.) unter legenen Entwurfs, J. B. J. Maier, verbrachte gar einen anderthalbjährigen Studienaufenthalt in München und verfasste nach seiner Rückkehr im Jahre 1966 eine Monographie, in der er das argentinische Strafverfahren mit der deutschen Strafprozessordnung verglich. Vgl. Maier, La Ordenanza Procesal Penal Alemana (1978). Zu Maiers Studienaufenthalt siehe sein Vorwort. Die Stellung des Staatsanwalts im Entwurf Maiers war dem deutschen Vorbild nahezu vollstän dig nachempfunden. Auf diesen Entwurf geht auch die Modellstrafprozessordnung für Ibero amerika (Código Procesal Penal modelo para Iberoamérica) aus dem Jahre 1988 zurück, wel che Vorbild für eine Vielzahl von darauffolgenden Reformen war (vgl. dazu Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 424) und auf diese Weise deutsche Einflüsse im lateinamerikanischen Verfahrensrecht verbreitete.
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Stellung einnimmt.21 Allerdings bestehen auch enge Verbindungen zum geogra phisch deutlich näher gelegenen U. S.-amerikanischen Rechtsraum, die noch aus der Zeit des Unabhängigkeitskampfes herrühren, als es in Argentinien starke Be strebungen gab, sich von der kontinentaleuropäischen Kolonialmacht Spanien ab zugrenzen, und dabei Anleihen beim Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika genommen wurden. So ist die im Jahre 1853 entstandene argentinische Bundes verfassung, welche heute noch gilt, nach U. S.-amerikanischem Vorbild gestaltet.22 Es durchzieht sie ein liberaler Geist, der sich in Bezug auf den Strafprozess darin manifestiert, dass eine ganze Reihe von Beschuldigtengarantien vorgeschrieben werden, die mit dem Inquisitionsprozess in seiner klassischen Form nicht verein bar sind, mithin seine Reformierung verlangen. In die gleiche Richtung weisen die in ihrer Verbindlichkeit allerdings nicht unumstrittenen und bis heute auf Bun desebene nicht umgesetzten Verfassungsvorschriften, wonach der Strafprozess als Geschworenenverfahren durchgeführt und damit das Volk beteiligt werden soll.23 Zuletzt trägt indirekt zu einer Erneuerung des Strafverfahrens der verfassungs rechtlich verankerte Föderalismus bei, wonach nicht nur eine Bundesstrafverfah rensordnung besteht, sondern auch jede Provinz ihre eigene Prozessordnung er lassen kann. Dadurch ist innovativen, auf Bundesebene noch nicht konsensfähigen strafverfahrensrechtlichen Entwicklungen der Weg geebnet. Zunächst machten sich die angloamerikanischen Einflüsse im argentinischen Strafverfahrensrecht allerdings kaum bemerkbar, ein früher Versuch, ein Verfah ren nach U. S.-amerikanischem Vorbild zu etablieren, scheiterte. Dies führte zu einer erheblichen Diskrepanz zwischen den verfassungsrechtlichen Vorgaben und dem einfachen Recht, welches insbesondere auf Bundesebene sehr lange am klas sischen Inquisitionsprozess festhielt und nur sehr vorsichtig Parteielemente in das Strafverfahren integrierte. Die traditionellen, von einer Dominanz des Richters ge prägten Verfahrensweisen haben sich allerdings in der Praxis sowohl in Hinblick auf die Effektivität der Strafverfolgung als auch auf die Wahrung der Beschuldig tenrechte als unzureichend erwiesen, was Experten von einer schweren Krise des 21 Im Einzelnen wird dies Gegenstand der folgenden Darstellung sein, es sei nur voraus geschickt, dass die Strafprozessordnung der argentinischen Provinz Córdoba aus dem Jahre 1940, deren Grundstruktur noch immer das argentinische Strafverfahrensrecht bestimmt, in ih ren Motiven auf Vorbilder aus Italien, Spanien, Deutschland, Frankreich, Norwegen, Polen und der Schweiz verweist. 22 Zu den Quellen der Verfassung siehe Lorenzo, Manual Bd. 2, S. 251 ff. sowie die Darstel lung im 2. Kapitel, B. I. 23 Erst im Jahr 2004 schuf der Gesetzgeber der Provinz Córdoba als erster in Argentinien eine gesetzliche Grundlage für die Beteiligung von Laienrichtern am Strafverfahren, ohne da mit allerdings ein adversatorisches Verfahren angloamerikanischer Prägung anzustreben. Es entstanden lediglich nach den Vorbildern in Italien und Frankreich konzipierte Schöffenge richte [vgl. Harfuch, Nueva Doctrina Penal 2005-A, S. 309 ff. (310 f.)], was die Stellung der Staatsanwaltschaft im reformierten Inquisitionsprozess nicht grundlegend tangiert. Zur Durch führung des ersten Prozesses vor einem solchen Gericht im August 2005 siehe in deutscher Sprache den Artikel im Argentinischen Tageblatt vom 27.08.05.
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Systems sprechen lässt.24 Als Reaktion auf den als unbefriedigend erkannten Zu stand des argentinischen Strafprozesses hat sich in jüngerer Zeit eine große, Ge setzgeber, Rechtsprechung und Lehre mit einbeziehende Reformbewegung entwi ckelt, welche die Grundüberzeugungen des Inquisitionsprozesses in Frage stellt und eine eigenständige Mischung zwischen der bisherigen Verfahrensstruktur und dem angloamerikanischen adversatorischen Parteiprozess sucht. Aus den in die sem Rahmen geführten Diskussionen, bei denen vielfach die Rolle der Staats anwaltschaft im Mittelpunkt steht25, sind nicht nur eine Reihe einzelner Modifika tionen des bisherigen Verfahrens hervorgegangen, sondern im Jahr 2007 auch ein äußerst interessantes Projekt für eine völlig neuartige Bundesstrafverfahrensord nung, welches den aktuellen Erkenntnisstand zusammenfasst und für viele der ge genwärtigen Probleme eine überzeugende Lösung bieten könnte. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es nun, die Rolle des Staatsanwalts im argen tinischen Reformprozess näher zu beleuchten. Ausgangspunkt dieses Ansatzes ist die These, dass sich gerade in der Figur des staatlichen Anklägers in besonde rem Maße die Vermischung von adversatorischem und inquisitorischem Verfah ren, hier konkret die Integration von Parteielementen in den Inquisitionsprozess, manifestiert. Der Staatsanwalt, in beiden Verfahrenstypen überhaupt erst aus ihrer Annäherung aneinander entstanden, ist per se eine zwiespältige Gestalt, in der in quisitorische als auch adversatorische Elemente miteinander in Einklang gebracht werden müssen. Seine Ausprägungen als unparteilicher Gesetzeswächter oder aber als parteilicher Ankläger stellen dabei nur Idealtypen dar, in denen die inquisito rische bzw. adversatorische Verfahrenskonzeption jeweils stark dominiert. Tat sächlich weist die Stellung des Staatsanwalts häufig eine noch weitaus hetero genere Struktur auf, etwa wenn ihm in einer inquisitorischen Verfahrensstruktur zugestanden wird, bestimmte Entscheidungen aus Zweckmäßigkeitserwägungen heraus zu treffen. Es soll also untersucht werden, wie in den verschiedenen Sta dien der Entwicklung des argentinischen Strafverfahrens inquisitorische und ad versatorische Elemente in der Figur des Staatsanwalts aufeinandertreffen und sich dadurch die Verfahrenstypen vermischen. Dabei sollen soweit möglich auch die Motive für die jeweilige Ausgestaltung der Staatsanwaltschaft sowie ihre Aus wirkungen auf das Verfahrenssystem als Ganzes erörtert werden. Zu diesem Zweck ist zunächst kurz abstrakt herauszuarbeiten, was den adver satorischen bzw. den inquisitorischen Verfahrenstyp und die daraus resultierende Stellung des Staatsanwalts als Partei oder als Gesetzeswächter ausmacht, um über haupt definieren zu können, welche Elemente der staatsanwaltlichen Stellung sich auf das adversatorische und welche sich auf das inquisitorische Verfahrensver ständnis zurückführen lassen. Im weiteren Verlauf der Arbeit wird dann konkret die
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Maier, Proyecto, S. 654; Schöne, in: Dornseifer u. a. (Hrsg.), GS A. Kaufmann, S. 796; Woischnik, Untersuchungsrichter, S. 61; Darritchon, La Ley 1991-B, S. 720 ff. (720). 25 Vgl. etwa Levene (h.), ZStW 84 (1972), S. 480 ff. (486); Goranksy/Rusconi, Nueva Doctrina Penal 1999-A, S. 245 ff. (245).
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Entwicklung der argentinischen Staatsanwaltschaft, des sog. Ministerio Público Fiscal, untersucht, wobei allein schon aufgrund der Vielfalt des föderal strukturier ten argentinischen Verfahrensrechts naturgemäß kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden kann. Die Untersuchung konzentriert sich auf die wesentlichen Gesetzestexte bzw. Reformprojekte, d. h. vor allem auf das Bundesstrafverfah rensrecht26, und sieht ihren Schwerpunkt angesichts des oben beschriebenen Er kenntnisinteresses vor allem in der Frage der grundsätzlichen systematischen Ein ordnung des Staatsanwalts in das Strafverfahren und ihrer Implikationen. Zur Verdeutlichung des historischen Kontextes und der daraus resultierenden Motiva tion des Gesetzgebers wird den entsprechenden Gesetzen bzw. Gesetzesentwür fen darüber hinaus jeweils kurz ihre Entstehungsgeschichte vorangestellt. Andere Seiten der Figur des Staatsanwalts in Argentinien, etwa ebenfalls hochinteressante rechtstatsächliche Aspekte seiner konkreten Amtsausübung, werden demgegen über nur insoweit angesprochen, als sie mit den obengenannten Fragen in direk tem Zusammenhang stehen.
26 Das Bundesstrafverfahrensrecht hat nicht nur vielfach Vorbildfunktion für die Provin zen, sondern stellt auch praktisch die wichtigste strafprozessuale Rechtsquelle dar, weil es nach Art. 33 Nr. 1 c) der Bundesstrafverfahrensordnung von 1992 unter anderem für alle auf dem Gebiet der Bundeshauptstadt Buenos Aires begangenen Delikte, und damit für einen Großteil der in Argentinien begangenen Straftaten insgesamt, maßgeblich ist. Vgl. dazu schon Woischnik, Untersuchungsrichter, S. 11, 81 f.
1. Kapitel
Die Ausgestaltung der Figur des staatlichen Anklägers als Systemfrage 1. Kap.: Die Ausgestaltung der Figur des staatlichen Anklägers
A. Adversatorisches Verfahren und Inquisitionsprozess In der Rechtsfamilie der westlichen Welt27 haben sich zwei grundlegend unter schiedliche Verfahrenstypen herausgebildet, das adversatorische bzw. Parteiver fahren auf der einen und der Inquisitionsprozess auf der anderen Seite. I. Der Ursprung des Strafprozesses: Das adversatorische Verfahren
Die Wurzeln der heute in England und seinen ehemaligen Kolonien bestehen den adversatorischen Verfahrensstrukturen28 gehen bis in die Urzeit des Straf prozesses zurück. Die zunächst in Europa dominierenden Rechtsordnungen wa ren die des germanischen sowie des römischen Rechts, deren Strafverfahren noch ganz im Zeichen widerstreitender Individualinteressen standen. Die germanischen Stammesrechte, welche sich mit der Besiedlung Englands durch die germanischen Stämme der Angeln und Sachsen auch in England verbreiteten, kannten noch kei nen öffentlichen Strafprozess im heutigen Sinne. Die Ahndung eines Unrechts war Sache der Beteiligten, also des Verletzten und des Übeltäters sowie ihrer Sip pen- bzw. Stammesverbände. Entweder übten der Verletzte oder Angehörige sei nes Verbandes von sich aus Rache oder die Parteien schlossen einen Vertrag, in dem die zur Sühne des geschehenen Unrechts zu leistende Buße festgelegt wurde.
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„Die große Familie der abendländischen Rechtsordnungen“, David, Einführung, S. 24, vgl. auch schon oben Fn. 6. 28 Für die im Folgenden dargestellten Verfahrensstrukturen haben sich verschiedene Be zeichnungen eingebürgert. Vor allem unter Rechtshistorikern sowie im spanischsprachigen Rechtsraum wird vom akkusatorischen Verfahren (proceso acusatorio) gesprochen, vgl. Ignor, Geschichte, S. 43, Fn. 14 m. w. N.; Langer, in: Hendler (Hrsg.), garantías, S. 239 ff. Auf rechts vergleichender Ebene und im angloamerikanischen Raum wird diese Verfahrensform dage gen meist als adversatorisches Verfahren (adversarial process) bezeichnet, vgl. Trüg, Lösungs konvergenzen, S. 25 ff.; LaFave/Israel/King, Criminal Procedure, S. 31. Zur Klärung des ebenfalls möglichen, allerdings weiteren Begriffs des „Parteiverfahrens“ siehe die ausführ liche Darstellung Henkels in seinem Strafverfahrensrecht, S. 105 ff. In der vorliegenden Unter suchung soll die Bezeichnung als adversatorisches Verfahren bevorzugt werden, da sie treffend den Kern dieses Verfahrens, nämlich die Auseinandersetzung zwischen Anklage und Vertei digung, wiedergibt, dazu sogleich.
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1. Kap.: Die Ausgestaltung der Figur des staatlichen Anklägers
Auch in späteren Entwicklungsstufen des germanischen Stammesrechts, wo ein unparteiliches Gericht die Bußleistung festlegte, bestand das öffentliche Interesse ausschließlich darin, den Parteien zu ermöglichen, sich miteinander auszusöhnen, auf dass der Frieden nicht gestört werde.29 Entsprechend war der Verfahrensgang bis auf die Urteilsfindung auch allein Parteiangelegenheit, das Gericht blieb pas siv. Der Verletzte oder ein Angehöriger seiner Sippe musste das Verfahren in Gang bringen und auch die Erhebung von Beweisen oblag ausschließlich den Parteien. Neben dem Gottesurteil war dabei der Zweikampf hauptsächliches Beweismittel. Aus der Grundstruktur zweier widerstreitender Parteien entwickelten römische Ju risten schließlich den klassischen Schwurgerichtsprozess. Erhob ein Privatmann gegen einen anderen Klage, wurde diese vor einem Geschworenengericht verhan delt, indem beide Parteien jeweils ihre Sache argumentierten und entsprechende Beweise vorlegten. Anders als in den germanischen Stammesordnungen und im frühen römischen Zwölftafelrecht war allerdings auch die Popularklage zu lässig. Eine Straftat wurde nicht mehr als Privatsache, sondern als Verletzung der Gemeinschaftsinteressen verstanden, weshalb nicht nur der Verletzte selbst oder seine Angehörigen, sondern jeder Bürger sie mittels einer Klage verfolgen konnte.30 Auch wenn die körperliche Auseinandersetzung im Laufe der Zeit also einer verbalen wich und die Verhandlung zu einer öffentlichen Angelegenheit wurde, blieb der Widerstreit zwischen den Parteien das tragende Element des adversato rischen Verfahrens. Der Strafprozess wird danach als Lösung eines Konflikts zwi schen zwei Privaten verstanden.31 Er besteht im Kern aus einer mündlichen und öf fentlichen Debatte, in deren Rahmen Anklage und Verteidigung jeweils einseitig ihre Positionen vertreten und die entsprechenden Beweismittel beibringen. In der Reinform eines solchen Parteiprozesses gilt der Dispositionsgrundsatz, d. h. die Parteien können ihre Auseinandersetzung grundsätzlich auch ohne Mitwirkung des Gerichts beilegen, indem entweder der eine seine Anklage zurückzieht oder der andere, etwa aufgrund einer Absprache, ein Geständnis ablegt. Das Gericht setzt sich aus einem Kollegium von Bürgern als Vertretung der Gemeinschaft bzw. des Staates zusammen. Daneben oder ausnahmsweise auch stattdessen kann noch ein Berufsrichter agieren. Während der Debatte beschränkt sich das Urteilsorgan, unabhängig ob Laien- oder Berufsrichter, auf eine schiedsrichterliche Funktion. Ist anschließend ein Urteil erforderlich, entscheidet es über die Anklage, indem es die vorgebrachten Argumente gegeneinander abwägt.
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Zum germanischen Recht siehe E. Schmidt, Einführung § 29, S. 38 ff. Zum römischen Recht siehe Kunkel, Römische Rechtsgeschichte, S. 66 ff. 31 Zu den folgenden Grundzügen der adversatorischen Verfahrensstruktur vgl. Maier, De recho Procesal Penal Bd. 1, S. 444 ff.
A. Adversatorisches Verfahren und Inquisitionsprozess
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II. Die Verstaatlichung des Strafverfahrens: Der Inquisitionsprozess
Bis in das dreizehnte Jahrhundert hinein wurden Strafprozesse in Europa aus schließlich als adversatorische Verfahren abgewickelt. Zwischen dem dreizehnten und dem sechzehnten Jahrhundert fand dann aber in Kontinentaleuropa ein lang samer, ungleichmäßiger und mit Rückschlägen verbundener Wandel32 statt und die althergebrachten Verfahrensformen wurden nach und nach durch eine neue ab gelöst, den sog. Inquisitionsprozess. Die Ursprünge des Inquisitionsprozesses33 liegen offensichtlich in dem von Papst Innozenz III. eingeführten kirchlichen Disziplinarrecht, welches aus Prak tikabilitätsgründen das alte adversatorische römische Verfahren so modifizierte, dass die Kirchenoberen von sich aus die Wahrheit ermitteln konnten und muss ten, wenn sie von Verfehlungen ihrer Untergebenen erfuhren.34 Über das kanoni sche Recht gelangten diese neuartigen Verfahrensprinzipien zunächst im dreizehn ten Jahrhundert in das weltliche Recht Italiens. Dabei sind insbesondere die unter Friedrich II. entstandenen sizilianischen Kodifikationen von Melfi aus dem Jahre 1231 sowie die Statuten der oberitalienischen Städte aus derselben Zeit zu nennen, in welchen die amtliche Verfahrenseinleitung neben die alten Verfahrensformen tritt. Von da aus verbreitete sich der Inquisitionsprozess rasch in ganz Europa. Die Gründe für die umfassende Verbreitung dieser neuen Verfahrensform dürf ten vielfältiger Natur gewesen sein, angeführt werden politische35, religiöse36 und soziologische37 Motive. Eine bedeutende Rolle spielten dabei auch Universitäten 32 Diese auf Frankreich bezogene Beschreibung von Cohen, in: Willoweit (Hrsg.), Die Ent stehung des öffentlichen Strafrechts, S. 42, lässt sich auf ganz Europa übertragen. 33 Die Ursprünge des Inquisitionsprozesses waren lange umstritten, können aber in den dargestellten Grundzügen nach heutigem Forschungsstand als sicher gelten, vgl. Ignor, Ge schichte, S. 44 ff.; Trusen, in: Landau/Schröder (Hrsg.), Strafrecht, S.29 ff.; ders., in: Schwab (Hrsg.), FS Mikat, S. 435 ff.; Oehler, in: Hirsch u. a. (Hrsg.) GS Hilde Kaufmann, S. 847 ff. 34 Grundlegend dafür ist die Dekretale Innozenz’ III. vom 26.02.1206 Qualiter et Quando, in dt. Übersetzung bei Oehler, in: Hirsch u. a. (Hrsg.), GS Hilde Kaufmann, S. 851 f. 35 Zur Verfolgung von politischen Gegnern eignete sich der Inquisitionsprozess, wo der Staat von Amts wegen eingreifen konnte und über sein Tun kaum Rechenschaft abzulegen brauchte, deutlich besser als die adversatorischen Verfahrensformen, wo ein privater Ankläger gefunden werden musste, der in einer öffentlichen Hauptverhandlung die Schuld des Angeklagten be weist. Dies galt erst recht, wenn sich diese Repressionen als Ketzerverfolgungen im Dienste Gottes legitimieren ließen, vgl. Ignor, Geschichte, S. 52. 36 Der Inquisitionsprozess entspricht den christlichen Vorstellungen eines Strafprozesses als Sühnegericht, welche das mittelalterliche Weltbild aufgrund des starken Einflusses der Kirche prägten. So setzte sich ein religiöses Staatsbild durch, wonach der Adelige, dem sein Amt von Gott gegeben ist, diesem gegenüber auch Rechenschaft schuldig ist, d. h. er muss als Gottes Werkzeug die Guten schützen und die Sünder strafen. Vgl. E. Schmidt, Einführung § 90, S. 112, der Luther zitiert: Der Fürst soll „Gottes Zorn und Gottes Rute“ sein. 37 Cohen, in: Willoweit (Hrsg.), Die Entstehung des öffentlichen Strafrechts, S. 56 führt als einen Hauptgrund die Entstehung einer neuen Klasse professioneller Juristen an, welche sich als „Wahrheitsfinder“ und nicht als „Schiedsrichter“ verstanden.
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1. Kap.: Die Ausgestaltung der Figur des staatlichen Anklägers
wie Bologna, Pavia oder Salamanca, von wo aus sich sowohl römische als auch kanonische Rechtslehren verbreiteten, welche sich nach und nach zum inquisi tionsrechtlich geprägten ius commune, dem gemeinen Recht, entwickelten. Mark steine dieser Entwicklung sind das vom spanischen König Alfons X., genannt der Weise, schon 1265 erlassene38 Gesetzbuch Libro de las Leyes, später bekannt als Siete Partidas, sowie für das Heilige Römische Reich Deutscher Nation die Constitutio Criminalis Carolina Karls V. aus dem Jahre 1532, welche beide ober italienisches Recht rezipierten.39 Der Inquisitionsprozess bedeutete ein völlig neues Verständnis des Strafverfah rens. Während sich zuvor die Rolle der Obrigkeit auf die Lösung eines privaten Konflikts beschränkte, wurde das Strafverfahren nun zu einer umfassend verstaat lichten Untersuchung. Das Gericht bestand meist aus einem einzelnen Beamten, dem Inquisitionsrichter, in jedem Falle aber ausschließlich aus professionellen Ju risten.40 Bei Vorliegen des Verdachts einer Straftat ermittelte es von Amts wegen und ohne auf eine Verfahrenseinleitung von außen angewiesen zu sein41 in einem geheimen und schriftlichen Verfahren. Ziel der Untersuchung war die Findung der materiellen Wahrheit, also des wirklichen, historischen Tatgeschehens.42 Als sicherstes Beweismittel in diesem Sinne galt das Geständnis des Beschuldigten, welches häufig durch Folter erlangt wurde. Abschließend sprach das Gericht auf Grundlage der von ihm zusammengetragenen Beweise sein Urteil, eine separate vorherige Anklage war nicht erforderlich.
38 Die Siete Partidas wurden aber erst knapp hundert Jahre später, seit 1348, allgemein an gewandt, als die Verordnung von Alcalá sie zur Quelle des gemeinen Rechts erklärte, vgl. von Rauchhaupt, Geschichte, S. 128. 39 Für die Carolina, welche das oberitalienische Recht über ihr Vorbild, die Constitutio Criminalis Bambergensis des Bamberger Hofrichters Johann von Schwarzenberg rezipierte, vgl. Ignor, Geschichte, S. 44 ff.; für die Siete Partidas vgl. Pérez-Bustamante, Historia, S. 106 ff. 40 Aufgrund der regionalen Unterschiede erfolgte die Rechtsanwendung im Detail keines falls einheitlich, vgl. Van Caenegem, European Law, S. 22 ff., 25, und die Siete Partidas als auch die Carolina waren Reformen ausgesetzt. Zu den Einzelheiten des Inquisitionsprozes ses nach der Carolina siehe die ausführliche Darstellung bei Ignor, Geschichte, S. 60 ff. Zum Verfahren nach den Siete Partidas siehe den Überblick bei Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 301 sowie die umfangreicheren Ausführungen im 2. Kapitel, A. I., der vorliegenden Arbeit. 41 Als Überbleibsel der älteren Verfahrensformen existierte zunächst auch im Inquisitions prozess noch die Möglichkeit der privaten Verfahrenseinleitung. Da aber die weitaus risiko ärmere Möglichkeit bestand, die hoheitlichen Ermittlungen mit einer Anzeige auszulösen, wurde die Möglichkeit, als Privatkläger im Verfahren aufzutreten, praktisch nicht mehr ange wandt. Siehe dazu für die Siete Partidas Maier, Derecho Procesal Penal, Bd. 1, S. 301; für die Carolina E. Schmidt, Einführung § 108, S. 125 ff. 42 Nach der Diktion des Inquisitionsprozesses ist die materielle Wahrheit als das tatsächlich Geschehene von der formellen Wahrheit, die im Vorbringen der Parteien besteht, zu unterschei den, vgl. dazu Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 104. Mittermaier, Mündlichkeit, S. 282, kriti siert diese Begriffsverwendung: Soweit es überhaupt möglich sei, das wahre Tatgeschehen zu ermitteln, bemühe sich der Staat im adversatorischen Verfahren gleichermaßen, dieses Ziel zu erreichen.
A. Adversatorisches Verfahren und Inquisitionsprozess
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III. Die systematische Unterscheidung: Zwei Modelle der Wahrheitsfindung
Die historischen Prozessformen des germanischen und römischen, später eng lischen Rechts auf der einen Seite und des ius commune in Kontinentaleuropa auf der anderen Seite lassen sich also anhand einer ganzen Reihe von Merkma len unterscheiden. Interessant ist, dass beide Verfahrenstypen in ihrer Urform noch keinen staatlichen Ankläger kennen. Während im adversatorischen Verfahren ein Privater die Anklage führt, existiert im Inquisitionsprozess gar kein separater An kläger, der Richter übernimmt auch die Anklagefunktion. Den unterschiedlichen Verfahrensweisen liegt, angesichts der Natur des Strafverfahrens als besonders in tensive staatliche Machtausübung43 nicht überraschend, jeweils auch ein ganz be stimmtes Staatsverständnis zugrunde. Im adversatorischen Verfahrensgang lässt der Staat seinen Bürgern den größtmöglichen Freiraum und präsentiert sich eher passiv und reagierend. In der Machtkonzentration des staatlichen Inquisitors spie gelt sich dagegen die umfassende und ungebundene Entscheidungsbefugnis des Monarchen, welche er auf das Gericht delegiert hat.44 Mit der, wenn auch bereits abstrahierten, historischen Definition von adver satorischem Verfahren und Inquisitionsprozess ist allerdings noch nicht beant wortet, was genau die beiden Verfahren als Idealtyp ausmacht, welche Kennzei chen also unerlässlich sind, um ein bestimmtes Verfahren als „inquisitorisch“ oder „adversatorisch“ zu charakterisieren.45 Das, was die beiden Verfahrenstypen fun damental unterscheidet, ist ihr Kern, nämlich die jeweilige Weise der Wahrheits findung als Grundlage für die spätere Anwendung des materiellen Strafrechts.46 Im adversatorischen Verfahren obliegt es Anklage und Verteidigung, ihre Positio nen zu begründen und die des Gegners zu widerlegen, indem sie die entsprechen den Beweismittel beibringen. Aus diesem Wettstreit destilliert das Gericht dann die Wahrheit, indem es das gegenteilige Vorbringen der Parteien bewertet und da von dasjenige als wahr annimmt, was von der anderen Partei anerkannt wird oder aber deren Einwänden standhält. Die Objektivität des Urteilsorgans liegt nach diesem Verfahrensmodell darin begründet, dass es dem Antagonismus zwischen Anklage und Verteidigung enthoben ist und als außenstehender Dritter über den Konflikt entscheiden kann. Demgegenüber ermittelt im Inquisitionsprozess das Gericht selbst die Sachgrundlage seiner Entscheidung, ohne auf die Mitwirkung
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Gössel, GA 1980, S. 325 ff., (328). Siehe dazu die ausgesprochen lesenswerten Ausführungen Damaškas, in: The Faces of Justice and State Authority (1986); ders. ZStW 87 (1975), S. 713 ff. sowie Maier, Derecho Pro cesal Penal Bd. 1, S. 442 ff., der im adversatorischen Verfahren allerdings schon ausdrücklich ein republikanisches Staatsverständnis verortet. 45 Vgl. Langer, in: Hendler (Hrsg.), garantías, S. 243 ff., der zwischen verschiedenen Be deutungsebenen des Begriffspaares acusatorio-inquisitivo (=adversatorisch-inquisitorisch) dif ferenziert, darunter derjenigen als historische Kategorien und derjenigen als Idealtypen. 46 Zu dieser Unterscheidung zwischen den Verfahrenstypen vgl. Henkel, Strafverfahrens recht, S. 108; LaFave/Israel/King, S. 31 f.; Bovino, in: ders., Problemas, S. 211 ff.
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1. Kap.: Die Ausgestaltung der Figur des staatlichen Anklägers
eines Dritten angewiesen zu sein. Es soll sich ein umfassendes, objektives Bild des Sachverhalts machen können und ihn gerade nicht nur gefiltert durch die subjek tiven Parteivorträge zur Kenntnis nehmen. Diese grundverschiedenen Konzepte sind es, die das gesamte Verfahrensgepräge und die Eigenschaften der dort agie renden Akteure definieren.47
B. Die moderne Form der Verfahrenssysteme und die Integration des staatlichen Anklägers B. Moderne Form der Verfahrenssysteme und Integration des Anklägers
Die Abgrenzung zwischen der inquisitorischen und der adversatorischen Form der Wahrheitsfindung ist insbesondere deswegen so wichtig, weil die historischen Urformen der beiden Verfahrenstypen heute praktisch nicht mehr existieren. Sie haben sich weiterentwickelt und in Ansätzen vermischt, was sich speziell in der Figur des staatlichen Anklägers manifestiert, die in beide Verfahrenssysteme Ein gang gefunden hat. I. Die Integration des staatlichen Anklägers in die adversatorische Verfahrensstruktur: Das verstaatlichte Parteiverfahren
Einen entscheidenden Schub erhielt die Entwicklung des englischen Verfah rensrechts mit der Invasion der Normannen unter Wilhelm dem Eroberer im Jahre 1066. Mit der Zentralisierung der Macht in einem Herrscher über ganz England begann auch die Entwicklung eines einheitlichen eigenen englischen Verfahrens rechts, des sog. common law, welches die königlichen Gerichte als Gewohnheits recht aus den verschiedenen lokalen Rechtsbräuchen germanischen Ursprungs, aber auch aus dem kanonischen und dem römischen Recht entwickelten.48 Der Werdegang des englischen common law unterscheidet sich wesentlich von der erst einige Jahrhunderte später beginnenden Herausbildung des kontinentaleuro päischen ius commune. Zunächst handelte es sich bei dem englischen common law um richterliches Gewohnheitsrecht, während für das ius commune Kodifikationen wie die Siete Partidas oder die Carolina entscheidende Wegweiser waren. Zum an deren bestand der erhebliche inhaltliche Unterschied darin, dass das common law immer im Grundsatz am Parteiverfahren festhielt, während die Entwicklung des 47 Langer, Harvard International Law Journal 45 (2004), S. 1 ff. (10), spricht insofern von den Verfahrenstypen als „two different structures of interpretation and meaning“ bzw. „pro cedural languages“, also von zwei unterschiedlichen „Bedeutungs- und Interpretationsstruk turen“ bzw. „prozessualen Sprachen“ (Übers. d. Verf.), was sehr treffend verdeutlicht, dass die Form der Wahrheitsfindung als Prozesskern das Verständnis der einzelnen Verfahrenselemente bestimmt. 48 Ausführlicher wird die Entstehung des englischen common law beschrieben bei Schmid, Das amerikanische Strafverfahren, S. 8 ff. und vor allem bei Teubner, Kodifikation, S. 27 ff.
B. Moderne Form der Verfahrenssysteme und Integration des Anklägers
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Strafverfahrens zu einer öffentlichen Angelegenheit auf dem Kontinent schließ lich derartige Ausmaße annahm, dass es zu einer absoluten und so gut wie unbe schränkten Herrschaft des Staates über das Strafverfahren kam. Die Gründe für die abweichende Fortbildung des Verfahrensrechts auf dem Inselreich sind vielfältiger und komplexer Natur. Zuvorderst konnten sich römi sches und kanonisches Recht in der englischen weltlichen Gerichtsbarkeit längst nicht in der Weise durchsetzen, wie das auf dem Kontinent der Fall war. Zwar flos sen auch römischrechtliche Elemente in die Ausbildung des common law mit ein, jedoch nur insoweit, als sie den adversatorischen Verfahrensformen nicht wider sprachen.49 Die in Kontinentaleuropa im dreizehnten Jahrhundert beginnende voll ständige Ablösung der alten Verfahrensformen durch ein ursprünglich kirchlich geprägtes, sich auf römische Wurzeln berufendes autoritäres Prozessrecht, wel ches die richterliche Untersuchungsgewalt betonte, wurde in England nicht voll zogen. Im Inselreich existierte nämlich zu dieser Zeit schon das stark formalisierte einheitliche Verfahrensrecht der königlichen Gerichte, welches sich nicht so ein fach ablösen ließ wie die zerstreuten lokalen Brauchtümer in Kontinentaleuropa. Aufgrund der Eigenart dieses Rechts als Gewohnheitsrecht war anders als in Ita lien, Spanien oder Deutschland die Ausbildung der an den weltlichen Gerichten tätigen Juristen zudem rein praktisch und damit streng von der universitären und kirchlichen Rechtswissenschaft getrennt.50 Seit dem sechzehnten Jahrhundert kam mit der Reformation die Ablehnung des Inquisitionsprozesses schon aufgrund sei ner römisch-katholisch geprägten ideologischen Grundlage hinzu. In dieser Hal tung sahen die englischen Juristen sich in der Folgezeit durch die grauenhaften Ex zesse der Folter bestätigt.51 Der Wandel des Verständnisses des Strafrechts, wonach eine Straftat eben nicht nur eine Privatangelegenheit zwischen Opfer und Täter ist, sondern auch die Ge meinschaft als Ganzes betrifft und damit öffentliche Angelegenheit wird, erreichte zwar auch England, hatte aber zunächst keine entscheidenden Strukturreformen des Prozessrechts zur Folge. Nach wie vor war die Einleitung des Verfahrens ganz davon abhängig, dass ein Privater sich bereit erklärte, die Anklage zu er heben. Zwar ernannte Edward IV. im dreizehnten Jahrhundert zum ersten Mal den sog. attorney general, der als Vertreter des Königs dessen Interessen in Gerichts verhandlungen vertrat und insoweit bspw. mit dem französischen procureur de roi vergleichbar war. Im Gegensatz zu Letzterem beschränkte sich der attorney general aber darauf, allein die Interessen des Königs zu vertreten, welche keines wegs schrankenlos dem öffentlichen Interesse gleichgesetzt wurden. Die Funktion eines öffentlichen Anklägers kam dem attorney general daher nicht zu. Im sech zehnten Jahrhundert wurden Laienrichter, sog. Justices of the Peace, herangezo gen, um den privaten Ankläger bei der Vorbereitung oder sogar der Durchführung
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Vgl. dazu näher Helmholz, ius commune in England, S. 3 ff. Helmholz, ius commune in England, S. 5; Teubner, Kodifikation, S. 39. 51 Langbein, Origins, S. 338 ff.
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1. Kap.: Die Ausgestaltung der Figur des staatlichen Anklägers
der Anklage zu unterstützen. Da die Justices of the Peace aber ebenfalls Privat leute waren und auch nur unterstützend tätig wurden, führte auch diese Maßnahme keineswegs zu einer Verstaatlichung der Anklage. Erst 1879 erfolgte eine Institu tionalisierung der öffentlichen Anklage, indem das Amt des Director of Public Prosecutions geschaffen wurde. Auch dies blieb allerdings zunächst nur ein An satz, da die dem Director of Public Prosecutions unterstellte Behörde so klein war, dass sie sich auf die Verfolgung der schwersten und bedeutendsten Verbrechen beschränken musste.52 Der Großteil der Anklagen wurde jedoch zu diesem Zeit punkt schon nicht mehr von Privaten, sondern von der Polizei geführt.53 Um diesen Misstand zu beseitigen, entstand schließlich im Jahre 1985 der dem Director of Public Prosecutions untergeordnete Crown Prosecution Service, welcher nun als allgemeine Anklagebehörde fungiert.54 Eine ganz andere Entwicklung nahm dagegen der Nachbar Schottland. Die durch die Feindschaft zu England motivierte Hinwendung zu Kontinentaleuropa und insbesondere Frankreich führte zu einer starken Beeinflussung des Rechts systems aus dieser Richtung. So kannte der schottische Parteienprozess schon seit 1587, also etwa 400 Jahre vor England, einen öffentlichen Ankläger.55 Aus heutiger Sicht noch bedeutsamer, allein schon wegen ihrer gegenwärti gen politischen Vormachtstellung, die mit einem offensiven Export der eigenen Rechtsvorstellungen einhergeht56, ist die Entwicklung in den Vereinigten Staa ten von Amerika. Ihre Gründungsmitglieder, die dreizehn sog. Neu-England-Staa ten, waren englische Kolonie gewesen und entsprechend in der großen Mehrheit von englischen Siedlern bewohnt. Diese übertrugen zunächst ihr angestammtes Rechtssystem in die neue Heimat, so dass Ausgangsbasis des amerikanischen Strafprozesses ebenfalls der englische Parteienprozess ist. Auch hier kam es je doch sehr bald abweichend vom Mutterland zur Einrichtung von öffentlichen Anklägern, das erste Amt dieser Art wurde schon 1704 im Staate Connecticut geschaffen. Mit der endgültigen amerikanischen Unabhängigkeit 1783 war die öf fentliche Anklage schon umfassend etabliert und die Anklage durch Private weit gehend ausgestorben.57 Heute gibt es neben der Bundesstaatsanwaltschaft, den sog. United States Attorneys, noch in jeder lokalen Verwaltungseinheit, den Dis trikten, eine Staatsanwaltschaft, die von einem district attorney, county attorney, 52 Jacoby, American Prosecutor, S. 8, gibt an, dass im Jahre 1960 lediglich in 8 % aller Ver fahren in Großbritannien der Director of Public Prosecutions die Anklage vertrat. 53 Bland, in: Eser (Hrsg.), Strafjustiz im Spannungsfeld von Effizienz und Fairness, S. 91; Schulte-Nover, Strafrichter, S. 203 f. 54 Dazu ausführlich Ashworth/Redmayne, Criminal Process, S. 174 ff.; Daneben gibt es noch weitere spezielle Anklagebehörden, vgl. Bland, in: Eser (Hrsg.), Strafjustiz im Spannungsfeld von Effizienz und Fairness, S. 92; auch die Privatklage existiert noch, macht allerdings nur noch ca. 1 % aller Anklagen aus, vgl. Schulte-Nover, Strafrichter, S. 207. 55 Siehe dazu Buchholz, Staatsanwalt, S. 3 ff. 56 Vgl. Langer, in: Harvard International Law Journal 45 (2004), S. 1 ff. 57 Dengler, Kontrolle, S. 161.
B. Moderne Form der Verfahrenssysteme und Integration des Anklägers
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state attorney o. ä. genannten Staatsanwalt geleitet wird. Die Staatsanwälte sind Exekutivorgane, ohne allerdings in eine strenge Hierarchie eingebettet zu sein.58 So unterliegen die vom Präsidenten ernannten Bundesanwälte formal der Aufsicht des Justizministeriums, genießen tatsächlich aber weitgehende Entscheidungsfrei heit.59 Noch größer ist die Autonomie der praktisch völlig unkontrolliert agieren den lokalen Staatsanwälte.60 Verantworten müssen sie sich allenfalls vor ihren Wählern, in nahezu allen Bundesstaaten werden die Staatsanwälte nämlich von den Einwohnern des jeweiligen Distrikts für vier Jahre gewählt.61 Wie es zu der Entstehung der Staatsanwaltschaft in den Vereinigten Staaten von Amerika kam, ist heute schwer feststellbar und äußerst umstritten. Lange wurde angenommen, dass auch hier die Gründe in einer Abwendung vom vielen verhass ten Königreich und der Übernahme kontinentaleuropäischer Vorbilder aus Frank reich oder den Niederlanden lägen.62 Demgegenüber geht Shoemaker in einer neu eren Arbeit davon aus, dass sich der amerikanische Staatsanwalt durchaus originär aus im englischen Recht vorhandenen Ansätzen entwickelt habe.63 Eine wichtige Rolle spielte sicherlich in jedem Falle die völlig unterschiedliche Staatsstruktur, in die das amerikanische Strafprozessrecht eingebettet war. Während England eine zentralistische Monarchie war, handelte es sich bei den Vereinigten Staaten um einen föderalistischen demokratischen Bundesstaat.64 Durch die föderalistische Struktur war abweichenden Entwicklungen der Weg geebnet. Die Erkenntnis, dass ein auf Freiheit und Gleichheit basierender demokratischer Staat eine gleichmäßige und gerechte Strafverfolgung garantieren muss, führte 58 Damaška erklärt dies mit dem liberalen Staatsverständnis, das dem adversatorischen Ver fahren zugrunde liegt, vgl. ders., ZStW 87 (1975), S. 713 ff. (723, 729 f.). 59 Neubauer, Criminal Justice System, S. 133, 138. 60 Zwar steht den lokalen Staatsanwälten ein sog. Attorney General vor, dessen Aufgaben liegen jedoch hauptsächlich im zivilrechtlichen Bereich. Er überwacht die Aktivitäten der lo kalen Staatsanwälte grundsätzlich nicht und besitzt keinerlei Weisungsbefugnisse ihnen ge genüber. Vgl. dazu Herrmann, in: Jung (Hrsg.), Strafprozess im Spiegel ausl. Verfahrensord nungen, S. 136; Neubauer, Criminal Justice System, S. 139. Jacoby, American Prosecutor, Introduction, S. XV, konstatiert daher eine nicht nur in der amerikanischen Justiz, sondern auch im internationalen Vergleich unerreichte Machtposition der District Attorneys. Damaška, ZStW 87 (1975), S. 713 ff. (723, 729 f.), führt die dezentralisierte Struktur der U. S.-amerikani schen Staatsanwaltschaft auf das dem adversatorischen Verfahrenverständnis zugrundeliegende Modell eines zurückhaltenden, liberalen Staates zurück. 61 Neubauer, Criminal Justice System, S. 139; ausführlich Weigend, in: Jescheck/Leibinger (Hrsg.), Anklagebehörde im ausl. Recht, S. 592 ff.; es handelt sich dabei um politische Wahlen, die Parteien stellen ihre Kandidaten auf, welche dann einen Wahlkampf führen, vgl. Herrmann, Reform, S. 191. 62 Siehe dazu Shoemaker, in: Durand u. a. (Hrsg.), Staatsanwaltschaft, S. 343 ff., der ausführ lich auf diese Thesen eingeht, sowie Dengler, Kontrolle, S. 160 und Jacoby, American Prose cutor, S. 7 ff. 63 Ausführlich und informativ Shoemaker, in: Durand u. a. (Hrsg.), Staatsanwaltschaft, S. 339 ff. 64 Schmid, Das amerikanische Strafverfahren, S. 18 f.; Jacoby, American Prosecutor, S. 10.
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1. Kap.: Die Ausgestaltung der Figur des staatlichen Anklägers
also dazu, dass heute in praktisch allen wichtigen Verfahrensordnungen adversato rischer Natur die Anklageseite von einem Staatsorgan vertreten wird. Daneben ist das verstaatlichte adversatorische Verfahren in einer Reihe weiterer Punkte modi fiziert.65 Die nicht zum eigentlichen Strafverfahren gehörende Voruntersuchung zu der Frage, ob Anklage erhoben werden soll, führt nicht der Ankläger selbst durch, sondern die Polizei.66 Der Staatsanwalt kann dann frei über die Strafklage dispo nieren und nimmt auf diese Weise eine Filterfunktion zur Entlastung der Strafjus tiz wahr, spätestens ab Beginn des Hauptverfahrens bedarf er jedoch der Zustim mung des Gerichts, um die Anklage fallenzulassen.67 Das Gericht besteht nicht mehr ausschließlich aus völlig passiven Laien, sondern zuvorderst auch aus einem professionellen Einzelrichter, der aktiv das Verfahren leitet und darüber wacht, dass die Parteien sich an die Prozessregeln halten. Der absoluten Parteiherrschaft über das Verfahren sind überdies noch weitere Grenzen gesetzt, um den negativen Konsequenzen einer völlig ungehemmten Auseinandersetzung zwischen Anklage und Verteidigung entgegenzuwirken. Insbesondere dem staatlichen Ankläger wer den angesichts des Ungleichgewichts zwischen dem Staat als Ankläger und einem Individuum als Beschuldigtem Fesseln angelegt. Er trägt nicht nur grundsätzlich die Beweislast, muss also das Gericht von der Schuld des Angeklagten überzeu gen68, sondern ist auch einer Reihe strenger Beweisverwertungsverbote unterwor fen, wonach illegal erhobene Beweismittel nicht für eine Verurteilung herange zogen werden können.69 Darüber hinaus trifft beide Seiten eine Pflicht zur fairen Prozessführung, die sich, unter im Einzelnen nicht unumstrittenen Voraussetzun gen, sogar darin äußern kann, dass der Gegenseite bestimmte Beweismittel offen gelegt werden müssen.70 Der Kern der adversatorischen Verfahrensstruktur, die Wahrheitsfindung aus dem Aufeinandertreffen zweier gegeneinander agierender Parteien, wird durch diese Modifikationen allerdings nicht angetastet. Die Verstaatlichung des Ver fahrens hat nicht zu einer Verobjektivierung der Anklagefunktion geführt. Zwar ist im Grundsatz anerkannt, dass der Anklagevertreter als Staatsorgan auf einen gerechten Verfahrensausgang hinzuwirken hat, dies wirkt sich praktisch jedoch lediglich dahingehend aus, dass er dem genannten „Fair-Play“-Gebot unter
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Vgl. die Übersicht bei LaFave/Israel/King, Criminal Procedure, S. 31 f. Weigend, in: Jescheck/Leibinger (Hrsg.), Anklagebehörde im ausl. Recht, S. 598; Schmid, Das amerikanische Strafverfahren, S. 38. 67 Für die Strafverfahrensordnungen in den Vereinigten Staaten von Amerika vgl. Weigend, in: Jescheck/Leibinger (Hrsg.), Anklagebehörde im ausl. Recht, S. 616 f., 621. 68 Siehe dazu LaFave/Israel/King, Criminal Procedure, S. 33 f. 69 Siehe dazu die umfangreiche Darstellung bei LaFave/Israel/King, Criminal Procedure, S. 489 ff. 70 Zu dieser duty to disclose vgl. Langer, Harvard International Law Journal 45 (2004), S. 1 ff. (21) m. w. N. Während der Beschuldigte sich allerdings nicht selbst belasten muss, kann den Staatsanwalt umgekehrt sehr wohl die Pflicht treffen, entlastendes Beweismaterial offen zulegen. Vgl. dazu LaFave/Israel/King, Criminal Procedure, S. 1098 ff.; Nissman/Hagen, Pro secution Function, S. 7; Neubauer, Criminal Justice System, S. 290.
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liegt.71 Anklage und Verteidigung vertreten nach wie vor grundsätzlich einseitig ihre Interessen und präsentieren die entsprechenden Beweise. Das Gericht erhebt nicht selbst Beweis, sondern ist darauf beschränkt, aus dem Aufeinandertreffen der gegenseitigen Vorträge die Wahrheit zu destillieren. Anzumerken ist allerdings, dass die klassische Form der adversatorischen Hauptverhandlung heute nur noch die Ausnahme darstellt, die große Mehrzahl aller Verfahren wird auf alternativem Wege durch sog. Absprachen zwischen Anklage und Verteidigung abgewickelt.72 Die Sachverhaltsaufklärung wird dann dadurch ersetzt, dass der Beschuldigte sich von vornherein schuldig bekennt, im Gegenzug reduziert der Staatsanwalt die An klage.73 Die Praxis der konsensualen Verfahrenserledigung wird scharf kritisiert, da der Beschuldigte aufgrund der weit überlegenen Machtposition des mit der Strafgewalt über ihn ausgestatteten Staates keineswegs völlig frei über die An nahme eines Abspracheangebots entscheiden kann, sondern sich im Fall der Ab lehnung potentiell einer weit höheren Strafe ausgesetzt sieht.74 Unabhängig von der berechtigten Kritik ist jedoch auch diese Variante der Verfahrenserledigung ab strakt gesehen nichts anderes als ein Ausfluss der Parteiherrschaft über das Verfah ren und fügt sich in den Grundgedanken des adversatorischen Verfahrens ein, wo nach der Strafprozess die Lösung eines Interessenkonflikts ist.75 Im Ergebnis bleibt
71 LaFave/Israel/King, Criminal Procedure, S. 32; Kerper, Criminal Justice System, S. 432 ff.; Cole, Criminal Justice, S. 259 f. Siehe dazu auch die Ausführungen unten 3. Kapitel, A. II. 4.; 5. Kapitel, B. III. 3. 72 Beispielsweise beruhten im Jahre 1999 knapp 95 % aller Verurteilungen durch U. S.Bundesgerichte auf Schuldeingeständnissen, von denen wiederum der überwältigende Teil auf Absprachen zurückzuführen sein dürfte, vgl. Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 147 f. 73 Derartige Absprachen können von Beginn des Verfahrens bis in die Hauptverhandlung hinein stattfinden und von wenigen Minuten bis zu mehreren Tagen dauern. Der Staatsanwalt kann im Gegenzug für das Geständnis des Beschuldigten wegen eines Delikts mit geringerer Strafdrohung anklagen (sog. charge bargaining), einzelne Anklagepunkte ganz fallen lassen (sog. count bargaining) oder sogar Zusagen hinsichtlich der zu verhängenden Strafe machen (sog. plea bargaining). Zu den verschiedenen Formen der Absprachen vgl. Neubauer, Crimi nal Justice System, S. 310 ff.; Schmid, Das amerikanische Strafverfahren, S. 61; Weigend, Ab sprachen, S. 38. 74 Weigend, Absprachen, S. 42 f.; Dreher, Kontrollierbarkeit, S. 200; Trüg, Lösungskonver genzen, S. 190 f. m. w. N. 75 Vgl. Dreher, Kontrollierbarkeit, S. 101; Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 155 ff. Auch das kontradiktorische Element wird nicht notwendig beseitigt, sondern kann im Rahmen der Ab sprachen dann hervortreten, wenn die Parteien zunächst versuchen, sich gegenseitig zu über zeugen, um dann nachzugeben, vgl. Weigend, Absprachen, S. 56 f. Zu bedenken ist allerdings, dass die Absprachepraxis auch stark inquisitorische Züge tragen kann, wenn der Beschul digte, der schützenden Formen des regulären Verfahrens beraubt, dem Staatsanwalt, der den Verfahrensausgang weitgehend vorherbestimmt und damit Anklage- und Urteilsfunktion in sich vereint, ausgeliefert ist, vgl. Weigend, Absprachen, S. 57. Dem wird im amerikanischen Strafverfahrensrecht versucht entgegenzuwirken, indem die Rolle des Gerichts bei den Abspra chen gestärkt wird. Die Stärkung des Gerichts bedeutet unter Umständen aber wiederum eine Stärkung des inquisitorischen Elements im Prozess. Siehe dazu Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 177 f. und ausführlich zu der ganzen Problematik in Argentinien im 5. Kapitel der vorliegen den Arbeit die Abschnitte A. III. 1. f) sowie B. III. 1. c).
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also trotz aller Modifikationen das adversatorische Modell der Wahrheitsfindung in den modernen Strafverfahrenssystemen des angloamerikanischen Rechtskreises erhalten, was es rechtfertigt, auch das verstaatlichte Parteiverfahren als „adversa torisch“ zu charakterisieren.76 II. Die Integration des staatlichen Anklägers in die inquisitorische Verfahrensstruktur: Der reformierte Inquisitionsprozess
In Kontinentaleuropa hielt sich unterdessen der gemeinrechtliche Inquisitions prozess bis in das neunzehnte Jahrhundert hinein, bevor er einer grundlegenden Reform unterworfen wurde. Die geistige Erneuerungsbewegung der Aufklärung hatte im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert auch das Verständnis des Strafprozesses erfasst.77 Der Zweck des Verfahrens wurde in Abkehr vom obrigkeitsstaatlichen Denken jetzt nicht mehr allein in der staatlichen Strafverfolgung gesehen, sondern es sollte ein Ausgleich zwischen dem allgemeinen Verfolgungsinteresse und dem indivi duellen Interesse des Angeklagten auf Schutz seiner Rechte hergestellt werden. Erstrebenswert war danach ein Strafprozess, der ein Optimum an Wahrheit und gleichzeitig sicher schützende Formen gegen staatliche Willkür gewährleistete.78 Es wurde zunehmend deutlich, dass der gemeinrechtliche Inquisitionsprozess in seiner damaligen Form in beiderlei Hinsicht unzureichend war, denn sowohl be züglich der Effektivität der Wahrheitsermittlung als auch hinsichtlich des Schutzes der Rechte des Angeklagten waren erhebliche Missstände zu beklagen. Der stark formalisierte, schwerfällige und langwierige Prozessgang erwies sich mehr und mehr als ungeeignet zu einer effektiven Strafverfolgung. Die Zusammenfassung der Aufgaben des Anklägers, Verteidigers und Richters in der Person des Inquisi tionsrichters führten zudem notwendig zu einer psychologischen Überforderung, welche die Zuverlässigkeit der Wahrheitsfindung erheblich zu Lasten des Be schuldigten beeinträchtigte. Als der richterlichen Untersuchung ausgeliefertes Ob jekt war der Beschuldigte darauf angewiesen, dass der Inquirent tatsächlich objek tiv war, also gleichermaßen seine Ankläger- wie seine Verteidigerrolle wahrnahm. Schon die erste Bejahung des Tatverdachts bedeutete jedoch die Gefahr, dass der Inquisitionsrichter in den nachfolgenden Untersuchungen zumindest unbewusst dahin tendierte, seine vorherige Entscheidung zu rechtfertigen, und sich seine vor gefasste Meinung schließlich derart verfestigte, dass er gar nicht mehr in der Lage
76 Vgl. LaFave/Israel/King, Criminal Procedure, S. 31 f., die für das U. S.-amerikanische Strafverfahren feststellen, dass es sich trotz aller Modifikationen nach wie vor grundlegend von der inquisitorischen Form der Wahrheitsfindung unterscheidet. 77 Vgl. Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 52 f. 78 Siehe dazu die eindrücklichen Ausführungen Mittermaiers, in: ders., Mündlichkeit, S. 222 f., 287.
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war, die objektive Wahrheit zu erkennen und seiner Meinung widersprechende, den Angeklagten entlastende Tatsachen entsprechend zu würdigen.79 Vor diesem Hintergrund ließ sich das Bedürfnis einer grundlegenden Reform des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses schließlich nicht mehr von der Hand weisen. Als Vorbild blickte man hierbei auf das adversatorische Verfahren, wel ches als bürgernaher und liberaler Gegenentwurf zum eigenen verstaatlichten und autoritären Strafprozessrecht galt. An die Stelle des bisherigen vollständig ge heimen und nur der Obrigkeit verständlichen Verfahrens sollte danach eine münd liche, der Öffentlichkeit zugängliche Verhandlung treten. Zudem sollten nicht Re gierungsbeamte, sondern von der vollziehenden Gewalt unabhängige Richter über die Ausübung der staatlichen Strafbefugnis befinden. Darüber hinaus wurde ge fordert, das Volk wie im angloamerikanischen Rechtsraum direkt in Form von Ge schworenengerichten an der Rechtsprechung zu beteiligen.80 Ganz besonders aber wollte man durch die Trennung von Anklage- und Urteilsfunktion und die Schaf fung eines eigenständigen, vom Gericht unabhängigen staatlichen Anklägers ver hindern, dass der Richter durch Verdachtsermittlung und Anklageerhebung vorbe einflusst wird, und so seine absolute Unabhängigkeit gewährleisten.81 Trotz der weitgehenden Umsetzung dieser Reformideen kam es allerdings nicht zu einer Wiedereinführung des adversatorischen Strafverfahrens in Kontinental europa. Stattdessen entstand ein neuer Prozesstyp, der sog. reformierte Inquisi tionsprozess, der im spanischen Sprachraum auch als „gemischtes System“, sistema mixto, bezeichnet wird. Ausgangspunkt und Vorreiter für die Entwicklung dieses Prozesstyps war Frankreich. Im Zuge der Französischen Revolution war zunächst konsequent die Ablösung des Inquisitionsprozesses zu Gunsten eines adversatorischen Verfahrens betrieben worden. Doch schon Napoleons Code d’Instruction Criminelle aus dem Jahre 1808 ging einen anderen Weg, der Vor bildcharakter für die Reformen der inquisitorischen Verfahrensordnungen in den übrigen Staaten Kontinentaleuropas haben sollte. Danach wurden zwar die obi gen Elemente aus dem Parteiverfahren übernommen, sie wurden jedoch in die inquisitorische Grundstruktur einer aktiven Wahrheitsfindung durch das Gericht integriert. Auf diese Weise entstand zwar auch im Inquisitionsprozess die Figur eines staatlichen Anklägers, sie hatte jedoch eine völlig andere Ausprägung als im adversatorischen Verfahren. Statt als einseitige Partei zu agieren, übernahm der
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Zu den Mängeln des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses vgl. Mittermaier, Gesetz gebung, S. 272 ff.; ders., Mündlichkeit, S. 293 ff. 80 Zur wechselhaften, von Rückschlägen geprägten Geschichte der Geschworenengerichte in Kontinentaleuropa vgl. bspw. Linkenheil, Laienbeteiligung an der Strafjustiz (2002) und Pense, Das spanische Schwurgericht (2006). 81 Vgl. E. Schmidt, Dt. Strafprozessrecht, S. 24; ders., Lehrkommentar StPO und GVG Bd. 1, S. 78 sowie Mittermaier, Gesetzgebung, S. 272, der davon spricht, dass man hoffte, mit der Trennung von Anklage- und Urteilsfunktion „alle Uebel [des Inquisitionsprozesses] […] zu beseitigen“.
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französische Staatsanwalt die Funktion eines objektiven Gesetzeswächters, des sen Aufgabe darin bestand, die richterliche Amtsausübung zu kontrollieren. Ihre Wurzeln hat diese Rolle in der Stellung des sog. Fiskals, der als Abgesandter des Königs im Inquisitionsprozess agierte. Die Aufgabe der Fiskale bestand zunächst lediglich darin, die finanziellen Interessen des Königs bzw. Fürsten in Zivil- und Strafprozessen zu verfolgen.82 Mit der Entwicklung der Macht des Königs hin zu einer absoluten Monarchie wuchs auch die Macht seines Vertreters im Straf prozess. So musste er regelmäßig vor Eröffnung des Hauptverfahrens gehört wer den83 und teilweise wurde ihm auch vom Richter die Erhebung der öffentlichen Anklage anvertraut, wobei er aber unter dessen Aufsicht stand84. Die Zentralisa tion aller Staatsgewalt im absolutistischen französischen Staat führte im siebzehn ten Jahrhundert dazu, dass seinem Abgesandten im Strafprozess, dem procureur du roi, vollständig die Anklagefunktion übertragen wurde und der Richter in je der Phase des Prozesses seine Stellungnahme einholen musste. Schließlich ent wickelte sich daraus das Recht des Fiskals, allgemein den Prozessgang auf Ein haltung der Gesetze zu überwachen und dem Gericht die Befehle des Königs zu übermitteln.85 Mit dem Verschwinden der absoluten Monarchie und der Einfüh rung der Gewaltenteilung waren die Gerichte zwar unabhängig von der vollziehen den Gewalt geworden, die Rolle des staatlichen Anklägers als dem Urteilsorgan übergeordnete Kontrollinstanz hatte jedoch überlebt. Hauptaufgabe der Anklage behörde, des ministère public, war es, in Vertretung der Regierung über die Einhal tung der Gesetze bei der Durchführung des Strafprozesses zu wachen. Zu diesem Zweck war die Behörde hierarchisch aufgebaut, ihre Vertreter waren weisungs gebunden.86 Das ministère public beantragte das von einem Untersuchungsgericht geleitete Ermittlungsverfahren und überwachte seine ordnungsgemäße Durchfüh rung nicht nur im Sinne des Staates, sondern auch zu Gunsten des Beschuldigten. So konnten die Staatsanwälte Ermittlungsmaßnahmen anregen, aber auch Verfah rensfehler rügen.87 Nach Abschluss der Ermittlungen beantragte die Staatsanwalt schaft die Einstellung des Verfahrens oder die Eröffnung der Hauptverhandlung. Kam es zur Hauptverhandlung, vertrat sie die Anklage, hatte aber auch hier objek tiv zu sein, also auch zu Gunsten des Angeklagten tätig zu werden, falls geboten.88 Die französischen Staatsanwälte waren demnach als Staatsorgane genau wie das Gericht zur Ermittlung der materiellen Wahrheit verpflichtet. Durch ihre Auf 82 Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 2, S. 295 ff.; Carsten, Geschichte, S. 1 ff. (für Deutsch land); S. 7 ff. (für Frankreich). 83 Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 2, S. 297. 84 Knobloch, Legalität, S. 210; Carsten, Geschichte, S. 2 ff. 85 Carsten, Geschichte, S. 8, 9. 86 Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 136 sieht zwischen der Weisungsgebundenheit der Staats anwaltschaft, welche bis heute auch in Deutschland besteht, und ihrer Objektivitätspflicht einen gewissen Widerspruch, rechtfertigt aber die Bindung an die Exekutive damit, dass die Strafverfolgung an wechselnde praktische Zweckgesichtspunkte gebunden sei, die eine Len kung durch Weisungen erforderten. 87 Wohlers, Staatsanwaltschaft, S. 64. 88 Wohlers, Staatsanwaltschaft, S. 64; Knobloch, Legalität, S. 248.
B. Moderne Form der Verfahrenssysteme und Integration des Anklägers
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sichtsfunktion waren sie dem Gericht mindestens gleich- oder sogar übergeordnet, standen folglich in keiner Weise mit dem Angeklagten bzw. seiner Verteidigung auf einer Stufe. Die neue Anklagebehörde fügte sich dadurch in die Grundidee des Inquisitionsprozess ein, wonach es Aufgabe des Staates ist, nicht gleichgeordnet mit dem Angeklagten zu streiten, sondern von sich aus für die Ermittlung der ma teriellen Wahrheit zu sorgen. Die Nachbarn Frankreichs übernahmen das französische Beispiel nach und nach. Auch wenn sie es nicht vollständig kopierten, sondern vielfach modifizier ten, insbesondere die den gesamten Prozess beherrschende Stellung der Staats anwaltschaft schwächten, behielten sie doch die Konzeption der Staatsanwalt schaft als objektives Kontrollorgan bei.89 Die Gründe dafür, dass sich nicht die Forderungen nach einer vollständigen Auf hebung der inquisitorischen Praxis durchsetzten, sondern es lediglich zu einer Mo difizierung des Inquisitionsprozesses kam, sind vielschichtig. Zuvorderst dürfte das Bestreben der Obrigkeit zu nennen sein, mittels des Staatsanwalts als Geset zeswächter die Kontrolle über den Strafprozess auszuüben, den sie durch die rich terliche Unabhängigkeit zunehmend verloren hatte.90 Umgekehrt hielten aber auch viele Liberale an der Grundidee des Inquisitionsverfahrens, dass der Staat ver pflichtet sei, von sich aus die materielle Wahrheit zu ermitteln, fest und lehnten es deshalb ab, das Gericht von den Vorträgen zweier einseitig agierender Parteien ab hängig zu machen.91 Andere verlangten zwar ein der Sache nach adversatorisches Verfahren, glaubten aber irrtümlich, ein solches werde mit dem französischen „Anklageprozess“, der ja einen vom Richter getrennten Ankläger kannte, einge führt.92 Der schottische Strafprozess, der als adversatorisches Verfahren dennoch einen staatlichen Ankläger kannte, wurde nicht ernsthaft als Alternativmodell in Erwägung gezogen, weil er trotz Mittermaiers Forschungen93 weitgehend unbe kannt war.94 Zuletzt sprach gegen die Orientierung an Vorbildern aus dem common law, dass dieses Gewohnheitsrecht nicht gemäß den in Kontinentaleuropa herr schenden Vorstellungen in einer schriftlichen Kodifikation umfassend zusammen gefasst war, was die Übertragbarkeit erheblich erschwerte.95 Im Ergebnis entstand also ein Strafprozess, welcher nach der zeitgenössischen Terminologie nicht auf dem „Anklagegrundsatz“ im Sinne eines adversatorischen 89 Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 55 spricht daher von der französischen Konzeption als „Urbild der modernen Staatsanwaltschaft“ in Kontinentaleuropa. 90 Collin, Wächter des Gesetzes, S. 403, 405; Krebs, Weisungsgebundenheit, S. 33 f.; Knob loch, Legalität, S. 256. 91 Vgl. Wohlers, Staatsanwaltschaft, S. 173 f. 92 Mittermaier, Gesetzgebung, S. 271 ff.; Meckbach, Inquisitionsrichter, S. 70 ff. 93 Mittermaier, Das englische, schottische und nordamerikanische Strafverfahren (1851), insb. S. 249 ff., 316 ff. 94 Carsten, Geschichte, S. 16; Wohlers, Staatsanwaltschaft, S. 175; Knobloch, Legalität, S. 254. 95 Knobloch, Legalität, S. 252.
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1. Kap.: Die Ausgestaltung der Figur des staatlichen Anklägers
Verfahrens, sondern lediglich auf der „Anklageform“ beruhte.96 Damit war ge meint, dass das Verfahren nur der Form nach ein Anklage-, der Sache nach aber ein Inquisitionsverfahren sei, da zwar ein vom Gericht getrennter öffentlicher An kläger existierte, seine Aufgabe aber lediglich darin bestand, die Untersuchungs tätigkeit des Richters zu initiieren. Insbesondere das schriftliche Vorverfahren, wo der Richter weitgehend geheim ermittelt, trägt in diesem Verfahrenstyp nach wie vor stark inquisitorische Züge. In einigen Staaten Kontinentaleuropas ist die Figur des klassischen Untersuchungsrichters später zu Gunsten einer Aufgaben teilung zwischen ermittelndem Staatsanwalt und kontrollierendem Richter abge schafft worden97, was aber an der Grundausrichtung des Verfahrens nichts ändert.98 Formal dient das Vorverfahren zwar lediglich der Vorbereitung der staatsanwalt lichen Anklage, es wird allerdings vielfach konstatiert, dass es de facto den Ver fahrensschwerpunkt darstelle, weil im anschließenden Hauptverfahren häufig nur die bereits zuvor gesammelten Beweise reproduziert werden.99 Zum Abschluss des Vorverfahrens entscheidet der Staatsanwalt rein objektiv nach Recht und Gesetz darüber, ob das Ermittlungsergebnis die Einleitung des Hauptverfahrens rechtfer tigt. Ein Ermessenspielraum, wie ihn der Staatsanwalt im angloamerikanischen Recht kennt, ist ihm, der kein einseitiges Interesse vertritt, sondern zu einer ge rechten und umfassenden Strafverfolgung beitragen soll, grundsätzlich fremd. Er hebt der Staatsanwalt Anklage, kommt es, nach einer eventuellen Vorprüfung der Schlüssigkeit des staatsanwaltlichen Vorbringens, zu einer öffentlichen und münd lichen Hauptverhandlung, in deren Rahmen das Gericht selbständig Beweis er hebt, um sich seine für die Urteilsfindung notwendige Überzeugung zu bilden. Die richterliche Untersuchung wird sachlich, nicht rechtlich, durch den mit der An klage festgelegten Verfahrensgegenstand begrenzt, im Übrigen ermittelt das Ge richt aber völlig frei und ohne an Anträge von Staatsanwaltschaft oder Verteidi gung gebunden zu sein. Der Staatsanwalt kann seine Anklage auch nicht mehr ganz oder teilweise zurückziehen, um dem Gericht auf diese Weise die Urteils
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Mittermaier, Gesetzgebung, S. 276 ff.; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 98. Vgl. dazu für Deutschland die §§ 160 ff. der Strafprozessordnung. Ebenfalls die Ermitt lungen im Vorverfahren dem Staatsanwalt übertragen haben bspw. die Niederlande und weitge hend auch Frankreich, vgl. Kühne, Strafprozessrecht, S. 698 ff., 705, 770, 775. 98 Siehe zu der Übertragung der Voruntersuchung auf die Staatsanwaltschaft in einer inquisi torischen Verfahrensstruktur die ausführliche Untersuchung im 4. Kapitel der vorliegenden Ar beit unter B. III. 1. 99 Eindrücklich urteilt Weigend, ZStW 104 (1992), S. 486 ff. (504 f.), der in Anspielung auf die Carolina von der Hauptverhandlung als „endlichem Rechtstag“ spricht, da sie nur noch eine „mehr oder weniger langwierige, unbeholfene und unvollkommene Reproduktion der in den Akten enthaltenen Ermittlungsergebnisse“ darstelle. Differenzierter sehen dies Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, S. 285, 313 f.: Trotz der nicht zu leugnenden Verlagerung des Ver fahrensschwerpunktes auf das Vorverfahren biete die Hauptverhandlung des reformierten In quisitionsprozesses dem Angeklagten grundsätzlich gute Chancen, das Ermittlungsergebnis noch zu seinen Gunsten zu korrigieren. Erst die Einführung von Absprachen zwischen den Ver fahrensbeteiligten (siehe dazu in der vorliegenden Arbeit die sogleich folgenden Ausführun gen) bedeute ihren Todesstoß.
B. Moderne Form der Verfahrenssysteme und Integration des Anklägers
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grundlage zu entziehen, mit dem Beginn des Hauptverfahrens geht die Verfahrens herrschaft umfassend auf das Gericht über. Der reformierte Inquisitionsprozess behält folglich den Kern seines Vorgängers, die Wahrheitsfindung durch ein aktiv inquirierendes Gericht, bei. Die zeitgenös sische Charakterisierung, wonach dieses Verfahren trotz der Einführung des staat lichen Anklägers seiner Natur nach weiter inquisitorisch ist, trifft demnach zu. Es darf allerdings nicht unerwähnt bleiben, dass in neuerer Zeit eine viel kritisierte, schleichende Unterwanderung der Fundamente des Inquisitionsprozesses stattge funden hat. Die Arbeitsüberlastung der mit immer komplexeren Deliktsformen konfrontierten Strafjustiz hat dazu geführt, dass sich der der Inquisitionsmaxime zugrundeliegende Anspruch einer umfassenden, objektiven und gerechten Straf verfolgung nicht mehr vollständig durchhalten lässt. Dies betrifft im Wesentlichen zwei Punkte. Zum einen werden der Staatsanwaltschaft zunehmend Opportuni tätsbefugnisse eingeräumt, um schon in einem frühen Stadium eine Vielzahl von Verfahren auszufiltern100, zum anderen hat die Praxis der Absprachen zwischen den Verfahrensbeteiligten auch in den reformierten Inquisitionsprozess umfassend Eingang gefunden101. Derartige Formen der Verfahrenserledigung sind mit dem Herzstück des Inquisitionsprozesses, der Ermittlung der materiellen Wahrheit, na turgemäß nur schwer zu vereinbaren.102 Sie werden darüber hinaus als rechtsstaat lich ausgesprochen bedenklich kritisiert, wobei vielfach die gleichen Argumente wie schon gegen die Absprachen im adversatorischen Verfahren angebracht wer den.103 Es wird daher vertreten, dass auch die Rückkehr zu einer adversatorischen Verfahrensstruktur die gegenwärtigen Probleme nicht befriedigend beheben wür de.104 Eine grundsätzliche Lösung, wie die gegenwärtige Praxis und das gesetz geberische Leitbild des reformierten Inquisitionsprozesses miteinander in Ein klang gebracht werden könnten, zeichnet sich nicht ab.
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In Deutschland ist die Entscheidung über die Verfahrensbeendigung nach Zweckmäßig keitserwägungen nach den §§ 153 ff. der Strafprozessordnung inzwischen der Regelfall, vgl. Knobloch, Legalität, S. 89, so dass Dengler, Kontrolle, S. 35, gar von einer „faktischen Ab schaffung“ des Legalitätsprinzips spricht. 101 Weigend, Absprachen, S. 2 ff., spricht insoweit von einer universalen Entwicklung. Zur Absprachepraxis in Deutschland vgl. Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, S. 91 ff.; Ranft, Strafprozessrecht, S. 407 ff.; Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 104 ff., 140 f. 102 Siehe in diesem Sinne die eindrücklichen Ausführungen Schünemanns, in: Arzt u. a. (Hrsg.), FS Baumann, S. 365 ff. zur Absprachepraxis. 103 Stichpunktartig zusammengefasst findet sich etwa die Kritik an der deutschen Abspra chepraxis bei Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, S. 94 sowie Kühne, Strafprozessrecht, S. 455, wobei Roxin/Schünemann die Absprachepraxis in der inquisitorischen Verfahrensstruk tur noch als weitaus beschuldigtenfeindlicher ansehen als diejenige im adversatorischen Ver fahren, da die Absprache zwischen Gericht und Beschuldigtem getroffen werde und das Ge ständnis des Beschuldigten ein echtes Beweismittel sei. 104 Knobloch, Legalität, S. 131 ff.; Dreher, Kontrollierbarkeit, S. 279.
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1. Kap.: Die Ausgestaltung der Figur des staatlichen Anklägers
III. Der Staatsanwalt als Bindeglied zwischen den Verfahrenstypen
In den modernen Formen des adversatorischen Verfahrens und des Inquisitions prozesses existiert neben dem Gericht also auch noch ein von diesem unabhän giger staatlicher Ankläger. Er entstand daraus, dass in das adversatorische Ver fahren als auch in den Inquisitionsprozess Elemente des jeweils anderen Typs integriert wurden, um systemimmanente Schwächen zu beheben. Das adversatori sche Verfahren wurde verstaatlicht, um eine größere Verfolgungsgerechtigkeit zu erreichen, und in den Inquisitionsprozess wurde ein vom Gericht getrennter Anklä ger eingefügt, um die psychologische Überforderung des Urteilsorgans zu beseiti gen. Der Staatsanwalt ist daher Kind der Vermischung zweier Verfahrenskulturen und vereint in sich deren miteinander in Widerspruch stehende Konzeptionen der Anklagefunktion, nämlich die eines parteilichen Anklägers und die eines objekti ven, unparteilichen Staatsorgans. Dominierend ist dabei die zur jeweiligen Form der Wahrheitsfindung passende Rolle. Sieht man ihn im adversatorischen Partei verfahren, wo er die Nachfolge des Privatklägers angetreten hat, im Wesentlichen als Ankläger, so wird im Inquisitionsprozess, der sich im Zuge der Verstaatlichung des Strafverfahrens entwickelt hat, konsequent seine Eigenschaft als Staatsorgan betont. Demnach ergeben sich die typischen Elemente der Stellung des Staatsanwalts im adversatorischen Verfahren, dessen Kern der Konflikt zwischen Anklage und Verteidigung ist, allesamt aus seiner Rolle als parteilicher Ankläger. Als Vertreter des Strafverfolgungsinteresses ist der Staatsanwalt unproblematisch Teil der Ex ekutive, die Hierarchien innerhalb der Staatsanwaltschaft sind jedoch aufgrund des hinter dem adversatorischen Verfahren stehenden liberalen Staatsmodells eher flach. Im Verfahren steht der Staatsanwalt als weitgehend einseitig agierende Par tei formal auf einer Stufe mit dem Beschuldigten. Er allein vertritt das Strafver folgungsinteresse, d. h. die Überführung des Beschuldigten liegt vollständig in sei ner Hand, er bezichtigt ihn nicht nur einer Straftat, sondern muss den Beweis der Richtigkeit seiner Behauptung führen und die Gegenargumente der Verteidigung entkräften. Umgekehrt bedeutet seine Alleinverantwortlichkeit aber auch, dass er weitgehend über die Strafklage disponieren kann. Fällt seine Anklage weg, kann der Beschuldigte nicht verurteilt werden. Die Eigenschaft des Staatsanwalts als Staatsorgan wirkt sich demgegenüber nur begrenzt aus, um zu vermeiden, dass sie sich mit seiner Anklägereigenschaft, und damit der adversatorischen Form der Wahrheitsfindung, stößt. So wird zwar generell anerkannt, dass der Staatsan walt als Staatsvertreter zur Objektivität verpflichtet ist, praktisch wirkt sich diese Verpflichtung aber nahezu ausschließlich in Form einer Verpflichtung zum „Fair Play“ aus, wie sie auch einer privaten Partei obliegen würde. Kaum abschwächen lässt sich der Vorteil gegenüber der Verteidigung, auf die staatlichen Ermittlungs ressourcen zurückgreifen zu können. Aus diesem Grund ist der Staatsanwalt aber ausgesprochen strengen Beweisverwertungsverboten unterworfen.
B. Moderne Form der Verfahrenssysteme und Integration des Anklägers
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In einer inquisitorischen Verfahrensstruktur entstehen die Befugnisse und Ver pflichtungen des Staatsanwalts dagegen aus seiner Rolle als an der hoheitlichen Sachverhaltsaufklärung mitwirkendem Staatsorgan. Eine eindeutige Zuordnung zu einer der Staatsgewalten ergibt sich daraus nicht. Historisch hat sich die Staats anwaltschaft aufgrund des eher autoritären Staatsverständnisses, das dem Inqui sitionsprozess zugrunde liegt, zunächst als Teil der Exekutive entwickelt und ist intern streng hierarchisch durchstrukturiert. Der Stellung des Staatsanwalts im Verfahren entspricht allerdings eher eine Einordnung in die Judikative.105 Im re formierten Inquisitionsprozess ist der staatliche Ankläger auf einer Stufe mit dem Richter angesiedelt und ist wie dieser ausschließlich an Recht und Gesetz gebun den und zur absoluten Objektivität verpflichtet. Er unterstützt den Richter bei der umfassenden Sachverhaltsaufklärung, soll ihn gleichzeitig aber auch als eine Art Gesetzeswächter kontrollieren. Seine Anklagefunktion ist demgegenüber durch die Geltung der Inquisitionsmaxime reduziert, sie beschränkt sich auf die Initiie rung der richterlichen Untersuchungstätigkeit im Hauptverfahren. Hat der Staats anwalt einmal einen entsprechenden Antrag gestellt, ist es Sache des Richters, von sich aus zu ermitteln, inwieweit der Anklagevorwurf berechtigt ist, und über den Verfahrensausgang zu entscheiden. Der Staatsanwalt fördert nur noch die richter liche Wahrheitsfindung, vor allem indem er Beweisanträge stellt, kann aber nicht mehr über das Schicksal des Verfahrens entscheiden, indem er etwa die Anklage zurückzieht. Um ihn mit der inquisitorischen Form der Wahrheitsfindung ver einbaren zu können, gilt der Anklagegrundsatz also nur begrenzt, nämlich inso weit, als der Richter zur Einleitung seiner Ermittlungen eines staatsanwaltlichen Antrags bedarf, in diesem Rahmen aber nach wie vor umfänglich zu Gunsten als auch zu Lasten des Beschuldigten ermittelt, ohne auf eine weitere Mitwirkung des Staatsanwalts angewiesen zu sein. Es hat daher seine Berechtigung, wie die zeitge nössischen Juristen von einer lediglich formalen Ausprägung des Anklagegrund satzes im Gegensatz zu seiner materiellen, vollständigen Verwirklichung im adver satorischen Verfahren zu sprechen. Die Stellung des Staatsanwalts lässt sich folglich im Ergebnis danach durch deklinieren, ob das Verfahren als Ganzes eine adversatorische oder eine inquisi torische Form der Wahrheitsfindung vorsieht. Das Verständnis des Strafprozes ses als Konfliktlösung oder aber als von Amts wegen durchzuführende hoheitliche Untersuchung definiert die Rolle des Staatsanwalts entweder als parteilicher An kläger oder als objektives Staatsorgan. Damit in Einklang gebracht werden muss dann seine jeweils andere Komponente, also im adversatorischen Verfahren seine Eigenschaft als Staatsorgan und im Inquisitionsprozess seine Funktion als vom Gericht getrennter Ankläger. In jedem Fall bleibt der staatliche Ankläger eine dop pelgesichtige Figur, in der zwei an sich gegensätzliche Verfahrenskonzeptionen aufeinander treffen. Indem er adversatorische und inquisitorische Elemente zu 105 Zu der entsprechenden, vor allem in Italien ausgearbeiteten Doktrin siehe die Ausführun gen unten im 3. Kapitel, B. II. 4., 5.
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1. Kap.: Die Ausgestaltung der Figur des staatlichen Anklägers
sammenführt, bildet er ein Bindeglied zwischen den Verfahrenstypen. Die bei den oben dargestellten Alternativen stellen dabei nur Idealtypen dar, in denen jeweils das inquisitorische bzw. das adversatorische Verfahrenskonzept die Aus gestaltung der Staatsanwaltschaft klar dominiert. Besonders in den inquisitorisch geprägten Rechtsordnungen, zu denen neben der argentinischen auch die deutsche zählt, weicht die Stellung der Staatsanwaltschaft neuerdings immer mehr von dem oben dargestellten Idealtyp ab und weist ein deutlich heterogeneres Bild auf. Dem Staatsanwalt werden Befugnisse zugesprochen, die mit der inquisitorischen Form der Wahrheitsfindung kaum in Einklang zu bringen sind, genannt seien hier nur die Absprachen zwischen Anklage und Verteidigung. Wie schon in der Vergangen heit entwickeln sich natürlich auch in der Gegenwart die nationalen Strafverfah rensordnungen, und abstrakt gesehen die Strafverfahrenssysteme als Ganzes, wei ter. Mit dem nach den großen kontinentaleuropäischen Reformen im neunzehnten Jahrhundert erreichten Stand ist die Erneuerung des Inquisitionsprozesses keines wegs abgeschlossen. Es werden weiterhin zunehmend Parteielemente in das Ver fahren integriert, was sich eben in besonderem Maße in der Figur des Staatsanwalts manifestiert, der dann Eigenschaften erhält, die einer Konzeption als Ankläger im materiellen Sinne entsprechen. Aufgrund seiner zwiespältigen Natur konzentriert sich im staatlichen Ankläger also die Vermischung der Verfahrenssysteme. Für das Verständnis des in diesem Sinne besonders interessanten argentinischen Reformprozesses bietet es sich daher an, die Entwicklung der dortigen Staatsan waltschaft näher zu betrachten. Im Folgenden soll untersucht werden, wie, warum und mit welchen Auswirkungen die jeweiligen Verfahrensordnungen in der Fi gur des Staatsanwalts inquisitorische und adversatorische Elemente miteinander kombinierten.
2. Kapitel
Die Ankunft kontinentaleuropäischen und U. S.-amerikanischen Rechts in Argentinien 2. Kap.: Ankunft kontinentaleuropäischen und amerikanischen Rechts Die Kolonisation des Staatsgebietes des heutigen Argentiniens durch Kastilien brachte den in dem spanischen Königreich angewandten gemeinrechtlichen Inqui sitionsprozess nach Südamerika. Mit der zeitweisen Abwendung vom Mutterland nach Gewinn der Unabhängigkeit gelangte jedoch auch das liberale U. S.-amerika nische Verfahrensverständnis nach Argentinien und fand in den Vorgaben der Bun desverfassung aus dem Jahre 1853 seinen Niederschlag. Dies führte in der Folge zeit zu einem lang andauernden Widerspruch zwischen der Verfassung und dem einfachen Recht.
A. Die Verwurzelung des Inquisitionsprozesses I. Entstehung des derecho indiano und Transplantation des kastilischen Inquisitionsprozesses nach Südamerika
Argentinien existiert als eigenständiges Staatsgebilde erst seit dem frühen neun zehnten Jahrhundert. Zuvor gehörte es zu den südamerikanischen Kolonien des Königreichs Spanien, genauer Kastiliens, dessen Rechtssystem den argentinischen Strafprozess bis heute prägt. Zunächst lebten auf dem Gebiet des heutigen Argentinien Ureinwohner in no madischen und halbnomadischen Stämmen, eine Hochkultur wie die der weiter nördlich angesiedelten Inkas oder Azteken existierte nicht.106 Über die Rechts bräuche dieser Ureinwohner wissen wir nur sehr wenig.107 Nur zwei Jahre nach der Entdeckung der „Neuen Welt“ durch Columbus im Jahre 1492 teilten die riva lisierenden Seefahrernationen Portugal und Kastilien die neu entdeckten Gebiete im Vertrag von Tordesillas vom 7. Juni 1494 anhand eines Längengrads 360 See meilen westlich der Kapverdischen Inseln unter sich auf. Während die Gebiete öst lich dieser Linie Portugal zufallen sollten, erhob Kastilien einen Anspruch auf al 106
Vgl. dazu Lewis, History, S. 17 ff.; ausführlich Rosa, Historia Bd. 1, S. 3 ff.; allerdings waren Teile im Nordwesten des heutigen Staatsgebiets vom Inkareich kolonisiert worden, vgl. Raffino, in: Academia Nacional de la Historia (Hrsg.), Nueva Historia Bd. 1, S. 97 ff. 107 Vázquez Rossi, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 143; Einen kurzen Überblick über die Rechtssysteme der Ureinwohner Süd- und Mittelamerikas bietet Hernández Peñalosa, De recho, S. 100 ff.
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2. Kap.: Ankunft kontinentaleuropäischen und amerikanischen Rechts
les, was westlich davon lag. Nach dieser Vereinbarung stand der große östliche Teil des heutigen Brasilien Portugal zu, der Rest Südamerikas, also auch das heutige Argentinien, hingegen der kastilischen Krone. Die Begründung des Herrschafts anspruchs der iberischen Nationen bezüglich des Landes in Übersee stellte aller dings durchaus ein juristisches Problem dar.108 Zur Legitimation wurde vor allem auf eine theologisch-juristische Argumentation zurückgegriffen, deren Grundla gen in mehreren Bullen des spanischstämmigen Papstes Alexander VI. aus dem Jahre 1493 festgeschrieben worden waren.109 Damit gab der Papst den christli chen Herrschern Kastiliens und Portugals das Recht, die neu entdeckten und noch zu entdeckenden Gebiete in Besitz zu nehmen, um dort den christlichen Glauben zu verbreiten.110 Die Expedition unter Juan Díaz de Solís, der 1516 die Rio de la Plata-Mündung erreichte und das angrenzende Gebiet für Kastilien in Besitz nahm, markierte den Beginn der spanischen Eroberung und Kolonisation dieser Region. Trotz verschie dener Rückschläge – so musste das 1536 gegründete Buenos Aires schon nach kur zer Zeit wieder aufgegeben werden und wurde erst 1580 neu gegründet – gelang den Spaniern ausgehend vom 1537 entstandenen Asunción nach und nach auch die Besiedlung des Landesinneren. Im Jahre 1542 wurden die spanischen Besitzun gen in Südamerika zum Vizekönigreich Peru zusammengefasst, 1776 schließlich spaltete sich das Vizekönigreich Río de la Plata mit Buenos Aires als Hauptstadt ab, welches in etwa die heutigen Staatsgebiete Argentiniens, Uruguays, Paraguays sowie Boliviens umfasste. Rechtlich waren die amerikanischen Vizekönigreiche zwar nicht Teil Kastiliens selbst, unterstanden aber der kastilischen Krone.111 Von Beginn der Conquista an hatte das kastilische Reich naturgemäß großes In teresse daran, Verwaltungsstrukturen zu schaffen, die es ermöglichten, die könig liche Kontrolle über das neu eroberte Gebiet zu gewinnen, zu erhalten und zu fes tigen.112 Im Heimatland wachten zwei zentrale Organe über die Verwaltung der dort als Indias bezeichneten amerikanischen Gebiete. Das schon 1503 geschaf fene Casa de Contratación übernahm zunächst die Organisation der Expeditionen in die neue Welt und beaufsichtigte den Handel mit den amerikanischen Provin zen.113 Von noch größerer Bedeutung war der 1524 vom allgemeinen Regierungs 108
Vgl. zu den unterschiedlichen Begründungsversuchen De la Hera, in: Sánchez Bella/ ders./Díaz Rementería, Historia del Derecho Indiano, S. 120 ff. 109 Zu den Bullen Alexanders VI. siehe Cuesta Domingo, in: Academia Nacional de la Histo ria (Hrsg.), Nueva Historia Bd. 1, S. 335 ff. sowie die sehr ausführliche Darstellung von Zavala, Instituciones Jurídicas, S. 30 ff. 110 Die zeitgenössische wissenschaftliche Diskussion zu dieser Auffassung ist dargestellt bei Milhou, in: Bernecker u. a. (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Lateinamerikas Bd. 1, S. 290 ff. 111 De la Hera, in: Historia del Derecho Indiano, S. 154; vgl. dazu auch Levene/Levene (h.), Historia Bd. 1, S. 247 f.; Sierra, Historia Bd. 1, S. 81 f., wonach die amerikanischen Besitz tümer der Krone gerade keine Kolonien, sondern Provinzen waren. 112 Vgl. dazu Pietschmann, in: Bernecker u. a. (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Latein amerikas Bd. 1, S. 336 f. 113 Sierra, Historia Bd. 1, S. 105; Levene/Levene (h.), Historia Bd. 1, S. 249.
A. Die Verwurzelung des Inquisitionsprozesses
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gremium Consejo de Castilia abgespaltene Consejo de Indias. Der Consejo de Indias war unterhalb des Monarchen das höchste Regierungsorgan der Indias. Er besaß die Legislativgewalt über die gesamten überseeischen Provinzen und war für alle Rechtsakte dortiger kastilischer Amtsträger oberste und letzte Berufungs instanz.114 In Amerika selbst wurden schnell oberste königliche Gerichte, sog. Reales Audiencias, eingerichtet, um der königlichen Rechtsordnung Geltung zu ver schaffen. Die erste Real Audiencia entstand in Santo Domingo und datiert bereits aus dem Jahre 1511. Sie war streng an den heimischen Vorbildern in Vallado lid und Granada orientiert und setzte sich aus einem Vorsitzenden, vier weiteren Richtern, einem Fiskal als Vertreter des Königs sowie einer Reihe weiterer Ge richtsbeamter zusammen. Solche Audiencias wurden nach und nach als höchste Gerichtsinstanz in allen überseeischen spanischen Besitzungen eingerichtet, für die Rio-de-la-Plata-Region zunächst im Jahre 1559 im peruanischen Charcas und später 1661 in Buenos Aires. Nahmen die Audiencias zu Beginn noch eine pro visorische Regierungsfunktion wahr und dienten dazu, die königliche Ordnungs macht erst einmal zu etablieren, zogen sie sich mit der zunehmenden Ausbildung funktionierender Verwaltungsstrukturen auf ihre eigentliche Aufgabe zurück, als Appellationsgerichte Entscheidungen der erstinstanzlichen Gerichtsbarkeit, wel che von den Gouverneuren und ihnen untergeordneten Amtsträgern, vor allem den örtlichen Bürgermeistern, ausgeübt wurde, zu überprüfen.115 Da die Indias der kastilischen Krone unterstanden, wandten die dort eingesetz ten Rechtsprechungsorgane auch kastilisches Recht an, ohne dass eine ausdrück liche Verweisung oder ähnliches erforderlich gewesen wäre.116 Allerdings zeigte sich schnell, dass das auf die Verhältnisse im Mutterland zugeschnittene kastili sche Recht auf die sehr unterschiedlichen Lebensbedingungen in den amerikani schen Provinzen nicht uneingeschränkt anwendbar war. Sei es, weil zunächst erst einmal eine Verwaltung aufgebaut werden musste, die in der Lage war, komplexe Rechtsvorgaben umzusetzen, oder weil die sehr heterogene Bevölkerungsstruk tur aus Ureinwohnern, afrikanischen Sklaven und Europäern eine völlig andere als in Spanien war, um nur Beispiele zu nennen. So liefen Normen teilweise ins Leere, während für andere neuartige Situationen, welche von den Schöpfern des heimatlichen Rechts nicht vorausgesehen worden waren, gar keine Regelungen existierten.117 Um auf die neuen Anforderungen zu reagieren, ergingen durch die kastilische Krone eine Vielzahl von Einzelanweisungen, ihre amerikanischen Statthalter erlie ßen auf die lokalen Bedingungen zugeschnittene Gesetze und auch die Rechtspre chung sah sich zu einer kasuistischen Fortentwicklung des bestehenden Rechts ge 114
Rosa, Historia Bd. 1, S. 278 f.; Sierra, Historia Bd. 1, S. 106. Zorraquín Becú, Historia Bd. 1, S. 145 ff.: Pietschmann, in: Bernecker u. a. (Hrsg.), Hand buch der Geschichte Lateinamerikas Bd. 1, S. 337, 340 ff. 116 Levaggi, Manual Bd. 1, S. 141 f. 117 Zorraquín Becú, Historia Bd. 1, S. 213; ausführlich Ots y Capdequi, Historia, S. 83 sowie Díaz Rementería, in: Sánchez Bella/De la Hera/ders., Historia del Derecho Indiano, S. 45 ff. 115
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2. Kap.: Ankunft kontinentaleuropäischen und amerikanischen Rechts
zwungen.118 Dieses speziell auf die Indias zugeschnittene Recht, das sog. derecho indiano, nicht zu verwechseln mit dem Recht der amerikanischen Ureinwohner, wurde aufgrund seiner Unübersichtlichkeit schließlich im Jahre 1680 in der mo numentalen neunbändigen Kodifikation Recopilación de las Indias zusammen gefasst. Die Recopilación de las Indias enthielt vereinzelt auch für den Straf prozess relevante Regelungen, diese bezogen sich jedoch hauptsächlich auf die Gerichtsorganisation, verfahrensrechtliche Regelungen fehlten weitestgehend.119 Um das Gewirr zwischen allgemeiner kastilischer Gesetzgebung und den spezi ell auf Südamerika bezogenen Normen grundsätzlich zu ordnen, legte sie in ihrem zweiten Buch allgemein fest, in welcher Reihenfolge die verschiedenen Gesetze anzuwenden seien. Danach war grundsätzlich die Spezialgesetzgebung der allge meinen vorrangig, zudem wurde innerhalb des derecho indiano sowie des origi när kastilischen Rechts eine Hierarchie der anzuwendenden Gesetze festgelegt. Da das derecho indiano zum Ablauf des Strafprozesses keine näheren Aussagen traf, musste auf das kastilische Recht zurückgegriffen werden. Doch die hierfür vorge gebene Reihenfolge wurde in der Praxis keineswegs eingehalten. Denn im Straf prozess wurde nicht nach dem alten Privatklagesystem verfahren, welches die an sich vorrangigen kastilischen Gesetzessammlungen, die Fueros, vorsahen, son dern es hatte über die eigentlich nur subsidiär anwendbaren Siete Partidas der ge meinrechtliche Inquisitionsprozess Einzug in Südamerika gehalten.120 Die Gründe, die dazu führten, dass sich der Inquisitionsprozess zur selben Zeit in Kontinental europa durchsetzte121, galten in Südamerika in noch verstärktem Maße. Nach da maliger Rechtsauffassung oblag sowohl Gesetzgebung als auch Rechtsprechung allein dem König, Gerichte leiteten ihre Rechtsprechungsgewalt nur von ihm ab und wurden als seine Vertreter tätig.122 Das inquisitorische System, das nicht auf Privatklagen angewiesen war und ein stets überprüfbares schriftliches Verfahren vorsah, ermöglichte eine maximale Lenkbarkeit und Kontrollierbarkeit durch die Krone und entsprach damit dieser Idee. Das war gerade in den Indias deshalb be sonders wichtig, weil den königlichen Statthaltern aufgrund der weiten räumlichen Entfernungen und der dünnen Besiedlung die Kontrolle durch die Rechtsprechung, aber auch der Rechtsprechung selbst, besonders schwer fiel.123 Noch entscheiden der war aber der religiöse Aspekt. Wie schon dargelegt, liegen die Wurzeln des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses im kanonischen Recht und er entspricht auch seiner Struktur nach den christlichen Vorstellungen des Prozesses als Sühne
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Rosa, Historia, Bd. 1, S. 267; Ots y Capdequi, Estado, S. 11 f. Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 160, 162. 120 Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 160; Vázquez Rossi, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 143 f. 121 Vgl. dazu die Ausführungen oben im 1. Kapitel, A. II. 122 Vázquez Rossi, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 207; Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 162 f. 123 Siehe dazu Díaz Rementería, in: Sánchez Bella/De la Hera/ders., Historia del Derecho In diano, S. 79 f. sowie Ots y Capdequi, Historia, S. 89 f. 119
A. Die Verwurzelung des Inquisitionsprozesses
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gericht.124 Dies war in Südamerika umso bedeutsamer, als die gesamte spanische Herrschaft über die „neue Welt“ sich ausdrücklich überhaupt erst über den Auftrag der Verbreitung des Christentums legitimierte. Dadurch kam es in den neuen Län dern jenseits des Ozeans zu einer noch engeren Verflechtung von Kirche und Staat als im heimischen Kastilien125. Dies galt durchaus auch auf dem Gebiet der Ge richtstätigkeit. Entsprechend dem kastilischen Vorbild existierte neben der allge meinen Strafgerichtsbarkeit in den südamerikanischen Provinzen wie in Kastilien auch eine kirchliche Justiz. Die Bischöfe waren innerhalb ihrer Diözesen Gerichts herren über alle Verfahren, welche kirchliche Würdenträger betrafen. Sie waren al lerdings insofern in den normalen staatlichen Instanzenzug eingebunden, als ihre Urteile ebenso wie bspw. die eines Bürgermeisters vor den Reales Audiencias, den königlichen Berufungsgerichten, angefochten werden konnten.126 Weiterhin wa ren auch die staatlich kontrollierten kirchlichen Inquisitionsgerichte zur Sicherung der Reinheit des Glaubens in Amerika aktiv.127 Im heutigen Argentinien existierte jedoch kein solches Tribunal del Santo Oficio, das im peruanischen Lima ansäs sige war für die Rio-de-la-Plata-Region zuständig. Seine Entscheidungen konnten nur vor der obersten Inquisitionsbehörde, dem Rat der Inquisition in Kastilien, an gefochten werden.128 So kam es zu einer Vermischung staatlicher und kirchlicher Justiz auf der Ebene der Gerichtsorganisation, welche wesentlich zur Verbreitung des Inquisitionsprozesses beigetragen haben dürfte. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass die Spezialgesetzgebung des derecho indiano den Strafprozess in Südamerika nicht wesentlich beeinflusste, vielmehr wurde der gemeinrechtliche Inquisitionsprozess der Siete Partidas unver ändert übernommen und angewandt. Demgegenüber blieb das vor Ankunft der Spanier existierende Recht der Ur einwohner Amerikas völlig ohne Einfluss auf den Strafprozess. Zwar wurden die indianischen Bräuche von den Spaniern zunächst nicht völlig unterbunden, nach 124 Bspw. geht die besondere Bedeutung des Geständnisses als „Königin der Beweismittel“ darauf zurück, dass der erste Schritt zur Buße die Bekenntnis der Sünde ist; siehe zum Gan zen Ignor, Geschichte, S. 68 ff., der den religiösen Hintergrund des Inquisitionsprozesses der Constitutio Criminalis Carolina plausibel nachweist. 125 Die Kirche unterhielt sich in Amerika nicht selbst, sondern wurde von der Krone finan ziert. Später erhielt der König sogar das Recht, dort die kirchlichen Würdenträger selbst ein zusetzen. Die amerikanische Kirche war damit Staatsorgan, vgl. Levene, Argentinien, S. 39; Ots y Capdequi, Historia, S. 175 f. 126 Vgl. Rosa, Historia Bd. 1, S. 294 f.; Sierra, Historia Bd. 1, S. 129 f. 127 Zu den infamen Prozessen vor diesen „Gerichten“, welche dem Begriff des Inquisitions prozesses bis heute einen solch schlechten Klang verleihen, siehe Hoffmann, Geschichte der Inquisition, Bd. 1, S. 220 ff., sowie speziell für Südamerika ders., Geschichte der Inquisition Bd. 2, S. 37 ff. Sie können keinesfalls mit dem bisher dargestellten abstrakten Prozesstyp und auch nur sehr bedingt mit dem weltlichen Inquisitionsprozess gleichgesetzt werden, da ihre Exzesse nicht systemimmanent sind. So sah der gemeinrechtliche Inquisitionsprozess entge gen landläufiger Meinung durchaus ein Recht auf Verteidigung vor, vgl. Ignor, Geschichte, S. 78 ff.; 110 ff.. Die vorliegende Darstellung beschränkt sich auf das weltliche Recht. 128 Sierra, Historia Bd. 1, S. 131; Levaggi, Manual Bd. 2, S. 35.
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einem später auch in die Recopilación de las Indias aufgenommenen königlichen Erlass aus dem Jahre 1555 sollten sie noch so weit zulässig sein, als sie nicht den Gesetzen oder den Interessen der kastilischen Krone widersprachen.129 Es leuch tet jedoch per se ein, dass diese Voraussetzungen auf den Strafprozess, den Inbe griff staatlicher Machtausübung, nicht zutreffen konnten.130 Tatsächlich gab es nur sehr wenige einheimische Rechtsbräuche, die dem Aufbau eines kastilischen Staatswesens nach den Maßstäben einer christlichen Herrschaft nicht entgegen standen.131 Entsprechend kam es einhergehend mit der in katastrophalem Maße schwindenden Zahl von Ureinwohnern132 zu einer nahezu vollständigen Vernich tung der indianischen Kultur und Ersetzung durch die des spanischen Heimat landes.133 Von einer „Rezeption“ des spanischen Strafprozessrechts134 kann dabei keinesfalls gesprochen werden, da diese begrifflich eine freiwillige Übernahme des fremden Rechts voraussetzt. Vielmehr stellte die Etablierung des Inquisi tionsprozesses in Lateinamerika aus Sicht der unterworfenen Ureinwohner eine Imposition fremden Rechts, aus Sicht der Einwanderer eine Transplantation des Heimatrechts dar.135 Das mit der spanischen Eroberung nach Südamerika gelangte kastilische Straf prozessrecht prägt das argentinische Strafverfahren bis heute und soll hier kurz in seinen Grundzügen dargestellt werden. Schon in Kastilien selbst war die Gerichts praxis keineswegs einheitlich136, dies dürfte in verstärktem Maße für die noch nicht voll ausgebildete, stark gewohnheitsrechtlich geprägte Rechtsprechung137 in den noch jungen amerikanischen Provinzen gegolten haben. Zudem veränderten sich die Rechtsbräuche in der etwa dreihundert Jahre dauernden spanischen Herrschaft über das Gebiet des heutigen Argentiniens vom Beginn des sechzehnten bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts natürlich auch. Dennoch lässt sich ein von 129
Siehe dazu Díaz Rementería, in: Sánchez Bella/De la Hera/ders., Historia del Derecho In diano, S. 42 f. sowie Levaggi, Manual Bd. 1, S. 156 f. 130 Zwar wurde den Stammeshäuptlingen eine sehr beschränkte Jurisdiktion in rein in dianischen Angelegenheiten zugestanden, vgl. Hurtado Pozo, La ley importada, S. 28; diese Ausnahmeregelung hatte aber keinerlei Einfluss auf die weitere Entwicklung des Straf prozessrechts, vgl. Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 328 f.; Soler, Derecho penal, Bd. 1, S. 109 f. 131 Zusammenfassung bei Zorraquín Becú, Historia Bd. 1, S. 232 f. 132 Siehe zu dieser durch Krieg und Zwangsarbeit, aber auch durch aus Europa eingeschleppte Krankheiten sowie eine Umstellung der Ernährungsgewohnheiten hervorgerufenen Tragödie Edelmayer, in: Edelmayer u. a. (Hrsg.), Die beiden Amerikas, S. 54 ff. sowie ausführlich Pieper, in: Bernecker u. a. (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Lateinamerikas Bd. 1, S. 313 ff. 133 Vázqzez Rossi, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 143; Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 328 f. 134 So aber Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 329. 135 Hurtado Pozo, La ley importada, S. 31 f., der Bezug nimmt auf die Definitionen Rheinsteins, vgl. dazu Rheinstein, Types of Reception, in: Leser (Hrsg.), Gesammelte Schriften Bd. 1, S. 261 ff. 136 Tomás y Valiente, derecho penal, S. 155 ; Alonso Romero, Proceso Penal, S. 162 f. 137 Zorraquín Becú, Historia Bd. 1, S. 230 ff.
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bestimmten Prozessmaximen getragenes Verfahrensgerüst isolieren, welches die strafprozessuale Praxis dieser Zeit gut wiedergibt. Die Siete Partidas sahen ursprünglich zwei verschiedene Verfahrensformen für den Strafprozess vor. Wurde das Verfahren durch Privatklage eingeleitet, folgte ein den alten Prozessgrundsätzen entsprechendes adversatorisches Verfahren.138 Die entscheidende Neuerung bestand aber darin, dass das Verfahren auch durch An zeige (denuncia) oder von Amts wegen eingeleitet werden konnte und dann mit einer amtlichen Untersuchung (pesquisa) und einer daran anschließenden vom Richter bestimmten, weitgehend schriftlichen Hauptverhandlung streng inquisito risch durchgeführt wurde. In der auf den Partidas basierenden Rechtsanwendung verlor die adversatorische Verfahrensstruktur recht schnell ihre Bedeutung, es ent wickelte sich ein einheitlicher inquisitorisch geprägter Prozesstyp.139 Ein wichti ger praktischer Grund dafür ist sicher darin zu sehen, dass eine anonyme Anzeige weitaus weniger Aufwand und auch ein geringeres Risiko bedeutete als die Pri vatklage, bei deren Scheitern der Kläger mit seinem Eigentum oder sogar seiner Freiheit haftete.140 Entscheidend war aber auch die zunehmende Anerkennung und Durchsetzung eines staatlichen Strafanspruchs und die damit einhergehende Stär kung des königlichen Fiskals.141 Dieser auch in der Rio-de-la-Plata-Region angewandte Prozesstyp teilte sich in drei Abschnitte. Zunächst kam es zu einer dem heutigen Vorverfahren vergleichbaren amtlichen Untersuchung durch den Richter, der información sumaria. Auch wenn sie for mal nur der Vorbereitung des Verfahrens diente, stellte sie jedoch praktisch seinen Schwerpunkt dar.142 Eine solche Untersuchung konnte nach wie vor durch Privat klage eingeleitet werden, meist geschah dies aber entweder durch Anzeige eines Privaten bzw. des Fiskals oder indem der Richter die Ermittlungen von Amts we gen aufnahm.143 Die Ermittlungen erfolgten geheim.144 Grundsätzlich sollte der Richter das wirkliche Tatgeschehen rekonstruieren, also objektiv ermitteln. Tat sächlich waren seine Nachforschungen aber regelmäßig darauf ausgerichtet mög lichst schnell, soweit noch nicht vorhanden, einen Tatverdächtigen auszumachen sowie Beweise für dessen Schuld zu finden. Er konzentrierte sich also auf die Er 138 Dazu ausführlich Alonso Romero, Proceso Penal, S. 41 ff.; Sabadell da Silva, Tormenta, S. 61 ff. 139 Alonso Romero, Proceso Penal, S. 91 ff. 140 Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 301. 141 Sabadell da Silva, Tormenta, S. 67 f.; Siehe dazu auch unten die Ausführungen zur Stel lung des Fiskals im Inquisitionsprozess, 2. Kapitel, A. III. 142 Alonso Romero, Proceso Penal, S. 179. 143 Tomás y Valiente, derecho penal, S. 157 ff., 160. 144 Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 116. Vgl. auch Vázqez Rossi, De recho Procesal Penal Bd. 1, S. 210 f., der die Heimlichkeit der Ermittlungen mit der Ideologie des Inquisitionsprozesses als Instrument der Obrigkeit und nicht des Volkes in Zusammenhang bringt.
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mittlung von Belastungsbeweisen.145 Ermittelte der Richter einen Verdächtigen, ordnete er dessen Festnahme und häufig auch die Einziehung seines Vermögens an, um die Zugriffsmöglichkeit auf die Person des Beschuldigten und seine Gü ter für den Fall der Verurteilung sicherzustellen.146 Am Schluss des Vorverfahrens vernahm der Richter den Beschuldigten mit dem Ziel, durch Vorhaltung der bisher ermittelten Erkenntnisse ein Geständnis zu erhalten.147 Reichten die erlangten Be weismittel zu einer Verurteilung nicht aus und weigerte sich der Beschuldigte zu gestehen, wurde er in der Praxis entgegen der gesetzlichen Vorgaben meist schon zu diesem frühen Zeitpunkt der Folter unterworfen.148 Erwies sich der Beschuldigte nicht als unschuldig, folgte die Hauptverhandlung, das juicio plenario. Das juicio plenario sollte in der Theorie den Schwerpunkt des Verfahrens darstellen, während der Untersuchungsphase nur vorbereitender Charakter zugebilligt wurde. Tatsächlich wurde es aber durch die Ergebnisse des Vorverfahrens derart vorherbestimmt, dass es weit weniger Bedeutung für den Prozessausgang hatte als die información sumaria.149 Das Hauptverfahren wurde schriftlich und in verschiedenen, zeitlich getrennten Einzelakten durchgeführt.150 Gab es einen vom Gericht getrennten Ankläger, entweder eine Privatperson oder den Fiskal, wurden ihm die Prozessakten, welche die Ergebnisse des Vorverfah rens enthielten, übersandt, damit er eine Anklageschrift formulieren konnte. Wenn nicht, verfasste der Richter selbst die Anklage. Anschließend wurde der Anklage vorwurf dem Angeklagten bekannt gemacht, damit dieser jetzt seine Verteidigung vorbringen konnte. Danach schritt der Richter zur Beweisaufnahme, wobei er sehr strenge gesetzliche Beweisregeln sowohl zur Erhebung selbst als auch zur Würdi gung der Beweise zu beachten hatte.151 Zeugen wurden zeitlich getrennt und heim lich unter Eid vernommen und die Vernehmungsergebnisse wurden jeweils schrift lich in den Prozessakten festgehalten. Zum Abschluss der Beweisaufnahme teilte der Richter dem Angeklagten sowie, soweit vorhanden, dem Ankläger das Er 145 Durch die fehlende Unschuldsvermutung zugunsten des Beschuldigten war die formale Objektivität des Richters wertlos, vgl. dazu Vázquez Rossi, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 204, 208; Alonso Romero, Proceso Penal, S. 191 f.; Zu den Beweismitteln im gemeinrecht lichen Inquisitionsprozess nach den Siete Partidas siehe unten die Ausführung zum Hauptver fahren, dem juicio plenario. 146 Alonso Romero, Proceso Penal, S. 164; Sabadell da Silva, Tormenta, S. 69. 147 Grundsätzlich sollte die Vernehmung des Beschuldigten am Schluss des Vorverfahrens stehen, häufig fuhr der Richter jedoch auch noch danach mit den Ermittlungen fort und ver nahm den Beschuldigten nach deren Abschluss noch ein zweites Mal, vgl. Alonso Romero, Pro ceso Penal, S. 164. 148 Alonso Romero, Proceso Penal, S. 166; Das widersprach dem gesetzlich vorgegebenen Grundsatz, wonach zunächst grundsätzlich alle anderen Beweismöglichkeiten auszuschöpfen waren, vgl. Sabadell da Silva, Tormenta, S. 132 ff. sowie die folgenden Ausführungen zur Hauptverhandlung. 149 Alonso Romero, Proceso Penal, S. 190. 150 Zum Ablauf der Hauptverhandlung siehe Sabadell da Silva, Tormenta, S. 70 f. sowie aus führlicher Alonso Romero, Proceso Penal, S. 165 ff.; 213 ff. 151 Siehe dazu Tomás y Valiente, derecho penal, S. 171 ff.
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gebnis mit, damit sie dazu Stellung nehmen konnten. Zu einer Verurteilung nö tig war ein „voller Beweis“, sog. plena et legitima probatio. Dieser bestand in der Aussage zweier unmittelbarer Tatzeugen, vor allem aber im wichtigsten Beweis mittel, dem Geständnis des Beschuldigten. Konnte trotz Ausschöpfung sämtlicher Beweismittel der volle Beweis nicht geführt werden und lagen weitere, gesetzlich genau festgelegte Voraussetzungen vor152, konnte der Richter, eventuell auf Antrag des Anklägers, beschließen, den Angeklagten der Folter zu unterwerfen.153 Ein Ge ständnis unter Folter hatte aber nur dann Gültigkeit, wenn der Angeklagte es am Tag nach der Folterung noch einmal bestätigte.154 Zum Abschluss sprach der Richter auf der Grundlage des Studiums der Ge richtsakten sein Urteil, welches dem Angeklagten schriftlich zugestellt wurde.155 Dieses Schriftstück enthielt lediglich den Urteilsspruch, eine Begründung erfolgte nicht.156 Oft wurde dieser sehr umständliche und zeitaufwändige Ablauf des Verfahrens beschleunigt und gestrafft, indem die eigentlich zum Ermittlungsverfahren gehö rige Vernehmung des Beschuldigten sowie die einzelnen Verfahrensschritte des Hauptverfahrens zeitlich in einem vereinfachten Verfahren, orden simplificado, zusammengefasst wurden.157 Eine Berufung gegen das richterliche Urteil war grundsätzlich möglich.158 In Südamerika waren dafür als oberste Gerichte die Reales Audiencias zuständig.159 Die Darstellung der Verfahrensstruktur des aus Kastilien importierten Inquisi tionsprozesses nach den Siete Partidas zeigt deutlich eine absolut dominierende Stellung des Richters, der die Untersuchungs-, Anklage- und Urteilsfunktion in sich vereinte. Eine Staatsanwaltschaft im heutigen Sinne eines vom Gericht un abhängigen öffentlichen Anklägers existierte nicht. Der bis heute im Spanischen für den öffentlichen Ankläger verwandte Begriff des Fiscal deutet allerdings dar auf hin, dass der Vertreter der königlichen Interessen im Strafprozess mit dem selben Namen Vorläufer der heutigen Institution war. Im Folgenden soll seine Aus gestaltung näher untersucht werden.
152 Insbesondere musste sicher sein, dass ein schweres Delikt begangen wurde, und es muss ten bestimmte Indizien für eine Täterschaft des zu Folternden vorliegen. Vgl. dazu im Einzel nen Sabadell da Silva, Tormenta, S. 115 ff. 153 Allerdings wurde die Folterung sehr häufig schon zum Abschluss des Ermittlungsverfah rens durchgeführt, siehe dazu schon die obigen Ausführungen. 154 Verweigerte der Beschuldigte die Ratifikation seines Geständnisses, konnte die Folter noch bis zu zwei Mal wiederholt werden, Sabadell da Silva, Tormenta, S. 159 ff. 155 Zu Freisprüchen kam es dabei nur sehr selten, vgl. Tomás y Valiente, derecho penal, S. 180. 156 Siehe dazu Tomás y Valiente, derecho penal, S. 181 f. 157 Sabadell da Silva, Tormenta, S. 72 f. 158 Ausführlich zu den Berufungsmöglichkeiten Alonso Romero, Proceso Penal, S. 268 ff. 159 Zorraquín Becú, Historia Bd. 1, S. 141; Levaggi, Manual Bd. 2, S. 16 ff.
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II. Die Organisation der Fiskale in den Indias
Die Organisation der in den amerikanischen Provinzen tätigen Fiskale orien tierte sich an der allgemeinen Gerichts- und Verwaltungsstruktur. Den beiden zentralen Regierungsorganen in Kastilien, der Casa de Contratacíon sowie dem Consejo de Indias, waren jeweils ein Fiskal zugeordnet. Der Fiskal im Casa de Contratación war entsprechend dem besonderen Aufgabengebiet die ser Institution nicht mit der allgemeinen Strafverfolgung befasst, sondern nur in soweit, als sie mit Handel und Schifffahrt in Zusammenhang stand.160 Für die hier interessierende Materie des Fiskals als Vorläufer der Staatsanwaltschaft kann er somit unberücksichtigt bleiben. Demgegenüber war der Fiskal im Consejo de Indias formal der Vorgesetzte aller amerikanischen Fiskale.161 Schon in den Verord nungen Philipps II. zur Organisation des Consejo de Indias aus dem Jahre 1571 finden sich nämlich Vorschriften, wonach der Fiskal am Consejo de Indias gegen über allen in den Indias tätigen Fiskalen weisungsbefugt sein sollte.162 Fraglich ist angesichts der großen geographischen Entfernung allerdings, inwieweit der oberste Fiskal seine Weisungsbefugnis im Einzelfall auch ausüben konnte. In den amerikanischen Kolonien existierte wie auch in Kastilien selbst163 nur an den obersten Gerichtshöfen, den Reales Audiencias, eine dauerhaft eingerichtete Fiskalstelle.164 An jeder Audiencia saß zunächst jeweils ein Fiskal und der zuletzt an das Tribunal berufene Richter übte das Amt aus. Lediglich an den großen Audiencias in Lima und Mexiko existierten zwei Fiskale, wobei einer für Zivil-, der andere für Strafsachen zuständig war.165 Im Jahre 1786 wurde auch der Audiencia in Buenos Aires durch königlichen Erlass eine solche zweite Fiskalstelle mit der entsprechenden Aufgabenteilung zugebilligt.166 Den Fiskalen der Audiencias untergeordnet waren sog. Agentes Fiscales. Sie wurden vom Fiskal ernannt, waren von seinen Weisungen abhängig und konn ten jederzeit von ihm abgesetzt werden.167 Als Gehilfen („Auxiliares“) des Fiskals übernahmen sie einen Teil seiner Pflichten, wobei sich ihr Aufgabenbereich mit der Zeit immer mehr ausweitete.168 160
Zum Aufgabengebiet des Fiskals im Casa de Contratación siehe Suárez, Fiscales, S. 93. Madrid Rebolledo, Memorias de Licenciados Bd. 6 (1950), S. 15 ff. (27). 162 Suárez, Fiscales, S. 60 f.; Diese Verordnungen erfolgten fast 150 Jahre vor der Einset zung eines obersten Fiskals am Consejo de Castilias durch Philipp V., welche häufig als erste spanische Verwirklichung der Prinzipien einer einheitlichen, hierarchisch strukturierten Staatsanwaltschaft angegeben wird, vgl. Marchena Gómez, Ministerio Fiscal, S. 34; VolkmannSchluck, Strafprozess, S. 38. 163 Alonso Romero, Proceso Penal, S. 149, 153. 164 Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 168. 165 Ayarragaray, ministerio público, S. 112. 166 Ayarragaray, ministerio público, S. 115. 167 Avellaneda Huergo, Ministerio Fiscal, S. 7. 168 Madrid Rebolleno, in: Memorias de Licenciados Bd. 6 (1950), S. 15 ff. (30 f.); Suárez, Fis cales, S. 262 f. 161
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An den erstinstanzlichen Gerichten gab es keine ständigen Fiskalstellen.169 Teils traten dort die Agentes Fiscales als Ankläger auf.170 Im Übrigen ernannte der Rich ter, in der Regel der Bürgermeister oder ein anderer Vertreter der örtlichen Exeku tive, einen Fiskal, wenn dies erforderlich erschien.171 In den Weisungsbefugnissen des Fiskals am Consejo de Indias bzw. der Fis kale an den Audiencias zeigen sich erste Ansätze zum Aufbau einer Hierarchie zwischen den Vertretern des Königs im Strafprozess. Von einer eigenständigen, einheitlich agierenden Anklagebehörde im modernen Sinne kann allerdings keine Rede sein. Das Amt des Fiskals an den Reales Audiencias wurde nicht separat be setzt, sondern von einem Richter ausgeübt. Er vertrat die königlichen Interessen im Verfahren zwar inhaltlich unabhängig von den übrigen Richtern172, unterstand aber wie alle Mitglieder der Audiencia im Übrigen der generellen Weisungsbefug nis des Präsidenten des Tribunals. Damit benötigte er für die meisten Maßnahmen, wie bspw. eine persönliche Untersuchung des Tatorts, die Erlaubnis seines vorge setzten Richters.173 Zu bedenken ist weiterhin, dass im monarchischen Kastilien die Justiz noch mit der Exekutive verflochten war. Die Audiencias, und damit auch die dortigen Fiskale, waren aufgrund ihrer Aufgabe, die übrigen Amtsträger in den Kolonien zu kontrollieren, von diesen unabhängig174, unterstanden aber selbst verständlich der Regierung im Heimatland, in deren Interesse sie die Kontrollfunk tion wahrnahmen.175 Organisatorisch hatten die Fiskale demnach keine eigenständige Bedeutung ge genüber den Gerichten, die wiederum von der Regierung in Kastilien abhängig waren. Das Konzept einer Unabhängigkeit der Judikative, von der die Ankla gefunktion ihrerseits zu trennen ist, entsprach nicht dem monarchischen Staats verständnis. Dennoch liegen in der Funktion der Fiskale als staatliche Ankläger die Wurzeln für die spätere Entstehung der heutigen Staatsanwaltschaft, wie im Fol genden zu zeigen sein wird.
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Siehe dazu den Nachweis oben in Fn. 164. Granja Maya, Derecho Penal, S. 168. 171 Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal, Bd. 1, S. 168. 172 Marchena Gómez, Ministerio Fiscal, S. 33. 173 Suárez, Fiscales, S. 200 f. 174 Sogar der Vizekönig durfte den Fiskalen daher keine Anweisungen erteilen, vgl. Suárez, Fiscales, S. 198 ff. 175 Vgl. dazu die instruktiven Ausführungen Levaggis in seinem Manual Bd. 2, S. 5 f. sowie Haring, Spanish Empire, S. 120. 170
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III. Die Stellung des amerikanischen Fiskals im gemeinrechtlichen Inquisitionsprozess 1. Die Entwicklung des Fiskals zum öffentlichen Ankläger im Strafverfahren
Die amerikanischen Fiskale traten nicht nur im Strafverfahren auf, sondern nah men wie ihre spanischen Vorbilder umfangreiche Aufgaben als Vertreter der Krone sowohl in Zivil- als auch in Strafsachen wahr. Daneben übten sie noch das Amt des Protector de los Indios aus, das die Interessenvertretung der Ureinwohner be inhaltete.176 Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich angesichts ihres spe ziell darauf ausgerichteten Erkenntnisinteresses im Weiteren auf die Tätigkeit der Fiskale als öffentliche Ankläger im Strafprozess. Die Anklagefunktion der Fiskale bildete sich erst mit der Zeit heraus. Ein könig licher Fiskal lässt sich in Kastilien als actor rerum fiscalium bis ins sechste Jahr hundert nach Christus zurückverfolgen.177 Wie seine Bezeichnung schon sagt, beschränkten sich seine Aufgaben zunächst allerdings auf die Vertretung der kö niglichen Vermögensinteressen. Für den Strafprozess bedeutete dies, dass er nur an solchen Verfahren teilnahm und eine Verurteilung des Angeklagten verfolgte, bei denen dieser von einer Geldstrafe oder Vermögenseinziehung zu Gunsten der Krone bedroht war.178 Nach und nach weitete sich aber schon vor den großen Re formen des neunzehnten Jahrhunderts seine Zuständigkeit dahingehend aus, dass er auch in allen anderen Verfahren die Anklage vertreten konnte. Dies wurde teil weise rein praktisch begründet. Der Richter konnte danach den Fiskal beauftra gen, ihn bei seinen Ermittlungen und dem Verfassen der Anklage zu unterstüt zen, wenn er allein den Arbeitsaufwand nicht mehr bewältigen konnte.179 Eine tiefschürfendere dogmatische Begründung gab die sich zunehmend durchset zende Auffassung, dass jede Straftat nicht nur das Opfer, sondern auch die Allge meinheit und damit den Staat als solchen verletzt. Der Fiskal war nicht nur Ver treter der Interessen des Königs als Person, sondern auch des durch den König repräsentierten Staates und konnte damit jede Verletzung des Staates, also jede Straftat, wie ein Privatkläger verfolgen.180 Schon im Jahre 1387 findet sich eine Anordnung Juans I., wonach an seinem Hofgericht zwei Fiskale Straftäter an zeigen und auch anklagen sollten, damit diese nicht mangels eines privaten Klä gers ohne Strafe blieben.181 Aus diesen Erwägungen wurde allerdings nicht der 176
Ayarragaray, ministerio público, S. 109; Zu den amerikanischen Fiskalen als Protectores de los Indios siehe die sehr ausführliche Darstellung bei Suárez, Fiscales, S. 267 ff. 177 Volkmann-Schluck, Strafprozess, S. 37. 178 Marchena Gómez, Ministerio Fiscal, S. 28 f.; Alonso Romero, Proceso Penal, S. 149 f. 179 Alonso Romero, Proceso Penal, S. 152. 180 Tomás y Valiente, derecho penal, S. 160; Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 242; Alonso Romero, Proceso Penal, S. 147, 152. 181 Siehe dazu Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 122 f.; Volkmann-Schluck, Strafprozess, S. 37.
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konsequente Schluss gezogen, dass auch jede Straftat durch den Fiskal verfolgt werden müsse, vielmehr bestimmte vor allem in den erstinstanzlichen Tribuna len nach wie vor der Richter, ob er die Einschaltung eines Fiskals für zweck mäßig erachtete.182 Die im Folgenden dargestellte Teilnahme des Fiskals am Strafverfahren war also keineswegs zwingend, sondern entfiel häufig schon von vornherein. 2. Vorverfahren
Am Untersuchungsverfahren, der información sumaria, war der Fiskal auch an den höheren Gerichten regelmäßig nur sehr eingeschränkt beteiligt. Die dem Inquisitionsprozess zugrundeliegende Anerkennung des öffentlichen Strafanspruchs, die letztlich auch zur Ausweitung der Stellung des Fiskals führte, bedeutete zunächst, dass der Richter nahezu jede Untersuchung von Amts wegen eröffnen konnte. Sehr wenige Ausnahmen bestanden nur für Delikte von rein pri vatem Charakter wie die eheliche Untreue.183 Die Möglichkeit, ein Verfahren zu er öffnen, ohne auf einen Dritten angewiesen zu sein, nutzten die Richter auch meist aus, so dass die Eröffnung des Prozesses von Amts wegen den absoluten Regel fall darstellte.184 Der Fiskal spielte bei der Verfahrenseröffnung nur in den seltenen Fällen eine Rolle, in denen er das Verfahren durch Anzeige oder Anklage einleitete. Wollte er anklagen, war er darauf angewiesen, dass der Richter eine Untersuchung ein geleitet hatte, ein Privater Anzeige erstattet hatte oder die Tat auf sonstige Weise schon bekannt war. Diese Einschränkungen führen deutlich vor Augen, dass die Entscheidung über die Einleitung eines Verfahrens von Amts wegen grundsätzlich eben dem Richter und nicht dem Fiskal zustand.185 Dem stand nicht entgegen, dass der Fiskal häufig anstelle eines Privatmannes als Anzeigender auftrat. Um die Anzeige von Delikten für die Bevölkerung attrak tiver zu machen und damit die Strafverfolgung zu erleichtern, sollte die Identität eines privaten Denunzianten nämlich regelmäßig geheim bleiben. In diesen Fällen nahm an seiner Stelle daher meist der Fiskal die Anzeige vor.186 Normalerweise trat der Fiskal dem Prozess allerdings erst nach der Eröffnung durch den Richter bei.187 Gab es ausnahmsweise noch einen Privatkläger, fungier ten beide nebeneinander als Ankläger. Der Ankläger hatte grundsätzlich die Be 182
Alonso Romero, Proceso Penal, S. 152 f. Tomás y Valiente, derecho penal, S. 160. 184 Alonso Romero, Proceso Penal, S. 188. 185 Siehe dazu Suárez, Fiscales, S. 226 f. 186 Tomás y Valiente, derecho penal, S. 159. 187 Vgl. dazu den Nachweis oben in Fn. 184.
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weise für seine Anschuldigungen dem Gericht vorzulegen. War der Fiskal nicht al leiniger Ankläger, unterstützte er den Privatkläger bei dieser Aufgabe.188 Als Ankläger war der Fiskal seiner Stellung nach im Gegensatz zum Richter grundsätzlich auch nicht einmal formal zur Objektivität verpflichtet. Fraglich ist allerdings, inwieweit sich aus seiner Stellung als Vertreter der Interessen der Krone im Strafprozess eine Objektivitätspflicht ergab. Nach damaligem Verständnis eines Rechtsstaats war der Herrscher von Gottes Gnaden natürlich verpflichtet, gerecht zu herrschen und hatte kein Interesse an einer Bestrafung Unschuldiger. Dem nach sollte der Fiskal keinesfalls Prozesse im Namen der Krone gewinnen, wenn dies nicht der Gerechtigkeit entsprach.189 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass der Fiskal wegen Befangenheit abgelehnt werden konnte.190 In der Pra xis scheint dieses hehre Prinzip jedoch weitgehend wirkungslos geblieben zu sein. Der Fiskal vertrat im Strafprozess nicht den objektiven staatlichen Anspruch auf Herstellung von Gerechtigkeit, sondern das subjektive Interesse des Monarchen an Bestrafung und eventueller finanzieller Buße zu Gunsten des Fiskus.191 An seiner Haltung als einseitiger Strafverfolger änderte sich auch mit der Ausweitung sei ner Zuständigkeit auf nicht von Vermögensstrafen bedrohte Delikte grundsätzlich nichts. Die prozessuale Stellung des Fiskals als Ankläger entsprach weitgehend der des Privatklägers und war damit schon auf eine Parteinahme ausgelegt.192 In sofern verwundert es nicht, dass der Fiskal sich darauf beschränkte, den Richter, und soweit vorhanden auch den Privatkläger, bei der Sammlung von Belastungs beweisen zu unterstützen.193 Die Beteiligung des Fiskals an der Beweissammlung darf allerdings nicht über bewertet werden. Tatsächlich war es nämlich so, dass auch in den Fällen, in denen noch ein Privatkläger existierte oder der Fiskal die Anklage übernahm, der Rich ter das Ermittlungsverfahren immer weiter an sich riss. Dies führte dazu, dass der Fiskal sich häufig überhaupt nicht mehr an der Beweissammlung beteiligte und erst dann in Erscheinung trat, wenn der Richter ihm nach Abschluss seiner Unter suchung die Ermittlungsergebnisse mitteilte, damit der Fiskal eine Anklage ver fasste.194
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Suárez, Fiscales, S. 227. Ayarragaray, ministerio público, S. 112, Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 168 f. 190 Siehe dazu Suárez, Fiscales, S. 243 ff. 191 Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 243. 192 Siehe dazu Suárez, Fiscales, S. 49; Alonso Romero, Proceso Penal, S. 153. 193 Alonso Romero, Proceso Penal, S. 192. 194 Alonso Romero, Proceso Penal, S. 188. 189
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3. Hauptverfahren
Die förmliche Anklageerhebung durch den Fiskal, die allerdings auch durch einen Privatkläger oder gar den Richter selbst vorgenommen werden konnte, markierte das Ende der Ermittlungsphase und den Beginn des Hauptverfahrens, des juicio plenario. Sie ist zu unterscheiden von der einer Anzeige entsprechenden einfachen, formlosen Anklage, mit der überhaupt erst die richterliche Vorunter suchung in Gang gesetzt wurde.195 Die zur Anklageerhebung notwendigen Infor mationen erhielt der Fiskal vom Richter, der ihm die in den Prozessakten fest gehaltenen Ermittlungsergebnisse übersandte.196 Der Fiskal stützte sich also bei seiner Anklageerhebung allein auf die vom Richter gesammelten Materialien. Der Richter setzte dem Fiskal eine Frist zur Anklageerhebung. Ging die Anklage des Fiskals nicht innerhalb dieser Frist bei ihm ein, erhob der Richter selbst die An klage.197 Von einer eigenständigen, für den weiteren Verfahrensverlauf bedeuten den Prüfung des Fiskals der Anklagevoraussetzungen kann also keine Rede sein. Seine Anklageerhebung war eine reine Förmlichkeit, die eigentliche Entscheidung lag beim Richter. Die Anklage des Fiskals wurde dem Angeklagten zugestellt, damit dieser da gegen seine Verteidigung vorbrachte. Die Verteidigungsschrift wurde wiederum dem Fiskal übergeben, der auf die Argumente des Angeklagten antwortete. Die Antwort des Fiskals wurde dann erneut dem Angeklagten zugestellt, der darauf hin noch einmal in seiner Gegenerwiderung zur Antwort des Fiskals Stellung neh men konnte. Damit war der Schriftverkehr zwischen Fiskal und Angeklagtem in dieser Phase beendet.198 Nachdem der Richter die Eröffnung des Beweisverfahrens mitgeteilt hatte, konnten Fiskal und Angeklagter Beweisanträge stellen.199 Der Fiskal musste bei der Vereidigung von Zeugen der Verteidigung grundsätzlich anwesend sein, da er nur bis zu diesem Zeitpunkt gegen die Person des Zeugen gerichtete Einwände vorbringen konnte. Abgesehen von seiner vorgeschriebenen Anwesenheit bei der Vereidigung von Zeugen der Verteidigung war der Fiskal nicht an der Beweis erhebung beteiligt. Diese erfolgte durch den Richter und seinen Gerichtsschrei ber. Der Richter war dabei nicht an die Beweisanträge im Einzelnen gebunden, sondern verfuhr so, wie es ihm zur Aufklärung des Sachverhalts am besten geeig net erschien. Nach Abschluss der Beweiserhebung teilte er dem Fiskal wie auch dem Angeklagten die Ergebnisse der Beweiserhebung schriftlich mit. Der Fiskal 195 Alonso Romero, Proceso Penal, S. 181; Ein Beispiel für eine solche förmliche Anklage schrift eines amerikanischen Fiskals findet sich bei Corvalán Meléndez/Castillo Fernández, Memorias de Licenciados Bd. 20 (1951), S. 15 ff. (219 f.). 196 Sabadell da Silva, Tormenta, S. 70; Hevia Bolaños, Curia Bd. 1, Teil 3, § 14, S. 234. 197 Hevia Bolaños, Curia Bd. 1, Teil 3, § 14, S. 235. 198 Alonso Romero, Proceso Penal, S. 165, 214. 199 Zu dem im Folgenden dargestellten Ablauf des Beweisverfahrens siehe Hevia Bolaños, Curia Bd. 1, Teil 3, §§ 15, 16, S. 237 ff.; Alonso Romero, Proceso Penal, S. 166, 239 ff.
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2. Kap.: Ankunft kontinentaleuropäischen und amerikanischen Rechts
konnte nun inhaltliche Einwände gegen die entlastenden Beweismittel vorbringen. Darauf konnte eine erneute Beweiserhebung durch den Richter bezüglich der Ein wände der Parteien erfolgen, zu welcher der Fiskal wiederum abschließend Stel lung nahm und die Verurteilung des Angeklagten beantragte. Reichten die Be lastungsbeweise seiner Meinung nach zu einer Verurteilung nicht aus, beantragte er nicht etwa den Freispruch des Angeklagten, sondern, soweit dies noch nicht ge schehen war, dessen Folterung.200 Auch im Hauptverfahren kann also von einer ob jektiven Haltung des Fiskals keine Rede sein. Damit endete die Beweiserhebung und der Richter sprach nach einem abschlie ßendem Studium der Prozessakten das Urteil. In den Kollegialorganen der Audiencias kam es zu einer Urteilsberatung, bei welcher der Fiskal im Gegensatz zum Angeklagten regelmäßig anwesend war.201 4. Rechtsmittel
Der Fiskal konnte grundsätzlich Berufung, sog. apelación, einlegen, wenn er der Meinung war, dass das Urteil des Gerichts zu milde war oder es sich um einen ungerechtfertigten Freispruch handelte.202 Dann kam es zu einer erneuten Ver handlung, in deren Rahmen das Berufungsgericht noch einmal Tat- und Rechtsfra gen überprüfte. Unter im Einzelnen umstrittenen Voraussetzungen konnte das Be rufungsgericht erneut Beweise erheben, häufig verzichtete es jedoch ganz darauf und entschied lediglich anhand der Prozessakten der ersten Instanz in Verbindung mit dem neuen Vorbringen der Parteien.203 Die Mitwirkung des Fiskals beschränkte sich wie in der ersten Instanz im Falle der Beweisaufnahme auf die Stellung von Beweisanträgen und im Übrigen auf die Abgabe von Stellungnahmen204, so dass diesbezüglich auf die obigen Ausführungen verwiesen werden kann. Die weite Befugnis des Fiskals, mittels der apelación eine umfassende Über prüfung des erstinstanzlichen Urteils herbeizuführen, erklärt sich aus dem Staats verständnis, welches dem gemeinrechtlichen Inquisitionsprozess zugrunde liegt. Der Monarch, in dessen Person die staatliche Strafmacht konzentriert war, dele gierte diese lediglich an die Gerichte, welche ihm in einer hierarchischen Struktur untergeordnet waren. Entsprechend konnten gerichtliche Entscheidungen inner halb dieser vom Monarchen abgeleiteten Delegationskette stets einer Überprüfung auf der nächsthöheren Ebene zugeführt werden. Die Rechtsmittel entstanden also im gemeinrechtlichen Inquisitionsprozess als Mechanismen zur Überwachung der 200
Vgl. dazu Hevia Bolaños, Curia Bd. 1, Teil 3, § 16, S. 244. Alonso Romero, Proceso Penal, S. 155. 202 Alonso Romero, Proceso Penal, S. 272 f., 276. 203 Siehe dazu Corvalán Meléndez/Castillo Fernández, Memoria de Licenciados Bd. 20 (1951), S. 15 ff. (242 ff., 250). 204 Alonso Romero, Proceso Penal, S. 276. 201
A. Die Verwurzelung des Inquisitionsprozesses
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Gerichte durch die zentralisierte Staatsmacht.205 Entsprach ein Urteil nicht den königlichen Interessen, war der Fiskal verpflichtet, seine Überprüfung durch die nächsthöhere Instanz zu initiieren. IV. Zusammenfassung und Fazit
Es überrascht kaum, dass der Fiskal im vom Richter dominierten gemeinrecht lichen Inquisitionsprozess nach den Siete Partidas entweder gar nicht auftrat oder nur am Rande eine Rolle spielte. Die Idee der Konzentration aller staatlichen Macht in der Person des Monarchen manifestierte sich im Strafprozess in der All macht seines Vertreters, des Richters. Die Abtrennung der Anklagefunktion von der Urteilsfunktion und ihre Übertragung auf einen eigenständigen staatlichen An kläger waren damit gerade nicht vereinbar. Zudem entsprach die Rolle des Fiskals im Verfahren keineswegs schon derjenigen der späteren Staatsanwaltschaft nach der Reform des Inquisitionsprozesses.206 Statt dessen zeigt sich die Stellung des Fiskals weitgehend mit der des Privatklägers ver gleichbar, mit dessen Verschwinden die Ausweitung seiner Befugnisse verknüpft ist. Insoweit ist sie letztlich ein verkümmertes und schwächliches Überbleibsel der alten adversatorischen Verfahrensformen. Der Fiskal war also ein parteilicher An kläger in einem System, in dem für die Parteien eigentlich gar kein Platz mehr war. Die Anklagefunktion war sukzessive auf den Richter übergegangen, der Fiskal un terstützte ihn lediglich bei dieser Aufgabe und ermöglichte eine Verstaatlichung der letzten adversatorischen Elemente, die einer reinen Prozessführung von Amts wegen ohne Beteiligung des Volkes zunächst noch entgegenstanden.207 Die Idee des öffentlichen Anklägers als objektiver Gesetzeswächter verwirklichte er nicht.208 Dennoch ist es durchaus berechtigt, den Fiskal im gemeinrechtlichen Inquisi tionsprozess nach den Siete Partidas als Ausgangspunkt einer kontinuierlichen Entwicklung und damit als Vorläufer des modernen Staatsanwalts anzusehen.209 205
Vgl. dazu Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 705 ff.; Díaz Cantón, Nueva Doc trina Penal 2001-A, S. 145 ff. (155); Piñol Sala, Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 14 (2002), S. 289 ff. (327). 206 So auch schon mit sehr knapper Begründung Maier, in: ders. (Hrsg.), Ministerio Público, S. 22; ders., Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 295. 207 Beispielhaft dafür ist, dass die Ausweitung der Anklagebefugnisse des Fiskals ursprüng lich damit begründet wurde, dass der Richter eben noch nicht jede Straftat von Amts wegen verfolgen konnte und entsprechend der Fiskal benötigt wurde, damit Straftaten auch geahndet werden konnten, wenn es keinen privaten Ankläger gab. Vgl. dazu die Nachweise zur Anord nung Juans I. aus dem Jahre 1387 in Fn. 181. 208 Siehe dazu auch Alonso Romero, Proceso Penal, S. 156 f. 209 Auch die argentinische Literatur verortet den Ursprung der späteren Staatsanwaltschaft im zu Kolonialzeiten aus Spanien importierten Amt des Fiskals, vgl. Alcalá-Zamora y Castillo/ Levene (h.), Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 377; Ayarragaray, ministerio público, S. 300; Castro, Curso Bd. 1, S. 303.
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2. Kap.: Ankunft kontinentaleuropäischen und amerikanischen Rechts
Die zunehmende Verstaatlichung des Strafprozesses spiegelte sich auch in der Ausweitung der Anklagebefugnisse des Fiskals wider, die nach und nach auf na hezu alle Delikte erweitert wurde. In der Idee, dass der Fiskal nicht nur Ver treter des Königs als Subjekt ist, sondern auch den vom Monarchen repräsentier ten Staat vertritt, liegen dabei die Wurzeln der Objektivitätspflicht der heutigen Staatsanwaltschaft im reformierten Inquisitionsprozess. Die Einführung des An klagegrundsatzes schließlich, mit dem die Verfahrenseinleitung des Fiskals zur zwingenden Voraussetzung für die richterliche Untersuchung wurde, war die Ge burtsstunde der Staatsanwaltschaft im heutigen Sinne.
B. Die argentinische Verfassung von 1853/1860 I. Entstehungsgeschichte und Grundzüge der Verfassung
Die turbulente historische Entwicklung Argentiniens in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts lässt sich unter zwei Vorzeichen fassen, welche auch den Charakter der argentinischen Verfassung von 1853/1860 prägen: Zum einen ist dies die Emanzipation vom Mutterland Spanien, zum anderen der innen politische Kampf zwischen den zwei Strömungen der Unitarier und der Föde ralisten. Spanien befand sich zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts in einer schweren Krise, welche zunächst aus der vernichtenden Niederlage gegen die konkurrierende Seemacht England im Jahre 1805 und schließlich aus der Be setzung der iberischen Halbinsel durch Napoleon Bonaparte ab 1808 resultierte. Dies ermutigte die Bürger der La-Plata-Region immer offensiver ihre Ansprü che gegenüber der Kolonialregierung zu vertreten und sich schließlich ganz von ihr loszulösen, ein Schritt, welcher de facto am 25. Mai 1810 und formal mit der Unabhängigkeitserklärung vom 9. Juli 1816 vollzogen wurde. Militärisch konnte General José de San Martín die gewonnene Autonomie in einer Reihe von Schlachten zwischen 1817 und 1821 absichern. Zugleich verschärfte der Weg fall der spanischen Zentralmacht den schwelenden innenpolitischen Konflikt zwi schen der liberal geprägten städtischen Elite in Buenos Aires und den lokalen Machthabern im Landesinneren, die konservativere Ansichten in der Tradition des spanischen Katholizismus vertraten.210 Die regionalen Führer, sog. caudillos211,
210
Acevedo, Independencia, S. 23 ff.; Lütge, Argentinien, S. 85 ff. Zudem existierten wirt schaftliche Konflikte zwischen dem Landesinneren und der Hafenstadt Buenos Aires, vgl. Vogel, in: Bernecker u. a. (Hrsg.) Handbuch der Geschichte Lateinamerikas Bd. 2, S. 332; Lewis, History, S. 36 f. 211 Die Caudillos waren meist Großgrundbesitzer, die sich auf eigene Privatarmeen aus Gauchos, ihnen unterstehenden berittenen Farmarbeitern, stützen konnten. Da diese Groß grundbesitzer sich seit jeher als Schutzherren der ihnen anvertrauten Landbevölkerung ver standen und zudem nach außen die örtlichen Interessen vertraten, erfreuten sie sich auch gro ßen Rückhalts im einfachen Volk. Vgl. dazu Sabsay, Caudillos, S. 59 f.; Levene/Levene (h.),
B. Die argentinische Verfassung von 1853/1860
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gewannen erheblich an politischem Einfluss und waren nicht mehr bereit, sich der Regierung in Buenos Aires zu unterwerfen. Die argentinischen Provinzen, die bis her noch in den übergeordneten Verwaltungseinheiten der sog. Intendencias zu sammengefasst gewesen waren, entwickelten sich zu selbständigen rechtlichen Gebilden. Sie bildeten nach und nach eigene Regierungen und erließen Landes verfassungen. Auf diese Weise entstanden in der jungen Nation die Strömungen der einen Ein heitsstaat anstrebenden sog. Unitarier und der Föderalisten, die nur bereit waren, einen losen Staatenbund zu akzeptieren.212 Aus den daraus resultierenden politi schen, aber auch militärischen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Grup pierungen ging im Jahre 1835 der föderalistische Caudillo Juan Manuel de Rosas als Sieger hervor und errichtete eine Diktatur, die erst mit einer militärischen Nie derlage gegen innenpolitische Gegner im Jahr 1852 ihr Ende fand.213 Die politische Instabilität in den ersten Jahrzehnten der argentinischen Ge schichte, herbeigeführt nicht nur durch die äußere Bedrohung durch Spanien, son dern auch durch die innere Zerrissenheit des neuen Staates, führte zu einer weit gehenden Stagnation in der Rechtsentwicklung.214 Die von den liberalen Kräften angestrebte Konstituierung eines eigenständigen, von der konservativ-katholisch geprägten Ideologie des Mutterlandes abgelösten Rechtssystems gelang nicht. Bemühungen zur Schaffung einer eigenen Verfassung Argentiniens blieben al lesamt erfolglos. Am interessantesten aus strafprozessualer Sicht ist die verfas sungsgebende Versammlung aus dem Jahre 1813, welche einige Reformgesetze von Bedeutung verabschiedete. So wurde das Inquisitionstribunal zur Sicherung Historia Bd. 3, S. 245 ff.: Goldmann, in: ders. (Hrsg.), Nueva Historia Bd. 3, S. 118 ff.; Zur Ent stehung des Caudillismo in Argentinien siehe die ausführliche Darstellung von Zorrilla, in: Nova Americana Nr. 2 (1979), S. 135 ff. Das Phänomen des Caudillismo sollte die weitere poli tische Entwicklung Argentiniens im neunzehnten Jahrhundert stark prägen und damit auch Ein fluss auf den eng mit dem Verständnis staatlicher Macht verknüpften Strafprozess haben, vgl. Vázquez Rossi, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 146. 212 Vogel, in: Bernecker u. a. (Hrsg.) Handbuch der Geschichte Lateinamerikas Bd. 2, S. 348 f.; Pérez Guilhou, in: Academia Nacional de la Historia (Hrsg.), Nueva Historia, Bd. 3, S. 22 ff.; Lütge, Argentinien, S. 85 ff. 213 Rosas war ein Großgrundbesitzer aus der die gleichnamige Stadt umgebenden Flächen provinz Buenos Aires, dessen Ruf sich vor allem darauf stützte, mit seiner Armee aus Gauchos, ihm untergebenen berittenen Landarbeitern, die aufständischen Indios im Süden der Provinz niedergehalten zu haben. Zunächst übernahm er die Regierung der Provinz und, nachdem ihm im Jahre 1835 zahlreiche Sondervollmachten zugestanden worden waren, schließlich auch die des Gesamtstaates. Siehe dazu Zorraquín Becú, Historia Bd. 1, S. 39; ausführlich Méndez Calzada, La Función Judicial, S. 379 ff. Formal war das Land unter Rosas ein föderaler Staatenbund mit dem Namen Konföderation Argentinien, de facto einte die Machtzentralisation in seiner Person das Land erheblich und führte zu dem später auch in der Verfassung verankerten Ver ständnis als Bundesstaat. Vgl. dazu Vogel, in: Bernecker u. a. (Hrsg.), Handbuch der Geschichte Lateinamerikas Bd. 2, S. 352; López Rosas, Historia Constitucional, S. 461 f.; Lorenzo, Manual Bd. 2, S. 150 ff. 214 Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 169.
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2. Kap.: Ankunft kontinentaleuropäischen und amerikanischen Rechts
der Reinheit des Glaubens abgeschafft215 und die Folter im Strafprozess verboten. Zudem wurden die Reales Audiencias durch sog. Cámaras de apelaciones mit den gleichen Funktionen ersetzt. Entsprechend wurden auch die dort tätigen Fiskale in Agentes de Cámara umbenannt. Ihre Tätigkeit blieb allerdings identisch und bald wurden sie auch wieder als Fiskale bezeichnet.216 Die Verabschiedung einer allge mein anerkannten Bundesverfassung scheiterte jedoch am Widerstand der Föde ralisten, welche sich einer Stärkung des Zentralstaats widersetzten.217 Das gleiche Schicksal ereilte weitere Versuche in den Jahren 1815, 1819 und 1826.218 Auf ein fachgesetzlicher Ebene wurden weiterhin die alten spanischen Gesetze angewandt, welche lediglich teilweise durch Einzelvorschriften modifiziert wurden.219 Dies galt auch für die strafprozessuale Entwicklung, welche durch eine Flut meist sehr kurzlebiger, häufig einander widersprechender Dekrete der jeweiligen Machthaber gekennzeichnet ist. Die spanischen Richter und Fiskale wurden zurück in die Hei mat geschickt und durch Einheimische ersetzt. An ihrer Stellung im Verfahren än derte sich allerdings grundsätzlich nichts, trotz des Vorsatzes der Revolutionäre, den Inquisitionsprozess, welchen sie als Ausdruck eines absolutistischen Staats verständnisses erkannten, abzuschaffen.220 Auch unter Rosas’ Herrschaft blieb die Paralyse des argentinischen Rechts systems bestehen. Eine neue Verfassung wurde nicht erlassen, Rosas stützte sich auf eine Vereinbarung von 1820, wonach den Provinzen vollständige Autonomie zustand, und auf einen gegen die Unitarier gerichteten Beistandspakt der födera listischen Provinzen aus dem Jahre 1831.221 Als Vertreter der föderalistischen Füh rungsschicht auf dem Land war Rosas der alten katholischen Werteordnung eng verbunden und verfolgte eine äußerst konservative Politik, welche nicht auf poli tischer Mitbestimmung, sondern Gehorsam gegenüber den herrschenden Schich ten basierte. Die politischen Gegner, die Unitarier, wurden erbarmungslos verfolgt, wozu er neben einer Geheimpolizei auch eine Reihe von Sondertribunalen ein setzte, vor denen dem Beschuldigten keinerlei Verteidigungsrechte zustanden.222 Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass Rosas im Strafprozess keiner lei Interesse daran hatte, Anklage- und Urteilsfunktion aufzuspalten sowie Ers tere auf eine eigenständige Behörde zu übertragen. Stattdessen wurde weiter der 215
Dies betraf aber nur die kirchliche Inquisition, vgl. dazu schon Fn. 127. Das staatliche Strafverfahren war nach wie vor ein klassischer Inquisitionsprozess. 216 Ayarragaray, ministerio público, S. 123 f., 127. 217 Acevedo, Independencia, S. 108 ff.; Pereira Pinto, Antecedentes, S. 59 ff. 218 Die Verfassung von 1819 enthielt in ihrem Art. 114 erstmalig das Mandat, den Straf prozess als Geschworenenprozess durchzuführen, „soweit es die Umstände ermöglichen“ (Übers. d. Verf.), eine Vorgabe, die in der Verfassung von 1826 wiederholt wurde. 219 Zorraquín Becú, Historia Bd. 2, S. 176 ff.; Levaggi, Manual Bd. 2, S. 60 f. 220 Vázquez Rossi, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 145 ff. 221 Zu den Gründen, warum Rosas keine Verfassung erließ, siehe Lorenzo, Manual Bd. 2, S. 158 ff. 222 Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 186 f.; Ibañez Frocham, La Organiza ción Judicial Argentina, S. 212 ff.
B. Die argentinische Verfassung von 1853/1860
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katholisch geprägte, einem autoritären Staatsverständnis entsprechende gemein rechtliche Inquisitionsprozess angewandt, der nicht nur eingebürgert war, sondern sich auch hervorragend als Werkzeug zur Bekämpfung politischer Gegner ein setzen ließ. So gelang erst im Jahre 1853 nach Beendigung von Rosas’ Herrschaft der ent scheidende Schritt zur Schaffung einer gesamtargentinischen Verfassung, welche schließlich in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die Grundlage für die Reformtätigkeit auch auf einfachgesetzlicher Ebene darstellen sollte. Um dem Zerfall der unter Rosas gefestigten Konföderation Argentinien vorzubeugen, verabredeten die Provinzgouverneure im Vertrag von San Nicolás die Einberu fung einer verfassungsgebenden Versammlung in Santa Fe, die dem entstande nen Nationalstaat die rechtliche Grundlage geben sollte. Lediglich die Stadt Bu enos Aires, wo nach dem Sturz von Rosas wieder die unitarische Opposition an die Macht gekommen war, welche eine föderalistische Verfassung ablehnte, ver weigerte die Teilnahme. Der Nationalkongress in Santa Fe trat daher am 20. No vember 1852 unter Beteiligung der übrigen 13 Provinzen zusammen und am 24. Dezember desselben Jahres wurde eine Kommission zur Erstellung eines Ver fassungsentwurfs benannt, welcher die Abgeordneten Leiva, Ferré, Díaz Colod rero, Gorostiaga und Gutiérrez angehörten. Am 18. April 1853 präsentierte die Kommission dem Kongress ihren Entwurf, welcher fast ausschließlich aus der Feder von José Benjamín Gorostiaga, einem jungen Juristen und späteren Prä sidenten des Obersten Gerichtshofes, stammte. Außerdem maßgeblich beteiligt war nur der Journalist und Schriftsteller Juan María Gutiérrez, während die übri gen Kommissionsmitglieder sich im Wesentlichen auf Verbesserungsvorschläge beschränkten.223 Nach der Verweigerung von Buenos Aires hegten die Teilnehmer des National kongresses das Ziel, durch die Verfassung möglichst schnell eine außenpolitische Legitimation der Konföderation als Gesamtstaat zu erlangen und dadurch den Kampf mit dem abtrünnigen Buenos Aires nicht als Bürgerkrieg zwischen Pro vinz-Caudillos, sondern als Aufstand einer Provinz gegen den Bundesstaat darstel len zu können. Daher trieb man den Kongress zur Eile an, was dazu führte, dass das Verfassungsprojekt sehr schnell in zehn aufeinander folgenden Sitzungen zwi schen dem 21. und dem 30. April 1853 diskutiert und verabschiedet wurde. Über die Ablehnung der von Buenos Aires angestrebten Hegemonie und den Grundsatz einer föderalistischen Staatsform waren sich alle Abgeordneten einig, innerhalb dieses Konsenses kristallisierten sich aber zwei unterschiedliche Strömungen her aus. Zum einen gab es die eher liberal gesinnten Abgeordneten, zu denen auch die beiden Verfasser des Kommissionsentwurfs Gorostiaga und Gutiérrez zählten, zum 223
Lorenzo, Manual Bd. 2, S. 220; Rosa, Historia Bd. 6, S. 110 f. Kurze Zusammenfassungen der Biographien von Gorostiaga, Gutiérrez und den anderen an der Entstehung der Verfassung Beteiligten finden sich bei De Domínguez Soler, in: Instituto Urquiza (Hrsg.), Homenaje a la Constitución, S. 89 ff.
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2. Kap.: Ankunft kontinentaleuropäischen und amerikanischen Rechts
anderen die konservative Gruppe um den Präsidenten des Kongresses Zuviría.224 Streit entbrannte zwischen diesen zwei Gruppen hauptsächlich über die Religions freiheit und die Frage, ob Buenos Aires trotz seiner Verweigerung in der Verfas sung zur Hauptstadt erklärt werden sollte. In beiden Fällen folgte die Mehrheit dem liberalen Entwurf, so dass die freie Religionsausübung gestattet und Buenos Aires zur Hauptstadt erklärt wurde.225 Über die Einführung von Geschworenenge richten, welche der Entwurf genauso wie die unitaristischen Verfassungen aus den Jahren 1819 und 1826 vorsah, wurde dagegen gar nicht diskutiert.226 Am 1. Mai verabschiedete der Kongress schließlich förmlich die Verfassung. In den folgen den Jahren kam es zu einer Reihe von Waffengängen zwischen der Konföderation Argentinien und dem unabhängigen Buenos Aires, bis der Bund den Konflikt im Jahre 1859 endgültig zu seinen Gunsten entscheiden konnte. In den anschließen den Friedensverhandlungen war die Stadt gezwungen, dem Bund beizutreten und die Verfassung anzuerkennen. Die Verhandlungsführer aus Buenos Aires stellten zwar einige Änderungen als Bedingung ihres Beitritts, welche auch allesamt ver wirklicht wurden, entscheidende Reformen an der Grundstruktur der Verfassung konnten sie jedoch nicht durchsetzen.227 Die Gestaltung des Strafprozesses wurde nicht näher erörtert und das Mandat, Geschworenengerichte einzusetzen, wurde kommentarlos beibehalten.228 Im selben Jahr, 1860, wurde der Name des Staates in Republik Argentinien umgeändert. Der Inhalt des ab 1860 für Gesamtargentinien geltenden Verfassungstexts229 geht vor allem auf das im Jahre 1852 erschienene, in Argentinien äußerst erfolg reiche Buch von Juan Bautista Alberdi namens „Bases y puntos de partida para la organización de la República Argentina derivados de la ley que preside el desarollo de la civilización en la América del Sur“ zurück.230 Alberdi, ein nach Chile emigrierter Gegner Rosas’ und guter Freund des Miturhebers der Verfassung Gu tiérrez, vertrat die Idee, dass die Verfassungsform von der historischen Entwick lung eines Volkes vorgegeben sei, und versuchte daher einen Ausgleich zwischen den föderalistischen und den unitarischen Einflüssen in Argentinien herzustellen. Als Vorbild diente ihm dabei das föderale und gleichzeitig liberale System der USamerikanischen Verfassung von 1787, welches er aber nicht in Gänze übernahm, 224
Rosa, Historia Bd. 6, S. 111; Sierra, Historia Bd. 10, S. 166. Zu den Debatten siehe López Rosas, Historia Constitucional, S. 547 ff.; Montilla/Frías, Otra mirada, S. 47 ff. 226 Cavallero/Hendler, Justicia, S. 43. 227 Vgl. López Rosas, Historia Constitucional, S. 590 ff.; Lafont, Historia Bd. 2, S. 262 ff.; Lorenzo, Manual Bd. 2, S. 317 ff. 228 Siehe dazu schon den Nachweis in Fn. 226. 229 Die Verfassungsvorschriften werden im Folgenden, soweit nicht ausdrücklich anders ge kennzeichnet, in der Fassung aus dem Jahre 1860 zitiert. Da diese Version auch von Buenos Aires anerkannt wurde, war sie die erste gesamtargentinische Verfassung. Abgedruckt findet sie sich bspw. in: San Martino de Dromi, Documentos, S. 2553 ff. 230 Zorraquín Becú, Historia Bd. 2, S. 45; Lorenzo, Manual Bd. 2, S. 252; Lafont, Historia Bd. 2, S. 233 f. 225
B. Die argentinische Verfassung von 1853/1860
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sondern den südamerikanischen Bedürfnissen entsprechend abwandelte.231 Der Hauptautor des Verfassungstextes, Gorostiaga, orientierte sich stark am auf der amerikanischen Verfassung basierenden Modell Alberdis, er verbesserte und kon kretisierte es lediglich in einigen Punkten und ergänzte es durch Teile der geschei terten unitarischen Verfassung von 1826.232 Auf diese Weise entstand ein Text bestehend aus 110 Artikeln, die sich auf zwei große Abschnitte verteilen. Der erste Teil enthält die Grundwerte des Staates so wie die Rechte, welche er seinen Bürgern garantiert. Aus strafprozessualer Sicht interessant sind vor allem die in Art. 18 der Constitución Nacional (CN) gewähr leisteten Beschuldigtenrechte, darunter das Verbot der Bestrafung ohne Prozess, von rückwirkenden Strafnormen und von Sondergerichten, die Aussagefreiheit und das Verteidigungsrecht. Der zweite Teil zur Staatsorganisation führt ein gemischtes, nationalistischföderalistisches System ein. Danach sind die Provinzen Staaten mit eigener Ver fassung, Art. 106, 5 CN, und alle Kompetenzen, die nicht ausdrücklich dem Bund zugesprochen werden, verbleiben nach der Grundregel des Art. 104 CN bei ih nen. Der Bund erhält aber im Gegenzug erhebliche Einwirkungsmöglichkeiten über den Präsidenten als starkes exekutivisches Zentralorgan sowie über seine aus schließlichen Gesetzgebungskompetenzen des Art. 67 CN. Gemäß Art. 67 Nr. 11 CN ist der Bund befugt, ein einheitliches Strafgesetzbuch zu erlassen, das Straf verfahrensrecht verbleibt jedoch mangels Erwähnung in der Kompetenz der Ein zelstaaten.233 Die Staatsgewalt des Bundes verteilt sich auf die drei klassischen Gewalten Legislative, Exekutive und Judikative, welche jeweils in eigenen Ab schnitten beschrieben werden. Die gesetzgebende Gewalt wird von einem Kon gress ausgeübt, der aus zwei Kammern besteht, dem direkt vom Volk gewählten Abgeordnetenhaus, Art. 37 ff. CN, und dem Senat, zu dem die Legislative jedes Bundesstaats zwei Vertreter entsendet, Art. 46 ff CN. Der Exekutive steht der Prä sident vor, Art. 74 ff. CN, welcher mit außerordentlichen Machtbefugnissen aus gestattet ist, Art. 86 CN. Er ist Oberhaupt des Gesamtstaates, ihm untersteht die Bundeshauptstadt und er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Er beteiligt sich an der Gesetzgebung, indem er die Bundesgesetze bestätigt und verkündet, außer 231
Vgl. Sierra, Historia Bd. 10, S. 160; López Rosas, Historia Constitucional, S. 573 f. Zu den Übereinstimmungen zwischen US-amerikanischer und argentinischer Bundesverfassung vgl. die Auflistung von Fayt, in: Instituto Urquiza (Hrsg.), Homenaje a la Constitucion, S. 121 f. Alberdi war allerdings auch der Überzeugung, dass das argentinische Volk in seinem derzeiti gen Zustand für eine Republik nach amerikanischen Vorbild überhaupt noch nicht reif sei. Die sen Widerspruch löste er auf, indem er empfahl, entsprechend gebildete Menschen ins Land zu holen und dadurch die Bevölkerungsstruktur so zu ändern, dass sie reif für eine fortschrittliche Regierungsform sei. In diesem Zusammenhang prägte er das Schlagwort gobernar es poblar, etwa „regieren heißt bevölkern“, welches zur Richtlinie der argentinischen Politik des späten neunzehnten Jahrhunderts werden sollte. Siehe dazu Rosa, Historia Bd. 6, S. 102 ff. So ist er auch gedanklicher Vater des argentinischen Melting Pot. 232 Rosa, Historia Bd. 6, S. 110. 233 Siehe dazu die sogleich folgenden Ausführungen, 2. Kapitel, B. II. 1.
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2. Kap.: Ankunft kontinentaleuropäischen und amerikanischen Rechts
dem erlässt er Dekrete und Verordnungen zum Gesetzesvollzug. Daneben stehen ihm noch eine Reihe weiterer, in Art. 86 CN aufgezählter Befugnisse zu. Seine Macht ist damit noch deutlich größer als die des Präsidenten in der U. S.-ame rikanischen Verfassung. Dies geht auf Alberdi zurück, der hier bewusst von sei nem nordamerikanischen Modell abwich, weil er der Überzeugung war, dass nur eine möglichst starke Exekutive in der Lage sei, die inneren Konflikte des neuen Landes zu überwinden und seine Unabhängigkeit zu garantieren.234 Im späteren Verlauf der argentinischen Geschichte führte die dominante Stellung der Exeku tive allerdings dazu, dass der Präsident gewohnheitsmäßig immer weitere Macht befugnisse übernahm, und es entstand ein sog. Hyperpräsidentialimus (hiperpresidencialismo), welcher dem Präsidenten ein autoritäres, in seiner Person zentriertes Regieren ermöglicht.235 Die Rechtsprechung schließlich obliegt dem Obersten Ge richtshof der Nation sowie den durch einfaches Gesetz zu errichtenden unterge ordneten Tribunalen.236 Speziell auf den Strafprozess bezogen erklärt die Verfas sung in einer Reihe von Vorschriften die Einrichtung von Geschworenentribunalen zum Ziel. In Art. 24 CN legt sie fest, dass das Abgeordnetenhaus die Einführung des Geschworenenprozesses fördern soll, und in Art. 67 Nr. 11 CN verleiht sie die entsprechende Gesetzgebungskompetenz. Zudem wird in Art. 102 CN noch ein mal festgehalten, dass der Strafprozess als Geschworenenprozess durchgeführt wird, sobald die Geschworenengerichte eingerichtet sind. Alberdi, der sich im Übrigen weitgehend am US-amerikanischen Modell orientierte, erwähnt die Ge schworenengerichte nicht, der Verfassungsautor Gorostiaga muss sich also einer anderen Quelle bedient haben. Es wird vertreten, es handele sich dabei um die ve nezolanische Verfassung von 1811237, genauso gut kann es aber auch das argenti nische Modell von 1826 gewesen sein, welches schon eine entsprechende Klau sel enthielt. Jedenfalls war die Beteiligung des Volkes am Strafprozess auch in der argentinischen Verfassungsdiskussion selbst schon seit den Anfängen der Revolu tion präsent, sie entsprach den liberalen, stark von der Aufklärung beeinflussten Vorstellungen der Revolutionäre. Sowohl die im Jahre 1813 präsentierten Verfas sungsentwürfe wie auch die gescheiterten unitarischen Verfassungen aus den Jah ren 1819 und 1826 sahen den Geschworenenprozess vor.238
234 Badeni, Tratado Bd. 2, S. 1644 f.; Pérez Guilhou, in: Instituto Argentino de Estudios Constitucionales (Hrsg.), Derecho Constitucional Bd. 2, S. 116 f. Alberdi glaubte nicht an eine absolute Gewaltenteilung oder ein Gleichgewicht zwischen den Gewalten, sondern an ein von der Exekutive dominiertes republikanisches System: „Gebt der Exekutive soviel Macht wie möglich, aber gebt sie ihr mittels einer Verfassung!“ (Übers. d. Verf.). Siehe dazu Dalla Vía, Manual, S. 529, 531. 235 Dalla Vía, Manual, S. 531 ff.; Pérez Guilhou, in: Instituto Argentino de Estudios Constitu cionales (Hrsg.), Derecho Constitucional Bd. 2, S. 120 ff. 236 Zur späteren Ausgestaltung der Bundesgerichtsbarkeit siehe die Ausführungen im 3. Ka pitel, B. II. 1. 237 Cavallero/Hendler, Justicia, S. 44. 238 Cavallero/Hendler, Justicia, S. 39 ff.
B. Die argentinische Verfassung von 1853/1860
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Insgesamt lässt sich festhalten, dass sich die argentinische Bundesverfassung in tensiv um einen Ausgleich der großen Konflikte in der argentinischen Geschichte der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts bemüht.239 Einerseits orientiert sie sich in Abkehr von der bisherigen argentinischen Rechtstradition am Vorbild der U. S.-amerikanischen Verfassung und übernimmt deren liberale und föderale Züge; andererseits verleiht sie dem Staatspräsidenten derartige Machtbefugnisse, dass dieser schon fast eine monarchische Stellung einnimmt. Damit nimmt sie für die weitere Entwicklung der argentinischen Staatsanwaltschaft entscheidende Weichenstellungen vor, welche im Folgenden genauer untersucht werden sollen. II. Verfassungsvorgaben zur Organisation der Staatsanwaltschaft 1. Die Trennung zwischen Bundes- und Provinzgerichtsbarkeit
Die Sanktion der Verfassung von 1853/1860 war ein Markstein für die Entwick lung der argentinischen Justiz, da sie entsprechend ihrem nordamerikanischen Vorbild in ihren Art. 94, 100 und 101 eine neben den Gerichten der Provinzen existierende Bundesgerichtsbarkeit schuf. Das Recht der Provinzen, ihre eigenen Verfahrensgesetze zu schaffen, wurde dabei nicht angetastet. Lediglich im mate riellen Strafrecht wurde dem Bund durch Art. 67 Nr. 11 CN eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz eingeräumt, ein solches Strafgesetzbuch sollte jedoch nach derselben Vorschrift ausdrücklich nicht die Regeln der lokalen Gerichtsbar keit abändern. Im Übrigen galt der Auffanggrundsatz des Art. 104 CN, wonach jede nicht ausdrücklich dem Bund zugewiesene Kompetenz bei den Provinzen ver bleibt. Während also das materielle Strafrecht im argentinischen Bundesstaat ver einheitlicht wurde, entstand auf prozessualer Ebene eine zweigleisige Struktur. Die Provinzgerichtsbarkeit bestand unverändert weiter und die einzelnen Bundes staaten konnten selbständig Organisation und Verfahren regeln, soweit sie damit nicht gegen Garantien der Bundesverfassung verstießen, vgl. Art. 5 CN.240 Die lo kalen Gerichte blieben auch nach Erlass des einheitlichen Strafgesetzbuches wei ter für Straftaten, die sich aus diesem Gesetz ergaben, zuständig, soweit sie in ihrer Jurisdiktion lagen, also etwa auf dem Gebiet der jeweiligen Provinz verübt wur den, Art. 67 Nr. 11 CN. Zusätzlich entstand die Bundesgerichtsbarkeit, welche die in Art. 100 CN bezeichneten Sachen verhandelt, z. B. Straftaten, die auf reinem
239 López Rosas hält dazu fest, dass die argentinische Verfassung nicht aus einem isolierba ren Einfluss heraus entstanden sei, sondern letztlich als Produkt der gesamten politischen Ent wicklung in Argentinien seit 1810 zu verstehen sei. Vgl. López Rosas, Historia Constitucional, S. 564 f. 240 So müssen die Verfahrensgesetze der Provinzen vor allem die Justizgarantien nach Art. 18 CN beachten, etwa die Garantie des gesetzlichen Richters, des Verteidigungsrechts usw.
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Bundesgebiet verübt wurden oder sich nicht aus dem Strafgesetzbuch, sondern einem speziellen Bundesgesetz ergeben.241 2. Die Einordnung der Staatsanwaltschaft in das Verfassungsgefüge
Die Bundesgerichtsbarkeit sollte aus einem Obersten Gerichtshof sowie durch einfaches Gesetz zu schaffenden untergeordneten Bundesgerichten bestehen. Zur Schaffung einer Staatsanwaltschaft des Bundes und ihrer entsprechenden Ausge staltung schwieg die Verfassung in der Form von 1860. Im ursprünglichen Ver fassungstext von 1853 war der öffentliche Ankläger noch im Zusammenhang mit dem Obersten Gerichtshof erwähnt. Nach Art. 91 CN von 1853 sollte dieser sich aus neun Richtern und zwei Fiskalen zusammensetzen.242 Fraglich war nun, ob diese Beschreibung des Generalstaatsanwalts als Teil des Obersten Gerichtshofes bedeutete, dass die Verfassung die Ankläger als Teil der rechtsprechenden Gewalt und nicht der Exekutive ansah. Dann hätten für sie nämlich auch die entsprechen den Garantien, insbesondere die Unabsetzbarkeit durch die Exekutive nach Art. 93 CN von 1853, gegolten. In den Jahren 1857 und 1858 wurden im Senat und im Abgeordnetenhaus der argentinischen Konföderation heftige Debatten über diese Frage anlässlich eines Gesetzesentwurfes zur Bundesgerichtsbarkeit, der die Unabsetzbarkeit der Fiskale für die Dauer ihrer Amtszeit vorsah, geführt.243 In diesen Diskussionen zeigte sich, dass die Entwicklung des Fiskals weg von einem rein einseitigen Vertreter der kö niglichen (Vermögens-)Interessen hin zu einem objektiven, dem Gesetz verpflich teten Organ im Strafprozess und die daraus resultierende Zwitterstellung auch auf organisatorischer Ebene zu Verwirrungen führte. Diejenigen, die den Fiskal vor rangig als Vertreter des Staates als Rechtssubjekt, praktisch als Anwalt des Staa tes, sahen, meinten, er sei der Exekutive zuzuordnen und entsprechend ganz nor mal absetzbar. Demgegenüber argumentierten andere mit dem genannten Art. 91 CN und gelangten zu dem Ergebnis, der Fiskal vertrete, vergleichbar einem Rich ter, nicht die subjektiven staatlichen Interessen, sondern den objektiven Anspruch auf Einhaltung der Gesetze. Er gehöre daher zur Judikative und sei entsprechend grundsätzlich unabsetzbar. Zu dieser Zeit setzte sich noch erstere Meinung durch, so dass die Fiskale für frei absetzbar erklärt wurden. Kurze Zeit später fiel dann auch die Erwähnung der Fiskale in Art. 91 der Ver fassung, welche zu den oben dargestellten Diskussionen beigetragen hatte, schon 241 Die Abgrenzung von Bundes- und Provinzkompetenz führt bis heute vor allem in der Bun deshauptstadt Buenos Aires zu erheblichen Abgrenzungsschwierigkeiten, siehe dazu unten das 3. Kapitel, B. II. 1. 242 Gelli, in: Universidad Austral (Hrsg.), Anuario de Derecho 3 (1997), S. 205 ff. (210). 243 Diese Diskussionen sind zusammengefasst bei Ayarragaray, ministerio público, S. 136 ff.
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wieder weg. Eine der Änderungen, welche die Unterhändler aus Buenos Aires als Bedingung für die Anerkennung der Verfassung stellten, betraf nämlich genau diese Vorschrift. Dabei ging es ihnen nicht speziell um die Staatsanwaltschaft, son dern darum, den Sitz und die Besetzung des Gerichts durch einfaches Gesetz än dern zu können, was bei einer Festlegung in der Verfassung nur durch eine Ver fassungsänderung zu erreichen gewesen wäre. Entsprechend verschwand aus dem neugefassten, dem ehemaligen Art. 91 entsprechenden Art. 94 jeder Hinweis auf die Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofs.244 Damit war der letzte Hinweis auf die Figur des öffentlichen Anklägers getilgt. Da das aber aus den genannten Gründen geschah, lässt sich daraus keineswegs der Schluss ziehen, die Verfassung habe eine Bundesgerichtsbarkeit ohne staatlichen Ankläger vorgesehen. Die Be teiligung eines öffentlichen Anklägers am Strafverfahren war zu dieser Zeit schon im argentinischen Inquisitionsprozess eingebürgert und entsprach auch dem Straf verfahrensverständnis der neuen Verfassung.245 Man könnte sogar erwägen, konkrete Aussagen zur Organisation der Staats anwaltschaft direkt aus der Verfassung von 1853/1860 herzuleiten. So wird ver treten, dass die Nichterwähnung der Staatsanwaltschaft in der ausführlichen Auf zählung der Legislativ- und Judikativorgane darauf hindeute, dass die Verfassung davon ausgeht, dass es sich bei einem öffentlichen Ankläger um ein Exekutiv organ handelt, welches als einheitliche, streng hierarchisch aufgebaute Behörde auszugestalten ist. Untermauert wird diese These durch einen Blick auf das Vor bild der nordamerikanischen Verfassung, welche allgemein dahingehend ausge legt wird, dass es sich bei der Staatsanwaltschaft um ein Exekutivorgan handelt.246 Zusätzlich ist zu bedenken, dass die argentinische Verfassung der Exekutive sogar noch mehr Gewicht einräumt als das U. S.-amerikanische Vorbild, was erst recht dafür sprechen könnte, dass die Verfassungsväter stillschweigend von einem exe kutivischen Anklageorgan ausgingen. Die genannten Argumente lassen sich nicht ganz von der Hand weisen, tatsächlich finden sich einige Anhaltspunkte für eine Einordnung der Staatsanwaltschaft in die Exekutive. Diese sind allerdings ange sichts des Schweigens der Verfassung nicht ausreichend, um ein Mandat anzuneh men, welches eine Einordnung der Staatsanwaltschaft außerhalb der Exekutive ausschließt. Auch ein öffentlicher Ankläger als unabhängiges Organ der rechtspre chenden Gewalt lässt sich beispielsweise ohne weiteres sowohl mit dem Verfas sungstext als auch mit der ideologischen Orientierung der Verfassung in Einklang bringen. So ließ die ursprüngliche Fassung des Art. 91 in der Verfassung von 1853 wie gezeigt auch den Schluss zu, dass die Staatsanwaltschaft der Judikative zuzu ordnen sei, und ihre Änderung erfolgte keineswegs aus einer ausdrücklichen ge 244
Ayarragaray, ministerio público, S. 135 f. Siehe dazu die Ausführungen oben, 2. Kapitel, A. III., zur Stellung des Fiskals im In quisitionsprozess sowie im Folgenden, 2. Kapitel, B. III., zu den strafverfahrensrechtlichen Vorgaben der Verfassung von 1853/1860. 246 Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 2, S. 314 f; Müller, Doctrina Judicial (1989), S. 417 ff. (417 f.) m. w. N. 245
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genteiligen Ansicht, sondern aus Erwägungen heraus, die gar nicht mit der Aus gestaltung der Staatsanwaltschaft in Zusammenhang standen. Überhaupt zeigt das Schweigen der Verfassungsväter auf ihren jeweiligen Konventen 1853 und 1860 zur Ausgestaltung der Staatsanwaltschaft, dass dieses Thema keinen ausreichen den Raum in ihren Überlegungen einnahm, um ein Mandat in die eine oder andere Richtung annehmen zu können. Zuletzt mag die Gesamtgewichtung der Verfas sung zu Gunsten der Exekutive zwar historisch dafür sprechen, dass die Verfas sungsgeber sie wohl eher der vollziehenden Gewalt zugeordnet hätten; später hat die Dominanz der vollziehenden Gewalt aber genau zum Gegenteil geführt. Bis heute bestehen erhebliche Vorbehalte dagegen, die Staatsanwaltschaft der Exeku tive zuzuordnen, weil befürchtet wird, die ohnehin ausufernde vollziehende Ge walt könne auf diese Weise auch noch Einfluss auf die Rechtsprechung erhalten und die Unabhängigkeit der Justiz untergraben.247 3. Zusammenfassung
Es bleibt also dabei, dass die Verfassung von 1853/1860 keine direkten Vor gaben zur Organisation der Staatsanwaltschaft enthält. Sie war aber von erheb licher Bedeutung für die Struktur der argentinischen Staatsanwaltschaft, weil sie die Bundesgerichtsbarkeit begründete, wodurch neben die Staatsanwaltschaften der Länder eine Bundesstaatsanwaltschaft trat. Und schließlich führt ihr Präsidial system dazu, dass einer Einordnung der staatlichen Anklagebehörde in die Exeku tive bis heute die Bedenken gegenüber stehen, dass sich auf diese Weise das Un gleichgewicht zwischen den Gewalten weiter verschärft. III. Verfassungsvorgaben zur Stellung der Staatsanwaltschaft im Verfahren
Obwohl die Verfassung Argentiniens in ihrer Form von 1860 den Ankläger im Strafprozess überhaupt nicht erwähnt, darf sie in ihrer Bedeutung für die weitere Entwicklung der Stellung der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren nicht unter schätzt werden. Durch allgemeine Vorgaben zum Strafprozess legt die Verfassung auch die Grundlagen für die Tätigkeit des Staatsanwalts als staatlicher Ankläger fest.248 Im ersten Verfassungsteil zu den Grundwerten und Garantien fällt der Art. 18 CN ins Auge, welcher eine ganze Reihe wichtiger Garantien für den Beschuldigten 247
Siehe dazu weiter unten 3. Kapitel, B. II. 4, 5.; 5. Kapitel, A. II. 3., 4. Es ist offensichtlich, dass der staatliche Ankläger im Strafprozess nicht isoliert agiert, son dern seine Rolle die der anderen Verfahrensbeteiligten bestimmt und umgekehrt. Seine Stellung ist logisch nicht vom Prozesssystem als Ganzem zu trennen, sie bestimmt die Grundstruktur des Verfahrens bzw. wird durch die Verfahrensstruktur bestimmt. 248
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im Strafprozess enthält, bspw. das Rückwirkungsverbot, das Recht auf Aussage verweigerung und das Recht auf Verteidigung. Der dem Beschuldigten durch die sen Artikel der Verfassung zugedachte umfassende Schutz spricht für eine Aufwer tung seiner Stellung weg von einem reinen Objekt der richterlichen Untersuchung hin zu einem Subjekt im Strafprozess. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass der Beschuldigte nicht einem anklagenden und urteilenden Inquisitor ausgeliefert ist. Es ist daher gut vertretbar, aus dem Verteidigungsrecht des Art. 18 CN auch gleich die grundsätzliche Trennung von Anklage- und Urteilsfunktion herzuleiten.249 Der zweite Teil der Verfassung zur Staatsorganisation geht trotz der starken vollziehen den Gewalt im Grundsatz von einem System der Gewaltenteilung zwischen Legis lative, Exekutive und Judikative aus. Dafür, dass der Gedanke einer Aufspaltung der staatlichen Machtbefugnisse auch innerhalb des Strafverfahrens gelten sollte, sprechen die Vorschriften zum sog. politischen Prozess, mit dem Regierungsmit glieder oder Richter strafrechtlich verfolgt werden können. Nach Art. 45 CN liegt die Anklagebefugnis in solchen Fällen beim Abgeordnetenhaus, während der Se nat nach Art. 51 CN die Urteilsfunktion übernimmt. Daraus lässt sich schließen, dass auch im einfachen Strafprozess sich nicht mehr alle Staatsmacht in der Per son des Richters konzentrieren soll, sondern eine Aufteilung zwischen Richter und Ankläger vorgesehen ist. Von besonderer Bedeutung sind nicht zuletzt die bereits erwähnten Vorschriften der Verfassung zur Einrichtung von Geschworenengerichten, Art. 24, 67 Nr. 11, 102 CN. Ein solches Geschworenengericht, juicio por jurados, bedeutet, dass das Urteil in jedem Fall durch ein Gremium gesprochen wird, in dem die Mehrzahl Laien sind, egal ob es sich nun im technischen Sinne um echte Geschworene oder um Schöffen handelt.250 Damit wird die Strafmacht in basisdemokratischer Weise in die Hände des Volkes gelegt.251 Der gemeinrechtliche Inquisitionsprozess dage gen, von der Obrigkeit geheim und schriftlich durchgeführt, entzog sich geradezu dem Volk und steht insofern schon seinem Grundgedanken nach in einem Gegen satz zur Strafjustiz unter Laienbeteiligung.252 Seine Struktur mit der Zentralisation der Macht in der Hand des Inquisitionsrichters ist das Abbild der totalitären Staats struktur der mittelalterlichen Monarchien.253 Auch rein praktisch ist die Integration von Laienrichtern in den Ablauf des klassischen Inquisitionsverfahrens kaum vor stellbar. Die Bedeutung der Vorschriften zum juicio por jurados geht damit weit über die bloße Gerichtsbesetzung hinaus. Sie setzen einen Strafprozess voraus, in dem ein vom Gericht unabhängiger Ankläger in einer einheitlichen, öffentlichen 249 Die Herleitung des Anklagegrundsatzes aus dem Verteidigungsrecht des Art. 18 CN dürfte tatsächlich bis heute in Argentinien herrschend sein, vgl. Álvarez, Nueva Doctrina Penal 1996-B, S. 413 ff. m. w. N. 250 Maier, in: ders. u. a., Juicio por jurados, S. 12; zum Begriff des jurado siehe Pense, Das spanische Schwurgericht, S. 12 ff. 251 Vgl. Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 775 ff. 252 Linkenheil, Laienbeteiligung, S. 35. 253 Wohlers, Staatsanwaltschaft, S. 51, m. w. N.; Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 261.
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und mündlichen Hauptverhandlung agiert, und zeugen damit von einem Verfah rensverständnis, welches in einem grundsätzlichen Widerspruch zum bis dahin in Argentinien geltenden gemeinrechtlichen Inquisitionsprozess steht.254 Die in der Figur des Inquisitionsrichters konzentrierte Macht wird aufgespalten, aus dem Zwei-Personen-Verhältnis zwischen Inquisitor und Angeklagtem wird ein DreiPersonen-Verhältnis, in dem die Anklagebefugnis ausschließlich dem vom Gericht getrennten staatlichen Ankläger zusteht. Fraglich ist, ob die Verfassung über die Postulation des Anklagegrundsatzes als Trennung von Urteils- und Anklagefunktion hinaus auch Aussagen zur Reichweite dieses Anklagegrundsatzes trifft, d. h. dazu, welche Befugnisse dem Ankläger zu gestanden werden sollen. Hier sind die beiden im ersten Kapitel dargestellten Möglichkeiten denkbar: Entweder der Staatsanwalt agiert als Gesetzeswächter auf einer Stufe mit dem Gericht und seine Anklagefunktion beschränkt sich darauf, die richterliche Erforschung der materiellen Wahrheit einzuleiten. Die neue Anklage behörde fügt sich auf diese Weise in die Grundidee des Inquisitionsprozesses ein, wonach es Aufgabe der Obrigkeit ist, nicht gleichgeordnet mit dem Angeklagten zu streiten, sondern von sich aus für die Ermittlung der materiellen Wahrheit zu sorgen. Oder der Staatsanwalt ist eine dem Angeklagten gleichgeordnete, einsei tig das Anklageinteresse vertretende Partei, die nicht nur die Verfahrenseinleitung übernimmt, sondern auch selbst die Belastungsbeweise in das Hauptverfahren einbringt und eine umfangreiche Dispositionsbefugnis über die Anklage besitzt. Dies entspricht den angloamerikanischen adversatorischen Verfahrensstrukturen, wo das weitgehend passive Gericht die Wahrheit aus der Auseinandersetzung zwi schen Anklage und Verteidigung destilliert.255 Neben der allgemeinen Orientierung der argentinischen Bundesverfassung an US-amerikanischen Vorbildern spricht vor allem das dem adversatorischen Ver fahren zugrundeliegende Staatsverständnis dafür, dass die Verfassung von einem derartigen Strafverfahren, und damit von einer Staatsanwaltschaft als einseitig agierender Partei, ausging. Das Konzept eines eher passiven Staates, der seinen Bürgern viel Freiheit, aber auch viel Verantwortung überlässt, steht im Einklang mit den liberalen Idealen, von denen oben dargestellte Bestimmungen, zuallererst die zum Geschworenenprozess, getragen sind. Dennoch lässt sich ein verfassungs rechtliches Mandat zur Einführung des Geschworenenprozesses in Argentinien nicht konstruieren. Schon die rein inhaltliche Auslegung der Verfassungsvorschrif ten nach ihrem Sinn und Zweck führt zu dem Ergebnis, dass auch eine Reform nach dem Muster derjenigen in Kontinentaleuropa im neunzehnten Jahrhundert den Verfassungsauftrag ausreichend erfüllen würde.256 Auch der reformierte Inqui sitionsprozess kennt die Trennung von Anklage- und Urteilsfunktion und gesteht 254
Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 399 ff.; Binder, Ideas y Materiales, S. 306 f. Siehe dazu die ausführliche Darstellung oben im 1. Kapitel, B. 256 Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 397 ff., 401; im Ergebnis auch Cavallero/Hendler, Justicia, S. 70. 255
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dem Angeklagten Subjektqualität zu.257 Eine Laienbeteiligung am Strafprozess, sogar eine Mehrzahl der Laien gegenüber den Berufsrichtern, ist ebenfalls unter Beibehaltung einer grundsätzlich inquisitorischen Verfahrensstruktur möglich, wie verschiedene Verfahrensordnungen in Europa zeigen.258 Der Begriff des jurado meint zudem sprachlich nicht notwendig ein Geschworenengericht wie in England oder den USA, wo die Geschworenen ohne Beteiligung von Berufsrichtern über die Schuldfrage entscheiden, sog. jurado puro, sondern kann auch die in Konti nentaleuropa üblichen Schöffengerichte erfassen, wo Richter und Laien gemein sam entscheiden, sog. jurado mixto oder jurado escabinado.259 Vor allem aber zeigt eine genauere Betrachtung, dass Vorsicht dahingehend geboten ist, den Ver fassungsvätern zu liberale Absichten in Hinblick auf die Reformierung des Straf prozesses zu unterstellen. So spricht viel dafür, dass die Verfassungsvorschriften zum Geschworenenprozess lediglich als Programmsätze und Zielbestimmungen gedacht waren, nicht jedoch als sofort umzusetzendes Mandat.260 Die breite Mehr heit der argentinischen Juristen war zu dieser Zeit nämlich gar nicht restlos von der Einrichtung von Geschworenengerichten überzeugt. Neben denjenigen, wel che die Geschworenengerichte grundsätzlich ablehnten, gab es eine große Gruppe, die generell mit dem Gedanken der Volksbeteiligung an der Strafjustiz sympathi sierte, aber daran zweifelte, dass sie praktisch umsetzbar sei in einem Land auf dem Stande Argentiniens, wo die Herausforderung darin bestand, überhaupt erst flächendeckend eine funktionierende Justiz zu etablieren.261 Diese Haltung bestä tigte sich darin, dass eine einfachgesetzliche Ausgestaltung der Geschworenen gerichte schließlich ausblieb.262 Ihr dürfte auch die vorsichtige Formulierung der Verfassungsvorschriften zum Geschworenenprozess geschuldet sein, wo die ein deutige Formulierung einer zwingenden Rechtsfolge vermieden wird. Art. 24 der Verfassung spricht etwa bloß davon, dass der Kongress die Einführung von Ge schworenengerichten „fördert“ („promoverá“). Schließlich ist die Tatsache zu be denken, dass sich in der verfassungsgebenden Versammlung selbst kein Wider spruch gegen die Geschworenengerichte seitens der konservativen Fraktion erhob, obwohl die dargestellten weit verbreiteten Bedenken gegen die Volksbeteiligung am Strafverfahren bestanden und die Konservativen zu anderen Fragen durchaus scharfe Kritik am Verfassungsentwurf geübt hatten.263 Das Schweigen der Konser vativen lässt sich am ehesten dadurch erklären, dass man allgemein vom nicht ver 257
Siehe dazu schon oben das 1 Kapitel, B. II. Vgl. dazu bspw. in Deutschland das mit einem Berufsrichter und zwei Laien besetzte sog. Schöffengericht und den aus drei Berufsrichtern und neun Laien bestehenden cour d’assises in Frankreich. 259 Pense, Das spanische Schwurgericht, S. 12 f. 260 So Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 220; Bielsa, Derecho Constitucio nal, S. 755 f.; a. A. Cavallero/Hendler, Justicia, S. 47 ff. m. w. N. 261 Siehe dazu ausführlich Levaggi, Revista de Estudios Histórico-Jurídicos VII (1982), S. 175 ff. (176 ff.; 194 ff.). 262 Siehe dazu unten 3. Kapitel, A. I. 263 Nämlich zu den Fragen der freien Religionsausübung und der Bundeshauptstadt, siehe oben 2. Kapitel, B. I. 258
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bindlichen Charakter der genannten Vorschriften ausging. Hinzuzufügen ist, dass es sich bei der Diskussion um die Laienbeteiligung an der Strafjustiz im Wesent lichen um eine politische Auseinandersetzung handelte, strafprozessuale Folge fragen zur konkreten Ausgestaltung des Verfahrens blieben außen vor.264 Vom Wil len der Verfassungsgeber zu einer Umgestaltung des Strafverfahrens in Richtung einer adversatorischen Verfahrensstruktur kann daher keine Rede sein.265 Die Ver fassung stellt dem einfachen Gesetzgeber also frei, wie er über ihre grundsätz lichen Vorgaben zu Beschuldigtenrechten und Trennung von Gericht und Anklage hinaus das Strafverfahren und die Figur des Staatsanwalts ausgestaltet. Aus den angloamerikanischen Wurzeln der argentinischen Bundesverfassung von 1853/1860 lässt sich demnach kein verfassungsrechtliches Mandat zur Aus gestaltung des Strafverfahrens als Parteiprozess mit einer einseitig agierenden Staatsanwaltschaft herleiten. Dennoch kann die Verfassung auch in Bezug auf das Strafverfahren als Markstein gelten, denn mit ihrem weitgehend liberalen Staats verständnis stellt sie den Strafprozess auf eine neue kulturell-politische Grund lage. Seinen konkreten Ausdruck findet dieser Wandel in der Festschreibung einiger Prozessgrundsätze. Einer davon ist der Anklagegrundsatz.266 Mit der Tren nung von Anklage- und Urteilsfunktion geht die Verfassung einen entscheiden den Schritt und schafft das Fundament für die Einrichtung einer modernen Staats anwaltschaft. IV. Zusammenfassung und Fazit
Die argentinische Bundesverfassung von 1853/1860 ist das Ergebnis der wi derstreitenden politischen Strömungen im Argentinien des frühen neunzehnten Jahrhunderts. Einerseits liberal und föderal in ihrer der U. S.-amerikanischen Ver fassung folgenden Grundausrichtung, schafft sie andererseits eine starke exekuti vische Zentralgewalt mit fast monarchischen Zügen. Obwohl sie in ihrer Fassung von 1860 die Staatsanwaltschaft nicht mehr ausdrücklich erwähnt267, nimmt sie 264
Vgl. Levaggi, Revista de Estudios Histórico-Jurídicos VII (1982), S. 175 ff., Cavallero/ Hendler, Justicia, S. 46. 265 Der renommierte Rechtshistoriker Abelardo Levaggi vertrat in einem Gespräch mit dem Autor dieser Arbeit sogar die Auffassung, der Verfassungsgeber habe sich in keinerlei Wi derspruch zu dem zu dieser Zeit geltenden Strafverfahrensrecht setzen wollen. Dies ist inso fern richtig, als dass sich nicht notwendig eine Kontradiktion zwischen dem etablierten konti nentaleuropäischen Verfahren und dem angloamerikanischen Ursprung der Verfassung ergibt. Es bleibt aber klarzustellen, dass der auf den Siete Partidas basierende Strafprozess den An forderungen der Verfassung hinsichtlich der Trennung von Anklage- und Urteilsfunktion sowie in Bezug auf das Verteidigungsrecht nicht entsprach, wie Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 401, treffend darlegt. 266 Hier zeigt sich die Notwendigkeit einer Terminologie, die klar zwischen Anklagegrund satz und adversatorischen Verfahren differenziert, vgl. dazu schon oben Fn. 28. 267 Die Staatsanwaltschaft sollte erst knapp 140 Jahre später mit der Verfassungsreform des Jahres 1994 wieder Eingang in die Verfassung finden. Siehe dazu unten 5. Kapitel, A. II.
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auf diese Weise wichtige Weichenstellungen für die weitere Entwicklung der staat lichen Anklagebehörde vor. Die größte Errungenschaft sind dabei die liberalen, dem angloamerikanischen Rechtskreis entlehnten Vorschriften zum Strafprozess. Der Anklagegrundsatz be gründet die Entstehung einer vom Gericht unabhängigen, exklusiv mit der staat lichen Anklagefunktion versehenen Behörde, wie wir sie heute als Staatsanwalt schaft im modernen Sinne kennen. Die föderale Justizorganisation bedeutet, dass eine solche Anklagebehörde nicht nur auf Provinz-, sondern auch auf Bundes ebene einzurichten sein wird. Die argentinische Bundesverfassung legt also den Grundstein für eine grundlegende Reform der inquisitorischen Verfahrensstruktur dahingehend, dass die Staatsgewalt im Strafprozess in ein Anklage- und ein Ur teilsorgan aufgespalten wird. Gleichzeitig erschwert die Verfassung aber gerade eine deutliche Abgrenzung von Staatsanwalt und Richter. Durch die übergroßen Exekutivbefugnisse und das daraus resultierende gestörte Gleichgewicht zwischen den Gewalten entsteht das Bestreben, die Staatsanwaltschaft von der Exekutive abzukoppeln und sie der rechtsprechenden Gewalt anzunähern. Bis heute liegt darin einer der Hauptgründe für das Beharrungsvermögen der für die inquisitorische Verfahrensstruktur so charakteristischen staatlichen Machtkonzentration im Strafprozess.268 Die zwie spältige Natur der argentinischen Bundesverfassung schlägt sich also auch in ih rem Einfluss auf die Staatsanwaltschaft nieder. Einerseits fordert sie die Trennung der Anklagefunktion vom Gericht, andererseits verhindert sie aber die klare Unter scheidung des Staatsanwalts vom Urteilsorgan.
268
Vgl. dazu die bereits in Fn. 247 genannten Teile der vorliegenden Arbeit.
3. Kapitel
Die Entscheidung für den Inquisitionsprozess 3. Kap.: Die Entscheidung für den Inquisitionsprozess Ende des neunzehnten Jahrhunderts kam es in Argentinien zu einer ersten Grundentscheidung über das System des Strafverfahrens und damit über die Rolle des Staatsanwalts. Der Entwurf für eine Bundesstrafverfahrensordnung von González und De la Plaza, der die Verfassungsvorgaben in ein adversatorisches Geschworenenverfahren U. S.-amerikanischer Prägung umsetzen wollte, erlangte keine Gesetzeskraft. Bevorzugt wurde stattdessen ein Entwurf Obarrios, welcher die zwischenzeitlich in Europa verwirklichten Reformen allerdings praktisch nicht berücksichtigte, sondern an den althergebrachten Formen des kastilischen Inqui sitionsverfahrens festhielt. Die so im Jahr 1889 in Kraft getretene Bundesstrafver fahrensordnung sollte eine Geltungsdauer von mehr als hundert Jahren haben.
A. Das U. S.-amerikanische Modell: Der Entwurf González/De la Plaza von 1873 Der Entwurf González/De la Plaza stellt den für lange Zeit bedeutendsten Ver such dar, ein adversatorisches Verfahren nach U. S.-amerikanischem Vorbild im bis dato stark inquisitorisch geprägten Argentinien zu etablieren. Er ist für die vor liegende Untersuchung der Entwicklung der Staatsanwaltschaft, der es gerade um das Aufeinandertreffen von Inquisitionsprozess und Elementen des Parteiverfah rens geht, von besonderer Bedeutung und soll hier daher trotz seines Nicht-Inkraft tretens näher erörtert werden. I. Entstehungsgeschichte und Grundzüge des Entwurfs González/De la Plaza
Die ersten zwei Dekaden nach der Anerkennung der Verfassung durch die Stadt Buenos Aires im Jahre 1860 dienten der Konsolidierung der nationalen Einheit Argentiniens und dem Aufbau eines funktionsfähigen Staatswesens. Die Präsi denten Mitre, Sarmiento und schließlich Avellaneda waren in dieser Zeit mit zahl losen Herausforderungen konfrontiert. Föderalistische Machthaber in den Provin zen als auch Unitarier aus Buenos Aires rebellierten gegen die Nationalregierung, man focht an der Seite von Brasilien und Uruguay einen Krieg gegen Paraguay aus, und zuletzt sollte die Herrschaft der Ureinwohner über weite Teile Südargen tiniens militärisch gebrochen werden. Ökonomisch vollzog sich die Öffnung des
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Landes gegenüber dem Weltmarkt, wo es als Exporteur von Agrarprodukten und Importeur von Technologiegütern auftrat. Gleichzeitig versuchte man, die Grund lagen für einen zukünftigen Aufschwung zu legen, indem die Einwanderung be fördert und ein großangelegtes Programm zur Schaffung von Bildungseinrichtun gen aufgelegt wurde.269 Auf rechtlicher Ebene bestand eine der ersten Aufgaben im Aufbau der von der Verfassung vorgesehenen Bundesjustiz.270 Mittels Bundesgesetz Nr. 27 vom 16.10.1862 wurden die ersten Bundesgerichte geschaffen sowie die Besetzung des Obersten Gerichtshofs der Nation festgelegt. Darauf folgten am 14.9.1863 die Bundesgesetze Nr. 48, 49 und 50. Gesetz Nr. 48 regelte genauer die Organisa tion und Zuständigkeit der Bundesgerichte, Gesetz Nr. 49 enthielt die von ihnen zu verfolgenden Bundesdelikte und Gesetz Nr. 50 stellte Verfahrensregeln auf. Die meisten betrafen den Zivilprozess, es fanden sich aber auch einige Bestimmungen zum Strafverfahren. So sollten Ankläger und Verteidiger Einblick in das Ergeb nis des Vorverfahrens erhalten, um ihre Anklage bzw. Verteidigung formulieren zu können. Außerdem war vorgesehen, dass sie zum Abschluss des Verfahrens vor der Urteilsfindung noch einmal im Beisein des Angeklagten eine mündliche Stel lungnahme abgeben.271 Kurz darauf, im Jahre 1865, unternahm die Regierung des Bundes erste Anstrengungen zum Erlass einer umfassenden Bundesstrafverfah rensordnung. Ihr Minister Costa bemühte sich darum, die Provinzen für den Ge danken eines untereinander abgestimmten, landesweit einheitlichen Gesetzes zu gewinnen, was jedoch vor allem am Widerstand der Provinzen Buenos Aires und Entre Rios scheiterte.272 Im Jahr 1871 führten letztendlich Initiativen in Abgeord netenhaus und Senat dazu, dass der Kongress ein Gesetz erließ, mit dem er die Ex ekutive dazu aufforderte, zwei geeignete Personen mit der Ausarbeitung von Ge setzen zur Organisation der Geschworenengerichte sowie zum Strafverfahren des Bundes zu beauftragen. Dem leisteten der damalige Präsident Sarmiento sowie sein Justizminister Avellaneda (der ihm später im obersten Staatsamt nachfolgen sollte) Folge, indem sie per Dekret vom 16. November 1871 den erfahrenen Ver fassungsrechtsexperten Florentino González sowie den jungen Anwalt Victorino De la Plaza273 mit der Erstellung der entsprechenden Gesetze betrauten.274 Gonzá lez hatte sich mit seinem kurz zuvor erschienenen Buch „El juicio por jurados“
269 Siehe zu dieser Phase der argentinischen Geschichte Romero, Breve historia, S. 118 ff.; Eggers-Brass, Historia Argentina, S. 319 ff.; Ruíz Moreno (h.), in: Academia Nacional de la Historia (Hrsg.), Nueva Historia Bd. 4, S. 453 ff. 270 Siehe dazu die ausführliche Darstellung unten 3. Kapitel, B. II. 1. 271 Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 402 f.; Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 191. 272 Vgl. dazu Levaggi, Revista de Historia del Derecho Nr. 11 (1983), S. 121 ff. (130 ff.). 273 De la Plaza wurde später ebenfalls argentinischer Staatspräsident, er amtierte vom 9. August 1914 bis zum 12. Oktober 1916. 274 Das entsprechende Gesetz des Kongresses sowie das Dekret zur Beauftragung von González und De la Plaza sind abgedruckt in González/De la Plaza, Proyecto, S. 3 ff.
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3. Kap.: Die Entscheidung für den Inquisitionsprozess
als Kenner und Anhänger der Geschworenengerichte hervorgetan.275 Etwa andert halb Jahre später, am 23. April 1873, legten die Autoren ihr Werk vor. Es trägt den langen Titel „Proyecto de ley sobre el establecimiento del juicio por jurados y de código de procedimiento criminal en las causas de que conoce la justicia nacional“ und wird heute allgemein nach seinen Verfassern als „Entwurf González/De la Plaza“ (proyecto González-De la Plaza) bezeichnet.276 Der Entwurf umfasst ein Gesetz von 47 Artikeln, welches die Besetzung der Geschworenengerichte regelt, im Übrigen aber keine Vorschriften zur Gerichts organisation enthält, sowie eine 786 Artikel umfassende Verfahrensordnung. Sie orientiert sich zur Umsetzung des Geschworenenprozesses an angloamerikani schen Vorbildern, wichtigste Modelle waren die Strafverfahrensordnungen der US-amerikanischen Bundesstaaten New York und Louisiana.277 Aus Kontinental europa scheint allenfalls das französische Strafverfahren einen gewissen Einfluss ausgeübt zu haben.278 Interessant aus deutscher Sicht ist, dass eine der Haupt informationsquellen der Verfasser zum angloamerikanischen Strafverfahren das 1851 erschienene Werk des deutschen Juristen C. J. A. Mittermaier, Das englische, schottische und nordamerikanische Strafverfahren, in französischer Übersetzung von M. Chauffard aus dem Jahre 1868 war, welches in den Motiven zum Entwurf wiederholt zitiert wird.279 Die Prozessordnung kennt neben dem regulären Verfahrensgang, wo Geschwo renengerichte nach US-amerikanischem Vorbild über die Schuldfrage entscheiden, noch ein beschleunigtes Verfahren für leichtere Delikte ohne Beteiligung von Lai enrichtern. Das Vorverfahren folgt in beiden Fällen weitgehend den gleichen Regeln, Art. 697 E González/De la Plaza. Es wird nach Art. 139 Nr. 1–4, 140 E González/ De la Plaza durch den für das Hauptverfahren zuständigen Richter geleitet280, der sich dabei der Polizei bedient, Art. 139 Nr. 6, Art. 142 E González/De la Plaza. Der Richter beginnt mit den Ermittlungen, sobald er von der Begehung einer Straftat Kenntnis erlangt, Art. 149 E González/De la Plaza, was nach Art. 140 E González/ De la Plaza durch Anzeigen und Klagen Dritter geschehen kann. Der Fall sonsti 275
Levaggi, Revista de Historia del Derecho Nr. 11 (1983), S. 121 ff. (196 f.). Vgl. Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 192; Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 403. Kurze Zusammenfassungen des Inhalts des Entwurfs finden sich bei Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 192–194 und bei Vázquez Rossi, Derecho Pro cesal Penal Bd. 1, S. 148–151. 277 González/De la Plaza, Proyecto, S. 23 f. Vgl. auch Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 194 Fn. 67; Levaggi, Revista de Historia del Derecho Nr. 11 (1983), S. 121 ff. (133). 278 Vgl. die Motive des Entwurfs in González/De la Plaza, Proyecto, S. 7 ff., insb. die Zitate auf den S. 20, 23, 24, 41, 77, 96 und 162. 279 So finden sich Zitate bspw. in González/De la Plaza, Proyecto, S. 64, 65, 71,84, 90, 125, 139, 148. Zum Nachweis der Übersetzung vgl. Nuzzo, Bibliographie, S. 70, 106. 280 Siehe dazu auch unten 3. Kapitel, A. II. 2. 276
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ger Kenntniserlangung wird nicht erwähnt, so dass die Ermittlungseinleitung von Amts wegen wohl ausgeschlossen sein soll. Die Beschuldigtenrechte sind deut lich gestärkt, denn das Vorverfahren ist nicht mehr geheim, der Beschuldigte hat ein Recht auf Anwesenheit bei der Zeugenvernehmung, Art. 213 E González/De la Plaza, und auf Einsicht in die Ermittlungsakten, Art. 224 E González/De la Plaza. Im beschleunigten Verfahrene spricht der Berufsrichter anschließend mit Ein verständnis des Beschuldigten sofort ein Urteil oder setzt einen Termin für die Hauptverhandlung fest, Art. 702 E González/De la Plaza. Im regulären Verfahren muss dagegen der Staatsanwalt die Anklage erheben, Art. 239 E González/De la Plaza, welche anschließend noch einmal von einem Geschworenenkollegium, der Anklagejury, überprüft wird, Art. 267 ff. E González/De la Plaza. Die mündliche und öffentliche Hauptverhandlung verläuft unabhängig von der Teilnahme von Geschworenen nach einem festen Grundmuster, Art. 711, 431 Nr. 1–5 E González/De la Plaza. Die Beweisaufnahme richtet sich grundsätz lich nach den Regeln zum Zivilprozess, Art. 440 E González/De la Plaza, d. h. sie liegt in den Händen der Parteien, der Berufsrichter beschränkt sich auf die Sicher stellung des ordnungsgemäßen Prozessablaufs.281 Er beaufsichtigt die Beweisauf nahme lediglich und mischt sich nur dann ein, wenn Fragen gestellt werden, die nicht geeignet sind, zur Aufklärung des Anklagevorwurfs beizutragen, oder die der Zeuge nicht zu beantworten braucht, Art. 464 E González/De la Plaza. Zunächst präsentiert der Staatsanwalt die Anklage sowie seine Belastungsbeweise, danach legt der Angeklagte seine Entlastungsbeweise dar. Anschließend können die Par teien, die jeweils gegnerischen Zeugen ins Kreuzverhör nehmen. Das letzte Wort hat in jedem Fall der Angeklagte. Schließlich entscheiden, wenn es sich um einen Geschworenenprozess handelt, die Geschworenen über die Schuldfrage und der Richter über die Strafzumessung, Art. 469 ff., 528 ff. E González/De la Plaza. Der Berufsrichter kann nach seinem Ermessen Anträge der Parteien zur Strafzumes sung zulassen, die unter Anwesenheit der Gegenpartei in einem summarischen Beweisverfahren zu begründen sind, Art. 539 E González/De la Plaza. Gibt es keine Geschworenen, entscheidet der Richter allein über Schuld- und Straffrage, Art. 714 ff. E González/De la Plaza. Entsprechend der Zweiteilung der Hauptverhandlung unterscheidet der Ent wurf González/De la Plaza auch zwischen zwei Arten von Rechtsmitteln. Zum einen gibt es die Rechtsmittel gegen Tatsachenentscheidungen durch das Ge schworenengericht, zum anderen die apelación gegen die Strafzumessungsent scheidung durch den Berufsrichter, 503 ff., 561 ff. E González/De la Plaza.282 In ersterem Fall kann die Verletzung von Prozessvorschriften gerügt werden, was zu einer völligen Neuverhandlung des Tatvorwurfs führt, während die apelación sich gegen eine fehlerhafte Rechtsauslegung bei der Urteilsfindung richtet, vgl. 281
Vgl. dazu González/De la Plaza, Proyecto, S. 124 f. Vgl. González/De la Plaza, Proyecto, S. 152 f.
282
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3. Kap.: Die Entscheidung für den Inquisitionsprozess
Art. 578 E González/De la Plaza. Anders ist dies im verkürzten Verfahren, wo der Berufsrichter über Schuld- und Straffrage gemeinsam entscheidet und daher mit der apelación auch jede Verletzung von Verfahrensvorschriften gerügt werden kann. Zusammengefasst etabliert der Entwurf González/De la Plaza also mit einigen Modifikationen ein dem angloamerikanischen Recht entlehntes Parteiverfahren, welches, soweit es sich nicht um ein verkürztes Verfahren wegen leichterer De likte handelt, vor Geschworenengerichten stattfindet. Obwohl die Verfasser da mit lediglich den ihnen ausdrücklich gestellten Auftrag erfüllten, ein Strafverfah ren unter der Beteiligung von Laienrichtern zu erarbeiten, traten, als es nun um die konkrete Umsetzung des Entwurfs ging, wiederum die erheblichen Bedenken hervor, die, wie bereits dargestellt283, auch unter Befürwortern der Geschworenen gerichte weit verbreitet waren. Beispielhaft hierfür ist ein Bericht, den der Justiz minister Avellaneda nur etwas mehr als eine Woche nach der Einreichung des Ent wurfs am 1. Mai 1873 dem Kongress vorlegte. Darin erklärt er unter Bezugnahme auf den Entwurf, er selbst sei einer der ersten gewesen, die die Reformierung des geltenden Verfahrens und die Einrichtung von Geschworenengerichten unterstützt hätten. Allerdings sei zu bedenken, dass das Geschworenengericht ein der argen tinischen Rechtstradition fremdes Institut sei. Zu seiner Verwirklichung sei es zu nächst notwendig, Unwissenheit und Vorurteile in der Bevölkerung zu beseitigen. Er spricht sich daher dafür aus, die Laienbeteiligung in der Strafjustiz zunächst in den Provinzen zu erproben.284 Auch der Kongress war offenbar nicht mehr von seiner ursprünglichen Absicht einer Einrichtung von Geschworenengerichten überzeugt. Das Abgeordnetenhaus setzte zwar noch eine Kommission zur Unter suchung des Entwurfs González/De la Plaza ein, zu einer formalen Aufnahme des Gesetzgebungsverfahrens kam es in den folgenden Jahren aber nicht mehr.285 Als im Jahre 1880 dann der konservative Präsident Roca seinen Vorgänger Avellaneda ablöste, verflüchtigte sich die letzte Hoffnung auf eine Verwirklichung des Ent wurfs González/De la Plaza. Maier286 drückt die Überzeugung aus, die Ablehnung des Kongresses habe sich nicht allein auf die Laienrichter bezogen, sondern auf das liberale Verfahrens konzept insgesamt, welches wie gezeigt287 den Geschworenengerichten zugrunde liegt. Man habe stattdessen ein inquisitorisch geprägtes, schriftliches und gehei 283
Siehe dazu oben 2. Kapitel, B. III. Levaggi, Revista de Estudios Histórico-Jurídicos VII (1982), S. 175 ff. (210). 285 Levaggi, Revista de Estudios Histórico-Jurídicos VII (1982), S. 175 ff. (211); ders., Re vista de Historia del Derecho Nr. 11 (1983), S. 121 ff. (135). 286 Julio B. J. Maier zählt zu den bedeutendsten Strafverfahrensrechtsexperten Argentiniens und den treibenden Kräften für eine Reform des dortigen Strafprozesses. Er zeichnete nach Ende der letzten Militärdiktatur für ein sich stark am deutschen Vorbild orientierendes, ausge sprochen interessantes Reformprojekt verantwortlich. Dieses wird ausführlich untersucht im 4. Kapitel, B. 287 Siehe dazu oben 2. Kapitel, B. III. 284
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mes Verfahren beibehalten wollen, wie es letztlich auch mittels der aus dem Ent wurf Obarrio hervorgegangenen Bundesstrafverfahrensordnung von 1889 um gesetzt wurde.288 Als Beleg verweist Maier auf die Aussage Obarrios, der die Tatsache, dass er trotz der Existenz des Entwurfes González/De la Plaza mit der Abfassung eines neuen Entwurfs beauftragt wurde, als klares Votum für ein rein von Berufsrichtern durchgeführtes Verfahren verstand, sowie auf den Bericht der Kommission des Abgeordnetenhauses, welche im Jahre 1888 den Entwurf Obar rios begutachtete.289 In ihrer Stellungnahme erläutet die Kommission, dass sie zwi schen zwei grundsätzlich unterschiedlichen prozessualen Systemen zu entschei den gehabt habe.290 Sie habe sich einstimmig für das von Obarrio verwirklichte System entschieden, da die Einrichtung von Geschworenengerichten angesichts des derzeitigen unzureichenden Zustands der allein auf rückständigem Kolonial recht beruhenden argentinischen Justiz einen zu brüsken Wechsel bedeutet hätte. Große Reformen dürften nicht unvermittelt durchgeführt werden, sondern sollten im Wege einer allmählich voranschreitenden Entwicklung hervorgebracht wer den.291 Die anschließend erläuterten Änderungen am Entwurf Obarrios zeugen da von, dass schon dieser Entwurf der Kommission in einer Reihe von Fragen zu fort schrittlich war.292 In der Tat offenbart sich in den Ausführungen der Kommissionsmitglieder ein konservatives, am bisherigen Inquisitionsverfahren orientiertes und größeren Än derungen ablehnend gegenüberstehendes Prozessverständnis, welches in dieser Zeit von weiten Teilen der politischen Elite und gerade auch der Justiz geteilt wor den sein dürfte.293 Nicht vergessen werden darf allerdings, dass zwischen der Ein reichung des Entwurfs González/De la Plaza und dem Erlass der Bundesstraf verfahrensordnung von 1889 mehr als anderthalb Jahrzehnte lagen, in welche ein Regierungswechsel fiel. Dem Präsidenten Avellaneda, welcher strafprozessuale Neuerungen grundsätzlich befürwortete, folgte, wie schon erwähnt, sein ausge sprochen konservativer Kriegsminister Roca im Amt.294 Das Zögern der reform freundlichen Kräfte in Hinblick auf den Geschworenenprozess erklärt sich also aus anderen Motiven als denen der konservativen Schichten, welche sich für eine Bewahrung der bisherigen Prozessstrukturen einsetzten und Neuerungen zum gro ßen Teil ablehnend gegenüberstanden. 288
Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 405. Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 405 Fn. 205 m. w. N. 290 Informe de la Comisión de Códigos, in: Chichizola (Hrsg.), Código de Procedimientos en Materia Penal, S. 35 f. 291 Informe de la Comisión de Códigos, in: Chichizola (Hrsg.), Código de Procedimientos en Materia Penal, S. 36 f. 292 So lehnte sie die Abschaffung der Todesstrafe sowie den Vorschlag, auch dem Verteidiger Einblick ins Ermittlungsverfahren zu gewähren, ab. Siehe dazu unten 3. Kapitel, B. I. 293 Insbesondere die Rechtspraktiker standen allzu großen Neuerungen offenbar ablehnend gegenüber, vgl. Jofré, Procedimiento Criminal Argentino, S. XII ff.; Levaggi, Revista de Estu dios Histórico-Jurídicos VII (1982), S. 175 ff. (177). 294 Siehe dazu auch unten 3. Kapitel, B. I. 289
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3. Kap.: Die Entscheidung für den Inquisitionsprozess
Zutreffend ist aber sicherlich, dass die weitgehende Reduzierung der Reform diskussion auf die Frage einer Zweckmäßigkeit der Laienbeteiligung am Strafver fahren den Argumenten derjenigen, die am althergebrachten Inquisitionsverfahren festhalten wollten, zugute kam und auf diese Weise anderen dringend notwendi gen Neuerungen wie etwa der klaren Trennung von Anklage- und Urteilsfunktion entgegenwirkte. Angesichts der Diskrepanz zwischen den rudimentären Justiz strukturen im damaligen Argentinien und dem elaborierten Geschworenenverfah ren des Entwurfs González/De la Plaza erscheinen die damaligen Bedenken be züglich seiner Praxistauglichkeit nämlich nicht unberechtigt. Andererseits erzielte der Entwurf im Hinblick auf die Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens vielfach bedeutende Fortschritte, wie im Folgenden anhand der Ausgestaltung der Staats anwaltschaft gezeigt werden soll.295 II. Die Stellung der Staatsanwaltschaft im Verfahren des Entwurfs González/De la Plaza 1. Die Verstaatlichung der Anklagefunktion im Entwurf González/De la Plaza
Das durch den Entwurf eingeführte adversatorische Verfahren ist in seiner klas sischen Ausprägung ein Privatklageverfahren und kennt gar keinen staatlichen An kläger. Daher setzen sich González und De la Plaza in den Motiven zu ihrem Ent wurf auch mit der Frage auseinander, ob eine Staatsanwaltschaft überhaupt nötig ist. Dabei stützen sie sich weitgehend auf die Ausführungen zum englischen Straf verfahren, das ohne Staatsanwalt auskam, in dem schon genannten Werk Mitter maiers und kommen zum Ergebnis, dass in England viele Delikte wegen eines fehlenden Anklägers nicht verfolgt werden könnten. Außerdem sei es ihre Über zeugung, dass die Strafverfolgung eine öffentliche Aufgabe sei, die durch ein staatliches Organ im Namen der Gesellschaft zu erfolgen habe.296 Sie schließen sich also der zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts schon weitgehend gefestig ten Auffassung an, wonach die Strafverfolgung eben nicht Privatsache ist, sondern ein öffentlicher Strafverfolgungsanspruch besteht, und folgen dem nordamerika nischem Modell des adversatorischen Verfahrens. Damit findet sich auch in ihrem Entwurf die Institution eines staatlichen Anklägers, der hier dem sog. Ministerio Público zugeordnet ist. Er nimmt zwingend an jedem Strafverfahren teil, Art. 3 des Entwurfs. Dadurch wird aber die Privatklage nicht ausgeschlossen. Bestimmte Delikte können nur auf die Klage des Verletzten oder einer nahestehenden Person 295 Maiers Bedauern bzgl. des Nicht-Inkrafttretens des Entwurfs González/De la Plaza, vgl. Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 405, ist daher aus theoretischer Sicht voll zuzustim men. Die Frage der praktischen Umsetzbarkeit des Entwurfs bleibt dabei allerdings unberück sichtigt. 296 González/De la Plaza,Proyecto, S. 66 f.
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hin verfolgt werden, Art. 4 E González/De la Plaza. Darüber hinaus können auch alle übrigen Delikte von jedem Bürger im Wege der Popularklage verfolgt werden, Art. 5 E González/De la Plaza. Wie in der Rechtspraxis des bisherigen gemein rechtlichen Inquisitionsverfahrens297 üben dann der staatliche und der private An kläger die Anklagefunktion gemeinsam aus, Art. 5 E González/De la Plaza. 2. Vorverfahren
In den Art. 139 ff. E González/De la Plaza finden sich die für das Ermittlungs verfahren zuständigen Staatsorgane. An dieser Stelle fällt ein erheblicher Unter schied zwischen dem Entwurf und seinem nordamerikanischen Vorbild ins Auge. Nach U. S.-amerikanischem Recht ist die Voruntersuchung eine rein exekutivische Aufgabe. Die Polizei führt die Ermittlungen vollkommen selbständig durch und arbeitet dabei häufig mit dem ebenfalls der vollziehenden Gewalt zugehörigen Staatsanwalt zusammen.298 Das eigentliche Strafverfahren unter richterlicher Be teiligung beginnt erst mit der Verhaftung eines Verdächtigen und der anschließen den Anklageerhebung durch den Staatsanwalt.299 Im Gegensatz dazu sieht der Ent wurf González/De la Plaza eine richterliche Voruntersuchung vor. Nach Art. 139 Nr. 1, Art. 140 E González/De la Plaza leitet der örtliche Bundesrichter, der nach Art. 130 E González/De la Plaza auch für das Hauptverfahren zuständig ist, von Beginn an die Ermittlungen. Damit wird die Untersuchungsfunktion in der Tradi tion des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses nicht Anklage und Verteidigung, sondern direkt dem Urteilsorgan auferlegt. Die Beteiligung der Staatsanwaltschaft am Ermittlungsverfahren ist sehr eingeschränkt. Sie soll die Aufklärung von Straf taten fördern, indem sie bei Kenntniserlangung von der Begehung einer Straftat ihre Informationen an den zuständigen Richter weiterleitet und im Übrigen An träge zu von ihr für erforderlich gehaltenen Ermittlungsmaßnahmen stellt, Art. 139 Nr. 5, Art. 141 E González/De la Plaza.
297
Siehe dazu die Ausführungen oben im 2. Kapitel, A. III. 2. In den Vereinigten Staaten von Amerika ermittelt die Polizei völlig autonom, auch die Ent scheidung über die Einstellung der Ermittlungen obliegt allein ihr. Sie zieht jedoch häufig einen Staatsanwalt als juristischen Berater hinzu, da sie sich an strenge Regeln der Beweiserhebung halten muss und es im beiderseitigen Interesse ist, dass die zusammengetragenen Beweise auch gerichtlich verwertet werden können. Vgl. dazu Weigend, in: Jescheck/Leibinger (Hrsg.), An klagebehörde im ausl. Recht, S. 598, 607 ff.; Schmid, Das amerikanische Strafverfahren, S. 38; Neubauer, Criminal Justice System, S. 151; Kerper, Criminal Justice System, S. 430. 299 Ist ein Beschuldigter identifiziert und liegt nach Einschätzung der U. S.-amerikanischen Ermittlungsbehörden ein ausreichender Verdachtsgrad vor, wird der Beschuldigte verhaftet und eine Anklage formuliert. Anschließend ist der Beschuldigte unverzüglich einem Richter vorzu führen, damit ihm der Anklagevorwurf bekannt gemacht und eventuell eine Kaution für seine Freilassung festgelegt wird, sog. initial appearance. Vgl. zu diesem Ablauf Weigend, in: Je scheck/Leibinger (Hrsg.), Anklagebehörde im ausl. Recht, S. 607 ff.; Schmid, Das amerika nische Strafverfahren, S. 38 ff. 298
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Fraglich ist, warum González und De la Plaza hier von ihren angloameri kanischen Vorbildern abweichen und die Leitung der Untersuchung nicht einem Polizeibeamten oder dem Staatsanwalt überlassen, obwohl sie deutlich erken nen, dass gerade im Bereich des Ermittlungsverfahrens „erhebliche Neuerun gen“ erforderlich sind, um den bisherigen Inquisitionsprozess abzuschaffen, und sehen, dass dazu eigentlich Untersuchungs- und Urteilsfunktion getrennt sein müssten.300 Sie begründen dies zunächst mit praktischen Erwägungen. Die institutionelle Ausgestaltung der Exekutivbehörden in England und den Vereinigten Staaten sei in vielen argentinischen Provinzen nicht gegeben. Es bestünde Anlass zur Besorg nis, dass die lokalen Behörden nicht in der Lage seien, selbständig eine effiziente Durchführung des Ermittlungsverfahrens zu gewährleisten. Deshalb müssten zu mindest jetzt noch die Bundesrichter in das Ermittlungsverfahren eingreifen.301 Weiterhin erklären die Verfasser, dass sie zwar die Existenz eines öffentlichen An klägers für notwendig erachten, ihn allerdings nicht mit den „inquisitorischen Be fugnissen“ ausstatten wollten, wie er sie in Frankreich besitze.302 Wenige Seiten später konkretisieren sie diese Ausführungen noch einmal. Als Vorbild für die Auf listung der einzelnen Ermittlungsmaßnahmen habe die französische Strafprozess ordnung gedient, keinesfalls hätten sie allerdings dem französischen Beispiel darin folgen wollen, der Staatsanwaltschaft die „inquisitorischen Befugnisse“ zu geben, diese Ermittlungsmaßnahmen auch durchzuführen. Vielmehr wollten sie soweit möglich dem adversatorischen Verfahren folgen, welches weniger anfällig für eine Drangsalierung des Beschuldigten sei.303 Ist die Übertragung der Herrschaft über das Vorverfahren auf den Staatsanwalt aber wirklich inquisitorischen Ursprungs? Es ist einerseits gerade typisch für ein Parteiverfahren, dass der Ankläger selbst Beweise sammelt. Im verstaatlichten Par teiverfahren der Vereinigten Staaten von Amerika beteiligt sich der Ankläger wie soeben erwähnt unproblematisch an den Ermittlungen. Andererseits ist der Staats anwalt, der objektiv ein stark formalisiertes Vorverfahren leitet, wie die Verfasser des Entwurfs richtig feststellen, ein Ergebnis der Reform des Inquisitionsprozes ses in Kontinentaleuropa und entspricht einem Grundverständnis, nach dem der Staat die Wahrheitsfindung nicht den Parteien überlässt, sondern sie von sich aus in einem autoritären Verfahren betreibt. Die Ermittlungszuständigkeit des Staats anwalts ist damit, wie seine Zwitterstellung, im Allgemeinen weder eindeutig in quisitorischer, noch eindeutig adversatorischer Natur, sondern lässt sich je nach dem einordnen, ob man beim Staatsanwalt mehr die Anklagefunktion oder mehr die Eigenschaft als Staatsorgan betont. Ohnehin dürfte es den beiden Autoren
300
González/De la Plaza, Proyecto, S. 62 (Übers. des Verf.), S. 65. González/De la Plaza, Proyecto, S. 65. 302 González/De la Plaza, Proyecto, S. 67 (Übers. des Verf.). 303 González/De la Plaza, Proyecto, S. 70.
301
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aber weniger auf die systemtheoretische Einordnung angekommen sein als auf eine zweite, unterschwellige und wertende Bedeutungsebene der Begriffe „inqui sitorisch“ und „adversatorisch“. Danach ist verallgemeinernd gesagt alles „Inqui sitorische“ veraltet und beschuldigtenfeindlich, alles „Adversatorische“ hingegen modern und rechtsstaatlich.304 Unabhängig von der Frage, wie die Übertragung der Ermittlungen auf den Staatsanwalt nun letztlich zu bewerten ist305, bleibt jedenfalls festzuhalten, dass die von González und De la Plaza gewählte Lösung auch unter Berücksichtigung der als Begründung angeführten praktischen Erwägungen keinesfalls überzeugen kann. Selbst wenn der Richter nicht die abschließende Entscheidung über die An klagerhebung trifft306, bringt die Übertragung von im nordamerikanischen System polizeilichen Aufgaben auf den Richter der Hauptverhandlung erhebliche Gefah ren für den Beschuldigten mit sich. Der Leiter der Ermittlungen muss zu ihrem Abschluss eine Vorentscheidung über die Strafbarkeit des Beschuldigten treffen, die schon dadurch schwierig werden mag, dass er zuvor direkt mit dem Opferleid konfrontiert gewesen ist. Übernimmt dies bereits der Richter der Hauptverhand lung, ist er zumindest unterbewusst durch die zunächst getroffene Entscheidung beeinflusst, so dass es selbst bei dem gewissenhaftesten Amtsträger zu einer psy chologischen Überforderung kommt, die der des Inquisitionsrichters vergleichbar ist.307 Denkbar ist hier auch eine zumindest teilweise Vorwegnahme der richter lichen Wahrheitsfindung. Das Hauptverfahren und seine schützenden Formen wer den auf diese Weise entwertet. Nach Abschluss der Ermittlungen entscheidet der Richter darüber, ob das Ver fahren nach der Beweislage einzustellen ist, Art. 225 E González/De la Plaza, oder ob der Beschuldigte sich vor Gericht in einem Hauptverfahren verantwor ten soll, Art. 226 E González/De la Plaza. In ersterem Falle setzt er den An geklagten auf freien Fuß, Art. 225 E González/De la Plaza, in Letzterem übergibt er die Ermittlungsakten an den Staatsanwalt, damit dieser die Anklage formulie ren kann, Art. 239 E González/De la Plaza. Tut der Staatsanwalt dies nicht inner halb einer bestimmten Frist, muss der Richter das Verfahren einstellen, Art. 676, 677 E González/De la Plaza. Zu der Frage, inwieweit dem Staatsanwalt bei der Anklageerhebung Entschei dungsfreiheit zugebilligt wird, finden sich im Entwurf González/De la Plaza keine 304 Siehe zu der entsprechenden Benutzung des Begriffspaars die Ausführungen von Langer, in: Hendler (Hrsg.), garantías, S. 251 f. m. w. N. 305 Vgl. dazu die ausführlichen Erörterungen zur Übertragung der Voruntersuchung auf den Staatsanwalt unten 4. Kapitel, B. III. 1.; 5. Kapitel, B. III. 1. a). 306 Die Regelungen des Entwurfs González/De la Plaza sind hierzu nicht ganz eindeu tig. Nach richtiger Auslegung muss die abschließende Entscheidung über die Anklage erhebung aber bei dem Staatsanwalt verbleiben, vgl. dazu die Ausführungen in den folgenden Absätzen. 307 Konkret wird es ihm schwer fallen, eine einmal getroffene Entscheidung zugunsten des Angeklagten zu revidieren. Siehe dazu schon die Ausführungen oben im 1. Kapitel, B. II.
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Regelungen und auch die beigefügten Motive geben dazu keine Auskunft. In den Vereinigten Staaten von Amerika ist es üblich, dass vor der staatsanwaltlichen Entscheidung über die Anklageerhebung zunächst noch einmal ein höherrangiger Polizeibeamter prüft, ob das Verfahren weitergeführt werden soll.308 Diese Vor prüfung obliegt nach dem Entwurf González/De la Plaza wie gezeigt dem Rich ter des Hauptverfahrens. Damit bleiben sich die Urheber des Entwurfs dahinge hend treu, dass sie die im nordamerikanischen Ermittlungsverfahren regelmäßig von einem hohen Polizeibeamten ausgeübten Befugnisse dem Richter übertragen. Insoweit erinnert der Verfahrensablauf plötzlich wieder an das bisher praktizierte Inquisitionsverfahren, wo der Richter ebenfalls selbst die Entscheidung über die Anklageerhebung traf und die Erstellung der Anklageschrift durch den Fiskal eine bloße Förmlichkeit war.309 Im Gegensatz zu dieser Rechtspraxis findet sich aber im Entwurf González/De la Plaza keinerlei Regelung, die es dem Richter ermög licht, die fehlende Anklage des Staatsanwalts zu ersetzen, er ist in diesem Fall ver pflichtet, das Verfahren einzustellen. Alles andere würde auch eine völlige Negie rung des Akkusationsprinzips zu Gunsten der inquisitorischen Vereinigung von Anklage- und Urteilsfunktion in einer Hand darstellen, die nach den dargeleg ten Motiven ganz sicher nicht im Sinne der Autoren war. Es ist daher analog des U. S.-amerikanischen Systems, dem der ganze Entwurf folgt, davon auszugehen, dass dem Staatsanwalt im Anschluss an die richterliche Prüfung nach wie vor ein eigener Entscheidungsspielraum über die Anklageerhebung zustehen sollte. Diese Auslegung wird auch gestützt durch die Vorschriften der Art. 680, 681 E González/ De la Plaza, wonach der Staatsanwalt nach Übergabe der Anklage an die sog. An klagejury diese nur mit Zustimmung des Richters zurücknehmen kann. Das be deutet nämlich im Umkehrschluss, dass ihm dies vor Anklageerhebung selbstän dig möglich ist. Hinsichtlich der Grenzen des Entscheidungsspielraums des Staatsanwalts kom men als grundsätzliche Möglichkeiten die Pflicht zur Strafverfolgung nach dem Legalitätsprinzip oder aber die Ausrichtung an Zweckmäßigkeitserwägungen nach dem Opportunitätsprinzip in Betracht. Nach dem adversatorischen Konzept des Entwurfs mit dem Staatsanwalt als Partei310 müsste der staatliche Ankläger nach Zweckmäßigkeitsgründen über die Anklage disponieren können.311 Denkbar ist
308 Der Polizeibeamte kann das Verfahren selbständig einstellen und eventuell außergericht liche Besserungsmaßnahmen, sog. diversion programs, anordnen. Beschließt er, dass der Fall weiter verfolgt werden soll, leitet er die Ermittlungsergebnisse an die Staatsanwaltschaft wei ter, welche ihrerseits noch einmal überprüft, ob auf eine weitere Strafverfolgung verzichtet werden kann. Vgl. zum Ganzen Weigend, in: Jescheck/Leibinger (Hrsg.), Anklagebehörde im ausl. Recht, S. 607 ff. 309 Siehe dazu oben 2. Kapitel, A. III. 3. 310 Siehe dazu schon oben 3. Kapitel, A. I. sowie weiter unten 3. Kapitel, A. III. 311 Vgl. zu dem Zusammenhang zwischen der Ausgestaltung des Anklägers als Partei und seiner Dispositionsbefugnis, welche im adversatorischen Verfahren auch die Verstaatlichen der Anklagefunktion weitgehend überstanden hat, oben 1. Kapitel, A. I., B. I.
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hier wiederum eine Orientierung am U. S.-amerikanischen Vorbild, dessen Staats anwaltschaft bis heute umfassende Befugnisse zur Verfahrenseinstellung besitzt.312 Andererseits ist zu beachten, dass diese Frage nach einer in Argentinien stark ver tretenen Auffassung zum materiellen Strafrecht zu rechnen ist und im später er lassenen Strafgesetzbuch ausdrücklich zu Gunsten des strengen Legalitätsprinzips entschieden wurde.313 Ob sich dies mit der adversatorischen Grundausrichtung des vorliegenden Strafverfahrens hätte in Einklang bringen lassen, ist zweifelhaft, bleibt aber angesichts dessen, dass bei einer Umsetzung des Entwurfs González/ De la Plaza unter Umständen auch die Regelungen im Strafgesetzbuch andere ge wesen wären, letztlich ein hypothetisches Problem. Für das summarische Verfahren gelten nach Art. 697 E González/De la Plaza grundsätzlich die gleichen Regeln, es kommt allerdings auch zu Abweichungen. Art. 697 E González/De la Plaza verweist nicht auf die Art. 239–241 E Gonzá lez/De la Plaza, wonach der Richter dem Staatsanwalt die Ermittlungsakten über gibt, damit dieser die Anklage verfasst. Stattdessen teilt der Richter dem Be schuldigten mit, dass die Ermittlungsergebnisse ein Hauptverfahren rechtfertigen und fragt ihn, ob er gestehen will oder sich damit einverstanden erklärt, dass der Richter ohne weitere Verhandlung nach der bestehenden Beweislage entscheidet, Art. 698, 700 E González/De la Plaza. Weigert der Beschuldigte sich, setzt der Richter sofort einen Termin für die Hauptverhandlung fest, Art. 702 E González/ De la Plaza. Eine förmliche Anklageerhebung durch den Staatsanwalt im Sinne der Art. 239–241 E González/De la Plaza ist also nicht nötig, der Richter gibt ihm den aus dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens resultierenden Tatvorwurf be kannt. Am folgenden Hauptverfahren ist der Staatsanwalt beteiligt, Art. 3, 711, 431 E González/De la Plaza, er wiederholt letztlich allerdings nur den schon vom Richter vorformulierten Anklagevorwurf. Dass der Staatsanwalt am summarischen Verfahren kaum mitwirkt, ist nicht grundsätzlich problematisch, sondern entspricht dem auch im angloamerikani schen Rechtsraum anerkannten Bedürfnis, das Verfahren bei besonders leichten
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Mit dem sog. screening nimmt der Staatsanwalt im U. S.-amerikanischen Strafverfahren eine Filterfunktion zur Entlastung der Strafjustiz wahr. Er kann Verfahren aussondern, indem er sie mit oder ohne Auflagen einstellt oder außergerichtliche Besserungsmaßnahmen anordnet, vgl. Herrmann, in: Jung (Hrsg.), Strafprozess im Spiegel ausl. Verfahrensordnungen, S. 138. Bei seiner Entscheidung hat der nordamerikanische Staatsanwalt einen weiten, praktisch nicht überprüfbaren Ermessensspielraum, vgl. LaFave/Israel/King, Criminal Procedure, S. 657 ff.; Schmid, Das amerikanische Strafverfahren, S. 41 f. Er muss zwar auch entlastendes Beweis material in seine Erwägungen mit einbeziehen, dieses spielt aber nur im Rahmen der für seine Entscheidung maßgeblichen Zweckmäßigkeitserwägungen eine Rolle, Safferling, Internatio nal Criminal Procedure, S. 75 m. w. N. Das Opportunitätsprinzip gilt also uneingeschränkt, vgl. Knobloch, Legalität, S. 141. Lediglich das Verbot der selective prosecution, wonach der Gleich heitssatz durch die Entscheidung des Staatsanwalts nicht verletzt werden darf, bildet eine ge wisse Grenze, Schmid, Das amerikanische Strafverfahren, S. 41. 313 Siehe dazu unten 3. Kapitel, B. III. 3. b).
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Delikten möglichst zu vereinfachen.314 Noch deutlicher als im regulären Verfahren wird hier allerdings der Anklagegrundsatz völlig ausgehebelt, da der Richter des Hauptverfahrens selbst die Anklagefunktion mit übernimmt. Die Unparteilichkeit des Urteilsorgans ist auf diese Weise nicht mehr gewahrt. Zusammenfassend ist demnach festzuhalten, dass der Staatsanwalt nach dem Entwurf González/De la Plaza nur ausgesprochen geringe Einwirkungsmöglich keiten auf das Ermittlungsverfahren haben sollte. Anders als nach den U. S.-ame rikanischen Vorbildern des Entwurfs, wo die Polizei selbständig ermittelt, den Staatsanwalt aber sehr häufig hinzuzieht, obliegen die Ermittlungen hier dem Rich ter des Hauptverfahrens, der zu ihrem Abschluss entscheidet, ob er das Verfahren einstellt oder die Ermittlungsakten dem Staatsanwalt zur Anklageerhebung zu kommen lässt. Die Verfasser erwogen auch, die Ermittlungen dem Staatsanwalt zu übertragen, lehnten dies aber ab, da sie mit Blick auf die Reformen in Kontinental europa befürchteten, damit die Schwächen des Inquisitionsprozesses zu überneh men. Tatsächlich ist es genau ihr Vertrauen in die Objektivität des Urteilsorgans, das Anknüpfungspunkte für die Fortsetzung der inquisitorischen Verfahrenspra xis bietet. Denn dadurch, dass der Richter, der auch für die Urteilsfindung zustän dig ist, selbst ermittelt, wird seine Unparteilichkeit beeinträchtigt. Hinzu kommt, dass ausdrückliche Bestimmungen zur Ausübung der Anklagefunktion durch die Staatsanwaltschaft fehlen, was die Befürchtung einer Aushöhlung des Anklage grundsatzes nahelegt. Es ist ausgesprochen interessant zu sehen, wie das adver satorische Konzept der lediglich vorbereitenden Parteiermittlungen315 vollstän dig über den Haufen geworfen wird, indem im Original polizeiliche Befugnisse schlicht dem Richter des Hauptverfahrens übertragen werden. Angesichts der für die damalige Zeit revolutionären Gesamtausrichtung des Entwurfs ist davon aus zugehen, dass es sich dabei um eine unglückliche Reaktion auf die von den Verfas sern angeführten Sachzwänge handelt und nicht um einen bewussten Versuch, die bisherige Verfahrensweise zu bewahren. Dennoch bleibt es dabei, dass sich hier bereits etwas manifestiert, was für die weitere Ausgestaltung der Staatsanwalt schaft in Argentinien und die spätere große Reformresistenz des argentinischen 314
In den Vereinigten Staaten von Amerika besteht das Verfahren bei leichteren Straftaten, sog. misdemeanors, in der Regel lediglich aus der sog. initial appearance vor dem Ermittlungs richter, mit der dem Beschuldigten der Anklagevorwurf bekannt gemacht wird, und einer we nige Minuten dauernden Hauptverhandlung, welche lediglich aus dem Geständnis des Ange klagten sowie dem Urteil besteht. Der Staatsanwalt, der häufig bei der initial appearance von einem Polizeibeamten vertreten wird, ist am ganzen Verfahren praktisch unbeteiligt. Vgl. dazu Neubauer, Criminal Justice System, S. 462 ff., 472 f. 315 Nicht unterschlagen werden darf, dass auch in den modernen angloamerikanischen Ver fahrensstrukturen die Ermittlungen aufgrund ihrer Verstaatlichung keineswegs mehr dem ur sprünglichen Gedanken zweier formlos und waffengleich ermittelnder Parteien entsprechen. Sie werden jedoch dadurch dem adversatorischen Verständnis angepasst, dass sie nicht als Teil des eigentlichen Strafverfahrens gelten und man versucht, die fehlende Waffengleichheit durch strenge Beweiserhebungs- und -verwertungsverbote auszugleichen. Siehe dazu schon oben 1. Kapitel, B. I., III. sowie weiter unten 4. Kapitel, A. III. 1.
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Inquisitionsprozesses316 ganz entscheidend ist, nämlich ein grundsätzliches Miss trauen gegenüber der Staatsanwaltschaft gepaart mit einem irrational überhöhten Vertrauen in die richterliche Objektivität.317 3. Zwischenverfahren
Nachdem der Staatsanwalt die Anklageschrift fertiggestellt hat, übergibt er diese mitsamt den Ermittlungsakten wieder dem zuständigen Bundesrichter, wel cher, wenn es sich um einen Geschworenenprozess handelt318, Anklageschrift und Ermittlungsakten an ein sog. jurado de acusación, eine Anklagejury, weiterlei tet, Art. 240 E González/De la Plaza. Die Aufgabe dieser Geschworenen besteht darin, die Anklage des Staatsanwalts noch einmal zu überprüfen und gegebenen falls eigene Nachforschungen anzustellen, um die Anklage dann entsprechend zu erweitern, einzuschränken oder gar fallenzulassen, Art. 267 ff. E González/De la Plaza. Die Anklagejury kann den Staatsanwalt um seine Meinung bitten, er ist je doch bei den Beratungen der Jury nicht zugegen, Art. 280 E González/De la Plaza. Formal obliegt also die eigentliche, das Hauptverfahren einleitende Anklage der Anklagejury, der Staatsanwalt unterbreitet lediglich einen Anklagevorschlag, an den die Geschworenen weder sachlich noch rechtlich gebunden sind. Nachdem die Jury die Anklage ausgefertigt hat, kann der Staatsanwalt nur noch beim Richter die Einstellung beantragen. Andere Möglichkeiten zur Klagerücknahme bestehen nicht, Art. 680, 681 E González/De la Plaza. Mit der Übergabe der Anklageschrift verliert der Staatsanwalt danach seine Dispositionsbefugnis über die Anklage. Die Entwicklung des Vorbilds dieser Vor schriften, der sog. Grand Jury in den U. S. A.319, zeigt aber, dass die Geschworenen in der Regel lediglich die Anklage des Staatsanwalts ausfertigen und kaum einmal substanzielle Änderungen vornehmen oder die Anklage gar fallenlassen.320 Auch die richterliche Zustimmung zu einer späteren Klagerücknahme ist regelmäßig reine Formsache.321 Die Jury wird mangels Kontakt zur Verteidigung kaum die 316
Zu den Gründen dafür, dass eine grundlegende Reform der inquisitorischen Verfahrens struktur insbesondere auf Bundesebene lange nicht gelang vgl. die Ausführungen weiter unten im 3. Kapitel, B. I. sowie im 4. Kapitel, A. I. 317 Vgl. dazu auch weiter unten 4. Kapitel, B. III. 1. sowie Fn. 787 mit der sehr treffenden Formulierung Supertis von der „Magie des Richterbegriffs“ in Argentinien. 318 Handelt es sich hingegen um einen Prozess ohne Geschworenenbeteiligung, fällt das ge samte Zwischenverfahren weg und der Prozess geht direkt in die Hauptverhandlung über, vgl. Art. 702 E González/De la Plaza. 319 Die Verfasser geben das „Gran Jurado“ in England und den U. S. A. ausdrücklich als Vor bild an, vgl. González/De la Plaza, Proyecto, S. 90 f. 320 Vgl. dazu LaFave/Israel/King, Criminal Procedure, S. 20; Neubauer, Criminal Justice System, S. 249. 321 Vgl. Weigend, in: Jescheck/Leibinger (Hrsg.), Anklagebehörde im ausl. Recht, S. 616 f., 621.
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3. Kap.: Die Entscheidung für den Inquisitionsprozess
Position des Anklägers in Zweifel ziehen und dem Richter fehlt anhand des weiten Ermessensspielraums der Staatsanwaltschaft schon ein ausreichender Prüfungs maßstab. Die umfassende Berücksichtigung von Zweckmäßigkeitsgesichtspunk ten ist der Stellung des Staatsanwalts als Partei im materiellen Sinne immanent und ein kontradiktorisches Verfahren vor der Anklagejury würde eine Vorweg nahme der Hauptverhandlung bedeuten. Insofern ergibt sich schon aus der adver satorischen Verfahrensstruktur, in die das Zwischenverfahren eingebettet ist, dass der Staatsanwalt praktisch weitgehende Einflussmöglichkeiten auf die Anklage behält. Zu bedenken ist allerdings, dass, wie schon anhand des Vorverfahrens ge sehen, im an den Inquisitionsprozess gewöhnten argentinischen Umfeld noch eine völlig andere Vorstellung von der Rollenverteilung zwischen Staatsanwalt und Gericht herrschte. Inwieweit sich dort bei Umsetzung des Entwurfs eine ähnliche Entwicklung vollzogen hätte, bleibt daher dahingestellt. Auffällig ist aus heutiger Sicht noch, dass die Absprachen zwischen Anklage und Verteidigung, die im modernen adversatorischen Verfahren den Regelfall der Verfahrenserledigung darstellen, im Entwurf González/De la Plaza keine Erwäh nung finden. Dies ist allerdings angesichts seines Entstehungszeitpunkts nicht ver wunderlich. Die Absprachen haben ihre gegenwärtige Bedeutung erst im Laufe der Zeit vor dem Hintergrund der immer komplexer werdenden Strafverfolgung erlangt. Für González und De la Plaza bestand noch kein Anlass, sich mit die sem Problem auseinanderzusetzen. Es kann allerdings bereits festgehalten werden, dass sich die Absprachen mit der von dem Entwurf vorgesehenen adversatorischen Form der Wahrheitsfindung dem Grundsatz nach durchaus vereinbaren lassen.322 4. Hauptverfahren
Die erste Aufgabe des Staatsanwalts in der Hauptverhandlung ist, soweit dies nicht durch einen Gerichtsschreiber erfolgt, die Verlesung der Anklageschrift, Art. 431 Nr. 1 E González/De la Plaza. An den Inhalt der Anklageschrift, deren Form in den Art. 302 ff. des Entwurfs genau vorgegeben ist, ist das Gericht wie in den Vereinigten Staaten von Amerika323 nicht nur in tatsächlicher, sondern auch in rechtlicher Hinsicht gebunden, es darf also nicht wegen einer schwereren als der angeklagten Tat verurteilen, Art. 492, 493 E González/De la Plaza. Anschließend präsentiert der Staatsanwalt zur Begründung der Anklage seine Belastungsbeweise, Art. 431 Nr. 2 E González/De la Plaza. Nach der folgenden Verteidigung des An geklagten erwidert der Staatsanwalt auf dessen Beweisführung und versucht sie zu widerlegen, insb. durch das Kreuzverhör der Zeugen der Verteidigung, Art. 431 Nr. 4 E González/De la Plaza. Dann folgt nach der Erwiderung des Angeklagten 322
Siehe dazu oben 1. Kapitel, B. II. Zu den Absprachen im modernen argentinischen Straf prozess vgl. unten 5. Kapitel, A. III. 1. f), B. III. 1. c). 323 Herrmann, in: Jung (Hrsg.), Strafprozess im Spiegel ausl. Verfahrensordnungen, S. 138 f.; Weigend, Absprachen, S. 38.
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das Abschlussplädoyer des Staatsanwalts, in dem er noch einmal die Gründe, wel che für eine Verurteilung des Angeklagten sprechen, zusammenfasst. Allerdings kann er auch mit der Verteidigung einen Verzicht auf Abschlussplädoyers verein baren, Art. 431 Nr. 5 E González/De la Plaza. Bei einem Schuldspruch der Jury kann der Staatsanwalt beim Berufsrichter noch einmal einen gesonderten Antrag zur Strafzumessung stellen und entsprechende Beweise präsentieren, jedoch nur, soweit der Richter dies nach freiem Ermessen zulässt, Art. 539, 540 E González/ De la Plaza. Kommt es im vereinfachten Verfahren nach den Art. 696 ff. des Entwurfs zu einer Hauptverhandlung, hat der Staatsanwalt grundsätzlich identische Aufgaben, Art. 711, 431 E González/De la Plaza. Über die Strafzumessung wird dann aber nicht debattiert, darüber entscheidet der Richter regelmäßig gemeinsam mit der Schuldfrage sofort im Anschluss an die Beweisaufnahme, Art. 696, 714, 715 E González/De la Plaza. Es zeigt sich, dass der Staatsanwalt im nach dem Entwurf González/De la Plaza vorgesehenen Hauptverfahren die Rolle des Gegenparts zum Angeklagten und seinem Verteidiger, also die eines einseitigen Anklägers einnimmt. Er führt die Anklage, bringt Belastungsbeweise ein und bemüht sich, das Verteidigungs vorbringen des Angeklagten zu entkräften. Dies entspricht seiner Aufgabe im ad versatorischen Modell der Wahrheitsfindung, wonach es den Parteien obliegt, ihre jeweilige Position zu beweisen und die des Gegners zu widerlegen, damit sich für den Richter aus ihrem Streit die Wahrheit herauskristallisiert. Zu bedenken ist al lerdings, dass ein solches Parteiverfahren seinem Ursprung nach auf den Streit zwischen zwei Privaten ausgelegt ist, die beide einseitig und auf gleicher Ebene ihre jeweiligen Individualinteressen vertreten, während nun mit dem Fiskal der Staat auf der Anklageseite steht. Zunächst ergibt sich daraus die Frage, inwieweit der Staatsanwalt als Vertreter des Staates nicht trotz seiner Rolle in der adversatorischen Hauptverhandlung an einen objektiven Entscheidungsmaßstab gebunden ist. In den Vereinigten Staaten von Amerika wird dieses Problem weitgehend zu Lasten der staatsanwaltlichen Objektivitätspflicht gelöst. Man erkennt dort an, dass der Staatsanwalt auf einen gerechten Verfahrensausgang hinzuwirken hat324, wie dieses Gebot praktisch um zusetzen ist, ist jedoch unklar.325 Es manifestiert sich nahezu ausschließlich in der, im Einzelnen umstrittenen Pflicht des Staatsanwalts, entlastendes Beweismaterial 324
So die höchstrichterliche Rechtsprechung, die Statuten des U. S.-amerikanischen Bundes und der Einzelstaaten als auch die Richtlinien der amerikanischen Anwaltsvereinigung, vgl. dazu Kerper, Criminal Justice System, S. 432 ff.; Cole, Criminal Justice, S. 259 f.; Neubauer, Criminal Justice System, S. 131. 325 LaFave/Israel/King, Criminal Procedure, S. 32: „Es gibt beträchtlichen Widerstand dage gen, die traditionelle Struktur zu ändern; dass die Aufgabe der Staatsanwaltschaft in einem ad versatorischen System die Schaffung von Gerechtigkeit ist, wird weitgehend anerkannt, aber erhebliche Unstimmigkeiten herrschen, wie entsprechende Beschränkungen der Staatsanwalt schaft aussehen sollen […].“ (Übers. des Verf.)
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3. Kap.: Die Entscheidung für den Inquisitionsprozess
offenzulegen, sog. duty to disclose.326 Die Einseitigkeit des staatlichen Anklägers wird also allenfalls im Sinne einer Pflicht zum „Fair Play“ beschränkt, nicht je doch beseitigt.327 Von einer der des Richters vergleichbaren Objektivität des Staats anwalts lässt sich daher in den Vereinigten Staaten nicht sprechen. Die Autoren des Entwurfs González/De la Plaza nehmen zur Frage der Objektivitätspflicht des Staatsanwalts weder im Gesetzestext selbst noch in den Motiven direkt Stellung. Anführen lässt sich einzig die Formulierung des genannten Art. 539 E González/ De la Plaza, wonach der Staatsanwalt in seinem Antrag zur Strafzumessung so wohl strafmildernde, als auch strafverschärfende Gesichtspunkte zu Gehör brin gen kann. Während er im Übrigen weitgehend einseitig agiert, tritt in dieser Re gelung wiederum seine Verpflichtung hervor, nicht um jeden Preis eine möglichst harte Bestrafung durchzusetzen, sondern zu einem gerechten Ausgang des Pro zesses beizutragen. Es ist zweifelhaft, ob die Verfasser des Entwurfs den poten tiellen Widerspruch zwischen der umfassenden Objektivitätspflicht des Staatsan walts und seiner Rolle in der adversatorischen Hauptverhandlung überhaupt als solchen erkannten. Wiederum spricht Einiges dafür, dass sich bei einer Umsetzung des Entwurfs angesichts der Tradition des Inquisitionsprozesses in Argentinien nicht die nordamerikanische Auslegung des Staatsanwalts als einseitiger Ankläger durchgesetzt hätte, sondern an seiner Objektivitätsverpflichtung festgehalten wor den wäre.328 Letztlich muss dies aber offen bleiben. Weiterhin ist zu beachten, dass der Fiskal als Staatsorgan hoheitlich tätig wer den kann und damit über ganz andere Ermittlungsinstrumente verfügt als der Be schuldigte. Die Wahrheitsfindung im Parteiverfahren setzt aber voraus, dass bei den Seiten gleichwertige prozessuale Möglichkeiten zur Verfügung stehen, um Beweise vorzubringen bzw. die des Gegners zu entkräften, sog. Waffengleich heit.329 Andernfalls ist die für die Urteilsfindung des Gerichts maßgebliche Be 326 Der Umfang dieser Pflicht ist von der U. S.-amerikanischen Rechtsprechung nur aus gesprochen schwammig umrissen worden, so dass für die dortige Staatsanwaltschaft erheb liche Unsicherheit bezüglich der Frage besteht, wann sie verpflichtet ist, Beweismittel offen zu legen, und wann nicht, siehe dazu LaFave/Israel/King, Criminal Procedure, S. 1098 ff. sowie Nissman/Hagen, Prosecution Function, S. 7. Dies führt dazu, dass der Staatsanwalt im Zwei fel davon ausgeht, dass er die fraglichen Informationen zurückhalten kann, bis ihm ein Gericht das Gegenteil beweist. Vgl. dazu die Beispiele bei Neubauer, Criminal Justice System, S. 290 sowie den Leitfaden der beiden Praktiker Nissman und Hagen: „Wenn das fragliche Beweis material beim Staatsanwalt den Wunsch weckt, diese Informationen zurückzuhalten, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass er damit richtig liegt.“ (Übers. des Verf.), Nissman/Hagen, Pro secution Function, S. 7 f. 327 Praktizierende amerikanische Staatsanwälte geben als Ziel an, den Fall zu „gewinnen“, vgl. Weigend, in: Jescheck/Leibinger (Hrsg.), Anklagebehörde im ausl. Recht, S. 595; Dengler, Kontrolle, S. 143, 164 ff. 328 Zu der Frage, ob eine solche Objektivitätspflicht dann die adversatorische Hauptverhand lung verfälscht hätte oder ob sie nicht doch damit vereinbar ist, siehe die ausführlichen Erörte rungen im 5. Kapitel, B. III. 3. 329 Vgl. dazu schon Mittermaier, Gesetzgebung, S. 285 f.; ders., Das englische, schottische und nordamerikanische Strafverfahren, S. 316 ff.
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weisgrundlage unvollständig bzw. verfälscht und es kann keine objektive Entschei dung ergehen. Gerade bei einem finanziell weniger gut gestellten Beschuldigten ergeben sich erhebliche Bedenken hinsichtlich der Gleichwertigkeit seiner Res sourcen mit denen des Staatsanwalts. Hinzu kommt, dass der Beschuldigte sich unter Umständen noch einem zweiten, privaten Ankläger gegenüber sieht, wenn dieser beschließt, gemeinsam mit dem Fiskal die Anklage zu führen, Art. 5 E Gon zález/De la Plaza. In den U. S. A. besteht die wichtigste Kompensation für das Un gleichgewicht zwischen Anklage und Verteidigung in der Bindung der staatlichen Seite an sehr strenge Regeln zur Beweiserhebung und -verwertung.330 Die Urheber des Entwurfs González/De la Plaza gehen auch auf dieses Problem nicht ausdrück lich ein, es finden sich in ihrem geplanten Gesetzestext jedoch einige Vorschriften, welche ebenfalls darauf abzielen, den Beschuldigten besser zu stellen, indem der Anklageseite gewisse Beschränkungen auferlegt werden. Von grundsätzlicher Be deutung ist die Verteilung der Beweislast, welche nach der Unschuldsvermutung der Ankläger trägt. Er muss in der Hauptverhandlung die Schuld des Angeklag ten über jeden vernünftigen Zweifel hinaus beweisen, Art. 434 E González/De la Plaza. Daneben sind verschiedene einzelne Beschränkungen der Beweisführungs möglichkeiten des Staatsanwalts vorgesehen. Hervorzuheben ist hier das zentrale Beweisverwertungsverbot bezüglich eines erzwungenen Geständnisses, Art. 441 E González/De la Plaza. Weiterhin ist das Zeugnis einer Person ausgeschlossen, die den Täter um einer versprochenen Belohnung willen angezeigt hat, Art. 439 E González/De la Plaza. Das Zeugnis eines Tatkomplizen ist zwar nicht ausge schlossen, reicht für sich aber nicht zu einer Verurteilung aus, Art. 445 E Gon zález/De la Plaza. Es ist dem Staatsanwalt zudem verboten, auf das Vorleben des Angeklagten einzugehen, Art. 431 Nr. 2, 444 E González/De la Plaza. Die Auto ren halten hierzu in ihren Motiven fest, dass dies in Frankreich üblich sei, aber le diglich dazu führe, dass sich das Gericht mehr mit der Person des Angeklagten als mit seiner Tat beschäftige. Sie hätten sich daher die strengeren Beweisregeln der U. S. A. und Englands zum Vorbild genommen.331 Die soeben aufgezählten Be weisverbote dürfen natürlich nicht am Maßstab der heutigen, ausdifferenzierten Beweislehre in den Vereinigten Staaten von Amerika gemessen werden, die das Er gebnis einer langen Rechtsprechungstradition ist. Zu bedenken ist aber, dass sich Letztere aus dem Anliegen heraus entwickelte, die in den U. S.A selbständig ar beitenden Ermittlungsbehörden zu disziplinieren, während im vorliegenden Ent wurf der Richter des Hauptverfahren objektiv Be- und Entlastungsbeweise zusam mentragen soll. Da die Unparteilichkeit des Richters vorausgesetzt wird, passt das Konzept, durch Beweisregeln im Nachhinein Waffengleichheit zwischen dem er mittelnden Ankläger und dem Beschuldigten herstellen zu wollen, hier überhaupt 330
Siehe dazu schon oben 1. Kapitel, B. I. sowie die umfangreiche Darstellung bei LaFave/ Israel/King, Criminal Procedure, S. 489 ff. Das Verwertungsverbot erstreckt sich dabei nicht nur auf den rechtswidrig erlangten Beweis selbst, sondern auch auf alle dadurch mittelbar in einer Beweiskette erlangten Beweise, sog. fruit-of-the-poisonous-tree-doctrine, vgl. LaFave/ Israel/King, Criminal Procedure, S. 502 ff. 331 González/De la Plaza, Proyecto, S. 128 f.
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3. Kap.: Die Entscheidung für den Inquisitionsprozess
nicht. Soll der Richter die Interessen des Beschuldigten schon mitberücksichtigen, besteht vermeintlich kein Anlass dafür, dem Angeklagten noch einen besonderen Schutz angedeihen zu lassen. Es zeigt sich hier die Gefahr, dass die inquisitorische Ausgestaltung des Vorverfahrens auf die adversatorische Hauptverhandlung fort wirkt, indem sie den Gedanken der Waffengleichheit zwischen Anklage und Ver teidigung unterwandert. Insgesamt lässt sich aber nicht bestreiten, dass das Hauptverfahren nach dem Entwurf González/De la Plaza eine klare Abwendung von dem bis dato geltenden spanischen Kolonialrecht bedeutete. An die Stelle des vollständig vom Richter do minierten schriftlichen Verfahrens tritt die Beweiserhebung durch die Parteien in einer öffentlichen und mündlichen Hauptverhandlung nach angloamerikanischem Muster.332 Wie im U. S.-amerikanischen Strafverfahrensrecht agiert der Staatsan walt als staatlicher Ankläger in einem Parteiverfahren, woraus die systemimma nenten Probleme hinsichtlich seiner Objektivitätspflicht und der Waffengleich heit mit der Verteidigung resultieren. Da der Entwurf nie in Kraft getreten ist und die zeitgenössische Diskussion sich bedauerlicherweise im Wesentlichen auf die Frage der Geschworenenbeteiligung reduzierte, lässt sich nicht beurteilen, ob den strukturellen Schwachstellen gleichermaßen im Geiste des adversatorischen Ver fahrens begegnet worden wäre wie in den Vereinigten Staaten. Die erheblichen Unterschiede zwischen den U. S. A. und dem damaligen Argentinien, wo die kul turellen Fundamente des Inquisitionsprozesses noch tief im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert waren333, sprechen allerdings dafür, dass es zu einer ab weichenden, unter Umständen das nordamerikanische Vorbild verfälschenden Ent wicklung gekommen wäre, wie sie sich im Vorverfahren bereits anhand des Ent wurfstextes herausarbeiten ließ. Grundsätzlich kann dennoch festgestellt werden, dass die Übertragung der Beweiserhebung vom Richter auf Staatsanwalt und Ver teidigung einen enormen Forschritt für die Wahrung der Beschuldigtenrechte be deutet hätte. Der Beschuldigte ist danach nämlich per se nicht mehr bloßes Objekt der staatlichen Untersuchung, sondern agiert als Prozesssubjekt auf einer Ebene mit dem staatlichen Ankläger.
332 Die Verfasser erklären ausdrücklich, das Hauptverfahren nach angloamerikanischem Vor bild gestaltet zu haben, vgl. González/De la Plaza, Proyecto, S. 128, 132 f. 333 Während die U. S. A. als ehemalige englische Kolonie von jeher eher liberal und pro testantisch geprägt waren, herrschte in Argentinien nach wie vor die konservativ-katholische Ideologie des früheren Heimatlandes Spanien vor. Daraus resultierte auch eine weit demo kratiefreundlichere Gesellschaftsstruktur zumindest im Norden der Vereinigten Staaten. Siehe zum Ganzen Navarro García, in: ders. (Hrsg.), Historia de las Américas Bd. 4, S. 1 ff.; Hernández Sánchez-Barba, Historia Universal de America Bd. 2, S. 411 ff.
A. Das U. S.-amerikanische Modell
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5. Rechtsmittel
Die Entscheidung des Geschworenengerichts ist für den Staatsanwalt nur sehr eingeschränkt angreifbar, nämlich mittels eines Antrags auf Neuverhandlung des Tatvorwurfs, Art. 503 ff. E González/De la Plaza. Der Staatsanwalt kann genau wie der Privatkläger nur gegen einen Freispruch vorgehen, worin sich wiede rum deutlich seine Stellung als einseitige Partei manifestiert. Er muss einen der vier in Art. 505 E González/De la Plaza genannten Gründe darlegen, die sich auf grob rechtswidrig erlangte entlastende Beweismittel und eine rechtswidrige Zusammenstellung des Geschworenengerichts beschränken. Er kann den Antrag auf Neuverhandlung nur schriftlich und mit dessen Erlaubnis beim Richter stel len, bevor dieser sein Urteil fällt, Art. 507 E González/De la Plaza. Anschlie ßend muss der Staatsanwalt in öffentlicher Verhandlung Beweise für den von ihm dargelegten Antragsgrund präsentieren. Gibt der Richter dem Antrag statt, kommt es zu einer Neuverhandlung vor demselben Richter mit neuen Geschwo renen, wobei nicht auf die vorherige Tatsachenentscheidung Bezug genommen werden darf, Art. 503, 511 E González/De la Plaza. Für die Rolle des Staats anwalts in der Neuverhandlung gilt das bereits zur normalen Hauptverhandlung Gesagte. Gegen das Urteil des Berufsrichters zur Strafzumessung steht dem Staatsanwalt die apelación zur Verfügung, welche nur unter Berufung auf zwei abschließend aufgezählte Gründe möglich ist. Sie kann eingelegt werden gegen ein Urteil zu Gunsten eines Beschuldigten, der sich geweigert hat, zu der Anklage Stellung zu nehmen, und zum anderen gegen einen Beschluss, die Urteilsfällung wegen eines Defekts der Anklage aufzuschieben, Art. 564 E González/De la Plaza. Der Staats anwalt muss die apelación innerhalb von sechs Monaten nach der angegriffenen Entscheidung schriftlich beim erstinstanzlichen Richter einreichen, Art. 566, 567 E González/De la Plaza. Die Wirkung eines Urteils zu Gunsten des Angeklagten wird dadurch nicht berührt, Art. 571 E González/De la Plaza. Die apelación wird in mündlicher Verhandlung durch den Obersten Gerichtshof verhandelt, Art. 561, 577 E González/De la Plaza. Für die Staatsanwaltschaft wird daher der General staatsanwalt, der sog. procurador general, tätig, Art. 575, 576 E González/De la Plaza. Er legt, soweit die Staatsanwaltschaft die erstinstanzliche Entscheidung an gegriffen hat, die Gründe dafür dar, sonst die Gründe, die gegen die apelación des Verurteilten sprechen, Art. 561, 577 E González/De la Plaza. Im vereinfachten Verfahren wegen leichter Delikte muss der Staatsanwalt die apelación dagegen schon innerhalb von zehn Tagen einreichen, Art. 726 E Gon zález/De la Plaza. Er ist dabei nicht auf die oben genannten Fälle beschränkt, sondern kann jede fehlerhafte Rechtsanwendung und Verletzung von Prozess vorschriften rügen, Art. 725 E González/De la Plaza. Je nach Provinz erfolgt die öffentliche und mündliche Verhandlung dann vor dem Obersten Gerichtshof oder vor einem von dem erstinstanzlichen Richter verschiedenen Bundesrichter, Art. 723, 737 E González/De la Plaza.
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3. Kap.: Die Entscheidung für den Inquisitionsprozess
Nach dem dargelegten System legt der Staatsanwalt also nur Rechtsmittel zu Lasten des Angeklagten bzw. Freigesprochenen ein. Seine Möglichkeiten, eine Entscheidung des Gerichts anzugreifen, sind zudem insgesamt sehr eng begrenzt. Die nach dem Entwurf González/De la Plaza vorgesehenen Rechtsmittelbefug nisse des Staatsanwalts zeugen klar von einer deutlichen Abgrenzung zu der bis herigen Strafverfahrensideologie. Die Verfasser selbst bemerken dazu in den Moti ven zum Entwurf, dass ihre Regelung einen Bruch mit der bisherigen Rechtspraxis in Lateinamerika darstelle.334 Dienten die Rechtsmittel im damals in Argenti nien angewandten Inquisitionsprozess der innerstaatlichen Überwachung der Ge richte335, sollten sie nach dem Willen des vorliegenden Entwurfs eine ganz andere Bedeutung als Schutzmechanismen des einzelnen Bürgers annehmen, welche ihn vor einer ungerechtfertigten Verurteilung durch den Staat bewahren. Hier wird das dem Parteiverfahren zugrundeliegende Staatsverständnis eines zurückhaltenden Staates deutlich, der nur eingreift, wenn es aufgrund des öffentlichen Interesses unumgänglich ist. Das Volk als Souverän entscheidet selber in Form des Geschwo renengerichts, dessen Urteil als Ausdruck eben dieser Volkssouveränität ein beson derer Wert zugebilligt wird. Folgerichtig ist die Entscheidung dieser ersten Instanz allgemein auch nur in sehr beschränktem Maße angreifbar.336 Kann der Staatsan walt vor dem Geschworenengericht den staatlichen Strafanspruch nicht durch setzen, hat sich dieser erledigt, im Folgenden schützt das weit ausgelegte Verbot einer erneuten Strafverfolgung, ne bis in idem bzw. double jeopardy, den Beschul digten.337 Eine Korrektur des erstinstanzlichen Urteils kommt grundsätzlich nur noch zu Gunsten des Beschuldigten in Betracht, d. h. um ihn vor einer ungerecht fertigten Strafe zu bewahren. Nur in Ausnahmefällen ist es denkbar, dass auch der Staat noch einmal eine Urteilsüberprüfung verlangen kann, etwa wenn schwerste, unbehebbare Verfahrensmängel wie eine falsche Juryzusammenstellung vorliegen, oder aber lediglich eigene Erwägungen des Berufsrichters, nicht aber der Inhalt des Geschworenenurteils angegriffen werden. Auf dieses Konzept nehmen Gon zález und De la Plaza in den Motiven zum Entwurf ausdrücklich Bezug. Im Falle eines Freispruchs sei das Interesse für eine Korrektur des Urteils nicht in gleichem Maße gegeben wie bei einer Verurteilung, da der Freispruch lediglich die Gefahr berge, einen Schuldigen straflos zu lassen, nicht aber das Risiko, einen Unschuldi gen zu verurteilen. Zudem sei der Freispruch durch den Berufsrichter notwendige Folge einer Tatsachenentscheidung der Geschworenen zu Gunsten des Angeklag ten. Lasse man das Rechtsmittelgericht den Freispruch überprüfen, komme es dann zu einer zweiten Tatsachenverhandlung, die aber gerade den Geschworenen vorbehalten sei.338 334
González/De la Plaza, Proyecto, S. 154. Siehe dazu oben 2. Kapitel, A. III. 4. 336 Vgl. Damaška, ZStW 87 (1975), S. 713 ff. (724). 337 Ausführlich dazu Piñol Sala, Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 14 (2002), S. 289 ff. Siehe auch Díaz Cantón, Nueva Doctrina Penal 2001-A, S. 145 ff. (149 ff.) und Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 715. 338 González/De la Plaza, Proyecto, S. 154 f. 335
A. Das U. S.-amerikanische Modell
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III. Zusammenfassung und Fazit
Die Stellung des Staatsanwalts ist im Entwurf González/De la Plaza im Grund satz entsprechend dem U. S.-amerikanischen Vorbild als die eines Anklägers im materiellen Sinne ausgestaltet. Durch eine den Ankläger auf den ersten Blick gar nicht betreffende Abweichung, nämlich die Übertragung der Ermittlungslei tung von einem Polizeibeamten auf den Richter des Hauptverfahrens, wird jedoch die Rollenverteilung zwischen Staatsanwalt und Richter ganz erheblich in Rich tung des Inquisitionsprozesses verschoben. Angesichts dieser Änderung und der im spanischen Kolonialrecht wurzelnden argentinischen Rechtstradition spricht viel dafür, dass die dem verstaatlichten adversatorischen Verfahren immanenten Probleme der staatsanwaltlichen Objektivitätspflicht sowie der Waffengleichheit mit der Verteidigung bei einer Umsetzung des Entwurfs nicht zu Gunsten der Parteistellung des Staatsanwalts gelöst worden wären, sondern seine Eigenschaft als Staatsorgan betont worden wäre, was eine weitere Verfälschung der nord amerikanischen Vorlage in Richtung des Inquisitionsprozesses bedeutet hätte. Hier zeigen sich erste Ansätze des später noch ausführlich zu betrachtenden Phänomens einer Assimilierung von neu in den argentinischen Strafprozess integrierten Ele menten an das inquisitorische Verständnis des Verfahrens als hoheitlicher, richter licher Untersuchung. Auch wenn man berücksichtigt, dass mit dem Entwurf González/De la Plaza kein rein adversatorisches Verfahren entstanden wäre und angesichts der Unter schiede zu den Vereinigten Staaten von Amerika im argentinischen Umfeld wohl auch gar nicht hätte entstehen können, bleibt dennoch festzuhalten, dass die dort vorgesehene Rolle der Staatsanwaltschaft in rechtsstaatlicher Hinsicht, d. h. ins besondere in Bezug auf die Wahrung der Beschuldigtenrechte, einen revolutionä ren Fortschritt gegenüber der bisherigen Praxis in Argentinien dargestellt hätte. Bis dato war der Fiskal vollständig vom Richter abhängig und beschränkte sich auf dessen Unterstützung. Der Angeklagte sah sich dadurch allein dem inqui rierenden Richter gegenüber, auf dessen Wohlwollen er angewiesen war. Nach dem geplanten System sollte der Staatsanwalt dagegen ein vollwertiger, vom Ge richt unabhängiger Ankläger sein, dem die Anklageerhebung als auch die belas tende Beweisführung in der Hauptverhandlung übertragen ist. Damit einher geht, dass der Beschuldigte die Möglichkeit erhält, sich in gleicher Weise aktiv gegen die Anschuldigungen des Staatsanwalts zu verteidigen. Die klare Unterscheidung der prozessualen Stellung von Anklage- und Urteilsorgan hätte also eine funda mentale Umwälzung der Machtstrukturen im Strafprozess zu Gunsten des Be schuldigten bedeutet, der dann nicht mehr bloßes Objekt der richterlichen Unter suchung gewesen wäre, sondern ein Prozesssubjekt mit umfangreichen eigenen Rechten.
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3. Kap.: Die Entscheidung für den Inquisitionsprozess
B. Das spanische Modell: Die Bundesstrafverfahrensordnung von 1889 Da der aus dem Entwurf Obarrio hervorgegangene, am 1.1.1889 in Kraft ge tretene Código de Procedimientos en lo Criminal (CPPN 1889)339 über ein Jahrhun dert lang das argentinische Strafverfahren und damit auch die Rolle der argentini schen Staatsanwaltschaft bestimmte, bedarf er einer ausführlicheren Betrachtung. I. Entstehungsgeschichte und Grundzüge der Bundesstrafverfahrensordnung von 1889
Mit dem Übergang der Präsidentschaft von Avellaneda auf seinen vorherigen Kriegsminister General Julio Argentino Roca340 im Jahre 1880 begann eine bis 1916 andauernde Schlüsselperiode der argentinischen Geschichte, welche in vie lerlei Hinsicht die Weichen für die weitere Entwicklung des argentinischen Staa tes stellte.341 Politisch geprägt wurde dieser Zeitabschnitt von einer kleinen Gruppe von Oligarchen aus der Oberschicht, die sich nach dem Ende der internen Kon flikte zwischen Unitariern und Föderalisten in der aus einem Zusammenschluss aller Provinzgouverneure hervorgegangenen Einheitspartei PAN (Partido Auto nomista Nacional) organisierten. Seinen Machterhalt innerhalb des theoretisch de mokratischen Systems sicherte sich dieser kleine Zirkel durch die Beherrschung des Militärs sowie durch ein umfassendes System von Wahlbetrug342, welches dazu führte, dass die Bundesregierung sowie alle Provinzregierungen mit Vertretern der PAN besetzt waren. Einerseits also ausgesprochen autoritär und auf eine Bewah rung ihrer dominierenden Stellung ausgerichtet, verfolgten die Machthaber ande 339 Die Strafverfahrensordnungen des Bundes werden hier der Übersichtlichkeit halber mit Código Procesal Penal de la Nación und der (Jahreszahl) ihres Inkrafttretens abgekürzt, wäh rend die Strafverfahrensordnungen einer Provinz dann mit Código Procesal Penal, Name der Provinz (Jahreszahl) ihres Inkrafttretens bezeichnet werden. Die Artikel des Proyecto Obarrio/CPPN (1889) sind, soweit nichts anderes angegeben ist, in der Ursprungsversion des 1888 sanktionierten Gesetzes zitiert, wie sie in Anales de Legislación Argentina 1881–1888 (1955) auf S. 441 ff. nachzulesen sind. 340 Der aus einer Großgrundbesitzerdynastie in der Provinz Tucumán stammende Roca ist heute eine der umstrittensten Persönlichkeiten der argentinischen Geschichte. Sein zeitgenös sischer militärischer Ruhm stützte sich vor allem auf den von ihm als Kriegsminister im Jahre 1879 persönlich geleiteten „Wüstenfeldzug“ (Campaña del Desierto) gegen die Ureinwohner Patagoniens, der heute jedoch teilweise als Genozid angesehen wird. Auf der anderen Seite ste hen unbestreitbare Verdienste wie die Durchsetzung der Trennung von Kirche und Staat so wie die Einführung der Schulpflicht. Eine kurze Zusammenfassung seiner Biografie sowie der Kernpunkte seiner Präsidentschaft findet sich bei Floria/García Belsunce, Historia Bd. 2, S. 185 ff. 341 Siehe dazu Romero, Breve Historia, S. 138 ff.; Eggers-Brass, Historia Argentinia, S. 373 ff.; Zaida Lobato, in: ders. (Hrsg.), Nueva Historia Argentina Bd. 5, S. 179 ff. 342 Vgl. dazu Zaida Lobato, in: ders. (Hrsg.), Nueva Historia Argentina Bd. 5, S. 199 ff. mit einem interessanten zeitgenössischen Bericht.
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rerseits aber eine an zeitgenössischen europäischen Ideen orientierte, sehr liberale Wirtschaftspolitik, welche auf dem Glauben an ein positives Wirken der Kräfte der freien Marktwirtschaft basierte. Um Kapital und Arbeitskräfte anzuziehen und damit die wirtschaftliche Produktivität Argentiniens zu steigern, öffnete man das Land für ausländische Investoren und stimulierte in erheblichem Maße die Einwan derung. Letzteres führte zu einer Veränderung der argentinischen Gesellschafts struktur, welche schließlich die Herrschaft der alten Oberschicht untergrub. Es entstanden eine neue Mittelschicht sowie eine Arbeiterschaft, deren politische Ver tretungen ein Recht auf Mitbestimmung forderten. Letztlich musste das konser vative Regime nachgeben, und im Jahre 1912 wurde ein nach dem damaligen Präsidenten Sáenz Peña benanntes Gesetz erlassen, welches das allgemeine und geheime Wahlrecht festschrieb. Seine erste Anwendung bei den Präsidentschafts wahlen im Jahre 1916 bedeute den Sieg Yrigoyens, des Kandidaten der aus der Mit telschicht hervorgegangenen Partei Unión Civica Radical (UCR), und damit ein Ende der oligarchischen Herrschaft unter dem Mantel einer Scheindemokratie. Vor diesem historischen Hintergrund, d. h. der Konzentration der staatlichen Macht in einem kleinen Kreis der alten argentinischen Elite der Großgrundbesit zer, welche sich jedoch bald durch aufkommende gesellschaftliche Veränderungen bedroht fand, ist die Entstehung der argentinischen Bundesstrafverfahrensordnung des Jahres 1889 zu sehen. Am 6. März 1882 beauftragten Präsident Roca sowie sein Justizminister Wilde per Dekret Manuel Obarrio und Emilio Coni mit der Er stellung eines Entwurfs für ein Gesetz zur Regelung des Strafverfahrens des Bun des. Da Coni absagte, verblieb Obarrio, ein prominenter Strafrechtsexperte und Professor an der Universität Buenos Aires, als einziger Verfasser. Obarrio schloss daraus, dass der Kongress den Entwurf González/De la Plaza nie in Erwägung ge zogen hatte und stattdessen er mit der Neufassung einer Bundesstrafverfahrens ordnung betraut worden war, dass das in vorgenanntem Entwurf ausgearbeitete Verfahren vor Geschworenengerichten politisch nicht mehr gewünscht war.343 Er orientierte sich bei seiner Arbeit eng am Strafprozessrecht des Mutterlandes Spa nien, wo nach dem Scheitern eines 1872 eingeführten Geschworenenverfahrens erneut ein dem traditionellen, schriftlichen und geheimen Inquisitionsprozess ver haftetes Verfahren angewandt wurde. Der Rückgriff auf diese Vorlage ermöglichte es ihm, die Arbeit innerhalb weniger Monate abzuschließen und schon am 15. Juli 1882 seinen fertigen Entwurf samt einer ausführlichen Erläuterung der Motive vorzulegen. Die im gleichen Jahr erfolgte grundlegende Erneuerung des spani schen Strafverfahrensrechts berücksichtigte Obarrio nicht mehr.344 Der Entwurf Obarrios wurde zunächst zu seiner Überprüfung an eine Sonderkommission und 343 So Obarrio ausdrücklich in den Motiven zu seinem Entwurf. Vgl. dazu sein Proyecto de Código de Procedimientos en Materia Penal, S. IX ff., XV. 344 Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 196 f.; Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 405 ff. Obarrio selbst spricht nur davon, dass er die derzeit modernsten Verfahrens ordnungen zum Vorbild genommen habe, vgl. Chichizola (Hrsg.), Código de Procedimientos en Materia Penal, S. 12, eine Aussage, die sich kaum halten lässt.
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schließlich an den Gesetzgebungsausschuss des Abgeordnetenhauses weitergelei tet. Erst eine Reihe von Jahren später, am 19. August 1888, legte der Ausschuss seinen Abschlussbericht vor. Die Mitglieder des Ausschusses sprachen sich darin grundsätzlich für eine Umsetzung von Obarrios Entwurf aus und überarbeiteten ihn lediglich in einigen wenigen Punkten. Die meisten der vorgenommenen Ände rungen waren rein formaler Natur, es fanden sich nur wenige inhaltliche Modifika tionen. Letztere dienten allerdings keineswegs der Anpassung an das mittlerweile einige Jahre alte spanische Verfahrensgesetz von 1882, sondern nahmen ganz im Gegenteil sogar Reformen Obarrios zurück. So wurde die Möglichkeit, die Todes strafe zu verhängen, ausgeweitet, da man die von Obarrio vorgesehene Regelung, wonach die Todesstrafe in letzter Instanz nur als Bestätigung des erstinstanzlichen Urteils und einstimmig verhängt werden durfte, als „übertrieben abolitionistisch“ ansah.345 Die aber wohl wichtigste Änderung betraf den Vorschlag Obarrios, dem Verteidiger Einblick in das Ermittlungsverfahren zu gewähren, um sicherzustel len, dass die Ermittlungen gesetzeskonform durchgeführt werden. Der Ausschuss erklärt dazu, er habe sich nach langwieriger Beratung über diese schwerwiegende Änderung der bisherigen Praxis gegen so viel Liberalität entschieden und statt dessen den Mittelweg zwischen Verteidigungs- und Strafverfolgungsinteresse ge wählt, indem der Verteidiger zwar Ermittlungsanträge stellen dürfe, die Geheim haltung aber auch ihm gegenüber gewahrt bleibe.346 Nach dem zustimmenden Votum des Gesetzgebungsausschusses standen dem Entwurf Obarrios im weiteren Verfahren keine Hindernisse mehr im Weg. Er wurde in der vom Gesetzgebungsausschuss vorgeschlagenen Form zügig vom Kongress verabschiedet und trat am 1. Januar 1889 als Código de Procedimientos en Materia Penal para el Fuero Federal y Tribunales Ordinarios de la Capital y de los Territorios Nacionales in Kraft. Das so auf Bundesebene etablierte Straf verfahren verlief in seinen Grundzügen wie folgt: Das Ermittlungsverfahren, vom Gesetz sumario genannt347, konnte durch eine Anzeige oder Anklage eines Privaten oder des Staatsanwalts, zur Beweissicherung durch die Polizei, aber auch von Amts wegen durch den Richter selbst eingeleitet werden, Art. 179 CPPN (1889). Beherrscht wurde es vom Untersuchungsrichter, der an den Bundesgerichten in den Provinzen mit dem Richter des Hauptverfah 345 Informe de la Comisión de Codigos, in: Chichizola (Hrsg.), Código de Procedimientos en Materia Penal, S. 38 (Übers. d. Verf.). 346 Ebd., S. 38 f. (Übers. d. Verf.); Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 377, Fn. 7, fragt sich zurecht, worin bei dieser Lösung der „Mittelweg“ bestehe. Er meint, dass sich der Ausschuss des Abgeordnetenhauses wahrscheinlich besser in den alten spanischen Geset zen zum Inquisitionsprozess, den Siete Partidas und der Nueva Recopilación, ausgekannt habe als mit der neuen spanischen Gesetzgebung von 1882. 347 Diese Bezeichnung entspricht dem bis dahin im Inquisitionsverfahren üblichen Sprach gebrauch, wo von der información sumaria die Rede war, vgl. oben 2. Kapitel, A. III. 2. Tat sächlich lag hier wie dort auch nach wie vor der Verfahrensschwerpunkt auf der Vorunter suchung; demgegenüber hieß das Vorverfahren im Entwurf González/De la Plaza, wo es nur vorbereitenden Charakter besitzen sollte, información preparatoria.
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rens identisch war, Art. 195 CPPN (1889). In der eigenen Jurisdiktion der Haupt stadt Buenos Aires waren die Richter in Vor- und Hauptverfahren dagegen per sonenverschieden, Art. 32 CPPN (1889).348 Die Ermittlungen wurden schriftlich und geheim durchgeführt. Auch dem Beschuldigten und seinem Verteidiger wurde keinerlei Einblick in die Nachforschungen gewährt, sie konnten lediglich Ermitt lungsanträge stellen, Art. 180 CPPN (1889).349 Dem Untersuchungsrichter standen eine ganze Reihe von Zwangsmaßnahmen gegenüber dem Beschuldigten zur Ver fügung, bspw. die Konfiszierung seiner Post oder die Durchsuchung seiner Woh nung350, er durfte jedoch keine Suggestivfragen stellen oder gar den Beschuldigten foltern, um ein Geständnis zu erlangen, Art. 242 CPPN (1889). Besondere Bedeu tung hatte die Möglichkeit, den Beschuldigten bei ausreichendem Tatverdacht in Untersuchungshaft zu nehmen, Art. 366 CPPN (1889), wovon in der Praxis regel mäßig Gebrauch gemacht wurde.351 Stellte der Untersuchungsrichter das Ermitt lungsverfahren nicht zuvor mangels Tatverdacht nach den Art. 432 ff. CPPN (1889) ein, schloss er es dann förmlich ab, wenn er ausreichende Beweise für die Tatbege hung durch den Beschuldigten gesammelt hatte, Art. 429 CPPN (1889). Anschlie ßend leitete er, oder bei Personenverschiedenheit der Richter des Hauptverfahrens, die Ermittlungsakten an den Fiskal weiter, damit dieser eine Anklageschrift formu lieren konnte, Art. 457 CPPN (1889). Daneben konnten auch der Geschädigte oder seine Vertreter als Privatkläger auftreten, Art. 14, 170 CPPN (1889). Die Anklageerhebung des Staatsanwalts markierte den Beginn des plenario ge nannten Hauptverfahrens352, Art. 463 CPPN (1889). Das gesamte Hauptverfahren 348 Zur Struktur der Bundesgerichtsbarkeit, die nicht nur auf bundeseigenem Territorium, sondern auch in den Provinzen existiert, siehe sogleich, 3. Kapitel, B. II. 1. Der Grundsatz, dass Richter des Vor- und Hauptverfahrens an allen Bundesgerichten außer denen in der Haupt stadt Buenos Aires identisch sind, wurde nicht erst nachträglich eingefügt, sondern findet sich schon im Originalentwurf als Art. 279, obwohl Obarrio selbst in den Motiven schreibt, dass der Vorteil einer personellen Trennung dieser Funktionen angesichts der Gefahr einer Beeinträch tigung der Unparteilichkeit über jeden Zweifel erhaben sei, vgl. ders., Proyecto de Código de Procedimientos en Materia Penal, S. XXI f.; Er begründet die gegenteilige Regelung mit dem zu hohen Aufwand für die wenigen Fälle, die der Bundesgesetzgebung in den Provinzen unter fielen, ebd., S. XXII (Übers. d. Verf.). 349 Diese Vorschrift wurde später dahingehend reformiert, dass die Geheimhaltung zunächst nur für die ersten zehn Tage der Untersuchung galt, vgl. die Fassung des Art. 180 in: Chichi zola (Hrsg.), Código de Procedimientos en Materia Penal, S. 77 aus dem Jahre 1987. Allerdings konnte der Richter die Geheimhaltung immer wieder um den gleichen Zeitraum verlängern, wenn er es für notwendig erachtete. Dadurch blieb die Reform letztlich völlig wirkungslos, vgl. Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 377. 350 Eine kurze Zusammenfassung der Möglichkeiten des Ermittlungsrichters findet sich bei Jofré, Manual Bd. 2, S. 82 f. 351 Nur in Ausnahmefällen wurde der Beschuldigte gemäß den Art. 376 ff. gegen eine Kautions zahlung in Freiheit belassen, vgl. Woischnik, Untersuchungsrichter, S. 42 m. w. N. in Fn. 110. 352 Das plenario verdiente, wie im Folgenden zu sehen sein wird, aufgrund seiner verschwin dend geringen Bedeutung gegenüber der Ermittlungsphase keinesfalls die Bezeichnung als „Haupt“-Verfahren, soll aber im Folgenden zum Zwecke einer besseren Vergleichbarkeit mit den anderen dargestellten Verfahrensordnungen dennoch so bezeichnet werden.
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wurde schriftlich abgewickelt353 und hatte kaum eigenständige Bedeutung, da die im Untersuchungsverfahren gesammelten Beweise nicht neu in das Verfahren ein gebracht werden mussten, sondern direkt zur Urteilsfindung herangezogen wer den konnten, Art. 197, 284 CPPN (1889). Die Bedeutung der Beweisaufnahme im Hauptverfahren reduzierte sich also auf die Ausnahmefälle, in denen im Vor verfahren übersehene oder erst danach aufgetauchte Beweise vorzulegen waren.354 Daher bestand das Hauptverfahren in der Praxis regelmäßig auch nur aus den An trägen von Ankläger und Verteidigung.355 Zum Abschluss sprach der Richter sein Urteil, in dem er sowohl die nach seiner Überzeugung bewiesenen Tatsachen als auch deren rechtliche Bewertung angeben musste, Art. 495 CPPN (1889). Die richterlichen Entscheidungen konnten durch eine Reihe von Rechtsmitteln angegriffen werden. Das wichtigste Rechtsmittel war die Berufung, apelación, die der Beschwerte gegen alle andernfalls nicht mehr revidierbare Zwischenentscheide sowie gegen Endurteile einlegen konnte, Art. 501 CPPN (1889).356 Das Verfahren vor der Berufungsinstanz verlief unterschiedlich, je nachdem, ob eine Berufung libremente oder en relación zugelassen wurde. In ersterem Fall kam es zu einer ausführlichen Berufungsverhandlung mit Austausch von Schriftsätzen und even tuell auch einer Beweisaufnahme, Art. 518 ff. CPPN (1889). Hatte der Beschwerte jedoch nur eine Berufung en relación357 beantragt oder war, wie bspw. bei vielen Zwischenentscheidungen, nur diese Form der Berufung zulässig, kam es zu einem stark abgekürzten Verfahren, das lediglich aus der Antragstellung der Prozesspar teien und der Entscheidung durch das Gericht bestand, Art. 538 CPPN (1889).358 353 Die Vorschrift des Art. 479 CPPN (1889), wonach die Hauptverhandlung öffentlich statt finden sollte, blieb auf diese Weise Makulatur, da es schon an einer konzentrierten münd lichen Verhandlung fehlte, an der eine interessierte Öffentlichkeit hätte teilnehmen können, vgl. Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 411. 354 So zustimmend Sobral in seinen Estudios Prácticos von 1898 auf S. 280, der meint, dass, soweit das Vorverfahren korrekt abgelaufen sei, eine erneute Beweisführung bezüglich schon erwiesener Tatsachen lediglich unnütze Arbeit und eine Verzögerung des Verfahrensablaufs be deute. Ebd. auf S. 272 f. stellt Sobral in für das damalige Prozessverständnis sehr aufschluss reichen Ausführungen noch einmal ausdrücklich fest, dass die Hauptverhandlung kaum Bedeu tung habe, da die Tat schon im Vorverfahren aufgeklärt worden sei. Auf eine Kontrollfunktion der Hauptverhandlung zugunsten des Beschuldigten geht er nicht ein. 355 Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 379. 356 Sie hemmte nach Art. 504 f. CPPN (1889) den Vollzug der angegriffenen Entscheidungen allerdings nur bei Endurteilen und nicht bei Zwischenentscheidungen, vgl. auch Malagarriga/ Sasso, Procedimientos Bd. 2, S. 138 ff. 357 Dieser Begriff hat seinen Ursprung im Kolonialrecht, wo sog. relatores existierten, die ihren Vorgesetzen eine Zusammenfassung der Prozessakten gaben, vgl. Jofré, Manual Bd. 3, S. 344 f. 358 Weitere Rechtsmittel waren die reposición, mit der ohne Devolutiveffekt nicht abschlie ßende Zwischenentscheide des Gerichts angegriffen werden konnten, Art. 498 ff. CPPN (1889), der Antrag auf Feststellung der Nichtigkeit einer Gerichtsentscheidung, nulidad, wel cher gemeinsam mit der apelación eingelegt werden musste und den gleichen Regeln folgte, Art. 509 ff., 546 CPPN (1889) sowie die Beschwerde, queja, dagegen, dass der Richter die apelación nicht zugelassen hatte oder sich von vornherein weigerte seiner Pflicht zur Entschei dungsfindung nachzukommen, Art. 515 ff. CPPN (1889).
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Neben dem dargestellten Verfahrensgang war für leichte Straftaten mit einer Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr noch ein sog. Korrektionalverfahren mit verkürz ten Fristen vorgesehen, Art. 28, 29, 30, 569 ff. CPPN (1889). Der größte Unter schied zum regulären Strafprozess bestand interessanterweise darin, dass das Kor rektionalverfahren der Einfachheit halber mündlich abgewickelt werden sollte, Art. 569 CPPN (1889). In der Praxis kam es jedoch zu einer weitgehenden Nivel lierung, da die Gerichte regelmäßig doch Schriftsätze der Parteien akzeptierten.359 Ein Vergleich der Verfahrensstruktur des CPPN (1889) mit dem oben dargestell ten, bis dahin in Argentinien praktizierten gemeinrechtlichen Inquisitionsprozess zeigt eine starke Kontinuität. Wie bisher kam es auch nach der neuen Strafpro zessordnung zu einer eindeutigen Verlagerung des Verfahrensschwerpunktes auf die unumschränkt vom Richter beherrschte, schriftliche und geheime Ermittlungs phase.360 Da der Beschuldigte dort nicht in der Lage war, seine Verteidigung effek tiv auszuüben, vielmehr nur Objekt der Untersuchungen war, wurden die ihm ver fassungsmäßig garantierten Rechte ausgehebelt.361 Erschwerend kam hinzu, dass nach wie vor der Richter des Vor- und des Hauptverfahrens in der Regel ein und dieselbe Person war, was eine neutrale Amtsausübung nahezu unmöglich machte. Trotz gewisser Fortschritte gegenüber dem bisherigen Verfahren bleibt daher fest zuhalten, dass die in Argentinien gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts durch geführte Strafverfahrensrechtsreform die von Frankreich ausgehende kontinental europäische Erneuerung des Inquisitionsprozesses nur in Ansätzen nachvollzog.362 Seit seinem Inkrafttreten hat der CPPN (1889) aus diesem Grund immer wieder scharfe Kritik auf sich gezogen.363 In Anbetracht der oben geschilderten histori schen Bedingungen in Argentinien zu jener Zeit erstaunt die Ausgestaltung der Bundesstrafverfahrensordnung jedoch nicht. Das geheime, schriftliche, allein von professionellen Juristen von Amts wegen durchgeführte inquisitorische Verfahren entrückte die Strafmacht dem Volk und ermöglichte ihre Konzentration in einem kleinen, elitären Personenkreis. Die autoritäre Konzeption des Strafverfahrens er
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Vgl. dazu Malagarriga/Sasso, Procedimientos Bd. 2, S. 196. Dieser Kommentar aus dem Jahre 1910 spricht am selben Ort auch davon, dass sich das Gesetz lächerlich mache, da es un möglich zu befolgen sei (Übers. d. Verf.). 360 Dieses Ungleichgewicht zeigt sich schon rein äußerlich an der viel ausführlicheren Re gelung des Vorverfahrens im Gesetz, vgl. dazu Woischnik, Untersuchungsrichter, S. 42, Fn. 109 m. w. N. 361 Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 378 f. 362 Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 407 f. 363 Schon wenige Jahre nach seiner Entstehung wurde der CPPN (1889) von verschiedenen Seiten heftig dafür kritisiert, dass er das grundlegende Problem der Langsamkeit und Ineffek tivität der Strafjustiz nicht beseitige und zudem beschuldigtenfeindlich sei, vgl. Levaggi, Re vista de Historia de Derecho Nr. 11 (1983), S. 121 ff. (146 ff.). Das bekannteste, immer wie der zitierte Urteil stammt jedoch vom wohl bedeutendsten Strafverfahrensrechtsexperten der bisherigen argentinischen Geschichte, Alfredo Vélez Mariconde, welcher schrieb, das Gesetz sei schon bei seiner Geburt altersschwach gewesen („[…] nuestro Código […] nació viejo y caduco […]“), Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 197.
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laubte der Obrigkeit ungehindert und ohne jede demokratische Kontrolle gegen diejenigen vorzugehen, welche die von ihr vorgegebene Ordnung störten.364 Diese Charakteristika des Inquisitionsprozesses entsprachen genau den Interessen der damaligen herrschenden politischen Klasse, welche die traditionelle Dominanz der alten argentinischen Oberschicht zu verteidigen suchte.365 Dennoch konnte sich der CPPN (1889) der Weiterentwicklung des gemein rechtlichen Inquisitionsprozesses durch Integration von Elementen des adversa torischen Verfahrens nicht vollständig verschließen, und so findet sich auch die Fi gur eines vom Gericht formal getrennten staatlichen Anklägers im neuen Gesetz. Im Weiteren soll untersucht werden, wie er sich in das dargestellte Verfahrens umfeld einfügte. II. Die Organisation der neugeschaffenen Bundesstaatsanwaltschaft 1. Entstehung der Bundesgerichtsbarkeit
Die in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts entstandene argentini sche Bundesstaatsanwaltschaft hatte die schon in der vorrevolutionären Fiskalität angelegten organisatorischen Grundstrukturen weitgehend beibehalten. Ein ein heitliches Gesetz zur Ausgestaltung der Bundesanklagebehörde gab es nicht. Nach und nach formte sich in der zweiten Hälfte des neunzehnten sowie zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts aus einer Reihe von Gesetzen und Dekreten eine Orga nisationsstruktur, die bis in das Jahr 1998, in dem das Bundesgesetz Nr. 24.946 zur Organisation der Staatsanwaltschaft erlassen wurde366, nahezu unverändert Be stand haben sollte. Die Vielzahl anwendbarer Gesetzesgrundlagen und das Feh len einer einheitlichen Kodifizierung führten allerdings zu erheblichen Regelungs lücken einerseits und Widersprüchen zwischen bestehenden Regelungen anderer seits, auf die im Weiteren einzugehen sein wird.367 Da mit der Unabhängigkeit die Jurisdiktion des übergeordneten Consejo de I ndias weggefallen war, existierte im neu entstandenen Staatenbund zunächst lediglich die Provinzgerichtsbarkeit. Oberste Gerichte waren anfangs die ehema ligen Reales Audiencias, die seit dem Jahre 1813 Cámaras de apelaciones hießen. Gemeinsam mit ihnen waren auch die dort tätigen Fiskale in Agentes de Cámara
364
Siehe dazu Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 446 f. sowie schon oben Fn. 35. Jofré, Procedimiento Criminal Argentino, S. XVII ff. 366 Dieses Gesetz setzte den durch die Verfassungsreform im Jahre 1994 in die Verfassung eingefügten Art. 120 CN in einfaches Recht um. Näheres dazu findet sich weiter unten, 5. Ka pitel, A. II. 367 Quiroga Lavié, in: Rosatti u. a., Reforma, S. 279 sowie Ekmekdijan, Tratado Bd. 5, S. 633 sprechen aufgrund des uneinheitlichen, schwer zur durchblickenden Regelungsgeflechts gar von einer „Gesetzesanarchie“ (Übers. d. Verf.). 365
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umbenannt worden, bald wurden sie jedoch wieder als Fiscales bezeichnet. Man gels Weisungsbindung gegenüber dem obersten Fiskal am Consejo de Indias wa ren die Fiskale an den Berufungskammern zeitweise die ranghöchsten staatlichen Ankläger.368 Ernannt wurden sie auf Vorschlag des Gerichts durch die Exekutive, also durch den Gouverneur der jeweiligen Provinz.369 Im Übrigen hatte sich an ihrer Stellung nichts geändert, insbesondere waren sie nach wie vor grundsätz lich unabsetzbar370. Nach und nach schufen die Provinzen jedoch ihre eigenen Obersten Gerichtshöfe und der dortige Ankläger nahm die Rolle des Oberhaupts der Provinzstaatsanwaltschaft ein.371 Darüber hinaus wurde das Amt des Agente Fiscal, der zuvor lediglich als Assistent der Staatsanwälte an den Audiencias agiert hatte, durch ein Dekret vom 19. Januar 1835 erheblich aufgewertet. Die Agentes Fiscales wurden nämlich in der Folge von der Verpflichtung, den Fiskalen an den Berufungskammern Hilfsdienste zu leisten, befreit und als eigenständige erstins tanzliche Ankläger anerkannt. Ihre Stellung im Einzelnen wurde jedoch nicht ge setzlich ausgestaltet, was dazu führte, dass den Agentes Fiscales im Gegensatz zu den Anklägern in zweiter Instanz die Garantie der Unabsetzbarkeit nicht automa tisch zugebilligt wurde.372 Es entstand mithin eine an den drei Stufen der Gerichts barkeit orientierte Staatsanwaltschaft, die jedoch insoweit uneinheitlich ausgestal tet war, als dass die Ankläger in der ersten Instanz von der Exekutive abhängig waren, während diejenigen an dem Berufungsgerichten und den Obersten Provinz gerichtshöfen richtergleiche Garantien genossen. Der Grundstein für die Entstehung einer Staatsanwaltschaft des Bundes wurde schließlich mit der argentinischen Bundesverfassung von 1853/1860 gelegt, wel che entsprechend ihrem nordamerikanischen Vorbild neben der Provinzjuris diktion eine eigene Gerichtsbarkeit des Bundes vorsah. Beginnend mit Bundes gesetz Nr. 27 zur Organisation der Bundesgerichte aus dem Jahre 1862 schuf der Gesetzgeber nach und nach Gerichte auf bundeseigenem Territorium mit um fassender Zuständigkeit für alle Strafsachen sowie in den Provinzen, wo sie ne ben der allgemeinen Provinzgerichtsbarkeit existierten und nur für bestimmte De likte mit Bundesbezug zuständig waren.373 Wie in den Provinzen entstand eine dreistufige Gerichtsbarkeit, an der sich die Organisation der Staatsanwaltschaft ausrichtete. 368 Bis es zur Errichtung eigener Oberster Gerichtshöfe in den Provinzen mit einem zu geordneten Generalstaatsanwalt kam. Vgl. dazu als Beispiel die unten im 4. Kapitel, A. II. dar gestellte Organisation der Staatsanwaltschaft in der Provinz Córdoba. 369 Ayarragaray, ministerio público, S. 133. 370 Siehe dazu Ayarragaray, ministerio público, S. 123, 127; Avellaneda Huergo, Ministerio Fiscal, S. 8; Barraquero, La Ley 119 (1965), S. 1141 ff. (1145) sowie schon oben die Ausfüh rungen im 2. Kapitel, A. II. 371 Vgl. dazu das Beispiel der Provinz Córdoba, welches unten im 4. Kapitel, A. II. erörtert wird. 372 Barraquero, La Ley 119 (1965), S. 1141 ff. (1145); Avellaneda Huergo, Ministerio Fiscal, S. 12 f. 373 Siehe dazu Zavalía, Derecho Federal, S. 7 ff.; Haro, Competencia Federal, S. 61 f.
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Einen Sonderfall bildete dabei die Hauptstadt des Bundes, Buenos Aires.374 Durch Bundesgesetz Nr. 1029 vom 21. September 1880, welches die Stadt in Ver wirklichung des Art. 3 der Verfassung von 1860 zur Hauptstadt erklärte, wurden die bis dahin dort bestehenden Provinzgerichte beibehalten, obwohl die Stadt nun Bundesterritorium war. Damit bestand in der Hauptstadt neben der eigentlichen, nur für spezielle Bundesdelikte zuständigen Bundesgerichtsbarkeit, justicia federal, weiter die justicia ordinaria genannte ehemalige Provinzgerichtsbarkeit mit Zuständigkeit für alle sonstigen Straftaten. Diese Zweiteilung wurde im Laufe der weiteren Gesetzgebung bestätigt375 und führte zu umfangreichen Streitigkei ten über die Frage, ob auch die justicia ordinaria der Bundesgerichtsbarkeit zuzu ordnen war.376 Unter dem folgenden Punkt sollen der Vollständigkeit halber auch die der justicia ordinaria in der Bundeshauptstadt zugeordneten Ankläger genannt werden, weil sich ihre Benennung von derjenigen ihrer Kollegen auf Bundesebene unterschied. Im Übrigen werden sie aber nicht mehr gesondert aufgeführt, da ihre Organisation den gleichen Strukturprinzipien folgte wie diejenige der Bundes staatsanwaltschaft.377 2. Amtsträger der Bundesstaatsanwaltschaft nach den Bundesgesetzen Nr. 27 vom 16.10.1862, Nr. 43 vom 26.8.1863, Nr. 1893 vom 12.11.1886, Nr. 2372 vom 16.10.1888 (CPPN 1889), Nr. 4055 vom 11.01.1902 und Nr. 7099 vom 27.09.1910
Die Art. 6 ff. des Gesetzes Nr. 27 befassten sich mit der Ausgestaltung des Obersten Gerichtshofes des Bundes. Nach Art. 6 bestand dieser Gerichtshof neben fünf Richtern aus einem Procurador General de la Nación genannten obersten Ankläger.378 Im Strafprozess oblag ihm neben der seltenen Ausübung der Anklagefunktion vor dem Obersten Gerichtshof379 die Aufsicht über die übrigen Staatsanwälte. Die ses Amt ergab sich zu Beginn daraus, dass Art. 11 des genannten Bundesgesetzes 374
Nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Provinz, welche die Stadt als Flächenstaat umgibt. 375 Einen ausführlichen Überblick mit Angabe aller relevanten Gesetze zur Entwicklung der Gerichtsbarkeit in der Bundeshauptstadt bietet Pomata, La Ley 128 (1967), S. 1042 ff. 376 Verneinend bspw. D’Albora, Justicia Federal, S. 30 f.; bejahend bspw. Claría Olmedo, Tratado Bd. 2, S. 92 ff.; Haro, Competencia Federal, S. 59 ff.; Pomata, La Ley 128 (1967), S. 1042 ff. 377 Siehe dazu Ayarragaray, ministerio público, S. 176 ff. 378 Dieses Amt entsprach allerdings nur dem Namen nach demjenigen des Attorney General in den Vereinigten Staaten von Amerika. Ein fundamentaler Unterschied liegt bereits darin, dass der Procurador General de la Nación nicht Mitglied der Regierung war. Vgl. dazu Zavalía, Derecho Federal, S. 140; Ayarragaray, ministerio público, S. 299. 379 Zavalía, Derecho Federal, S. 140 f., stellt fest, dass der Procurador General de la Nación diese Funktion tatsächlich kaum ausübte.
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Nr. 27 dem gesamten Obersten Gerichtshof die Aufsicht über die untergeordneten Bundesgerichte übertrug, und ein Dekret vom 31. Januar 1891 besagte, dass das Fehlverhalten von Staatsanwälten eben dem Generalstaatsanwalt zu melden sei. Später wurde es in Art. 116 Nr. 3 der als Bundesgesetz Nr. 2372 erlassenen, zum 01. Januar 1889 in Kraft getretenen Bundesstrafprozessordnung festgeschrieben, wonach er auf die gesetzestreue und einheitliche Amtsausübung der Staatsanwälte an den unteren Instanzen hinwirken sollte. Eine Berufungsinstanz zwischen den erstinstanzlichen Bundesgerichten und dem Obersten Gerichtshof existierte zunächst nicht. Diese Lücke wurde erst im Jahre 1902 mit dem Bundesgesetz 4055 geschlossen, durch welches die Beru fungsgerichte auf Bundesebene, Cámaras Federales de Apelación, eingerichtet wurden. Nach Art. 12 dieses Gesetzes gab es an diesen Gerichten auch jeweils einen Fiskal, der den Titel Procurador Fiscal de las Cámaras Federales de Apelación trug. Er hatte die Aufgabe, die erstinstanzliche Anklage vor den Berufungs gerichten weiter zu vertreten. Wie der Generalstaatsanwalt besaß er zudem eine Aufsichtspflicht gegenüber den ihm unterstellten Staatsanwälten. Durch Art. 2 des Gesetzes 7099 wurde nämlich neben der weiterbestehenden allgemeinen Über wachung durch den Obersten Gerichtshof zusätzlich den Cámaras Federales de Apelación die Aufsicht über die untergeordneten Justizorgane des Bundes über tragen. Der Fiskal an den Cámaras war danach für die Beaufsichtigung der Fis kale in erster Instanz zuständig, was später zusätzlich in Art. 117 des CPPN (1889) niedergelegt wurde. Auch in den sich aus der Aufsichtsfunktion der Berufungs gerichte ergebenden Disziplinarverfahren gegen sonstige Justizbedienstete ver trat der Procurador Fiscal de Cámara die Anklage. An den Berufungsgerichten der justicia ordinaria der Hauptstadt übernahm der nur leicht abweichend Fiscal de Cámara genannte Staatsanwalt die Anklage, dessen identischer Aufgabenbe reich sich aus Art. 120 des Bundesgesetzes Nr. 1893 zur Gerichtsorganisation der Hauptstadt ergab. Die erstinstanzlichen Bundesgerichte waren ebenfalls durch das schon genannte Bundesgesetz Nr. 27 aus dem Jahre 1862 eingerichtet worden. Es gab dort jedoch zu Beginn keine feste Fiskalstelle, ein Fiskal konnte vom Gericht ernannt werden, wenn seine Beteiligung am Prozess nötig war, Art. 15 des Bundesgesetzes Nr. 27. Ein Jahr später wurde diese Regel durch Art. 6 des Bundesgesetzes Nr. 43 dahin gehend abgeändert, dass die Fiskale auf Zeit von den Exekutivbehörden der jewei ligen Provinzen ernannt werden sollten. Dies änderte jedoch nichts daran, dass die Beteiligung eines staatlichen Anklägers an den Strafverfahren vor den Bundesge richten erster Instanz sehr unsicher war und nur unregelmäßig stattfand.380 Nach einem aus ökonomischen Gründen bald gescheiterten Versuch im Jahre 1872381 kam es erst im Jahre 1881 zur Einrichtung fester Fiskalstellen an den erstinstanz lichen Bundesgerichten. Die Procuradores Fiscales genannten erstinstanzlichen 380
Ayarragaray, ministerio público, S. 156. Dazu Ayarragaray, ministerio público, S. 156.
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3. Kap.: Die Entscheidung für den Inquisitionsprozess
Ankläger382 waren diejenigen Angehörigen des Ministerio Público mit dem wei testen und wichtigsten Aufgabenbereich. Sie waren schon in die Ermittlungen der Straftat involviert und vertraten die Anklage in der Tatsacheninstanz.383 Die An kläger an den erstinstanzlichen Gerichten der justicia ordinaria in der Bundes hauptstadt wurden, wie noch zu Zeiten, als diese zur Provinzgerichtsbarkeit ge hörte, Agentes Fiscales genannt. Ihre Tätigkeit ergab sich aus Art. 118, 119 des Gesetzes Nr. 1893 und entsprach derjenigen der Procuradores Fiscales. Aus verschiedenen Gesetzen und Dekreten ließen sich also in dem dargestellten Umfang die einzelnen Ämter innerhalb des Ministerio Público mit den genannten Aufgabenbereichen herleiten. Weitergehende gesetzliche Regelungen zur internen Organisation der Staatsanwaltschaft sowie zu ihrer Stellung im Staatsgefüge als Ganzes fehlten jedoch. Daher waren die Beziehungen der einzelnen Staatsanwälte untereinander, aber auch zu anderen Organen aus Exekutive und Judikative unter den zeitgenössischen argentinischen Juristen äußerst umstritten.384 3. Die interne Struktur der Bundesstaatsanwaltschaft
Die oben aufgeführten Ankläger wurden immer häufiger unter einer gemein samen Bezeichnung zusammengefasst. Man nannte sie unter Beibehaltung der tra ditionellen Bezeichnung als Fiskal Ministerio Fiscal oder wegen ihres weiten Auf gabenbereichs als Vertreter des öffentlichen Interesses Ministerio Público oder in Kombination der beiden Begriffe Ministerio Público Fiscal.385 Es ist aber fraglich, ob sich das Fiskalat zu dieser Zeit tatsächlich schon als hierarchisch strukturierte, einheitlich handelnde Behörde auffassen ließ. Im Einzelnen betrifft dies die Fra gen, inwieweit dem vorgesetzten Staatsanwalt die Befugnis zustand, untergeord neten Staatsanwälten Weisungen zur allgemeinen Amtsausübung oder zu einem speziellen Fall zu erteilen und/oder sie gar zu ersetzen. Tatsächlich war in der Struktur der Bundesstaatsanwaltschaft von Anfang an eine gewisse Hierarchie angelegt.386 Wie gezeigt sollten der Generalstaatsanwalt sowie die Staatsanwälte an den Berufungskammern nach den Art. 116, 117 der Bundesstrafprozessordnung von 1889 die Aufsicht über die jeweils untergeord neten Staatsanwälte wahrnehmen. Im Abschnitt des CPPN (1889) zum Haupt 382 Die Bezeichnung der erstinstanzlichen Ankläger als Procuradores Fiscales findet sich zum ersten Mal im genannten Gesetz Nr. 43, vgl. Barraquero, La Ley 119 (1965), S. 1141 ff. (1147). 383 Vgl. dazu Claría Olmedo, Tratado Bd. 2, S. 295, 297. Zum Aufgabenbereich des Fiskals in erster Instanz siehe Näheres unten 3. Kapitel, B. III. 2., 3. 384 Siehe dazu im Einzelnen die Nachweise unter den folgenden Punkten, 3. Kapitel, B. II. 3., 4. 385 Siehe dazu Claría Olmedo, Tratado Bd. 2, S. 274 f. m. w. N. Die Bundesstrafprozessord nung von 1889 spricht vom Ministerio Fiscal, vgl. Art. 114 ff. 386 So Becerra, Ministerio Público Fiscal, S. 83.
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verfahren findet sich die Vorschrift des Art. 463, wonach der Staatsanwalt in der Berufungsinstanz die Entscheidung des erstinstanzlichen Staatsanwalts, keine An klage zu erheben, überprüfen und gegebenenfalls auch korrigieren konnte, wenn der Richter der ersten Instanz sie ihm zur Kontrolle vorlegte.387 Offensichtlich schwebte dem Gesetzgeber eine einheitliche, pyramidenartig strukturierte Be hörde mit dem Generalstaatsanwalt an der Spitze vor. In Wahrheit waren die Einflussmöglichkeiten der übergeordneten Staatsan wälte auf ihre Kollegen an den unteren Instanzen aber nur sehr begrenzt. Die An ordnung von Disziplinarmaßnahmen oblag grundsätzlich dem Obersten Gerichts hof, Art. 10, 11 des Bundesgesetzes Nr. 4055 bzw. den Berufungsgerichten als Ganzes, Art. 102, 103 des Bundesgesetzes Nr. 1893 und Art. 2 des Bundesgeset zes Nr. 7099. Das hieß, der Generalstaatsanwalt sowie die Staatsanwälte an den Berufungsgerichten konnten sie gegenüber den untergeordneten Fiskalen nicht selbständig anordnen, sondern lediglich beim Gericht beantragen. Abgesehen von dieser Möglichkeit, die wie die Kontrollbefugnis des Art 463 CPPN (1889) von der Mitwirkung des Richters abhängig war, bestand praktisch keine Verbindung zwischen erstinstanzlichen und Berufungsstaatsanwälten. Gleiches galt für das Verhältnis zwischen dem Generalstaatsanwalt und Berufungs- bzw. erstinstanz lichen Staatsanwälten. Sehr lange existierte keinerlei gesetzliche Regelung, wel che den vorgesetzten Staatsanwälten Weisungs- oder gar Ersetzungsbefugnisse ge genüber den untergeordneten Staatsanwälten einräumte.388 So verwundert es nicht, dass schon im ausgehenden neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhundert eine ganze Reihe von argentinischen Autoren den Missstand beklagten, dass die hierar chische Struktur des Ministerio Público Fiscal, und damit eine einheitliche Amts ausübung in der Praxis, vollkommen fehlten.389 Rodolfo Rivarola, einer der bedeu tendsten argentinischen Rechtsgelehrten dieser Zeit, der selber als Fiskal an der Appellationskammer der Provinz Buenos Aires tätig war, erklärt bspw., er habe nie verstanden, wie die von den Art. 116 und 117 CPPN (1889) vorgesehene Auf sichtspflicht durch den Fiskal in die Tat umgesetzt werden solle.390 Diese Auf sichtspflicht blieb mangels praktischer Umsetzungsmöglichkeiten toter Buch stabe. Von einer durch Gesetz oder eben Weisungen koordinierten Amtsausübung der einzelnen Fiskale konnte keine Rede sein. Die Gesetzeslücken führten in der Folgezeit dazu, dass die jeweiligen Pro curadores Generales eine implizite Weisungsbefugnis aus der im Gesetz ange legten Hierarchie des Ministerio Público und aus dem allgemeinen Grundsatz der einheitlichen Amtsführung herleiteten. Stets umstritten blieb, ob eine solche Wei 387
Siehe dazu die Ausführungen unten, 3 Kapitel, B. III. 3. a). Vgl. zu dieser Gesetzeslage bspw. Alcalá-Zamora y Castillo/Levene (h.), Derecho Pro cesal Penal Bd. 1, S. 388 f. 389 Vgl. Jofré, Manual Bd. 1, S. 224; Avellaneda Huergo, Ministerio Fiscal, S. 38 ff.; Rivarola, Justicia, S. 142 ff.; Castro, Curso Bd. 1, S. 310 f.; Alsina, Tratado Bd. 2, S. 353; Pellet (h.), Ministerio Fiscal, S. 17 ff. 390 Rivarola, Justicia, S. 143. 388
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3. Kap.: Die Entscheidung für den Inquisitionsprozess
sungsbefugnis nur zum Erlass allgemeiner Richtlinien oder auch zu konkreten Anweisungen in bestimmten Einzelfällen berechtigte.391 Im Jahre 1985 schließ lich wurde der Streit entschieden, indem Art. 116 des CPPN (1889) durch Bun desgesetz Nr. 23.183 eine neue Fassung erhielt. Mit der neu eingefügten Nr. 3 des Art. 116 wurde dem Procurador General de la Nación nun auch ausdrücklich von Gesetzes wegen die Befugnis zum Erlass von allgemeinen Weisungen zugebil ligt, Einzelweisungen erwähnt der Gesetzestext dagegen nicht. Dabei handelt es sich um eine bewusste Auslassung des Gesetzgebers, wie sich daran zeigt, dass der ursprüngliche, von der Exekutive vorgelegte Gesetzentwurf sehr wohl auch eine konkrete Weisungsbefugnis vorsah, welche nachträglich herausgenommen wurde.392 Die Normierung der allgemeinen Weisungsbefugnis des Oberhaupts der Staatsanwaltschaft verbesserte zwar die Möglichkeiten einer Koordination der Tä tigkeit der einzelnen Fiskale, die Tradition ihrer grundsätzlichen Unabhängigkeit innerhalb der Behörde wirksam durchbrechen konnte sie jedoch nicht.393 Dies lag schon an der Natur der allgemeinen Weisungen, die einen Handlungsspielraum des einzelnen Staatsanwalts festlegen, aber keine direkte, auch nach außen wirksame Korrektur bei einem konkreten Fehlverhalten des Untergebenen ermöglichen.394 Am grundsätzlichen Ergebnis zur Einheit der argentinischen Staatsanwaltschaft während dieser Zeitperiode ändert damit auch die erst sehr spät normierte Befugnis ihres Oberhaupts zu allgemeinen Weisungen nichts. Es lässt sich festhalten, dass die Grundsätze eines hierarchisch strukturierten, einheitlich agierenden Ministerio Público Fiscal zwar schon in Ansätzen im Gesetz zu erkennen waren, mangels ausreichender gesetzlicher Ausgestaltung jedoch in der Praxis keinerlei Wirkung erlangten. Ein Ministerio Público Fiscal existierte nur dem Namen nach, in der Praxis setzte es sich aus den einzelnen, vom Vorgesetzten weitgehend unabhängi gen Fiskalen zusammen. 4. Die Einordnung der Bundesstaatsanwaltschaft in das Staatsgefüge als Ganzes
Auch die Beziehungen der Staatsanwaltschaft zu anderen Staatsorganen, also die Fragen der Ernennung und Abberufung sowie externer Weisungen, waren nicht einheitlich geregelt. Wie auf Provinzebene entwickelte sich auch im Bund eine Zweiteilung innerhalb der Funktionäre des Ministerio Público Fiscal, die sich auf folgende Formel bringen lässt: Während Generalstaatsanwalt und die Ankläger an 391
Vgl. dazu Becerra, Ministerio Público Fiscal, S. 87 ff. m. w. N. Becerra, Ministerio Público Fiscal., S. 89, Fn. 132. 393 Vgl. dazu Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 2, S. 359, der dieses Ergebnis noch auf die spätere, vergleichbare Regelung im Organisationsgesetz von 1998 ausweitet. 394 Siehe dazu Sáenz, La Ley 1995-D, S. 1081 ff. (1082 f.) sowie die ausführliche Betrachtung der allgemeinen Weisungsbefugnis unten im Rahmen der Untersuchung des Organisations gesetzes von 1998, 5. Kapitel, A. II. 2. 392
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den Berufungskammern wie Judikativorgane behandelt wurden, waren die erst instanzlichen Staatsanwälte der Exekutive unterworfen.395 Das Bundesgesetz Nr. 27, mit dem das Amt des Procurador General de la ación geschaffen wurde, sagte nichts zu den Modalitäten seiner Ernennung oder N Entlassung. Schon früh schlossen einige Stimmen daraus sowie aus der Tatsache, dass die Staatsanwaltschaft in der Bundesverfassung keine Erwähnung fand, dass ihren Mitgliedern auch nicht die Unabhängigkeitsgarantie eines Judikativorgans zuteil werden könne.396 Ganz mehrheitlich leitete man aus der Formulierung des Art. 6 des Gesetzes Nr. 27, wo der Procurador General de la Nación als Mitglied des Gerichts bezeichnet wurde, aber her, dass auf den obersten Ankläger diesel ben Regeln anwendbar seien wie auf die Richter am Obersten Gerichtshof.397 Da her wurde der Procurador General de la Nación traditionell vom Staatspräsiden ten mit Zustimmung des Senats ernannt und konnte nur im Wege eines von der Legislative durchgeführten sog. politischen Prozesses aus seinem Amt entfernt werden. In diesem öffentlich durchgeführten Verfahren nach Art. 45, 51398 der ar gentinischen Bundesverfassung fungierte das Abgeordnetenhaus als Anklage- und der Senat als Urteilsorgan. Im Jahre 1989 brach Präsident Menem allerdings mit dieser Tradition, indem er Oscar Eduardo Roger durch einfaches Dekret ohne Zu stimmung des Senats zum Procurador General de la Nación ernannte. Kurz darauf entzog Bundesgesetz Nr. 23.774 vom 11.04.1990 auch die gesetzliche Grundlage der Einordnung des höchsten Beamten der Staatsanwaltschaft in die Judikative, in dem es die bisherige Formulierung dahingehend änderte, dass der Procurador General nicht mehr als Mitglied des Gerichts bezeichnet wird, sondern nur noch „vor diesem tätig ist“.399 Das Bundesgesetz Nr. 4055 schwieg in Bezug auf die Staatsanwälte an den Be rufungskammern des Bundes ebenfalls zur Form ihrer Bestellung und Abberufung. Nach Art. 13 sollten jedoch für sie und die anderen Mitglieder des Gerichts grund sätzlich die gleichen persönlichen Ernennungsvoraussetzungen wie für die Mit glieder des Obersten Gerichtshofs gelten, was auf eine Gleichbehandlung auch be züglich der Formalitäten der Ernennung schließen ließ. Das Gesetz Nr. 1893 zur Gerichtsorganisation in der Bundeshauptstadt, welches in Art. 121 eine identische 395
Vgl. Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 244. Siehe bspw. Ayarragaray, ministerio público, S. 167 f., der meint, alle Angehörigen des Ministerio Fiscal seien daher von diesem richterlichen Privileg ausgeschlossen, und Jofré, Manual Bd. 1, S. 217 ff., der zwar die entgegenstehende gesetzliche Regelung für Fiskale an den Berufungsgerichten anerkennt, aber meint, sie müssten angesichts des Verfassungstextes und ihrer Eigenschaft als Exekutivorgane frei absetzbar sein. 397 Vgl. Frías, Derecho Procesal Bd. 1, S. 107 f.; Alsina, Tratado Bd. 2, S. 340 ff.; Alcalá- Zamora y Castillo/Levene (h.), Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 391; Colautti, in: La Ley 1983-C, S. 1097 ff. (1099). 398 Seit der Verfassungsreform im Jahre 1994 handelt es sich um die Art. 53 und 59 der Bun desverfassung. 399 Art. 1 des Gesetzes 23.774: „ […] Ante ella actuaran el procurador general de la Nación […].“ 396
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3. Kap.: Die Entscheidung für den Inquisitionsprozess
Regelung enthielt, normierte die Ernennung und Absetzung der Staatsanwälte an den Berufungskammern der Hauptstadt dagegen in Art. 123 ausdrücklich. Danach waren die Regeln zur Ernennung und Abberufung der Richter an den Berufungs kammern anwendbar, die Staatsanwälte genossen also ebenfalls die Garantie der Unabsetzbarkeit. Im Ergebnis wurden daher alle Fiskale an den Berufungskam mern, sowohl in der Hauptstadt als auch außerhalb, durch den Staatspräsidenten mit Zustimmung des Senats ernannt und waren nur im Wege des politischen Pro zesses durch die Legislative absetzbar. Demgegenüber wurden die Procuradores Fiscales bzw. Agentes Fiscales nach Art. 6 des Bundesgesetzes Nr. 43, nach Art. 124 des Bundesgesetzes Nr. 1893 so wie nach verschiedenen Dekreten des Bundes ohne Mitwirkung einer anderen Staatsgewalt vom Staatspräsidenten ernannt und entlassen. Der Unterschied zur Stellung der Fiskale in den höheren Instanzen erklärt sich wohl historisch durch die noch aus Kolonialzeiten stammende Tradition, wonach Exekutivorgane, die gleichzeitig Justizfunktionen ausübten, die erstinstanzlichen Ankläger ernannten und entließen.400 Die Beibehaltung dieser Tradition durch die Gesetze Nr. 43 und Nr. 1893 trotz zwischenzeitlicher Einführung der Gewaltenteilung bedeutete, dass für die Fiskale in der ersten Instanz keine Unabhängigkeitsgarantie galt, sie konn ten frei durch die Exekutive ausgetauscht werden. Alle Fiskale unterlagen der bereits erwähnten allgemeinen Aufsicht des Obers ten Gerichthofs und der Appellationskammern über untergeordnete Justizorgane nach Art 10, 11 des Gesetzes Nr. 4055, Art. 102 des Gesetzes Nr. 1893 und Art. 2 des Gesetzes Nr. 7099. Für die ranghöheren Fiskale ergab sich dies schon aus ih rer Judikativstellung, für die der vollziehenden Gewalt zugeordneten Procuradores und Agentes Fiscales dagegen aus dem Wortlaut von Art. 11 Nr. 4 des Gesetzes Nr. 4055 und Art. 2 Nr. 4 des Gesetzes Nr. 7099, wo die erstinstanzlichen Ankläger direkte Erwähnung finden.401 Das Nebeneinander der Disziplinarbefugnisse des Obersten Gerichtshofs und der Berufungsgerichte des Bundes wirkte sich prak tisch so aus, dass bei Verfehlungen von Fiskalen in der ersten Instanz regelmä ßig die Cámara de Apelación und damit der dort ansässige Fiskal tätig wurde. Der Oberste Gerichtshof wurde nur in schwerwiegenden Fällen benachrichtigt, in de nen es um eine wiederholte Pflichtverletzung ging.402 Bei Fehlverhalten konnten die Gerichte einfache Disziplinarmaßnahmen wie Geldstrafen selbst verhängen. Eine Entlassung des Amtsträgers dagegen mussten sie bei den dafür zuständi gen Organen beantragen, also im Falle von erstinstanzlichen Staatsanwälten bei der Exekutive, im Übrigen bei der Legislative, vgl. Art. 10 und 11 des Gesetzes Nr. 4055.403 400 Barraquero, La Ley 119 (1965), S. 1141 ff. (1150 f.). Siehe dazu auch schon oben 2. Ka pitel, A. II. 401 Zur diesbezüglich bestätigenden Rechtsprechung vgl. Jofré, Manual, S. 218, Fn. (b) m. w. N. 402 Zavalía, Derecho Federal, S. 129; Ayarragaray, ministerio público, S. 159, Fn. 8. 403 Siehe dazu auch Castro, Curso Bd. 1, S. 235 ff.; Zavalía, Derecho Federal, S. 129.
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Gleichzeitig unterlagen die Staatsanwälte noch einer Aufsicht durch die Exeku tive, deren Reichweite jedoch nicht klar definiert und daher sehr umstritten war. Ausgangspunkt des Einflusses der vollziehenden Gewalt auf die Amtsausübung der Staatsanwälte war zum einen, dass die „Fiskale“ entsprechend ihrer ursprüng lichen Bezeichnung nicht nur als Vertreter der Gesellschaft als Ganzes die Anklage im Strafprozess vertraten, sondern außerdem auch noch mit der viel weiteren Auf gabe eines „Anwalts des Staates“ betraut waren, soweit dessen Interessen als ju ristische Person einer Vertretung vor Gericht bedurften, vgl. Art. 1 des Bundesge setzes Nr. 3367. In den letzteren Fällen waren die Fiskale gemäß einer Reihe von präsidialen Dekreten404 sowie nach Art. 3 des Bundesgesetzes Nr. 3951 den Wei sungen des jeweils betroffenen Ministeriums unterworfen, das sowohl allgemeine Vorgaben zur Verfahrensführung machen als auch konkrete Prozesshandlungen an ordnen konnte. Vor dem Fallenlassen einer Klage oder dem Antrag auf Einstellung eines Verfahrens mussten sie zudem stets schon von sich aus eine ministerielle Erlaubnis einholen. Eine klare gesetzliche Differenzierung zwischen der Vertre tung der Individualinteressen des Staates und der Anklage im Strafprozess mit der Folge, dass Letztere von der Weisungsbindung stets ausgenommen war, fand sich nicht. Gesetz Nr. 1893 zur Organisation der Justiz in der Bundeshauptstadt trennte schon zwischen denjenigen Agentes Fiscales vor den Strafgerichten nach Art. 118 und denjenigen, die in Zivilverfahren die Interessen des Fiskus vertraten, Art. 119 Nr. 1. Daraus ging aber noch nicht deutlich hervor, dass nicht auch im Strafpro zess das staatliche Eigeninteresse betroffen sein konnte, zumal Art. 127 desselben Gesetzes allen Agentes Fiscales auftrug, dem Finanzministerium die Fälle mitzu teilen, in denen offensichtlich ein solches Interesse betroffen war, ohne zwischen denjenigen vor den Zivil- und denjenigen vor den Strafgerichten zu unterschei den. Auch die Einführung von speziellen Organen zur Vertretung des Fiskus als juristischer Person vor Gericht beseitigte den Einfluss der vollziehenden Gewalt auf die staatlichen Ankläger nicht.405 Nach Art. 4 des Bundesgesetzes Nr. 17.516 vom 31. Oktober 1967 sollten die staatlichen Anwälte im Strafprozess zwar grund sätzlich neben dem Ankläger als „querellante“, also Privatkläger, agieren. Fehlte es aber an einem solchen Staatsvertreter, wurde nach Art. 1 b) desselben Geset zes nach wie vor der Fiskal mit dieser Aufgabe betraut und war dann gemäß Art. 2 auch weiter ausdrücklich den exekutivischen Weisungen unterworfen. Durch Bun desgesetz Nr. 19.539 vom 27. März 1972 wurde Art. 4 des Gesetzes Nr. 17.516 bereits dahingehend geändert, dass der staatliche Ankläger wieder selbst auch die Vertretung der Individualinteressen des Staates übernahm. Dies sollte immer dann 404 Im Einzelnen handelte es sich dabei um die Dekrete vom 18.09.1891; vom 28.11.1901; vom 24.01.1912; vom 26.12.1915 und vom 11.02.1924. Näheres dazu findet sich bei Ayarragaray, ministerio público, S. 244 ff. 405 Es handelte sich dabei um die sog. Fiscales de Estado unter Leitung des Procurador del Tesoro, deren Ämter durch das Gesetz Nr. 12954 vom 03. März 1947 geschaffen wurden. Vgl. zur historischen Entwicklung der Vertretung des Fiskus auf Bundesebene Tribiño, Fiscal de Estado, S. 24 ff.
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3. Kap.: Die Entscheidung für den Inquisitionsprozess
schon der Fall sein, wenn die öffentliche Ordnung oder das öffentliche Interesse betroffen war, und dazu führen, dass der Staatsanwalt nur noch in Vertretung des staatlichen Eigeninteresses tätig wurde und damit in seiner Tätigkeit vollständig den Weisungen der Exekutive unterworfen war. Das allgemeine Strafverfolgungs interesse wurde in diesen Fällen also verdrängt bzw. mit dem staatlichen Individu alinteresse für identisch erklärt. Der zweite entscheidende Anknüpfungspunkt für die Einflussnahme der Exeku tive waren die Vorschriften zur Ernennung der Amtsträger der Staatsanwaltschaft. Daraus, dass die Procuradores und Agentes Fiscales nach Art. 6 des Gesetzes Nr. 43 und Art. 124 des Gesetzes Nr. 1893 ausnahmslos frei von der Exekutive er nannt und abgesetzt werden konnten, ließ sich schließen, dass es sich um ihr un tergeordnete Organe handelte, für welche die entsprechenden organisatorischen Grundprinzipien, vor allem also die Weisungsbindung, galten. Die Einordnung der höheren Ränge des Ministerio Público Fiscal in die Judikative war angesichts des gesetzlichen Schweigens ebenfalls nicht zwingend, ihre entsprechende Be handlung ergab sich wie gezeigt nur gewohnheitsrechtlich. Als gesetzliche Grund lage für die einheitliche Unterordnung aller Staatsanwälte unter die Exekutive mit der Folge einer Weisungsbindung auch der Ankläger in den Berufungsinstanzen konnte dagegen seit dem Jahr 1981 die Formulierung des Art. 19 Nr. 4 des Bundes gesetzes Nr. 22.520 zur Aufgabenverteilung der Bundesministerien herangezogen werden. Nach dieser Vorschrift oblag es dem Justizministerium, in Übereinstim mung mit sonstigen gesetzlichen Vorschriften die Leitung des Ministerio Público und die Ernennung seiner Mitglieder zu übernehmen.406 Während es also an einer gesetzlichen Abgrenzung zwischen dem allgemeinen staatlichen Strafverfolgungsinteresse und demjenigen des Fiskus als Rechtsperson fehlte und zudem die Benennung der Staatsanwälte an den Berufungsinstanzen nicht ausdrücklich geregelt war, oblag die Ernennung und Absetzung der in erster Instanz tätigen Fiskale unzweifelhaft der Exekutive. Vor dem Hintergrund dieser Gesetzeslage akzeptierte die vollziehende Gewalt zwar lange grundsätzlich die Unabhängigkeit der Staatsanwälte an den höheren In stanzen407, erließ aber an die direkt von ihr abhängigen Procuradores und Agentes Fiscales regelmäßig sowohl individuelle als auch allgemeine Weisungen.408 Dabei beschränkte sie sich nicht auf zivilrechtliche Verfahren, in denen der Staat als Kläger oder Beklagter auftrat, sondern nahm auch auf die Anklagevertretung im Strafprozess Einfluss. Häufig handelte es sich dabei um Verfahren, in denen 406
„Compete al Ministerio de Justicia […] entender en la organización del Ministerio Público y ejercer de conformidad con lo que establezcan las leyes, la dirección del mismo y la designación de sus miembros.“ Die zitierte Norm stammt aus der Zeit der letzten Militär diktatur, wurde aber von der demokratischen Gesetzgebung inhaltlich unverändert übernom men, vgl. Art. 21 Nr. 5 des Gesetzes Nr. 23.930 vom 22.04.1991. 407 So das Urteil Ayarragarays, ministerio público, S. 177. 408 Zaffaroni, in: ders. u. a., sistema, S. 63.
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Delikte angeklagt waren, durch welche der Fiskus finanziell geschädigt worden war, wie bspw. Steuerhinterziehung oder Verstöße gegen Zollvorschriften.409 Ge nauso machten die jeweiligen Regierungen aber auch von Weisungen Gebrauch, wenn jedwedes sonstige besondere staatliche Interesse in einem Strafprozess auf dem Spiel stand. Schon unter Staatspräsident Roca wurden im Jahre 1884 der Procurador Fiscal Morcillo und im Jahre 1899 der Agente Fiscal Díaz Ibárgu ren ihrer Ämter enthoben, weil sie sich geweigert hatten, entsprechend den Vor gaben der Administration Anklage in bestimmten Strafprozessen zu erheben.410 Bekannte spätere Fälle sind die Einzelweisung aus dem Jahre 1962, den Ex-Prä sidenten Frondizi anzuklagen, und die allgemeine Weisung der ab 1976 regieren den Militärjunta, immer dann Berufung einzulegen, wenn dem Rechtsbehelf eines Untersuchungshäftlings auf Haftentlassung stattgegeben wurde.411 Die wohl wich tigsten Beispiele der jüngeren Vergangenheit sind die allgemeinen Weisungen der Regierung Alfonsín aus den Jahren 1986 und 1987, welche die Staatsanwaltschaf ten der Militär- sowie der zivilen Strafgerichtsbarkeit dazu anhielten, so wenige Militärangehörige wie möglich wegen Menschenrechtsverletzungen während der vorangegangenen Diktatur anzuklagen.412 Gerade im Hinblick auf diese inzwi schen bekannten, besonders umfassenden und schwerwiegenden Menschenrechts verletzungen in der Zeit von 1976 bis 1983 lassen sich dagegen interessanterweise keine direkten, verschriftlichten Weisungen der Militärmachthaber an die Staats anwaltschaft finden. Der Grund hierfür liegt darin, dass die damalige Regierung zur Bekämpfung ihrer politischen Gegner kaum die reguläre Strafjustiz instrumen talisierte, sondern vielmehr einen im Untergrund operierenden, im Wesentlichen auf mündlichen Weisungen beruhenden Repressionsapparat aufbaute.413 Sowohl die Beamten der Staatsanwaltschaft selbst als auch die Gerichte akzep tierten grundsätzlich die ministeriellen Instruktionen an die Anklagebehörde und gingen nicht dagegen vor. Viele Konflikte dürften schon im Vorfeld dadurch ent schärft worden sein, dass jeder in erster Instanz tätige Staatsanwalt sich bewusst sein musste, dass eine Amtsführung im Widerspruch zu den Wünschen der Regie rung seine Absetzung zur Folge hatte.414 Kam es einmal zu Auseinandersetzungen, war die Möglichkeit, Procuradores und Agentes Fiscales frei auszutauschen auch der Grund dafür, dass sich ungeachtet aller Debatten letztlich immer die Exeku 409
Vgl. dazu das ausführliche Beispiel bei Ayarragaray, ministerio público, S. 258 ff. Dazu Ayarragaray, ministerio público, S. 49 f.; Castro, Curso Bd. 1, S. 309. 411 Siehe dazu Zaffaroni, in: ders. u. a., sistema, S. 63. 412 Diese Weisungen ergingen im Rahmen der sog. „Schlussstrich“-Politik, mit der die nach dem Ende der letzen Militärdiktatur im Jahre 1983 demokratisch gewählte Regierung Alfonsín das Ziel verfolgte, die Unterstützung der Streitkräfte zu gewinnen. Vgl. dazu Sancinetti/ Ferrante, El derecho penal, S. 294 ff. sowie unten das 4. Kapitel, B. I. Die Weisungen finden sich abgedruckt in: Sancinetti, Derechos Humanos, S. 229 ff. und 249 ff. 413 Zur fehlenden „rechtlichen Struktur“ der Bekämpfung politischer Gegner während der letzten Militärdiktatur in Argentinien vgl. Ambos, in: Nolte (Hrsg.), Vergangenheitsbewälti gung, S. 86 ff. Siehe dazu auch unten 4. Kapitel, B. I. 414 In diesem Sinne äußert sich Ayarragaray, ministerio público, S. 267. 410
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3. Kap.: Die Entscheidung für den Inquisitionsprozess
tive durchsetzte. Zu den bekanntesten Beispielen, in denen sich einmal ein Staats anwalt bzw. ein Gericht gegen die Einflussnahme der Exekutive zur Wehr setzte, zählen der Fall Castro aus dem Jahre 1882, der Fall Cano aus dem Jahre 1903 so wie der Fall Naón aus dem Jahre 1924. In ersterem Fall hatte der damalige Justizminister Wilde im Jahre 1882 vom Agente Fiscal Castro verlangt, dass dieser verschiedenen Beschwerden über die Lang samkeit der Strafjustiz nachgehen und ihm dann Bericht erstatten sollte, was der Agente Fiscal mit der Begründung verweigerte, dass dem Minister die Zuständig keit für eine solche Anordnung fehle. Die dann eingeschaltete Berufungskammer der Bundeshauptstadt Buenos Aires erbat von dem ihr zugeordneten Fiskal Geró nimo Cortés ein Gutachten. In seinen vielbeachteten Ausführungen vertrat Cortés die These, dass das Ministerio Público Fiscal ungeachtet der erheblichen Einfluss möglichkeiten der Exekutive eine eigenständige, nur der Aufsicht der Gerichte so wie der übergeordneten Fiskale unterliegende Behörde sei. Er legte dar, dass im Ge gensatz zur Monarchie, wo die Rechtsprechung im Namen des Königs erfolgte, also der Exekutive untergeordnet war, in einer Republik die Fiskale den Staat als Gan zes und letztlich das Volk repräsentierten.415 Der Justizminister reagierte mit der Drohung, den Agente Fiscal abzusetzen, sowie der Ankündigung, dass die Exeku tive auch weiter die ihr zustehenden Befugnisse ausüben und jeden Fiskal abset zen werde, der die ministeriellen Anordnungen nicht befolge oder sie öffentlich in Zweifel ziehe. Daraufhin gab der Agente Fiscal nach und ließ dem Justizminister mittels der Berufungskammer die eingeforderten Informationen übersenden.416 Im Jahre 1903 wies das Innenministerium den Agente Fiscal Cano an, in einem bestimmten Fall Anklage wegen unerlaubten Glücksspiels zu erheben. Der Fiskal weigerte sich jedoch und stellte das Verfahren ein. Im Gegenzug erging ein Be schluss des Innenministers González, in dem er ausführlich die Abhängigkeit des Staatsanwalts von der Exekutive begründete und das seiner Meinung nach zustän dige Justizministerium aufforderte, Disziplinarmaßnahmen gegen den Fiskal Cano durchzuführen. Da das Justizministerium aber untätig blieb, hatte die Weigerung des Fiskals in diesem Falle keine Folgen. Der letzte Fall spielte sich außerhalb der Strafgerichtsbarkeit ab, soll hier aber trotzdem kurz dargestellt werden. Ausnahmsweise brach dort nämlich eine offene Auseinandersetzung zwischen der Exekutive und einem Gericht über die Zuge hörigkeit der Staatsanwaltschaft aus, was große Aufmerksamkeit erfuhr und er heblichen Einfluss auf die weiteren Diskussionen hatte. Im Jahre 1924 stellte das Justizministerium den an der Berufungskammer für Wirtschaftssachen in der Bundeshauptstadt tätigen Staatsanwalt Eduardo M. Naón zu einer Forschungs 415
Cortés, Vistas Fiscales Bd. 2, S. 223 ff. Schilderungen des Falles finden sich neben derjenigen von Cortés selbst in seinen Vistas Fiscales Bd. 2, S. 223 ff. bei Malagarriga/Sasso Procedimientos Bd. 1, S. 105 ff.; Villafañe, Ministerio Público, S. 21 ff. sowie besonders ausführlich bei Ayarragaray, ministerio público, S. 232 ff. 416
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reise nach Europa ab und übertrug seine Aufgaben für die Zeit seiner Abwesen heit dem Agente Fiscal Basavilbaso. Die Berufungskammer, welcher Naón zuge ordnet war, sah die Exekutive unter Berufung auf die Judikativstellung des Fiscal de Cámara als nicht zuständig für derartige Entscheidungen an und erklärte den Fiskal schließlich für unerlaubt abwesend. Die Exekutive setzte daraufhin die Er nennung Basavilbasos aus, erhielt aber die Abstellung Naóns aufrecht und erklärte sich mit Dekret vom 23.06.1924 für gegenüber der Staatsanwaltschaft weisungs befugt.417 Der Vorfall führte noch zu einer Anfrage im Abgeordnetenhaus, wobei sich zwei Redner für die Ansicht des Gerichts aussprachen, während der Justiz minister für die Befugnisse der Exekutive eintrat.418 Nicht zuletzt die dargestellten Fälle führten auch in der Lehre zu umfangreichen Diskussionen über die Rechtsnatur des Ministerio Público Fiscal. Verteidiger der Einflussnahme der Exekutive, die für eine vollständige Unterordnung der Staats anwaltschaft unter die vollziehende Gewalt, und damit für Weisungsbefugnisse der Exekutive auch im Strafprozess, eintraten, fanden sich nur wenige. Die be deutendsten unter ihnen waren der bereits genannte Joaquin V. González und der bekannte Strafrechtsgelehrte Tomás Jofré, Autor der Strafverfahrensordnungen der argentinischen Provinzen Buenos Aires und San Luis.419 Der zeitweilige In nenminister González war einer der angesehensten Experten im argentinischen Verfassungsrecht420, weswegen sein Wort nicht nur auf politischer Ebene, sondern auch in der Wissenschaft erhebliches Gewicht hatte. In seinen ausführlichen Erör terungen angesichts der Weigerung des Fiskals Cano, seine Weisungen zu befol gen, entwickelte er eine verfassungsrechtliche Begründung für die Unterordnung des Ministerio Público unter die Exekutive, genauer unter das Justizministeri um.421 Kurz gesagt bestand die Funktion der Staatsanwaltschaft danach darin, als „vermittelnde Institution zwischen den Gewalten“422 Aufgaben der vollziehen 417
Das Dekret findet sich abgedruckt in: Legislación Argentina Bd. 13, S. 36–39. Darstellungen dieses Falls finden sich bei Castro, Curso Bd. 1, S. 309; Alsina, Tratado Bd. 2, S. 351 f.; Ayarragaray, ministerio público, S. 237 ff. 419 Für die Zugehörigkeit des Staatsanwalts auch in seiner Funktion als staatlicher Ankläger zur Exekutive sprachen sich außerdem aus: Torres, in: Jurisprudencia Argentina Bd. 13 (1924), S. 33 ff., 41; Alsina, Tratado Bd. 2, S. 349 ff.; Bielsa, Principios, S. 450; Müller, Doctrina Judicial Nr. 37 (1989), S. 417 ff; Sáenz, La Ley 1994-B, S. 922 ff. (924 f.); wohl auch Oderigo, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 218, Fn. 205. 420 González ist unter anderem Autor eines bis heute als Standardwerk geltenden Lehrbuchs zum argentinischen Verfassungsrecht, war an der Reform der Bundesverfassung im Jahre 1887 beteiligt und erarbeitete den Entwurf für die Verfassung seiner Heimatprovinz La Rioja. Neben seiner Tätigkeit als Politiker und Jurist verfasste er noch eine Reihe von grundlegenden Werken zu Geschichte, Soziologie und Schulwesen seines Landes. Zu Leben und Werk siehe Pettoruti, Revista de la Universidad Nacional de la Plata (1980), S. 133 ff. 421 Der Beschluss González’ wurde unter dem Titel El Ministerio Público y el Poder Ejecutivo Nacional veröffentlicht. 422 „[…] institución intermediaria entre los poderes politicos […]“, González, Ministerio Público, S. 8. Auch in Deutschland ist die These von der Staatsanwaltschaft als „Mittlerin zwischen den Gewalten“ verbreitet, vgl. Koller, Staatsanwaltschaft, S. 121 f. m. w. N. 418
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den Gewalt vor Gericht wahrzunehmen. Zunächst könne die Exekutive ihre klas sische Aufgabe des Gesetzesvollzugs nicht komplett selbständig erfüllen, son dern müsse sich zur Durchsetzung als auch Verteidigung von Rechten des Staates oder der Gesellschaft vielfach an die Judikative wenden. Dafür stehe ihr nur die Staatsanwaltschaft zur Verfügung.423 Die Aufsicht über die Fiskale sei auch keiner lei Einmischung in die Judikativaufgaben, welche klar abgrenzbar seien. Die Ex ekutive unterwerfe sich ja im Gegenteil mittels der Staatsanwaltschaft gerade der Entscheidung der Gerichte und erkenne damit in besonderem Maße die herausge hobene Stellung der Judikative an.424 Hierbei beruft González sich auf die Dokt rin zum nordamerikanischen Verfassungsrecht, explizit auf die Werke Blacks und Cooleys.425 Weiterhin erfülle das Justizministerium über die Staatsanwaltschaft seinen Auftrag, die Einhaltung der Gesetze durch die Gerichte zu überwachen. Dieser Auftrag ergebe sich aus dem zentralen Anliegen der Verfassung einer Ab sicherung der objektiven Rechtsprechung, zu welchem Zwecke nicht nur der Le gislative, sondern auch der Exekutive Kontrollmöglichkeiten zugedacht seien.426 Zur Untermauerung dieses Gedankens verweist González auf die kontinentaleuro päischen Vorbilder in Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien und führt als ausführlicheres Beispiel die italienische Rechtslage an.427 Zudem sieht er im ang loamerikanischen Rechtskreis Parallelen im Amt des Attorney General, da diesem ebenfalls weitreichende Aufgaben zur Harmonisierung von Exekutive und Judi kative sowie zum Schutz der Verfassungsvorschriften sowohl gegen Angriffe ein zelner als auch des Staates oblägen.428 Daraus, dass sich die Staatsanwaltschaft um die Vertretung der Interessen des Staates, als Gemeinschaft oder als Indivi duum, vor Gericht kümmere und außerdem für die Exekutive die Einhaltung der Gesetze durch die Justiz überwache, ergebe sich im Ergebnis klar ihre Zugehö rigkeit zur vollziehenden Gewalt. Die Abhängigkeit von der Exekutive, welche sich auch in den einfachgesetzlichen Vorschriften zur Ernennung ihrer Beam ten ausdrücke429, bedeute, dass ministerielle Weisungen stets streng zu befolgen seien.430 Jofré nahm in seinen Ausführungen auf González Bezug431 und erklärte eben falls, dass der Staatsanwalt als Vertreter der Exekutive vor den Gerichten agiere. Damit werde nicht gegen die Gewaltenteilung verstoßen, es sei vielmehr ganz üb lich, dass die einzelnen Staatsgewalten sich gegenseitig ergänzten und kontrollier ten. In diesem Rahmen beteilige sich die Exekutive über die Staatsanwaltschaft 423
González, Ministerio Público, S. 6, 8 f. González, Ministerio Público, S. 18 f. 425 González, Ministerio Público, S. 17 f. mit den entsprechenden Nachweisen. 426 González, Ministerio Público, S. 6 f. 427 González Ministerio Público, S. 10 f. m. w. N. 428 González, Ministerio Público, S. 15 f. 429 González, Ministerio Público, S. 20 f. 430 González, Ministerio Público, S. 19 f. 431 Vgl. das Zitat González’ bei Jofré, Prólogo, in: Ayarragaray, ministerio público, S. VIII f. sowie die Fn. [c] bei Jofré, Manual Bd. 1, S. 218. 424
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am Strafprozess. Dies sei nichts Besonderes, sondern geltendes Recht in euro päischen Staaten wie England, Frankreich und Spanien.432 Es ließe sich zwar nicht ausschließen, dass die vollziehende Gewalt ihre Befugnisse einmal missbrauche und einen missliebigen Fiskal absetze; diese Gefahr sei jedoch weniger schwer wiegend als die Nachteile, welche entstünden, würde man die Staatsanwaltschaft für von der Exekutive unabhängig erklären.433 Der Gouverneur einer Provinz oder der Staatspräsident könnten ohnehin über das Begnadigungsrecht auf die Strafe einwirken. Der anordnende Minister stehe zudem viel mehr in der Öffentlichkeit als ein einfacher Staatsanwalt, weswegen er einfacher zu kontrollieren sei. Dem gegenüber werde der Rechtsfrieden gefährdet, wenn die Regierung bei schwerwie genden Fehlurteilen nicht eine Korrektur fordern könne, indem sie den Staatsan walt zur Einlegung von Rechtsmitteln anweist.434 Die einfachgesetzliche Regelung des Art. 123 des Gesetzes Nr. 1893 stünde dem zwar entgegen, da sie unzweifel haft den Fiskalen an den Berufungskammern der Bundeshauptstadt eine richter gleiche Unabhängigkeit zubillige, dies sei aber verfassungswidrig. Die Diskussio nen zur Normierung der Bundesgerichtsbarkeit im Jahre 1858435 sowie Art. 45 der Bundesverfassung, der die Amtsträger, die nur durch einen politischen Prozess ab setzbar sind, aufzählt, aber die Staatsanwaltschaft nicht erwähnt, machten deut lich, dass die Verfassungsgeber den Staatsanwälten keinen richtergleichen Status hätten geben wollen.436 Die, wenn auch bedeutenden, Meinungen González’ und Jofrés blieben in der Wissenschaft jedoch die Ausnahme. Die große Mehrheit der Autoren sprach sich strikt gegen eine Abhängigkeit des staatlichen Anklägers im Strafverfahren von der Exekutive aus. Als Ursache der Konflikte um die Staatsanwaltschaft machte man übereinstimmend, wenn auch mit leicht abweichender Terminologie, die aus der dargestellten Gesetzeslage resultierende unklare Trennung zwischen zwei grundlegend unterschiedlichen Staatsfunktionen aus. Klar zu unterscheiden seien die Strafverfolgung in Vertretung des Gesetzes bzw. der Gesellschaft bzw. des Vol kes auf der einen Seite und die Vertretung der Individualinteressen des Staates auf der anderen. Die Exekutive habe unzweifelhaft das Recht, auf die Wahrung der subjektiven Interessen des Staates vor Gericht durch Weisungen einzuwirken. Die Strafverfolgung bedürfe dagegen der Objektivität und sei nur an Recht und Ge setz gebunden, weswegen sie von jedweden politischen Erwägungen ferngehal ten werden müsse.437 Der traditionelle Einfluss der Regierung auf die staatlichen 432
Jofré, Prólogo, in: Ayarragaray, ministerio público, S. X f.; Jofré, Manual Bd. 1, S. 217 f., 221 f. 433 Jofré, Manual Bd. 1, S. 220. 434 Jofré, Prólogo, in: Ayarragaray, ministerio público, S. XIII f. 435 Zu diesen Diskussionen, bei denen sich die Meinung durchgesetzt hatte, dass die Staats anwälte frei absetzbar seien, siehe schon oben das 2. Kapitel, B. II. 2. 436 Jofré, Manual Bd. 1, S. 220 f. Zustimmend Bielsa, Principios, S. 450, Fn. 42. 437 Frías, Derecho Procesal Bd. 1, S. 108; Avellaneda Huergo, Ministerio Fiscal, S. 17 ff.; Ayarragaray, ministero público, S. 303 ff.; Castro, Curso Bd. 1, S. 306 ff.; Alcalá-Zamora y Castillo/Levene (h.), Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 378 ff.; Vélez Mariconde, Derecho
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3. Kap.: Die Entscheidung für den Inquisitionsprozess
Ankläger in Argentinien wie auch in den europäischen Staaten, wo die Staatsan waltschaft eindeutig der Exekutive unterworfen war, sei ein Relikt der monarchi schen Staatsformen, in denen die Rechtsprechung als Zweig der vollziehenden Gewalt gegolten hatte. Nach Einführung der Gewaltenteilung verstießen entspre chende Weisungen gegen Art. 95 der argentinischen Bundesverfassung, wonach der Staatspräsident keine Justizfunktionen wahrnehmen darf.438 Die wichtigste Argumentation für die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft lieferte der Begründer des modernen argentinischen Strafverfahrensrechts, Alfredo Vélez Mariconde439, indem er mit einer auf italienischen Quellen aufbauenden, fundierten dogmatischen Begründung ihre Anklagefunktion von exekutivischen Aufgaben abgrenzte und als der Judikative zugehörig einordnete. Nach einer kri tischen Betrachtung der französischen440 und italienischen Staatsanwaltschaft441 sowie des Ministerio Público in Argentinien, kam Vélez Mariconde zum Schluss, dass die Lösung des Problems der Rechtsnatur der Staatsanwaltschaft nicht in der gegenwärtigen Rechtslage, sondern in der Natur der staatsanwaltlichen Funktio nen zu suchen sei. So sei es ein Zirkelschluss, aus einer gesetzlichen Zuordnung der Staatsanwaltschaft zur Exekutive darauf zu schließen, dass es sich bei ihr tat sächlich um ein Organ der Exekutive handele. Seien ihre Aufgaben typischer weise solche des Gesetzesvollzugs, sei sie auch der vollziehenden Gewalt zuzu ordnen, gehörten sie dagegen zur Rechtsprechung, müsse die Staatsanwaltschaft vollständig von der Exekutive unabhängig sein.442 Im Folgenden übernimmt er die Doktrin einer Reihe von italienischen Strafrechtsgelehrten, namentlich von Man zini, Romano, Calamandrei und Carnelutti.443 Danach zeichnet sich der staatliche Ankläger dadurch aus, dass er gleich einem Richter das Ziel einer gerechten An Procesal Penal Bd. 1, S. 250; De la Riestra, Jurisprudencia Argentina 1963–6, S. 426 ff. (427 ff.); Vanossi, El Derecho 101 (1983), S. 528 ff. (533 f.); Rodríguez, El Derecho 135 (1990), S. 995 ff. (995 f.); Palacio, Derecho Procesal Civil Bd. 2, S. 594 f. 438 Ayarragaray, ministerio público, S. 300, 303 ff.; De la Riestra, Jurisprudencia Argen tina 1963–6, S. 426 ff. (426 f.); Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 243, 260; Claría Olmedo, Tratado Bd. 2, S. 286 f.; Díaz Cantón, La Ley 1994-C, S. 855 ff. (855 f.). 439 Vélez Mariconde, Professor an der renommierten juristischen Fakultät der Universität Córdoba, war Mitautor der bis heute für das argentinische Strafverfahrensrecht maßgebli chen Strafprozessordnung der Provinz Córdoba aus dem Jahre 1940. Vgl. dazu unten 4. Kapi tel, A. I. 440 Die französische Staatsanwaltschaft sei organisatorisch der Exekutive zugeordnet, aber in der mündlichen Verhandlung selbst frei, was ein Eingeständnis sei, dass die Staatsanwalt vor Gericht nicht von der Exekutive abhängig sein dürfe, vgl. Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 244 ff. m. w. N. 441 Die Regelungen in Italien stellten einen Fortschritt zu denen in Frankreich dar, da der Staatsanwaltschaft die Garantie der Unabhängigkeit zugebilligt werde. Das Aufsichtsrecht des Justizministeriums führe aber dennoch in der Praxis zu einer Abhängigkeit von der Judikative, vgl. Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 246 ff. m. w. N. 442 Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 248 f. 443 Vgl. dazu die Vielzahl an Nachweisen bei Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 251 ff. Zur Rezeption der Judikativstellung der Staatsanwaltschaft aus dem italie nischen Recht siehe auch Cruz, La función acusadora, S. 48 f.
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wendung der Strafgesetze verfolgt und daher wie dieser die Beweise streng objek tiv und nur auf Grundlage der Gesetze bewertet. Der einzige, rein formale Unter schied bestehe darin, dass der Staatsanwalt als Folge seiner Bewertung lediglich fordernd tätig werde, während der Richter zur unmittelbaren Rechtsgestaltung be rufen sei.444 Weiter den Gedankengängen der genannten italienischen Autoren fol gend, grenzt Vélez Mariconde dann zunächst abstrakt zwischen Exekutiv- und Ju dikativaufgaben des Staates ab. Während Rechtsprechung bedeute, dass der Staat das Recht objektiv als Außenstehender auf andere anwende, sei der Gesetzesvoll zug davon geprägt, dass der Staat eigene Ziele verfolge und sich dem Recht unter werfe, welches seine Handlungsfreiheit beschränke.445 Die Strafverfolgung stelle eine disziplinierende Reaktion von außen auf die Verletzung der Rechtsordnung dar und gehöre damit zu den Judikativaufgaben.446 Die Staatsanwaltschaft, welche sich nur formal vom Richter getrennt, über den Parteiinteressen stehend und eine gerechte Rechtsanwendung anstrebend an der Strafverfolgung beteilige, sei dem nach der Judikative zuzuordnen.447 Allerdings plädierten nicht alle Stimmen, welche eine Abhängigkeit der Ankla gebehörde von der Exekutive ablehnten, wie Vélez Mariconde für ihre Einglie derung in die Judikative. Einige Autoren betonten die Aufgabe der Staatsanwalt schaft, die Einhaltung der Gesetze durch das Gericht zu überwachen, und schlossen daraus schon früh, dass sie nicht nur von der vollziehenden, sondern auch von der rechtsprechenden Gewalt unabhängig sein müsse.448 So forderte bspw. Ayarragaray konkret, den Gerichten die Disziplinarbefugnis über die Anklagebehörde zu ent ziehen.449 Angesichts dessen, dass die Rechtsprechungsorgane auch untereinan der weitgehende Autonomie genießen, blieb die Abgrenzung dieser Strömung von der Position derer, welche für eine Judikativstellung der Staatsanwaltschaft ein traten, jedoch unscharf.450 In den letzten zwei Jahrzehnten des zwanzigsten Jahr hunderts wurde der Gedanke der Unabhängigkeit der staatlichen Ankläger auch gegenüber der Judikative zunächst auf verfassungsrechtlichem Gebiet wieder auf 444
Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 250 ff. Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 254 f. 446 Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 257 f. 447 Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 258 ff. 448 Avellaneda Huergo, Ministerio Fiscal, S. 20 ff.; Ayarragaray, ministerio público, S. 308; Castro, Curso Bd. 1, S. 307; Barraquero, La Ley 119 (1965), S. 1141 ff. (1141). 449 Ayarragaray, ministerio público, S. 308. 450 Ein beredtes Beispiel hierfür bietet die Beschreibung des Konflikts zur institutionellen Ausgestaltung der Staatsanwaltschaft in Argentinien durch Coussirat, in: Instituto Argentino de Estudios Constitucionales (Hrsg.), Derecho Constitucional Bd. 2, S. 314 f. Er meint, die Posi tionen derjenigen, welche für eine Judikativstellung der Staatsanwaltschaft eintraten, und der jenigen, welche sie außerhalb der klassischen Gewalten ansiedeln wollten, ließen sich zusam menfassen, da beide die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft anstrebten. Tatsächlich besteht aufgrund dieser Gemeinsamkeit eine Affinität zwischen den beiden Positionen, sie sind aber keineswegs identisch, da es durchaus denkbar ist, die staatliche Anklagebehörde sowohl von der Exekutive als auch von den Gerichten abzukoppeln. Vgl. dazu die Ausführungen unten im 5. Kapitel, A. II. 3. 445
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3. Kap.: Die Entscheidung für den Inquisitionsprozess
gegriffen und zu einer Stellung der Staatsanwaltschaft ausdrücklich außerhalb der klassischen Gewalten ausgebaut.451 Im Jahre 1994 schließlich fand diese Auffas sung Eingang in die argentinische Bundesverfassung und läutete eine neue Phase in der Organisation des Ministerio Público Fiscal ein.452 Bis dahin blieb es allerdings bei der dargestellten unklaren und widersprüch lichen Organisation des Ministerio Público Fiscal, welche de facto dazu führte, dass die Exekutive die Unabhängigkeit der Staatsanwälte an den Berufungsinstan zen weitgehend anerkannte, im Gegenzug aber erheblichen Einfluss auf die an ers ter Instanz tätigen Fiskale ausübte. 5. Zusammenfassung
Es lässt sich demnach eine Zweiteilung in der Organisationsstruktur der Bun desstaatsanwaltschaft ausmachen. Die in den höheren Instanzen tätigen Anklä ger, also der Generalstaatsanwalt sowie die Fiskale an den Berufungsgerichten, wurden den Richtern der Gerichte, denen sie zugeordnet waren, gleichgestellt und genossen die der Judikative zustehende Unabhängigkeit von der Exekutive, was insbesondere ihre Unabsetzbarkeit zur Folge hatte. Die in erster Instanz tä tigen Staatsanwälte dagegen, also die Procuradores und Agentes Fiscales, wur den eindeutig der Exekutive zugeordnet, sie waren absetzbar und weisungsgebun den. Alle Angehörigen des Ministerio Público waren der Aufsicht des Obersten Gerichtshofes unterstellt. Die erstinstanzlichen Fiskale unterlagen zudem noch der Kontrolle durch die Berufungsgerichte. Wenn man dazu ihre grundsätzliche Ver pflichtung gegenüber den ihnen vorgesetzten Exekutivorganen bedenkt, wurden sie gleich in dreifacher Hinsicht in ihrer Amtsausübung überwacht. Aufgrund des Fehlens einer gesetzgeberischen Grundentscheidung in Form einer einheitlichen Regelung setzte sich also schlicht die koloniale Organisations struktur der Fiskale fort, wonach die ranghöheren Ankläger Mitglieder der audiencias, also der königlichen Gerichte, gewesen waren, während die in erster Instanz tätigen Staatsanwälte jeweils von den Bürgermeistern oder anderen Regierungs beamten ernannt wurden, die in ihrem Machtbereich auch die Rechtsprechung wahrnahmen.453 Im republikanischen Argentinien mit seiner Gewaltenteilung führte dies zu einer organisatorischen Zerrissenheit innerhalb der Bundesstaatsanwalt schaft zwischen Exekutive und Judikative, welche deutlich das Grundproblem der staatsanwaltlichen Organisation aufzeigt. Der Stellung des Staatsanwalts als Ankläger entspricht am ehesten eine Ausgestaltung als Exekutivorgan. Vieles 451 Vanossi, El Derecho 101 (1983), S. 528 ff. (532 ff.); Sagües, La Ley 1987-E, S. 848 ff. (852 f.); ihnen folgend Monti, El Derecho 130 (1989), S. 869 ff. (871 ff.) und Rodríguez, El Derecho 135 (1990), S. 995 ff. 452 Siehe dazu ausführlich unten 5. Kapitel, A. II. 3. 453 Siehe dazu oben 2. Kapitel, A. II.
B. Das spanische Modell
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spricht dafür, dass die Anklagetätigkeit wie von González und Jofré angenommen als Gesetzesvollzug einzuordnen ist.454 Nur durch einen einer Exekutivbehörde vergleichbaren hierarchischen Aufbau mit Weisungs- und Ersetzungsmöglichkei ten lässt sich eine einheitliche Amtsausübung garantieren, welche für eine gleich mäßige Strafverfolgung (Recht des Angeklagten auf Gleichheit vor dem Gesetz) und auch aus Effektivitätsgesichtspunkten sinnvoll ist. Dies setzt sich allerdings in einen gewissen Widerspruch zu der verfahrensrechtlichen Rolle des Fiskals im argentinischen Inquisitionsprozess. Danach wird er nicht als Ankläger im Sinne eines Parteiverfahrens gesehen, sondern soll in gleichem Maße ein gerechtes Urteil anstreben wie der Richter.455 Logische Konsequenz ist seine Einordnung in die Ju dikative. Denn um die richtergleiche Objektivität des staatlichen Anklägers orga nisatorisch abzusichern, ist es erforderlich, ihn von behördenexternen, und streng zu Ende gedacht auch von behördeninternen, Einflüssen unabhängig zu machen, wie es Vélez Mariconde unter Bezugnahme auf italienische Vorbilder forderte. Die Gefahren der Zuordnung der Staatsanwaltschaft zur Exekutive werden gerade in Argentinien besonders deutlich, wo die vollziehende Gewalt ohnehin eine her ausgehobene Stellung im Verfassungssystem besitzt und tatsächlich zumindest in Einzelfällen auch versuchte, ihren Einfluss über die Fiskale auf das Strafverfah ren auszudehnen.456 Der Streit um die Einordnung der Bundesstaatsanwaltschaft in das Verfassungsgefüge sollte erst mehr als hundert Jahre nach Erlass des CPPN (1889) im Wege einer Verfassungsreform entschieden werden. Bis dahin ließ sich von einer zusammenhängenden, einheitlich ausgestalteten und gleichmäßig agie renden Anklagebehörde auf Bundesebene nicht sprechen.
454
Siehe dazu nur Bovino, in: ders./Hurtado, Justicia Penal y Derechos Humanos, S. 210 ff. sowie auf deutscher Seite die ausgezeichnete verfassungsrechtliche Analyse von Koller, Staats anwaltschaft, S. 311 ff. 455 Siehe dazu weiter unten 3. Kapitel, B. II. sowie allgemein zur Rolle des Staatsanwalts in der inquisitorischen Verfahrensstruktur schon oben 1. Kapitel, B. II. 456 Interessant ist, dass es sich bei der Einflussnahme der Exekutive auf die neu entstandene Staatsanwaltschaft um kein isoliertes, allein auf das argentinische Präsidialsystem zurück zuführendes Phänomen handelt. So haben neuere Forschungen in Deutschland gezeigt, dass die dortige Erschaffung der Staatsanwaltschaft in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts keineswegs ausschließlich auf liberale Vorstellungen zurückging, sondern vor allem aus dem Bestreben der Obrigkeit heraus geschah, über die staatlichen Ankläger wieder den Einfluss auf die Strafjustiz zu gewinnen, der ihr durch die Unabhängigkeit der Gerichte zunehmend ver loren gegangen war. Vgl. dazu Collin, Wächter des Gesetzes, S. 403, 405; Krebs, Weisungs gebundenheit, S. 33 f.; Knobloch, Legalität, S. 256, sowie schon oben Fn. 13.
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3. Kap.: Die Entscheidung für den Inquisitionsprozess
III. Die Stellung der Staatsanwaltschaft im Verfahren des CPPN (1889) 1. Die Einführung des Anklagegrundsatzes in den argentinischen Inquisitionsprozess
In den Motiven zu seinem Entwurf stellte Obarrio grundsätzliche Überlegungen dazu an, welches Strafverfahrenssystem für Argentinien geeignet sei. Die Erfah rung habe gezeigt, dass die Möglichkeit der Privatklage im argentinischen Straf verfahren nur äußerst selten wahrgenommen werde. Es liege im Wesen der Argen tinier, die Strafverfolgung der Obrigkeit zu überlassen.457 Obarrio sah daher ein allein auf Privatklagen basierendes Parteiverfahren, wie es in England existierte, für sein Heimatland als ungeeignet an.458 An anderer Stelle legte er dar, dass aber auch nicht der Richter derjenige sein dürfe, der das Strafverfahren einleite, da dies mit seiner Unparteilichkeit nicht vereinbar sei.459 Die Betonung des öffentlichen Strafverfolgungsinteresses und die gleichzeitige Ablehnung von dessen extrems ter Durchsetzung durch einen Inquisitor, welcher Anklage- und Urteilsfunktion in sich vereint, führte notwendig zu der Schlussfolgerung, das Gericht von An klageerhebung durch ein anderes Staatsorgan, den Staatsanwalt, abhängig zu ma chen. Folgerichtig fand sich im Entwurf Obarrios und dem späteren CPPN (1889) auch die Figur eines staatlichen Anklägers, der dem sog. Ministerio Fiscal zuge ordnet ist, Art. 114 ff. CPPN (1889). Der Staatsanwalt, dessen Bezeichnung als fiscal noch aus dem Kolonialrecht stammt460, übte stets die Anklagefunktion aus, soweit nicht eines der seltenen Privatklagedelikte vorlag. Solche Delikte konnten nur vom Opfer oder seinem Vertreter verfolgt werden, die aber auch bei allen an deren Delikten neben dem staatlichen Ankläger als Privatkläger auftreten durften, Art. 14 CPPN (1889).461 Die Aufgaben des Fiskals im Verfahren waren im Art. 118 des CPPN (1889) zusammengefasst. Danach sollte er die Aufdeckung und die ge richtliche Würdigung von Straftaten fördern, indem er die ihm dafür notwendig er 457
Es ist zu vermuten, dass die Seltenheit von Privatklagen weniger auf die kulturellen Unter schiede zwischen Argentiniern und Engländern oder US-Amerikanern zurückzuführen ist als vielmehr auf die erheblichen Risiken für den Privatkläger im Inquisitionsprozess. Vgl. zu die sen Risiken die Ausführungen oben im 2. Kapitel, A. I. 458 Obarrio, Proyecto de Código de Procedimientos en Materia Penal, S. XII f. 459 Obarrio, Proyecto de Código de Procedimientos en Materia Penal, S. XLIV. 460 Siehe dazu schon oben 2. Kapitel, A. 461 Jofré kritisiert das Zusammenwirken mit dem Argument, dass mit staatlichem und pri vaten Ankläger zwei unvereinbare Elemente des inquisitorischen bzw. adversatorischen Ver fahrens aufeinanderträfen, vgl. Jofré, Procedimiento Criminal Argentino, Einführung, S. IX f. Richtig ist, dass der Staatsanwalt aufgrund seiner Unterordnung unter das inquisitorische Sys tem der Wahrheitsfindung zur Objektivität verpflichtet ist, weshalb sein Interesse zumindest theoretisch nicht mit dem des Privatklägers deckungsgleich ist. Zur Wahrung der Unparteilich keit des staatlichen Anklägers ist daher eine strikte Trennung zwischen der prozessualen Stel lung des Staatsanwalts und des Privatklägers vorzunehmen, welche im gemeinrechtlichen In quisitionsprozess nicht existierte.
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scheinenden Maßnahmen beantragt, Art. 118 Nr. 1. Er sollte sich an der Beweis erhebung beteiligen und alle Rechtsbehelfe wahrnehmen, die das Gesetz für ihn vorsieht, Art. 118 Nr. 2. Und schließlich sollte er auf eine Einhaltung der gesetzli chen Vorschriften im Strafprozess hinwirken, Art. 118 Nr. 3–5. Der CPPN (1889) übernahm also mit dem spanischen Recht die Konzeption aus Kontinentaleuropa, wonach der staatliche Ankläger als objektiver Hüter des Gesetzes agiert, dessen Aufgabe darin besteht, die richterliche Untersuchung zu unterstützen, aber auch zu kontrollieren. Im Gegensatz zum klassischen Inquisitionsprozess wurde die grundsätzliche Abhängigkeit des Gerichts von der Anklageerhebung des Fiskals demnach anerkannt, ohne damit allerdings einen Systemwechsel zum adversatori schen Verfahren zu vollziehen.462 Vielmehr passte man die Figur des Staatsanwalts so weit wie möglich an die inquisitorische Form der Wahrheitsfindung an, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. 2. Vorverfahren
Neben dem für die Leitung der Ermittlungen zuständigen Untersuchungsrich ter spielte der Fiskal im Vorverfahren des CPPN (1889) nur eine untergeordnete Rolle. Der staatliche Ankläger konnte zu der Einleitung der Ermittlungen beitragen, indem er entweder eine bei ihm gestellte Anzeige, also die Information eines Pri vaten über die Begehung einer Straftat, an den Untersuchungsrichter weiterleitete, Art. 155, 169 CPPN (1889), oder aber selbst Klage, querella, erhob und so das Verfahren in Gang setzte, Art. 171 CPPN (1889).463 Wies der Richter eine Klage des Fiskals zurück, weil die dort bezeichnete Tat seiner Meinung nach nicht straf bar war oder nicht in seinen Zuständigkeitsbereich fiel, konnte der Fiskal dagegen mit dem Rechtsmittel der Berufung vorgehen, Art. 200 CPPN (1889). Eine Ver fahrenseinleitung durch die Staatsanwaltschaft stellte in der Praxis allerdings die große Ausnahme dar, da der Richter nach Art. 179 Nr. 4 CPPN (188) bereits von 462
Obarrio geht darauf in seinen Motiven nicht ein. An anderer Stelle bemerkt er zur Be gründung des Akkusationsprinzips, dass es sich bei der Hauptverhandlung im Strafprozess wie im Zivilprozess um einen „Parteiprozess, ein kontradiktorisches Verfahren“ handele, vgl. ders., Proyecto de Código de Procedimientos en Materia Penal, S. XLIV. Der Vergleich mit dem vom Inquisitionsprozess völlig verschiedenen Parteiverfahren in Zivilsachen lässt darauf schließen, dass Obarrio, der nur drei Monate Zeit zur Erarbeitung des gesamten Entwurfs hatte (vgl. dazu das ebd. auf S. IV abgedruckte Dekret), die dargestellten Regelungen dem spanischen Vorbild entnahm, ohne sich näher damit auseinanderzusetzen. 463 Die querella, mit der das Ermittlungsverfahren erst in Gang gesetzt wurde, ist nicht mit der förmlichen acusación zu verwechseln, durch die der Staatsanwalt nach Abschluss des Ermitt lungsverfahrens die Voraussetzung für den Übergang ins Hauptverfahren schuf, Art. 463 CPPN (1889). Zu dieser Unterscheidung und der auch im Gesetz nicht ganz einheitlichen Termino logie siehe Alcalá-Zamora y Castillo/Levene (h.) Derecho Procesal Penal Bd. 2, S. 83 ff., 332 f. und auch schon die Ausführungen oben im 2. Kapitel, A. III. 2., 3.
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3. Kap.: Die Entscheidung für den Inquisitionsprozess
Amts wegen ermitteln konnte. Normalerweise erfuhr der Fiskal erst dadurch von den Ermittlungen, dass der Richter ihn gemäß Art. 182 Nr. 6 CPPN (1889) über die Verfahrenseinleitung informierte.464 Die Beteiligung des Fiskals an den Ermittlungen bestand darin, dass er wie auch der Verteidiger beim Richter Ermittlungsmaßnahmen beantragen konnte, Art. 198 CPPN (1889). Gegen die Ablehnung des Untersuchungsrichters war kein Rechts behelf zugelassen, der Fiskal konnte den Antrag lediglich erneut im Hauptver fahren stellen, Art. 198, 202 CPPN (1889).465 Ein erheblicher Vorteil des Fiskals gegenüber dem Beschuldigten in dieser Verfahrensphase war, dass das Ermitt lungsverfahren für ihn nicht geheim war. So durfte er als Einziger neben dem Richter bei der Zeugenvernehmung anwesend sein, Art. 293 CPPN (1889). Da durch gewann er einen weitaus besseren Überblick über das Verfahren und ver mochte viel zielgerichteter Ermittlungsanträge zu stellen als dies der Verteidigung möglich war. Die Rechtfertigung dafür dürfte der Gesetzgeber darin gesehen ha ben, dass der Fiskal nach Art. 118 CPPN (1889) eben nicht Ankläger im materiel len Sinne, sondern richterähnliches objektives Staatsorgan war. So galt dieser Vor teil nicht für den Privatkläger, Art. 203 CPPN (1889).466 Auf den Abschluss des Ermittlungsverfahrens hatte der Staatsanwalt grundsätz lich keinen Einfluss. Die Entscheidung, bis zu einer ausreichenden Beweislage weiterzuermitteln oder aber das Verfahren einzustellen, oblag allein dem Richter, Art. 429, 432 CPPN (1889). Allerdings waren der Staatsanwalt und, soweit vor handen, auch der Privatkläger vor der Verfahrenseinstellung anzuhören und konn ten dagegen das Rechtsmittel der Berufung einlegen, Art. 441 CPPN (1889). Auch bei Korrektionalsachen sollte der Staatsanwalt schon in der Ermittlungs phase von Anfang an beteiligt sein, er war vom Richter zu benachrichtigen, so bald dieser von der Begehung einer Straftat Kenntnis erlangte, Art. 570 CPPN (1889). Allerdings wurden die Ermittlungen wegen solcher, mit bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe bedrohten Straftaten entgegen der gesetzlichen Vorgaben der Art. 569 ff. CPPN (1889) in der Praxis regelmäßig auf die Polizei übertragen, wel che diese selbständig durchführte.467 Sogar die Vernehmung des Beschuldigten er folgte allein durch einen Polizeibeamten und wurde vom Richter lediglich noch einmal ratifiziert.468 Der Staatsanwalt war wie auch die Verteidigung darauf be schränkt, im Nachhinein rechtswidrige Untersuchungsmaßnahmen zu rügen und zusätzliche Beweiserhebungen zu beantragen. Seine Beteiligungsmöglichkeiten waren damit im Untersuchungsabschnitt des Korrektionalverfahrens noch gerin ger als im regulären Vorverfahren. 464
Frías, Derecho Procesal Bd. 2, S. 95; Castro, Curso Bd. 2, S. 226. Kritisch dazu Frías, Derecho Procesal Bd. 2, S. 42 f. 466 Siehe dazu auch Jofré, Manual Bd. 2, S. 83, der die „Ungleichheit zwischen Anklage und Verteidigung“ (Übers. d. Verf.) kritisiert, diese Erwägung aber nicht anspricht. 467 Malagarriga/Sasso, Procedimientos Bd. 2, S. 201. 468 Siehe Sobral, Estudios Prácticos, S. 326 f., der diese Praxis als gesetzeswidrig kritisiert. 465
B. Das spanische Modell
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3. Hauptverfahren a) Die Entscheidung über die Anklageerhebung und ihre Überprüfung
Da die Abschlussverfügung, also die Beendigung des Vorverfahrens, dem Un tersuchungsrichter oblag und kein eigenständiges Zwischenverfahren vorgesehen war, war die Anklageerhebung durch den Staatsanwalt nach der Systematik des CPPN (1889) schon Teil des Hauptverfahrens.469 Nachdem der Richter des Haupt verfahrens von dem Untersuchungsrichter die Ermittlungsakten erhalten hatte, Art. 429 CPPN (1889), gewährte er dem Fiskal Akteneinsicht, damit dieser über die Anklageerhebung entscheiden konnte, Art. 457 CPPN (1889). Erhob der Fiskal Anklage, wurde sie dem Angeklagten zugestellt, damit er seine Verteidigungs schrift formulierte, und das Verfahren ging in die Phase der Hauptverhandlung über, Art. 463 CPPN (1889). Der notwendige Inhalt der Anklageschrift des Staatsanwalts war gesetzlich nicht geregelt. Zwar fanden sich im Rahmen der Vorschriften zum Vorverfahren in Art. 176 CPPN (1889) recht genaue Vorgaben zu der die Untersuchungen einlei tenden Klage, der querella, und Art. 181 CPPN (1889) bestimmte, dass das Ver fahren auf Grundlage der Klage stattfindet. Entsprechende Vorschriften für die formale Klageerhebung zur Eröffnung des Hauptverfahrens nach Art. 463 CPPN (1889) fehlten demgegenüber. Ist der angeklagte Sachverhalt nicht ausreichend be stimmt, bedeutet dies aber die Entwertung des Anklagegrundsatzes, da die Gren zen der richterlichen Ermittlungs- und Urteilstätigkeit nicht klar definiert sind. Lehre und Rechtsprechung entwickelten daher aus dem in Art. 18 der argentini schen Bundesverfassung garantierten Recht des Beschuldigten auf Verteidigung, dass die Anklage genau die angeklagten Taten und deren rechtliche Bewertung darlegen musste. Aus den gleichen Erwägungen heraus durfte der Staatsanwalt nach Anklageerhebung noch seine rechtliche Bewertung der angeklagten Taten zu Lasten des Angeklagten ändern, nicht jedoch im selben Prozess nachträglich we gen Taten eine Bestrafung fordern, die nicht in der ursprünglichen Anklageschrift enthalten waren.470 Einen Sonderfall zur Verfahrensverschlankung stellte die Vorschrift des Art. 467 CPPN (1889) dar. Danach konnte der Staatsanwalt in seiner Anklageschrift be antragen, auf die Beweisaufnahme im Hauptverfahren zu verzichten. Soweit die 469 Die entsprechenden Regelungen finden sich im ersten Titel des dritten Buches „Über das Hauptverfahren“ („Del plenario“). 470 Vgl. zum Ganzen Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 409 f.; Alcalá-Zamora y Castillo/Levene (h.) Derecho Procesal Penal Bd. 3, S. 173, 249 f.; Claría Olmedo, Tratado Bd. 4, S. 399 ff. Aus den gleichen Gründen ist in § 200 der deutschen Strafprozessordnung der notwendige Inhalt der Anklageschrift definiert und der Staatsanwalt kann nach § 266 Abs. 1 StPO nur dann noch weitere Straftaten nachträglich anklagen, wenn der Angeklagte zu stimmt.
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3. Kap.: Die Entscheidung für den Inquisitionsprozess
Verteidigung ebenfalls einen solchen Verzicht aussprach, ging das Verfahren direkt in die Urteilsfindung über, Art. 467 CPPN (1889).471 Komplizierter gestaltete sich der Verfahrensgang, wenn der Staatsanwalt für eine Einstellung des Verfahrens plädierte. Gab es ausnahmsweise einen Privat kläger, reichte dessen Anklage für eine Verfahrensfortführung nach Art. 463 CPPN (1889).472 Gab es keinen Privatkläger oder war dieser ebenfalls der Meinung, dass das Verfahren nicht fortgeführt werden sollte, stellte der Richter des Hauptver fahrens das Verfahren ein, wenn auch er keine ausreichende Grundlage für eine Anklageerhebung sah, Art. 460 CPPN (1889). War der Richter jedoch der An sicht, dass die Hauptverhandlung eröffnet werden sollte, legte er die Sache dem Staatsanwalt an der jeweils nächsthöheren Instanz vor, Art. 460 CPPN (1889). Bestätigte der die Verfahrenseinstellung, musste der Richter den Einstellungs beschluss erlassen. Stimmte er aber mit dem Richter überein, ließ der Richter den untergeordneten Staatsanwalt ersetzen und ordnete die Erstellung der An klage an, Art. 461, 462 CPPN (1889). In dem bis dahin in Argentinien praktizier ten Strafverfahren genauso wie in dem von Obarrio herangezogenen spanischen Vorbild konnte der Richter die fehlende Anklageerhebung des Fiskals ersetzen und selbständig das Hauptverfahren einleiten.473 Obarrio dagegen erkannte, wie aus den Motiven zu seinem Entwurf eindeutig zu entnehmen ist, das Akkusa tionsprinzip grundsätzlich an. Er war der Meinung, dass auch der Strafprozess ein Dreipersonenverhältnis sei und der Person des Anklägers bedürfe; übernehme der Richter diese Rolle, sei das unvereinbar mit seiner Pflicht zur Unparteilich keit.474 Dennoch wollte er die Entscheidung über die Fortführung des Verfahrens nicht allein in die Hände eines Staatsanwalts geben, da sonst Gefahren für das all gemeine Strafverfolgungsinteresse bestünden. Um eine sorgfältige Ausübung der Anklagebefugnis zu gewährleisten, entschied er sich daher zu dem Kompromiss, dem Richter eine Überprüfung der staatsanwaltlichen Entscheidung zu ermögli chen.475 Dass daraufhin der übergeordnete Staatsanwalt endgültig die Verfahrens einstellung erzwingen konnte, stellte allerdings einen Fremdkörper innerhalb der Bundesstrafverfahrensordnung von 1889 dar. Grundsätzlich standen der Staatsan waltschaft dort nämlich nur Antragsrechte zur Verfügung, war ein Verfahren ein 471 Die Vorschrift stellt keinen systematischen Bruch dar, weil den Beteiligten lediglich Dis ponibilität über die Hauptverhandlung, nicht jedoch wie in einem reinen Parteiverfahren über das Verfahren als Ganzes eingeräumt wird. Der Richter ist nach wie vor frei in seiner Urteil stätigkeit. Die Möglichkeit des Verzichts auf ein eigenständiges Hauptverfahren als Quelle der Wahrheitsfindung und das Vertrauen, dass der Richter dennoch objektiv entscheiden werde, zeugen ganz im Gegenteil vom stark inquisitorischen Grundverständnis des Gesetzes, welches das Beschuldigteninteresse nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt. 472 Jofré, Manual Bd. 2, S. 162. 473 Diese Befugnis entspricht der typischen Stellung des Inquisitors als Ankläger und Richter in Personalunion. Siehe dazu auch schon oben das 2. Kapitel, A. III. 3. 474 Obarrio, Proyecto de Código de Procedimiento en Materia Penal, S. XLII f. Siehe dazu auch schon oben 3. Kapitel, B. III. 1. 475 Obarrio, Proyecto de Código de Procedimiento en Materia Penal, S. XLIV f.
B. Das spanische Modell
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mal eingeleitet, lag die endgültige Entscheidung über seinen Abschluss immer beim Richter.476 In der augenscheinlichen Diskrepanz zwischen der völlig fehlenden Über prüfung der staatsanwaltlichen Anklage und der umfangreichen Kontrolle des Ein stellungsantrags zeigen sich deutlich die Leitlinien des Strafverfahrensverständnis ses im damaligen Argentinien. Es bestand ein grundlegendes Misstrauen gegenüber der Institution einer vom Gericht unabhängigen Staatsanwaltschaft. Die Besorg nis bezog sich allerdings weniger auf eine Missachtung der Beschuldigtenrechte als darauf, dass das Strafverfolgungsinteresse nicht ausreichend gewahrt werden könnte, wenn der Staatsanwalt den Richter in seiner Arbeit behindere. Es hatte sich also noch keineswegs der Gedanke einer innerstaatlichen Machtaufspaltung im Strafprozess zum Zwecke eines besseren Interessenausgleichs durchgesetzt, stattdessen wurde der Gedanke einer umfassenden Strafverfolgung in den Vorder grund gestellt, welcher durch eigenständige staatsanwaltliche Befugnisse bedroht schien. Der fehlende Schutz des Beschuldigten macht deutlich, wie stark dieses Prozessverständnis noch den Grundgedanken des Inquisitionsprozesses verhaftet war, wonach sich das Problem eines Interessenkonflikts nicht stellte, da die objek tive Sicht des Richters das Beschuldigteninteresse mit beinhalten sollte. Deswegen ist die von Obarrio gefundene Lösung für die Überprüfung des staatsanwaltlichen Einstellungsantrags aber nicht zu verurteilen. Da die Letztentscheidung über die Nichterhebung der Anklage nämlich weiterhin bei einem Organ der Staatsanwalt schaft lag, blieb die Aufspaltung zwischen Anklage- und Urteilsfunktion gewahrt, von einer Aushöhlung des Akkusationsprinzips kann keine Rede sein. b) Entscheidungsmaßstab des Fiskals: Das Legalitätsprinzip
Der Fiskal musste grundsätzlich immer dann Anklage erheben, wenn er nach objektiver Prüfung einen für die Weiterführung des Verfahrens ausreichenden Tat verdacht als gegeben erachtete, und durfte umgekehrt nur dann die Verfahrensein stellung beantragen, wenn ein solcher Tatverdacht nach dem Ergebnis des Vor verfahrens nicht vorlag.477 Hatte der Fiskal einmal Anklage erhoben, konnte er sie nicht mehr zurücknehmen und dem zur Letztentscheidung berufenen Gericht die Verfahrensherrschaft entziehen, er hatte lediglich die Möglichkeit, einen Frei 476
Mit dieser Begründung änderte der Schöpfer der folgenden Bundesstrafverfahrensord nung aus dem Jahre 1992, Levene (h.), den Überprüfungsmechanismus dahingehend, dass der Richter das Einstellungsersuchen nicht einem übergeordneten Staatsanwalt, sondern dem Be rufungsgericht vorlegt, vgl. Leneve (h.), Proyecto, S. 7, 24 f. Für eine tiefergehende Analyse des Problems der Überprüfung der staatsanwaltlichen Anklage siehe die Ausführungen zu Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) unten im 5. Kapitel, A. III. 1. e). 477 Art. 460 spricht bzgl. des Verdachtgrads von „merito bastante para llevar adelante los procedimientos“, also etwa einem „ausreichenden Ergebnis [der Voruntersuchung] um das Ver fahren fortzuführen“.
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3. Kap.: Die Entscheidung für den Inquisitionsprozess
spruch zu beantragen.478 Dies ergab sich daraus, dass die Staatsanwaltschaft streng an das Legalitätsprinzip gebunden war, welches sie verpflichtete, ausnahmslos alle ihr zur Kenntnis gelangenden Straftaten gleichmäßig zu verfolgen.479 Das Legalitätsprinzip war gleich am Anfang der Bundesstrafverfahrensordnung von 1889 in deren Art. 14 festgeschrieben. Danach entsteht aus jeder Straftat eine Klage, welche prinzipiell staatlich ist und durch das „ministerio fiscal“ ausgeübt werden soll.480 Ausdruck der Bindung des Staatsanwalts an das Legalitätsprin zip in der Bundesstrafverfahrensordnung von 1889 war weiterhin die bereits er wähnte Norm des Art. 118 CPPN (1889), welche seine Rolle als die eines ob jektiven Justizorgans beschrieb, das auf die Einhaltung der Gesetze und einen gerechten Verfahrensausgang hinwirkt. Die Objektivitätsverpflichtung des staat lichen Anklägers bedeutet nämlich auch immer, dass der Staatsanwalt nicht frei über die Strafklage disponiert, sondern alle Straftaten in gleicher Weise verfolgt. Zuletzt setzten auch die Vorschriften zur Kontrolle des staatsanwaltlichen Einstel lungsantrags nach Art. 460 bis 462 CPPN (1889) die Geltung des Legalitätsprin zips voraus, da sie von einer objektiven Überprüfbarkeit der staatsanwaltlichen Anklageentscheidung ausgingen. Ausnahmen von der Bindung der Staatsanwalt schaft an das Legalitätsprinzip, wonach der staatliche Ankläger in bestimmten Fäl len auch auf Zweckmäßigkeitserwägungen hätte zurückgreifen können, kannte der CPPN (1889) dagegen nicht. Das Legalitätsprinzip galt demnach uneinge schränkt. Letztlich ergab sich die Geltung des Legalitätsprinzips neben den genannten ausdrücklichen Vorschriften auch schon aus der inquisitorischen Grundstruktur des Verfahrens, wonach der Staat in Form des Richters aktiv die materielle Wahr heit ermittelte. Diese Verfahrensform und der Grundsatz der Bindung an Recht und Gesetz haben den gleichen Grundgedanken und sind daher untrennbar miteinander verbunden. Danach ist Ziel und gleichzeitig Rechtfertigung der Verstaatlichung der Strafgewalt eine objektive, umfassende und gleichmäßige Strafverfolgung, wie sie das Legalitätsprinzip vorschreibt.481 Aus diesem Grund soll der Richter auch umfassend das reale Tatgeschehen ermitteln, ohne in seiner Sicht dadurch limi tiert zu werden, dass er darauf angewiesen ist, dass ihm Ankläger und Angeklag ter eine jeweils subjektiv gefilterte Beweisgrundlage präsentieren. Anders ausge drückt ist das Inquisitionsverfahren, welches in Reinform das dem materiellen 478
Frías, Derecho Procesal Bd. 1, S. 109 f.; Castro, Curso Bd. 2, S. 100. Zur Definition des Legalitätsgrundsatzes vgl. im argentinischen Schrifttum Cafferata Nores, Nueva Doctrina Penal 1996-A, S. 3 ff. (4 f.); Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 828 f. 480 Art. 14 CPPN (1889) spricht von „acciones“. Eine ganz treffende deutsche Übersetzung dieses Begriffs existiert nicht, am ehesten entspricht der „acción penal“ die allerdings etwas engere „Strafklage“. Zum Begriff der „acción penal“ vgl. Claría Olmedo, Tratado Bd. 1, S. 296 ff. 481 Siehe dazu Claría Olmedo, Tratado Bd. 1, S. 467 ff.; Fierro, in: Baigún/Zaffaroni, Código Penal Bd. 2, S. 740 f.; Ferrajoli, Derecho y Razón, S. 537 ff.; 567 ff. 479
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Strafrecht zugrundeliegende Gewaltverhältnis zwischen Bürger und Staat reprä sentiert482, die Konsequenz der dem Legalitätsprinzip zugrundeliegenden Recht fertigung des staatlichen Strafmonopols.483 Später, im Jahre 1921, wurde das Legalitätsprinzip auch außerhalb der Straf verfahrensordnung allgemeingültig festgeschrieben.484 Nach Art. 71 des in die sem Jahre in Kraft getretenen argentinischen Strafgesetzbuchs, dem Código Penal (in der Folge kurz CP), sind alle Strafklagen von Amts wegen einzuleiten. Flan kiert wird die Vorschrift von Art. 274 CP, der das Unterlassen einer gebotenen Strafverfolgung als Amtspflichtverletzung unter Strafe stellt. Tatsächlich ging die ganz herrschende Doktrin der Zeit von einer materiellen Natur der Strafklage aus, da sie zwar im Verfahrenswege ausgeübt werde, aber in ihrem Entstehen und ihren Grenzen abschließend durch die Deliktsfiguren im materiellen Strafrecht be stimmt sei.485 Allerdings dürften auch praktische Erwägungen in Zusammenhang mit der föderalen Struktur Argentiniens eine entscheidende Rolle bei der Regelung des Legalitätsprinzips im materiellen Strafrecht gespielt haben. Denn die Gesetz gebungskompetenz in Bezug auf das materielle Strafrecht lag allein beim Bund, während das Strafverfahrensrecht jeweils von den Provinzen eigenständig ausge staltet wurde, Art. 67 Nr. 11, 104 CN.486 Um dem Legalitätsprinzip umfassende Geltung zu verschaffen, musste es daher im Strafgesetzbuch geregelt werden. Die ser Gedanke spiegelt sich in dem Argument wieder, dass der verfassungsrechtli che Gleichheitsgrundsatz die Einbeziehung des Legalitätsprinzips ins materielle Strafrecht erfordere.487 Lediglich sehr vereinzelt prangerte man an, dass auf diese 482 Dies zeigt sich besonders in der extremen Variante des gemeinrechtlichen Inquisitions verfahrens, welche den Prozess letztlich auf das bipolare Verhältnis zwischen Richter und ihm als Untersuchungsobjekt unterworfenem Angeklagten beschränkt. Aber auch in den moderne ren Formen des reformierten Inquisitionsprozesses besteht dieses Über-Unterordnungsverhält nis grundsätzlich fort, weshalb bspw. auch das Prinzip der Waffengleichheit zwischen Anklage und Verteidigung der inquisitorischen Verfahrensstruktur fremd ist. 483 Demgegenüber behält das angloamerikanische Parteiverfahren die ursprünglich für ein Verfahren zwischen Privaten vorgesehene Struktur bei, was bspw. Ferrajoli, Derecho y Razón, S. 569 f., für einen unlösbaren und schwerwiegenden Widerspruch hält. 484 Dies war zuvor nicht der Fall, da die argentinische Verfassung nicht ausdrücklich eine lückenlose Strafverfolgung gebietet, vgl. Cafferata Nores, Nueva Doctrina Penal 1996-A, S. 3 ff. (5). 485 Soler, Derecho penal, Bd. 2, S. 527 f.; Claría Olmedo, Tratado Bd. 1, S. 299. Weitere Nachweise finden sich bei Fierro, in: Baigún/Zaffaroni, Código Penal Bd. 2, S. 742. 486 Siehe dazu schon oben 2. Kapitel, B. I., II. 1. Nach heutiger Fassung (geändert durch die Verfassungsreform von 1994) firmieren die entsprechenden Vorschriften als Art. 75 Nr. 12 CN und Art. 121 CN. 487 Vgl. Bruzzone, Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 9 (2002), S. 149 ff. (151); Herbel, Nueva Doctrina Penal 2003-A, S. 35 ff. (65 ff.). Überhaupt herrschte, wie Zvilling, Juris prudencia Argentina 2004–4, S. 661 ff. (665 ff.) zeigt, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts in Argentinien eine Stimmung, welche den Föderalismus für viele Probleme der Strafjustiz ver antwortlich machte und anstrebte, innerhalb der verfassungsmäßigen Grenzen möglichst viele Kompetenzen auf den Bund zu übertragen, um die Einheitlichkeit und Zuverlässigkeit der Jus tiz zu erhöhen.
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Weise die in der Verfassung festgeschriebene Kompetenzverteilung bezüglich des Strafverfahrens verletzt werde.488 Später allerdings, unter der Geltung der Bundes strafverfahrensordnung von 1992, sollte die Frage, ob die Provinzen auch Oppor tunitätsvorschriften in ihre Strafverfahrensordnungen aufnehmen können, ganz aktuell und hochumstritten werden, da es sich angesichts des praktischen Schei terns des strikten Legalitätsprinzips anbietet, dem Staatsanwalt zumindest in be stimmten Fällen Zweckmäßigkeitserwägungen zu gestatten.489 c) Die Hauptverhandlung
Kam es zur Beweisaufnahme, ermittelte der Richter nur, soweit Staatsanwalt oder Verteidigung Beweisanträge stellten, Art. 477 CPPN (1889). Im Anschluss konnte der Staatsanwalt wie die Verteidigung auch nach Art. 486 ff. CPPN (1889) rechtswidrige Zeugenvernehmungen beanstanden. Anders als im Vorverfahren übernahm der Richter in der Beweisaufnahme des Hauptverfahrens also eine eher passive Rolle, der Staatsanwalt bestimmte hier zumindest in der Theorie ge meinsam mit der Verteidigung den Verfahrensgang.490 Als Ankläger trug dabei der Staatsanwalt die Beweislast, Art. 468 CPPN (1889). Er wird zwar im Gesetz als „Partei“ („parte“) bezeichnet491, dies ist aber nur in einem formalen Sinne zu ver stehen. Nach den in Art. 118 CPPN (1889) niedergelegten Grundsätzen über seine Rolle als objektiver Gesetzeswächter beschränkte sich seine Aufgabe keinesfalls auf die belastende Beweisführung, er musste alle Möglichkeiten ausschöpfen, zur Wahrheitsfindung beizutragen, auch wenn dies zu Gunsten des Angeklagten ge schah. Zum Abschluss stellte der Staatsanwalt gemäß Art. 492 CPPN (1889) sei nen Schlussantrag, für den natürlich ebenfalls die Objektivitätspflicht galt, d. h. er sollte nicht die schwerstmögliche Rechtsfolge beantragen, sondern diejenige, die ihm angemessen schien. Die Einwirkungsmöglichkeiten des Staatsanwalts auf den Verfahrensgang im Rahmen der Beweisaufnahme des plenario sind allerdings aufgrund der geringen Bedeutung des Hauptverfahrens zu relativieren. Wie schon in den Ausführun gen zu den Grundzügen des CPPN (1889) dargelegt, konnten im Allgemeinen die zuvor im Vorverfahren gesammelten Beweise direkt zur Urteilsfindung herange zogen werden, es kam allenfalls noch zu einer kurzen Ratifizierungserklärung durch das Gericht.492 488
Malagarriga, Código Penal Bd. 1, S. 434; siehe auch Bruzzone, Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 9 (2002), S. 149 ff. (151). 489 Siehe dazu die ausführliche Erörterung unten 5. Kapitel, A. III. 1. f). 490 Siehe dazu Jofré, Manual Bd. 2, S. 162. 491 Vgl. bspw. Art. 467, 483, 484 CPPN (1889). 492 Castro schreibt dazu in seinem Curso Bd. 2, S. 390 f., es sei allgemein bekannt, dass die Ratifizierung von im Vorverfahren gesammelten Beweisen während der Hauptverhandlung eine reine Formalität sei, an welcher der Angeklagte daher auch kein Interesse habe.
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Die Rolle des Fiskals in der mit dem Hauptverfahren vergleichbaren, ebenfalls nur die Ermittlungen ergänzenden Verfahrensphase in Korrektionalverfahren ent sprach grundsätzlich den obigen Ausführungen. Als interessante Abweichung ist lediglich anzuführen, dass der Richter die Entscheidung des Staatsanwalts, keine Anklage zu erheben, nicht dessen Vorgesetzten zur Überprüfung vorlegen konnte. Er war, wenn keine Anklage des Staatsanwalts oder eines Privatklägers vorlag, ge zwungen, das Verfahren einzustellen, Art. 577 CPPN (1889). Das war jedoch nicht auf den Willen des Gesetzgebers zurückzuführen, die Position des Staatsanwalts in diesem Verfahrenstyp zu stärken, sondern schlicht auf einen technischen Fehler im Verlauf des Gesetzgebungsprozesses.493 4. Rechtsmittel
Die Staatsanwaltschaft konnte grundsätzlich alle Rechtsmittel494 sowohl zu Gunsten als auch zu Lasten des Beschuldigten einlegen. Indem sie gegebenen falls auf die Korrektur einer richterlichen Entscheidung hinwirkte, kam sie ihrer Pflicht aus Art. 118 des CPPN (1889) nach, die Einhaltung der Gesetze durch das Gericht zu überwachen. Der Fiskal in erster Instanz konnte nach der Rechtspre chung sogar dann zu Lasten des Verurteilten Berufung einlegen, wenn das Ge richt schon auf eine höhere Strafe erkannt hatte, als die von ihm beantragte.495 War die Strafe niedriger als die beantragte oder wurde der Angeklagte freigespro chen, wurden die erstinstanzlichen Ankläger durch ein Dekret vom 7. Juni 1934 gar verpflichtet, Berufung einzulegen. Für die Berufungsverhandlung galten die Vorschriften zum Hauptverfahren in erster Instanz entsprechend, Art. 531 CPPN (1889), Abweichungen in der Rolle der Staatsanwaltschaft ergaben sich damit nicht. Viel diskutiert wurde die Frage, ob der Staatsanwalt an der Berufungskam mer ein in erster Instanz durch den Fiskal eingelegtes Rechtsmittel zurückneh men und damit, soweit kein anderer Beteiligter Rechtsmittel eingelegt hatte, der Berufungskammer die Entscheidungsbefugnis über die Sache entziehen konnte. Dagegen wurde angeführt, dass dem Staatsanwalt lediglich die Ausübung der öf fentlichen Klage anvertraut sei, er jedoch nicht über den staatlichen Strafanspruch 493
Castro, Curso Bd. 2, S. 100 f. Dabei handelte sich um den Wiedereinsetzungsantrag, reposición, Art. 498 ff. CPPN (1889), der sich gegen belastende, nicht verfahrensbeendende Zwischenentscheidungen des Gerichts wandte und keinen Devolutiveffekt hatte; die bereits genannte Berufung, apelación, Art. 501 ff. CPPN (1889) gegen anderweitig nicht mehr revidierbare richterliche Beschlüsse so wie gegen Urteile; den Einwand der Nichtigkeit, nulidad, Art. 509 ff. CPPN (1889), des gan zen Prozesses oder einzelner Entscheidungen wegen schwerer Verfahrensfehler; und die Be schwerde, queja, Art. 514 ff. CPPN (1889), mit der die Nichtzulassung der apelación durch den erstinstanzlichen Richter angegriffen werden konnte. 495 Alcalá-Zamora y Castillo/Levene (h.), Derecho Procesal Penal Bd. 3, S. 294 mit Recht sprechungsnachweis in Fn. 114. 494
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disponieren könne.496 Andere wandten wiederum in Verteidigung der Befugnis des Staatsanwalts an der Berufungskammer ein, dass letztlich die Zuständigkeit des Berufungsgerichts ohnehin von der Staatsanwaltschaft abhängt, da der Fiskal schon in erster Instanz darüber entscheidet, wenn er beschließt, ob er Berufung ein legt oder nicht.497 Im weiteren Verlauf der über hundertjährigen Geltungsdauer des CPPN (1889) blieb die Frage höchst umstritten und war Gegenstand einer Reihe von Reforminitiativen sowie wechselnder höchstrichterlicher Rechtsprechung.498 Die Auffassung zu Gunsten einer Disponibilität der staatsanwaltlichen Rechtsmit tel wurde dabei durch eine Reihe weiterer Argumente gestärkt. Zum einen sei es schon nicht mit der hierarchischen Struktur und der einheitlichen Amtsausübung der Staatsanwaltschaft zu vereinbaren, dass ein vom Fiskal in erster Instanz einge legter Rechtsbehelf dessen Vorgesetzten binden könne.499 Vor allem aber lasse sich die These, wonach das Legalitätsprinzip den Rückzug eines einmal eingelegten Rechtsmittels durch den Staatsanwalt verbiete, entkräften. Dem Legalitätsprinzip werde grundsätzlich schon mit dem Verfahren in erster Instanz Genüge getan, die Strafklage erschöpfe sich hier. Dies zeige sich schon daran, dass die Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils keineswegs zwingend gesetzlich vorgeschrieben ist, sondern nur auf Initiative der Verfahrensbeteiligten vorgenommen wird.500 Mit die sen Argumenten setzte sich letztere Ansicht schließlich auf Gesetzesebene durch und Regelungen, welche dem Staatsanwalt ausdrücklich die Rücknahme einmal eingelegter Rechtsbehelfe gestatteten, fanden Aufnahme in die bedeutende Straf verfahrensordnung der Provinz Córdoba aus dem Jahre 1940 sowie in das darauf basierende Bundesgesetz, welches 1992 in Kraft trat.501 Die Ausgestaltung der Rechtsmittelbefugnisse des Staatsanwalts im CPPN (1889) war weit entfernt von den revolutionären Regelungen des Konkurrenz entwurfs González/De la Plaza, stattdessen orientierte sie sich wie das gesamte Gesetz stark am bisher geltenden, inquisitorisch geprägten Verfahrensrecht. Der Fiskal hatte wie im kolonialen Recht ausgesprochen weite Möglichkeiten, das erst instanzliche Urteil sowohl zu Gunsten als auch zu Lasten des Beschuldigten einer Überprüfung zuzuführen. Er repräsentierte dabei nicht mehr das subjektive Inter esse eines Monarchen, sondern sollte allein aus der staatlichen Verpflichtung zu einer gerechten Strafverfolgung heraus handeln. Tatsächlich zeigte sich aber in der 496 Alcalá-Zamora y Castillo/Levene (h.), Derecho Procesal Penal Bd. 3, S. 292; Frías, Derecho Procesal Bd. 1, S. 109 f. m. w. N. 497 Malagarriga/Sasso, Procedimientos Bd. 2, S. 157 ff. 498 Eine gute Zusammenfassung der Entwicklung bis ins Jahr 1964 findet sich bei Cúneo Libarona, La Ley 116 (1964), S. 1044 ff. (1047 ff.). 499 Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 2, S. 182., Fn. 15. Cúneo Libarona, La ley 116 (1964), S. 1044 ff. (1051 ff.), der auf die Unabhängigkeit des Staatsanwalts als Judikativ organ abstellt, kommt zum gleichen Ergebnis, da ein Berufungszwang nicht mit der Entschei dungsfreiheit des Fiskals als Teil der rechtsprechenden Gewalt vereinbar sei. 500 Cúneo Libarona, La Ley 116 (1964), S. 1044 ff. (1056 ff.); De la Rúa, La Ley 1982-B, S. 102 ff. (109). 501 Siehe dazu unten 4. Kapitel, A. III. 3.; 5. Kapitel, A. III. 3.
B. Das spanische Modell
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Praxis des argentinischen Inquisitionsprozesses auch auf der Rechtsmittelebene das Problem einer Überbetonung des Strafverfolgungsinteresses gegenüber dem Beschuldigtenschutz. Dies führte dazu, dass der Staatsanwalt gar dazu verpflichtet wurde, für den Beschuldigten günstige Entscheidungen anzugreifen. Andererseits wird im Streit um die Rücknahme von Rechtsmitteln durch die Staatsanwaltschaft deutlich, dass ein gradueller Wandel im Verständnis der Rechtsmittel weg von ihrem rein inquisitorischen Ursprung als innerstaatliche Überwachung der Gerichte hin zu einer flexibleren Auslegung als vom Willen der Verfahrensbeteiligten abhängige Schutzmechanismen eingesetzt hatte. Von be sonderem Interesse ist dies, weil sich hier eine erste Ausnahme vom strengen Le galitätsgrundsatz findet, der das erstinstanzliche Verfahren nach wie vor fest be herrschte. IV. Zusammenfassung und Fazit
Die Untersuchung der Stellung des Staatsanwalts im CPPN (1889) hat gezeigt, dass in der noch stark dem traditionellen gemeinrechtlichen Inquisitionsprozess verhafteten Verfahrensstruktur nur wenig Platz für die neue Figur eines vom Rich ter getrennten staatlichen Anklägers war. Man hatte aus den bisherigen Erfahrungen mit dem Inquisitionsprozess die Lehre gezogen, dass die Vereinigung von Anklage- und Urteilsfunktion in der Person des Richters dessen Objektivität beeinträchtigten. Die entscheidende Auf gabe und Daseinsberechtigung des Staatsanwalts war daher die Erhebung der An klage, die Voraussetzung für die richterliche Untersuchung sein sollte. Gleichzeitig führte aber die Bindung des Gerichts an den Antrag des staatlichen Anklägers zur Sorge, der Staatsanwalt könne die Strafverfolgung behindern, indem er die objek tive Entscheidungsfindung durch die dazu berufenen Richter gar nicht erst zulas se.502 Hieran zeigt sich deutlich, dass sich zu jener Zeit die Idee einer gegenseitigen Kontrolle von Richter und Staatsanwalt in einem verfahrensrechtlichen System von checks and balances gedanklich noch nicht gegen die aus Zeiten des gemein rechtlichen Inquisitionsprozesses stammende Auffassung, wonach der Fiskal dem Richter lediglich bei der Strafverfolgung behilflich war, durchgesetzt hatte. Auf organisatorischer Ebene manifestierten sich die Bedenken bezüglich des Staats anwalts als Verfahrensverhinderer in der dreifachen externen Kontrolle der in ers ter Instanz tätigen Fiskale durch den Obersten Gerichtshof, die Berufungsgerichte und auch die Exekutive. Im Verfahrensrecht trug Obarrio ihnen dadurch Rech nung, dass er, anders als für die Anklageerhebung, eine Überprüfung des staats anwaltlichen Einstellungsantrags vorsah. Diese erlegte er allerdings richtiger weise dem der jeweils nächsthöheren Instanz zugeordneten Fiskal auf, so dass die 502 Vgl. hierzu exemplarisch Obarrio, Proyecto de Código de Procedimiento en Materia Penal, S. XLIV f.
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3. Kap.: Die Entscheidung für den Inquisitionsprozess
Anklagefunktion innerhalb der Staatsanwaltschaft verblieb und nicht etwa durch ein außenstehendes Gericht übernommen werden konnte. Trotz der Besorgnis, dass die Durchsetzung der staatlichen Strafgewalt beeinträchtigt werden könnte, blieb es letztlich also bei der Abhängigkeit des Richters von der Anklageerhebung durch den Fiskal. Dies stellt den fundamentalen Fortschritt des CPPN (1889) ge genüber dem bisherigen gemeinrechtlichen Inquisitionsprozess dar. Abgesehen davon wurde die inquisitorische Verfahrensstruktur aber nahezu identisch beibehalten. Kern des Strafprozesses waren die Ermittlungen durch den Untersuchungsrichter, die als zusätzliche Kontrollinstanz eingeführte schriftliche Hauptverhandlung hatte kaum eigenständige Bedeutung. Sie beschränkte sich re gelmäßig darauf, dass das Gericht des Hauptverfahrens die Beweiserhebungen durch den Untersuchungsrichter für gültig erklärte, um sich so in seinem Urteil auf die im Vorverfahren gesammelten Beweise beziehen zu können. Der Staatsanwalt war hier praktisch überflüssig. Er förderte allenfalls die Wahrheitsfindung durch den Untersuchungsrichter, indem er Ermittlungsanträge stellte, wobei er gegen über dem Beschuldigten den Vorteil besaß, dass das Verfahren für ihn nicht geheim war. Schließlich konnte der Staatsanwalt noch Rechtsmittel zu Lasten als auch zu Gunsten des Beschuldigten einlegen. Tatsächlich blieb es aber dabei, dass er wie vor ihm der Fiskal als Vertreter des Monarchen dazu angehalten war, nahezu aus schließlich gegen den Beschuldigten begünstigende Entscheidungen vorzugehen. Am Verfahren des CPPN (1889) werden die grundlegenden Schwierigkeiten deutlich, die sich daraus ergeben, dass die inquisitorische Form der Wahrheitsfin dung durch ein aktiv ermittelndes Gericht mit einer Trennung der Anklage- von der Urteilsfunktion verbunden wird. Im dargestellten Verfahrensumfeld ist die Be fugnis des Staatsanwalts zur Anklageerhebung ein Fremdkörper, denn mit dem Grundgedanken, wonach die Objektivität des Gerichts darin besteht, dass es den zu entscheidenden Sachverhalt von sich aus umfassend zur Kenntnis nimmt, lässt sich die Abhängigkeit des Entscheidungsorgans vom Fiskal zunächst nur schwer vereinbaren. Entsprechend folgt der CPPN (1889) der europäischen Lösung einer lediglich formalen Ausprägung des Anklagegrundsatzes, wonach der Staatsanwalt sich darauf beschränkt, die richterliche Untersuchung einzuleiten. Systematisch bedeutet dies aber, dass der Staatsanwalt, sobald er jene Aufgabe wahrgenommen hat, nicht mehr vonnöten ist, da das Gericht im Weiteren die eigentliche Wahr heitsfindung von Amts wegen vornimmt. Eine Kontrollfunktion gegenüber dem Gericht übt der Staatsanwalt nur durch die Einlegung von Rechtsmitteln aus. An ders als die Anklageerhebung fügt sich diese Befugnis problemlos in die Grundge danken des Inquisitionsprozesses ein, denn sie bedeutet lediglich die Überprüfung der richterlichen Entscheidung innerhalb der von der staatlichen Zentralmacht ab geleiteten Delegationskette, wie sie auch schon der Fiskal als Vertreter des Königs veranlassen konnte.503
503
Zum inquisitorischen Ursprung der Rechtsmittel siehe oben 2. Kapitel, A. III. 4.
B. Das spanische Modell
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Im Ergebnis stellte die Einführung der Staatsanwaltschaft als vom Gericht g etrennte Anklagebehörde im CPPN (1889) zwar einen großen Fortschritt dar, im übrigen Verfahrensgang spielte der staatliche Ankläger aber kaum eine Rolle. Nach wie vor war das Strafverfahren weitgehend auf das bipolare Verhältnis zwi schen untersuchendem Richter und dem Beschuldigten als Untersuchungsobjekt beschränkt.
4. Kapitel
Die Rezeption kontinentaleuropäischer Reformen des Inquisitionsprozesses 4. Kap.: Die Rezeption kontinentaleuropäischer Reformen Angesichts der Reformunwilligkeit auf Bundesebene war es den Provinzen überlassen, einen Erneuerungsprozess des argentinischen Strafverfahrensrechts in Gang zu setzen. Vorreiter war hier die Provinz Córdoba, deren im Jahr 1940 in Kraft getretene Strafverfahrensordnung Vorbild für die übrigen Bundesstaaten und schließlich auch für den Bund selbst sein sollte. Die dortigen vorsichtigen Modi fikationen des Inquisitionsprozesses waren von einer ganzen Reihe kontinental europäischer Vorbilder inspiriert, ihre ideologischen Grundlagen lassen sich aber vor allem auf die italienische Doktrin zurückführen. Einige Jahrzehnte später ver suchte der renommierte Strafverfahrensrechtsexperte Maier mittels eines 1986 präsentierten Entwurfs auch das Bundesstrafverfahrensrecht endlich an den mitt lerweile erreichten Stand der kontinentaleuropäischen Reformen des Inquisitions prozesses anzupassen. Er orientierte sich dabei an den Grundzügen des Gesetzes aus Córdoba, entwickelte diese aber fort und glich insbesondere die Stellung der Staatsanwaltschaft an das Vorbild der deutschen Strafprozessordnung an. Im letz ten Moment verhinderte jedoch ein Regierungswechsel die Verabschiedung der Verfahrensordnung nach Maiers Vorlage. Letztlich wurde, wie schon hundert Jahre zuvor dem Entwurf González/De la Plaza, ein deutlich konservativerer Gegenent wurf vorgezogen.
A. Das italienische Modell: Die Strafverfahrensordnung der Provinz Córdoba von 1940 I. Entstehungsgeschichte und Grundzüge des CPP Córdoba (1940)
Das zwanzigste Jahrhundert sollte in weiten Teilen für Argentinien eine schwie rige, von großer politischer Zerrissenheit und zahlreichen gewaltsamen Umstür zen gekennzeichnete Zeit bedeuten. Zwar war im Jahre 1916 die bürgerliche Mitte über ihre politische Vertretung UCR an die Macht gelangt, sie hatte sich jedoch auch danach nie vollständig gegen die alten konservativen Eliten, welche nach wie vor zahlreiche politische und gesellschaftliche Schlüsselpositionen einnahmen, durchsetzen können. Die negativen Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise des Jahres 1929 auf die argentinische Ökonomie bedeuteten schließlich das Ende der bürgerlich-demokratischen Regierung. Am 6. September 1930 putschte der von
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den konservativen Kräften unterstützte General José Félix Uriburu und übernahm die Präsidentschaft.504 Es folgte eine Restauration der alten, auf Wahlfälschun gen basierenden Scheindemokratie, welche den dreißiger Jahren die Bezeichnung als „berüchtigtes Jahrzehnt“ (década infame) einbrachten.505 Beendet wurde diese Phase wiederum durch einen Staatsstreich von Seiten nationalistisch gesinnter Of fiziere. Unter den folgenden Militärregierungen tat sich schnell der als Arbeits minister amtierende Oberst Juan Domingo Perón hervor, indem er sich durch eine besonders gewerkschaftsfreundliche Politik die breite Unterstützung der Ar beiterklasse sicherte. Im Jahre 1946 erreichte Perón freie Wahlen, welche er mit zusätzlichen Stimmen von Teilen der ihm sonst weitgehend feindlich gesinnten Mittel- und Oberschichten gewinnen konnte. Zu dieser Zeit profitierte die argen tinische Wirtschaft in erheblichem Maße vom großen Bedürfnis an ihren Export gütern, welches in Europa zunächst aus dem zweiten Weltkrieg und später aus des sen Folgen erwachsen war. Die exzellente ökonomische Lage ermöglichte Perón eine nationalistisch-protektionistische Wirtschaftspolitik und vor allem auch eine äußerst großzügige Sozialpolitik, die unter dem Leitspruch der sozialen Gerech tigkeit (justicia social) stand. In Verbindung mit einer umfassenden, auf seine Per son sowie die seiner Ehefrau Evita zugeschnittenen Propaganda schuf Perón auf diese Weise die Volksbewegung des Peronismus bzw. justicialismo, welche das politische Leben in Argentinien bis heute prägt.506 Aber auch Peróns Präsident schaft endete durch einen von einem Zusammenschluss seiner Gegner getrage nen Militärputsch im Jahre 1955, der ihn zwang, das Land zu verlassen.507 In der Folgezeit gelang es nicht, das Land in eine dauerhafte Demokratie zu überführen, die gewählten Regierungen Frondizis und Illias endeten in den Jahren 1962 bzw. 1966 erneut durch Staatsstreiche des Militärs. Zeitgleich verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage zusehends, wozu die fehlende politische Stabilität maßgeb lich beitrug.508 Der Versuch im Jahre 1973, die Abwärtsspirale durch die Rückkehr Peróns zu stoppen, scheiterte daran, dass dieser schon im folgenden Jahr verstarb. Ihm im Amt folgte seine politisch schwache zweite Frau und Witwe María Estela Martínez de Perón, die im Jahre 1976 vom Militär gestürzt wurde.509 Die anschlie ßende, bis ins Jahre 1983 dauernde Militärdiktatur war die bis heute letzte, aber auch brutalste in der argentinischen Geschichte.510 504
Vgl. Romero, Breve Historia, S. 156 ff. Siehe dazu Eggers-Brass, Historia Argentina, S. 455 ff. 506 Zur Entstehung des Peronismus vgl. die ausführliche Darstellung von Segovia, Forma ción, S. 13 ff. 507 Siehe Romero, Breve Historia, S. 188 ff. 508 Romero, Breve Historia, S. 206 ff. 509 Eggers-Brass, Historia Argentina, S. 605 ff. 510 Unter dem Namen guerra sucia, also „schmutziger Krieg“, baute das Militärregime in dieser Zeit ein Untergrundsystem zur Verfolgung von Oppositionellen auf. Die Opfer, die sog. desaparecidos, wurden verschleppt, in geheimen Zentren festgehalten, gefoltert und im An schluss meist ermordet, häufig indem sie betäubt aus einem Flugzeug ins Meer geworfen wur den. Vgl. dazu Eggers-Brass, Historia Argentina, S. 630 ff. sowie sehr ausführlich aus juris tischer Sicht Sancinetti/Ferrante, El derecho penal, S. 105 ff. 505
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4. Kap.: Die Rezeption kontinentaleuropäischer Reformen
Die beschriebene politisch instabile Situation mit häufig wechselnden, fast aus schließlich autoritären und antidemokratischen Regierungen war sicher ein ent scheidender Grund dafür, warum in diesem langen Zeitraum keine grundlegende Reform des schon bei seinem Inkrafttreten als veraltet kritisierten Bundesstrafver fahrensrechts gelang.511 Als weiterer Faktor wird das äußerst konservative Straf verfahrensverständnis unter den Juristen in der Hauptstadt Buenos Aires genannt, welches durch die Ausbildung an der dortigen Universität weitergegeben wurde.512 Zuletzt dürfte auch schlicht die Gewöhnung der Rechtsanwender an das seit jeher praktizierte inquisitorische System erheblich zur fehlenden Reformbereitschaft beigetragen haben.513 Angesichts des Stillstands auf Bundesebene war die Weiter entwicklung des Strafverfahrensrechts vollständig den Provinzen überlassen und tatsächlich fanden auf diesem Wege bedeutsame Neuerungen Eingang in den ar gentinischen Strafprozess. Den Grundstein hierfür legte die am 28. Februar 1940 in Kraft getretene Strafverfahrensordnung der Provinz Córdoba. Die Provinz im Landesinneren war seit jeher ein intellektuelles und kulturelles Zentrum Argen tiniens.514 So wurde die erste Universität der gesamten Region schon im Jahre 1613 von Jesuiten in der ebenfalls Córdoba genannten heutigen Hauptstadt der Provinz gegründet. Der dortigen rechtswissenschaftlichen Fakultät gehörten stets einige der renommiertesten Juristen des Landes an. Dazu zählten die Professoren Alfredo Vélez Mariconde und Sebastián Soler, Ersterer vor allem auf dem Gebiet des Strafverfahrensrechts distinguiert, letzterer Verfasser eines umfassenden Stan dardwerks zum materiellen Strafrecht. Gemeinsam mit Ernesto S. Peña, der je doch von vornherein auf eine Beteiligung verzichtete, wurden sie am 19. Januar 1937 von der Provinzregierung Córdobas per Dekret mit der Erstellung eines Ent wurfs für eine Strafverfahrensordnung beauftragt, welchen sie am 27. November 1937 vorlegten. Im anschließenden Gesetzgebungsverfahren wurde der Entwurf nur unwesentlich modifiziert und am 28. August 1939 als Strafverfahrensordnung der Provinz Córdoba erlassen. Das Strafverfahrensgesetz der Provinz Córdoba, das im Jahre 1940 in Kraft trat, kurz CPP Córdoba (1940) war ein technisch ausgereiftes, im Vergleich zur Bun desstrafprozessordnung ausgesprochen modernes Gesetzeswerk. Vélez Mariconde und Soler orientieren sich an den kontinentaleuropäischen Reformen des Inqui sitionsprozesses, vor allem dem spanischen und italienischen Recht515, und be
511 Zwar fehlte es nicht an Entwürfen, keiner gelangte aber ins Stadium des Gesetzgebungs verfahrens im Kongress. Vgl. dazu Woischnik, Untersuchungsrichter, S. 56 f. 512 Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 426. 513 Woischnik, Untersuchungsrichter, S. 59 f. m. w. N. 514 Vgl. Lewis, History, S. 33. 515 Die Verfasser geben zu jedem einzelnen Paragraphen in Fußnoten die Vorschriften an, die dafür Modell gestanden haben. Eine übersichtliche alphabetische Auflistung aller Quellen mit vollem Titel und den daraus entnommenen Vorschriften des CPP Córdoba findet sich zu dem in der von Marcelo Finzi bearbeiteten Ausgabe des Gesetzes aus dem Jahre 1944. Dar aus lässt sich entnehmen, dass Vélez Mariconde und Soler trotz der Kürze der ihnen zur Ver
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schränkten die Machtstellung des Gerichts bei einer gleichzeitigen Aufwertung der anderen Verfahrensbeteiligten. Die Ermittlungen oblagen im Regelfall einem Richter, der stets personen verschieden vom Gericht der Hauptverhandlung war, Art. 204, 206 CPP Córdoba (1940).516 Erlangte der Untersuchungsrichter durch eine Anzeige oder auf sonstige Weise von einer Straftat Kenntnis, konnte er das von ihm durchgeführte, instrucción judicial genannte Vorverfahren517 nicht mehr von Amts wegen einleiten. Er war auf die Mitwirkung des Staatsanwalts angewiesen, welcher zuvor die Durch führung von Untersuchungen verlangen musste, sog. requerimiento, Art. 198 CPP Córdoba (1940).518 Der Richter ordnete im Laufe seiner Ermittlungen auch inten sive Eingriffe wie Durchsuchungen oder Beschlagnahme ohne Kontrolle durch ein anderes Staatsorgan an, vgl. Art. 204, 228, 234, 235, 240 CPP Córdoba (1940). Die richterliche Untersuchung war aber grundsätzlich für die Verfahrensbeteilig ten einsehbar, Art. 212, 213 CPP Córdoba (1940)519 und sie hatten die Möglichkeit, bestimmte Ermittlungsmaßnahmen zu beantragen, Art. 208, 211 CPP Córdoba (1940), was dem Beschuldigten eine deutlich effektivere Wahrnehmung seines Verteidigungsrechts erlaubte als zuvor. Erachtete der Richter die Voraussetzun gen für eine Strafbarkeit des Beschuldigten als nicht gegeben, konnte er das Er mittlungsverfahren jederzeit einstellen, Art. 366 ff. CPP Córdoba (1940). Andern falls schloss er das Ermittlungsverfahren ab, indem er die Akten dem Fiskal zur Anklageerhebung übergab, Art. 297 CPP Córdoba (1940). Neben dem richterlichen Vorverfahren existierte für leichtere Straftaten mit einer Strafdrohung von weniger als zwei Jahren sowie für solche, die vor Gericht begangen wurden, eine abgekürzte Untersuchung, die als instrucción sumaria be fügung stehenden Zeit neben inländischen Gesetzen und Gesetzentwürfen auch auf eine ganze Reihe kontinentaleuropäischer Vorbilder zurückgriffen, darunter auch die deutsche Reichsstraf prozessordnung aus dem Jahre 1877. Mit Abstand am häufigsten genannt sind aber neben der bis dahin geltenden, aus dem Jahre 1889 stammenden Strafprozessordnung Córdobas das Pro jekt für eine Bundesstrafprozessordnung des Abgeordneten Mario Antelo aus dem Jahre 1933 sowie die italienische Strafprozessordnung von 1930. Da die Strafprozessordnung Córdobas aus dem Jahre 1889 wie praktisch alle argentinischen Strafverfahrensgesetze des neunzehnten Jahrhunderts auf spanischem Recht basierte und der Entwurf Antelo sich weitgehend am ita lienischen Strafprozess orientierte, lassen sich zusammenfassend das spanische und das italie nische Strafverfahren als Hauptquellen des CPP Córdoba (1940) nennen. 516 Die Strafprozessordnung Córdobas wird hier in der Version des Zeitpunktes ihres Inkraft tretens am 28. Februar 1940 zitiert. 517 Vgl. zu dieser Bezeichnung die Überschrift vor den Art. 203 ff. des CPP Córdoba 1940. Vorbild dafür war Art. 178 der Strafprozessordnung des deutschen Reichs, vgl. Vélez Mariconde/Soler, Proyecto, S. LXVIII. 518 Dazu erklären die Autoren ausdrücklich als ihr Ziel, die im Inquisitionsprozess herr schende Vermischung von Anklage- und Urteilsfunktion abzuschaffen und das Prinzip ne procedat iudex ex officio einzuführen, siehe Vélez Mariconde/Soler, Proyecto, S. LVIII. 519 Der Richter konnte allerdings, soweit für die Ermittlungen erforderlich, die Geheim haltung einzelner Maßnahmen oder sogar des gesamten Verfahrens anordnen, wobei Letztere nicht länger als zehn Tage dauern durfte, Art. 213 CPP Córdoba (1940).
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4. Kap.: Die Rezeption kontinentaleuropäischer Reformen
zeichnet wurde, Art. 197, 203, 311 ff. CPP Córdoba (1940).520 Sie zeichnete sich dadurch aus, dass der Staatsanwalt die Aufgaben des Untersuchungsrichters über nahm, also die Ermittlungen eigenverantwortlich führte, Art. 314 CPP Córdoba (1940). Anschließend konnte er direkt Anklage beim für das Hauptverfahren zu ständigen Gericht erheben, Art. 323 CPP Córdoba (1940). Wollte er dagegen das Verfahren einstellen, musste er dies nach wie vor beim Untersuchungsrichter be antragen, Art. 321 CPP Córdoba (1940). Das Hauptverfahren, juicio, teilte sich in zwei Abschnitte. Zunächst bestellte der Gerichtspräsident die Prozessbeteiligten ein, um Vorfragen des Prozesses zu klären, Art. 382 Abs. 1 CPP Córdoba (1940). Insbesondere mussten sie eine Liste mit Vorschlägen zur Vernehmung von Zeugen und Sachverständigen einreichen und konnten sich im Zuge dessen auch mit einer bloßen Verlesung der Protokolle der Vernehmungen aus dem Vorverfahren einverstanden erklären, Art. 383, CPP Córdoba (1940).521 An einem späteren Termin folgte die öffentliche und münd liche Hauptverhandlung, debate genannt, Art. 392 CPP Córdoba (1940). Sie wurde vom Präsidenten des Gerichts geleitet, der innerhalb des von der staatsanwaltli chen Anklageschrift vorgegebenen sachlichen Rahmens die Beweisaufnahme von Amts wegen durchführte, Art. 403, 410, 415, 429 CPP Córdoba (1940). Staatsan waltschaft und Verteidigung stand kein formales, nur unter bestimmten Voraus setzungen ablehnbares Beweisantragsrecht zu, sie besaßen lediglich Fragerechte, Art. 418 CPP Córdoba (1940). Grundsätzlich galt für die Beweiserhebungen der Unmittelbarkeitsgrundsatz, in einer Reihe von Fällen war jedoch auch die Verle sung von Vernehmungsprotokollen ausreichend, Art. 406 Abs. 2, 420 CPP Cór doba (1940). Die debate endete mit der Abschlussdiskussion, in der Staatsanwalt, Verteidigung und eventuell am Prozess beteiligte zivilrechtlich interessierte Par teien ihre Anträge stellten, Art. 422 CPP Córdoba (1940). Ihr Urteil fällten die Be rufsrichter, in geheimer Beratung und freier Beweiswürdigung, Art. 425, 426 CPP Córdoba (1940). Das Urteil musste schriftlich unter Nennung des Tatgeschehens als auch der rechtlichen Bewertung begründet werden, Art. 427 CPP Córdoba (1940). Die Strafverfahrensordnung Córdobas kannte eine Reihe von Möglichkeiten, die Entscheidungen des Gerichts anzugreifen, allerdings konnte die apelación, auf Bundesebene mit Abstand wichtigstes Rechtsmittel, nach den Art. 486 ff. CPP Córdoba (1940) nicht gegen Endurteile eingelegt werden. Gegen das erstinstanz liche Endurteil konnte damit nur noch in den eng umrissenen Fällen der casación, 520 Ein abgekürztes Hauptverfahren für leichtere Straftaten kannte die Verfahrensordnung Córdobas dagegen nicht, es existierte lediglich ein eigenständiges Verfahren zur Ahndung von Ordnungswidrigkeiten, sog. faltas, nach Art. 460 ff. CPP Córdoba (1940), das praktisch nur aus dem Urteilsspruch des Gerichts bestand. 521 Von besonderer Bedeutung war diese Vorbereitungsphase, wenn die Voruntersuchung als instrucción sumaria durch den Staatsanwalt durchgeführt worden war, da der Angeklagte in diesem Falle erst jetzt vom genauen Anklagevorwurf erfuhr, Art. 382 Abs. 3 CPP Córdoba (1940). Siehe dazu auch Vélez Mariconde/Soler, Proyecto, S. XCVII.
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Art. 493 ff. CPP Córdoba (1940), der inconstitucionalidad, Art. 512 f. CPP Cór doba (1940), oder der revisión, Art. 519 ff. CPP Córdoba (1940) vorgegangen werden.522 Eine erneute umfassende Tatsachenverhandlung in zweiter Instanz war grundsätzlich nicht mehr vorgesehen.523 Das durch das Strafverfahrensgesetz Córdobas im Jahre 1940 eingeführte Ver fahren erhielt viel Lob524 und bewährte sich auch in der Praxis525. Dies führte dazu, dass seine Grundzüge im Laufe der Zeit von nahezu allen argentinischen Pro vinzstrafverfahrensordnungen übernommen wurden526 und auch für die spätere Reform des Bundesstrafverfahrens als Grundlage dienten527. In der Tat trat mit dem CPP Córdoba (1940) zum ersten Mal ein Gesetz in Kraft, das die bis dahin in Argentinien herrschende klassische inquisitorische Verfahrensstruktur zumin dest teilweise aufzubrechen suchte.528 Die hierzu eingeführten Neuerungen lassen sich zusammenfassen als Aufwertung von Staatsanwaltschaft und Verteidigung zu eigenständigen Akteuren im Strafprozess, die erheblichen Einfluss auf sei nen Verlauf nehmen können (Stärkung der Beschuldigtenrechte im Vorverfahren, Möglichkeit, die Ermittlungen auf die Staatsanwaltschaft zu übertragen) und die damit in Zusammenhang stehende Einführung einer vom Vorverfahren nicht vor herbestimmten Hauptverhandlung (grundsätzliche Personenverschiedenheit von Untersuchungsrichter und Richter des Hauptverfahrens, Geltung des Unmittel barkeitsgrundsatzes in einer öffentlichen und mündlichen Hauptverhandlung). An 522
Die casación, Art. 493 ff. CPP Córdoba (1940), richtete sich gegen eine falsche Auslegung materiellen Rechts oder gegen eine schwerwiegende Verletzung von Prozessvorschriften, die inconstitucionalidad, Art. 512 f. CPP Córdoba (1940), gegen die Verfassungswidrigkeit eines angewandten Gesetzes und die revisión, Art. 519 ff. CPP Córdoba (1940), war in wenigen, auf gelisteten Fällen zulässig, in denen das Gericht auf falscher Tatsachengrundlage entschieden hatte. 523 Vélez Mariconde/Soler, Proyecto, S. CXIX. Die Autoren griffen damit eine zu dieser Zeit herrschende Tendenz auf, die als zu weit empfundenen Berufungsmöglichkeiten einzuschrän ken, vgl. Alcalá-Zamora y Castillo/Levene (h.), Derecho Procesal Penal Bd. 3, S. 285, wurden jedoch teils scharf kritisiert, damit die Verfassungsvorgabe einer zweiten Tatsacheninstanz zu ignorieren, siehe Otero Caballero, La Ley 17 (1940) sec. Doctr., S. 160 ff. 524 Der spanische Strafverfahrensrechtsexperte Niceto Alcalá-Zamora y Castillo etwa be zeichnete die Strafverfahrensordnung Córdobas als „beste Amerikas und eine der besten der Welt“ (Übers. d. Verf.), vgl. Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 417 m. w. N. 525 Vgl. Levaggi, Revista del Instituto de Historia del Derecho Ricardo Levene Nr. 25 (1979), S. 241 ff. (332), der von den exzellenten Resultaten spricht, die mit diesem Gesetz erzielt wor den seien. 526 Eine Aufzählung der entsprechenden Provinzstrafverfahrensordnungen samt der Jahres zahlen ihres Erlasses findet sich bei Woischnik, Untersuchungsrichter, S. 50, Fn. 139. 527 Dazu näher die Ausführungen unten 4. Kapitel, B. I.; 5. Kapitel, A. I. Außerdem stand das Gesetz für die Modellstrafprozessordnung für Iberoamerika aus dem Jahre 1988 Pate, mit tels derer es auch über Argentinien hinaus, bspw. in der Strafprozessordnung Costa Ricas, Re sonanz fand, vgl. Woischnik, Untersuchungsrichter, S. 50 f., Fn. 143. 528 Woischnik, Untersuchungsrichter, S. 49, vergleicht den CPP Córdoba (1940) daher gar mit dem napoleonischen Code d’instruction criminelle von 1808, mit dem die grundlegenden Re formen des Inquisitionsprozesses in Kontinentaleuropa eingeleitet wurden.
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dererseits waren die richterlichen Befugnisse ganz in der Tradition des Inquisitors noch sehr stark ausgeprägt. Im Vorverfahren konnte der Untersuchungsrichter nach wie vor nahezu unkontrolliert schwerwiegende Eingriffe in die Rechte des Be schuldigten anordnen. Im Hauptverfahren dominierte der Richter vollständig den Verfahrensablauf und der Unmittelbarkeitsgrundsatz wurde durch die recht um fangreichen Verlesungsmöglichkeiten eingeschränkt. In diesem Zusammenhang spielt die Ausgestaltung der Staatsanwaltschaft eine erhebliche Rolle, denn mit ihr sollte das Grundübel des Inquisitionsprozesses, die Konzentration der Staatsmacht in der Person des Richters, dessen Untersuchung der Beschuldigte hilflos ausge liefert ist, beseitigt werden. Im Folgenden soll herausgearbeitet werden, inwieweit mit der Strafverfahrensordnung Córdobas aus dem Jahre 1940 eine bessere Auf teilung der staatlichen Gewalt gelang. II. Die Organisation der Staatsanwaltschaft in der Provinz Córdoba 1. Amtsträger der Staatsanwaltschaft in der Provinz Córdoba
Wie überall in Argentinien entsprach die Struktur der Staatsanwaltschaft in der Provinz Córdoba der allgemeinen Gerichtsorganisation, d. h. die Fiskale waren den jeweiligen Instanzen zugeordnet. Die Besonderheit des Strafprozesses in Cór doba bestand jedoch darin, dass durch die im Jahre 1940 in Kraft getretene Straf prozessordnung Córdobas nur noch eine einheitliche Tatsacheninstanz vorgese hen war.529 Dem trug das Gesetz zur Organisation der Judikative, ley orgánica del poder judicial, welches kurz darauf am 31. Dezember 1942 verabschiedet wurde und am 01. August 1943 in Kraft trat, Rechnung.530 Dem Obersten Gerichtshof Córdobas, tribunal superior, Art. 16 ff. ley org. Cór doba, war ein fiscal del tribunal superior genannter Staatsanwalt zugeordnet, Art. 47 f. ley org. Córdoba. Im Strafprozess bestand seine Aufgabe darin, die zu vor von den untergeordneten Staatsanwälten ausgeübten Funktionen fortzufüh ren, wenn das Verfahren den Obersten Gerichtshof erreichte, Art. 47 Nr. 4 ley org. Córdoba. Dies war nur bei den wenigen, in ihrem Umfang begrenzten Rechtsmit teln mit Devolutiveffekt, also der casación, der inconstitucionalidad und der revisión, der Fall.531 Daneben oblag ihm die Aufsicht über die Staatsanwälte an den 529
Siehe dazu schon oben 4. Kapitel, A. I. sowie unten 4. Kapitel, A. III. 3. Dieses Gesetz soll der Übersichtlichkeit halber im Folgenden als ley org. Córdoba abge kürzt werden. Es wird in der Fassung zitiert, in der es am 01.08.1943 in Kraft trat. Es kam dadurch in Córdoba zu einer Umwandlung der oben im 3. Kapitel, B. II. 1. schon kurz skizzierten, für die argentinischen Provinzen typischen dreiinstanzlichen Struktur mit beige ordnetem Generalstaatsanwalt, Fiskal der Berufungskammer und agente fiscal in erster Instanz zu einer zweiinstanzlichen Struktur, in der diese drei Ämter jedoch mit veränderter Aufgaben beschreibung enthalten blieben, wie gleich zu sehen sein wird. 531 Siehe dazu unten 4. Kapitel, A. III. 3. 530
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untergeordneten Instanzen, deren Fehlverhalten er dem Obersten Gerichtshof zur Kenntnis zu bringen hatte, damit dieser Disziplinarmaßnahmen ergriff, Art. 47 Nr. 5, 6 ley org. Córdoba. Kam es zu einem Disziplinarverfahren, vertrat er dort die Anklage, Art. 47 Nr. 3 ley org. Córdoba. An den sog. cámaras, Art. 21 ff. ley org. Córdoba, vor welchen die einzige um fassende Tatsachenverhandlung stattfand, Art. 22 Nr. 1 ley org. Córdoba, war der fiscal de cámara tätig, Art. 49 f. ley org. Córdoba. Seine Aufgabe im Strafpro zess bestand darin, in der vom CPP Córdoba (1940) vorgesehen öffentlichen und mündlichen Hauptverhandlung die staatliche Anklage zu vertreten, Art. 49 Nr. 2 ley org. Córdoba. Weiterhin repräsentierte er die Staatsanwaltschaft in Verfah ren wegen im Ermittlungsstadium eingelegter Rechtsmittel, für die ebenfalls die cámara zuständig war, Art. 49 Nr. 1 ley org. Córdoba, Art. 23 Nr. 2 CPP Córdoba (1940).532 Außerdem war der fiscal de cámara zur Aufsicht über die untergeordne ten Staatsanwälte verpflichtet und musste deren Fehlverhalten dem Obersten Ge richtshof mitteilen, Art. 49 Nr. 4 ley org. Córdoba. Im Ermittlungsverfahren, welches vom Untersuchungsrichter, juez de instrucción, durchgeführt oder zumindest teilweise überwacht wurde, Art. 34 ley org. Córdoba, übernahm der agente fiscal die staatsanwaltlichen Funktionen.533 D. h. er förderte die Sachverhaltsaufklärung durch den Untersuchungsrichter oder über nahm ausnahmsweise sogar selbst die Herrschaft über das Ermittlungsverfahren, Art. 51 Nr. 1 ley org. Córdoba i. V. m. Art. 64 CPP Córdoba (1940).534 Die Betrachtung der Struktur der Staatsanwaltschaft in der Provinz Córdoba zeigt, dass die Verkürzung des strafrechtlichen Instanzenzuges nicht auch zum Wegfall einer Stufe innerhalb der Staatsanwaltschaft geführt hat, sondern dazu, dass zwei unterschiedliche Amtsträger in derselben Instanz tätig werden. Der zu vor für die erste Instanz zuständige Agente Fiscal wird dabei zum Ermittlungs staatsanwalt, während der Fiscal de Cámara in der Hauptverhandlung tätig wird. Es fragt sich, inwieweit eine solche, für das Gericht selbstverständliche, personelle Aufspaltung auch für die Staatsanwaltschaft opportun ist. Kritisiert wird, dass die Aufteilung nicht mit dem rein vorbereitenden Charakter des vom Staatsan 532 Dass das Gericht der Hauptverhandlung gleichzeitig Berufungsinstanz für im Ermittlungs verfahren eingelegte Rechtsmittel ist, erklärt Claría Olmedo, Tratado Bd. 2, S. 109, Fn. 134, als ökonomisch bedingte „Anormalität“. Die gesetzliche Formulierung in Art. 49 Nr. 1 ley org. Córdoba, wo von der Primera Instancia die Rede ist, ist insofern in Bezug auf den Strafprozess irreführend, als es sich beim Ermittlungsverfahren als lediglich vorbereitende Verfahrensphase nicht um eine eigenständige erste Instanz handelt. Vgl. zum Unterschied zwischen Vor- und Hauptverfahren sowie dem Instanzenzug bspw. Gelsi Bidart, Revista Argentina de Derecho Procesal Nr. 3 (1971), S. 336 ff. (341). Siehe dazu auch unten 5. Kapitel, A. II. 1. 533 Dass das Ermittlungsverfahren keine eigenständige Instanz darstellt, wurde gerade schon erwähnt. Es kam vielmehr zu einer personellen Aufspaltung zwischen fiscal de cámara und agente fiscal innerhalb einer einheitlichen Instanz. 534 Siehe zu dieser Unterscheidung zwischen información judicial und información sumaria die Ausführungen unten 4. Kapitel, A. III. 1.
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walt durchgeführten Ermittlungsverfahrens535 vereinbar sei, da Letzteres dadurch verschriftlicht werde, dass der ermittelnde Staatsanwalt gezwungen sei, alles für seinen in der Hauptverhandlung auftretenden Nachfolger in Aktenform festzu halten.536 Dem lässt sich aber entgegenhalten, dass es sich auch und gerade bei Personenidentität von Ermittlungsstaatsanwalt und Ankläger in der Hauptverhand lung kaum erreichen lassen wird, die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung vom Ermittlungsverfahren wie gewünscht abzukoppeln. Denn gerade der Staats anwalt, der schon das Ermittlungsverfahren geleitet hat, wird sich viel eher von den dort bereits gewonnenen Erkenntnissen leiten lassen als ein anderer Amtsträ ger, der sich neu informieren muss und aus der Sicht eines objektiven Dritten auf das Ermittlungsergebnis blickt. Abgesehen davon ist rein praktisch zu bedenken, dass es, je nach Komplexität der Gerichtsstruktur, organisatorisch ausgesprochen schwierig sein kann, den Sitzungsdienst der Staatsanwaltschaft so zu koordinie ren, dass jeder Staatsanwalt die von ihm verfassten Anklagen auch in der Haupt verhandlung vertritt. Lediglich bei umfangreicheren Verfahren dürfte es aus Effek tivitätsgesichtspunkten stets angezeigt sein, dass der ermittelnde Staatsanwalt, der sich nicht neu in das Verfahren einarbeiten muss, auch in der Hauptverhandlung auftritt.537 Im Übrigen überzeugen die Einwände gegen die personelle Trennung zwischen den Anklagevertretern in Vor- und Hauptverfahren nicht. 2. Die interne Struktur der Staatsanwaltschaft in der Provinz Córdoba
Für die Amtsträger der Staatsanwaltschaft in der Provinz Córdoba bedeutete die Zuordnung zu verschiedenen Instanzen eine gewisse Hierarchie, die sich so wohl aus dem Organisationsrecht als auch direkt aus dem Prozessrecht ergab. Im ley orgánica del poder judicial spiegelte sich diese Hierarchie in den bereits ge nannten Aufsichtsrechten der übergeordneten Staatsanwälte wieder. Daneben fan den sich im CPP Córdoba (1940) einige Befugnisse, mit denen die Staatsanwälte an den höheren Instanzen auf die Amtsführung derjenigen an den niedrigeren In stanzen einwirken konnten.538 Zunächst konnte der fiscal de cámara den Einstel lungsantrag des agente fiscal überprüfen, wenn er ihm vom Richter vorgelegt 535 Zu dem Vorbereitungscharakter der staatsanwaltlichen Ermittlungen siehe die ausführ lichen Erörterungen unten 4 Kapitel, B. III. 1. 536 Vgl. Martínez, Derecho Penal 7 (2000), S. 137 ff. (144 f.). Siehe auch die Aussagen argen tinischer Staatsanwälte bei Rodríguez Estévez, conflicto, S. 32, welche die Aufspaltung als un praktisch kritisieren. 537 In Deutschland haben die Staatsanwaltschaften daher einen weiten Spielraum bei der Ein teilung des Sitzungsdienstes, die in den Bundesländern einheitlich erlassenen Anordnungen über Organisation und Dienstbetrieb der Staatsanwaltschaft regeln nur, dass die Vertretung der Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung „möglichst“ dem Anklageverfasser übertragen werden soll. 538 Noch einmal näher werden diese Befugnisse im Rahmen der Ausführungen zur Stellung der Staatsanwaltschaft im Verfahren weiter unten, 4. Kapitel, A. III., erläutert.
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wurde, Art. 307 CPP Córdoba (1940). Klagte der agente fiscal an, konnte der Fis kal an der Strafkammer ihn herbeizitieren und nähere Informationen verlangen, wenn es sich um einen komplexen Sachverhalt handelte, oder ihn sogar die An klage in der Hauptverhandlung vertreten lassen, wenn er mit ihm grundsätzlich un eins über den Inhalt der Anklage war, Art. 63 CPP Córdoba (1940), Art. 50 Abs. 2 ley org. Córdoba. Legte der agente fiscal im Ermittlungsverfahren ein Rechtsmit tel ein, konnte der fiscal de cámara es zurückziehen, Art. 480 Abs. 3 CPP Córdoba (1940). Diese Befugnis wurde erst durch die Rechtsprechung und 1968 auch durch den Gesetzgeber auf den Fiskal am Obersten Gerichtshof Córdobas ausgeweitet, der damit vom fiscal de cámara eingelegte Rechtsmittel zurückziehen konnte.539 Die dargestellten gesetzlichen Regelungen stellen jedoch lediglich Ansätze zur Schaffung einer hierarchischen Behördenstruktur dar. Die Staatsanwälte an den höheren Instanzen hatten weder das Recht, den untergeordneten Amtsträgern generelle oder individuelle Weisungen zu erteilen, noch konnten sie sie gar bei grundsätzlichem Dissens ersetzen. Das im ley orgánica del poder judicial veran kerte Aufsichtsrecht enthielt lediglich die Pflicht den Obersten Gerichtshof zu in formieren, dem allein die Ausübung von Disziplinarbefugnissen oblag. Auch die Überprüfung der Anklage des agente fiscal konnte der fiscal de cámara nicht selb ständig durchführen, sondern war wie im Bundesrecht darauf angewiesen, dass der Untersuchungsrichter ihm den Einstellungsantrag zur Entscheidung vorlegte. Es bleibt daher festzuhalten, dass die einzelnen Staatsanwälte weitgehend unab hängig voneinander agierten, weshalb von einer einheitlichen Amtsausübung der Staatsanwaltschaft in Córdoba nicht gesprochen werden kann. Insofern zeigen sich Parallelen zur internen Struktur der Bundesstaatsanwaltschaft, wo ebenfalls zwar Ansätze einer hierarchischen Struktur zu finden waren, diese aber bei weitem nicht ausreichten, um von einer einheitlich agierenden Behörde auszugehen.540 3. Die Einordnung der Staatsanwaltschaft in der Provinz Córdoba in das Staatsgefüge als Ganzes
In der Provinz Córdoba war die Einordnung des staatlichen Anklägers in das Gewaltenteilungsgefüge der Verfassung eindeutig geregelt. Während diese Frage auf Bundesebene mangels einer einheitlichen Gesetzeslage bis in die neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts hinein offen blieb541, setzte sich parallel in den argentinischen Provinzen die in der heimatlichen Rechtswissenschaft vor herrschende Auffassung, wonach die Staatsanwaltschaft der Judikative zuzuord 539 Diese Ausweitung wurde gerade mit der Notwendigkeit einer einheitlichen Amtsausübung des Ministerio Público Fiscal begründet. Vgl. dazu Nuñez, CPP Córdoba anotado, S. 448 f.; Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 2, S. 182, Fn. 15. 540 Siehe dazu oben 3. Kapitel, B. II. 3. 541 Zur Entwicklung auf Bundesebene siehe oben 3. Kapitel, B. II. 4. sowie unten 5. Kapitel, A. II. 3.
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nen sei542, ganz klar durch und fand nach und nach Eingang in nahezu alle Pro vinzverfassungen.543 Die Verfassung von Córdoba bietet hierfür ein gutes Bei spiel. Sie erkannte alle obengenannten Amtsträger der Staatsanwaltschaft als Or gane der rechtsprechenden Gewalt an. Dies ergab sich für den Generalstaatsanwalt schon aus Art. 123 der Constitución de Córdoba, kurz Const. Córdoba, nach des sen Wortlaut er Mitglied des Obersten Gerichtshofs war.544 Noch eindeutiger sind aber die Art. 126, 127 i. V. m. Art. 116 Nr. 8 Const. Córdoba, wonach die in letz terer Vorschrift aufgezählten Amtsträger der Staatsanwaltschaft direkt als Teil der Judikative bezeichnet und mit den entsprechenden Garantien bedacht wurden. Als Rechtsprechungsorgane wurden die Staatsanwälte von der Legislative, genauer vom Senat545, ernannt, die Exekutive hatte lediglich ein Vorschlagsrecht, Art. 116 Nr. 8 i. V. m. Art. 128 Const. Córdoba. Nach Art. 126 i. V. m. Art. 128 Const. Cór doba waren die Staatsanwälte grundsätzlich unabsetzbar und konnten nur in den in Art. 126 aufgezählten Fällen, die sich auf schwerwiegendes Fehlverhalten oder Unfähigkeit zur Amtsausübung beschränkten, aus dem Amt entfernt werden. Sie waren keinerlei Einfluss der Exekutive unterworfen, sondern nur der allgemeinen Aufsicht des Obersten Gerichtshofs über die Justiz nach Art. 133 Const. Córdoba. Flankiert wurde die Einordnung der Staatsanwaltschaft in die Judikative, indem man die Aufgabe, die Interessen des Staates als Rechtsperson zu vertreten, auf von der Anklagebehörde abgespaltene Amtsträger namens Fiscal de Estado und Procurador de Tesoro übertrug, Art. 92 ff. ley org. Córdoba. Dadurch wurde gewähr leistet, dass die Exekutive nicht unter dem Hinweis auf die Doppelfunktion der Staatsanwälte Einfluss auf deren Amtsführung nehmen konnte.546 542 Insbesondere der Mitverfasser des CPP Córdoba (1940) Alfredo Vélez Mariconde trug er heblich dazu bei, diese Auffassung in Argentinien zu verbreiten, vgl. oben 3. Kapitel, B. II. 4. 543 Eine Aufzählung der entsprechenden Vorschriften in den Provinzverfassungen findet sich bei Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 2, S. 316. Einzig die Verfassung der Provinz Salta aus dem Jahre 1986 bildet eine Ausnahme, dort ist die Staatsanwaltschaft als außerhalb der klassi schen Gewaltentrias stehendes unabhängiges Organ konzipiert. Vgl. speziell zu der Regelung in Salta die (kritische) Besprechung Rusconis, in: Maier (Hrsg.), Ministerio Público, S. 72 ff. sowie zu der späteren Ausgestaltung der Staatsanwaltschaft auf Bundesebene als „vierte Ge walt“ in der vorliegenden Untersuchung unten 5. Kapitel, A. II. 3. 544 Die Vorschriften der Verfassung der Provinz von Córdoba werden hier in ihrer zur Zeit des Erlasses des CPP Córdoba (1940) gültigen Fassung aus dem Jahre 1923 zitiert. Diese fin det sich bspw. inklusive eines historischen Abgleichs mit den vorherigen Verfassungen Córdo bas, in: Torres, Arturo, La Constitución de Córdoba – Estudio Histórico (1943). Durch die recht kurz nach dem Erlass des CPP Córdoba (1940) erfolgte Verfassungsreform aus dem Jahre 1949 änderte sich lediglich die Nummerierung der hier genannten Verfassungsvorschriften, ihr Inhalt blieb der gleiche. Vgl. dazu die Version von 1949 bspw. in: Revista de la Facultad de Derecho Buenos Aires año IV Nr. 17 (1949), S. 1771–1800. 545 Wie auf Bundesebene wurde auch in der Provinz Córdoba die Legislative durch zwei Kammern, das Abgeordnetenhaus, Art. 43 ff. Const. Córdoba, und den Senat, Art. 51 ff. Const. Córdoba, ausgeübt. 546 Zu der bis Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts bestehenden Doppelfunktion der argentini schen Bundesstaatsanwaltschaft und den daraus resultierenden Problemen vgl. oben 2. Kapitel, B. II. 2. und 3. Kapitel, B. II. 4.
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Die Stellung der in Córdoba in erster Instanz tätig werdenden Staatsanwälte, der Agentes Fiscales und der Fiscales de Cámara, unterschied sich also grundsätz lich von derjenigen ihrer Kollegen auf Bundesebene, die aufgrund ihrer Ernennung und Absetzung durch den Staatspräsidenten in erheblichem Maße von der Exeku tive abhängig waren.547 Das dogmatische Fundament für die konsequente Einordnung der Staatsanwalt schaft in die Judikative lag im Inquisitionsprozess, wo die Anklagetätigkeit als le diglich auf die gerechte Gesetzesanwendung gerichtete, der Rechtsprechung zu gehörige Funktion verstanden wurde. Um ihre objektive Ausübung abzusichern, wurden der Staatsanwaltschaft einer Richterstellung entsprechende Garantien zugebilligt.548 Wie auf Verfahrensebene auch zeigt sich allerdings das Problem, dass diese Definition der staatsanwaltlichen Aufgabe nicht ausreichend die Un terschiede zwischen Anklage- und Urteilsfunktion herausarbeitet. Der Staatsan walt übernimmt nicht die richterliche Entscheidungstätigkeit, sondern initiiert sie mit seiner Anklage lediglich. Er entscheidet, ob er dem Richter einen bestimm ten Sachverhalt vorlegt, fällt aber nicht bereits ein abschließendes, umfassende Rechtskraft entfaltendes Urteil.549 Seine Funktion unterliegt daher auch nicht den gleichen Gesetzmäßigkeiten und Zwängen wie diejenige des Richters. Beide sind wie alle staatliche Gewalt an Recht und Gesetz gebunden, während die richterliche Stellung aber absolut vom Bedürfnis der unbeeinflussten Entscheidungsfindung bestimmt wird, ist diejenige des Staatsanwalts auch anderen Erwägungen zugäng lich. So ergibt sich aus dem Recht des Beschuldigten auf Gleichbehandlung vor dem Gesetz, Art. 16 der argentinischen Verfassung, das Bedürfnis für eine gleich mäßige Strafverfolgung, welche sich nur verwirklichen lässt, wenn der einzelne Staatsanwalt in eine hierarchische Struktur eingegliedert ist, wie sie für die voll ziehende Gewalt typisch ist.550 Auch praktische Gründe sprechen für eine solche Organisation, da die mangelnde Möglichkeit der Vorgesetzten, ihren Untergebe 547
Vgl. dazu die Ausführungen oben im 3. Kapitel, B. II. 4. Siehe dazu grundlegend Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 250 ff. m. w. N. der sich auf die entsprechende italienische Doktrin bezieht, sowie die knappere Darstellung bei Claría Olmedo, Tratado Bd. 2, S. 285 ff., der von der „Anklage als sine qua non der Rechtspre chung“ (Übers. d. Verf.) spricht. Zur Rezeption der Judikativstellung der Staatsanwaltschaft aus dem italienischen Recht vgl. auch schon oben 3. Kapitel, B. II. 4. 549 In Deutschland, wo der Staatsanwalt (anders als im vorliegend untersuchten Gesetzes werk, dazu sogleich) auch zur eigenständigen Verfahrenseinstellung im Vorverfahren befugt ist und damit das Verfahren wie ein Richter abschließend beenden kann, wird damit gegen den Ju dikativcharakter der Staatsanwaltschaft argumentiert, dass ihren Entscheidungen die materielle Rechtskraft fehlt, sie also nicht die erneute Strafverfolgung wegen derselben Tat ausschließen. Vgl. dazu Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 132 f.; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, S. 48 f. 550 Vgl. Becerra, Ministerio Público Fiscal, S. 94. Siehe auch Bovino, in: ders./Hurtado, Justicia Penal y Derechos Humanos, S. 214 f. sowie Rusconi, Pena y Estado Nr. 2 (1997), S. 153 ff. (165) und Sáenz, La Ley 1994-B, S. 922 ff. (925), die dazu ausführen, dass es gerade Aufgabe der vollziehenden Gewalt sei, über die Staatsanwaltschaft auf die einheitliche Ver wirklichung der gesetzgeberischen Vorgaben bezüglich der Strafverfolgung hinzuwirken. 548
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nen bestimmte Aufgaben zuzuweisen, zu entziehen oder ihnen durch Weisun gen auch nur bestimmte Arbeitsvorgaben zu machen, dazu führt, dass die Staats anwaltschaft nicht in der Lage ist, flexibel auf ihre teils extrem unterschiedlichen Arbeitsanforderungen zu reagieren.551 Weiterhin zu bedenken ist der zunehmende Zwang der staatlichen Ankläger zu einer selektiven Strafverfolgung.552 Soll diese nicht im Rahmen verdeckter Auswahlprozesse geschehen, muss eine einheitliche Kriminalpolitik implementiert werden, was eine Exekutivaufgabe ist und somit ebenfalls für die Zugehörigkeit der Staatsanwaltschaft zur vollziehenden Gewalt spricht.553 Die als Regel weiter bestehende Bindung an das Legalitätsprinzip so wie die Pflicht zur Objektivität hindern eine solche Einordnung der Staatsanwalt schaft nicht, denn auch das Handeln der Exekutive erfolgt auf gesetzlicher Grund lage und bemisst sich nach einem objektiven Maßstab.554 Das Argument der Gewaltenteilung stützt ebenfalls nicht die Einordnung der Staatsanwaltschaft in die Judikative. Zwar wird auf diese Weise vermieden, dass die Exekutive die Staatsanwaltschaft instrumentalisiert, um in ihrem Sinne auf die Rechtsprechung einzuwirken, was gerade in Argentinien mit seinem ausufernden Präsidentialismus von großem Wert ist. Wie schon von González und Jofré tref fend ausgeführt, bedeutet jedoch auch eine in der Exekutive angesiedelte Staatsan waltschaft nicht per se einen unzulässigen Einfluss auf die Justiz. Indem die Staats anwaltschaft die Exekutive vor Gericht vertritt, dient sie als Mittlerin zwischen den Gewalten und unterwirft die Exekutive gerade der richterlichen Entscheidungs macht.555 Das Bestreben, die Justiz vom Einfluss der vollziehenden Gewalt abzu koppeln, führt dagegen leicht dazu, die Notwendigkeit einer Aufspaltung der Straf gewalt innerhalb des Strafprozesses zu verkennen. Der grundlegende Unterschied zwischen Staatsanwalt und Richter wird vor allem anderen darin deutlich, dass 551
Siehe dazu Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 2, S. 329, der darauf hinweist, dass sich der einzelne Staatsanwalt häufig in hochkomplexen Verfahren bewegen muss und sich dort einer Reihe von Verteidigern gegenüber sieht. Siehe dazu auch auf deutscher Seite Henkel, Strafver fahrensrecht, S. 136. 552 Siehe dazu Marchisio, in: Stippel/ders. (Hrsg.), Principio de oportunidad, S. 59 ff. sowie in der vorliegenden Arbeit unten 5. Kapitel, A. III. 1. f). 553 Bruzzone erklärt in diesem Zusammenhang, dass gerade nicht die Gerichte, sondern die Staatsanwaltschaft zur Durchsetzung von Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten berufen sei, weil die Anklagebehörde zu einer einheitlichen Amtsausübung und damit auch zur Durchsetzung einheitlicher Kriterien bei der Ausübung der Opportunitätsbefugnisse in der Lage sei. Vgl. dazu Bruzzone, in: Maier (Hrsg.), Ministerio Público, S. 184; Pons/Bruzzone, Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 0 (1993), S. 219 ff. (230 ff.). 554 Siehe dazu Koller, Staatsanwaltschaft, S. 93 f. 555 Zur von González unter Berufung auf angloamerikanische Vorbilder ausgearbeiteten Dok trin, welche später von Jofré übernommen wurde, vgl. schon oben 3. Kapitel, B. II. 4. Siehe dazu auch Rusconi, Pena y Estado Nr. 2 (1997), S. 153 ff. (160) sowie Becerra, Ministerio Público Fiscal, S. 92 f., der mit einem ähnlichen Gedankengang die hierarchische Struktur in nerhalb der Staatsanwaltschaft rechtfertigt, allerdings noch implizit auf den formalen Partei begriff Bezug nimmt, indem er zwischen der Objektivitätspflicht des Staatsanwalts und der Un parteilichkeit des Richters differenziert.
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der Staatsanwalt die Urteilstätigkeit schlicht nicht übernehmen darf, weil die Ver einigung von Anklage- und Urteilstätigkeit seine Objektivität gefährdet. Das aus dieser Überlegung hervorgegangene Akkusationsprinzip, also die Trennung von Anklage- und Urteilsfunktion, welche das Recht des Beschuldigten auf Verteidi gung und auf einen fairen Prozess sichert, bedarf notwendig auch einer organisato rischen Absicherung durch eine entsprechende Trennung von Anklagebehörde und Gericht. Sind beide gleichartig in der Judikative vereint, ist diese nicht gegeben, die Unabhängigkeit der einzelnen Rechtsprechungsorgane untereinander reicht nicht aus.556 Denn mit der völligen Angleichung des Staatsanwalts an den Richter auf organisatorischer Ebene557 droht auch die Grenze zwischen ihren Funktionen zu verschwimmen. In den entstehenden Strukturen ist die Auffassung zementiert, dass die Anklagetätigkeit der Rechtsprechung zuzuordnen sei. Der Staatsanwalt ist aber gerade kein „Quasi-Richter“. Anders als etwa bei der Einlegung von Rechts mitteln mit Devolutiveffekt geht es bei der Anklageerhebung nicht darum, dass ein Urteil durch einen Richterkollegen auf Fehlerhaftigkeit überprüft wird. Eine sol che Sichtweise der staatsanwaltlichen Anklage würde nahe legen, zunächst von ihrer Richtigkeit auszugehen und somit eine Verschuldensvermutung zu Lasten des Beschuldigten, wie sie dem gemeinrechtlichen Inquisitionsprozess inhärent war558, aufzustellen. Die Anklage ist eben keine Feststellung der Schuld des Ange klagten, sondern lediglich die Behauptung bzw. vorläufige Feststellung eines Tat verdachts ohne jede präjudizielle Wirkung.559 Dem fundamental anderen Charak ter der Anklage gegenüber dem Urteil und der Notwendigkeit ihrer Trennung wird unzureichend Rechnung getragen, wenn die Staatsanwaltschaft wie das Gericht 556 Man könnte bereits erwägen, ob nicht schon diese Unabhängigkeit zumindest teilweise eine Fiktion ist und die Staatsanwaltschaft statt der Gefahr einer unzulässigen Einflussnahme der Exekutive schlicht derjenigen einer unzulässigen Einflussnahme der Judikative ausgesetzt wird. So Rusconi, in: Maier (Hrsg.), Ministerio Público, S. 64 f., sowie Maier, Derecho Proce sal Penal Bd. 2, S. 334, der verkappte Weisungen der übergeordneten Gerichte an die Staatsan waltschaft in Form der Wahrnahme von justiziellen Aufsichtsrechten für möglich hält. 557 Staatsanwälte wie Richter sind einem bestimmten Tribunal zugeordnet, so dass immer dieselben Personen miteinander in Kontakt stehen. Für beide Ämter gelten identische Ernen nungsvoraussetzungen, was dazu führt, dass häufig von einem in das andere, meist von der Staatsanwaltschaft zum Gericht, gewechselt wird. Das Gehalt von Staatsanwalt und Richter ist gleich hoch und wird aus einem Haushalt finanziert. Es gelten dieselben dienstrechtlichen Vor schriften und die Staatsanwaltschaft unterliegt der richterlichen Aufsicht. Die Justizverwaltung ist auch für die Anklagebehörde zuständig und entscheidet über die Zuweisung von Büros, An gestellten usw. bis hin zur der Möglichkeit, dass sich Gerichte und Ankläger dieselben Res sourcen teilen. Vgl. dazu De la Riestra, Jurisprudencia Argentina 1963–6, S. 426 ff. (426) und Colautti, La Ley 1983-C, S. 1097 ff. (1098), die allerdings Ähnlichkeiten zwischen Gerichten und Staatsanwaltschaft aufzählen, um auf diese Weise die Zugehörigkeit der Anklagebehörde zur Judikative argumentativ zu stützen. Besonders eindrücklich in diesem Sinne ist die lang jährige Praxis an den in den Provinzen angesiedelten Bundesgerichten, wo länger abwesende Richter durch den jeweils dem Gericht zugeordneten Fiskal vertreten wurden, vgl. De la Riestra, in Jurisprudencia Argentina 1963–3, S.426 ff. (427); Vanossi, El Derecho 101 (1983), S. 528 ff. (532). 558 Siehe dazu Mittermaier, Gesetzgebung, S. 273 f., der Hélie zitiert. 559 Vgl. zu dieser Natur der Anklage Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 99.
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der Judikative zugeordnet ist. Die organisatorische Ausgestaltung der staatlichen Anklagebehörde als richtergleiches Judikativorgan wird daher ihrer entscheiden den prozessualen Aufgabe, die Anklagefunktion vom Gericht fernzuhalten und da durch seine absolute Objektivität zu sichern, nicht gerecht. 4. Zusammenfassung
Die Organisationsstruktur der Staatsanwaltschaft in Córdoba weicht deutlich von derjenigen der staatlichen Ankläger auf Bundesebene ab. Zunächst fällt auf, dass in der Provinz Córdoba unterschiedliche Amtsträger in Ermittlungs- und Hauptverfahren agieren. Zwar muss sich dann der in der Hauptverhandlung auf tretende Staatsanwalt neu in die Sache einarbeiten, aber besonders in kleineren Verfahren mögen dennoch Gründe der Praktikabilität für diese Arbeitsteilung spre chen. Auch die Bedenken, dass dadurch der Vorbereitungscharakter des Vorver fahrens wegen der umfassenden Verschriftlichung seiner Ergebnisse nur unzu reichend gewahrt werde, überzeugen nicht, denn die Gefahr einer Fortwirkung der Ermittlungsergebnisse in der Hauptverhandlung wird durch die personelle Tren nung innerhalb der Anklagebehörde eher verringert. Die entscheidende Neuerung gegenüber dem Zustand auf Bundesebene besteht in der Provinz Córdoba aber darin, dass die Staatsanwaltschaft einheitlich in eine bestimmte Staatsgewalt integriert ist, nämlich in die Judikative. Auch die in erster Instanz tätigen Fiskale genossen dort richtergleiche Garantien. Hierin manifestiert sich die aus Italien rezipierte, dem inquisitorischen Verfahrensverständnis entspre chende Vorstellung, wonach die Staatsanwaltschaft eine rechtsprechungsartige Tä tigkeit ausübe, welche sich von der richterlichen nur graduell abhebe. Dadurch werden jedoch die wesentlichen Unterschiede zwischen den Aufgaben von Ge richt und Staatsanwaltschaft verkannt und die Trennung von Anklage- und Urteils funktion bereits auf organisatorischer Ebene erschwert. Die Ausübung der Ankla gefunktion ist eben kein Schuldspruch, sondern eine bloße Verdachtsfeststellung. Sie unterliegt anderen Gesetzmäßigkeiten als die Urteilstätigkeit und muss sau ber von ihr getrennt werden, da andernfalls eine Vorverurteilung des Angeklagten droht. Viel spricht in diesem Sinne dafür, die Anklagefunktion nicht der Judika tive, sondern der Exekutive zuzuordnen. Diese Möglichkeit wird weiter unten an hand des sog. Entwurfs Maier zu untersuchen sein.560
560
Siehe dazu unten 4. Kapitel, B. II. 3.
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III. Die Stellung der Staatsanwaltschaft im Verfahren des CPP Córdoba (1940)
Mit Ausnahme der Privatklagedelikte war die Staatsanwaltschaft im CPP Cór doba (1940) grundsätzlich an allen Verfahren als Ankläger beteiligt, Art. 5 Abs. 1. Zu ihrer Funktion fasst Art. 62 CPP Córdoba (1940) nur zusammen, dass sie die Strafklage in der gesetzlich vorgeschriebenen Form fördert und ausübt und außer dem die instrucción sumaria durchführt. Eine Vorschrift wie Art. 118 Nr. 3, 4 CPPN (1889), wo die Aufgabe des Staatsanwalts als Wächter der Einhaltung von Prozessvorschriften definiert wurde, fehlte. Dies bedeutet aber keineswegs, dass der Staatsanwalt als Ankläger im materiellen Sinne agiert. Eine solche Vorschrift war schlicht überflüssig, da sie eine rein abstrakte Aufgabenzuschreibung vor nimmt, ohne konkrete Befugnisse zu ihrer Durchführung zu enthalten. Dass der CPP Córdoba (1940) von der objektiven Amtsausübung des staatlichen Anklä gers ausgeht, ergibt sich neben seiner organisatorischen Zugehörigkeit zur Judika tive auch schon mittelbar aus Art. 67 i. V. m. Art. 51 CPP Córdoba (1940), wo die Möglichkeit normiert ist, den Staatsanwalt vergleichbar einem Richter wegen Be fangenheit abzulehnen.561 1. Vorverfahren
Wie gezeigt kannte der CPP Córdoba (1940) zwei grundlegend unterschiedliche Formen des Vorverfahrens, die información judicial unter Anleitung des Gerichts als Regel und ausnahmsweise bei leichteren Delikten die vom Staatsanwalt durch geführte información sumaria. Auch im Falle der información judicial erfuhr die Stellung des Fiskals gegenüber dem bisherigen Rechtszustand eine Aufwertung, da der Richter das Vorverfahren nicht mehr ohne seine Mitwirkung einleiten konnte. Er war auf das sog. requerimiento angewiesen, mit dem der Fiskal die Verfahrens einleitung verlangte, Art. 186, 197 CPP Córdoba (1940). Das requerimiento, das soweit möglich eine Beschreibung des Tathergangs und des Beschuldigten ent halten sowie konkrete Ermittlungsmaßnahmen vorschlagen sollte, Art. 198 CPP Córdoba (1940), musste der Fiskal immer einlegen, wenn er durch eine Anzeige oder auf sonstige Weise von einem Delikt Kenntnis erlangte. Für seine Entschei dung, ob er die Verfahrenseinleitung verlangte, war somit allein das Legalitäts prinzip ausschlaggebend, Zweckmäßigkeitserwägungen waren vom Gesetz nicht vorgesehen. Erhielt der Fiskal eine Anzeige, bei der er zum Schluss kam, dass es sich nicht um ein verfolgbares Delikt handelte, durfte er nicht selbständig die An 561 Vgl. dazu auch die Ausführungen des Mitverfassers des CPP Córdoba (1940) Alfredo élez Mariconde, in seinem Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 250 ff., 253 sowie Bd. 2, S. 295 f., V in denen er ausdrücklich hervorhebt, dass Anklage- und Urteilsfunktion beide das gleiche Ziel des gerechten Verfahrensausgangs verfolgten und sich damit lediglich in einem formellen Sinne unterschieden.
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zeige abweisen, sondern konnte dies lediglich beim Richter beantragen, Art. 187 Abs. 1 CPP Córdoba (1940). War Letzterer der Meinung, dass entgegen der Be wertung des Fiskals ausreichender Grund für die Einleitung eines Ermittlungsver fahrens bestand, verwies Art. 187 Abs. 2 CPP Córdoba (1940) auf das Verfahren nach Art. 307 CPP Córdoba (1940) für den Fall einer vergleichbaren Uneinigkeit zwischen Staatsanwalt und Gericht über die Anklageerhebung. Der Richter legte dann die Sache dem übergeordneten Fiskal zur Entscheidung vor, dazu sogleich.562 Umgekehrt stand auch dem Staatsanwalt eine Möglichkeit zur Verfügung, die rich terliche Entscheidung durch dessen übergeordnete Kollegen überprüfen zu lassen. Verweigerte der Richter nämlich trotz des Verlangens der Staatsanwaltschaft die Einleitung von Ermittlungsmaßnahmen, konnte der Fiskal gegen die Entscheidung des Gerichts Berufung einlegen, Art. 187 Abs. 3 CPP Córdoba (1940). Während der richterlichen Ermittlungen konnte der Staatsanwalt sich an al len Ermittlungsmaßnahmen beteiligen, weitere Maßnahmen anregen und Ein wände vorbringen, Art. 208 Abs. 1 CPP Córdoba (1940). Vor der Erhebung von nicht reproduzierbaren Beweisen musste der Richter ihn, wie auch die Verteidi gung, benachrichtigen, Art. 215 CPP Córdoba (1940). Seine Anwesenheit war für die Durchführung der Ermittlungen allerdings nicht grundsätzlich erforderlich, Art. 208 Abs. 2 CPP Córdoba (1940). Der Richter ordnete die vom Staatsanwalt angeregten Ermittlungsmaßnahmen an, wenn er sie als sachdienlich erachtete. Lehnte er die Durchführung ab, standen dem Staatsanwalt dagegen keine Anfech tungsmöglichkeiten zur Verfügung, Art. 208 Abs. 3 CPP Córdoba (1940). War der Richter der Meinung, das Ermittlungsverfahren sei abgeschlossen, lei tete er die Akten an den Fiskal weiter, der nach ihrer Einsicht weitere Ermittlungs maßnahmen anregen, Anklage erheben oder die Einstellung des Verfahrens be antragen konnte, Art. 297, 298 CPP Córdoba (1940). Die Entscheidung über die Anklageerhebung hatte der Fiskal erneut rein nach objektiven Gesichtspunkten zu treffen, d. h. ausschließlich danach, ob ein für die Eröffnung des Hauptverfah rens ausreichender Tatverdacht vorlag, Art. 62 CPP Córdoba (1940).563 Sowohl für die Einstellung als auch für die Anklageerhebung benötigte der Staatsanwalt das Einverständnis des Gerichts. Beantragte er die Einstellung und war der Rich ter nicht mit ihm einer Meinung, legte der Richter die Frage dem Staatsanwalt in nächsthöherer Instanz vor, dessen Entscheidung dann für die Beteiligten bindend war, Art. 307 CPP Córdoba (1940). Erhob der Staatsanwalt dagegen Anklage, konnte der Untersuchungsrichter nach wie vor einstellen, entweder von Amts we gen, Art. 366 CPP Córdoba (1940), oder auf einen Antrag der Verteidigung nach 562 Siehe auch schon die Ausführungen zum CPPN (1889), wo eine entsprechende Regelung bei Dissens zwischen Staatsanwalt und Richter über die Anklageerhebung bestand, oben 3. Ka pitel, B. III. 3. a). 563 Vélez Mariconde führt in seinem Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 251 sowie Bd. 2, S. 180 f. zu dieser uneingeschränkten Geltung des Legalitätsgrundsatzes aus, dass sie sich schon aus dem Offizialprinzip ergebe, wonach der Staatsanwalt verpflichtet sei, jedem Ver dacht der Begehung einer Straftat nachzugehen.
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Art. 302 CPP Córdoba (1940). Eine solche Einstellungsverfügung konnte wiede rum der Staatsanwalt mit dem Rechtsmittel der Berufung durch das nächsthöhere Gericht überprüfen lassen, Art. 370 CPP Córdoba (1940).564 Dass die Möglichkeit des Richters, den Einstellungsantrag des Staatsanwalts dem vorgesetzten Staatsanwalt vorzulegen, keinen Verstoß gegen das Akkusations prinzip darstellt, da die Entscheidung innerhalb der Staatsanwaltschaft verbleibt, wurde schon dargelegt.565 Nicht ganz so unproblematisch war demgegenüber der umgekehrte Fall, dass der Staatsanwalt die Einstellungsverfügung des Untersu chungsrichters überprüfen ließ. Legte der Staatsanwalt nämlich Berufung gegen die Einstellungsverfügung ein, wurde darüber mangels eigenständiger Appella tionsgerichte vor dem Gericht der Hauptverhandlung entschieden, Art. 23 Nr. 2 CPP Córdoba (1940). Betraut man den Spruchkörper, der später abschließend über die Anklage zu entscheiden hat, bereits im Vorfeld mit ihrer Überprüfung, liegt stets die Gefahr einer Vorwegnahme der Hauptsache nahe.566 Sie wird vor liegend allerdings dadurch verringert, dass das Gericht über die Berufung des Staatsanwalts entschied, ohne noch einmal Beweise zu erheben, vgl. Art. 487 CPP Córdoba (1940). Die revolutionärste Neuerung des CPP Córdoba (1940) im Vorverfahren war sicher die auf bestimmte Fälle begrenzte Ermittlungszuständigkeit des Staats anwalts. Im argentinischen Strafverfahren war die Untersuchungsfunktion bis dato stets allein dem Richter zugeordnet gewesen. Mit der sog. instrucción sumaria wurde nun zum ersten Mal die Untersuchung von Straftaten der Staatsanwaltschaft übertragen. Als Vorbild diente dabei das italienische Strafverfahren, genauer die italienischen Strafverfahrensordnungen von 1913 und von 1930.567 Das Untersu chungsverfahren lag dann in den Händen des Staatsanwalts, wenn es sich um ein Delikt mit einer Strafdrohung von weniger als zwei Jahren oder um eines, das vor Gericht begangen worden war, handelte, Art. 311 CPP Córdoba (1940). Zweck der 564 Die Autoren sprechen bei diesem System, wo grundsätzlich Richter und Staatsanwalt schaft übereinstimmen müssen und bei Dissens der eine die Entscheidung des anderen durch jeweils dessen übergeordnetes Organ überprüfen lassen kann, von einer „gewissen Symmetrie“ (Übers. d. Verf.), vgl. Vélez Mariconde/Soler, Proyecto, S. LXXXIV. 565 Siehe dazu oben 3. Kapitel, B. III. 3. a). 566 In Deutschland etwa, wo die Vorprüfung ebenfalls dem Gericht der Hauptverhandlung obliegt, versucht man, dieser Gefahr entgegenzuwirken, indem man das Vorverfahren aus drücklich auf eine lediglich summarische Prüfung begrenzt, vgl. Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 297 f. Die Schöpfer der Strafverfahrensordnung Córdobas sahen dieses Problem durchaus, erklärten ihre Regelung aber mit der praktischen Unmöglichkeit, in Córdoba zu diesem Zwecke in der ersten Instanz einen eigenen Zweig von Berufungsgerichten einzurichten. Siehe Vélez Mariconde/Soler, Proyecto, S. LXXXIV. 567 Hauptvorbild war die italienische Strafverfahrensordnung von 1913, an der sich die Be fugnisse des Staatsanwalts grundsätzlich orientierten. In Bezug auf den Ausnahmecharakter der staatsanwaltlichen Ermittlungen entsprach das Institut in Córdoba allerdings eher dem neue ren italienischen Gesetz von 1930. Vgl. dazu Maier, Jurisprudencia Argentina – Doctrina 1971, S. 101 ff. (104); Vélez Mariconde, Revista de Derecho Procesal Nr. 3,4 (1951), S. 319 ff. (358); Claría Olmedo, Tratado Bd. 6, S. 339.
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4. Kap.: Die Rezeption kontinentaleuropäischer Reformen
instrucción sumaria war es, in einfachen Fällen und bei Straftaten ohne schwer wiegende Konsequenzen das unnötig umständliche reguläre Vorverfahren abzu kürzen.568 Daher sollte der Fiskal auch in den Fällen des Art. 311 dann eine Vor untersuchung durch den Richter beantragen, wenn die Komplexität des Falles mit dem summarischen Verfahren unvereinbar war, Art. 312 CPP Córdoba (1940). Der Staatsanwalt führte gemäß Art. 314 Abs. 1 CPP Córdoba (1940) grundsätz lich alle zur Sachverhaltsaufklärung erforderlichen Ermittlungsmaßnahmen, die sonst dem Untersuchungsrichter oblagen, durch und sollte sich dabei der sog. Jus tizpolizei, Policía Judicial, einem speziell mit Strafverfolgungsaufgaben betrauten Zweig der Polizei, bedienen.569 Dabei war er nur bei den besonders intensiven Ein griffen der Durchsuchung von Sachen und Personen sowie der Beschlagnahme an die sonst immer verpflichtende Form nach Art. 195 CPP Córdoba (1940) gebun den, wonach jede Ermittlungsmaßnahme schriftlich festgehalten werden musste, Art. 314 Abs. 2 CPP Córdoba (1940). Dass der Staatsanwalt dabei nicht ledig lich belastendes Beweismaterial, sondern genauso solches zu Gunsten des Be schuldigten zu ermitteln hatte, ergibt sich nicht nur aus allgemeinen Erwägungen wie seiner Zugehörigkeit zur Judikative570 oder der Ablehnungsmöglichkeit we gen Befangenheit nach Art. 67 CPP Córdoba (1940), sondern schon direkt aus den Vorschriften zur instrucción sumaria selbst. Dass der Staatsanwalt alle dem Un tersuchungsrichter obliegenden Aufgaben wahrnimmt, bedeutet, dass er eben um fassend und nicht nur einseitig das Vorliegen einer Straftat zu untersuchen hatte, um eine Entscheidungsgrundlage über die Einstellung oder die Weiterführung des Verfahrens zu gewinnen. Von Beginn des Verfahrens an musste der Staatsanwalt für einen Verteidiger des Beschuldigten sorgen, Art. 317, 102, 210 CPP Córdoba (1940). Er durfte den Beschuldigten in Untersuchungshaft nehmen, wobei dieser nach achtundvierzig Stunden bei einem Untersuchungsrichter seine Freilassung beantragen konnte, Art. 316 CPP Córdoba (1940). Abgesehen davon war der Un tersuchungsrichter nur dann am Verfahren beteiligt, wenn er nicht reproduzier bare Beweismittel wie die Aussage von an der Teilnahme am Hauptverfahren ver hinderten Zeugen entgegennahm, Art. 315 CPP Córdoba (1940). Die Autoren des Gesetzes weisen in den Motiven ausdrücklich darauf hin, dass die Beteiligung 568
Vgl. Vélez Mariconde/Soler, Proyecto, S. LXXXVI f. Tatsächlich musste die Staatsanwaltschaft in den folgenden Jahrzehnten ausschließlich auf die allgemeine, auch mit Präventivaufgaben betraute Polizei zurückgreifen, weil die vom CPP Córdoba (1940) vorgesehene Justizpolizei nicht eingerichtet wurde. Ein erster Versuch bestand im Provinzgesetz Nr. 4615 aus dem Jahre 1958, welches jedoch keine praktische Um setzung erfuhr. Es sollte bis zum Jahr 1984 dauern, bis mit Provinzgesetz Nr. 7086 ein erster Schritt zur Einrichtung der Justizpolizei unternommen wurde. Siehe dazu Maier, Derecho Pro cesal Penal Bd. 2, S. 412 sowie ausführlich Cafferata Nores, Policía Judicial, S. 29 ff. Auch da nach bereitete die Implementierung der Justizpolizei aber weiterhin Probleme, wie Barberis, Semanario Jurídico 1994-B, S. 461 ff. zehn Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 7086 kon statiert. Zum Verhältnis zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei sowie zum Problem der Ein richtung der Justizpolizei siehe die Erörterungen unten im 5. Kapitel, A. III. 1. d). 570 Vgl. dazu oben 4. Kapitel, A. III. 3. 569
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des Richters an der Erhebung solcher Beweise sich auf ihre Entgegennahme be schränkt. Auf die Entscheidung des Staatsanwalt über die Notwendigkeit der je weiligen Beweiserhebung hatte er keinen Einfluss.571 Für den Abschluss der Ermittlungen waren sehr knappe Fristen vorgesehen, der Staatsanwalt musste die Ermittlungen spätestens einen Monat nach Verfah renseröffnung bzw. fünfzehn Tage nach Verhaftung des Beschuldigten abschlie ßen und konnte lediglich eine Verlängerung von maximal zehn Tagen beantragen, Art. 318, 319 CPP Córdoba (1940). Kam er zu dem Schluss, dass ausreichende Anhaltspunkte für eine Strafbarkeit des Beschuldigten vorlagen, erhob er direkt Anklage vor dem Gericht der Hauptverhandlung, Art. 323 CPP Córdoba (1940), musste den Beschuldigten zuvor allerdings mindestens einmal zur Sache befragt haben, Art. 324 CPP Córdoba (1940). War er dagegen der Ansicht, dass die Ermitt lungsergebnisse eine Anklageerhebung nicht rechtfertigten, beantragte der Fiskal beim Untersuchungsrichter eine Einstellung des Verfahrens, Art. 321 CPP Cór doba (1940). Teilte der Richter diese Meinung nicht, beschloss er nach Art. 321 CPP Córdoba (1940) den Übergang in das reguläre Vorverfahren, um die Sache umfassender zu untersuchen. Die nähere Betrachtung der im CPP Córdoba (1940) vorgesehenen instrucción sumaria zeigt, dass die durch den Staatsanwalt durchgeführten Ermittlungen so wohl in Bezug auf den Ermittlungsaufwand als auch bezüglich der rechtsstaatli chen Garantien zu Gunsten des Beschuldigten keineswegs dem Vorverfahren unter Leitung des Untersuchungsrichters gleichgestellt sind. Es werden nur summari sche Ermittlungen innerhalb eines engen Zeitrahmens durchgeführt und die Be schuldigtenrechte werden nur soweit berücksichtigt, wie es nach Ansicht des Ge setzgebers für eine angemessene Verteidigung unumgänglich ist. Der Staatsanwalt soll entsprechend auch nur ausnahmsweise in den Fällen die Grundlage für seine Entscheidung über die Anklageerhebung selbst untersuchen dürfen, in denen die umfangreichen Untersuchungsmöglichkeiten und die rechtsstaatlichen Garantien, welche die richterliche Voruntersuchung bietet572, nicht notwendig sind und zu Gunsten einer größeren Effektivität und damit einhergehenden Entlastung des Jus tizapparates zurückgestellt werden können. Schon aus dem Gesetzestext ergibt sich also, dass die Schöpfer des CPP Córdoba (1940) die nur für das summarische Verfahren vorgesehene Untersuchung durch den Staatsanwalt nicht als Möglich keit ansahen, die richterliche Untersuchung gleichwertig zu ersetzen. 571
Siehe dazu Vélez Mariconde/Soler, Proyecto, S. LXXXVIII. Der längere und stärker formalisierte Verfahrensgang der richterlichen Voruntersuchung bot dem Beschuldigten weitaus größere Möglichkeiten, auf die Ermittlungen einzuwirken als die summarische Voruntersuchung durch den Staatsanwalt, in deren Rahmen er regelmäßig nur einmal kurz vernommen wurde. Vgl. zu den Beteiligungsmöglichkeiten des Beschuldigten im regulären Vorverfahren bereits oben 4. Kapitel, A. I. Wie sogleich zu sehen sein wird, waren die Verfasser des CPP Córdoba (1940) abgesehen davon aber schon der Auffassung, dass die Über tragung der Ermittlungen auf den Staatsanwalt per se einen Verlust an Rechtsstaatlichkeit be deute, da nur ein Richter in der Lage sei, sie absolut objektiv durchzuführen. 572
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Dogmatischer Hintergrund dieser Ausgestaltung des Instituts der información sumaria war, dass sich auch seine Befürworter573 ausdrücklich zu der damals in Argentinien einhelligen Auffassung bekannten, dass das Vorverfahren seiner Natur nach schon zu den Aufgaben der Rechtsprechung im engeren Sinne, der sog. juris dicción (im Gegensatz zur umfassenderen función judicial, zu der auch die An klage durch die Staatsanwaltschaft zählt574), gehöre. Es sei daher auch von einem zur Urteilsfindung berufenen Organ, also einem Richter, durchzuführen. Im Vor verfahren müsse objektiv und unter Berücksichtigung auf das Recht auf Verteidi gung ermittelt werden, es komme zu nicht wiederholbaren Beweiserhebungen und die Entscheidung über die Einstellung des Verfahrens habe abschließenden Cha rakter. All dies könne nur einem Richter übertragen werden, nicht aber der Staats anwaltschaft, die aufgrund ihrer Eigenschaft als Anklageorgan nie ganz die „sub jektive Sphäre“ verlassen könne. Übertrage man also dem Staatsanwalt die der richterlichen Zuständigkeit unterfallenden Ermittlungsaufgaben, vermische man Anklage- und Urteilsfunktion.575 Dass in Form der instrucción sumaria dennoch die Ermittlungen dem Staatsan walt anvertraut werden, begründeten ihre Unterstützer wie folgt: Da das Vorver fahren nur vom Richter durchgeführt werden könne, stelle die instrucción sumaria keine Ersetzung des Untersuchungsrichters durch den Staatsanwalt dar, sondern einen Verzicht auf die Verfahrensphase des Vorverfahrens als solches, der mit dem Verfahren bei Privatklagedelikten vergleichbar sei, wo der Privatkläger zunächst selbständig die Beweise für seine Anschuldigungen zusammentrage, bevor er beim Gericht Klage einreiche.576 Diese Auffassung schlägt sich auch im Gesetzestext des CPP Córdoba (1940) nieder, wo in Art. 311 neben der instrucción sumaria von der sog. citación directa im Sinne einer unmittelbaren Einbestellung der Be teiligten zur Hauptverhandlung ohne vorhergehendes Vorverfahren die Rede ist. Damit dieser Verzicht nicht zu unvertretbaren Nachteilen insbesondere zu Lasten des Beschuldigten führte, wurden die staatsanwaltlichen Befugnisse zudem in der oben am Beispiel des CPP Córdoba dargestellten Weise beschränkt. Aufgrund der Schnelligkeit der Ermittlungen, der niedrigen Strafdrohung, der Beteiligung eines Richters und der umfangreichen Möglichkeiten, wenn nötig in ein reguläres Vor verfahren überzuleiten, sei das Fehlen richterlicher Untersuchungen vertretbar.577 573 Neben dem Mitverfasser des CPP Córdoba (1940) und Schöpfer des dortigen Instituts der instrucción sumaria Alfredo Vélez Mariconde ist vor allem Jorge A. Claría Olmedo zu nennen, der mit seinem umfassenden Standardwerk Tratado de Derecho Procesal Penal erheblichen Einfluss ausübte. 574 Dazu Maier, Revista de Estudios Procesales Nr. 9 (1971), S. 75 ff. (80) m. w. N. 575 Vélez Mariconde, Revista de Derecho Procesal Nr. 3, 4 (1951), S. 319 ff. (357); Claría Olmedo, Tratado Bd. 6, S. 57 ff.; Alcalá-Zamora y Castillo/Levene (h.), Derecho Procesal Penal Bd. 2, S. 346 Fn. 84, S. 359 f.; Gelsi Bidart, Revista Argentina de Derecho Procesal Nr. 3 (1971), S. 336 ff. (344 f.). 576 Vélez Mariconde/Soler, Proyecto, S. LXXXVI f.; Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 412 ff.; Claría Olmedo, Tratado Bd. 6, S. 337 f., 343. 577 Vélez Mariconde/Soler, Proyecto, S. LXXXVI f.
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Bedenken aus der Anklägerstellung des Staatsanwalts könne man weiterhin da durch begegnen, dass man seine Objektivität dadurch sichere, dass man ihn, wie in Córdoba, organisatorisch als von der Exekutive völlig unabhängiges Judikativ organ ausgestalte.578 Für eine allgemeine Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft für das Vorverfahren und eine Abschaffung des klassischen Untersuchungsrich ters plädierte dagegen in der argentinischen Strafrechtswissenschaft um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts aufgrund der angeführten Befürchtungen zu einer Vereinigung von Anklage- und Urteilsfunktion niemand. Als Negativbeispiel der Ersetzung des Untersuchungsrichters durch den Staatsanwalt wurden dabei die Erfahrungen in Italien mit dem Institut in der Strafprozessordnung von 1930 an geführt, wo der Staatsanwalt zwar ebenfalls nur ausnahmsweise die Ermittlungen übernahm, in diesen Fällen aber so weitgehende Befugnisse hatte, dass er sich nur dem Namen nach von einem Inquisitor alter Prägung unterschied.579 Die Diskussionen in Argentinien kreisten daher zur Zeit des Erlasses der hier untersuchten Strafprozessordnung von Córdoba nicht darum, ob das Vorverfahren generell der Staatsanwaltschaft zu übertragen sei, was allgemein abgelehnt wurde, sondern es ging lediglich darum, ob in einem summarischen Verfahren auf die rich terliche Voruntersuchung verzichtet werden könne.580 Die Kritik am Institut der instrucción sumaria bzw. citación directa im CPP Córdoba (1940) und den sich daran orientierenden Provinzgesetzen war, dass die dort festgelegten Beschränkungen nicht ausreichten, um eine Vermischung von Anklage- und Urteilsfunktion in der Figur des Staatsanwalts zu verhindern. Der Staatsanwalt nehme typisch richter liche Aufgaben wie die Befragung des Beschuldigten sowie eine ganze Reihe von Zwangsmaßnahmen vor und werde damit zu einer Art Untersuchungsrichter. Dies führe wie in Italien zu einer Rückkehr des untersuchenden und anklagenden Inqui sitors. Noch augenfälliger werde die Beeinträchtigung der Objektivität der Unter suchungen, wenn der Ankläger gar organisatorisch von der Exekutive abhinge. Als praktisches Argument wurde noch hinzugefügt, dass das Nebeneinanderbestehen der zwei Systeme mit Untersuchungsrichter und ermittelndem Staatsanwalt zu Zu ständigkeitsproblemen führe und schon daher nicht opportun sei. Es zeige sich im Ergebnis, dass Ausnahmen vom Erfordernis der Ermittlungen durch einen Richter nicht möglich seien.581 Mit dem Entwurf für eine Bundesstrafprozessordnung aus 578
Vélez Mariconde, Revista de Derecho Procesal Nr. 3,4 (1951), S. 31 ff. (360); Claría lmedo, Tratado Bd. 6, S. 371, Fn. 128. Zur Judikativstellung der Staatsanwaltschaft in Cór O doba siehe schon oben 4. Kapitel, A. II. 3. 579 Vélez Mariconde, Revista de Derecho Procesal Nr. 3,4 (1951), S. 319 ff. (358); ders., Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 409 f.; Maier, Revista de Estudios Procesales Nr. 9 (1971), S. 75 ff. (84). 580 Zu den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen in Argentinien und der gesetzlichen Rezeption der citación directa siehe Claría Olmedo, Tratado Bd. 6, S. 370 f., Fn. 125; Maier, Jurisprudencia Argentina – Doctrina 1971, S. 101 ff. (103, Fn. 24). 581 Zu dieser Kritik siehe Nuñez, CPP Córdoba anotado, S. 46; Alcalá-Zamora y Castillo/ Levene (h.), Derecho Procesal Penal Bd. 2, S. 346 Fn. 84 und S. 360; Levene (h.) zit. bei Maier, Jurisprudencia Argentina – Doctrina 1971, S. 101 ff. (106), Fn. 48; Levene (h.), Proyecto, S. 7; Caputo Tártara, La Ley 1991-B, S. 1151 ff. (1157).
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dem Jahre 1986, der sich diametral gegen obige These richtete, da dort der Staats anwalt nach deutschem Vorbild generell die Ermittlungen leiten sollte, flammte die Diskussion um die Funktion der Staatsanwaltschaft im Ermittlungsverfahren erneut auf.582 Der renommierte Strafprozessrechtsexperte Julio B. J. Maier, unter dessen Vorsitz der Entwurf ausgearbeitet worden war, führte zu seiner Auffassung an, dass die Vereinigung von Ermittlungs- und Anklagefunktion in der Figur des Staatsanwalts bei richtiger Ausgestaltung weder gegen das Recht des Angeklagten auf einen rechtmäßigen Prozess noch auf das Recht auf einen gesetzlichen Rich ter oder auf Verteidigung verstoße.583 Er wandte sich dabei nicht gegen die in Cór doba verwirklichte citación directa, sondern erklärte lediglich, das deutsche Mo dell mit der Kontrolle der staatsanwaltlichen Befugnisse durch einen Richter mit Garantiefunktion sowie der Betonung des lediglich vorbereitenden Charakters der Voruntersuchung erscheine ihm vorzugswürdig.584 Im Zuge der folgenden wissen schaftlichen Auseinandersetzungen richteten sich allerdings nicht nur diejenigen gegen die instrucción sumaria bzw. citación directa, die mit den bereits dargeleg ten Argumenten nach wie vor grundsätzlich gegen jede Übertragung der Ermitt lungen auf die Staatsanwaltschaft waren, sondern sie wurde auch von Unterstüt zern der These Maiers kritisiert. Die Kritik verlagerte sich diesbezüglich auf eine neue Ebene, da nicht die Tatsache beanstandet wurde, dass der Staatsanwaltschaft überhaupt das Vorverfahren in die Hände gelegt wurde, sondern dass die Ausge staltung des Instituts unzureichend sei. Der Vorwurf blieb aber derselbe, nämlich dass die citación directa zu einer unzulässigen Vermischung von Anklage und richterlichen Aufgaben führe. Dabei wurde insbesondere bemängelt, dass der rein vorbereitende Charakter der staatsanwaltlichen Ermittlungen nicht gewahrt bleibe. Aufgrund der Durchbrechungen des Unmittelbarkeitsgrundsatzes im Hauptver fahren sei es möglich, dass die vom Staatsanwalt ohne Beteiligung des Richters oder der Verteidigung gesammelten Beweise urteilsbegründenden Charakter er langten. Der Staatsanwalt greife hierdurch in die richterliche Zuständigkeit ein, da die eigentliche Beweiserhebung nicht unter seiner, sondern unter richterlicher Auf sicht in einem kontradiktorischen Hauptverfahren erfolgen müsse.585 582
Siehe dazu die ausführliche Untersuchung unten 4. Kapitel, B. III. 1. Maier, Revista de Estudios Procesales Nr. 9 (1971), S.. 75 ff. (91 ff.); ders., Jurisprudencia Argentina Doctrina 1971, S. 101 ff. (106 f.). Ihm folgend Montero (h.), Revista del Colegio de Abogados de Córdoba Nr. 16 (1982), S. 65 ff. (75 ff.); Macías, Lecciones y Ensayos 1998/99, S. 315 ff. (329 ff.). Sehr ausführlich dazu auch Montero (h.), in: Presidencia de la Nación (Hrsg.), Symposium Bd. 1, S. 73 ff. 584 Vgl. Maier, Revista de Estudios Procesales Nr. 9 (1971), S. 75 ff. (96). Dies bedeute aber keineswegs, dass er gegen das Institut in Córdoba sei, welches einen erheblichen Fortschritt für das argentinische Strafprozessrecht bedeutet habe. Seine Zurückhaltung dürfte vermutlich ge nau mit Letzterem zusammenhängen, nämlich, dass die Regelungen Córdobas überhaupt erst den Weg für eine Diskussion über eine umfassendere Beteiligung der Staatsanwaltschaft am Vorverfahren geebnet hatten und eine Kritik an ihnen seine eigene Position geschwächt und diejenigen bestärkt hätte, die von jeher der Meinung waren, dass die Übertragung der Ermitt lungen auf die Staatsanwaltschaft verfehlt sei. 585 Cruz, La función acusadora, S. 53; Martínez, Derecho Penal 7 (2000), S. 137 ff. (140). 583
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Um einen Überblick über die dargestellten Diskussionen zur Übertragung der Ermittlungen auf den Staatsanwalt zu gewinnen, empfiehlt es sich, die verschie denen Ansichten auf einer abstrakteren Ebene zusammenzufassen, indem man grob die hier in Frage stehenden staatlichen Aufgaben in Ermittlungs-, Anklageund Urteilsfunktion trennt. Die lange in Argentinien unbestrittene, auf das inqui sitorische Verfahrensverständnis zurückzuführende Auffassung, wonach die staat lichen Ermittlungen ihrem Wesen nach von einem Richter durchzuführen sind, sieht also in Ermittlungs- und Urteilsfunktion eine Einheit, die durch die Per son des klassischen Untersuchungsrichters verkörpert wird. Für diese Autoren er gibt sich folgerichtig, dass die Übertragung der Ermittlungen als originär richter liche Aufgabe auf den anklagenden Staatsanwalt eine unzulässige Vermischung von Anklage- und Entscheidungsbefugnis bedeutet. Die Schöpfer der citación directa verlassen nach außen hin diesen Konsens nicht, sondern begründen die von ihnen geschaffene Regelung damit, dass die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gar kein Vorverfahren darstellten, sondern das Verfahren im Sinne obiger Be zeichnung mit der direkten Einbestellung der Beteiligten zur Hauptverhandlung beginne. Dieser juristische Kunstgriff gelingt allerdings nicht. Auch die staats anwaltlichen Ermittlungen werden durch ein zur Objektivität verpflichtetes Staats organ durchgeführt, um die Beweisgrundlage für eine Anklageerhebung oder für die Einstellung des Falles zu erhalten. Sie entsprechen damit sowohl ihrer Form als auch ihrem Zweck nach der ersten Phase des staatlichen Strafverfahrens. Dies mussten implizit auch die Schöpfer des CPP Córdoba (1940) anerkennen, wel che die instrucción sumaria wie die instrucción judicial formal dem zweiten Buch „instrucción“ zuordnen und sie inhaltlich letztlich auch als abgekürztes, aber voll wertiges Vorverfahren unter Beteiligung des Richters und der Verteidigung aus gestalten. Entgegen der Aussagen ihrer eigenen Schöpfer stellt die instrucción sumaria bzw. citación directa daher eine erste, allerdings nur als Ausnahme vor gesehene Vereinigung von Anklage- und Untersuchungsfunktion in der Person des Staatsanwalts dar. In Bezug auf die Regelung in Córdoba muss konstatiert werden, dass den Kri tikern der staatsanwaltlichen Ermittlungen Recht zu geben ist. Dies allerdings nicht, weil hier einem Ankläger Aufgaben auferlegt würden, die ihrer Natur nach nur von einem Richter erledigt werden können. Die Erfahrungen gerade auch in Argentinien mit der Figur des unumschränkt herrschenden Untersuchungsrich ters haben gezeigt, dass allein die Leitung der Ermittlungen durch einen Rich ter keine Garantie für ihre Objektivität bietet.586 Sondern, weil die Übertragung der Ermittlungen auf den Staatsanwalt keinerlei Fortschritt hinsichtlich der Wah rung der Beschuldigtenrechte im Vorverfahren bedeutet. Der Staatsanwalt war be fugt, eine ganze Reihe intensiver Eingriffe anzuordnen, ohne dass er durch ein an deres Staatsorgan überwacht wurde, lediglich die Untersuchungshaft konnte der 586 Zur Stellung des Untersuchungsrichters im argentinischen Strafverfahren siehe beispiel haft oben, 3. Kapitel, B. III. 2., die Ausführungen zum CPPN (1889).
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Beschuldigte nach Ablauf von achtundvierzig Stunden durch den Richter überprü fen lassen.587 Erschwerend kam hinzu, dass die so erhobenen Beweise durch ein fache Protokollverlesung in die Hauptverhandlung eingebracht werden konnten.588 Auch der summarische Charakter des Verfahrens kann diesen mangelnden Schutz der Beschuldigtenrechte nicht rechtfertigen. Insofern setzen sich hier in der Figur des ermittelnden Staatsanwalts die Män gel des unkontrolliert ermittelnden Untersuchungsrichters fort. Dies ist nur kon sequent, denn der Hintergedanke der Schöpfer der sog. citación directa war gerade nicht die Verbesserung der Situation des Beschuldigten, sondern ganz im Gegen teil ein Verzicht auf die Schutzfunktion des regulären Verfahrens zu Gunsten grö ßerer Effektivität. Die Verfasser des CPP Córdoba (1940) konnten sich nicht von der für den Inquisitionsprozess typischen Vorstellung lösen, wonach nur die Er mittlungen durch den Richter selbst wahre Objektivität und Rechtsstaatlichkeit gewährleisteten, Untersuchungs- und Urteilsfunktion mithin zwingend vereinigt seien. Die fehlende Bereitschaft zu einer Schwächung der Machtkonzentration des Richters durch eine wirkliche Aufspaltung der untersuchenden Staatsgewalt in sich gegenseitig kontrollierende Organe führte dazu, dass der Staatsanwalt den Untersuchungsrichter im summarischen Verfahren lediglich nahezu im Ganzen er setzte, statt dass dessen Untersuchungs- und Entscheidungsaufgaben getrennt wor den wären. Ob eine solche Machtverteilung zwischen ermittelndem Ankläger und kontrollierendem Gericht, wie sie ursprünglich das auf einen Privatkläger ausge legte adversatorische Verfahren kannte, auch in einer inquisitorischen Verfahrens struktur möglich ist, wird weiter unten anhand des schon mehrfach genannten, von Maier federführend erstellten Entwurfs für eine Bundesstrafprozessordnung aus dem Jahre 1986 zu untersuchen sein.589 2. Hauptverfahren
Den größten Einfluss auf die Hauptverhandlung übte der Staatsanwalt schon im Vorfeld mit der Formulierung der Anklageschrift aus. Durch die Geltung des An klagegrundsatzes war der Gegenstand des Hauptverfahrens von vornherein auf das 587 Rusconi, in: Maier (Hrsg.), Ministerio Público, S. 98 ff. spricht in anderem Zusammen hang davon, dass im Strafverfahren das aus dem Gewaltenteilungsgrundsatz hergeleitete paradigma de no autocontrol gelte, wonach es immer möglich sein muss, die Ausübung staatlicher Machtbefugnisse durch ein funktional getrenntes Staatsorgan zu überprüfen, um Missbrauch zu verhindern. Er leitet daraus allerdings die zwingende Übertragung der Untersuchungen im Vorverfahren auf die Staatsanwaltschaft her. Die hier untersuchte citación directa zeigt dem gegenüber gerade, dass natürlich auch die Stellung des ermittelnden Staatsanwalts bei man gelnder Kontrolle gegen den Gewaltenteilungsgedanken verstößt. 588 Vgl. dazu die sogleich folgenden Ausführungen zur Hauptverhandlung. 589 Die ausführliche Untersuchung der Befugnisse der Staatsanwaltschaft im Vorverfahren nach dem Entwurf für eine Bundesstrafprozessordnung aus dem Jahre 1986 findet sich unten 4. Kapitel, B. III. 1.
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vom Staatsanwalt angeklagte tatsächliche Geschehen begrenzt. Die Anklage musste nach Art. 298 Nr. 2 CPP Córdoba (1940) eine Beschreibung des Angeklagten und der ihm zur Last gelegten Taten sowie deren rechtliche Bewertung durch den Staatsan walt enthalten. Urteilte das Gericht über nicht in der Anklageschrift enthaltene Ta ten, umging es die Bindung an die staatliche Anklage und vereinte in sich Anklageund Urteilsfunktion. Dieser Gedanke findet seinen Niederschlag in Art. 429 CPP Córdoba (1940), wonach das Gericht bei seiner Urteilsfindung lediglich in seiner rechtlichen Bewertung der angeführten Taten von der Anklage abweichen durfte.590 Auch im CPP Córdoba (1940) galt der Anklagegrundsatz jedoch nur im for malen Sinne, d. h. innerhalb der genannten Grenzen war das Gericht des Haupt verfahrens mit der selbständigen und umfassenden Ermittlung der materiellen Wahrheit beauftragt. In der Hauptverhandlung konnte der Staatsanwalt daher grundsätzlich nicht mehr über die Anklage disponieren und auf diese Weise nach träglich auf den Verfahrensgegenstand einwirken. Es war ihm nach Art. 5 Abs. 2 CPP Córdoba (1940) verboten, die Anklage ganz oder teilweise zurückziehen.591 Umgekehrt konnte er auch nicht nachträglich die Sachgrundlage der Anklage er weitern, um das Verteidigungsrecht des Angeklagten, der sich effektiv gegen die ihm von Beginn an bekannten Anklagevorwürfe sollte wehren können, nicht zu unterwandern. Von letzterem Grundsatz sah der CPP Córdoba (1940) jedoch Aus nahmen vor. Gemäß Art. 402 CPP Córdoba (1940) konnte der Staatsanwalt direkt nach Eröffnung der Hauptverhandlung und Verlesung der Anklageschrift die An klage sachlich erweitern.592 Nach Art. 409 CPP Córdoba (1940) hatte er die gleiche Möglichkeit auch später noch, wenn der Angeklagte Taten oder Tatumstände ge stand, die nicht in der Anklage enthalten waren, aber mit dem angeklagten Delikt in Verbindung standen. Das Kriterium des Tatzusammenhangs wurde herrschend dahingehend ausgelegt, dass es sich um Tatsachen handeln musste, die insofern mit dem bereits in der Anklage enthaltenen Tatkern in Zusammenhang standen, als sie entweder die dort angeklagte Tat lediglich erschwerten oder aber ihre Fortset zung im Sinne eines Dauerdelikts darstellten.593 Obwohl dort nicht ausdrücklich 590
Zur Problematik einer eventuellen Beeinträchtigung des Verteidigungsrechts des Beschul digten durch eine überraschende abweichende rechtliche Bewertung des Gerichts siehe unten 5. Kapitel, A. III. 2. 591 Vgl. dazu die Begründung des Mitautors des CPP Córdoba (1940) Vélez Mariconde in sei nem Derecho Procesal Penal Bd. 2, S. 181 f., wonach der Staatsanwalt das Gericht nicht nach träglich an der Urteilsfindung hindern darf, indem er ihm die Prozessgrundlage entzieht. Siehe dazu auch den Rechtsprechungsnachweis bei Claría Olmedo, Tratado Bd. 6, S. 304, Fn. 507. In diesen Ausführungen wird das dem formalen Anklagegrundsatz zugrundeliegende Verfahrens verständnis, wonach die Sachverhaltsermittlung richterliche Aufgabe ist und die Anklage sich auf deren Initiierung beschränkt, besonders deutlich. 592 Dass es um eine sachliche und nicht um eine rechtliche Erweiterung der Anklage geht, ergibt sich schon daraus, dass der Staatsanwalt jederzeit seine rechtliche Bewertung der angeklagten Taten ändern konnte. Vgl. dazu Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 2, S. 229, Fn. 67. 593 Claría Olmedo, Tratado Bd. 4, S. 415; Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 2, S. 231. Vgl. auch die dementsprechend reformierte Fassung der Klageerweiterung in Art. 393 bei Nuñez, CPP Córdoba anotado, S. 354 f.
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4. Kap.: Die Rezeption kontinentaleuropäischer Reformen
erwähnt, wurde es einschränkend auch für die Möglichkeit der Klageerweiterung nach Art. 402 CPP Córdoba (1940) herangezogen.594 Abgesehen von der Möglichkeit der Klageerweiterung trat die Rolle des Staats anwalts gegenüber der dominanten Stellung des Präsidenten des Gerichts, welcher die Beweiserhebung vollständig von Amts wegen durchführte, Art. 403, 410 CPP Córdoba (1940), weitgehend in den Hintergrund. In Vorbereitung zu der Haupt verhandlung schlug der Staatsanwalt dem Richter Beweismittel für den Anklage vorwurf vor, indem er ihm eine entsprechende Liste vorlegte. Waren darunter Be weismittel, die dem Richter offensichtlich unpassend oder überflüssig erschienen, lehnte er ihre spätere Erhebung bereits jetzt ab, Art. 382 ff. CPP Córdoba (1940). Der Verhandlung selbst wohnte der Staatsanwalt zum Großteil passiv bei. Ergab sich die Notwendigkeit, neue, bis dato unbekannte Beweismittel in den Prozess einzubringen, geschah auch dies von Amts wegen durch das Gericht, Art. 415 CPP Córdoba (1940). Der Staatsanwalt konnte ergänzend dem Angeklagten, den Zeu gen und anderen Prozessbeteiligten Fragen stellen, Art. 418 CPP Córdoba (1940). Ein formales, nur unter bestimmten gesetzlich geregelten Voraussetzungen ab lehnbares Beweisantragsrecht hatte er nicht. Er besaß lediglich die Möglichkeit, beim Gericht eine zusätzliche Beweiserhebung anzuregen und eventuelle Verfah rensfehler zu rügen.595 In der Abschlussdiskussion bewertete der Staatsanwalt die erhobenen Beweise rechtlich und stellte seinen auf eine entsprechende Rechts folge gerichteten Schlussantrag, Art. 422 CPP Córdoba (1940). Genausowenig wie an die rechtliche Wertung in der Anklageschrift war das Gericht an den Schlussan trag des Staatsanwalts gebunden.596 Beantragte dieser also bspw. einen Freispruch, konnte das Gericht trotzdem verurteilen. Wie im gesamten Verfahren galt auch in der Hauptverhandlung für den Staatsanwalt ein rein objektiver Handlungsmaßstab, d. h., er vertrat keineswegs nur die Anklageseite, sondern musste wenn erforder lich auch Verletzungen der Rechte des Angeklagten durch das Gericht rügen, Be weiserhebungen zu dessen Gunsten beantragen und eben in seinem Schlussantrag einen Freispruch beantragen. Diese Stellung des Staatsanwalts als Partei lediglich im formalen Sinne wird in einer ganzen Reihe von Vorschriften zum Hauptverfah ren deutlich, wo vom „Fiskal und den Parteien“ die Rede ist, vgl. Art. 382, 383, 385, 386, 414, 418, 420 Nr. 1 CPP Córdoba (1940). Für das argentinische Strafverfahren insgesamt stellte die Einführung der für alle Verfahren vorgeschrieben öffentlichen und mündlichen Hauptverhandlung im CPP Córdoba (1940) einen wichtigen Schritt in Bezug auf die Kontrollierbarkeit der staatlichen Strafgewalt dar. Betrachtet man dagegen speziell die Figur des Staatsanwalts, zeigt sich, dass damit keineswegs eine signifikante Ausweitung sei 594 Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 2, S. 229 mit Rechtsprechungsnachweis in Fn. 66. 595 Claría Olmedo, Tratado Bd. 6, S. 272; Nuñez, CPP Córdoba anotado, S. 366 f. 596 Claría Olmedo, Tratado Bd. 6, S. 304. Auch dabei handelt es sich um eine Konsequenz des formalen Anklagegrundsatzes. Vgl. zum Problem der Bindung des Gerichts an den Abschluss antrag des Staatsanwalts die ausführliche Erörterung unten im 5. Kapitel, A. III. 2.
A. Das italienische Modell
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ner Befugnisse verbunden war. Das Hauptverfahren ist nach wie vor sehr forma lisiert und stark instruktorisch geprägt. So führt die Regelung, dass Staatsanwalt und Verteidigung gemäß Art. 383 CPP Córdoba (1940) schon in der Vorbereitung zur Hauptverhandlung dem Gericht die Beweiserhebungen vorschlagen müssen und in der eigentlichen Hauptverhandlung kein formales Beweisantragsrecht be sitzen, dazu, dass es gar nicht erst zu einer kontradiktorischen Verfahrensdynamik im Sinne einer aktiven Auseinandersetzung zwischen Anklage und Verteidigung kommen kann.597 Zusätzlich erschwert wird dies durch die in derselben Vorschrift vorgesehene Möglichkeit, dass die Parteien auf die unmittelbare Beweiserhebung verzichten und sich mit einer Protokollverlesung einverstanden erklären.598 Besonderes Interesse verdient einzig die Möglichkeit des Staatsanwalts zur Klageerweiterung, weil er damit erheblichen Einfluss auf das Verfahren nehmen kann, indem er den Verfahrensgegenstand zu Lasten des Angeklagten ausdehnt. Zur Begründung für die Ausnahmen zum Verbot der Klageerweiterung führte der Mitverfasser des Gesetzes Vélez Mariconde an, dass es in den bei oben genann ter einschränkender Auslegung erfassten Fällen sowohl im Interesse des Staa tes als auch des Angeklagten sei, das Verfahren schnellstmöglich abzuschließen und nicht noch einmal in das Stadium des Ermittlungsverfahrens einzutreten.599 Es erscheint aber zweifelhaft, ob der Gesichtspunkt, dass der Angeklagte nicht durch einen zweiten Prozess belastet wird, die Einschränkung seiner Verteidi gungsmöglichkeiten durch die nachträgliche Anklageerweiterung aufwiegen kann. Dies gilt für die Regelung im CPP Córdoba (1940) in besonderem Maße, da die sehr ungenaue gesetzliche Formulierung Raum für eine deutlich großzügigere Auslegung der Erweiterungsmöglichkeiten des Klageinhalts bietet.600 Insofern die nen die staatsanwaltlichen Befugnisse hier keineswegs dem besseren Beschuldig tenschutz, sondern betonen das Strafverfolgungsinteresse, indem sie eine umfang reichere Verurteilung durch das Gericht ermöglichen. Letzteres erinnert gar an die Funktion der Staatsanwaltschaft im gemeinrechtlichen Inquisitionsprozess, wo sie als Hilfsorgan des Richters diesem eine Strafverfolgung ermöglichen sollte, wenn er nicht von selbst tätig werden konnte, sich also gemeinsam mit diesem ge 597
Anders sehen dies Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 2. S. 214 und Claría lmedo, Tratado Bd. 6, S. 260, die erklären, es handele sich um ein kontradiktorisches Verfah O ren, da die Waffengleichheit zwischen Anklage und Verteidigung gewahrt sei. Waffengleichheit ist aber nicht gleichbedeutend mit einem kontradiktorischen Verfahren, wenn den Beteiligten gar nicht die Mittel zur Verfügung stehen, um eine wirkliche Auseinandersetzung vor Gericht zu führen. Vgl. dazu auch unten 4. Kapitel, B. III. 4. 598 Bovino, in: ders., Problemas, S. 256 f., schreibt dazu etwa fünfzig Jahre nach Erlass des CPP Córdoba (1940), die Erfahrungen in Córdoba hätten gezeigt, dass die Gerichte diese Mög lichkeit missbrauchten, um mit gehorsamem Einverständnis der Parteien die Hauptverhandlung in ein schriftliches Verfahren zu verwandeln. 599 Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 2, S. 227 f. 600 Siehe dazu Claría Olmedo, Tratado Bd. 4, S. 415, der von einer „sehr gefährlichen For mulierung“ (Übers. d. Verf.) spricht, deren Umfang schon verschiedentlich falsch interpretiert worden sei.
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4. Kap.: Die Rezeption kontinentaleuropäischer Reformen
gen den Angeklagten richtete, statt zu seinen Gunsten die Macht des Richters zu beschränken.601 3. Rechtsmittel
Der Staatsanwalt sollte die in den Art. 483 ff. CPP Córdoba (1940) aufgeführten Rechtsmittel sowohl zu Lasten als auch zu Gunsten des Beschuldigten einlegen, Art. 475 CPP Córdoba (1940). Die Frage, ob der vorgesetzte Staatsanwalt ein von einem Ankläger in niedrigerer Instanz eingelegtes Rechtsmittel zurücknehmen konnte, welche auf Bundesebene zu umfangreichen Diskussionen geführt hatte, regelte Art. 480 Abs. 3 CPP Córdoba (1940) ausdrücklich dahingehend, dass der Staatsanwalt an der Berufungskammer ein vom agente fiscal in erster Instanz ein gelegtes Rechtsmittel zurückziehen durfte. Diese sich dem Wortlaut nach nur auf die Staatsanwälte erster und zweiter Instanz beziehende Regelung wurde in ständi ger Rechtsprechung auch auf den Staatsanwalt am Obersten Gerichtshof Córdobas ausgeweitet.602 Die damit geschaffene Ausnahme zum in Art. 5 Abs. 2 CPP Cór doba (1940) verankerten Legalitätsprinzip, demgemäß die Staatsanwaltschaft eine einmal eingelegte Strafklage gerade nicht zurückziehen durfte603, wurde mit dem Prinzip der Einheit der Staatsanwaltschaft begründet, wonach die Letztentschei dung über die Einlegung eines Rechtsmittels beim vorgesetzten, in der Rechts mittelinstanz tätigen Fiskal liegen muss.604 Eine Verhandlung in zweiter Instanz unter Teilnahme des Staatsanwalts exis tierte entweder gar nicht, wenn das Gericht sofort über das Rechtsmittel entschied, Art. 484, 517 CPP Córdoba (1940), oder beschränkte sich nur auf die angegriffe nen Punkte, Art. 476 CPP Córdoba (1940), da eine umfassende Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung im CPP Córdoba (1940) nicht vorgesehen war.605 Weil in der Regel nur Rechtsverletzungen angegriffen werden konnten, bestand die Aufgabe des Staatsanwalts in der Berufungsinstanz normalerweise in der Dar legung seines rechtlichen Standpunkts zum Gegenstand der Verhandlung, vgl. 601
Vgl. dazu die Ausführungen oben 2. Kapitel, A. IV. Mit der Reform des CPP Córdoba (1940) im Jahre 1968 wurde diese Erweiterung direkt in den Gesetzestext integriert vgl. Nuñez, CPP Córdoba anotado, S. 448 f.; Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 2, S. 182, Fn. 15. 603 Zu dem in der Regelung des Art. 5 Abs. 2 CPP Córdoba (1940) verkörperten Prinzip der Indisponibilität der Strafklage siehe oben die Ausführungen zum Hauptverfahren, 4. Kapitel, A. III. 2. 604 Nuñez, CPP Córdoba anotado, S. 460 f.; Vélez Mariconde, Derecho Procesal Penal Bd. 2, S. 182., Fn. 15. Zur (fehlenden) Verwirklichung dieses Prinzips in der Organisationsstruktur der Staatsanwaltschaft in Córdoba siehe die Ausführungen oben 4. Kapitel, A. II. 2. 605 Vgl. dazu schon oben 4. Kapitel, A. I. Mit der Verkürzung der Rechtsmittel einher ging, dass das Gericht der Hauptverhandlung auch über im Ermittlungsverfahren eingelegte Rechts mittel entschied, Art. 23 Nr. 2 CPP Córdoba (1940). Siehe dazu 4. Kapitel, A. II. 1. sowie zu den daraus resultierenden Problemen für den Beschuldigten 4. Kapitel, A. III. 1. 602
A. Das italienische Modell
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Art. 506, 513 CPP Córdoba (1940). Dabei war er wie in der ersten Instanz der Ver handlungsleitung des Gerichts untergeordnet, Art. 506 Abs. 3, 403 CPP Córdoba (1940). Lediglich im Wege der revisión kam es zu einer unmittelbaren Beweisauf nahme, wenn sie sich auf das Auftauchen neuer, entscheidungserheblicher Beweis mittel stützte, Art. 519 Nr. 2 CPP Córdoba (1940). Hatte die Staatsanwaltschaft die Revision eingelegt, Art. 521 Nr. 3 CPP Córdoba (1940), musste sie in ihrem Re visionsantrag dem Gericht die neu entdeckten Beweismittel mitteilen. Das Gericht führte dann in der Revisionsverhandlung die Beweiserhebung von Amts wegen durch, Art. 523 CPP Córdoba (1940). Ihrer Natur nach unterschieden sich die Rechtsmittelbefugnisse des Staats anwalts im CPP Córdoba (1940) im Ergebnis nur graduell von denen, welche ihm schon das Bundesgesetz aus dem Jahre 1889 zusprach. Die inquisitorische Her kunft der zweiten Instanz als Kontrolle der Gerichte innerhalb der vom Monarchen abgeleiteten vertikalen Delegationskette scheint nach wie vor darin durch, dass der Staatsanwalt gleichsam zu Gunsten wie zu Lasten des Beschuldigten Rechtsmit tel einlegen soll. Die Urteilsüberprüfung dient danach nicht dem Schutz eines ein seitigen Interesses, sondern ist ganz generell Ausdruck der staatlichen Verpflich tung zu einer gerechten Strafverfolgung. Die gegenüber den Vorgängergesetzen auf Bundes- und Landesebene etwas liberalere Grundausrichtung des CPP Córdoba (1940) manifestiert sich darin, dass dem Staatsanwalt in der Berufungsinstanz aus drücklich das Recht eingeräumt wird, einen zuvor von der Staatsanwaltschaft ein gelegten Rechtsbehelf zurückzunehmen. Der dazu schwelende Streit wird auf diese Weise gesetzlich zu Gunsten einer Ausnahme vom Legalitätsprinzip entschieden.606 IV. Zusammenfassung und Fazit
Die Strafverfahrensordnung der Provinz Córdoba wird gemeinhin als Meilen stein in der Entwicklung des argentinischen Strafverfahrens gepriesen, und in der Tat erzielte sie gegenüber der bisherigen Rechtslage in Argentinien eine Reihe be deutender Fortschritte wie die grundlegende Stärkung der Beschuldigtenrechte und die Einführung einer mündlichen Hauptverhandlung, welche den CPP Cór doba (1940) auf ein Niveau mit den zeitgenössischen Verfahrensordnungen in Kontinentaleuropa heben. An der inquisitorischen Grundstruktur des bisherigen argentinischen Strafverfahrens änderte das Gesetz aus Córdoba jedoch nur wenig, wie die Untersuchung der staatsanwaltlichen Stellung gezeigt hat. Entsprechend dem Grundgedanken einer richtergleichen Objektivität des staat lichen Anklägers ist die Staatsanwaltschaft in der Provinz Córdoba in die Judika tive eingegliedert. Anders als auf Bundesebene ist sie damit einheitlich organisiert und einer unzulässigen Einflussnahme durch die vollziehende Gewalt wird entge gengewirkt. Allerdings bedeutet die Unabhängigkeit der Staatsanwälte innerhalb 606
Siehe dazu schon oben 3. Kapitel, B. III. 4.
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4. Kap.: Die Rezeption kontinentaleuropäischer Reformen
der Judikative nicht auch eine Unabhängigkeit von der Judikative. Vielmehr be steht die Gefahr, dass es schon auf organisatorischer Ebene zu einer Vermischung von Anklage- und Gerichtstätigkeit kommt. Das im Inquisitionsprozess ohnehin bestehende Problem einer unzureichenden Abgrenzung von Anklage- und Urteils funktion wird durch die Einordnung der Staatsanwaltschaft in die rechtsprechende Gewalt also noch verfestigt. Im Verfahrensrecht führte die Einführung der mündlichen und öffentlichen Hauptverhandlung zu keiner signifikanten Aufwertung des staatlichen Anklägers. Die absolute Dominanz des ermittelnden Richters, die starke Formalisierung der Beweiserhebung und die umfangreichen Möglichkeiten zu ihrer Verschriftlichung führten dazu, dass der Fiskal der Hauptverhandlung weitgehend passiv beiwohnte und es zu einer dynamischen Auseinandersetzung zwischen ihm und der Verteidi gung gar nicht erst kommen konnte. Erwähnenswert ist allenfalls die staatsanwalt liche Befugnis zur nachträglichen Erweiterung der Anklage, die das Verteidigungs recht des Beschuldigten jedoch noch weiter beeinträchtigte. Angesichts der nur geringen Einwirkungsmöglichkeiten des Staatsanwalts blieb auch seine Rolle als Gesetzeswächter nach wie vor weitgehend inhaltsleer und ohne praktische Konse quenzen. Sie beschränkte sich ausschließlich auf die Einlegung von Rechtsmitteln, die der übergeordnete Staatsanwalt nun aber als erste kleine Ausnahme vom Lega litätsprinzip noch zurückziehen konnte. Die bedeutendste Neuerung in Bezug auf die verfahrensrechtliche Stellung des Staatsanwalts war seine Ermittlungszustän digkeit im beschleunigten Verfahren. Dadurch kam es allerdings nicht zu einer dem Parteiverfahren entsprechenden Rollenverteilung zwischen ermittelndem Ankläger und kontrollierendem Richter, sondern der Staatsanwalt trat schlicht in die Stellung des Untersuchungsrichters ein. Dem Hauptübel des inquisitorischen Vorverfahrens, der Situation des Beschuldigten, der dem Verfahren als Objekt nahezu hilflos aus geliefert war, wurde damit in keiner Weise abgeholfen. Eine Aufspaltung der Staats gewalt war allerdings auch gar nicht das Ziel der Verfasser des Gesetzes. Sie hielten an dem zu jener Zeit in der argentinischen Rechtswissenschaft herrschenden Kon sens fest, wonach der Richter selbst ermitteln muss, um die Objektivität der Wahr heitsfindung zu gewährleisten, und wollten lediglich in leichteren Fällen zu Gunsten einer größeren Effektivität auf die schützenden Formen der regulären, richterlichen Voruntersuchung verzichten. Hier zeigt sich eindrücklich, wie die für den Inquisi tionsprozess typische Vorstellung der Einheit von Untersuchungs- und Urteilsfunk tion das Über-/Unterordnungsverhältnis zwischen Staat und Beschuldigtem zemen tierte und verhinderte, dass Letzterer seiner Objektstellung entkam. Dennoch ist die Regelung des CPP Córdoba (1940) insofern positiv zu würdigen, als sie zum ersten Mal die bis dato völlig selbstverständliche Ermittlungszuständigkeit des Richters durchbrach und auf diese Weise späteren Reformen in Richtung einer Übertragung der Ermittlungen auf die Staatsanwaltschaft den Weg ebnete.607 607 Alle späteren Reformen in diese Richtung bezogen sich zu ihrer Legitimierung ausdrück lich darauf, dass es schon seit langem ein einheimisches Vorbild gebe, nämlich den CPP Cór doba (1940), vgl. dazu 4. Kapitel, B. III. 1.; 5. Kapitel, A. III. 1. b); B. III. 1. a).
B. Das deutsch-italienische Modell
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B. Das deutsch-italienische Modell: Der „Entwurf Maier“ von 1986 I. Entstehungsgeschichte und Grundzüge des Entwurfs Maier
Auch der Militärregierung gelang es nicht, nach ihrer Machtübernahme im Jahre 1976 die schwerwiegenden ökonomischen Probleme Argentiniens zufrieden stellend zu lösen. Ganz im Gegenteil führte ihre neoliberale, auf ungezügelten Wettbewerb setzende Wirtschaftspolitik zu der Zerstörung eines großen Teils der einheimischen Industrie und die wirtschaftliche Lage des Landes verschlechterte sich zusehends. Vor diesem Hintergrund erhofften sich die Militärs im Jahre 1982, den Zuspruch der Bevölkerung durch eine Einnahme der zu englischem Territo rium gehörenden, aber von Argentinien beanspruchten Falklandinseln (auf argen tinisch Malvinas) gewinnen zu können. Der nur zweieinhalb Monate dauernde Krieg mit England endete allerdings mit einer vernichtenden Niederlage Argen tiniens. Danach ließ sich der Machtanspruch des Militärs nicht mehr halten und die Regierung sah sich gezwungen, das Land wieder in eine Demokratie zu über führen.608 Aus den freien Wahlen am 30. Oktober 1983 ging der Kandidat der bür gerlichen UCR, Raúl Alfonsín, als Sieger hervor. Der neue Präsident war nicht nur mit der äußerst kritischen wirtschaftlichen Situation konfrontiert, sondern auch mit der schwierigen Aufarbeitung der vorangegangenen Diktatur. Die Streitkräfte wollten eine Bestrafung von Einzelnen aus ihren Reihen wegen zuvor begange ner Menschenrechtsverletzungen nicht akzeptieren und weigerten sich zunächst, sich der Regierung unterzuordnen, was sich in einer Reihe von, allerdings erfolg losen, Aufständen manifestierte. Um die ständige innere militärische Bedrohung abzuwenden, wurden unter der Regierung Alfonsín schließlich 1986 das Ley de Punto Final und 1987 das Ley de Obedencia Debida erlassen, zwei Gesetze, wel che den Angehörigen der Streitkräfte Straffreiheit für während der Diktatur began gene Taten garantierten.609 Zu dieser Zeit waren allerdings schon eine ganze Reihe der im Geheimen ver übten Verbrechen des Repressionsapparates der Diktatur ans Licht gekommen und ließen den wahren Umfang des verübten Staatsterrors erahnen.610 Dafür sorgten insbesondere der berühmte „Nunca más“-Bericht der zur Untersuchung solcher Verbrechen eingesetzten Kommission CONADEP (Comisión Nacional sobre la 608
Vgl. Eggers-Brass, Historia Argentina, S. 638 ff. Siehe dazu Eggers-Brass, Historia Argentina, S. 663 ff. sowie ausführlich Sancinetti/Ferrante, El derecho penal, S. 294 ff.; Sancinetti, Derechos Humanos, S. 61 ff. 610 Siehe zu dem verdeckten Vorgehen gegen politische Gegner schon oben Fn. 510. In Ar gentinien wurde also ein völlig anderer Weg als in vielen anderen Diktaturen eingeschlagen, wo man die Justiz instrumentalisierte und Abschreckung etwa über die Durchführung von Schau prozessen zu erreichen suchte. Die perfide Taktik des „Verschwindenlassens“ ist allerdings auch in der deutschen Geschichte kein unbekanntes Phänomen, vgl. Cornelius, Verschwinden lassen, S. 68 ff. 609
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4. Kap.: Die Rezeption kontinentaleuropäischer Reformen
Desaparición de Personas) aus dem Jahre 1984 sowie die detaillierte Schilderung von Einzelfällen im Rahmen der Strafprozesse gegen Mitglieder der Militärjunta im Jahre 1985.611 Das resultierende Entsetzen in der Bevölkerung führte zu einer umfassenden politischen Diskussion über die Wirksamkeit des Rechtsschutzes des Individuums gegenüber staatlichen Eingriffen. Angesichts der Verfolgung politi scher Gegner der Diktatur außerhalb der regulären Justiz und jeder rechtsstaat licher Grenzen erkannte man die Wichtigkeit einer transparenten, demokratisch kontrollierbaren Strafverfolgung und damit einer Erneuerung des antiquierten ge heimen und schriftlichen Verfahrens.612 Einen weiteren entscheidenden Impuls er hielt die seit Jahrzehnten brachliegende Reform des Bundesstrafverfahrensrechts dadurch, dass die Arbeitsüberlastung der Bundesgerichte mittlerweile untragbare Formen angenommen hatte. Das bisherige, auf einem stark formalisierten und bürokratisierten Verfahrensablauf basierende System war, wie schon die Klagen kurz nach Inkrafttreten des alten Bundesstrafverfahrensrechts zeigten613, von jeher nicht sonderlich effizient gewesen, angesichts der steigenden Anzahl von Verfah ren und ihrer immer größeren Komplexität wurde ihm nun aber von verschiedenen Seiten der „Kollaps“ bzw. eine „tödliche Krise“ bescheinigt.614 Die demokratisch gewählte Regierung setzte daher schon kurz nach ihrem Amtsantritt eine Kom mission zur Reformierung der Strafjustiz ein. Sie bestand aus den Senatoren de la Rúa und Marini, den Abgeordneten Perl und Fappiano sowie den Professoren und Strafverfahrensrechtsexperten José I. Cafferata Nores, Miguel Ángel Almeyra Na zar und Julio B. J. Maier, von denen Letzterer den Vorsitz der Kommission inne hatte. Im Dezember 1986 legte die Kommission einen von Maier, Cafferata und Almeyra verfassten Entwurf für eine Bundesstrafverfahrensordnung vor, dem kurz darauf ein ebenfalls von Maier sowie dem Professor Alberto M. Binder erarbeite ter Vorentwurf für ein Gesetz zur Organisation der Bundesstrafjustiz einschließlich der Staatsanwaltschaft folgte. Der Entwurf für eine Bundesstrafverfahrensordnung, für den sich die Be zeichnung „Entwurf Maier“ („Proyecto Maier“) nach seinem Hauptverfasser und Vorsitzenden der Reformkommission eingebürgert hat615, orientierte sich an der Grundstruktur der Strafverfahrensordnung Córdobas aus dem Jahre 1940, in die 611 Eggers-Brass, Historia Argentina, S. 663 ff. Zu den Prozessen gegen die Mitglieder der Militärjunta siehe Sancinetti, Derechos Humanos, S. 1 ff. 612 Guariglia, No hay Derecho Nr. 6 (1992), S. 25 f. (25), Woischnik, Untersuchungsrichter, S. 60 f. 613 Siehe dazu schon oben 3. Kapitel, B. I. 614 Maier, Proyecto, S. 654; Schöne, in: Dornseifer u. a. (Hrsg.), GS A. Kaufmann, S. 796; Woischnik, Untersuchungsrichter, S. 61; Darritchon, La Ley 1991-B, S. 720 ff. (720). 615 Vgl. bspw. die Überschriften bei Caputo Tártara, La Ley 1991-B, S. 1151 ff. sowie Goransky u. a., Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal 8 C (1999), S. 29 ff. Der offi ziell Proyecto de Código Procesal Penal de la Nación genannte Entwurf soll daher auch im Folgenden der Einfachkeit halber als „Entwurf Maier“, abgekürzt E Maier, bezeichnet werden, ohne dass damit die Mitarbeit der anderen Kommissionsmitglieder De la Rúa, Marini, Perl, Fappiano und vor allem Cafferata Nores sowie Almeyra Nazar unterschlagen werden soll.
B. Das deutsch-italienische Modell
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er aber bedeutende Neuerungen integrierte. Als Quellen dienten dabei kontinen taleuropäische Strafverfahrensgesetze, insbesondere die deutsche Strafprozessord nung616, sowie die internationalen Menschenrechtsabkommen.617 Deren rechtsstaatliche Vorgaben sind in einem umfangreichen allgemeinen Teil verwirklicht, der von Beginn an das Ziel des Entwurfs deutlich macht, den Beschuldigten nicht mehr hilflos der staatlichen Strafgewalt auszuliefern, sondern seine Individualinteressen effektiv durch Verfahrensgarantien zu schützen.618 Es folgen die Regeln zum Vorverfahren, das nach deutschem Vorbild in der Hand des Staatsanwalts liegt, Art. 68, 250 E Maier. Der Staatsanwalt, der sich zur Durch führung der Voruntersuchung der Polizei bedient, Art. 73, 74 E Maier, muss objek tiv ermitteln, Art. 69, 232 Abs. 2, 250 E Maier, und benötigt für jede Maßnahme, die intensiv in die Rechte des Beschuldigten eingreift, eine Anordnung des Er mittlungsrichters, vgl. Art. 153, 162, 165, 167, 206 E Maier. Endgültige, nicht in der Hauptverhandlung wiederholbare Beweiserhebungen muss der Ermittlungs richter selbst durchführen, Art. 258 E Maier.619 Der Beschuldigte, dessen Vertei digungsrechte detailliert geregelt sind, Art. 6, 41 ff. E Maier620, hat grundsätzlich ein Einsichtsrecht in die Ermittlungen621 und kann die Durchführung bestimm ter Ermittlungsmaßnahmen beantragen, Art. 255, 256 E Maier. Die dem deut schen Modell nachgebildeten Regelungen zur Untersuchungshaft verlangen neben dem Tatverdacht noch einen besonderen Haftgrund wie Flucht- oder Verdunk lungsgefahr, Art. 202 ff. E Maier, der alle drei Monate überprüft werden muss, Art. 219 E Maier. Anders als in Deutschland kann der Staatsanwalt die Ermitt lungen nicht selbständig abschließen.622 Kommt er schon zu Beginn des Ermitt lungsverfahrens zum Schluss, dass eine Straftat offensichtlich nicht vorliegt oder dass ein Verfahrenshindernis besteht, muss er beim Ermittlungsrichter eine Ar chivierung des Verfahrens beantragen, Art. 251 E Maier, die einer vorläufigen 616 Der Hauptverfasser des Entwurfs J. B. J. Maier kannte sich hervorragend im deutschen Strafverfahrensrecht aus. Er hatte nach einem anderthalbjährigen Studienaufenthalt in Mün chen eine Monographie mit dem Titel „La ordenanza procesal penal alemana“ verfasst, in der er die deutsche Strafverfahrensordnung mit argentinischem Recht verglich. Siehe dazu schon oben Fn. 20. 617 Wie im Modell aus Córdoba sind auch im Entwurf Maier zu jedem Artikel die Vorschrif ten angegeben, die für ihn Pate standen, vgl. Maier, Proyecto, S. 668 f. Siehe zu den Vorbildern des Entwurfs auch Schöne, in: Dornseifer u. a. (Hrsg.), GS A. Kaufmann, S. 797. 618 Siehe dazu Maier, Proyecto, S. 652 ff., 657. 619 Gewollt ist also eine dem deutschen Recht vergleichbare Konstellation von ermittelndem Staatsanwalt und kontrollierendem Untersuchungsrichter, vgl. Maier, Proyecto, S. 661. 620 Der Paradigmenwechsel bzgl. der Behandlung des Beschuldigten wird hier bspw. dadurch deutlich, dass das Gesetz seine Aussage nicht primär als Beweismittel, sondern als Verteidi gungsmöglichkeit ansieht, vgl. Maier, Proyecto, S. 661. 621 Wie im Vorbild aus Córdoba konnte der Richter für bis zu zehn Tage die Geheimhaltung des Verfahrens anordnen, Art. 255 Abs. 3 E Maier. 622 Woischnik, Untersuchungsrichter, S. 66, vermutet als Motiv für diese Abänderung, dass Maier seinem Entwurf dadurch bessere Chancen verschaffen wollte, da erhebliche politische Widerstände gegen zu weitreichende Befugnisse des Staatsanwalts bestanden, dazu sogleich.
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4. Kap.: Die Rezeption kontinentaleuropäischer Reformen
Einstellung entspricht. Schließt der Staatsanwalt dagegen die Ermittlungen ab, legt er seinen Antrag auf Verfahrenseinstellung oder Eröffnung des Hauptverfah rens dem Gericht des Zwischenverfahrens vor, Art. 263, 265 E Maier. Dabei han delt es sich um einen vom Gericht der Hauptverhandlung verschiedenen Spruch körper, Art. 274 Nr. 1, 277 E Maier623, der in einem eigenständigen Verfahren über eventuelle formale Mängel der Anklageschrift, über die Zulassung von Ne ben- und Zivilklägern sowie über die Eröffnung des Hauptverfahrens entscheidet, Art. 273 E Maier. Das im Entwurf Maier vorgesehene Hauptverfahren entspricht weitgehend demjenigen, das durch die Verfahrensordnung der Provinz Córdoba aus dem Jahre 1940 in das argentinische Strafverfahrensrecht eingeführt worden war.624 Es teilt sich auf in eine Vorbereitungsphase, in der Vorfragen des Prozesses geklärt werden und die Prozessparteien ihre Beweismittel anbieten, Art. 282 ff. E Maier, und in die eigentliche Hauptverhandlung, Art. 291 ff. E Maier. Die öffentliche und mündliche Hauptverhandlung, Art. 293, 299 E Maier, wird vom Vorsitzenden des Gerichts ge leitet, der selbständig die Beweise erhebt, Art. 302 E Maier. Es gilt der Unmittel barkeitsgrundsatz, eine Verlesung von Aussageprotokollen ist aber in einer Reihe von Fällen möglich, Art. 300 Nr. 1 E Maier. Das Gericht, welches sich aus drei Be rufsrichtern und zwei Schöffen zusammensetzt625, entscheidet mehrheitlich und in freier Beweiswürdigung über Schuld und Strafzumessung, Art. 321 E Maier, und ist dabei lediglich inhaltlich, nicht aber rechtlich an die Anklage des Staats anwalts gebunden, Art. 322 E Maier. Die im Entwurf Maier geplante Hauptver handlung enthält allerdings auch einige Elemente, die deutlich über das bis zu die sem Zeitpunkt auf Provinzebene Bekannte hinausgehen. Besonders interessant ist Art. 287 E Maier, wonach das Gericht bis zu ihrer Eröffnung die Möglichkeit hat, eine Zweiteilung der Hauptverhandlung zu beschließen. Im ersten Teil wird nur über die Schuld des Angeklagten verhandelt und er endet mit einem Schuldinterlo kut, für das die Vorschriften zum Urteil analog gelten. Im einem zweiten Abschnitt wird dann die Frage der Strafzumessung erörtert. Weiterhin verdient die Regelung des Art. 314 E Maier Aufmerksamkeit, wonach ein Zeuge oder Sachverständiger zunächst von demjenigen zu befragen ist, der seine Vernehmung vorgeschlagen 623 Aus den zitierten Normen, wonach das Gericht des Zwischenverfahrens in seinem Er öffnungsbeschluss das für die Hauptverhandlung zuständige Gericht benennt sowie diesem die Verfahrensakten zusendet, ergibt sich nur mittelbar, dass es sich um unterschiedliche Spruch körper handeln muss; unmittelbar ergibt sich dies aus Art. 25, 30 des den Entwurf Maier er gänzenden Vorentwurfs eines Gesetzes zur Organisation der Strafjustiz und des Ministerio Público, siehe dazu unten 4. Kapitel, B. II., sowie aus den Motiven zum Entwurf Maier, vgl. Maier, Proyecto, S. 662. 624 Siehe dazu die Ausführungen oben 4. Kapitel, A. III. 2. 625 Die Zusammensetzung des Gerichts mit der Beteiligung von sich allerdings in der Min derheit befindlichen Laien ergibt sich aus Art. 30 Nr. 1 des den Entwurf Maier ergänzenden Vorentwurfs eines Gesetzes zur Organisation der Strafjustiz und des Ministerio Público. Siehe dazu auch die Erläuterungen der Verfasser, die davon ausgingen, damit das Verfassungsmandat einer Laienbeteiligung am Strafprozess ausreichend zu erfüllen, Maier, Anteproyecto, S. 15 f.
B. Das deutsch-italienische Modell
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hat, danach von den übrigen Prozessbeteiligten und erst zum Schluss vom Vorsit zenden des Gerichts und den übrigen Richtern.626 In der Regelung der gegen die Entscheidungen des Gerichts einlegbaren Rechts mittel übernimmt der Entwurf Maier das System des CPP Córdoba (1940) und mo difiziert es lediglich leicht.627 Das bedeutet, auch der Entwurf Maier kennt nur eine einzige Tatsacheninstanz, es gibt keine Möglichkeit, eine umfassende zweite Ver handlung über Tat- und Rechtsfragen herbeizuführen.628 Die apelación, in Bundes strafprozessordnung von 1889 noch wichtigstes Rechtsmittel, welches eben ge rade die Herbeiführung einer zweiten Tatsachenverhandlung ermöglichte und in der Strafprozessordnung der Provinz Córdoba immerhin noch gegen Zwischen entscheidungen einlegbar, ist im Entwurf Maier vollständig weggefallen.629 Gegen Zwangsmaßnahmen im Ermittlungsverfahren kann beim Ermittlungsrichter Be schwerde eingelegt werden, Art. 221 E Maier. Wichtigstes Rechtsmittel gegen End entscheidungen des Gerichts ist wie schon im CPP Córdoba 1940 die casación, welche nur auf Fehler in der Rechtsanwendung gestützt werden kann, Art. 324 f. E Maier, und über die grundsätzlich in mündlicher Verhandlung entschieden wird, Art. 349 E Maier. Bei leichten Straftaten, für welche die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklage schrift nicht mehr als ein Jahr Freiheitsstrafe fordert, Art. 371 E Maier, kann ein gegenüber dem geschilderten Verfahrensablauf stark abgekürztes, procedimiento monitorio genanntes Verfahren zur Anwendung kommen, welches in etwa dem deutschen Strafbefehlsverfahren vergleichbar ist.630 Voraussetzung ist, dass Staats anwalt, Angeklagter und das Gericht sich mit der Abkürzung des Verfahrens ein verstanden erklären, Art. 371 f. E Maier. Dann hört das Gericht den Angeklag ten an und entscheidet aufgrund seiner Aussage und der im Ermittlungsverfahren gesammelten Beweise unmittelbar und ohne eine mündliche Hauptverhandlung, Art. 372 E Maier. Gegen das Urteil ist nur die casación zulässig, Art. 373 E Maier, über die dann ebenfalls nur im schriftlichen Verfahren entschieden wird, Art. 356 f. E Maier. 626 Eine ausführliche Betrachtung dieser Neuerung unter besonderer Berücksichtigung ihrer Auswirkungen auf die Rolle der Staatsanwaltschaft in der Hauptverhandlung findet sich unten 4. Kapitel, B. III. 4. 627 Zu den Möglichkeiten nach dem CPP Córdoba (1940), eine gerichtliche Entscheidung an zugreifen, siehe oben 4. Kapitel, A. III. 3. 628 Siehe dazu die Begründung von Maier, Proyecto, S. 663 f., wonach die zweite Tatsachen instanz früher notwendig gewesen sei, da zunächst lediglich ein Einzelrichter entschied, dessen Entscheidung später durch ein Kollegialgericht überprüft wurde. Jetzt entscheide jedoch gleich in erster Instanz ein Kollegialgericht, wodurch die Fehleranfälligkeit von Beginn an erheblich reduziert sei. 629 Dies hängt damit zusammen, dass der selbst ermittelnde Untersuchungsrichter durch einen ermittelnden Staatsanwalt, welcher vom Ermittlungsrichter kontrolliert wird, ersetzt worden ist und zudem das staatsanwaltliche Ermittlungsergebnis stets noch einmal durch das Gericht des Zwischenverfahrens überprüft wird, vgl. Maier, Proyecto, S. 663 ff. 630 Schöne, in: Dornseifer u. a. (Hrsg.), GS A. Kaufmann, S. 813.
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4. Kap.: Die Rezeption kontinentaleuropäischer Reformen
Die Schilderung der Grundzüge des im Entwurf Maier geplanten Strafverfah rens zeigt, dass er die durch den CPP Córdoba (1940) begonnene Erneuerung des aus dem spanischen Kolonialrecht stammenden argentinischen Inquisitions prozesses konsequent weiterführt. Wie Vélez Mariconde und Soler, die Schöpfer der Strafverfahrensordnung der Provinz Córdoba, orientierten sich auch die Ver fasser des Entwurfs Maier am neuesten Stand der in Kontinentaleuropa vollzoge nen Reformen, indem sie sich dessen modernste Verfahrensordnungen, insbeson dere die deutsche Strafprozessordnung, zum Vorbild nahmen. Entsprechend wurde der Entwurf zum ganz überwiegenden Teil positiv auf genommen. Das Justizministerium akzeptierte ihn und präsentierte ihn im Mai 1987 dem Abgeordnetenhaus zur weiteren Untersuchung. Eine Feldforschung un ter den Strafrechtspraktikern der Stadt Buenos Aires zur Umsetzbarkeit des Ent wurfs als auch seine theoretische Untersuchung durch ein international besetztes Symposium erbrachten anschließend zustimmende Reaktionen.631 Es gab aller dings auch eine Anzahl von Stimmen aus dem konservativen Flügel der Rechts wissenschaft um den damaligen Präsidenten des Obersten Gerichtshofs Argen tiniens, Ricardo Levene (h.), welche die Reformen des Entwurfs Maier als zu weitgehend ablehnten.632 Insbesondere wandten sie sich gegen die Übertragung der Ermittlungen auf die Staatsanwaltschaft, da auf diese Weise originär richterli che Aufgaben einer Partei zugewiesen würden, die zudem auch noch von der Exe kutive abhängig sei.633 Levene (h.) und seine Anhänger veröffentlichten eine Reihe von kritischen Betrachtungen des Entwurfs Maier634 und arbeiteten auch politisch gegen seinen Erlass635; zunächst schien ihnen allerdings kein Erfolg beschieden zu sein. Die Gesetzgebungskommission des Abgeordnetenhauses nahm die Ein wände zur Kenntnis, akzeptierte den Entwurf im Jahre 1988 aber dennoch mit leichten Änderungen und empfahl ihn zur Diskussion und Abstimmung im Ple num.636 Im letzten Moment verhinderte dann ein Machtwechsel an der Spitze des 631
Zu der Feldforschung vgl. Maier, Anteproyecto, S. 5 f. Zu dem Symposium, an dem auch die deutschen Fachleute Albin Eser, Winfried Hassemer und Wolfgang Schöne teilnah men, vgl. Presidencia de la Nación (Hrsg.), Symposium Bd. 1, S. 7 ff. Ein Bericht zum Ent wurf Maier von Wolfgang Schöne findet sich in Dornseifer u. a. (Hrsg.), GS A. Kaufmann, S. 795 ff. 632 Levene (h.) spricht in: ders. (Hrsg.), Estudios, S. 193 ff. davon, dass sich der Entwurf Maier nicht auf der breiten übereinstimmenden Basis der argentinischen Strafverfahrensdoktrin der vergangenen Jahrzehnte befinde. 633 Levene (h.), La Ley 1988-D, S. 824 ff.; Hortel, in: Levene (h.) (Hrsg.), Estudios, S. 79 ff.; Caputo Tártara, La Ley 1991-B, S. 1151 ff. (1155 ff.). Siehe zu diesem Thema die ausführliche Diskussion unten 4. Kapitel, B. III. 1. 634 Eine Zusammenfassung solcher Aufsätze findet sich in dem von Levene (h.) heraus gegebenen Band „Estudios sobre el proyecto de Código Procesal Penal de 1986“ aus dem Jahre 1988. 635 Levene (h.), in: ders. (Hrsg.), Estudios, S. 193 ff. schreibt, er habe sich diesbezüglich mehrfach schriftlich an die Regierung, das Justizministerium, Abgeordnetenhaus und Senat so wie an Richter, Staatsanwälte und Verteidiger der Bundeshauptstadt gewandt. 636 Cortese, in: Vázquez Rossi/Pessoa/Chiara Díaz, CPPN, S. 172 f.
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Staates die Verabschiedung des Entwurfstextes. Der Peronist Carlos Saúl Menem gewann die Präsidentschaftswahlen des Jahres 1989 und die Abgeordneten der peronistischen Partei weigerten sich in der Folge, an der Abstimmung über den Entwurf Maier teilzunehmen. Dabei dürfte neben den von Levene (h.) angebrach ten sachlichen Argumenten insbesondere gegen die Ermittlungstätigkeit der Staats anwalt637 schlicht auch die Tatsache eine entscheidende Rolle gespielt haben, dass Maiers Entwurf von der antiperonistischen, bürgerlichen Vorgängerregierung der UCR in Auftrag gegeben worden war.638 Stattdessen brachte die peronistische Re gierung wenig später einen anderen, von Levene (h.) ursprünglich bereits im Jahre 1965 erarbeiteten Entwurf ein, der schließlich zur neuen Bundesstrafverfahrens ordnung wurde.639 Der Entwurf Maier war damit gescheitert. Dennoch darf seine Wirkung nicht unterschätzt werden, denn er definierte für die folgenden Jahre das argentinische Verständnis eines modernen Strafverfahrensrechts und beeinflusst bis heute die wissenschaftliche Diskussion. Die wichtigsten Reformen des Strafverfahrens auf Provinzebene gehen auf sein Vorbild zurück640 und auch auf Bundesebene wurde der statt seiner bevorzugte Entwurf Levenes (h.) bereits im Gesetzgebungsverfah ren in einzelnen Punkten an den Entwurf Maier angeglichen, wie noch zu sehen sein wird. So ließ sich Levenes (h.) vollständige Ablehnung einer Übertragung der Voruntersuchung auf die Staatsanwaltschaft nicht halten. Es wird daher interessant sein, zu untersuchen, inwieweit es dem Entwurf Maier gelingt, durch eine Ausweitung der staatsanwaltlichen Befugnisse die bis dato konstatierten Mängel des argentinischen Inquisitionsprozesses zu beseitigen.
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Zu dem politischen Widerhall dieser Argumentation vgl. die Ausführungen der Kommis sion des Senats, die den Entwurf Levenes (h.) untersucht hatte und diesen ausdrücklich dafür lobt, dass er nicht den Fehler des Vorgängerentwurfes mache, der Staatsanwaltschaft die Er mittlungen zu übertragen und damit die Waffengleichheit zwischen den Parteien zu zerstören, vgl. Dictamen de la Comisión del Senado, in: Chichizola (Hrsg.), Código Procesal Penal de la Nación, S. 62. 638 Diese in der argentinischen Rechtswissenschaft weit verbreitete Einschätzung zitiert schon Woischnik, Untersuchungsrichter, S. 74 Fn. 230. Sie wurde auch vom renommierten ar gentinischen Rechtshistoriker Abelardo Levaggi dem Autor dieser Arbeit gegenüber in einem persönlichen Gespräch vertreten. 639 Vgl. Cortese, in: Vázquez Rossi/Pessoa/Chiara Díaz, CPPN, S. 173; Woischnik, Unter suchungsrichter, S. 63 f. sowie unten 5. Kapitel, A. I. 640 Vor allem sind hier die aktuellen Strafprozessordnungen Córdobas und der Provinz Bu enos Aires (nicht zu verwechseln mit der Bundeshauptstadt, für die Bundesrecht gilt) zu nen nen, welche nicht nur zu den modernsten in Argentinien zählen, sondern aufgrund des Be völkerungsreichtums dieser Provinzen auch die größte praktische Bedeutung besitzen.
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4. Kap.: Die Rezeption kontinentaleuropäischer Reformen
II. Die Organisation der Bundesstaatsanwaltschaft nach dem VE Maier Org.
Die von der Reformkommission um Maier intendierte Organisation der Staats anwaltschaft findet sich im den Entwurf Maier begleitenden Vorentwurf eines Ge setzes zur Organisation der Strafjustiz und des Ministerio Público, im Folgenden kurz VE Maier Org.641 1. Amtsträger der Bundesstaatsanwaltschaft nach dem VE Maier Org.
Die Bundesgerichtsbarkeit sollte sich nach dem VE Maier Org. aus dem in Straf sachen hauptsächlich mit besonderen Rechtsmittelverfahren beschäftigten Obers ten Gerichtshof, dem grundsätzlich für die Rechtsmittel der casación sowie revisión zuständigen Kassationsgerichtshof, der außerdem erstinstanzlich bei einigen besonders schweren Straftaten tätig wird, und den Strafgerichtshöfen, die ihrer seits Ermittlungs- sowie Korrektionalrichter als auch die Gerichte des Zwischenund Hauptverfahrens umfassen, zusammensetzen, vgl. Art. 4 ff. VE Maier Org. Traditionell hatte im argentinischen Bundesrecht die Organisation der Staatsan waltschaft bisher diejenige der Gerichtsbarkeit exakt widergespiegelt.642 Die be sondere Neuerung für die Amtsträger der Bundesstaatsanwaltschaft bestand nun darin, dass diese eben gerade nicht mehr den einzelnen Instanzgerichten zugeord net waren. Grund war, dass die Verfasser des Vorentwurfs die enge organisatori sche Verflechtung zwischen Rechtsprechungsorganen und staatlichen Anklägern zu Gunsten einer größeren Eigenständigkeit der Staatsanwaltschaft gegenüber der Judikative beseitigen wollten.643 Der Vorentwurf kennt fünf Typen von Amts trägern innerhalb der Bundesstaatsanwaltschaft: An der Spitze steht der Generalstaatsanwalt, Procurador general de la Nación, Art. 86 ff. VE Maier Org. Ist der Oberste Gerichtshof nach Art. 101 der Ver fassung644 bei Klagen einer Provinz oder Verfahren gegen ausländische Würdenträ ger ausnahmsweise einmal Tatsacheninstanz, übernimmt der Generalstaatsanwalt die Ermittlungen und vertritt die staatliche Anklage in der Verhandlung, Art. 5 VE Maier Org. Seine wichtigste Aufgabe ist aber die des Oberhaupts der Bun 641 Im Original Anteproyecto de Ley Orgánica para la Justicia Penal y el Ministerio Público. Es findet sich bspw. abgedruckt als Nr. 2 der Reihe Doctrina Penal Cuadernos (1988). 642 Siehe dazu oben 3. Kapitel, B. II. 2.; 4. Kapitel, A. II. 1. 643 So die Motive zum Vorentwurf, vgl. Maier, Anteproyecto, S. 11. Darauf wird unten, 4. Kapitel, B. II. 3., noch einmal zurückzukommen sein, wenn untersucht wird, wie der Vor entwurf die Staatsanwaltschaft in das Staatsgefüge als Ganzes einordnet. 644 Die Verfassungsvorschriften werden hier so zitiert, wie sie in den Entwurfstexten angege ben sind. Mit der großen Verfassungsreform von 1994, vgl. dazu unten 5. Kapitel, A. I., wurde der Inhalt von Art. 101 nicht geändert, aber die Nummerierung. Die gleichlautende Vorschrift findet sich jetzt unter Art. 117.
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desanwaltschaft, als das er die politische Verantwortung für ihre Tätigkeit trägt, Art. 86 Abs. 1 VE Maier Org. In dieser Funktion gibt er nach den Art. 112 ff. VE Maier Org. durch allgemeine Weisungen die Richtlinien für die Arbeit des Ministerio Público vor, dazu sogleich. Er kann auf die Aufgabenverteilung in nerhalb des Bundesstaatsanwaltschaft Einfluss nehmen, indem er bestimmte An gelegenheiten an bestimmte Amtsträger delegiert, Art. 117 VE Maier Org., oder der Exekutive eine Änderung der grundsätzlichen Einteilung vorschlägt, Art. 96 VE Maier Org. Er hat auch die Möglichkeit, die Tätigkeit der untergeordne ten Staatsanwälte selbst zu übernehmen, Art. 86 Abs. 2, 90 Abs. 2, 92 Abs. 2 VE Maier Org. Einmal im Jahr schreibt er einen Bericht an das Justizministerium, in welchem er Rechenschaft für die Tätigkeit der Bundesstaatsanwaltschaft ablegt, Art. 88 VE Maier Org. Unterhalb des Procurador general de la Nación stehen eine Reihe Fiscales generales genannte Chefankläger, Art. 90 f. VE Maier Org. Sie sind mitsamt ihren untergeordneten Mitarbeitern, mit denen sie eine fiscalía general genannte Be hörde bilden, entweder allgemein für ein Bundesdistrikt genanntes bestimmtes Gebiet oder aber für eine bestimmte sachlich abgegrenzte Aufgabe zuständig, Art. 90, 96 ff. VE Maier Org.. Abgegrenzte sachliche Zuständigkeiten sind z. B. die Vertretung der Strafklage mit Ausnahme der Fälle des Art. 101 der Bundesverfas sung vor dem Obersten Gerichtshof, Art. 98 VE Maier Org., sowie das Auftreten vor dem Kassationsgerichtshof, Art. 99 VE Maier Org., aber auch außerstrafrecht liche Aufgaben wie die innerbehördliche Organisation, Art. 100 VE Maier Org. oder die Vertretung des Staates vor Zivilgerichten, Art. 104 VE Maier Org. Inner halb der ihnen zugewiesenen fiscalía general nehmen die Fiscales generales eine dem Generalstaatsanwalt vergleichbare Stellung ein, d. h., sie nehmen die Auf sicht über die ihnen untergeordneten Staatsanwälte wahr und sind für deren Tätig keit politisch verantwortlich, Art. 90 VE Maier Org. Alle Fiscales generales bilden gemeinsam den sog. Consejo Fiscal, Art. 89 VE Maier Org. Dieses Gremium be rät den Generalstaatsanwalt, überprüft aber auch seine Weisungen, wenn sich ein untergeordneter Fiskal dagegen zur Wehr setzt. Dem Procurador general de la Nación sowie den Fiscales Generales zugeordnet sind in dieser hierarchischen Reihenfolge Fiscales adjuntos, Agentes Fiscales so wie Auxiliares Fiscales, Art. 92 ff. VE Maier Org. Über die Tätigkeit der Fiscales adjuntos sagt der Vorentwurf lediglich, dass sie dem Procurador bzw. den Fiscales Generales assistieren und die Aufgaben übernehmen, die ihnen ihre Vor gesetzten zuweisen, Art. 92 Abs. 1 VE Maier Org. Die Agentes Fiscales können im ganzen Strafprozess, also auch im Hauptverfahren, auftreten, solange sie un ter der Aufsicht und der Verantwortung eines Vorgesetzten handeln, Art. 94 Abs. 2 VE Maier Org., während die Auxiliares Fiscales nur im Ermittlungsverfahren tä tig werden dürfen, Art. 94 Abs. 3 VE Maier Org. Aus den Motiven zum Vorentwurf lässt sich entnehmen, dass diese weitgehende Freiheit der vorgesetzten Staatsan wälte bei der Aufgabenzuteilung ihnen ermöglichen sollte, Ressourcen schnell und unbürokratisch zu verschieben, um flexibel auf jeweils unterschiedliche Arbeits
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anforderungen reagieren zu können.645 Aus den genannten Vorschriften kristalli siert sich jedoch der Regelfall heraus, dass im Vorverfahren der Auxiliar Fiscal und im Hauptverfahren der Agente Fiscal die Anklage vertritt, während der Fiscal adjunto in Unterstützung des Fiscal general Leitungsaufgaben wahrnimmt, d. h. die Tätigkeit der untergeordneten Fiskale koordiniert und beaufsichtigt. 2. Die interne Struktur der Bundesstaatsanwaltschaft nach dem VE Maier Org.
Wie gezeigt waren die Verbindungen zwischen den einzelnen Amtsträgern der Bundesstaatsanwaltschaft in Argentinien bis dato nicht zuletzt wegen des Fehlens einer einheitlichen organisatorischen Regelung nur unzureichend gesetzlich aus gestaltet, so dass von einer Einheit des Ministerio Público Fiscal nicht gesprochen werden konnte.646 Ziel des Vorentwurfs war es, diesen Missstand zu beheben, in dem die oben dargestellten Amtsträger in eine klare hierarchische Struktur einge bunden wurden, die eine einheitliche Amtsausübung der Bundesstaatsanwaltschaft gewährleisten sollte. Einheit und hierarchische Struktur der Staatsanwaltschaft sind als Grundprinzipien in den Art. 110 und 111 VE Maier Org. festgehalten. Nach Art. 110 VE Maier Org. ist das Ministerio Público einheitlich und unteilbar, ihre Amtsträger vertreten die Staatsanwaltschaft als Ganzes, wenn sie im Prozess tätig werden. Jeder Vorgesetzte ist für die Amtsführung der ihm untergeordneten Staatsanwälte verantwortlich, er beaufsichtigt sie und kann ihnen Weisungen er teilen, Art. 111 VE Maier Org. Die Weisungsbefugnis wird nachfolgend in den Art. 112 ff. VE Maier Org. durch ein ausdifferenziertes Regelungswerk konkretisiert. Die vorgesetzten Staats anwälte können sowohl allgemeine Weisungen im Sinne einer Handlungsricht linie als auch konkrete, auf einen bestimmten Fall bezogene Weisungen erteilen, Art. 112 Abs. 1 VE Maier Org. Die Idee dahinter ist, dass die allgemeinen Wei sungen die Durchsetzung einer bestimmten kriminalpolitischen Richtung ermög lichen, gleichzeitig aber den Staatsanwälten innerhalb der vorgegebenen Grenzen einen freien Handlungsspielraum lassen. Damit dieser Handlungsspielraum nicht das einheitliche Auftreten der Staatsanwaltschaft gefährdet, sollen die konkreten Weisungen bei zu großen Abweichungen als Korrektiv dienen.647 Der Untergebene ist grundsätzlich verpflichtet, die Weisungen unabhängig von seiner persönlichen Meinung zu befolgen, Art. 113 Abs. 1 VE Maier Org. In einer mündlichen Ver handlung hingegen muss er nur die allgemeinen, auf eine bestimmte Gesetzes interpretation bezogenen Weisungen befolgen und handelt im Übrigen nach sei nem eigenen Urteilsvermögen. Will der Vorgesetzte seine abweichende Meinung 645
Maier, Anteproyecto, S. 10 f. Siehe dazu oben 3. Kapitel, B. II. 3.; 4. Kapitel, A. II. 2. 647 Goransky u. a., Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal 8-C (1999), S. 29 ff. (32 f.).; Sáenz, Doctrina Penal 12 (1989), S. 423 ff. (425). 646
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durchsetzen, muss er die Verhandlungsführung selbst übernehmen, Art. 113 Abs. 2 VE Maier Org. Diese Unterscheidung zwischen schriftlicher und mündlicher Ver fahrensführung beruht auf der Dynamik der mündlichen Verhandlung, die dazu führt, dass nur der anwesende Staatsanwalt in der Lage ist, seine Schlüsse aus dem Verhandlungsverlauf zu ziehen.648 Um ihre Überprüfbarkeit zu gewährleisten, haben die Weisungen regelmäßig schriftlich zu ergehen, Art. 116 Abs. 1 VE Maier Org. Alle allgemeinen Weisungen sowie konkrete Weisungen von besonderer Bedeutung müssen vom erteilenden Staatsanwalt zunächst seinem jeweiligen Vorgesetzten vorgelegt werden, der die Weisung widerrufen oder modifizieren kann, Art. 112 Abs. 2 VE Maier Org. Hält der Empfänger einer Weisung sie für gesetzeswidrig, lässt er dem Anweisenden schriftlich seine Einwände zugehen. Ist der Anweisende daraufhin nach wie vor von der Rechtmäßigkeit seiner Weisung überzeugt, leitet er sie samt der Stellung nahme des Angewiesenen an seinen Vorgesetzten weiter, der über die Gültigkeit der Weisung entscheidet, Art. 114 VE Maier Org. Der Procurador general, der kei nen unmittelbaren Vorgesetzten hat, entscheidet selber über Einwände gegen seine Weisungen, muss vorher aber den Rat der Fiscales generales in der Sache anhören, Art. 114 Abs. 3, 89 Nr. 5 VE Maier Org. Betrifft eine angegriffene Weisung Pro zesshandlungen, die aufgrund einer Frist oder aus sonstigen Gründen eilbedürftig sind und ein Abwarten der Entscheidung über den Einspruch nicht zulassen, muss der Angewiesene sie unabhängig vom Einspruchsverfahren zunächst befolgen, Art. 115 VE Maier Org. Mitarbeiter Maiers räumten ein, dass dieses Einspruchs verfahren auf den ersten Blick sehr kompliziert und bürokratisch anmute, es sei je doch von fundamentaler Bedeutung, um eine demokratischen Grundsätzen genü gende Kontrolle innerhalb des Ministerio Público zu etablieren.649 Im Gegensatz zur umfassenden Beschäftigung des Vorentwurfs mit der Wei sungsbefugnis sind das Devolutionsrecht der Vorgesetzten, eine Sache selbst an sich zu ziehen, sowie die Substitutionsbefugnis, also die Möglichkeit, unterge ordnete Staatsanwälte aus einem Verfahren abzuziehen und durch andere zu er setzen, nur recht knapp geregelt. Nach Art. 117, 90 Abs. 2, 92 Abs. 2 VE Maier Org. können der Procurador general, die Fiscales generales sowie die Fiscales adjuntos den jeweils untergeordneten Staatsanwälten bestimmte Verfahren zuwei sen, sie durch andere Fiskale austauschen oder das Verfahren gar selbst überneh men. Einschränkungen ergeben sich aus dem Wortlaut des Vorentwurfs nicht. Das wirft die Frage auf, ob damit nicht in der Praxis die Gefahr eines Missbrauchs un ter Umgehung der ausgefeilten Weisungskontrolle verbunden ist. Es erscheint kei neswegs abwegig, dass ein Vorgesetzter, der auf ein bestimmtes Verfahren unzu lässigen Einfluss nehmen möchte, einen missliebigen Staatsanwalt ersetzt oder das Verfahren von vornherein einem ihm genehmen Amtsträger zuweist, statt Wei 648
Sáenz, Doctrina Penal 12 (1989), S. 423 ff. (424). Vgl. den Bericht von Goransky u. a. an das Justizministerium aus dem Jahre 1988, uadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal 8-C (1999), S. 29 ff. ( 34). C 649
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sungen zu erteilen, deren Rechtswidrigkeit weitaus leichter festgestellt werden kann. Inwieweit diese Gefahr durch innerbehördliche organisatorische Regelun gen hätte gebannt werden können, muss dahingestellt bleiben, weil der Vorentwurf nie verwirklicht wurde. Festzuhalten bleibt aber, dass die Diskrepanz in der Rege lungsdichte bezüglich der Kontrolle von Weisungen einerseits und der Substitution von Amtsträgern andererseits einen Schwachpunkt darstellt. 3. Die Stellung der Bundesstaatsanwaltschaft im Staatsgefüge als Ganzes nach dem VE Maier Org.
Die unbefriedigende Zwitterstellung der Staatsanwaltschaft auf Bundesebene, deren untere Amtsträger Exekutivbeamte waren, während die übergeordneten Fiskale zur rechtsprechenden Gewalt gezählt wurden, hatte zu Forderungen ge führt, sie konsequent in eine der Staatsgewalten einzugliedern.650 Die Verfasser des Vorentwurfs schlossen sich keiner der Ansichten zur Rechtsnatur der Staatsanwalt schaft ausdrücklich an. Ihr erklärtes Ziel war es vielmehr, die Verbindungen des Ministerio Público zu den Staatsgewalten einheitlich auszugestalten, ohne es da bei aber vollständig einer von ihnen unterzuordnen.651 Dass die Bundesstaatsanwälte nicht zur Judikative zählen, wird schon daran deutlich, dass sie nicht mehr bestimmten Gerichten zugeordnet sind und erst recht nicht als deren Mitglieder bezeichnet werden, wie dies in den Bundesgesetzen Nr. 27 aus dem Jahre 1862 und Nr. 4055 aus dem Jahre 1902 der Fall war. Ent sprechend unterliegen sie auch nicht mehr der allgemeinen für Richter und andere Justizbeamte geltenden gerichtlichen Aufsicht, Disziplinarbefugnisse übt ein dafür eigens behördenintern gebildetes Disziplinargericht aus, dazu sogleich. Einfluss möglichkeiten der Judikative auf die Amtsführung der Staatsanwaltschaft ergeben sich damit nur noch aus dem materiellen Prozessrecht. Gegenüber der Exekutive genießt die Staatsanwaltschaft ebenfalls eine gewisse Eigenständigkeit, hier sind die Verbindungen allerdings deutlich enger als zur Judikative. Die Ernennung und Entlassung von Amtsträgern der Bundesstaatsanwaltschaft ist im VE Maier Org. ausführlich dahingehend geregelt, dass die Exekutive teil weise darauf Einfluss nehmen kann, jedoch niemals allein entscheidet. Der Procurador general de la Nación wird vom Staatspräsidenten als Oberhaupt der Exeku tive ernannt, die Ernennung muss aber vom Senat, also einem Legislativorgan652, 650
Siehe dazu oben 3. Kapitel, B. II. 4. Maier, Anteproyecto, S. 11; Sáenz, Doctrina Penal 12 (1989), S.423 ff. (426). 652 Wie bereits oben im 2. Kapitel, B. I. ausgeführt, orientiert sich die Staatsorganisation des argentinischen Bundesstaates an derjenigen der U. S. A. Die Regierungsverantwortung liegt in der Hand des Staatspräsidenten und die Gesetzgebung obliegt zwei Kammern, dem Ab geordnetenhaus und dem Senat. 651
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bestätigt werden, Art. 87 VE Maier Org. Um ihn seines Amtes zu entheben, ist wie bei einem Verfassungsorgan ein politischer Prozess anzustrengen, Art. 134 VE Maier Org. Dieser wird von der Legislative durchgeführt, die Abgeordneten kammer fungiert dabei als Ankläger und der Senat als Urteilsorgan, vgl. Art. 53, 59, 60 der Bundesverfassung. Die Fiscales generales werden ebenfalls vom Staats präsidenten auf Vorschlag des Procurador general ernannt, Art. 91 VE Maier Org. Ihre außerordentliche Ablösung muss vor einem speziell für die Staatsanwalt zu ständigen Disziplinargericht betrieben werden, Art. 135 VE Maier Org. Dieses Disziplinargericht gehört nicht der allgemeinen Gerichtsbarkeit an, sondern wird vom Consejo Fiscal, dem aus den Fiscales generales gebildeten Rat, jährlich neu ernannt, Art. 89 Nr. 4 VE Maier Org. und besteht aus fünf nicht mehr im aktiven Dienst beschäftigten Richtern, Art. 128 VE Maier Org. Die übrigen Staatsanwälte ab dem Rang eines Fiscal adjunto abwärts werden vom Procurador general er nannt, Art. 93, 95 VE Maier Org. Für ihre vorzeitige Ablösung gilt das gleiche wie für die der Fiscales generales, d. h. sie erfolgt durch das Disziplinargericht, Art. 135 VE Maier Org. Dadurch, dass die Regierung also nicht selbständig Amts träger der Staatsanwaltschaft ernennen oder entlassen kann, wird verhindert, dass sie über entsprechende Befugnisse mittelbar Einfluss auf die Amtsführung der staatlichen Ankläger nimmt.653 Um auf die Staatsanwaltschaft einzuwirken, gesteht der Vorentwurf der Regie rung stattdessen ein ausdrückliches Weisungsrecht zu. Nach Art. 119 VE Maier Org., welcher die Überschrift Beziehungen zu den anderen Staatsgewalten654 trägt, kann der Justizminister dem Procurador general de la Nación sowohl Weisun gen allgemeiner Natur als auch solche, die sich auf einen konkreten Fall bezie hen, erteilen. Die Motivation der Verfasser für diese Regelung war es sicherzu stellen, dass sich die Amtsführung der Staatsanwaltschaft in ausreichendem Maße an den demokratisch legitimierten politischen Grundentscheidungen des Staates orientiert.655 Um einen Missbrauch auszuschließen, sind wie im Falle der internen Weisungen eine Reihe rechtsstaatlicher Sicherungen eingebaut. Zunächst hat der Minister seine Weisung stets zu begründen, Art. 119 Abs. 1 VE Maier Org. Der Procurador general kann, wenn er die Weisung für nicht rechtmäßig hält, sich weigern diese auszuführen. Er hat dann dem Minister seine Stellungnahme samt den Gründen seiner Weigerung mitzuteilen, Art. 119 Abs. 2 VE Maier Org. Will der Justizminister seine Weisung dennoch aufrecht erhalten, muss er die Sache der Legislative vorlegen. Nur wenn Abgeordnetenhaus und Senat mit dem Justiz minister übereinstimmen, wird die Weisung für den Procurador general bindend, Art. 119 Abs. 3 VE Maier Org. Damit die Möglichkeit des Procurador general, eine Kontrolle der ministeriellen Weisung durch die Legislative herbeizuführen, 653 Dass eine solche Befürchtung keineswegs unbegründet war, zeigen die verschiedenen Fälle, in denen die Regierung auf die ihr unterstellten, in erster Instanz tätigen Bundesstaats anwälte unzulässigen Druck ausübte. Vgl. dazu die Beispiele oben 3. Kapitel, B. II. 4. 654 Übersetzung des Verf., im Original: Relaciones con los otros poderes constitucionales. 655 So die Begründung in den Motiven, vgl. Maier, Anteproyecto, S.11.
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nicht unterlaufen wird, stellt der Wortlaut des Art. 119 Abs. 1 VE Maier Org. ein deutig klar, dass einziger Adressat der Weisungen des Justizministers das Ober haupt der Staatsanwaltschaft, nicht aber ein untergeordneter Fiskal, sein kann.656 Angesichts der externen Weisungsbefugnisse der Exekutive sowie der hierar chischen Struktur innerhalb der Staatsanwaltschaft gehen einige Autoren davon aus, dass das Ministerio Público im VE Maier Org. entgegen der Aussage sei ner Schöpfer sehr wohl einer der Staatsgewalten zugeordnet ist, nämlich der voll ziehenden.657 Daraus wiederum folgern die Kritiker des Entwurfs, dass die ver fassungsmäßige Gewaltenteilung verletzt werde, indem die Exekutive über den Staatsanwalt Aufgaben der Rechtsprechung wahrnehme.658 Ob der Staatsanwalt schaft im Verfahrensrecht Aufgaben übertragen werden, die der Judikative vorbe halten sind, wird weiter unten noch zu untersuchen sein.659 An dieser Stelle fest zuhalten ist, dass die Ausgestaltung der Staatsanwaltschaft im Vorentwurf in der Tat ganz weitgehend der eines Exekutivorgans entspricht. Die Gefahr eines Miss brauchs der dargestellten Befugnisse durch die Exekutive mit dem Ziel, unzulässi gen Einfluss auf das Strafverfahren zu nehmen, erscheint nach den Regelungen des Vorentwurfs allerdings nur sehr gering. Die Ernennungsbefugnis des Staatspräsi denten ist von der Mitwirkung der Legislative bzw. des Procurador general abhän gig. Die Exekutive hat keine Möglichkeiten einen Staatsanwalt wegen Missverhal tens abzusetzen, das diesbezügliche Procedere ist allein behördenintern. Auch die Weisungsbefugnis beschränkt sich auf den Procurador general und dieser kann sich gegen unrechtmäßige Weisungen zur Wehr setzen. Es ist insofern dem Gedan ken Maiers zuzustimmen, wonach nicht die abstrakte Klassifizierung der Staatsan waltschaft im Verfassungssystem entscheidend ist, sondern ihre konkreten Bezie hungen zu den jeweiligen Staatsorganen.660 Eine solche Einzelbetrachtung zeigt, dass die differenzierte strukturelle Ausgestaltung der Staatsanwaltschaft nicht zu beanstanden ist. Sie ist organisatorisch völlig von der Judikative abgekoppelt, wodurch die mit einer richtergleichen Stellung des Staatsanwalts einhergehende 656
In den Motiven wird dies noch einmal hervorgehoben, siehe Maier, Anteproyecto, S. 11. González-Cuellar García, in: Presidencia de la Nación (Hrsg.), Symposium Bd. I, S. 44; Caputo Tártara, La Ley 1991, S. 1151 ff. (1155). 658 Levene (h.), La Ley 1988-D, S. 824 ff. (830 f.); Casanovas, in: Levene (h.) (Hrsg.), Estudios, S. 30 ff.; Caputo Tártara, La Ley 1991-B, S. 1151 ff. (1155 ff.). Siehe dazu auch so gleich, 4. Kapitel, B. III. 1., die Ausführungen zur Stellung der Staatsanwaltschaft im Vorver fahren nach dem Entwurf Maier. 659 Vgl. dazu unten 4. Kapitel, B. III. 1. 660 Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 2, S. 336 f.; Rusconi, in: Maier (Hrsg.), Ministerio Público, S. 75 f.; ders., Pena y Estado Nr. 2 (1997), S. 153 ff. (167). Es bleibt allerdings zu ver muten, dass die Scheu der Autoren des Vorentwurfs, die Einordnung der Staatsanwaltschaft als Exekutivorgan beim Namen zu nennen, nicht nur auf diese ohne Zweifel richtigen Erwägun gen zurückzuführen ist, sondern auch auf politische Bedenken. Angesichts der ohnehin gefähr lichen Machtfülle der Bundesregierung und ihrer wiederholten früheren Versuche, die Amts ausübung der ihr unterworfenen Staatsanwälte an den erstinstanzlichen Bundesgerichten zu beeinflussen, bestehen in Argentinien erhebliche Vorbehalte dagegen, die Anklagebehörde der vollziehenden Gewalt zu unterwerfen. Vgl. dazu schon oben 3. Kapitel, B. II. 4. 657
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Beeinträchtigung des Anklagegrundsatzes vermieden wird. Der Exekutive werden dagegen in Anerkennung des kriminalpolitischen Charakters der Strafverfolgung Einflussmöglichkeiten eingeräumt, gleichzeitig ist aber auch eine Reihe von Beschränkungen und Sicherungen eingebaut, um deren Missbrauch zu verhindern. 4. Zusammenfassung
Aus der Erfahrung heraus, dass eine tiefgreifende Erneuerung des Strafverfahrens nur dann gelingen kann, wenn auch die Organisationsstruktur seiner Prota gonisten einen grundlegenden Wandel erfährt661, stellt der den Entwurf Maier begleitende Vorentwurf zur Justizorganisation einen ambitionierten Versuch dar, eben diesen Wandel gerade auch in Bezug auf die Staatsanwaltschaft herbeizuführen.662 Als großer Fortschritt zu der bis dato geltenden Vielfalt von Gesetzen und Dekreten ist dabei allein schon die Tatsache anzusehen, dass der Vorentwurf einheitliche Regelungen schafft. Vor allem aber bricht er mit der in der argentinischen Lehre bis dahin herrschenden Auffassung, wonach die Rolle des Staatsanwalts im argentinischen Inquisitionsprozess seine richtergleiche Unabhängigkeit erfordere, und ordnet die Anklagebehörde der Exekutive zu. Die daraus entstehende hierarchische Struktur der Anklagebehörde und ihre Anbindung an das Justizministerium ermöglichen ein gleichmäßiges, effektives, an einer einheitlichen Kriminalpolitik orientiertes Vorgehen der einzelnen Amtsträger. Gleichzeitig sind eine Reihe von Sicherungsmechanismen eingebaut, die, wenn auch nicht in allen Details gelungen, eine unzulässige Einflussnahme von außen auf die Staatsanwaltschaft weitgehend verhindern dürften. Der Vorentwurf zeigt damit, dass die Zugehörigkeit der Staatsanwaltschaft zur vollziehenden Gewalt durchaus auch mit der inquisitorischen Form der Wahrheitsfindung vereinbar ist, denn der Anspruch der staatsanwaltlichen Objektivität wird nicht aufgegeben. Indem er die Staatsanwaltschaft klar von den Gerichten unterscheidet, vermeidet der Vorentwurf zudem die Gefahr, dass sich Anklage- und Urteilsfunktion schon auf organisatorischer Ebene vermischen.663 Er schafft auf diese Weise die Voraussetzungen für eine Ausgestaltung der Figur des Staatsanwalts, die seine Anklägerstellung und seine Eigenschaft als Staatsorgan in einer Synthese aus adversatorischem und inquisitorischem Konzept miteinander in Einklang bringt.
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Vgl. die Motive, Maier, Anteproyecto, S. 9 f. Den Verfassern war die erhebliche Bedeutung der staatsanwaltlichen Organisationsstruktur für das Gesamtsystem völlig klar, die Anklagebehörde wird nicht nur bereits im Titel des Vorentwurfs erwähnt, sondern ihr ist auch das ausführliche dritte Buch gewidmet. 663 Siehe dazu oben 4. Kapitel, A. II. 3. 662
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4. Kap.: Die Rezeption kontinentaleuropäischer Reformen
III. Die Stellung der Staatsanwaltschaft im Verfahren des Entwurfs Maier
Der Entwurf Maier enthält in seinem allgemeinen Teil im Titel zu den Prozess subjekten auch einige grundlegende Vorschriften zur Rolle der Staatsanwaltschaft im Strafverfahren. Nach Art. 68 Abs. 1 E Maier ist die Staatsanwaltschaft mit der Strafverfolgung aller von Amts wegen verfolgbaren Taten beauftragt, ausgenom men von ihrer Tätigkeit sind nur Privatklagedelikte. Der Entscheidungsmaßstab des staatlichen Anklägers ist immer objektiv und ausschließlich an einer korrekten Anwendung der Strafgesetze ausgerichtet, Art. 69 E Maier, er kann wie ein Richter wegen Befangenheit ersetzt werden, Art. 72 E Maier. Damit ist klargestellt, dass der Staatsanwalt nicht als einseitiger Ankläger agiert, sondern als Staatsorgan auf einen gerechten Verfahrensausgang hinwirkt. 1. Vorverfahren
Im Gegensatz zum CPP Córdoba (1940) und, wie noch zu sehen sein wird, zur späteren Bundesstrafverfahrensordnung des Jahres 1992 kennt der Entwurf Maier keine verschiedenen Formen des Vorverfahrens, je nachdem ob der Richter oder der Staatsanwalt die Ermittlungen leitet. Die Figur des klassischen, das Er mittlungsverfahren beherrschenden Untersuchungsrichters ist abgeschafft, die Er mittlungen obliegen stets der Staatsanwaltschaft, Art. 68 Abs. 2, 250 E Maier. Der Staatsanwalt eröffnet das Ermittlungsverfahren, sobald er von der mög lichen Begehung einer Straftat Kenntnis erhält, Art. 232 Abs. 1 E Maier, was bspw. durch Anzeige, Art. 239 E Maier, Privatklage, Art. 244 E Maier, oder eine Mit teilung der Polizei, Art. 246 E Maier, geschehen kann. Es reicht aber auch jede andere Form der Kenntniserlangung aus, Art. 232 Abs. 1 E Maier, der staatliche Ankläger ist zur Verfahrenseröffnung ausdrücklich nicht auf die Mitwirkung Drit ter angewiesen, Art. 229 Abs. 1 E Maier. Bei seiner Entscheidung ist der Staats anwalt an das Legalitätsprinzip gebunden, d. h. er hat sich ausschließlich an Recht und Gesetz zu orientieren, ein Absehen oder eine Beendigung von Ermittlungen aus Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten kommen nicht in Betracht, Art. 229 Abs. 1, 232 Abs. 1 E Maier. Ausnahmen von diesem Grundsatz lässt der Entwurf Maier nur sehr eingeschränkt zu, nämlich dann, wenn schon im materiellen Strafrecht für bestimmte Taten ein Absehen von der Strafverfolgung aus Opportunitätsgesichts punkten vorgesehen ist, Art. 229 Abs. 1, 232 Abs. 1 E Maier. Liegt ein solcher Fall vor, kann die Staatsanwaltschaft aber nicht selbst das Verfahren einstellen, sondern lediglich beim Ermittlungsrichter eine vorläufige Einstellung oder Prozessausset zung auf Probe beantragen, Art. 230, 231 E Maier. Zur Aufklärung der Straftaten bedient sich der Staatsanwalt der Polizei als Hilfsbeamten, Art. 73 Abs. 2 E Maier. Zu diesem Zweck hat er gegenüber den Polizeibeamten ein Aufsichts- und Weisungsrecht, soweit sie Aufgaben der Straf
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verfolgung wahrnehmen, Art. 74 E Maier. Davon umfasst sind die Befugnis zu Weisungen mit konkretem Bezug, Art. 74 Abs. 1 E Maier, als auch generelle Hand lungsrichtlinien, soweit diese nicht mit der Organisationsstruktur der Polizei in Konflikt stehen, Art. 74 Abs. 3 E Maier. Außerhalb der staatsanwaltlichen Auf sicht darf die Polizei nur dann ausnahmsweise ermitteln, wenn die Beteiligung des Staatsanwalts aus Zeitgründen nicht möglich ist, da unmittelbar die Gefahr eines Beweisverlustes oder der Flucht des Verdächtigen droht, Art. 246 ff. E Maier. Die Ermittlungen des Staatsanwalts müssen sich sowohl auf be- als auch auf ent lastende Umstände beziehen, wie Art. 232 Abs. 2 E Maier trotz der ausdrückli chen Objektivitätsverpflichtung bereits in Art. 69 E Maier noch einmal klarstellt. Er soll die zur Sachverhaltsaufklärung notwendigen Ermittlungsmaßnahmen vor nehmen, Art. 250, 261 E Maier, und soweit erforderlich die im Gesetz näher be zeichneten Zwangsmittel anwenden, Art. 71 E Maier. Ohne richterliche Mitwir kung darf er Personen am Tatort festhalten, bis zu sechs Stunden in Gewahrsam nehmen oder, wenn es sich nur um einen geringfügigen Eingriff handelt, durchsu chen lassen, Art. 151, 261 Abs. 3 E Maier, 38 i. V. m. 157 E Maier. Gibt es einen Beschuldigten664, ist der Staatsanwalt während des Vorverfahrens persönlich für seine Vernehmung zuständig, Art. 47 Abs. 1, 48 E Maier, und kann ihn eben falls nach den genannten Vorschriften durchsuchen lassen. Weiter entscheidet er über Ermittlungsanträge des Beschuldigten und sonstiger Verfahrensbeteiligter, Art. 256 E Maier, und darüber, ob sie bei bestimmten Ermittlungsmaßnahmen an wesend sein dürfen, Art. 257 E Maier. Wenn dies für den Ermittlungserfolg not wendig ist, kann er die Geheimhaltung aller Ermittlungen oder einzelner Maßnah men auch gegenüber dem Beschuldigten für bis zu zehn Tage anordnen, Art. 255 Abs. 3 E Maier. Die Ermittlungsbefugnisse des Staatsanwalts werden allerdings erheblich ein geschränkt durch recht umfangreiche Eingriffs- und Kontrollmöglichkeiten des Ermittlungsrichters. Beweiserhebungen, die nicht in der Hauptverhandlung wie derholt werden können, darf der Staatsanwalt nicht selbst durchführen, son dern muss sie beim dafür zuständigen Ermittlungsrichter beantragen, Art. 258 E Maier.665 Weiterhin bedarf jede Ermittlungsmaßnahme, die intensiv in Rechte des Beschuldigten eingreift, einer Anordnung durch den Ermittlungsrichter. Darunter fällt bspw. die Untersuchungshaft, Art. 205 E Maier, körperliche Untersuchungen, die einen nicht unerheblichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit bedeuten, Art. 38, 157 E Maier, Hausdurchsuchungen, Art. 153 E Maier, oder die Beschlag nahme von Postsendungen, Art. 165 E Maier. Ausnahmen von diesem Grundsatz sind nur sehr eingeschränkt in einigen Fällen besonderer Eilbedürftigkeit vorgese
664 Der Beschuldigtenbegriff des Entwurfs Maier ist sehr weit und beginnt schon mit der ers ten gegen ihn gerichteten Ermittlungsmaßnahme, vgl. Art 6 E Maier. 665 Zu beachten ist allerdings, dass auch durch den Staatsanwalt ermittelte Beweise nicht in jedem Falle erneut unmittelbar in der Hauptverhandlung erhoben werden müssen, Art. 300 E Maier. Vgl. dazu unten 4. Kapitel, B. III. 4.
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hen, vgl. Art. 153, 165 E Maier. Schließlich bestehen noch Möglichkeiten der Ver fahrensbeteiligten, ein Tätigwerden des Ermittlungsrichters auszulösen, etwa um die staatsanwaltliche Anordnung der Geheimhaltung des Verfahrens zu überprü fen und eventuell aufzuheben, Art. 255 Abs. 3 E Maier, oder um dem Staatsanwalt eine Frist zum Abschluss des Vorverfahrens zu setzen, wenn dieses schon länger als sechs Monate dauert, Art. 262 Abs. 2 E Maier. Die Entscheidung über den Abschluss des Vorverfahrens obliegt ebenfalls nicht dem Staatsanwalt allein, sondern ist durch ein kompliziertes Zusammenspiel mit dem Gericht gekennzeichnet, das in etwa demjenigen entspricht, das schon die alte Bundesstrafverfahrensordnung von 1889 kannte. Kommt der Fiskal bereits zu Beginn des Ermittlungsverfahrens zu dem Ergebnis, dass die Weiterführung der Untersuchung nicht angezeigt ist, sei es, weil das materielle Strafrecht die An wendung von Opportunitätsgesichtspunkten erlaubt, weil ein Verfahrenshinder nis besteht oder einfach kein ausreichender Anfangsverdacht gegeben ist, muss er beim Ermittlungsrichter die der vorläufigen Einstellung vergleichbare Archi vierung des Verfahrens beantragen, Art. 230, 251 E Maier.666 Ist der Ermittlungs richter der Meinung, dass das Verfahren weitergeführt werden müsse, weist er den jeweiligen Vorgesetzten des ermittelnden Staatsanwalts an, ihn durch einen an deren Amtsträger zu ersetzen, der die Ermittlungen wieder aufnimmt, Art. 252 Abs. 3 E Maier. Davon zu unterscheiden ist der Regelfall, dass der Staatsan walt den Sachverhalt seiner Meinung nach vollständig ausermittelt hat. Auch hier kann er das Ermittlungsverfahren nicht selbständig abschließen, ist aber diesmal auf das Gericht des Zwischenverfahrens angewiesen, welchem die Entscheidung über Anklageerhebung oder Verfahrenseinstellung obliegt. Der Staatsanwalt stellt einen entsprechenden Antrag, je nachdem ob seiner Ansicht nach ein ausreichen des Fundament für die Anklagerhebung gegeben ist, Art. 263 E Maier, oder nicht, Art. 265 E Maier. Zu den Entscheidungskriterien stellt der Entwurf keine beson deren Regeln auf, so dass grundsätzlich der allgemeine Maßstab der Art. 69, 232 E Maier gilt. Das bedeutet, der Staatsanwalt hat sich allein danach zu richten, ob objektiv für eine Eröffnung des Hauptverfahrens ausreichende Anhaltspunkte der Strafbarkeit des Beschuldigten bestehen. Das Gericht des Zwischenverfahrens be schließt nach den Art. 273 ff. E Maier entweder die Eröffnung des Hauptverfah rens oder die vorläufige bzw. endgültige Einstellung des Verfahrens, ohne dabei an die Einschätzung des Staatsanwalts gebunden zu sein.667 Nur wenn der Staats anwalt die Ermittlungen mit dem Ergebnis abgeschlossen hat, dass zwar eine Straftat vorliegt, aber der Täter nicht festgestellt werden konnte oder flüchtig ist, kann er eigenständig die Archivierung des Verfahrens beschließen, Art. 266 Abs. 1 E Maier. Allerdings können Verfahrensbeteiligte wie der Privatkläger dann noch eine Überprüfung, jetzt wiederum durch den Ermittlungsrichter, beantragen. Der 666 Vgl. Levene (h.), La Ley 1988-D, S. 824 ff. (830), der insoweit von einer „verkleideten vorläufigen Verfahrenseinstellung“ spricht (Übers. des Verf.). 667 Näheres zum Zwischenverfahren findet sich sogleich, 4. Kapitel, B. III. 2.
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Ermittlungsrichter hat daraufhin die Möglichkeit, die Entscheidung des Staats anwalts zu widerrufen und ihn so zu weiteren Ermittlungen zu zwingen, Art. 266 Abs. 2 E Maier. Zusammenfassend lässt sich also Folgendes festhalten: Zum ersten Mal in der Geschichte des argentinischen Strafverfahrensrechts sollten die Ermittlungen nach dem Entwurf Maier generell der Staatsanwaltschaft obliegen. Aus den negativen Erfahrungen mit den unkontrollierten Machtbefugnissen des Untersuchungsrich ters heraus übernimmt der Staatsanwalt die Voruntersuchung aber nicht wie die ser unbeschränkt; dies hätte lediglich eine Verlagerung des Problems auf die Fi gur des staatlichen Anklägers bedeutet. Stattdessen bestand die eigentliche große Neuerung des Entwurfs darin, die Ermittlungszuständigkeit zwischen zwei Staats organen, dem ermittelnden Staatsanwalt und dem Ermittlungsrichter mit Kontroll funktion, aufzuspalten. Genauer sieht die Aufgabenverteilung aus wie folgt: Der Staatsanwalt kann das Vorverfahren ohne Mitwirkung von dritter Seite eröffnen und grundsätzlich die erforderlichen Ermittlungsmaßnahmen selbständig durch führen. Alle Entscheidungen mit abschließendem Charakter, wie die Beendigung des Vorverfahrens oder nicht wiederholbare Beweiserhebungen, sowie alle Maß nahmen, die aufgrund ihrer Intensität für den Betroffenen einer richterlichen Kon trolle bedürfen, müssen aber durch den Richter angeordnet werden oder sind zu mindest seiner nachträglichen Überprüfung zugänglich. Wenn also Maier in den Motiven zu dem Entwurf schreibt, dass dieses Schema durch den CPP Córdoba (1940) schon im argentinischen Strafverfahrensrecht bekannt gewesen sei und es nur darum gehe, die dortigen Regelungen zu verallgemeinern und zu verbessern668, so ist dies nur zum Teil zutreffend. Zwar ist es richtig, dass der Entwurf Maier die Tendenz des CPP Córdoba (1940), die Machtbefugnisse des Inquisitionsrichters auf Staatsanwalt und Gericht aufzuteilen, fortsetzt. Und bei oberflächlicher Be trachtung lässt sich auch vermuten, dass der Entwurf die in Córdoba praktizierte Ausnahme der Voruntersuchung durch den Staatsanwalt lediglich verallgemei nert. Der entscheidende qualitative Unterschied besteht aber eben darin, dass der Entwurf Maier die Staatsgewalt im Vorverfahren wie gezeigt aufspaltet und in ein System von checks and balances einbindet, um so eine bessere Berücksichtigung der Verfahrensgarantien zu Gunsten des Beschuldigten zu erreichen.669 Dass dies möglich sei, war für die Verfasser des CPP Córdoba (1940) gerade ausgeschlos sen, weshalb sie der Staatsanwaltschaft das Vorverfahren nur in Fällen überließen,
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Maier, Proyecto, S. 661. Maier bezieht sich dabei auf die entsprechende deutsche Doktrin, vgl. Maier, investigación penal, S. 136 ff.; ders., Jurisprudencia Argentina – Doctrina 1971, S. 101 ff. (117); ders., Re vista de Estudios Procesales Nr. 9 (1971), S. 75 ff. (85 ff.). Siehe zum Gewaltenteilungsgrund satz im Strafverfahren auf deutscher Seite grundlegend Gössel, GA 1980, S. 325 ff. (332 ff.), der allerdings im Ergebnis die Polizei selbständig ermitteln lassen will. Der Text Gössels fand interessanterweise durch eine spanische Übersetzung in Doctrina Penal 1981, S. 620 ff., an wel cher eben Julio B. J. Maier beteiligt war, auch in Argentinien Verbreitung. 669
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in denen ihnen ein weitgehender Verzicht auf die Verfahrensgarantien zu Gunsten größerer Effektivität gerechtfertigt schien.670 Die Kritik an der Übertragung des Vorverfahrens auf die Staatsanwaltschaft im Entwurf Maier blieb aber letztendlich dieselbe, die schon gegen das Institut der citación directa im CPP Córdoba (1940) vorgebracht worden war. Dem Staats anwalt würden richterliche Befugnisse übertragen, was gegen das Gebot des fairen Prozesses und der Waffengleichheit zwischen Anklage und Verteidigung verstoße. Da die Staatsanwaltschaft der Exekutive zuzuordnen sei, aber im Kernbereich der Judikative tätig werde, liege zudem eine Verletzung der in Art. 95 der Bundesver fassung671 manifestierten Gewaltenteilung vor, wonach die Exekutive nicht recht sprechend tätig werden darf.672 Zur Begründung der Ansicht, dass die Vorunter suchung im Strafprozess immer von einem Richter durchzuführen sei, wird unter Berufung auf den bedeutenden argentinischen Strafrechtsgelehrten und Verfasser des CPP Córdoba (1940) Vélez Mariconde festgestellt, dass nur die richterliche Untersuchung die Interessen aller Seiten angemessen berücksichtigen und so ein ausgeglichenes Verfahren gewährleisten könne.673 Die historische Entwicklung des Strafverfahrens zeige zudem die Notwendigkeit seiner zunehmenden Verstaatli chung hin zu einem aktiv untersuchenden Richter. Entsprechend sei es angezeigt, diese Inquisitions- bzw. Instruktionsmaxime auch auf das Vorverfahren anzuwen den.674 Weiter wird auf eine lange Verfassungstradition der Trennung zwischen den Kernbereichen von Exekutive und Judikative verwiesen, wonach die Unter suchungsfunktion Letzterer zuzuordnen sei.675 Dagegen sei die im Entwurf Maier angestrebte Lösung einer Trennung zwischen Untersuchungs- und Garantiefunk tion nicht möglich, da die Untersuchung und die Berücksichtigung der Verfah rensgarantien eine Einheit bildeten. Die Garantien bezögen sich direkt auf die Er mittlungen, welche wiederum in die Garantien eingebettet seien.676 Auch sei der Staatsanwalt nicht in der Lage, seine subjektive Sphäre in ausreichendem Maße zu verlassen, um ein Verfahrensgleichgewicht zu garantieren.677 670 Dass im Ergebnis in der sog citación directa des CPP Córdoba (1940) die Machtstellung des Staatsanwalts derart ausgestaltet war, dass es sogar zu einer erheblichen Verschlechterung der Stellung des Beschuldigten im Verhältnis zum regulären Vorverfahren kam, verwundert in sofern nicht. Sie war ja in den dafür vorgesehen leichten Fällen geradezu intendiert. Siehe dazu oben 4. Kapitel, A. III. 1. 671 Die Vorschrift wird hier in der Version zitiert, auf die zeitgenössisch im Rahmen der Dis kussion um den Entwurf Maier zurückgegriffen wurde. Vgl. dazu auch schon oben Fn. 229. Mit der großen Verfassungsreform 1994, dazu unten 5. Kapitel, A. I., änderte sich lediglich ihre Nummerierung, sie findet sich jetzt unter Art. 109. 672 Casanovas, in: Levene (h.) (Hrsg.), Estudios, S. 29 ff.; Frank, in: Levene (h.) (Hrsg.) Estu dios, S. 68 ff.; Hortel, in: Levene (h.) (Hrsg.), Estudios, S. 79 ff.; Levene (h.), La Ley 1988-D, S. 824 ff. (830 f.); Caputo Tártara, La Ley 1991-B, S. 1151 ff. (1155 ff.). 673 Hortel, in: Levene (h.) (Hrsg.), Estudios, S. 81 mit Nachweis. 674 Hortel, in: Levene (h.) (Hrsg.), Estudios, S. 84 f. 675 Caputo Tártara, La Ley 1991-B, S. 1151 ff. (1155 f.). 676 Levene (h.), La Ley 1988-D, S. 824 ff. (830 f.). 677 Casanovas, in: Levene (h.) (Hrsg.), Estudios, S. 31.
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Maier und seine Unterstützer stellten sich dieser Kritik entgegen. Dem Staats anwalt würden keineswegs richterliche Befugnisse übertragen. Ihm würden le diglich vorbereitende Untersuchungshandlungen zugebilligt, während alle end gültigen Entscheidungen sowie solche über besonders intensive Eingriffe in die Beschuldigtenrechte vollständig in richterlicher Hand blieben. Der Staatsanwalt sei auch sehr wohl in der Lage, objektiv zu ermitteln. Seine Anklägerstellung be deute keineswegs Parteilichkeit, vielmehr habe sie lediglich die gerechte Anwen dung der Gesetze zum Ziel. Organisatorisch sei die Objektivität der Staatsanwalt schaft durch ihre Unabhängigkeit nach außen abgesichert.678 Die Ermittlungen seien ausdrücklich nicht dem Richter zuzuordnen, was gegen den Gewalten teilungsgedanken, dass kein Organ lediglich der Eigenkontrolle unterliege, ver stoße679, sondern in Verwirklichung des Akkusationsprinzips dem Staatsanwalt in seiner Rolle als Ankläger. Dies zeige sich schon historisch daran, dass in den al ten Privatklageverfahren, welche die reinste Verwirklichung des Anklagegrundsat zes darstellten, der Ankläger selbst die Beweise beigebracht habe.680 Es erscheine künstlich, dass der Staatsanwalt seine Anklage auf Beweise stützen solle, die er nicht selbst zusammengetragen habe. Da mit der Anklagefunktion die Ermittlun gen und mit der Entscheidungsfunktion deren Kontrolle verbunden seien, bedeute das Konzept eines ermittelnden Richters und eines kontrollierenden Staatsanwalts eine absurde Rollenverkehrung.681 Eine Beurteilung dieses Konfliktes führt also zu der grundsätzlichen Frage, ob die Ermittlungen im verstaatlichten Vorverfahren des argentinischen Inquisi tionsprozesses zwingend vom Richter durchzuführen sind, oder ob sie nicht dem Staatsanwalt übertragen werden können und sollen. Dahinter steht das abstrakte Problem der Zuordnung der Untersuchungsfunktion entweder nach inquisitori schem Muster zu der Urteilsfunktion oder nach dem Parteigedanken zu der An klagefunktion. Beide Seiten halten dabei einzig ihre jeweilige Auffassung mit dem argentini schen Verfassungsrecht für vereinbar. Die Kritiker des Entwurfs Maier berufen sich zunächst auf den Gewaltenteilungsgrundsatz. Der Staatsanwaltschaft als Ex ekutivorgan würden Aufgaben übertragen, die zum Kernbereich der Judikative zählten. Die weiteren angeführten Punkte lassen sich unter der ebenfalls genann 678 Maier, Proyecto, S. 661; ders. schon: Revista de Estudios Procesales Nr. 9 (1971), S. 75 ff. (91 ff.) sowie in: Jurisprudencia Argentina Doctrina 1971, S. 101 ff. (106 ff.); Seiner Argumentation folgend Macías, Lecciones y Ensayos 1998/99, S. 315 ff. (325 ff.); Montero (h.), Revista de Colegio de Abogados de Córdoba Nr. 16 (1982), S. 65 ff. (75 ff.). 679 Auf Spanisch das sog. paradigma de no autocontrol, siehe Rusconi, in: Maier (Hrsg.), Mi nisterio Público, S. 104 ff. Siehe dazu auch schon oben Fn. 587. 680 Maier, Revista de Estudios Procesales Nr. 9 (1971), S. 75 ff. (93 Fn. 75, 94). Siehe auch Rusconi, in: Maier (Hrsg.), Ministerio Público, S. 104 ff. sowie Guariglia, in: Maier (Hrsg.), Ministerio Público, S. 209 ff. 681 Cafferata Nores, Doctrina Penal 1987 Vol. 10, S. 675 ff. (676); Macías, Lecciones y Ensayos 1998/99, S. 315 ff. (330).
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ten Verletzung des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gebots des fairen Prozes ses zusammenfassen. Die Verstaatlichung der Ermittlungen bedeutet gleichzeitig ihre Verobjektivierung. Der Hinweis auf die Unmöglichkeit der Trennung von Er mittlungen und Verfahrensgarantien impliziert, dass es dem Staatsanwalt hinge gen von vornherein unmöglich sei, unter gleichmäßiger Berücksichtigung aller Interessen zu ermitteln. Im Kern geht es also darum, dass der Staatsanwalt als An kläger, der seine Parteistellung, seine subjektive Sphäre nicht verlassen könne, zu der absoluten Objektivität welche die Ermittlungen erforderten, nicht in der Lage sei. Ebenfalls im Kontext der Parteistellung der Staatsanwaltschaft steht der Hin weis auf die fehlende Waffengleichheit mit der Verteidigung. Gerät also auf diese Weise das Strafverfolgungsinteresse bei den Ermittlungen zu stark in den Vor dergrund, bedeutet dies eine Verletzung des Rechts des Beschuldigten auf einen fairen Prozess. Maier und seine Mitstreiter berufen sich zur Begründung des ge genteiligen Ergebnisses, dass das Ermittlungsverfahren nicht dem Richter anver traut werden dürfe, sondern zu den Aufgaben des Staatsanwalts gehöre, ebenfalls auf den Gewaltenteilungsgrundsatz und vor allem auf das Akkusationsprinzip. Letzteres ist nicht ausdrücklich in der argentinischen Verfassung verankert, lässt sich aber aus dem Gewaltenteilungsgrundsatz, dem Fair-Trial-Prinzip und dem Recht auf Verteidigung herleiten und hat damit ebenfalls eine verfassungsrecht liche Basis.682 Näher zu untersuchen ist demnach an erster Stelle, ob sich aus der verfassungs mäßigen Funktionenverteilung auf die Gewalten herleiten lässt, dass das straf rechtliche Vorverfahren von einem Rechtsprechungsorgan im engeren Sinne, also einem Richter, durchzuführen ist. Der Gewaltenteilungsgrundsatz bedeutet nicht, dass sich die Aufgabenbereiche der einzelnen Gewalten trennscharf voneinander abgrenzen lassen, es bestehen Überschneidungen, die zu einer gegenseitigen Kon trolle in einem Geflecht aus checks and balances führen. Es gibt jedoch auch einen den jeweiligen Gewalten zustehenden funktionellen Kernbereich, in dem keine andere Gewalt tätig werden darf.683 Folglich ist zunächst festzustellen, wie die ar gentinische Verfassung den Kernbereich der Judikative definiert. Der Verfassungstext selbst ist diesbezüglich nicht sonderlich ergiebig. Der er wähnte Art. 95 der Bundesverfassung684 postuliert lediglich, die Exekutive dürfe keine „richterlichen Funktionen“685 übernehmen, ohne diese näher zu definieren. Auch das „Zuständigkeiten der Judikative“686 überschriebene Kapitel bringt wenig 682
Die verfassungsrechtliche Herleitung des Anklagegrundsatzes ist in Argentinien nicht un umstritten, herrschende Meinung dürfte wohl sein, das Recht des Beschuldigten auf Verteidi gung aus Art. 18 der argentinischen Verfassung als Fundament heranzuziehen. Siehe dazu die zusammenfassende Darstellung bei Álvarez, Nueva Doctrina Penal 1996-B, S. 413 ff. m. w. N. sowie schon oben 2. Kapitel, B. III. 683 Bidart Campos, Manual Bd. 3, S. 14 ff.; González, Manual, S. 310 ff. 684 Heute Art. 109, siehe dazu schon Fn. 671. 685 „funciones judiciales“. 686 „Atribuciones del Poder Judicial“.
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Klarheit. Art. 100687, der eine Auflistung der sachlichen Zuständigkeiten enthält, spricht nur davon, dass die Gerichte in den genannten „Rechtsachen Kenntnis zu nehmen und zu entscheiden“688 hätten. Entsprechend sind die in der argentinischen Verfassungs- und Prozesslehre kursierenden Definitionen des Rechtsprechungsbe griffs recht weit und ungenau. Mit unterschiedlichen Nuancierungen wird im We sentlichen gesagt, Rechtsprechung bestehe darin, durch Rechtsanwendung Kon flikte in einem geordneten Verfahren zu lösen.689 Aus dieser Definition lässt sich aber jedenfalls herleiten, dass der Kernbereich der richterlichen Aufgaben die Ent scheidung des Konfliktes ist. Fraglich ist, was genau von dieser Entscheidungs funktion umfasst ist. Man könnte erwägen, darin lediglich den, am Ende des Ver fahrens stehenden, es abschließenden Entscheidungsakt, also das Fällen des Urteils zu sehen. Dies griffe jedoch zu kurz. In jedem Strafprozess, welcher eine auch nur ansatzweise komplexere, über den Urteilsakt hinausgehende Verfahrensstruktur besitzt, sind schon zuvor Entscheidungen zu treffen, welche den Urteilsakt erheb lich beeinflussen oder in gewisser Weise schon vorwegnehmen und daher auch vom Richter getroffen werden müssen.690 Erkennt man das strafrechtliche Vorver fahren als Teil des justizförmigen Verfahrens an, muss also auch dort ein Richter die Entscheidungsfunktion inne haben.691 Selbst wenn man dies als gegeben vor aussetzt, ergibt sich aber noch nicht, dass die Ermittlungen zwingend beim Rich ter liegen müssen. Dass dem Gericht die Aufgabe der Entscheidung obliegt, impli ziert nicht notwendig, dass es auch deren Sachgrundlage aktiv selbst ermittelt, es ist genauso denkbar, dass es die Beweise passiv entgegennimmt. Es lässt sich aus dem verfassungsrechtlichen Rechtsprechungsbegriff kein Kernbereich der Judi kative eruieren, der auch die staatlichen Ermittlungen im Strafverfahren in jedem Falle mitumfasst. Vielmehr lässt die Verfassung dem Gesetzgeber einen recht wei ten Spielraum bei der Aufgabenverteilung im Strafverfahren.692 Insofern kann aus der in der argentinischen Verfassung verankerten Gewaltenteilung nicht hergeleitet werden, dass die Voruntersuchung notwendig richterliche Aufgabe ist. Zwar ist der Inquisitionsgrundsatz, wonach der Richter selbst aktiv ermittelt, tief in der argenti nischen Rechtstradition verankert, er besitzt jedoch keinen Verfassungsrang. Die Ermittlungszuständigkeit des Richters ergibt sich allerdings dann mittel bar, wenn der staatliche Ankläger letztlich parteilich und damit nicht in der Lage 687
Die zur Zeit des Entwurfs Maier als Art. 100 firmierende Verfassungsvorschrift ist heute, nach der großen Verfassungsreform des Jahres 1994, als Art. 116 nummeriert. 688 „[…] el conocimiento y decisión de todas las causas que […]“. Causas kann dabei auch als „Verfahren“ übersetzt werden. 689 Ekmekdijan, Tratado Bd. 5, S. 237; Zarini, Derecho Constitucional, S. 827; ausführlich auch unter Bezugnahme auf die europäische Doktrin Oderigo, Lecciones de Derecho Procesal Bd. 1, S. 195 ff. und Vázquez Rossi, Derecho Procesal Penal Bd. 2, S. 106 ff. 690 Vazquez Rossi, Derecho Procesal Penal Bd. 2, S. 114 f. 691 So Caputo Tártara, La Ley 1991-B, S. 1151 ff. (1156). 692 Vgl. dazu auch Vázquez Rossi, Derecho Procesal Penal Bd. 2, S. 116, der treffend schreibt, der Begriff der Jurisdiktion lasse sich nicht logisch deduzieren, sondern ergebe sich aus dem Verfahrenssystem mit seinen jeweiligen Aufgabenzuordnungen.
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4. Kap.: Die Rezeption kontinentaleuropäischer Reformen
ist, das Vorverfahren objektiv zu leiten, was das Recht des Beschuldigten auf einen fairen Prozess verletzen würde. Der Ermittlungstätigkeit des Staatsanwalts könnte also der objektive Charakter der Ermittlungen entgegenstehen, was im Umkehr schluss bedeuten würde, dass es sich um eine richterliche Aufgabe handelt.693 Der Staat, welcher den Parteien den Konflikt entzogen hat, ist verpflichtet, ihre Inter essen gleichmäßig zu berücksichtigen. Die Natur des Richters, das, was ihn gerade als Richter ausmacht, ist eben seine Über- und damit Unparteilichkeit. Demgegen über unterscheidet sich der Staatsanwalt vom Richter dadurch, dass er die Ankla geposition inne hat, welche in einem grundsätzlichen Spannungsverhältnis zum Verteidigungsinteresse des Beschuldigten steht. Dem lässt sich mit Maier entge genhalten, dass auch der Staatsanwalt zur Objektivität verpflichtet ist, da das staat liche Anklageinteresse nur die gerechte Anwendung der Gesetze und nicht die Verurteilung von Unschuldigen umfasse. Dennoch ist der staatliche Ankläger dem Richter in seiner Objektivität nie ganz gleichwertig. Dies zeigt sich daran, dass er als Ankläger keine endgültigen Entscheidungen treffen darf. Er kann seine sub jektive Parteisphäre also tatsächlich nie vollständig verlassen. Dieser Widerspruch bezieht sich jedoch wiederum nur auf die Letztentscheidungs-, also Urteils-, nicht aber notwendig auf die Ermittlungsfunktion. Mit Maier lässt sich argumentieren, dass auch der Staatsanwalt als Ankläger sehr wohl in der Lage ist, objektiv zu er mitteln, soweit es sich um lediglich vorbereitende Verfahrensakte handelt. Der An kläger kommt gerade nicht in die psychologische Zwangslage des Inquisitions richters, da er keine Endentscheidungen trifft, sondern sein Ermittlungsergebnis einem Richter zur Überprüfung vorlegt. Dabei kann er kein Interesse daran haben, sich in eine schwache Position zu bringen, indem er eine unzureichende Anklage präsentiert oder eine ungerechtfertigte Einstellung fordert.694 Anders könnte dies nur sein, wenn er von vornherein von einem bestimmten Interesse gelenkt ist, das über das normale staatliche Anklageinteresse hinausgeht, bspw. dem der Exeku tive, einen ihr angehörigen Amtsträger zu schützen. Auch hier beugt Maier jedoch vor. Sein Vorentwurf für ein Gesetz zur Justizorganisation ordnet die Staatsanwalt schaft zwar der vollziehenden Gewalt zu, sieht aber gleichzeitig derart umfang reiche Kontrollmechanismen vor, dass ein Missbrauch der exekutivischen Wei sungsmöglichkeiten nahezu ausgeschlossen scheint.695 693 Auch wenn die Kritiker des Entwurfs Maier so zum Ergebnis kommen, dass es sich bei den Ermittlungen um eine zwingend richterliche Zuständigkeit handelt, geht es hier nicht um die Frage der Abgrenzung von Judikativ- zu Exekutivtätigkeit. Die Argumentation der mangelnden Objektivität staatsanwaltlicher Ermittlungen beruht, wie gleich zu sehen sein wird, nämlich auf einer Reihe von Vorüberlegungen zum Verfahrenssystem, die den Kern bereich der Judikative nicht tangieren, sondern zum Spielraum gehören, den der Gesetzgeber bei der Ausgestaltung der Rechsprechungstätigkeit hat und in dem auch andere Gewalten tä tig werden dürfen. Vgl. dazu oben die Ausführungen zur Gewaltenteilung und insbesondere Fn. 692. 694 Dieses Argument wird seit langem in Deutschland verwandt, vgl. nur Henkel, Strafverfah rensrecht, S. 134 f.; E. Schmidt, Einführung § 289, S. 331. 695 Siehe dazu oben 4. Kapitel, B. II. 3.
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Die Argumentation im Sinne Maiers setzt allerdings voraus, dass sich im Er mittlungsverfahren die lediglich vorbereitenden Akte sauber von denjenigen der richterlichen Letztentscheidung trennen lassen. Im von ihm zitierten Privatklage verfahren stellte dies kein Problem dar, da der ermittelnde Ankläger eben ein Pri vater war, dem keinerlei Hoheitsbefugnisse zur Verfügung standen. Im modernen Strafverfahren ist die Voruntersuchung hingegen verstaatlicht, was die Schwierig keit aufwirft, sie einerseits so zu formalisieren, dass ihre Objektivität abgesichert ist, andererseits aber auch ihren Vorbereitungscharakter zu wahren. In den anglo amerikanischen adversatorischen Verfahrensstrukturen wird das Ermittlungsver fahren trotz seiner Verstaatlichung nicht als Teil des eigentlichen Strafverfahrens angesehen und selbständig von der Polizei durchgeführt.696 Trotz des entspre chenden Misstrauens, mit dem die Rechtsprechung das Ermittlungsergebnis be handelt697, bleibt fraglich, ob die nachträgliche gerichtliche Kontrolle ausreicht, um die Objektivität der Ermittlungen sicherzustellen.698 Im bisherigen argenti nischen Inquisitionsprozess dagegen war die Voruntersuchung stets als Teil des förmlichen Verfahrens dem Richter übertragen, was allerdings dazu führte, dass sie sich zum wahren Verfahrensschwerpunkt entwickelte.699 Auch der Entwurf Maier folgt in seiner Struktur grundsätzlich dem inquisitorischen Konzept. Der Staatsanwalt tritt teilweise in die Stellung des bisherigen Untersuchungsrichters ein, so dass sich die Frage stellt, inwieweit seine Befugnisse tatsächlich nur vor bereitend sind. So könnte man erwägen, ob die dem Staatsanwalt zugestandenen Hoheitsbefugnisse wie die Vernehmung des Beschuldigten700, die Anordnung der Geheimhaltung des Verfahrens oder die Leitung der Polizei nicht derart inten sive Auswirkungen haben, dass sie ebenfalls in die richterliche Zuständigkeit fal len müssten. Die Ermittlungsmaßnahmen des Staatsanwalts sind zudem keines wegs in jedem Falle rein vorbereitend. Die Ermittlungsergebnisse werden nach 696 Weigend, in: Jescheck/Leibinger (Hrsg.), Anklagebehörde im ausl. Recht, S. 598; Schmid, Das amerikanische Strafverfahren, S. 38. Häufig arbeitet die Polizei allerdings schon mit einem Staatsanwalt als juristischem Berater zusammen, denn es ist im beiderseitigen Interesse, dass die zusammengetragenenen Beweise später auch gerichtlich verwertet werden können, vgl. Weigend, in: Jescheck/Leibinger (Hrsg.), Anklagebehörde im ausl. Recht, S. 598; Neubauer, Criminal Justice System, S. 151; Kerper, Criminal Justice System, S. 430. 697 Siehe zu den Beweisverwertungsverboten im U. S.-amerikanischen Recht die umfang reiche Darstellung bei LaFave/Israel/King, Criminal Procedure, S. 489 ff., insb. zur sog. fruitof-the poisonous-tree-doctrine, wonach eine rechtswidrige Beweiserhebung auch alle darauf folgend in einer Beweiskette erlangten Beweismittel unverwertbar macht, LaFave/Israel/King, Criminal Procedure, S. 502 ff. 698 Die Verpflichtung des Staates zur Objektivität ist als Fundament seines Strafmonopols unverzichtbar. Die Ermittlungen zunächst faktisch ausschließlich gegen den Beschuldigten zu richten, ist damit nur schwer vereinbar. Vgl. dazu auch die Ausführungen weiter unten, 5. Ka pitel, B. III. 3. 699 Siehe dazu oben 2. Kapitel, A. I.; 3. Kapitel, B. I., III. 3. c). 700 Vgl. dazu die ausführliche Besprechung des Urteils der Berufungskammer La Plata vom 09.03.2004, welches Art. 212 bis des CPPN (1992), wonach der Staatsanwalt für die Beschul digtenvernehmung im Vorverfahren zuständig ist, für verfassungswidrig erklärt, bei Corvalán, La Ley 2004-C, S. 661 ff.
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4. Kap.: Die Rezeption kontinentaleuropäischer Reformen
Art. 254, 114 E Maier schriftlich festgehalten und können auf diese Weise direkt in die Hauptverhandlung hineinwirken. So reicht nach den in Art. 300 E Maier genannten Ausnahmefällen die bloße Aktenverlesung, um die Ermittlungsergeb nisse sehr wohl direkt als Urteilsgrundlage heranzuziehen.701 Die Einschätzung, wann ein Eingriff so intensiv ist, dass er nur nach richterlicher Überprüfung ange ordnet werden darf, ist in Grenzfällen sehr schwierig. Befugnisse wie die Leitung der Polizei sowie die Anordnung der kurzzeitigen Geheimhaltung des Verfahrens wird man m. E. der Staatsanwaltschaft zusprechen können, genauso die Verneh mung des Beschuldigten. Problematischer erscheint die Möglichkeit, Ergebnisse der staatsanwaltlichen Ermittlungen direkt als Urteilsgrundlage heranzuziehen. Sie sollte auf ein Minimum reduziert werden, eine Vorschrift wie Art. 300 Nr. 1 E Maier, wonach schon die Zustimmung der Verfahrensbeteiligten ausreicht, ist abzulehnen. Dass sich vorbereitende Akte im verstaatlichten Vorverfahren nicht sauber von solchen, die eine Letztentscheidung beinhalten, abgrenzen lassen, begründet aller dings keine grundsätzlichen Zweifel an der Objektivität der staatsanwaltlichen Er mittlungen. Die Gefahr, dass sich Anklage- und Urteilsfunktion vermischen, weil der Staatsanwalt Tätigkeiten übernimmt, die nach dem inquisitorischen Grundkon zept des Entwurfs einem Richter zustehen müssten, wird nämlich dadurch mehr als aufgewogen, dass der Ermittlungsrichter seinerseits von jeder aktiven Unter suchungstätigkeit ferngehalten wird. Auf diese Weise entsteht eine klare Rollen verteilung, die dazu führt, dass die staatsanwaltlichen Ermittlungen stets durch eine Instanz kontrolliert werden, deren absolute Objektivität und Unparteilich keit sichergestellt ist.702 Hinzu kommt, dass der Vorbereitungscharakter der staats anwaltlichen Ermittlungen generell schon allein dadurch besser gewahrt wird als im bisherigen argentinischen Strafverfahren, dass es eben nicht zu einer doppel ten richterlichen Untersuchung in Vor- und Hauptverfahren kommt. Die Gefahr einer Verlagerung des Verfahrensschwerpunkts auf das Vorverfahren bei gleichzei tiger Entwertung des Hauptverfahrens wird dadurch verringert.703 Die Aufteilung der Staatsgewalt in ermittelnden Staatsanwalt und kontrollierenden Ermittlungs richter bietet also im Ergebnis bessere Voraussetzungen für objektive Ermittlungs ergebnisse als die richterliche Voruntersuchung oder diejenige allein durch die Polizei. Die staatliche Verpflichtung zur Objektivität spricht daher sogar eher da für, die Ermittlungen dem Staatsanwalt zu übertragen als dagegen. 701
Siehe dazu auch Martínez, Derecho Penal 7 (2000), S. 137 ff., der, sich auf vergleichbare, auf dem Entwurf Maier basierende Regelungen in einigen Provinzstrafprozessordnungen be ziehend, den staatsanwaltlichen Ermittlungen ihren vorbereitenden Charakter abspricht. 702 Dazu, dass die Objektivität des aktiv untersuchenden Richters nicht in gleichem Maße ab gesichert ist wie diejenige des passiven „Schiedsrichters“, siehe auch weiter unten die Aus führungen zum Hauptverfahren des CPPN (1992), 5. Kapitel, A. III. 2. 703 Zu den Gefahren einer übergroßen Formalisierung des Vorverfahrens vgl. Di Corleto/ Soberano, Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 10 (2000), S. 377 ff. (380 f.); Sourigues, Jurisprudencia Argentina 2001–2, S. 1052 ff. (1053 f.).
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Als schwieriger stellt sich dagegen das Problem einer Verletzung des Rechts des Beschuldigten auf einen fairen Prozess wegen seiner fehlenden Waffengleichheit mit dem das Vorverfahren leitenden staatlichen Ankläger dar. Das Prinzip der Waf fengleichheit bedeutet, dass Anklage und Verteidigung gleichwertige Möglichkei ten zur Verfügung gestellt werden müssen, auf das Verfahren einzuwirken. Dies ist nicht dahingehend zu verstehen, dass jede einzelne Befugnis spiegelbildlich auch der anderen Seite zur Verfügung stehen muss, es geht um eine summa sum marum grundsätzlich gleichwertige Ausgangsposition.704 Hierbei handelt es sich ursprünglich um ein Konzept aus dem Parteiverfahren, welches Maier als Vorbild für die Ermittlungszuständigkeit der Staatsanwaltschaft anführt. Für die adversa torische Form der Wahrheitsfindung, wonach der Richter aus der Auseinander setzung von Ankläger und Verteidiger die prozessuale Wahrheit destilliert, ist es von existenzieller Bedeutung, dass beide Parteien den gleichen Zugang zur rich terlichen Überzeugungsbildung haben. Im gemischten System oder reformierten Inquisitionsprozess ist die Ausgangslage dagegen an sich völlig anders. Der Fiskal im Entwurf Maier ermittelt objektiv als Vertreter des Staates in einem formalisier ten Verfahren. Konsequent zu Ende gedacht, bedeutet die Objektivität des staat lichen Anklägers, dass es zu einem Konflikt zwischen ihm und dem Beschuldig ten gar nicht kommen kann, da er entlastende Umstände immer schon bereits von sich aus mitberücksichtigen wird. Er ist keine Partei im materiellen Sinne, seine Objektivität erhebt ihn über den Konflikt. Andererseits zeichnet sich das sistema mixto gerade dadurch aus, dass es aus der Einsicht heraus, dass der Inquisitions grundsatz allein kein gerechtes Verfahren garantieren kann, Parteielemente über nommen hat und den Beschuldigten vom Untersuchungsobjekt zu einem vollwer tigen Verfahrensbeteiligten erhebt. Der Subjektstatus des Beschuldigten fordert eine Gleichwertigkeit seiner Verteidigungsrechte mit denen der Anklage; je stär ker die Rechte des Staatsanwalts überwiegen, desto mehr ist der Beschuldigte dem staatlichen Wohlwollen ausgeliefert und wird wieder zum Objekt degradiert. Aus diesen Überlegungen heraus ist das Prinzip der Waffengleichheit also auch in einem reformierten Inquisitionsverfahren, wie es der Entwurf Maier vorsieht, als Ideal grundsätzlich zu achten. Es reicht dabei nicht aus, seine Geltung auf die Aus einandersetzung zwischen Anklage und Verteidigung im Hauptverfahren zu be schränken und das erhebliche Ungleichgewicht im Vorverfahren mit dem Hinweis auf dessen Natur als autoritäre staatliche Untersuchung einfach hinzunehmen.705 Es ist sicher richtig, dass sich angesichts des strukturellen Ungleichgewichts zwi schen dem ermittelnden Staat und dem beschuldigten Individuum das Ideal einer vollständigen Waffengleichheit im Vorverfahren nicht erreichen lässt. Der Staats 704 García, Prudentia Iuris Nr. 50 (1999), S. 75 ff. (76). Vgl. auch Castañeda Paz, Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 12 (2001), S. 571 ff., welcher das Prinzip im Zusam menhang mit einigen Einzelproblemen erörtert. 705 So aber Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 578 f.; García, Prudentia Iuris Nr. 50 (1999), S. 75 ff. (78 f.). Rusconi, in: Maier (Hrsg.), Ministerio Público, S. 102, spricht unter di rekter Bezugnahme auf die deutschen Erfahrungen von einer „vielleicht in hohem Maße unver meidbaren Überlegenheit der Staatsanwaltschaft im Vorverfahren“ (Übers. d. Verf.).
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4. Kap.: Die Rezeption kontinentaleuropäischer Reformen
anwalt im Entwurf Maier leitet die staatlichen Ermittlungen und gibt vollständig ihre Richtung vor, ohne an Anträge der Verteidigung gebunden zu sein. Er verfügt durch seinen direkten Zugang zu den Ermittlungen auch über einen erheblichen Informationsvorsprung, der nur bedingt dadurch ausgleichbar ist, dass der Vertei digung im Nachhinein die Ermittlungsakten zur Verfügung gestellt werden. Auch in einem modernen Parteiverfahren wie dem der Vereinigten Staaten von Amerika kommt es in der Ermittlungsphase, wo die Polizei autonom ermittelt706, in keiner Weise zur Waffengleichheit mit dem Beschuldigten, erst im Nachhinein erfolgt ein gewisser Ausgleich durch äußerst strenge Beweisverwertungsverbote.707 Dennoch darf der Anspruch, den Beschuldigten nicht zum Verfahrensobjekt zu degradieren, auch schon in dieser Verfahrensphase nicht aufgegeben werden. Angesichts der bedeutsamen Weichenstellungen im Vorverfahren lassen sich dortige rechtsstaat liche Defizite nur schwer nachträglich korrigieren. Es müssen dem Beschuldigten daher bereits im Ermittlungsverfahren selbst die weitestmöglichen noch mit dem Ermittlungserfolg zu vereinbarenden Befugnisse zur Verfügung gestellt werden708 und auch über nachträgliche Beschränkungen der staatlichen Ermittlungsmacht in Form von strengen Beweisverwertungsverboten wie in den U. S.A ist zumindest nachzudenken. Dann übernimmt der Staatsanwalt nicht lediglich die Rolle des Un tersuchungsrichters, sondern es werden, wie von Maier intendiert, tatsächlich die Parteielemente im Vorverfahren gestärkt. Die Waffengleichheit zwischen dem ermittelnden Staatsanwalt und dem Be schuldigten ist also durchaus problematisch. Sie aber überhaupt als Maßstab zu nehmen und damit den Anspruch zu erheben, den Beschuldigten möglichst weit mit dem staatlichen Ermittlungsorgan gleichzustellen, bedeutet schon einen gro ßen Fortschritt gegenüber dem unverrückbaren Über-/Unterordnungsverhältnis zwischen dem Beschuldigten und der alten Figur des Untersuchungsrichters. Auch der Gedanke der Waffengleichheit lässt sich demnach nicht gegen die Übertragung der Voruntersuchung auf den Staatsanwalt anführen, sondern ist ganz im Gegen teil ein Argument dafür. Damit ist Folgendes festzuhalten: Die Entscheidung darüber, ob die Herrschaft über das Vorverfahren einem Richter oder dem Staatsanwalt übertragen wird, ist nicht verfassungsrechtlich vorgegeben, sondern obliegt dem einfachen Gesetzge ber. Viel spricht allerdings dafür, die Ermittlungen nicht in die Hand des Untersu chungsrichters709, sondern des Staatsanwalts zu legen. Mit der Aufgabenverteilung 706
Siehe dazu oben 1. Kapitel, B. I. sowie 3. Kapitel, A. II. 1. Siehe dazu oben 1. Kapitel, B. I. sowie 3. Kapitel, A. II. 4., insb. Fn. 330. 708 Hier zu nennen sind etwa die möglichst frühe Zuerkennung des Beschuldigtenstatus mit den damit verbundenenen Rechten, die möglichst weitgehende Einsicht in die Ermittlungen und die Befugnis, Ermittlungsanträge zu stellen. 709 Die Figur des Untersuchungsrichters im argentinischen Strafverfahrensrecht ist von Woischnik ausführlich anhand der im Jahr 1992 entstandenen Bundesstrafverfahrensordnung untersucht worden. Er kommt zum Ergebnis, dass sie nicht gegen argentinisches Verfassungs recht verstößt und verweist zur Begründung auf den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers 707
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zwischen ermittelndem Staatsanwalt und kontrollierendem Ermittlungsrichter las sen sich die Vorteile des inquisitorischen und des adversatorischen Verfahrens kombinieren, indem die Staatsgewalt aufgespalten und der Vorbereitungscharak ter des Vorverfahrens besser gewahrt, gleichzeitig aber nicht die staatliche Ver pflichtung zur Objektivität aufgegeben, sondern sogar gestärkt wird. Ein weiterer Vorzug gegenüber dem bisherigen argentinischen Strafverfahren besteht im Übri gen in der Vermeidung des systematischen Widerspruchs, der entsteht, wenn der Staatsanwalt sich gegen eine Anklageerhebung entscheidet und damit gleichzeitig das richterliche Vorverfahren einstellt, dazu später mehr710. Besonderer Beachtung bedarf allerdings das jedem verstaatlichten Strafverfahren inhärente Problem der Waffengleichheit zwischen Staatsanwalt und Beschuldigtem. Um sie nicht völlig einzubüßen, sind energische Maßnahmen erforderlich. Die Position des Beschul digten muss schon im Vorverfahren so weit wie möglich gestärkt werden, während gleichzeitig scharfe Anforderungen an die Rechtmäßigkeit der staatlichen Ermitt lungsmaßnahmen zu stellen sind.711 2. Zwischenverfahren
Die endgültige Entscheidung über die Einstellung des Verfahrens oder seinen Übergang ins Hauptverfahren trifft nach dem Entwurf Maier nicht der Staats anwalt, sondern ein vom Gericht der Hauptsache unabhängiges Tribunal im sog. Zwischenverfahren712 nach den Art. 267–281 E Maier. Der staatsanwaltliche Ent schluss, aufgrund der Ergebnisse des von ihm geleiteten Ermittlungsverfahrens nach Art. 263 E Maier Anklage zu erheben oder nach Art. 265 E Maier die Ein stellung des Verfahrens zu beantragen, wirkt sich also nicht direkt auf den wei teren Verfahrensverlauf aus, sondern durchläuft nochmals den Filter einer rich terlichen Überprüfung. Das Gericht des Zwischenverfahrens ist dabei in seiner Entscheidung weder in rechtlicher noch in tatsächlicher Hinsicht an den Antrag des Staatsanwalts gebunden. Hält es das Ermittlungsergebnis für unvollständig, kann es auf Antrag des Beschuldigten, Art. 268 Nr. 4 E Maier, oder eines Privat klägers, Art. 269 Nr. 6 E Maier, aber auch von Amts wegen zusätzliche Ermittlun gen anordnen und die entsprechenden Beweise in nichtöffentlicher Verhandlung erheben, Art. 272 E Maier. Hat der Staatsanwalt die Einstellung des Verfahrens be antragt und kommt das Gericht des Zwischenverfahrens im Gegenteil zur Über zeugung, dass Anklage zu erheben ist, weist es den Staatsanwalt an, eine Anklage schrift mit dem durch den Eröffnungsbeschluss vorgegebenen Inhalt zu erstellen, gegenüber verfassungsrechtlichen Organisationsvorgaben, vgl. Woischnik, Untersuchungsrich ter, S. 170 ff. 710 Siehe dazu ausführlich die Ausführungen zu Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) im 5. Kapitel, A. III. 1. e). 711 Noch deutlich besser als im hier untersuchten Entwurf Maier gelingt dies im Entwurf Beraldi, vgl. 5. Kapitel, B. III. 1. a). 712 Der entsprechende Titel ist mit procedimiento intermedio überschrieben.
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4. Kap.: Die Rezeption kontinentaleuropäischer Reformen
Art. 274 Nr. 3 E Maier. Gleiches gilt, wenn der Staatsanwalt zwar Anklage er hoben hat, das Gericht aber formale Mängel feststellt, Art. 273 Nr. 1 E Maier, oder die Anklage inhaltlich erweitert, Art. 274 Nr. 2 E Maier. Schränkt das Gericht die Anklage nach Art. 274 Nr. 4 E Maier inhaltlich ein, ist dagegen keine neue An klage des Staatsanwalts erforderlich. Weiterhin hat das Gericht auch die Möglich keit, trotz Anklageerhebung des Staatsanwalts das Verfahren vorläufig oder end gültig einzustellen, Art. 278 ff. E Maier. Gegen die endgültige Einstellung kann der Staatsanwalt mit dem Rechtsmittel der casación nach Art. 338 ff. E Maier vor gehen, um eine Verfahrenseröffnung zu erreichen, die vorläufige Einstellung darf er mit diesem Rechtsmittel nur zu Gunsten des Beschuldigten, d. h. mit dem Ziel einer endgültigen Einstellung, angreifen, Art. 281 Abs. 2 E Maier. Gegen einen Er öffnungsbeschluss stehen dem Staatsanwalt dagegen keine Rechtsmittel zur Ver fügung. Es lässt sich allenfalls erwägen, ihm die gegen verfahrensabschließende Entscheidungen gerichtete casación zuzubilligen, wenn das Gericht die Anklage nach Art. 274 Nr. 4 E Maier nur teilweise zulässt, da dies einer teilweisen Ein stellung entspricht. Der Entwurfstext äußert sich zu dieser Frage nicht, so dass im Zweifel vom Grundsatz des Art. 338 E Maier auszugehen ist, wonach die casación nur gegen Entscheidungen zulässig ist, die das Verfahren insgesamt abschließen. Dafür spricht auch, dass die teilweise Verfahrensbeendigung nicht im Rahmen der Einstellung nach Art. 278 ff. E Maier geregelt ist. Demnach verbleibt es dabei, dass der Staatsanwalt lediglich gegen die Einstellungsentscheidungen nach den Art. 278 ff. E Maier vorgehen kann. Zur Begründung dafür, dem Staatsanwalt die Abschlussentscheidung vorzu enthalten und sie vollständig in die Hand eines Gerichts zu legen, verweisen die Verfasser des Entwurfs auf das besondere Gewicht der Hauptverhandlung, wel che für den Angeklagten eine erhebliche Belastung und für den Staat einen erheb lichen Aufwand bedeute. Zudem bedürfe auch eine Einstellung als verfahrens abschließende Entscheidung immer der richterlichen Kontrolle.713 Daher könne man weder die Entscheidung über die Weiterführung des Verfahrens noch die über seine Beendigung allein in die Hand des Staatsanwalts legen.714 Die Autoren um Maier verweisen damit sowohl auf rechtsstaatliche Erwägungen als auch auf Ef fektivitätsgesichtspunkte. Fraglich ist, ob die Schwächung der staatsanwaltlichen Stellung unter diesen Aspekten tatsächlich gerechtfertigt ist. Angesichts der rich terlichen Befugnis, den Staatsanwalt zur Erhebung einer Anklage bestimmten In halts anzuweisen, ist zu erwägen, ob nicht ein Verstoß gegen das Akkusations prinzip vorliegt. Danach sind Anklage- und Urteilsfunktion zu trennen, während vorliegend nach Art. 274 Nr. 3 E Maier letztlich das Gericht des Zwischenverfah rens die Anklägerposition einnimmt, indem es inhaltlich über die Anklage dispo niert. Gegen eine Verletzung des Anklagegrundsatzes könnte sprechen, dass sich im Entwurf Maier das Gericht des Zwischenverfahrens von dem des Hauptver 713
Siehe dazu schon die ausführlichen Ausführungen oben, 4. Kapitel, B. III. 1. Maier, Proyecto, S. 662.
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fahrens sowohl funktional als auch personell unterscheidet. Der hinter dem Ak kusationsprinzip stehende Gedanke ist, dass die Anklagefunktion vom urteilen den Richter ferngehalten werden muss, um seine objektive Urteilsfindung und das Recht des Angeklagten auf Verteidigung zu garantieren.715 Der Richter wird schwerlich unparteilich über seine eigene Anklage befinden können, und der An geklagte kann sich nicht gegen denjenigen verteidigen, der die Urteilsmacht über ihn besitzt. Da das anklagende und das urteilende Gericht hier personenverschie den sind und das Gericht des Hauptverfahrens somit nicht über seine eigene An klage entscheidet, liegt es nahe, eine Beeinträchtigung der Trennung von Anklageund Urteilsfunktion abzulehnen. Dabei würde allerdings übersehen, dass viel dafür spricht, das Erfordernis des Anklagegrundsatzes nicht darauf zu beschränken, die Anklagefunktion allein dem entscheidenden Gericht selbst vorzuenthalten, son dern der Judikative insgesamt. Die Untersuchung der Judikativstellung der Staats anwaltschaft in der Provinz Córdoba hat gezeigt, dass zur Wahrung der Objektivi tät des Gerichts eine klare Abgrenzung von staatlichem Anklage- und Urteilsorgan auch auf organisatorischer Ebene angezeigt ist und der staatliche Ankläger daher außerhalb der rechtsprechenden Gewalt angesiedelt sein sollte.716 In noch erhöh tem Maße gelten diese Erwägungen, wenn die Anklage nicht durch eine der Ju dikative zugehörige Staatsanwaltschaft ausgeübt wird, sondern durch ein auch als solches bezeichnetes Gericht. Art. 274 Nr. 3 E Maier ist daher als Verletzung des Anklagegrundsatzes abzulehnen.717 Fragwürdig sind auch die Antragsbefugnisse des Angeklagten nach Art. 268 Nr. 4 E Maier und des Nebenklägers nach Art. 269 Nr. 6 E Maier, hier liegt eine Vorwegnahme des Hauptverfahrens nahe.718 Zuletzt ist zweifelhaft, ob angesichts des dadurch entstehenden Umfangs des Vorverfah rens tatsächlich die Effektivität der Strafjustiz gesteigert wird. Die Ausgestaltung des Zwischenverfahrens im Entwurf Maier erscheint in diesem Sinne misslungen. 3. Das abgekürzte Verfahren
Einen gänzlich anderen Verlauf kann das weitere Verfahren nehmen, wenn der Staatsanwalt in seinem Eröffnungsantrag eine Strafe, die ein Jahr Freiheitsentzug nicht überschreitet, vorschlägt und den Übergang in das abgekürzte sog. procedi 715
Álvarez, Nueva Doctrina Penal 1996-B, S. 413 ff. m. w. N. Siehe dazu oben 4. Kapitel, A. II. 3. Siehe außerdem in diesem Sinne Bovino, in: ders./ Hurtado, Justicia Penal y Derechos Humanos, S. 210 ff. 717 Ausführlich wird das Problem der Weisung eines Gerichts an die Staatsanwaltschaft, An klage zu erheben, noch einmal unten im 5. Kapitel, A. III. 1. e), erörtert. 718 Nicht umsonst ist etwa im US-amerikanischen Strafverfahren bei der Überprüfung der Anklage durch die Grand Jury, welche sich ebenfalls auf inhaltliche Gesichtspunkte bezieht, lediglich der Staatsanwalt zugegen, auch wenn dies dazu führt, dass dessen Anklage regel mäßig angenommen wird. Es kann beim Vorverfahren lediglich um eine summarische Prüfung der Frage gehen, ob offensichtliche Mängel der Anklage vorliegen, andernfalls droht eine Vor wegnahme des Hauptverfahrens. 716
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miento monitorio anbietet, Art. 371 E Maier. Sind Beschuldigter und Gericht mit dem abgekürzten Verfahren einverstanden, entscheidet das Gericht des Zwischen verfahrens nicht über die Eröffnung der Hauptverhandlung, sondern spricht di rekt auf der Grundlage des Ermittlungsergebnisses sowie des Antrages des Staats anwalts und der Aussage des Beschuldigten das Endurteil, Art. 372 Abs. 1, 2 E Maier, andernfalls wird das Verfahren in die oben dargestellten Bahnen überge leitet, Art. 372 Abs. 3 E Maier. Spricht das Gericht direkt ein Urteil, ist es nicht nur an die sachliche Grundlage des staatsanwaltlichen Antrags gebunden, son dern darf auch in der Strafzumessung nicht über ihn hinausgehen, Art. 372 Abs. 2 i. V. m. Art. 322 E Maier. Dass der Staatsanwalt dem Gericht hier nicht nur in Be zug auf das Tatgeschehen Grenzen setzen kann, sondern auch bezüglich der Straf zumessung, erklärt sich daraus, dass der Beschuldigte, der ohne die schützenden Formen einer öffentlichen Hauptverhandlung abgeurteilt wird, auf die Strafhöchst grenze von einem Jahr Freiheitsstrafe vertrauen können muss. Um zu verhin dern, dass der Staatsanwalt auf diese Weise die richterliche Urteilsfindung vor wegnimmt, soll die genannte Strafzumessungsbindung nur entstehen, wenn auch das Gericht überzeugt ist, dass die von der Staatsanwaltschaft vorgeschlagene Strafe ausreichend ist. Bestehen daran Zweifel, leitet es in das reguläre Verfahren über, Art. 372 Abs. 3 E Maier. Betrachtet man allein die gesetzlichen Vorschriften, soll das abgekürzte Verfahren also grundsätzlich nichts an der lediglich formalen Ausprägung des Anklagegrundsatzes und der entsprechenden Rolle des Staatsan walts in der inquisitorischen Verfahrensstruktur des Entwurfs Maier ändern. Aller dings lässt es sich durchaus erwägen, im procedimiento monitorio Ansätze einer Verhandlung zwischen Staatsanwalt und Beschuldigtem zu sehen, wie sie im an gloamerikanischen Raum mit dem sog. „plea bargaining“ existiert.719 Zwar deu tet der Gesetzestext eine solche Übereinkunft mit keinem Wort an, vielmehr ist in Art. 372 E Maier lediglich von einer Zustimmung des Beschuldigten vor dem Richter die Rede, es ist aber dennoch sehr gut vorstellbar, dass der Staatsanwalt zunächst beim Beschuldigten vorfühlt, um sich dessen Einverständnis zu versi chern, und erst dann eine entsprechend niedrige Strafe beantragt. Die daraus re sultierenden Probleme sollen ausführlich unten anhand des im Jahre 1997 mit einer Reform des Bundesstrafverfahrensrechts tatsächlich eingeführten abgekürz ten Verfahrens erörtert werden, welches die Verhandlungsmöglichkeiten zwischen Fiskal und Beschuldigtem gegenüber dem procedimiento monitorio noch deutlich ausweitet.720
719 Als Vorgänger des später in der Reform des CPPN von 1992 eingeführten abgekürz ten Verfahrens sehen das procedimiento monitorio bspw. Di Masi/Obligado, CPPN, S. 515; Marchisio, juicio abreviado, S. 98 f.; Bigliani, in: Maier/Bovino (Hrsg.), procedimiento abre viado, S. 168 f. 720 Vgl. dazu unten 5. Kapitel, A. III. 1. f).
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4. Hauptverfahren
Die Aufgaben, welche der Entwurf Maier dem Staatsanwalt im Hauptverfah ren zuweist, entsprechen weitgehend denjenigen, die ihm schon nach dem CPP Córdoba (1940) oblagen, da der Entwurf die dort vorgegebene Grundstruktur na hezu identisch übernimmt. Der Staatsanwalt muss nach Art. 283 E Maier schon in der Vorbereitung zur Hauptverhandlung seine Beweise dem Gericht anbieten, indem er eine Liste mit Zeugen und Sachverständigen sowie zu verlesende Do kumente präsentiert. Nach Art. 283 Abs. 1, 300 Nr. 1 E Maier kann auch die Zeugen- oder Sachverständigenvernehmung durch die Verlesung der Verneh mungsprotokolle ersetzt werden, wenn sich Anklage und Verteidigung einverstan den erklären. Der Staatsanwalt hat während der Hauptverhandlung genau wie der Verteidiger kein formales Beweisantragsrecht. Zusätzliche, nicht schon vorberei tend abgesprochene Beweiserhebungen kann er lediglich informell anregen, da sie vom Gericht von Amts wegen vorgenommen werden, Art. 317 E Maier. Auch die Möglichkeit des Fiskals, die Anklage noch während der Hauptverhandlung sach lich zu erweitern, übernimmt der Entwurf vom CPP Córdoba (1940). In Art. 309 E Maier ist allerdings die Weiterentwicklung dieses Instituts in späteren Fassungen der CPP Córdoba berücksichtigt, wonach die Erweiterung nur gestattet ist, wenn sie sich auf Tatsachen bezieht, die im Zusammenhang mit einer bereits angeklag ten Tat stehen, also bspw. deren Qualifizierung bedeuten oder sie als Dauerdelikt kennzeichnen. Damit sind auch im Entwurf Maier die Entfaltungsmöglichkeiten des Staats anwalts in der Hauptverhandlung durch einen stark instruktorisch geprägten, for malisierten und statischen Verfahrensgang, welcher eine dynamische Ausein andersetzung von Anklage und Verteidigung verhindert, erheblich eingeschränkt. Nennenswert ist vor allem seine Befugnis zur Erweiterung des Verfahrensgegen stands, welche jedoch, wie schon zum CPP Córdoba (1940) ausgeführt, problema tisch ist, da sie das Verteidigungsrecht des Angeklagten einschränkt und an die in quisitorische Stellung des staatlichen Anklägers als Handlanger eines richterlichen Anklageinteresses erinnert.721 Diese Erwägungen gelten vorliegend umso mehr, da im Entwurf Maier nicht mehr in gleichem Maße ein Strafverfolgungsbedürfnis angeführt werden kann. Bereits im Zwischenverfahren wird die staatsanwaltliche Anklage überprüft und kann erweitert werden. Die Anklage danach noch auf ein Tatgeschehen auszudehnen, das bis dahin nicht Gegenstand des Verfahrens war, sollte nur dann in Betracht kommen, wenn es nicht den Interessen des Angeklag ten zuwiderläuft, dieser also der Erweiterung zustimmt.722 Andernfalls ist es der Staatsanwaltschaft problemlos zuzumuten, die unberücksichtigt gebliebenen Taten schlicht mittels einer neuen Anklage zu verfolgen. Die im Entwurf Maier vorge 721
Siehe dazu bereits oben die Ausführungen zum CPP Córdoba (1940), 4. Kapitel, A. III. 2. Entsprechend ist etwa die Regelung in der deutschen Strafprozessordnung, wo der Staats anwalt die sog. Nachtragsanklage nur mit Zustimmung des Angeklagten erheben kann, vgl. § 266 Abs. 1 StPO. 722
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4. Kap.: Die Rezeption kontinentaleuropäischer Reformen
sehenen Einschränkungen reichen dagegen nicht aus, um die nachträgliche Ankla geerweiterung mit dem Verteidigungsrecht des Beschuldigten aus Art. 18 der ar gentinischen Verfassung zu vereinbaren. Zwei Neuerungen heben den Entwurf Maier jedoch vom Vorbild aus Córdoba ab, nämlich die Möglichkeit des Gerichts, nach Ermessen die Hauptverhandlung durch ein Schuldinterlokut aufzuspalten, Art. 287 E Maier, sowie die veränderte Form der Zeugen- und Sachverständigenvernehmung nach Art. 314 E Maier. Die außerordentlich interessante Idee einer Teilung der Hauptverhandlung723 bedeu tet aus dem hier maßgeblichen speziellen Blickwinkel der Staatsanwaltschaft al lerdings nur, dass dem staatlichen Ankläger umfangreichere Möglichkeiten ge geben sind, speziell zur Strafzumessungsfrage Stellung zu nehmen, ändert aber nichts an seiner grundsätzlichen Rolle in diesem Verfahrensabschnitt. Für beide Teile der Hauptverhandlung gelten nach Art. 287 E Maier die gleichen Regeln der Beweiserhebung wie für ein einheitliches Verfahren und auch die allgemeine Ob jektivitätsverpflichtung der Staatsanwaltschaft nach Art. 69 E Maier gilt selbstver ständlich umfassend. Bedeutsamer ist demgegenüber die Umstellung der Zeugen befragung. Gemäß Art. 314 E Maier ruft zunächst nach wie vor der Vorsitzende des Gerichts den Zeugen auf und lässt ihn aussagen. Die Neuerung liegt aber darin, dass anschließend nicht mehr er direkt den Zeugen befragt, sondern zunächst der jenige, der den Zeugen vorgeschlagen hat, dann die weiteren Verfahrensbeteiligten und erst zum Schluss der Vorsitzende Richter und die übrigen Mitglieder des Ge richts. Nach den Motiven des Entwurfs soll auf diese Weise eine Annäherung an das adversatorische Institut des Kreuzverhörs, wenn auch keine Übernahme des selben, erreicht werden.724 Tatsächlich ermöglicht diese Umstellung die Abmilde rung der Instruktionsmaxime hin zu einem dynamischeren Verfahren, in welchem der Staatsanwalt sich aktiv mit der Verteidigung auseinandersetzt und ihr auf diese Weise erlaubt, in direkterer Weise gegen den Anklagevorwurf vorzugehen. Ange sichts der dargelegten Grundstruktur des Hauptverfahrens im Entwurf Maier muss allerdings festgestellt werden, dass allein die Änderung der Fragereihenfolge bei der Zeugenvernehmung kaum ausreicht, um ein wahrhaft kontradiktorisches Ver fahren zu etablieren. Die Pflicht, schon zu Beginn alle Beweise dem Gericht an zubieten in Verbindung mit der fehlenden Regelung eines Beweisantragsrechts be stimmt den Verlauf der Verhandlung zu weit vor, um ein wirkliches Agieren und Gegenagieren von Staatsanwaltschaft und Verteidigung zu erlauben. Die Möglich keit, das Verfahren bei vorherigem Einverständnis der Prozessparteien durch die bloße Verlesung der Zeugenvernehmungen weitgehend zu verschriftlichen, von der in Córdoba auch durchaus rege Gebrauch gemacht worden zu sein scheint725, 723 Schöne bezeichnet dies als „einen Schritt in die richtige Richtung“, kritisiert aber, dass die Entscheidung über eine solche Aufteilung allein beim Gericht liegt und greift einen Vorschlag Hassemers auf, wonach der Beschuldigte das Recht haben solle, eine solche Zweiteilung zu verlangen. Vgl. Schöne, in: Dornseifer u. a. (Hrsg.), GS A. Kaufmann, S. 811. 724 Maier, Proyecto, S. 663. 725 Vgl. dazu schon oben Fn. 598.
B. Das deutsch-italienische Modell
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ist zudem geeignet, eine solche Auseinandersetzung von Beginn an im Keim zu ersticken. Es bleibt daher auch im Entwurf Maier bei einer absolut vom Rich ter dominierten Hauptverhandlung, der Staatsanwalt hat viel zu geringe Einwir kungsmöglichkeiten, um durch seine Interaktion mit dem Beschuldigten dessen Verteidigungsrecht mehr Raum zu geben. Zusammenfassend ist also zu konstatieren, dass die Regelung des Hauptverfah rens im Entwurf Maier zwar isoliert auf Bundesebene gesehen zu der bis dato im mer noch geltenden Strafprozessordnung von 1889 einen erheblichen Fortschritt darstellte726, im Kontext des durch den CPP Córdoba (1940) begonnenen Erneue rungsprozesses aber, zumindest aus Sicht der staatsanwaltlichen Stellung, nur mar ginale Verbesserungen brachte.727 5. Rechtsmittel
Da sich das Rechtsmittelsystem des Entwurfs Maier ebenfalls sehr stark an das Vorbild des CPP Córdoba (1940) anlehnt, bieten die dort vorgesehenen Möglich keiten des staatlichen Anklägers, eine gerichtliche Entscheidung anzugreifen, we nig Neues. Als Ausdruck seiner Objektivitätspflicht kann der Staatsanwalt auch hier alle Rechtsmittel nicht nur zu Lasten, sondern auch zu Gunsten des Beschul digten einlegen, Art. 332 Abs. 2 E Maier. In Ausnahme zum Grundsatz der In disponibilität über die Strafklage in Art. 229 Abs. 2 E Maier darf die Staatsan waltschaft ein von ihr eingelegtes Rechtsmittel nach Art. 334 Abs. 1 E Maier zurücknehmen, solange darüber noch nicht entschieden wurde. Eine Begründung für die Rücknahme ist anders als im Gesetz aus Córdoba nicht mehr erforderlich. Auf die Vereinbarkeit mit dem in Art. 229 Abs. 2 E Maier niedergelegten Lega litätsprinzip geht der Entwurf nicht ein, sie lässt sich jedoch wiederum damit be gründen, dass dem Legalitätsgrundsatz schon mit der erstinstanzlichen Verhand lung Genüge getan wird und es sich bei den Rechtsmitteln lediglich um vom Willen des Einlegenden abhängige Schutzmechanismen handelt.728 IV. Zusammenfassung und Fazit
Der Entwurf Maier verfolgte das Ziel, in Weiterführung des durch den CPP Córdoba (1940) auf Provinzebene begonnenen Reformprozesses auch das Bun desstrafverfahrensrecht grundlegend zu erneuern. Zu untersuchen war anhand der 726
So Schöne, in: Dornseifer u. a. (Hrsg.), GS A. Kaufmann, S. 811. Dem entspricht es, dass die Verfasser des Entwurfs in ihren knappen Ausführungen zum Hauptverfahren festhalten, es „folge eng dem in der modernen argentinischen Gesetzgebung bereits Bekannten“ und biete „sehr wenige Neuerungen“ (Übers. d. Verf.), vgl. Maier, Proyecto, S. 663. 728 Siehe dazu schon oben 3. Kapitel, B. III. 4. m. w. N. 727
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4. Kap.: Die Rezeption kontinentaleuropäischer Reformen
Ausgestaltung der Figur des Staatsanwalts, inwieweit es dem Entwurf Maier ge lingt, durch die Integration von Parteielementen die Defizite des argentinischen In quisitionsprozesses zu beseitigen. Auf organisationsrechtlicher Ebene erreicht der den Entwurf Maier beglei tende Vorentwurf trotz kleinerer Schwächen eine deutliche Verbesserung, indem die Staatsanwaltschaft als einheitliche, von der Judikative unabhängige Behörde durchstrukturiert und damit klar von den Gerichten abgegrenzt wird. Im Verfahrensrecht stellt sich als Kernpunkt des Entwurfs Maier die Über tragung der Ermittlungen auf den Staatsanwalt dar, welche in Argentinien eine kontroverse, Grundfragen des Strafverfahrensrechts berührende Diskussion aus löste. Eine genauere Betrachtung hat die damals vorherrschende Auffassung, wo nach die dem Inquisitionsprozess entsprechende Einheit von Untersuchungs- und Urteilsfunktion bereits von der Verfassung vorgegeben ist, nicht bestätigt. Viel mehr spricht Einiges für die im Entwurf Maier gewählte, am deutschen Strafver fahren orientierte Lösung einer Aufteilung der staatlichen Aufgaben zwischen er mittelndem Staatsanwalt und kontrollierendem Ermittlungsrichter, denn auf diese Weise werden Elemente des adversatorischen Verfahrens vorteilhaft in den In quisitionsprozess integriert. Der Staatsanwalt ermittelt zwar als autoritäres, zur Objektivität verpflichtetes Staatsorgan, wodurch er teilweise in die Stellung des Untersuchungsrichters eintritt. Seine Ermittlungen müssen sich aber am Maßstab der Waffengleichheit mit dem Beschuldigten messen lassen und ihre Objektivität wird dadurch abgesichert, dass sie der Überprüfung durch den absolut unpartei lichen Ermittlungsrichter unterliegen. Das übrige Verfahren nach dem Entwurf Maier bringt dagegen in Bezug auf die Ausgestaltung der staatsanwaltlichen Befugnisse keine allzu großen Fort schritte gegenüber dem Vorbild aus Córdoba. So ist die Regelung der Überprüfung der staatsanwaltlichen Anklage im Zwischenverfahren misslungen. Die Befug nis eines Gerichts, den Staatsanwalt zur Anklageerhebung anzuweisen, stellt sich als Verletzung des Anklagegrundsatzes dar, zudem ist die umfassende, Antrags rechte des Angeklagten und des Nebenklägers einschließende Überprüfung der Anklage als Vorwegnahme der Hauptverhandlung problematisch. Im Hauptverfah ren bedeutet die Umstellung der Reihenfolge der Zeugenbefragung zwar eine Stär kung der staatsanwaltlichen Stellung in Richtung eines kontradiktorischen Verfah rens. Diese Neuerung verliert jedoch dadurch an Wert, dass sie eingebettet bleibt in die stark instruktorisch geprägte, formalisierte und statische Hauptverhand lung, welche der Entwurf im Übrigen nahezu identisch vom CPP Córdoba (1940) übernimmt. Es bleiben insofern Zweifel, ob die von der Kommission unter Maier vorge sehenen Neuerungen ausgereicht hätten, um die aus der inquisitorischen Struktur des argentinischen Strafprozesses resultierenden Probleme der Ineffektivität und Beschuldigtenfeindlichkeit in befriedigendem Maße aufzulösen. Die dargestellten Schwachpunkte wiegen umso schwerer, als bei einer Auslegung durch Praktiker
B. Das deutsch-italienische Modell
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das ausgesprochen konservative Strafverfahrensverständnis, welches sich im dar gelegten historischen Kontext sowie der bisherigen Entwicklung des argentini schen Strafprozesses dokumentiert, einzukalkulieren ist. Vergleicht man allerdings insgesamt den Entwurf Maier mit dem bis dato noch geltenden, völlig veralteten und noch sehr stark dem gemeinrechtlichen Inquisitionsprozess verhafteten CPPN (1889) und auch mit der schließlich im Jahre 1992 erlassenen Bundesstrafverfah rensordnung (dazu sogleich), so hätte seine Gesetzwerdung ohne Zweifel einen enormen Fortschritt für das argentinische Strafverfahrensrecht dargestellt. Sein Scheitern bleibt daher ausgesprochen zu bedauern.
5. Kapitel
Der formale Anklagegrundsatz in der Krise und ein eigener Weg 5. Kap.: Formaler Anklagegrundsatz in der Krise und ein eigener Weg Die schließlich im Jahr 1992 in Kraft getretene neue Bundesstrafverfahrens ordnung konnte die Erwartungen an eine grundlegende Reform des seit über hun dert Jahren auf Bundesebene nahezu unveränderten Strafprozesses nicht erfül len, sie ging sogar noch hinter die durch die Strafverfahrensordnung Córdobas aus dem Jahr 1940 eingeführten Modifikationen zurück. In der Folge wurden die De fizite ihrer stark inquisitorisch geprägten Verfahrensstruktur überdeutlich, weshalb in Argentinien gegenwärtig eine weit umfassendere Integration von Parteielemen ten in das Strafverfahren diskutiert wird. Bisher hat sich dies in einer Reihe einzel ner Abänderungen der Bundesstrafverfahrensordnung manifestiert, es wird jedoch weiterhin vielfach eine fundamentale Erneuerung des Strafverfahrens angestrebt. Besonders interessant ist in dieser Hinsicht ein Entwurf für eine Bundesstrafver fahrensordnung aus dem Jahr 2007, der einen eigenen Weg zwischen reformiertem Inquisitionsprozess und adversatorischem Verfahren sucht.
A. Die Bundesstrafverfahrensordnung von 1992 und ihre Weiterentwicklung A. Bundesstrafverfahrensordnung von 1992 und ihre Weiterentwicklung
I. Entstehungsgeschichte und Grundzüge des CPPN (1992) sowie der Verfassungsreform von 1994
Auch die Regierung Alfonsíns fand kein wirksames Mittel gegen die schwere Wirtschaftskrise Argentiniens. Ende der achtziger Jahre kam es schließlich zu einer Hyperinflation mit Preissteigerungen von bis zu 200 % pro Monat. Die Un zufriedenheit der Bevölkerung manifestierte sich bei den Präsidentschaftswahlen am 14. Mai 1989 in massiven Stimmverlusten von Alfonsíns UCR und der Wahl des Peronisten Carlos Saúl Menem zum Präsidenten. Es folgte nach langer Zeit wieder eine frei gewählte Regierung auf eine andere, worin sich trotz der prekären ökonomischen Lage eine gewisse Verfestigung der Demokratie zeigte. Für die unter der Vorgängerregierung seit langem angestrebte umfassende Re form des Strafverfahrensrechts hatte der Machtwechsel zur Folge, dass sie im letzten Moment von der peronistischen Partei verhindert wurde.729 Stattdessen 729
Siehe dazu oben 4. Kapitel, B. I.
A. Bundesstrafverfahrensordnung von 1992 und ihre Weiterentwicklung
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b rachten Menem und sein Minister Salonia im Mai 1990 einen von Ricardo Le vene (h.) verfassten Alternativentwurf in den Kongress ein, der auf einem Vor gängerentwurf beruhte, den Levene (h.) schon im Jahre 1965 vorgelegt hatte. Je ner Entwurf sollte damals als Muster für die weiteren Reformen auf Bundes- und Landesebene dienen und zur Vereinheitlichung des durch das Föderalitätsprin zip zersplitterten argentinischen Strafverfahrensrechts beitragen. Er übernahm na hezu vollständig die Regelungen der Strafverfahrensordnung Córdobas aus dem Jahre 1940. Nicht enthalten war jedoch die wohl meistdiskutierte Neuerung des Gesetzes aus Córdoba, die abgekürzte Voruntersuchung, instrucción sumaria, in der Hand des Staatsanwalts, denn Levene (h.) war entschiedener Gegner davon, der Staatsanwaltschaft Ermittlungsbefugnisse zu übertragen.730 In den Folgejah ren reformierten einige Provinzen ihr Strafverfahren nach dem von Levene (h.) vorgeschlagenen Muster und auch auf Bundesebene legte die damalige Präsiden tin María Estela Martínez de Perón dem Kongress im September 1975 einen ent sprechenden Gesetzesentwurf vor, dessen Berücksichtigung durch das Parlament dann aber durch den Militärputsch von 1976 verhindert wurde. Dieser Entwurf war es, der im Jahre 1985 erneut von zwei peronistischen Senatoren vorgeschla gen wurde, aber erst nach dem Regierungswechsel im Jahre 1989 die notwendige politische Unterstützung erhielt und von Menem in den Kongress eingebracht wur de.731 Im zuständigen Gesetzgebungsausschuss des Abgeordnetenhauses äußerten die Ausschussmitglieder der UCR eine Reihe von Vorbehalten gegen den Entwurf Levenes (h.). Vor allem missfiel ihnen, dass die Figur des klassischen Untersu chungsrichters beibehalten wurde, statt die Ermittlungen wie im Entwurf Maier der Staatsanwaltschaft zu übertragen.732 Aber auch bei einer Reihe von peronisti schen Abgeordneten sowie im Justizministerium hatte sich, nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen mit der instrucción sumaria in Córdoba, die Überzeugung durch gesetzt, dass die Übertragung der Ermittlungen auf den Staatsanwalt, gerade in Be zug auf Schnelligkeit und Effizienz der Untersuchungen, eine Reihe von Vorteilen bot. Da man aber andererseits nicht von der Herrschaft des Richters über das Vor verfahren lassen wollte, wählte man eine ganz andere Lösung, wonach der Rich ter dem Staatsanwalt die Untersuchungen nach seinem freien Ermessen übertra gen konnte.733 Mit dieser wichtigen Abänderung sowie einigen weiteren, kleineren Modifikationen billigte die peronistische Ausschussmehrheit den Entwurf Leve nes (h.). Obwohl damit die Bedenken der Fraktion der UCR, die nach wie vor Mai ers Entwurf bevorzugte, nicht beseitigt waren, stimmten schließlich auch ihre Ab 730
Siehe dazu Levene (h.), ZStW 84 (1972), S. 480 ff. (485 ff., insb. 494 f.) zu seiner Ableh nung des ermittelnden Staatsanwalts, die er damit begründet, dass der Staatsanwalt eine Kon trollfunktion habe und außerdem Partei sei. 731 Vgl. Vázquez Rossi/Pessoa/Chiara Díaz, CPPN, S. 14 f.; Dictamen de la Comisión del Senado, in: Chichizola (Hrsg.), Código Procesal Penal de la Nación, S. 61 sowie das Vorwort Levenes (h.), in: Proyecto, S. VII. 732 Vgl. Dictamen de minoría, in: Chichizola (Hrsg.), Código Procesal Penal, S. 70 ff. 733 Siehe dazu Dictamen de mayoría, in: Chichizola (Hrsg.), Código Procesal Penal, S. 69; In forme del Ministro de Justicia, in: Chichizola (Hrsg.), Código Procesal Penal, S. 77.
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5. Kap.: Formaler Anklagegrundsatz in der Krise und ein eigener Weg
geordneten angesichts des dringenden Reformbedarfs für die Verabschiedung des Regierungsentwurfs734, der als Código Procesal Penal de la Nación am 4. Septem ber 1991 erlassen wurde und ein Jahr später am 5. September 1992 in Kraft trat. Da sich der im Jahre 1992 in Kraft getretene Código Procesal Penal de la ación (CPPN) wie erläutert über Levenes (h.) Musterstrafprozessordnung von N 1965 direkt auf das Strafverfahrensgesetz Córdobas aus dem Jahre 1940 zurück führen lässt, entspricht das Verfahren weitgehend dem des Vorbilds aus Córdoba. Die Ermittlungen obliegen einem vom Richter der Hauptverhandlung verschie denen Untersuchungsrichter, Art. 26 CPPN (1992)735, der nach Art 195 CPPN (1992) grundsätzlich ein Ersuchen des Staatsanwalts, requerimiento, zur Ver fahrenseinleitung benötigt. Auf eine Anzeige des Staatsanwalts kann der Unter suchungsrichter allerdings dann verzichten, wenn er durch die Polizei von der Begehung einer Straftat informiert wird, Art. 186, 195 CPPN (1992), oder wenn er sich entschließt, die Ermittlungen dem Staatsanwalt zu übertragen, Art. 196 CPPN (1992), dazu sogleich. Der Untersuchungsrichter kann alle gesetzlich vor gesehenen Zwangsmaßnahmen selbständig anordnen, bei schwerwiegenden Ein griffen in subjektive Rechte ist er lediglich gezwungen, diese schriftlich zu be gründen, um eine spätere Überprüfbarkeit zu ermöglichen, vgl. bspw. Art. 224, 230, 234, 236 CPPN (1992).736 Das Ermittlungsverfahren ist für den Beschuldig ten ab seiner Vernehmung regelmäßig nicht mehr geheim, Art. 204 CPPN (1992), und er kann Ermittlungsmaßnahmen beantragen, Art. 199 CPPN (1992). Kommt der Untersuchungsrichter zum Ergebnis, dass ein hinreichender Tatverdacht ge gen den Beschuldigten besteht („elementos de convicción suficientes“), erlässt er einen formalen Prozessbeschluss, der die dem Beschuldigten vorgeworfenen Ta ten aufführt, Art. 306, 308 CPPN (1992), und regelmäßig auch die Untersuchungs haft anordnet, Art. 310, 312 ff. CPPN (1992). Nach Art. 196 CPPN (1992) kann der Untersuchungsrichter nach seinem freien Ermessen dem Staatsanwalt die Er mittlungsleitung übertragen, allerdings verbleibt ein Großteil der Befugnisse wie bspw. die Vernehmung des Beschuldigten, die Anordnung von Untersuchungs haft oder die Verfahrenseinstellung in der Kompetenz des Richters, Art. 213 CPPN (1992). Unabhängig davon, ob der Richter von der Möglichkeit des Art. 196 CPPN (1992) Gebrauch gemacht hat oder nicht, muss der Staatsanwalt zum Abschluss des Vorverfahrens bei ihm die Eröffnung des Hauptverfahrens oder die Verfah renseinstellung beantragen, Art. 347 CPPN (1992). Abweichend von der Straf verfahrensordnung Córdobas und dem vorherigen Bundesverfahren legt der Un tersuchungsrichter dann den Einstellungsantrag des Staatsanwalts nicht dessen 734
Vgl. dazu Cortese, in: Vázquez Rossi/Pessoa/Chiara Díaz, CPPN, S. 173. Der CPPN (1992) wird, soweit nicht ausdrücklich anders gekennzeichnet, in der Version seines Inkrafttretens am 5.9.1992 zitiert. Sie ist bspw. abgedruckt in: Anales de la Legislación Argentina 1992, S. 2904–2949. 736 Eine umfangreiche Untersuchung der Stellung des Untersuchungsrichters im CPPN (1992) anhand des Maßstabs menschenrechtlicher Vorgaben bietet Woischnik, Untersuchungs richter, S. 123 ff., siehe dazu auch schon oben Fn. 709. 735
A. Bundesstrafverfahrensordnung von 1992 und ihre Weiterentwicklung
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Vorgesetzten, sondern stattdessen dem Berufungsgericht zur Überprüfung vor, Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992).737 Die öffentliche und mündliche Hauptverhandlung, Art. 363, 365 CPPN (1992), übernimmt die Bundesstrafverfahrensordnung praktisch identisch vom Vorbild aus Córdoba, ohne die Neuerungen des Entwurfs Maier zu integrieren. Staatsanwalt und Verteidigung müssen schon in der Vorbereitungsphase ihre Beweise anbie ten, sog. ofrecimiento de prueba, die eigentliche Hauptverhandlung wird dann vom Vorsitzenden des Gerichts dominiert, Art. 375 CPPN (1992), der zwar grund sätzlich alle Beweise unmittelbar erheben soll, aber eine Reihe von Möglichkeiten besitzt, das Verfahren durch die Verlesung von Aussageprotokollen zu verschrift lichen, Art. 355 Abs. 2, 391, 392 CPPN (1992). Die Möglichkeiten, das schriftlich zu begründende Urteil, Art. 399 CPPN (1992), anzugreifen, sind wie im CPP Córdoba (1940) erheblich eingeschränkt. Wichtigstes Rechtsmittel im CPPN (1992) ist die casación, welche nach Art. 456 CPPN (1992) dann eingelegt werden kann, wenn das Gericht materielles Recht falsch angewandt hat oder es zu einer vom Rechtsmittelführer zuvor gerügten Ver letzung entscheidender Verfahrensvorschriften gekommen ist.738 Weitere Rechts mittel sind die inconstitucionalidad, Art. 474 f. CPPN (1992), und die revisión, Art. 479 ff. CPPN (1992). Beide haben aber nur einen sehr eingeschränkten An wendungsbereich, da mit der inconstitucionalidad allein die Verfassungswid rigkeit einer angewandten Norm geltend gemacht werden kann, Art. 474 CPPN (1992), und die revisión sich auf die in Art. 479 Nr. 1–5 CPPN (1992) aufgezähl ten Gründe, im Wesentlichen das Auftauchen neuer, entscheidungserheblicher Be weismittel, beschränkt. Für leichtere Straftaten mit einer Freiheitsstrafe bis zu maximal drei Jahren sieht der CPPN (1992) in seinen Art. 405 ff. einige Abweichungen vor. Ermittlun gen und Hauptverfahren werden von ein und demselben Richter geleitet, Art. 27, 405 CPPN (1992), der sofort nach Abschluss der Verhandlung sein Urteil spricht, Art. 409 CPPN (1992). Die Fristen zur Vorbereitung der Hauptverhandlung sind verkürzt, Art. 406 CPPN (1992), und es kann auf die Beweisaufnahme verzichtet werden, wenn der Angeklagte ein Geständnis ablegt und alle Beteiligten mit dem Verzicht einverstanden sind, Art. 408 CPPN (1992). Wie beim Vorbild aus Córdoba handelt es sich also beim von der Bundesstraf verfahrensordnung des Jahres 1992 vorgesehenen Verfahren zusammenfassend um 737 Diese Vorschrift wurde später allerdings vom Obersten Gerichtshof für verfassungswidrig erklärt, siehe dazu unten 5. Kapitel, A. III. 1. e). 738 Der Zugang zu diesem Rechtsmittel ist aber wiederum durch die Art. 458, 459 CPPN (1992) eingeschränkt, wonach die casación nur ab einer bestimmten vom Staatsanwalt be antragten oder vom Gericht verhängten Strafhöhe, drei Jahre Freiheitsstrafe oder vergleichbar, eingelegt werden kann. Die Vorschrift des Art. 459 CPPN (1992), welche die casación des Be schuldigten betraf, ist jedoch später durch den Obersten Gerichtshof für verfassungswidrig er klärt worden. Siehe dazu unten 5. Kapitel, A. III. 3.
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5. Kap.: Formaler Anklagegrundsatz in der Krise und ein eigener Weg
ein sog. reformiertes Inquisitionsverfahren oder sistema mixto, welches die inqui sitorische Grundstruktur beibehält, das dadurch entstehende Ungleichgewicht zu Lasten des Beschuldigten aber durch eine Aufteilung der Staatsgewalt auszuglei chen sucht. Im Gegensatz zum oben dargestellten, ebenfalls auf dem CPP Córdoba (1940) basierenden Konkurrenzentwurf Maier, welcher eine Weiterentwicklung der durch die Strafverfahrensordnung der Provinz Córdoba eingeführten Neuerun gen darstellte739, geht der CPPN (1992) aber teilweise sogar noch hinter deren Er rungenschaften zurück. Er wurde deshalb, insbesondere von Anhängern des ge scheiterten Konkurrenzentwurfes, von Beginn an scharf kritisiert. Die Geschichte wiederhole sich, indem erneut eine Bundesstrafverfahrensordnung in Kraft trete, die schon zum Zeitpunkt ihres Entstehens veraltet sei.740 Mit der Einführung der neuen Bundesstrafverfahrensordnung wurden auch Änderungen in der Gerichtsorganisation erforderlich, namentlich die Schaffung von eigenständigen, von den Ermittlungsgerichten getrennten Tribunalen zur Durchführung der mündlichen Hauptverhandlung. Diese Änderungen wurden mit tels Gesetz Nr. 24.050 vom 7. Januar 1992 verwirklicht.741 Ein einheitliches und umfassendes Gesetz zur Neuorganisation der Strafjustiz einschließlich der Staats anwaltschaft wie dasjenige, das den Entwurf Maier hätte begleiten sollen, wurde dagegen nicht erlassen. Von entscheidender Bedeutung für die Einordnung der Staatsanwaltschaft in das Staatsgefüge war erst die Reform der argentinischen Bundesverfassung im Jahre 1994, welche das Ministerio Público, zu dem die staat lichen Ankläger zählen, in das Grundgesetz aufnahm. Ausgangspunkt der Verfas sungsreform war, dass die Regierung Menem sich auf dem Höhepunkt ihrer Popu larität befand, da es ihr durch die Anbindung der argentinischen Währung Peso an den US-amerikanischen Dollar gelungen war, die Wirtschaftslage vorübergehend zu stabilisieren. Menem strebte daher ein zweite Amtszeit an, der jedoch die Ver fassung entgegenstand, welche bis dato die direkte Wiederwahl des Präsidenten 739
Vgl. oben 4. Kapitel, B. I. Vgl. etwa die Beiträge von Bovino, Guariglia und Pastor, in: No hay Derecho Nr. 6 (1992), S. 22 ff. 741 Neben den für die mündliche Verhandlung zuständigen Tribunalen wurde auch noch ein nationales Berufungsgericht, Tribunal de Casación, eingeführt, das über die Rechtsmit tel der casación gegen erstinstanzliche Urteile verhandelt. Die ehemaligen zweitinstanzlichen Berufungsgerichte, cámaras de apelaciones, sind aufgrund der einschneidenden Beschrän kung der Rechtsmittelmöglichkeiten nur noch für Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Untersuchungsrichters zuständig. Insgesamt ergibt sich damit folgende Gerichtsstruktur: Zu nächst ermittelt der Untersuchungsrichter, gegen dessen Bescheide vor dem Appellationsge richt vorgegangen werde kann. Die anschließende mündliche Hauptverhandlung übernimmt ein eigenständiges Tribunal, gegen dessen Urteil nur mittels der casación vorgegangen werden kann, für die der Kassationsgerichtshof zuständig ist. An oberster Stelle steht der Oberste Ge richtshof Argentiniens, der über die Verfassungswidrigkeit eines angewandten Gesetzes befin det und zudem in bestimmten, in Art. 116 CN aufgezählten Sachen als Strafgericht zuständig ist. Zur Gerichtsorganisation auf Bundesebene siehe Vázquez Rossi, Derecho Procesal Penal Bd. 2, S. 130 ff.; Claría Olmedo, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 288 ff. sowie unten 5. Kapi tel, A. II. 1. 740
A. Bundesstrafverfahrensordnung von 1992 und ihre Weiterentwicklung
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verbot. Er vereinbarte aus diesem Grund mit dem Oppositionsführer und Ex-Präsi denten Alfonsín im sog. „Pakt von Olivos“ (Pacto de Olivos) eine Reform der Ver fassung, die es ihm ermöglichte, erneut zu kandidieren, die nach dem Willen der Opposition aber auch eine Reihe weiterer Änderungen umfassen sollte, darunter die Integration der internationalen Menschenrechtsabkommen, die Einführung eines einem Ministerpräsidenten vergleichbaren Kabinettschefs zur Dezentrali sation der Administrativgewalt und eben eine Regelung, mit der die Unabhängig keit des Ministerio Público von der Exekutive verfassungsrechtlich abgesichert wurde.742 Nach dreimonatigen Beratungen des Verfassungskonvents in den Städ ten Santa Fe und Paraná wurde die Verfassungsreform am 22. August 1994 be siegelt.743 Die Vorschrift zur Staatsanwaltschaft, deren Einbindung zwischenzeit lich zu scheitern gedroht hatte744, trat als Art. 120 CN in Kraft. Am 11. März 1998 schließlich wurden die verfassungsrechtlichen Vorgaben hinsichtlich der Staatsan waltschaft durch das Gesetz Nr. 24.946 zur Organisation des Ministerio Público umgesetzt. Anders als die Strafverfahrensordnung wurde dieses Gesetz nahezu ausnahmslos wohlwollend aufgenommen.745 Das Bundesrecht in Bezug auf die Staatsanwaltschaft weist also ein hetero genes Bild auf. Während die Organisation der Staatsanwaltschaft positiv bewer tet wird, ist das Verfahrensrecht erheblicher Kritik ausgesetzt. Im Folgenden wird zunächst zu überprüfen sein, inwieweit das Organisationsgesetz von 1998 wirk lich dieses Urteil rechtfertigt. Anschließend werden die äußerst interessanten und aufschlussreichen Diskussionen um die Staatsanwaltschaft im CPPN (1992) so wie die Weiterentwicklung ihrer Befugnisse durch Rechtsprechung und Gesetz geber beleuchtet.
742 Ein großer Teil der im Rahmen der Verfassungsreform des Jahres 1994 von der Opposition unter Führung der bürgerlichen Partei UCR durchgesetzten Änderungen sollte dazu dienen, die enormen Machtbefugnisse des Präsidenten einzuschränken und das demokratische Element der Verfassung zu stärken. Letztlich sollten diese Änderungen jedoch nicht zu einer Beseitigung des Problems des „Hyperpräsidentialismus“ ausreichen. Siehe dazu Pérez Guilhou, in: Insti tuto Argentino de Estudios Constitucionales (Hrsg.), Derecho Constitucional Bd. 2, S. 125 ff.; Risso, in: Bidart Campos (Hrsg.), Decada, S. 435 ff. 743 Siehe zur Verfassungsreform von 1994 Eggers-Brass, Historia Argentina, S. 681 und ins besondere Lorenzo, Manual Bd. 3, S. 429 ff. sowie Bruzzone, Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 9 (2002), S. 149 ff. (150), die aufzeigen, dass es den Peronisten bei der Verfassungs reform vor allem anderen um die Möglichkeit der Wiederwahl des Präsidenten ging und die weiteren Neuerungen lediglich am Rande und teils recht übereilt vollzogen wurden. 744 Ortiz Pellegrini, ein Teilnehmer des Konvents und Mitglied der Kommission, die über die Aufnahme des Ministerio Público in den Verfassungstext beriet, berichtet, dass die Ausgestal tung der Staatsanwaltschaft als „vierte Staatsgewalt“ einem in letzter Minute gefundenen Kom promiss entsprang, nachdem der peronistische Block zuvor den Vorschlag der Opposition, die Staatsanwaltschaft in die Judikative einzugliedern, abgelehnt hatte. Vgl. dazu Ortiz Pellegrini, Doctrina Judicial 1997–2, S. 1067 ff. (1067 f.). 745 Vgl. die lobenden Bewertungen des Gesetzes bei Moras Mom, Manual, S. 50; Ekmekdijan, Tratado Bd. 5, S. 694; Becerra, Ministerio Público Fiscal, S. 68.
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5. Kap.: Formaler Anklagegrundsatz in der Krise und ein eigener Weg
II. Die organisatorische Reform der Bundesstaatsanwaltschaft im Zuge der Verfassungsreform des Jahres 1994
Die uneinheitliche, auf einer Reihe von Gesetzen und Dekreten basierende Struktur der Bundesstaatsanwaltschaft blieb wie oben gezeigt bis in die neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts hinein bestehen. Eine einheitliche Regelung fand sie erst mit dem am 11. März 1998 erlassenen Bundesgesetz Nr. 24.946. Es gilt für alle Staatsanwälte, die vor den bundeseigenen Gerichten, inklusive der justicia ordinaria in der Hauptstadt Buenos Aires746, tätig werden. 1. Amtsträger der Bundesstaatsanwaltschaft nach der argentinischen Bundesverfassung vom 22.08.1994, Bundesgesetz Nr. 23.984 vom 04.09.1991 (CPPN 1992) sowie Bundesgesetz Nr. 24.946 vom 11.03.1998
Die reformierte Verfassung von 1994 schweigt weitgehend zur Frage der Aus gestaltung der einzelnen Ämter innerhalb der Staatsanwaltschaft. Art. 120 CN gibt lediglich die Ämter eines Procurador General de la Nación und eines Defensor General de la Nación vor und verweist im Weiteren auf die Regelungskompetenz des einfachen Gesetzgebers. Daraus erschließt sich eine Aufteilung des Ministerio Público in einen Zweig staatlicher Ankläger sowie einen staatlicher Verteidi ger, wobei Letzterer für die vorliegende Untersuchung unberücksichtigt bleiben kann. Auch wenn der ausdrückliche Wortlaut diesbezüglich nicht völlig eindeu tig ist747, wird klar, dass der Procurador General de la Nación als oberster Amts träger innerhalb des Anklagezweigs vorgesehen ist. Dies geht schon aus seinem bis dato stets dem Oberhaupt der Behörde vorbehaltenen Titel sowie der herausge hobenen Stellung als Verfassungsorgan hervor. Der CPPN (1992) kennt drei wei tere, den jeweiligen gerichtlichen Instanzen zugeordnete Amtsträger der Staats anwaltschaft, nämlich den Fiscal de Cámara an den Berufungsgerichten nach Art. 66 CPPN (1992), den Fiscal del Tribunal de juicio an den Gerichten erster In stanz nach Art. 67 CPPN (1992) sowie gemäß Art. 68 CPPN (1992) den Agente Fiscal im Vorverfahren. Die Bundesstrafverfahrensordnung geht dabei allerdings von einer Konkretisierung durch ein Organisationsgesetz zur Staatsanwaltschaft
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Bei der justicia ordinaria handelt es sich um die ehemalige Provinzgerichtsbarkeit in der Stadt Buenos Aires, die, als Buenos Aires Bundeshauptstadt wurde, übernommen wurde und bis heute selbständig weiterbesteht. Sie ist nach heute ganz herrschender Meinung der Bundes gerichtsbarkeit zuzurechnen (siehe dazu schon oben 3. Kapitel, B. II. 1. m. w. N.), weshalb das Organisationsgesetz aus dem Jahre 1998 auch die dort tätigen Staatsanwälte umfasst. 747 Art. 120 CN: „[El Ministerio Público] Está integrado por un procurador general de la Nación […] y los demás miembros que la ley establezca.“ Also etwa: „Das Ministerio Público wird gebildet aus einem procurador general de la Nación […] und den weiteren Angehörigen, welche das einfache Gesetz bestimmt.“ (Übers. des Verf.)
A. Bundesstrafverfahrensordnung von 1992 und ihre Weiterentwicklung
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aus.748 Das erst im Jahre 1998 erlassene Gesetz zur Organisation des Ministerio Público, im Folgenden kurz ley org.MP (1998) genannt, schließlich regelt die Hierarchie innerhalb der Staatsanwaltschaft ausführlich. Es modifiziert die im CPPN (1992) verwandten Amtsbezeichnungen, orientiert sich im Übrigen aber ebenfalls am gerichtlichen Instanzenzug, indem den jeweiligen Gerichten spiegel bildlich ein entsprechender Amtsträger der Staatsanwaltschaft zugeordnet wird.749 An der Spitze des nach Art. 2 ley org.MP (1998) als Ministerio Público Fiscal bezeichneten Anklagezweigs des Ministerio Público steht der schon in der Verfas sung erwähnte Procurador General de la Nación, Art. 3 a), 33 ley org.MP (1998). Aus dem äußerst umfangreichen Katalog seiner Zuständigkeiten in Art. 33 ley org. MP (1998) sind hervorzuheben die Vertretung der Anklage in Verfahren vor dem Obersten Gerichtshof, Art. 33 a), b), v) ley org.MP (1998), die Aufsichts- und Lei tungsfunktion gegenüber den untergeordneten Staatsanwälten nach Art. 33 b), d), g), ll), m) ley org.MP (1998), die Vertretung des Ministerio Público Fiscal in sei nen Beziehungen zu anderen Staatsorganen, Art. 33 j), k), l), ñ), s) ley org.MP (1998), sowie die Festlegung der kriminalpolitischen Richtung der Strafverfol gung, Art. 33 e) ley org.MP (1998). Zur Erfüllung seiner Aufgaben bedient er sich der in der Procuración General de la Nación, Art. 34 ley org.MP (1998), zusam mengefassten Mitarbeiter, insbesondere der sog. Procuradores Fiscales ante la Corte Suprema, denen er die Anklagevertretung vor dem Obersten Gerichtshof übertragen kann, Art. 33 f), 35 ley org.MP (1998). Als nächstes zu nennen sind die sog. Fiscales Generales, Art. 37 ley org.MP (1998). Ihnen wird von Fiscales Generales Adjuntos, Art. 38 ley org.MP (1998), zugearbeitet, denen sie ihre Aufgaben im Einzelfall auch vollständig übertragen können, wenn dies notwendig ist, Art. 38 a) ley org.MP (1998). Die Staatsanwälte, die jeweils den drei unterhalb des Obersten Gerichtshofs liegenden Gerichtsstu fen zugeordnet sind, haben alle den Rang eines Fiscal General inne.750 Die Fis kale vor dem für die wenigen Möglichkeiten der Anfechtung eines erstinstanz lichen Urteils zuständigen nationalen Kassationsgerichtshof, Cámara Nacional de Casación Penal, werden nur in zweiter Instanz tätig und stehen daher trotz ih res gleichlautenden Titels in der Hierarchie über den weiteren Fiscales Generales. 748 Vgl. Art. 66 CPPN (1992), der ausdrücklich auf das bis dahin noch gar nicht erlassene Ge setz verweist: „[…] en la forma en que lo disponga la ley orgánica del Ministerio Público.“ 749 Vgl. dazu Quiroga Lavié/Benedetti/Cenicacelaya, Derecho Constitucional Argentino Bd. 2, S. 1228, wo zudem noch darauf verwiesen wird, dass die Amtsträger der Staatsanwalt schaft im ersten Abschnitt des Gesetzes als „magistrados“ bezeichnet werden, eine Bezeich nung für höhere Justizbeamte, die auch die Richterschaft umfasst. 750 Dies liegt an den Veränderungen, welche die Verfahrensstruktur mit der Einführung des eininstanzlichen mündlichen Strafverfahrens durch den CPPN (1992) erfuhr, siehe dazu schon oben. Sie wurden mit Bundesgesetz Nr. 24.050 vom 07.01.1992 verwirklicht. Die ehemaligen zweitinstanzlichen Berufungsgerichte, die auf den ersten Blick irreführenderweise immer noch cámaras de apelaciones heißen, sind danach aufgrund der einschneidenden Beschränkung der Rechtsmittelmöglichkeiten nur noch für Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Unter suchungsrichters zuständig.
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5. Kap.: Formaler Anklagegrundsatz in der Krise und ein eigener Weg
Dies sind die Staatsanwälte vor den Tribunales orales federales, also den Tribuna len der mündlichen Hauptverhandlung, sowie vor den Appellationsgerichtshöfen, Cámaras Federales de Apelación, die über im Vorverfahren eingelegte Rechts mittel entscheiden. Sie sind hierarchisch auf einer Ebene angesiedelt. Die Be zeichnungen in der Bundesstrafverfahrensordnung von 1992 sind demnach über holt. Überträgt man sie, bezieht sich Art. 66 CPPN (1992), der von den Fiscales de Cámara spricht, auf die Fiscales Generales am Kassations- und an den Appel lationsgerichtshöfen, während Art. 67 CPPN (1992), der von Fiscales del Tribunal de juicio ausgeht, auf die Fiscales Generales vor dem Gericht der Hauptverhand lung anwendbar ist.751 Die Aufgaben der Fiscales Generales sind in Art. 37 ley org. MP (1998) festgeschrieben, zu nennen sind hier vor allem die Vertretung der An klage vor dem ihnen zugewiesenen Gericht nach Art. 37 a) ley org.MP (1998) so wie die Aufsicht über die untergeordneten Staatsanwälte nach Art. 37 i) ley org. MP (1998). Weiterhin existieren Fiscales ante los jueces de primera instancia, Art. 39 f. ley org.MP (1998), die ihrerseits wieder über Fiscales Auxiliares genannte Hilfs kräfte verfügen, Art. 42 ley org.MP (1998). Anders als ihre Bezeichnung als „Staatsanwälte vor den Richtern der ersten Instanz“ auf den ersten Blick vermu ten lässt, vertreten sie grundsätzlich nicht die Anklage im Hauptverfahren, sondern sind lediglich im Ermittlungsverfahren tätig.752 Dies hängt damit zusammen, dass nach Art. 33 CPPN (1992) die Bundesrichter der ersten Instanz im Strafverfahren die Rolle des Untersuchungsrichters übernehmen.753 2. Die interne Struktur der Bundesstaatsanwaltschaft nach dem ley org.MP (1998)
Zu untersuchen ist, ob die oben aufgelisteten Amtsträger auch eine ihren Pen dants auf Richterseite vergleichbare Unabhängigkeit gegenüber den Staatsanwäl ten an den höheren Instanzen genießen oder ob sie nicht vielmehr in eine hier 751
Vgl. Navarro/Daray, CPPN Bd. 1, S. 249 f., 253. Ausnahmsweise kann der für das Hauptverfahren zuständige Fiskal die Anklagevertre tung aber an den Staatsanwalt des Ermittlungsverfahrens abgeben, wenn es sich um einen be sonders komplexen Sachverhalt handelt, eine grundsätzliche Meinungsverschiedenheit zur An klage zwischen ihnen besteht oder Letzterer selbst die Ermittlungen durchgeführt hat, Art. 67 Nr. 1–3 CPPN (1992). 753 Die ohnehin schon aufgrund ihres föderalen Charakters recht unübersichtliche Justizstruk tur Argentiniens ist durch die Veränderungen, welche mit der Einführung des eininstanzlichen Verfahrens durch den CPPN (1992) nötig wurden, weiter verkompliziert worden, was sich auch in der Organisation der Bundesstaatsanwaltschaft widerspiegelt. Vereinfacht zusammengefasst lässt sich festhalten, dass die erste und zweite Instanz der Bundesgerichte im Strafverfahren nur auf Ermittlungsebene tätig wird und daneben das Gericht der mündlichen Hauptverhandlung und der Kassationsgerichtshof getreten sind. Daraus erklären sich die Benennung des Ermitt lungsstaatsanwalts sowie die Tatsache, dass die Staatsanwälte am Appellationsgerichtshof und am Gericht des Hauptverfahrens intern auf der gleichen hierarchischen Ebene stehen. 752
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archische, eher exekutivische Struktur eingebunden sind, um ihre einheitliche Amtsführung zu gewährleisten. Die reformierte Bundesverfassung spricht in Art. 120 CN vom Ministerio Público als „unabhängiges Organ“754. Hier ist jedoch zwischen innerer und äußerer Unabhängigkeit zu unterscheiden.755 Die Formulie rung der Verfassungsvorschrift zeigt, dass sich die Unabhängigkeitsgarantie auf das Ministerio Público als Ganzes im Verfassungsgefüge, also auf seine äußere Unabhängigkeit, bezieht.756 Daraus lässt sich allerdings noch nicht darauf schlie ßen, dass er auch innerhalb der Behörde von seinen Vorgesetzten unabhängig ist. Zwar ist es naheliegend, den einzelnen Staatsanwalt zur Sicherung seiner Objek tivität nicht nur von äußeren, sondern auch von inneren Einflüssen abzukoppeln, es ist aber keineswegs zwingend. Genauso ist es denkbar, eine keiner der Staatsge walten vollständig unterworfene Staatsanwaltschaft nach innen streng hierarchisch durchzustrukturieren.757 Die Verfassung lässt demnach beide Möglichkeiten offen. Auch die Bundesstrafverfahrensordnung von 1992 regelt diese Frage nicht. Eine klare Antwort scheint sich dagegen im Organisationsgesetz aus dem Jahre 1998 zu finden. Nach Art. 1 Abs. 2 dieses Gesetzes übt die Staatsanwaltschaft ihre Tä tigkeit einheitlich aus758 und nach Abs. 4 derselben Vorschrift besitzt sie eine hier archische Struktur, welche verlangt, dass jeder Staatsanwalt die Amtsführung der untergeordneten Amtsträger kontrolliert.759 Danach ist also ganz deutlich eine ein heitliche Amtsführung der Staatsanwaltschaft gewollt, welche durch ihre hierar chische Organisation ermöglicht werden soll. Bei den zitierten Vorschriften han delt es sich zunächst jedoch bloß um allgemeine Zielvorgaben, entscheidend ist, inwieweit sie durch konkrete Befugnisse der Vorgesetzten innerhalb der Staats anwaltschaft umgesetzt sind. Weisungsbefugnisse überträgt das Organisationsgesetz dem Procurador General de la Nación in Art. 33 d), ll) ley org.MP (1998) sowie den Fiscales Generales im auf die vorgenannten Vorschriften verweisenden Art. 37 i) ley org.MP (1998). Nach dem Wortlaut von Art. 33 d) als auch 33 ll) ley org.MP (1998), die jeweils von „instrucciones generales“ sprechen, sind davon aber nur Weisungen zur allge meinen Amtsführung umfasst, nicht jedoch solche zu konkreten Verfahrenssitua tionen. Darauf, dass es sich dabei nicht um eine unbeabsichtigte Auslassung des Gesetzgebers handelt, weisen schon die gleichlautenden Formulierungen des Art. 27 ley org.MP (1998) und des Art. 31 Abs. 3 ley org.MP (1998) hin, wonach die Exekutive den Erlass von „instrucciones generales“ vorschlagen kann bzw. die untergeordneten Fiskale an „instrucciones generales“ gebunden sind. Noch 754
„El Ministerio Público es un órgano independiente […].“ Vgl. Sáenz, La Ley 1995-D, S. 1081 ff. (1082). 756 In diesem Sinne auch der letzte Teil des Satzes, „ […] en coordinación con los demás autoridades de la República.“, wonach das Ministerio Público also sein Amt unabhängig „in Koordination mit den anderen Staatsgewalten“ (Übers. d. Verf.) ausübt. 757 Vgl. Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 2, S. 330. 758 „Ejerce sus funciones con unidad de actuación […].“ 759 „Posee una organización jerárquica la cual exige que cada miembro del Ministerio Público controle el desempeño de los inferiores […].“ 755
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5. Kap.: Formaler Anklagegrundsatz in der Krise und ein eigener Weg
deutlicher hingegen zeigt es sich an Art. 51 c) ley org.MP (1998), wo im Gegen satz dazu dem Oberhaupt der staatlichen Strafverteidiger, dem Defensor General de la Nación, die Befugnis zum Erlass von „instrucciones generales o particulares“, also generellen oder konkreten Weisungen zugesprochen wird. Zusätzlich be stätigt wird die These, wonach der Gesetzgeber den Staatsanwälten ausdrücklich nur die Befugnis zu allgemeinen Weisungen zubilligen wollte, durch die Materia lien zum Gesetzgebungsverfahren, aus denen interessanterweise hervorgeht, dass einem Vorschlag der Exekutive, auch konkrete Weisungen in den Gesetzestext ein zubeziehen, vehementer Widerstand entgegengesetzt wurde. Dieser speiste sich aus der Besorgnis, die vollziehende Gewalt könne dann doch wieder über ein poli tisch von ihr abhängiges Oberhaupt der Staatsanwaltschaft erheblichen Einfluss auf den Strafprozess gewinnen.760 Bezüglich der Kontrolle der Rechtmäßigkeit der erteilten Weisungen ist das vor liegende Gesetz, anders als etwa noch der oben besprochene Vorentwurf Maier761, sehr knapp gefasst. Nach Art. 31 Abs. 2 ley org.MP (1998) hat ein Staatsanwalt, der eine seiner Ansicht nach unrechtmäßige Weisung erhält, dem Vorgesetzten, der die Weisung erteilt hat, die Gründe für die Rechtswidrigkeit der Weisung zur Kenntnis zu bringen. Auch wenn das Gesetz hierzu schweigt, spricht das Bedürf nis der Rekonstruierbarkeit und Kontrollierbarkeit dafür, dass sowohl die Weisung als auch der Bericht des untergeordneten Staatsanwalts stets schriftlich abzufas sen sind.762 Zieht der Vorgesetzte seine Weisung dennoch nicht zurück, stellt sich die Frage, inwieweit nach wie vor eine Gehorsamspflicht besteht. Art. 31 Abs. 3 ley org.MP (1998) bestimmt dazu, dass der Untergebene in Eilfällen eine nach der Weisung gebotene Prozesshandlung im Namen des Vorgesetzten durchführt, d. h. seine Gehorsamspflicht besteht fort. Er persönlich kann dafür nicht rechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Bezieht sich die Weisung umgekehrt auf das Un terlassen einer Prozesshandlung und führt der Staatsanwalt sie dennoch durch, be stimmt sich seine Verantwortung wie auch in allen anderen Fällen nach allgemei nen straf- und verwaltungsrechtlichen Grundsätzen.763 Grundsätzlich bleibt aber anzumerken, dass das Problem der unrechtmäßigen Weisung ohnehin schon da durch weitgehend entschärft ist, dass den staatlichen Anklägern sowohl die Befug nis zu konkreten Weisungen versagt ist als auch die Möglichkeit, sie mittels einer Substitution eines sich widersetzenden Amtsträgers durchzusetzen. Devolutions- oder Substitutionsbefugnisse der vorgesetzten Staatsanwälte fin den sich im Organisationsgesetz von 1998 nämlich ebenfalls nicht. Um auf beson 760
Vgl. dazu Becerra, Ministerio Público Fiscal, S. 99 ff. m. w. N. Siehe dazu oben 4. Kapitel, B. II. 2. 762 Huarte Petite, Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 11 (2003), S. 25 ff. (43); Báez, La Ley 2004-C, S. 1199 ff. (1203). 763 Die Erörterung dieser Grundsätze geht über den Rahmen der vorliegenden Arbeit hinaus. Hier sei lediglich kurz angemerkt, dass wohl auf die Offenkundigkeit der Rechtswidrigkeit ab zustellen ist. Vgl. dazu auch Báez, La Ley 2004-C, S. 1199 ff. (1204 f.) m. w. N.; Becerra, Mi nisterio Público Fiscal, S. 109 ff. 761
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dere Anforderungen eines bestimmten Verfahrens zu reagieren, steht dem Procurador General de la Nación lediglich die Möglichkeit des Art. 33 g) ley org.MP (1998) zur Verfügung, dem von vornherein zuständigen Staatsanwalt weitere Fis kale zur Unterstützung beizustellen. Das Oberhaupt der Anklagebehörde kann da bei nicht frei jeden Amtsträger heranziehen, sondern ist an die sachliche und ört liche Kompetenzverteilung gebunden. Zudem bleibt der ursprünglich zuständige Fiskal als Leiter der Arbeitsgruppe entscheidungsbefugt. Diese Einschränkungen machen deutlich, dass der Gesetzgeber bewusst verhindern wollte, dass der vor gesetzte Staatsanwalt sich über die grundsätzliche Kompetenzverteilung hinweg setzen und bestimmte Amtsträger von einem Verfahren abziehen kann. Auch hier wird dieses Ergebnis durch die Materialien zum Gesetzgebungsverfahren bestä tigt, wo dem Procurador General de la Nación nach der Vorstellung der vollzie henden Gewalt eine Devolutions- als auch Substitutionsbefugnis zugesprochen werden sollte, was jedoch wiederum strikt abgelehnt wurde, um jegliche Einfluss möglichkeiten der Exekutive auf die konkrete Aufgabenzuteilung innerhalb der Staatsanwaltschaft zu vermeiden.764 Davon zu unterscheiden ist die dem Procurador General de la Nación zustehende Befugnis, a priori eine abstrakte Aufgaben verteilung vorzunehmen, also bspw. für bestimmte Verfahrenstypen spezielle Ab teilungen in seiner Behörde zu bilden, Art. 33 e), ll), n) ley org.MP (1998). Hier ebenfalls kurz erwähnt werden soll der Sonderfall des Art. 67 CPPN (1992), wo nach der für das Hauptverfahren zuständige Fiskal den Ermittlungsstaatsanwalt unter bestimmten Voraussetzungen dazu heranziehen kann, auch die Anklagever tretung im Hauptverfahren zu übernehmen. Dabei handelt es sich aber um keine Substitution im obengenannten Sinne, da der untergeordnete Amtsträger ja nicht aus dem Verfahren abgezogen wird, sondern seine Aufgaben gerade erweitert wer den.765 Es bleibt damit bei dem Ergebnis, dass den vorgesetzten Staatsanwälten keinerlei Devolutions- oder Substitutionsbefugnisse zustehen. Angesichts dessen, dass die vorgesetzten Staatsanwälte ihren Untergebenen we der Weisungen mit konkretem Bezug erteilen können, noch die Möglichkeit ha ben, sie aus bestimmten Verfahren abzuziehen, stellt sich die Frage, inwieweit überhaupt von einer hierarchischen Struktur und einer einheitlichen Amtsaus übung des Ministerio Público Fiscal gesprochen werden kann. Maier kritisiert, das Organisationsgesetz von 1998 habe es nicht geschafft, die Tradition der rich terähnlichen Unabhängigkeit auch innerhalb des Ministerio Público zu durch brechen. Das Gesetz postuliere zwar eine hierarchische Struktur, gebe den über geordneten Staatsanwälten aber keine ausreichenden Mittel in die Hand, um eine solche auch tatsächlich zu etablieren.766 Andere Autoren führen demgegenüber an, es sei keine Situation denkbar, in der eine Einzelweisung durch einen vorgesetz ten Staatsanwalt zulässig ist. Ob sie auf die Aussetzung oder auf die Intensivierung 764
Siehe auch hier die Zitate bei Becerra, Ministerio Público Fiscal, S. 103 ff. m. w. N. Becerra, Ministerio Público Fiscal, S. 106 f., spricht von einer „Selbst-Substitution“ (Übers. d. Verf.) des vorgesetzten Staatsanwalts. 766 Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 2, S. 359. 765
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5. Kap.: Formaler Anklagegrundsatz in der Krise und ein eigener Weg
der Strafverfolgung ziele, in jedem Falle verletze sie den in Art. 120 CN sowie in Art. 71 des argentinischen Strafgesetzbuches verankerten Legalitätsgrundsatz, wo nach die Strafverfolgung gleichmäßig und nur auf dem Gesetz basierend durch zuführen ist.767 Auch die Devolutions- und Substitutionsbefugnis wird als unnötig angesehen, die allgemeine Weisungsbefugnis sei geeignet und ausreichend, um eine einheitliche Amtsführung der Staatsanwaltschaft sicherzustellen.768 Die Lösung des Konfliktes zwischen einheitlicher Amtsführung der Staatsan waltschaft einerseits und Absicherung ihrer Objektivität andererseits dahingehend, dass den höheren Dienstgraden die Befugnis zu generellen Weisungen zugestan den wird, die zu Einzelweisungen oder einer Ersetzung des untergeordneten Amts trägers ihnen aber versagt bleibt, überzeugt nicht. Allgemeine Weisungen dienen lediglich dazu, dem untergeordneten Staatsanwalt einen Handlungsspielraum ab zustecken, innerhalb dessen er sich nach wie vor frei bewegen kann. Sie sind auf grund ihrer Abstraktheit nicht dazu geeignet, auf eine konkrete Überschreitung dieses Spielraums zu reagieren. Auch allgemeine straf- und disziplinarrechtliche Konsequenzen769 bei einem solchen Fehlverhalten sind nicht ausreichend, da sie erst nachträglich greifen und aufgrund ihrer Umständlichkeit praktisch kaum eine Rolle spielen. Es besteht daher ein Bedürfnis, den vorgesetzten Staatsanwälten in derartigen Fällen Einwirkungsmöglichkeiten zuzugestehen, um unmittelbar korri gierend eingreifen zu können. Sáenz gibt in diesem Sinne treffend als Ziel vor, ein Gleichgewicht zwischen allgemeinen Weisungen zur Absteckung eines allgemei nen Handlungsspielraums und konkreten Weisungen als Korrektiv im Einzelfall zu erreichen.770 Die oben aufgeführten Autoren haben dennoch natürlich Recht, dass durchaus die Gefahr des Missbrauchs dahingehend besteht, dass bestimmte Wei sungen auch dann erteilt werden, wenn sich die Weisungsempfänger noch inner halb ihres Beurteilungsspielraums bewegen. Dem ist durch entsprechende Kon trollmöglichkeiten entgegenzuwirken. Konkrete Eingriffsbefugnisse der vorgesetzten Staatsanwälte in die Amtsfüh rung der ihnen untergeordneten Fiskale sind also im Ergebnis für eine gleich mäßige Strafverfolgung erforderlich und lassen sich auch mit der staatsanwalt lichen Objektivitätsverpflichtung vereinbaren. Im Organisationsgesetz von 1998 fehlt dagegen praktisch jede Hierarchie zwischen den einzelnen Staatsanwälten. Sie genießen untereinander eine fast richtergleiche Unabhängigkeit, die ihrer An klagefunktion nicht gerecht wird.
767
Huarte Petite, Revista del Ministerio Público Fiscal 11 (2003), S. 25 ff. (39 f.); Báez, La Ley 2004-C, S. 1199 ff. (1203 f.). 768 Vgl. Becerra, Ministerio Público Fiscal, S. 113. 769 Auf sie verweist Huarte Petite, Revista del Ministerio Público Fiscal 11 (2003), S. 25 ff. (39). 770 Sáenz, La Ley 1995-D, S. 1081 ff. (1082 f.).
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3. Die Stellung der Bundesstaatsanwaltschaft im Staatsgefüge als Ganzes nach Art. 120 CN sowie dem ley org.MP (1998)
Die Unabhängigkeit des Ministerio Público Fiscal nach außen hin, also gegen über den anderen Staatsorganen, ist seit der Verfassungsreform von 1994 in Art. 120 CN festgeschrieben, wonach das Ministerio Público (dessen Anklagezweig das Ministerio Público Fiscal ist, s. o.) ein „unabhängiges Organ“ ist, das seine Funk tion „in Koordination mit den übrigen Staatsgewalten der Republik“ ausübt.771 In der argentinischen Literatur wird besonders betont, dass damit jegliche Weisun gen der Exekutive an die Staatsanwaltschaft ausscheiden müssen772, und tatsäch lich scheint dies auch der wesentliche Gedanke der Urheber der Verfassungsvor schrift gewesen zu sein.773 Der obengenannte Wortlaut des Art. 120 CN ist jedoch deutlich umfassender, zudem findet sich Art. 120 CN innerhalb des Titels zu den Staatsorganen des Bundes in einem vierten Abschnitt, der eigenständig neben den vorherigen Abschnitten zu den drei klassischen Staatsgewalten steht. Demnach be zieht sich die äußere Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft nicht speziell auf die vollziehende Gewalt, sondern gilt gegenüber allen drei Staatsgewalten, also auch gegenüber Legislative und Judikative.774 Dies bedeutet allerdings nicht, dass die übrigen Staatsorgane keinerlei Einwirkungsmöglichkeiten haben, damit würde ge gen den Grundgedanken der Gewaltenteilung verstoßen, wonach kein Staatsorgan nur seiner Eigenkontrolle unterliegen darf.775 Hier ist der zweite Teil der Vorschrift heranzuziehen, wonach das Ministerio Público seine Funktion „in Koordination mit den anderen Staatsgewalten“ ausübt. Diese Formulierung impliziert, dass sehr 771
Der volle Wortlaut des mit „Del Ministerio Público“ überschriebenen Art. 120 CN lautet wie folgt: „El Ministerio Público es un órgano independiente con autonomía funcional y autarquía financiera, que tiene por función promover la actuación de la justicia en defensa de la lega lidad, de los intereses generales de la sociedad, en coordinación con las demás autoridades de la República. Está integrado por un procurador general de la Nación y un defensor general de la Nación y los demás miembros que la ley establezca. Sus miembros gozan de immunidades funcionales e intangibilidad de remuneraciones.“ 772 Vgl. unter anderem Coussirat, in: Instituto Argentino de Estudios Constitucionales (Hrsg.), Derecho Constitucional Bd. 2, S. 315; Ortiz Pellegrini, Doctrina Judicial 1997-2, S. 1067 ff. (1068); Sáenz, La Ley 1995-D, S. 1081 ff. (1083). 773 Siehe Quiroga Lavié, in: Rosatti u. a., Reforma, S. 279 f. sowie die Ausführungen zur Ent stehungsgeschichte der Vorschrift oben 5. Kapitel, A. I., wonach die Staatsanwaltschaft ur sprünglich sogar der Judikative zugesprochen werden sollte. 774 Masnatta, La Ley 1994-E, S. 878 ff. (879). Deswegen hat Coussirat, in: Instituto Argen tino de Estudios Constitucionales (Hrsg.), Derecho Constitucional Bd. 2, S. 313 ff. Unrecht, wenn er meint, die Positionen, welche die Staatsanwaltschaft der Judikative zuordnen bzw. sie als außerhalb der Gewaltenteilung stehendes Organ ansehen, ließen sich zusammenfassen, weil beide die Unabhängigkeit von der Exekutive propagierten. Letztere Ansicht beinhaltet eben richtigerweise eine Unabhängigkeit auch von der Judikative. 775 Becerra, Ministerio Público Fiscal, S. 73 f.; Apesteguia, La Ley 1997-C, S. 1426 ff. (1426); Sáenz, La Ley 1995-D, S. 1081 ff. (1083).
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5. Kap.: Formaler Anklagegrundsatz in der Krise und ein eigener Weg
wohl Verbindungen zu den anderen Staatsgewalten bestehen, allerdings auf Augen höhe, ohne dass sich die Staatsanwaltschaft einer der Gewalten insgesamt unter wirft.776 Die Unabhängigkeitsgarantie ist demnach dahingehend zu verstehen, dass die Staatsanwaltschaft mit den übrigen Staatsgewalten auf gleicher Ebene im ver fassungsmäßigen System von checks und balances verbunden ist. Durchaus proble matisch kann dabei im Einzelfall sein, ob eine bestimmte Einwirkungsmöglichkeit eines außerhalb der Staatsanwaltschaft stehenden Amtsträgers die staatsanwaltliche Unabhängigkeit verletzt oder noch vom Kontrollgedanken gedeckt ist. Als Leitlinie lässt sich die bereits in anderem Kontext erwähnte Kernbereichstheorie777 heran ziehen. Danach sind Eingriffe in den Kernbereich der staatsanwaltlichen Tätigkeit, also solche, die direkten Einfluss auf die staatliche Anklage ermöglichen, unzu lässig. Verfassungswidrig ist es danach, einer Staatsgewalt alleinig die Ernennung und Absetzung der staatsanwaltlichen Amtsträger zu übertragen, weil dadurch ein Druckmittel zur politischen Einflussnahme auf ihre Amtsführung geschaffen wird. Genauso verfassungswidrig ist es, einem außerhalb der Staatsanwaltschaft stehen den Staatsorgan Befugnisse zu allgemeinen oder speziellen Weisungen zuzubilli gen, mit denen das staatsanwaltliche Prozessverhalten gesteuert werden kann. Aus diesem Grunde verstößt Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992), wonach der Appellations gerichtshof die Staatsanwaltschaft gegen ihren Willen zur Anklageerhebung an weisen kann, gegen Art. 120 der Verfassung und ist unanwendbar.778 Die argenti nische Verfassung stellt damit Grenzen auf, überlässt dem einfachen Gesetzgeber aber innerhalb dieser Grenzen einen Spielraum zur organisatorischen Ausgestal tung der Staatsanwaltschaft. Konkrete Vorschriften zur Ernennung oder Entlassung der Staatsanwälte sowie zur Frage der externen Weisungen finden sich nicht. Die Befürchtungen einiger argentinischer Autoren, dass die diesbezügliche Zurückhal tung des Verfassungstextes zu einem Unterlaufen des Unabhängigkeitsgebots durch Ernennungs-, Entlassungs- und/oder Weisungsbefugnisse der Exekutive führen könnte, bewahrheiteten sich dabei im Organisationsgesetz von 1998 nicht.779 Der Procurador General de la Nación wird zwar durch die Exekutive ernannt. Der Senat muss der Ernennung aber mit zwei Dritteln seiner anwesenden Mitglie der zustimmen. Das Oberhaupt des Ministerio Público Fiscal ist grundsätzlich un absetzbar, Art. 13 ley org.MP (1998). Seine vorzeitige Ablösung aufgrund eines Fehlverhaltens ist nur im Wege des politischen Prozesses möglich, Art. 18 Abs. 1 ley org.MP (1998) i. V. m. Art. 53, 59 CN.780 776
Huarte Petite, in: Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 11 (2003), S.25 ff. ( 32). Vgl. dazu schon die Ausführungen oben 4. Kapitel, B. III. 1. 778 Siehe dazu die ausführliche Erörterung m. w. N. unten 5. Kapitel, A. III. 1. e). 779 Vgl. Coussirat, in: Instituto Argentina de Estudios Constitucionales (Hrsg.), Derecho Con stitucional Bd. 2, S. 323 ff. m. w. N.; Zárate, Semanarios Jurídicos 1996-B, S. 57 ff. ( 61 f.). An gesichts der früheren Erfahrungen bezüglich der Einflussnahme der Exekutive auf die Staatsan waltschaft, vgl. 3. Kapitel, B. II. 4., waren diese Befürchtungen dennoch keineswegs abwegig. 780 Dieses zur Amtsenthebung von Verfassungsorganen vorgesehene Verfahren wird von der Legislative durchgeführt, das Abgeordnetenhaus führt die Anklage und der Senat spricht das Urteil, Art. 53, 59, 60 CN. Siehe dazu auch schon oben 4. Kapitel, B. II. 3. 777
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Die übrigen Staatsanwälte werden von der Exekutive aus einer vom Procurador General de la Nación präsentierten Vorschlagsliste ausgewählt. Zu ihrer Ernen nung genügt die Zustimmung der einfachen Mehrheit der bei der Abstimmung an wesenden Mitglieder des Senats, Art. 5 ley org.MP (1998). Auch sie genießen die Garantie der Unabsetzbarkeit nach Art. 13 ley org.MP (1998). Ihre Amtsenthebung erfolgt mittels des Verfahrens vor einem besonderen, aus der Judikative ausgeglie derten Gericht, Art. 19 f. ley org.MP (1998).781 Über leichtere Disziplinarmaßnah men kann der Procurador General de la Nación selbständig entscheiden, Art. 16 ley org.MP (1998). Externe Weisungen an Mitglieder des Ministerio Público durch außerhalb der Behörde stehende Staatsorgane werden durch Art. 1 Abs. 2 ley org.MP (1998) aus drücklich ausgeschlossen. Die Vorschrift wiederholt die Verfassungsvorgabe, dass das Ministerio Público in Koordination mit den anderen Staatsgewalten agiert, stellt jedoch klar, dass solche Weisungen von dieser „Koordination“ eben gerade nicht erfasst sind. Davon unbeschadet kann die Exekutive zur Angleichung der Strafverfolgung an die von ihr verfolgte kriminalpolitische Richtung dem Procurador General de la Nación den Erlass bestimmter genereller Weisungen vorschla gen, Art. 27 ley org.MP (1998). Die Einflussmöglichkeiten der vollziehenden Gewalt auf die Staatsanwaltschaft sind damit insgesamt sehr gering. Der Staatspräsident ernennt die Amtsträger der Staatsanwaltschaft, wird dabei aber durch die Legislative kontrolliert und kann abgesehen vom Procurador General de la Nación nur aus den Vorschlägen aus wählen, die ihm vom Oberhaupt der Anklagebehörde vorgelegt werden. Kontrol len durch die Exekutive, um die Anklagetätigkeit mit der allgemeinen staatlichen Kriminalpolitik in Einklang zu bringen, existieren nicht, ihr steht lediglich ein nicht bindendes Vorschlagsrecht zur Verfügung. Demnach lässt sich festhalten, dass eine Einordnung der Staatsanwaltschaft als Exekutivorgan angesichts der nur sehr schwach ausgeprägten Verbindungen von vornherein ausscheidet. Auch die Verbindungen zur Judikative wurden im Vergleich zur bis dahin be stehenden Organisationsstruktur eingeschränkt. Die Staatsanwaltschaft unterliegt nicht mehr der richterlichen Disziplinargewalt, Verfehlungen werden jetzt behör denintern geahndet. Das Verbot von Weisungen an den staatlichen Ankläger durch außerhalb der Behörde stehende Staatsorgane aus Art. 1 Abs. 2 ley org.MP (1998) betrifft auch das Gericht und wirkt sich direkt nicht nur auf organisationsrecht 781
Die sieben Richter dieses Gerichts setzen sich aus drei ehemaligen Richtern des Obers ten Gerichtshofs bzw. ehemaligen Procuradores oder Defensores Generales de la Nación, zwei Anwälten mit wenigstens zwanzig Jahren Berufserfahrung sowie zwei von den Oberhäup tern des Ministerio Público ausgewählten Mitgliedern der Behörde zusammen, Art. 19 Abs. 1 ley org.MP (1998). Als Ankläger agiert ein speziell zugewiesener Staatsanwalt, der mindestens den Rang eines Fiscal General bekleidet, Art. 19 Abs. 4 ley org.MP (1998). Die Verfahrens ordnung wird nach Art. 20 c) ley org.MP (1998) von Procurador und Defensor General de la Nación erlassen, einige Grundsätze legt die Vorschrift jedoch selber fest. So muss es sich um ein öffentliches, mündliches und kontradiktorisches Verfahren handeln.
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5. Kap.: Formaler Anklagegrundsatz in der Krise und ein eigener Weg
licher Ebene, sondern auch auf die verfahrensrechtlichen Beziehungen zwischen Fiskal und Gericht aus. Die Abgrenzung der Staatsanwaltschaft von der recht sprechenden Gewalt ist aber trotzdem keineswegs eindeutig. Die grundlegende Schwierigkeit besteht darin, dass die freie, nicht von Dritten beeinflussbare Mei nungsbildung des Staatsanwalts noch nicht per se gegen eine Einordnung in die Judikative spricht. Genauso wie der Staatsanwalt ist auch der Richter von direk ten Weisungen durch ein anderes Judikativorgan völlig unabhängig, das ist es ge rade, was ihn in seiner Richtereigenschaft auszeichnet. Angesichts dessen, dass es besonderes Merkmal der Judikativorgane ist, dass sie nicht nur gegenüber den an deren Staatsgewalten, sondern auch untereinander eine weitgehende Autonomie genießen, fragt es sich, worin sich die Organisation einer außerhalb der Gewalten stehenden Staatsanwaltschaft von der einer der Judikative angehörigen Anklage behörde unterscheidet. Hier lassen sich die Ergebnisse der Untersuchung der Judi kativstellung der Staatsanwaltschaft in der Provinz Córdoba heranziehen. Danach wird dem fundamental anderen Charakter der Anklage gegenüber dem Urteil und der Notwendigkeit ihrer Trennung unzureichend Rechnung getragen, wenn die Staatsanwaltschaft wie das Gericht der Judikative zugeordnet ist.782 Demnach geht die Unabhängigkeitsgarantie nach Art. 120 CN, Art. 1 Abs. 1 ley org.MP (1998), welche auch die staatsanwaltliche Autonomie gegenüber der rechtsprechenden Gewalt verlangt, weiter als die ohnehin schon jedem Judikativorgan zugebilligte Unabhängigkeit. Anders gesagt, die Unabhängigkeit der staatlichen Ankläger innerhalb der Judikative ist nicht identisch mit einer Unabhängigkeit auch von der Judikative. Dies bedeutet, dass es zu ihrer Verwirklichung nicht genügt, dem Staatsanwalt Garantien zuzugestehen, die ihn dem Gericht angleichen. Die Nähe zur Judikative, die notwendig dadurch entsteht, dass dem Staatsanwalt eine rich terähnliche Stellung zugestanden wird, ist ganz im Gegenteil durch Maßnahmen auszugleichen, welche die Anklagebehörde organisatorisch von der rechtsprechen den Gewalt abkoppeln. Ein Schritt in die richtige Richtung in diesem Sinne ist die Herausnahme der Staatsanwaltschaft aus der justizinternen Disziplinargerichtsbar keit. Bedenklich ist hingegen die übrige strukturelle Angleichung an die Gerichte. Wie gezeigt sind die Staatsanwälte fest den jeweiligen gerichtlichen Instanzen zu geordnet und auch ihre interne Stellung entspricht weitgehend der eines Recht sprechungsorgans. Auch wenn man also eine echte Judikativstellung der Staatsan waltschaft verneint, ist sie zumindest eindeutig im Umfeld der rechtsprechenden Gewalt anzusiedeln, zu der sie weitaus engere Verbindungen aufrecht erhält als zu den übrigen Gewalten. Fraglich ist, ob damit schon ein Verstoß gegen das Unab hängigkeitsgebot des Art. 120 CN zu bejahen ist. Bedenkt man die besondere Be deutung der Trennung von Anklage- und Urteilsfunktion und liest in Art. 120 CN die Pflicht hinein, diese Trennung organisationsrechtlich deutlich abzusichern, könnte dies dafür sprechen, eine Verfassungswidrigkeit der entsprechenden Vor schriften des Organisationsgesetzes von 1998 anzunehmen. Der eher informelle Charakter der Verflechtungen lässt dies aber zweifelhaft erscheinen, zumal mit 782
Siehe dazu oben 4. Kapitel, A. II. 3.
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der Abschaffung des gerichtlichen Aufsichtsrechts und der Anwendung des Wei sungsverbots auch auf die Judikative jede Möglichkeit der direkten Einflussnahme durch die Gerichte auf organisatorischer Ebene ausgeschaltet wurde. Im Ergebnis ist die weitgehende strukturelle Angleichung der staatlichen Ankläger an die Ge richte in Bezug auf eine organisatorische Absicherung des Anklagegrundsatzes zwar ausgesprochen ungünstig, dürfte aber noch nicht ausreichen, um von einer Verletzung des Art. 120 CN auszugehen. Auch in einem anderen Punkt ist die Ausgestaltung des Ministerio Público Fiscal allerdings bereits aus verfassungsrechtlicher Sicht zumindest zweifelhaft. So wohl aus Art. 120 CN selbst als auch aus dem Gewaltenteilungsprinzip ergibt sich, dass die Abgrenzung der Staatsanwaltschaft von den anderen Gewalten nicht dazu führen darf, dass sie nur noch der Eigenkontrolle unterliegt. Die „Koordination“ des Ministerio Público Fiscal mit den übrigen Staatsgewalten hat jedoch keine allzu umfangreiche einfachgesetzliche Ausgestaltung erfahren. Dass die genann ten, sich aus ihrer parallelen Struktur ergebenden Verbindungen zwischen Staats anwaltschaft und Gerichten keine transparente und gleichmäßige rechtsstaatli che Kontrolle der Anklagebehörde darstellen, ist selbstverständlich. Nach Art. 23 ley org.MP (1998) soll das Ministerio Público mit der Exekutive über das Justiz ministerium in Kontakt treten und mit der Legislative über eine spezielle aus Kon gress- und Senatsmitgliedern zusammengesetzte Kommission, außerdem müssen Procurador und Defensor General de la Nación dem Kongress gemäß Art. 32 ley org.MP (1998) jährlich einen Arbeitsbericht ihrer Behörde vorlegen. Wie Ex ekutive und Legislative im Bedarfsfall aber konkret auf die Tätigkeit der Ankla gebehörde Einfluss nehmen sollen, bleibt abgesehen von dem nicht bindenden Vorschlagsrecht der vollziehenden Gewalt nach Art. 27 ley org.MP (1998) im Dunkeln. Es ist zu fragen, ob auf diese Weise noch sichergestellt werden kann, dass die, anders als die richterliche Urteilsfindung einer solchen Überprüfung von außen durchaus zugängliche783, Strafverfolgungstätigkeit der Staatsanwaltschaft noch einer ausreichenden demokratischen Kontrolle durch die anderen Gewalten unterliegt. Im Ergebnis sollte die Staatsanwaltschaft nach der neu eingefügten Verfassungs vorschrift des Art. 120 CN als eine Art „vierte Staatsgewalt“ nicht nur von der Ex ekutive, sondern auch von der Judikative unabhängig sein, ist faktisch aber durch das Organisationsgesetz aus dem Jahre 1998 stark an die Judikative angenähert worden. Durch diese den verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht gerecht werdende Umsetzung bestehen die aus der unzureichenden Abgrenzung von der Richter schaft resultierenden Probleme der Annäherung von Anklage- und Urteilsfunktion sowie der fehlenden Kontrollierbarkeit der staatsanwaltlichen Tätigkeit fort.
783 Vgl. zu dem insoweit bestehenden Unterschied zwischen der staatsanwaltlichen Tätigkeit und derjenigen des Richters schon die Ausführungen oben 4. Kapitel, A. II. 3.
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4. Zusammenfassung
Wie bereits zu dem den gescheiterten Entwurf Maier begleitenden Vorentwurf festgestellt, bedeutet allein schon die einheitliche Ausgestaltung der staatsanwalt lichen Organisation angesichts ihrer bisherigen Zerrissenheit auf Bundesebene einen großen Fortschritt. In diesem Sinne sind die Durchsetzung von Art. 120 der Bundesverfassung sowie des nachfolgenden Organisationsgesetzes von 1998 als politische Leistung zu würdigen. Inhaltlich offenbart die Reform der Organisation der Bundesstaatsanwaltschaft trotz der lobenden Reaktionen in Argentinien784 al lerdings erhebliche Schwächen. Dies betrifft weniger die Verfassungsvorschrift, welche lediglich gewisse Grenzen vorgibt, wonach die Staatsanwaltschaft keiner der drei klassischen Gewalten vollständig untergeordnet sein darf, als ihre einfach gesetzliche Umsetzung, in der sich die dem inquisitorischen Verfahrensverständnis entstammende Vorstellung vom Staatsanwalt als Organ mit rechtsprechungsähn lichen Aufgaben wiederfindet. Das Organisationsgesetz aus dem Jahre 1998 verbietet zwar neben Weisungen der vollziehenden Gewalt auch solche von Richterseite und entzieht der Gerichts barkeit die Disziplinarbefugnisse über die Staatsanwaltschaft, gestaltet die Ankla gebehörde im Übrigen aber wie ein Judikativorgan aus. Ihre Struktur orientiert sich am gerichtlichen Instanzenzug, wobei die den einzelnen Gerichten zugeord neten Ankläger untereinander weitgehend autonom agieren. Lediglich durch die Vorgabe allgemeiner Richtlinien können vorgesetzte Staatsanwälte einen gewis sen Einfluss auf die Fiskale an den unteren Instanzen ausüben. Effektive Kon trollmöglichkeiten von außen, d. h. durch die Exekutive oder Legislative, bestehen nicht. Die einfachgesetzliche Angleichung der Staatsanwälte an die ebenfalls in ihrer Entscheidungsfindung autonome Richterschaft ist folgerichtig, denn sie ent spricht durchaus der Zielrichtung der Verfassungsreform, deren vorrangiges Be streben es war, die Staatsanwaltschaft von der vollziehenden Gewalt fernzuhal ten.785 Sie verkennt aber, dass die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft nicht mit derjenigen innerhalb der Judikative identisch ist, sondern gerade auch gegenüber der rechtsprechenden Gewalt Bestand haben muss, um eine effektive, einheitliche Ausübung der Anklagefunktion und ihre Trennung von der Urteilsfunktion sicher zustellen.786
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Siehe dazu schon oben Fn. 745. Zu diesem Zweck sollte die Verfassungsreform ursprünglich auch die Zugehörigkeit der Staatsanwaltschaft zur Judikative festschreiben, wofür sich allerdings keine politische Mehr heit fand. Die Ausgestaltung als „vierte Staatsgewalt“ entsprang letztlich nur einem Kom promiss. Vgl. dazu oben 5. Kapitel, A. I. 786 Vgl. dazu auch schon oben 4. Kapitel, A. II. 3., 4. 785
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III. Die Stellung der Staatsanwaltschaft im Verfahren 1. Vorverfahren
Nach dem Willen des Gesetzgebers soll die Voruntersuchung im Strafverfah ren des CPPN (1992) nach wie vor grundsätzlich von einem Richter und nicht von einem Staatsanwalt durchgeführt werden. Dies hängt mit der tief in der argentini schen Rechtstradition verwurzelten Überzeugung zusammen, dass nur der Rich ter in der Lage sei, die Ermittlungen absolut objektiv und unter Einhaltung aller Verfahrensgarantien durchzuführen.787 In Abkehr von den Prinzipien des bis dato geltenden Bundesrechts hat die Rolle der Staatsanwaltschaft in dieser Verfahrens phase aber dennoch eine bedeutsame Aufwertung erhalten. Dies betrifft zwei Kernpunkte: Zunächst kann der Richter die Ermittlungen nicht mehr von Amts wegen aufnehmen. Und schließlich sieht das Gesetz die Alternative der Durchfüh rung der Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft vor, welche sukzessive durch eine Reihe von Reformen immer weiter ausgebaut worden ist. a) Einleitung des Vorverfahrens
Der CPPN (1992) folgt der durch den CPP Córdoba im Jahre 1940 begonnenen Entwicklung auf Provinzebene und sieht schon für die richterliche Ermittlungs tätigkeit im Vorverfahren die Geltung des formalen Anklagegrundsatzes vor. Der Richter bedarf also zur Einleitung von Ermittlungen eines entsprechenden Antrags eines anderen staatlichen Organs und muss seine Untersuchungen inhaltlich auf die Aufklärung des dort bezeichneten historischen Tatgeschehens beschränken, Art. 180, 195 CPPN (1992). Dieses Ermittlungsersuchen soll nach dem Willen des Gesetzes grundsätzlich in Form des sog. requerimiento vom Staatsanwalt gestellt werden, Art. 180, 188, 195 CPPN (1992). Das requerimiento soll nach Art. 188 Abs. 3 CPPN (1992) neben den den richterlichen Ermittlungsspielraum definieren den, möglichst genauen Angaben zum Tathergang soweit bekannt auch Angaben zum Beschuldigten und die nach Ansicht des Staatsanwalts angezeigten Ermitt lungsmaßnahmen enthalten.788 Geht eine Anzeige direkt beim Gericht ein, muss es nach Art. 180 Abs. 1 CPPN (1992) die Anzeige an den Staatsanwalt weiterleiten, damit der entscheidet, ob er ein Ermittlungsersuchen stellt. Ist der Staatsanwalt der 787
Siehe dazu oben, 4. Kapitel, B. III. 1., die ausführliche Darstellung dieser Ansicht bei der Untersuchung des Streits um die Übertragung des Ermittlungsverfahrens auf den Staatsanwalt im Entwurf Maier. Superti, Derecho Penal Nr. 1 (1992), S. 67 ff. (72), spricht diesbezüglich sehr einprägsam und treffend von der „Magie des Richterbegriffs“ („ […] efecto mágico que produce la palabra juez […]“). 788 Da Art. 195 CCPN (1992) nur von einer inhaltlichen Beschränkung auf das Tatgesche hen spricht, unterfällt die Ausweitung der Untersuchung auf neue Beschuldigte nicht der Not wendigkeit eines entsprechenden zusätzlichen requerimiento des Staatsanwalts, vgl. Navarro/ Daray, CPPN Bd. 1, S. 476.
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5. Kap.: Formaler Anklagegrundsatz in der Krise und ein eigener Weg
Ansicht, dass kein ausreichender Tatverdacht für die Einleitung von Ermittlungen besteht, muss er die Abweisung der Anzeige beim Untersuchungsrichter beantra gen, Art. 180 Abs. 1, 181 CPPN (1992). Fraglich ist, wie der Untersuchungsrich ter zu verfahren hat, wenn er nicht mit der Einschätzung des Staatsanwalts über einstimmt und die Aufnahme von Ermittlungen für angebracht hält. Anders als das Vorbild aus Córdoba, welches für derartige Fälle auf die Vorschriften zur Un einigkeit über die Eröffnung der Hauptverhandlung verweist, enthält das Bundes strafverfahrensrecht zu diesem Punkt keine Regelungen. Trotz des fehlenden ge setzlichen Verweises spricht jedoch auch im Bundesrecht die klare Parallelität der beiden Situationen für eine analoge Anwendung der für die Eröffnung des Haupt verfahrens geltenden Norm, d. h. konkret des Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992).789 Da nach müsste der Untersuchungsrichter die Sache der Berufungskammer vorlegen, welche ihrerseits entweder dem Staatsanwalt Recht gibt oder ihn verbindlich zur Eröffnung des Vorverfahrens anweist. Allerdings bestehen, so viel sei vorwegge nommen, erhebliche Zweifel an der Verfassungsgemäßheit des Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992), welche zur Suche nach einem anderen Verfahren bei Uneinigkeit zwischen Gericht und Staatsanwalt über Eröffnung des Haupt- und entsprechend dann auch des Vorverfahrens geführt haben. Diese Problematik soll jedoch erst im Rahmen ihres eigentlichen Ursprungs, also der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens, ausführlich diskutiert werden.790 An dieser Stelle festzustellen bleibt, dass die Fälle einer Meinungsverschieden heit zwischen Richter und Staatsanwalt ohnehin schon dadurch an Relevanz ver lieren, dass der Richter nicht allein auf das staatsanwaltliche requerimiento ange wiesen ist. Art. 195 CPPN (1992) sieht nämlich ausdrücklich noch eine weitere Form der Verfahrenseinleitung vor. Danach kann der Richter auch ohne ein Er suchen der Staatsanwaltschaft die Ermittlungen aufnehmen, wenn die Polizei ihn durch Zustellung der Zusammenfassung ihrer präventiven, beweissichernden Er mittlungstätigkeit oder durch einfache Mitteilung über den Verdacht der Begehung einer Straftat informiert. Die sachliche Bindung der Untersuchung bezieht sich dann auf den Inhalt der polizeilichen Mitteilungen, welche nach Art. 186 CPPN (1992) bzw. Art. 176 CPPN (1992) ähnlich dem requerimiento möglichst genaue Angaben zur Tat und zu etwaigen Beschuldigten sowie die vorläufige rechtliche Bewertung durch die Polizei enthalten soll.791 Allerdings ist nicht ganz unstrit tig, inwieweit die Polizei die Mitwirkung der Staatsanwaltschaft bei der Verfah renseröffnung ersetzen kann. Art. 195 CCPN (1992) setzt sich nämlich in gewis sen Widerspruch zu Art. 188 Abs. 1 CPPN (1992), der auch bei einer Anzeige vor der Polizei die Notwendigkeit des staatsanwaltlichen Ermittlungsersuchens vor
789 Ábalos, CPPN, Bd. II-A, S. 108 f.; Donna/Maiza, Código, S. 198; Narvaiz, Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 4,5 (1997), S. 983 ff. (984 ff.); Vidal Albarracín, La Ley 1999-C, S. 614 ff. (616 f.). 790 Siehe dazu weiter unten 5. Kapitel, A. III. 1. e). 791 Donna/Maiza, Código, S. 213; Ábalos, CPPN Bd. II-A, S. 232.
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schreibt.792 Der Grund für die zweideutige Gesetzeslage liegt darin, dass der Wort laut der schließlich als Art. 188 CPPN (1992) erlassenen Vorschrift im Gesetz gebungsverfahren gegenüber der Vorlage Levenes (h.) abgeändert wurde.793 Die im Entwurf als Art. 180 firmierende Regelung sprach lediglich davon, dass der Fis kal die Einleitung der Ermittlungen beantragen sollte, wenn er von einer Straftat Kenntnis erlangt.794 Der Fall, dass eine Anzeige bei der Polizei eingeht, war also ursprünglich nicht erfasst, Levene (h.) ließ diesbezüglich auch die Möglichkeit einer Verfahrenseinleitung ohne Mitwirkung des Staatsanwalts offen. Eine Minderansicht sieht den Rechtsgedanken des Art. 188 CPPN (1992) als vorrangig an und fordert in jedem Fall ein staatsanwaltliches Ermittlungsersuchen zur Initiierung der Ermittlungen. In den Art. 180 Abs. 1 und 188 Abs. 1 CPPN (1992) manifestiere sich das Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft, welches für die einheitliche Auslegung des Normenkomplexes zur Einleitung des Vorver fahrens maßgeblich sei. Die Polizei sei zur Entscheidung über die Verfahrenser öffnung weder befugt noch geeignet.795 Andere Stimmen orientieren sich enger am Wortlaut des Art. 188 CPPN (1992) und halten ein requerimiento dann für erfor derlich, wenn eine Anzeige bei der Polizei eingeht, nicht jedoch wenn sie von Amts wegen beweissichernd tätig wird.796 Demgegenüber geht die herrschende Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum davon aus, dass das Gesetz auch die Benach richtigung des Richters durch die Polizei als Impuls für den Beginn der Vorun tersuchung habe ausreichen lassen wollen. Dies zeige nicht nur der klare Wort laut des Art. 195, wonach das Vorverfahren durch das requerimiento „oder“ durch Benachrichtigung der Polizei eingeleitet werde, sondern auch, dass die Art. 182, 183 und 186 CPPN (1992), welche den Eingang einer Anzeige bei der Polizei be treffen, keine der des Art. 180 Abs. 1 CPPN (1992) vergleichbare Formulierung enthalten, wonach die Anzeige direkt an den Staatsanwalt weiterzuleiten ist, da mit dieser entscheidet, ob er das requerimiento stellt. Der Art. 188 Abs. 1 CPPN (1992) sei einschränkend dahingehend auszulegen, dass er nur Anwendung finde, wenn die Polizei ein Ermittlungsverfahren nicht für angezeigt erachte und daher statt einer Benachrichtigung mit eigener Bewertung des Tatverdachts lediglich die originale Anzeige weiterleite, oder wenn der Richter nicht auf das Ersuchen der 792 „El agente fiscal requerirá al juez competente la instrución, cuando la denuncia de un d elito de acción pública se formule directamente ante el magistrado o la policía y las fuerzas de seguridad […].“ 793 Navarro/Daray, CPPN Bd. 1, S. 488 f. 794 „El agente fiscal requerirá al juez competente la instrucción siempre que tenga conocimiento, por cualquier medio, de la comisión de un delito de acción pública. […]“, vgl. Levene (h.),Proyecto, S. 81. 795 D’Albora, CPPN Bd. 1, S. 364 f., 396 m. w. N.; Righi, Cuadernos de Doctrina y Jurispru dencia Penal 8-C (1999), S. 15 ff. (17 ff.) sowie die Rechtsprechungsnachweise bei Di Masi/ Obligado, CPPN, S. 245 f.; Amadeo/Palazzi, CPPN, S. 311; Ábalos, CPPN Bd. II-A, S. 250. 796 Cerletti/Folguero, in: Maier (Hrsg.), Ministerio Público, S. 309; Rechtsprechungsnach weise bei Amadeo/Palazzi, CPPN, S. 310; Donna/Maiza, Código, S. 216 Fn. 1; Di Masi/Obligado, CPPN, S. 246.
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Polizei reagiere. Zwar stelle das requerimiento ohne Zweifel den Idealfall der Ein leitung des Vorverfahrens dar; die Anerkennung der polizeilichen Verfahrensiniti ierung durch das Gesetz trage aber schlicht den praktischen Zwängen Rechnung. Angesichts personeller Unterbesetzung und knapper Fristen sei es unmöglich, in jedem Verfahren zunächst das staatsanwaltliche Ermittlungsersuchen abzuwarten. Die Verfahrenseinleitung durch die Polizei begegne auch keinen grundlegenden rechtsstaatlichen Bedenken, da der Anklagegrundsatz, wonach der Richter nicht von sich aus Ermittlungen aufnehmen darf, gewahrt bleibe.797 Praktisch führt diese Auffassung zu einer erhebliche Einschränkung der staats anwaltlichen Mitwirkung, da zum ganz überwiegenden Teil zunächst die Polizei vom Verdacht einer Straftat erfährt.798 Noch darüber hinausgehend haben Teile der Rechtsprechung neben der vom Gesetzeswortlaut legitimierten Alternative der Verfahrenseinleitung durch die Polizei weitere Ausnahmen vom Erfordernis des staatsanwaltlichen Ermittlungsersuchens zugelassen. So solle der Untersuchungs richter dringende Ermittlungsmaßnahmen schon vor Benachrichtigung des Staats anwalts anordnen können; das requerimiento solle bereits dann verzichtbar sein, wenn der Staatsanwalt von Beginn an von den Ermittlungen informiert gewesen ist und die Möglichkeit hatte, seinen Widerspruch geltend zu machen; das Fehlen des Ermittlungsersuchens sei außerdem dadurch heilbar, dass der Staatsanwalt es nachträglich stelle.799 Auch wenn es sich dabei um eine im Schrifttum scharf kri tisierte800 Minderheit in der Rechtsprechung handelt801, sind diese Urteile letzt lich nur der deutliche Ausdruck der Tendenz einer grundsätzlich sehr restriktiven Auslegung des Erfordernisses der staatsanwaltlichen Mitwirkung bei der Verfah renseröffnung. Als Ergebnis bleibt damit festzuhalten, dass der Einfluss der Staatsanwaltschaft auf die Eröffnung des Vorverfahrens trotz theoretischer Geltung des Anklage grundsatzes praktisch nur sehr begrenzt ist.
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Navarro/Daray, CPPN Bd. 1, S. 488 f.; Ábalos, CPPN Bd. II-A, S. 250, 315 f.; Donna/ Maiza, Código, S. 213; Chiara Díaz/Meana, CPPN, S. 101; Amadeo/Palazzi CPPN, S. 286. 798 Ábalos, CPPN Bd. II-A, S. 250; Vázquez Rossi, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 362. 799 Rechtsprechungsnachweise finden sich bei D’Albora, CPPN Bd. 1, S. 359 f.; Chiara Díaz/ Meana, CPPN, S. 106 f.; Di Masi/Obligado, CPPN, S. 221 f.; Donna/Maiza, Código, S. 196 Fn. 3; Ábalos, CPPN Bd. II-A, S. 257. 800 Vgl. D’Albora, CPPN Bd. 1, S. 359, der vom „Tod des Anklagegrundsatzes“ (Übers. d. Verf.) spricht, sowie Navarro/Daray Bd. 1, S. 474 f. 801 Zur herrschenden Ansicht in der Rechtsprechung, welche Ermittlungen des Richters von Amts wegen in jedem Falle ausschließt, vgl. die Nachweise bei Amadeo/Palazzi, CPPN, S. 310 ff.; Di Masi/Obligado, CPPN, S. 222; Navarro/Daray, CPPN Bd. 1, S. 474; Donna/ Maiza, Código, S. 197 Fn. 4.
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b) Durchführung der Ermittlungen durch den Staatsanwalt, Art. 196 CPPN (1992)
Die Aufgaben der Staatsanwaltschaft im vom Gesetz als Regelfall angesehenen Ermittlungsverfahren unter Herrschaft des Richters brauchen hier nicht gesondert dargelegt werden, sie entsprachen ihrer traditionellen Rolle, wie sie schon oben anhand des Bundesverfahrensrechts von 1889 sowie des CPP Córdoba (1940) ge schildert wurde.802 D. h., der Staatsanwalt ist wie der Beschuldigte auf die Stellung von Ermittlungsanträgen beschränkt, Art. 199 CPPN (1992)803, hat aber diesem gegenüber in der Regel einen Informationsvorsprung, da er anders als die Vertei digung grundsätzlich an jeder Ermittlungsmaßnahme teilnehmen kann und somit immer Einblick in den gegenwärtigen Stand der Ermittlungen hat, Art. 198 CPPN (1992). Äußerst interessant ist demgegenüber die Möglichkeit des Art. 196 CPPN (1992), wonach der Untersuchungsrichter dem Staatsanwalt die Ermittlungen übertragen kann, für welche dann die Sonderregeln der Art. 209–215 CPPN (1992) gelten. Levene (h.), der die Auffassung vertrat, bei der Voruntersuchung handele es sich um eine originär richterliche Aufgabe, hatte diese Regelung wie schon er wähnt in seinem Originalentwurf nicht vorgesehen804, sie entstand erst im an schließenden Gesetzgebungsverfahren als Kompromiss zwischen dem Konzept des Originalentwurfs und demjenigen des gescheiterten Entwurfs Maier, der die Ermittlungen grundsätzlich dem Staatsanwalt hatte überlassen wollen.805 Der da hinterstehende Gedanke des Gesetzgebers war, die Justizorgane an das auf Bun desebene neue Institut der staatsanwaltlichen Voruntersuchung zu gewöhnen und auf diese Weise den Weg für seine Ausweitung zu ebnen.806 Der fundamentale Unterschied der neuen Regelung zu der in den Provinzen schon lange praktizierten citación directa807 besteht darin, dass die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft vom Gesetz als der richterlichen Voruntersuchung gleich wertig angesehen werden. Dies zeigt sich deutlich an der Klarstellung des Art. 209 802
Vgl. dazu oben 3. Kapitel, B. III. 2.; 4. Kapitel, A. III. 1. Die Vorschrift spricht nur von den „Parteien“ („partes“), womit nach dem Willen ihres Schöpfers Levene (h.) auch der Staatsanwalt gemeint ist, da dieser auch eine Partei sei, Levene (h.) u. a., CPPN comentado, S. 163. 804 Vgl. Levene (h.), Proyecto, S. 13 f., wo der Autor erläutert, dass er die Übertragung der Ermittlungen auf die Staatsanwaltschaft ablehnt, da sie die Aufgabenverteilung zwischen der richterlichen Entscheidungsfunktion und der staatsanwaltlichen Antragsfunktion verletze. Siehe dazu auch schon Levene (h.), ZStW 84 (1972), S. 480 ff. (488, 494 f.). 805 Siehe dazu schon oben 5. Kapitel, A. I. sowie Cortese, in: Vázqez Rossi/Pessoa/Chiara Díaz, CPPN, S. 174, 182 ff.; Jarque, Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 4 (2000), S. 169 ff. (169); Torres Bas, CPPN Bd. 2, S. 56 ff. 806 Jarque, Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 4 (2000), S. 169 ff. (169). 807 Diese summarische Voruntersuchung leichter Delikte durch die Staatsanwaltschaft wurde wie gezeigt schon im Jahre 1940 durch die Strafverfahrensordnung der Provinz Córdoba ein geführt. Ihre ausführliche Besprechung findet sich oben 4. Kapitel, A. III. 1. 803
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CPPN (1992), wonach für die staatsanwaltliche Untersuchungstätigkeit grundsätz lich die allgemeinen Normen zum Vorverfahren gelten.808 Entsprechend sind die Ermittlungen des Fiskal auch nicht gesetzlich auf eine bestimmte Deliktsgruppe beschränkt.809 Insofern folgt der CPPN (1992) dem Entwurf Maier, anders als die ser sieht er Ermittlungen durch den Staatsanwalt aber nicht zwingend vor, sondern lediglich fakultativ. Der Richter „kann“ dem Staatsanwalt die Ermittlungen über tragen, ohne dass das Gesetz dafür Voraussetzungen vorschriebe.810 Die Einräu mung umfassenden Ermessens bedeutet, dass es letztlich ausschließlich von der Einschätzung des einzelnen Richters abhängt, ob er dem Staatsanwalt die Leitung der Voruntersuchungen überträgt oder ob er sie selbst übernimmt. In der Praxis hat dies zu extremen Unterschieden zwischen einzelnen Gerichten geführt. Während manche vom Art. 196 CPPN (1992) praktisch nie Gebrauch machen, nutzen an dere ihn ausgiebig und übertragen so viele Verfahren wie möglich auf die Staats anwaltschaft.811 Verstärkt wird die Rechtsunsicherheit noch dadurch, dass das Ge setz keine Frist für die Übertragung auf die Staatsanwaltschaft festsetzt. Während einige Stimmen in allen Fällen die 24-Stunden-Frist anwenden wollen, welche Art. 180 Abs. 2 CPPN (1992) dem Richter, der eine Anzeige empfängt, zubilligt, um die Ermittlungen an den Fiskal abzugeben812, belassen es andere bei der allge meinen Frist für Prozessakte des Art. 161, welche drei Tage beträgt813. Tatsächlich werden aber wohl beide Fristen von den Gerichten häufig nicht eingehalten, ohne dass dies Sanktionen zur Folge hätte.814 Weitgehende Einigkeit herrscht demgegenüber darüber, dass, wenn es zur De legation der Ermittlungen kommt, diese für den Staatsanwalt zwingend ist, er sie also nicht ablehnen kann.815 Übernimmt der Staatsanwalt die Ermittlungen, be stimmen sich seine Befugnisse anhand der Art. 209 ff. CPPN (1992). Die einzelnen dem Staatsanwalt erlaubten bzw. verbotenen Ermittlungsmaßnahmen finden sich in den Art. 212 und 213 CPPN (1992). Nach Art. 212 Abs. 1 CPPN (1992) kann der Staatsanwalt Zeugen laden, schriftliche Informationen anfordern, sonstige not wendige Zwangsmaßnahmen anordnen und mit richterlicher Genehmigung Räume 808
Treffend Donna/Maiza, Código, S. 247. Dazu kritisch Donna/Maiza, Código, S. 247, die für schwere Delikte die Übertragung der Ermittlungen auf den Staatsanwalt ausschließen wollen, da er nicht im gleichen Maße wie der Richter eine objektive Voruntersuchung garantieren könne. 810 Vgl. Art. 196 Abs. 1 CPPN (1992): „El juez de instrucción podrá decidir que la dirección de la investigación de los delitos de acción pública de competencia criminal quede a cargo del agente fiscal, […] .“ 811 Dies geht hervor aus den ausführlichen, die Jahre 1997 bis 2000 abdeckenden statistischen Untersuchungen Marchisios, in: Nueva Doctrina Penal 2001-A, S. 343 ff. 812 Donna/Maiza, Código, S. 227; Jarque, Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 4 (2000), S. 169 ff. (171 ff.). 813 Rechtsprechungsnachweise bei Amadeo/Palazzi, CPPN, S. 335; Chiara Díaz/Meana, CPPN, S. 108 f.; Di Masi/Obligado, CPPN, S. 248. 814 Navarro/Daray, CPPN Bd. 1, S. 523. 815 Chiara Díaz/Meana, CPPN, S. 109; Donna/Maiza, Código, S. 228; Jarque, Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 4 (2000), S. 169 ff. (174) m. w. N. 809
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und Sachen durchsuchen lassen. Demgegenüber enthält Art. 213 CPPN (1992) alle Akte, welche stets dem Richter vorbehalten bleiben. Dies sind: die Vernehmung des Beschuldigten; grundsätzlich alle freiheitsberaubenden Maßnahmen; alle nicht wiederholbaren Beweiserhebungen; verfahrensbeendende Entscheidungen wie die Archivierung oder die endgültige Verfahrenseinstellung; sowie jede andere nicht von Art. 212 CPPN (1992) erfasste Maßnahme, welche nach den sonstigen Vor schriften des CPPN nur von einem Richter durchgeführt werden kann. Die beiden Vorschriften deuten zunächst darauf hin, dass der Staatsanwalt die alltägliche Ermittlungsarbeit in Zusammenarbeit mit der Polizei übernehmen soll, während der Richter in einer an das deutsche Recht bzw. den Entwurf Maier ange näherten Garantiefunktion über diejenigen Maßnahmen befinden soll, welche der Gesetzgeber als besonders eingriffsintensiv ansieht. Entscheidungen über die Er mittlungstaktik bzw. die Zweckmäßigkeit einzelner Ermittlungsmaßnahmen ver bleiben danach ausschließlich beim Staatsanwalt, der Richter beschränkt sich auf eine Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Eingriffsmaßnahmen.816 Eine nähere Be trachtung der Art. 209 ff. CPPN (1992) zeigt allerdings, dass die Rollenverteilung zwischen Staatsanwalt und Richter keineswegs so eindeutig ist. Da die Art. 212 und 213 CPPN (1992) natürlich nicht abschließend sind, bleibt sehr häufig unklar, wer letztendlich für eine Ermittlungsmaßnahme zuständig ist. Grundsätzlich denk bar ist, dass entweder der Staatsanwaltschaft nur die in Art. 212 CPPN (1992) ge nannten Ermittlungsmaßnahmen erlaubt sein sollen, oder aber, dass ihr eben nur diejenigen des Art. 213 CPPN (1992) verboten sind. Die oben genannte Rollen verteilung würde dafür sprechen, dass der Gesetzgeber die Maßnahmen, welche er als besonders sensibel und damit einer richterlichen Kontrolle bedürftig betrachtet, abschließend in Art. 213 aufzählen und im Übrigen dem Staatsanwalt die Ermitt lungen überlassen wollte.817 Diese Deutung wird gestützt von Art. 213 e) CPPN (1992), wonach nur die sonstigen Maßnahmen, welche auch nach den übrigen Vorschriften des CPPN der richterlichen Zuständigkeit unterfallen, dem Richter vorbehalten sind, und eben gerade nicht alle sonstigen Ermittlungsakte. Weiter hin unklar ist, ob der Staatsanwalt auf einen Prozessbeschluss, wie ihn der selbst ermittelnde Richter nach Art. 306 CPPN (1992) erlässt818, angewiesen ist. Eine Reihe von Autoren bejahen dies mit Verweis auf die Schutzfunktion zu Guns ten des Beschuldigten, wegen derer der Prozessbeschluss gemäß Art. 346 CPPN (1992)819 unabdingbare Voraussetzung für den Abschluss des Vorverfahrens sei.820 816
Jarque, Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 4 (2000), S. 169 ff. (177). Cerletti/Folgueiro, in: Maier (Hrsg.), Ministerio Público, S. 135 ff. 818 Mit dem Prozessbeschluss stellt der Richter fest, dass ein ausreichender Tatverdacht ge gen den Beschuldigten hinsichtlich der Begehung einer näher bezeichneten Straftat besteht und ordnet regelmäßig auch die Untersuchungshaft an. Vgl. dazu schon oben 5. Kapitel, A. I. 819 Nach Art. 346 CPPN (1992) gewährt der Ermittlungsrichter dem Staatsanwalt und, soweit vorhanden, dem Privatkläger Einblick in die Verfahrensakten, wenn „er den Prozessbeschluss erlassen hat und die Ermittlungen für abgeschlossen erachtet“ (Übers. d. Verf.). 820 D’Albora, CPPN Bd. 1, S. 463; Navarro/Daray, CPPN Bd. 1, S. 567; Torres Bas, CPPN Bd. 2, S. 108. 817
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Dies überzeugt allerdings nicht. Art. 215 CPPN (1992), der die Beendigung des staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens regelt, verweist in seinen Abs. 1 und 3 auf die Art. 347 und 348 CPPN (1992), nicht aber auf Art. 346. An dessen Stelle tritt Art. 215 Abs. 2, wonach der Beschuldigte vor Abschluss des Vorverfahrens gehört werden muss, eine Vorschrift, die überflüssig wäre, würde bereits Art. 346 CPPN (1992) Anwendung finden.821 Die Mitteilung der Tatvorwürfe im Rahmen der Ver nehmung erscheint auch zur Wahrung des Verteidigungsrechts des Beschuldig ten ausreichend, ein formaler Prozessbeschluss demgegenüber nicht unbedingt er forderlich.822 Auch wenn man die genannten gesetzlichen Unklarheiten zu Gunsten der Staats anwaltschaft auslegt, führt dies allerdings noch keineswegs dazu, dass sie die Ver fahrensherrschaft über die Ermittlungen erlangt und sich der Richter auf eine Ga rantiefunktion beschränkt. Besondere Schwierigkeiten bereitet die Tatsache, dass Art. 213 CPPN (1992) den Richter nicht auf die Überprüfung der von dem Staats anwalt vorgeschlagenen Ermittlungsmaßnahmen beschränkt, sondern ihn selbst entscheiden lässt, wann er eine Ermittlungsmaßnahme anordnet. Maßstab dürfte wie bei der rein richterlichen Voruntersuchung sein, ob der Richter selbst die jewei lige Maßnahme für „zielführend und nützlich“ erachtet, Art. 199 CPPN (1992).823 Dass der Richter nicht bloß über Rechtmäßigkeit, sondern auch über die Zweck mäßigkeit der Ermittlungen entscheidet, ist unvereinbar mit einer bloßen Garan tiefunktion und führt dazu, dass de facto beide staatlichen Organe nebeneinander die Ermittlungen leiten. Da die wichtigsten Ermittlungsmaßnahmen dem Richter vorbehalten sind, kann dieser zudem effektiv die staatsanwaltlichen Ermittlungen torpedieren, wenn er sich weigert, die Beschuldigtenvernehmung oder eine sons tige ihm vorbehaltene Beweiserhebung durchzuführen und einfach untätig bleibt. Dies scheint tatsächlich auch keine Seltenheit darzustellen, wie die Auskunft eines in Buenos Aires tätigen Staatsanwalts belegt.824 Möglichkeiten, effektiv gegen eine solche Weigerung des Richters vorzugehen, hat der Staatsanwalt nicht, denn nach Art. 199 CPPN (1992) steht ihm kein Anfechtungsrecht gegen die richterliche Entscheidung über die Durchführung einer Ermittlungsmaßnahme zu. Der wich tigste Grund dafür, dass tatsächlich stets der Richter die Herrschaft über den Ver 821 Anderer Ansicht ist Torres Bas, CPPN Bd. 2, S. 108, der Art. 215 Abs. 2 CPPN (1992) tat sächlich als unnötige Wiederholung ansieht. 822 So zutreffend Jarque, Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 4 (2000), S. 169 ff. (178 f.). 823 D’Albora, CPPN Bd. 1, S. 421 m. w. N. 824 Das entsprechende Zitat findet sich in der empirischen Untersuchung von Rodríguez Estévez zu Rollenkonflikten im argentinischen Strafverfahren, El conflicto de roles en el sistema penal federal argentino, auf S. 37: „ […] es cierto que en cada sistema procesal está definido quién dirige el proceso, pero sucede que a veces llegamos a un punto que, estando delegada la causa, se solicitan medidas y los jueces no las ordenan ni hacen cumplir. Entonces se da la paradoja de que teniendo el manejo o dirección de la investigación nos encontramos con que no podemos realizar determinadas medidas. En cuanto al Art. 196 (delegación común) la misma es facultativa, por lo que depende mucho del juez y esto genera mayor confusión.“
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lauf der Untersuchung behält, ist aber die Vorschrift des Art. 214 Abs. 1 CPPN (1992). Danach kann der Richter die Ermittlungen jederzeit und ohne Begrün dung wieder vollständig an sich ziehen. Zwar legen manche Autoren die Befug nis des Art. 214 Abs. 1 CPPN (1992) einschränkend aus, um totaler richterlicher Willkür vorzubeugen. So soll der Richter nicht die Voruntersuchung nachträg lich wieder in eine rein richterliche umwandeln können, um dann schon von vorn herein einen ausreichenden Tatverdacht zu verneinen und so die Einstellungsvo raussetzungen zu umgehen825, und es soll ihm auch nicht möglich sein, nachdem er die Ermittlungen wieder an sich gezogen hat, diese erneut an den Staatsanwalt zu delegieren.826 Der Staatsanwalt bleibt aber dennoch vollständig vom Wohl wollen des Untersuchungsrichters abhängig, der, wenn er mit der Ermittlungs taktik des Staatsanwalts nicht einverstanden ist, sofort dessen Ermittlungen über nehmen kann, ohne dass Art. 214 Abs. 1 CPPN (1992) dafür Voraussetzungen aufstellt. Insofern entspricht Art. 214 Abs. 1 der Vorschrift des Art. 196 CPPN (1992). Genauso wie es im freien Ermessen des Richters liegt, die Ermittlungen überhaupt erst an den Staatsanwalt zu delegieren, kann er sie diesem auch wieder entziehen. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass die Delegation der Ermittlungen an den Staatsanwalt nach Art. 196 CPPN (1992) keineswegs mit sich bringt, dass der Fiskal die Herrschaft über die Ermittlungen erlangt und der Richter sich auf eine Überwachung der Rechtmäßigkeit der staatsanwaltlichen Ermittlungen be schränkt. Tatsächlich ermitteln beide Staatsorgane aktiv neben- bzw. miteinan der, wobei der Staatsanwalt zwar grundsätzlich die Untersuchung leiten soll, der Richter aber die wichtigsten Befugnisse behält und zudem die Ermittlungen stets wieder vollständig an sich ziehen kann. Das führt dazu, dass ihre Rollen und Auf gabenbereiche sich vermischen und nicht mehr klar voneinander abgrenzbar sind, was erhebliche Nachteile für die Rechte des Beschuldigten und im Zweifel auch für die Effektivität der Ermittlungen mit sich bringt. Ermitteln Staatsanwalt und Richter nebeneinander ohne sich abzusprechen, werden die ohnehin häufig unzu reichenden staatlichen Ermittlungsressourcen unnötig belastet und es kann bspw. zu sich widersprechenden Weisungen an die Polizei kommen. Sprechen sie sich dagegen ab und bilden ein Ermittlungsteam, gestalten sich die Ermittlungen effek tiv, es verschärft sich aber das Problem fehlender gegenseitiger Kontrolle. In je dem Falle wird das Recht des Beschuldigten auf Verteidigung dadurch erheblich eingeschränkt, dass er sich nicht auf ein Ermittlungsorgan einstellen kann, da die Ermittlungszuständigkeit je nach Delegation oder Rücknahme derselben wech seln kann. Grundsätzlich zeigt sich in den Art. 196 ff. CPPN (1992) das Problem des Auf einanderprallens zweier Systeme mit grundverschiedener Rollenverteilung, näm lich eines kontradiktorischen Verfahrens mit weitgehender Parteiherrschaft und 825
Cerletti/Folguero, in: Maier (Hrsg.), Ministerio Público, S. 132. Candioti, Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 14 (2004), S. 70 ff. (74 f.).
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eines Amtsermittlungsverfahrens unter Herrschaft des Richters. Der Entwurf Maier suchte dem deutschen Recht folgend die Lösung darin, den zur Objekti vität verpflichteten staatlichen Ankläger zwar teilweise in die Stellung des frühe ren Untersuchungsrichters eintreten zu lassen, die Abgrenzung zum Richter aber dadurch zu wahren, dass das Urteilsorgan nach dem Vorbild des adversatorischen Verfahrens auf eine reine Kontrollfunktion beschränkt bleibt. Der CPPN (1992) demgegenüber lässt die Möglichkeit zu, dass beide Staatsorgane aktiv ermitteln, wodurch es zu einer Vermischung ihrer Aufgabenbereiche kommt. Letztlich wird dem inquisitorischen Konzept aber klar der Vorrang eingeräumt, denn der Richter behält die Herrschaft über die Untersuchung. Der Staatsanwalt findet sich dadurch lediglich als Ermittler von Richters Gnaden wieder. c) Die nachträgliche Ausweitung der staatsanwaltlichen Ermittlungsbefugnisse
Die staatsanwaltlichen Ermittlungsbefugnisse, welche sich bei Inkrafttreten des CPPN (1992) noch ausschließlich auf die Fälle der Delegation durch den Richter gemäß Art. 196 CPPN (1992) beschränkten, sind nachträglich immer weiter aus gebaut worden. Den Anfang machte im Jahre 1997 Bundesgesetz Nr. 24.826, mittels welchem die Artikel 353 bis und 353 ter unter dem Titel „Instrucción Sumaria“ in die Bun desstrafverfahrensordnung eingefügt wurden. Nach Art. 353 bis Abs. 1 CPPN (1992) obliegt die Voruntersuchung dann dem Fiskal, wenn der Beschuldigte auf frischer Tat angetroffen wird und der zuständige Richter von der Anordnung der Untersuchungshaft absieht. Bezüglich der Ermittlungsbefugnisse des Staats anwalts verweist die Vorschrift auf die Aufteilung zwischen staatsanwaltlichen und richterlichen Befugnissen, welche die Art. 212 und 213 CPPN (1992) für eine nach Art. 196 CPPN (1992) an den Staatsanwalt delegierte Voruntersuchung vor sehen. Gemäß Art. 353 bis Abs. 2 CPPN (1992) muss der Staatsanwalt den Be schuldigten zum frühestmöglichen Zeitpunkt über die Beweislage und den Tat vorwurf aufklären sowie ihm die Bestellung eines Verteidigers ermöglichen. Der Beschuldigte kann daraufhin gegenüber dem Staatsanwalt zum Tatvorwurf Stel lung nehmen, Art. 353 bis Abs. 3 CPPN (1992). Besteht er auf die Vernehmung durch einen Richter, führt dies automatisch zur Überleitung in das reguläre, rich terliche Vorverfahren, Art. 353 bis Abs. 5 CPPN (1992). Bleiben die Ermittlungen dagegen beim Fiskal, hat er zu ihrem Abschluss nur fünfzehn Tage zur Verfügung, Art. 353 bis Abs. 4 CPPN (1992).827 Danach stellt er gemäß Art. 353 ter Abs. 1 CPPN (1992) seinen Abschlussantrag auf Verfahrenseinstellung oder Eröffnung 827
Sind komplexere Ermittlungen erforderlich, die der kurzen Frist des Art. 353 bis Abs. 4 CPPN (1992) entgegenstehen, soll nach einer starken Ansicht der Richter eine reguläre Vor untersuchung durchführen, auch wenn die ausdrücklichen Voraussetzungen der instrucción sumaria im Übrigen vorliegen, dazu sogleich.
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des Hauptverfahrens i. S. d. Art. 347 Nr. 2 CPPN (1992). Ziel des Gesetzgebers war es, in den von Art. 353 bis Abs. 1 CPPN (1992) erfassten Fällen aufgrund der Einfachheit ihres Sachverhalts und der fehlenden Schwere der Strafdrohung das Vorverfahren zu entformalisieren und zu beschleunigen.828 Angesichts der Formu lierung des Art. 353 bis Abs. 1 CPPN (1992), wonach dem Staatsanwalt die Vor untersuchung unter den genannten Voraussetzungen obliegt829, scheint der ent scheidende Fortschritt gegenüber der Delegation nach Art. 196 CPPN (1992) darin zu bestehen, dass die Ermittlungszuständigkeit des Staatsanwalts nicht mehr im Ermessen des Richters liegt, sondern direkt gesetzlich festgelegt ist.830 Eine ge nauere Betrachtung zeigt aber, dass dem Richter auch hier erheblicher Einfluss auf die Zuweisung der Ermittlungen an den Staatsanwalt verbleibt. Dieser er gibt sich daraus, dass ihm bei der Feststellung des Vorliegens der Voraussetzun gen der instrucción sumaria erheblicher Auslegungsspielraum eröffnet ist. Zwar ist das Betroffensein „auf frischer Tat“831, die „flagrancia“, in Art. 285 CPPN (1992) gesetzlich definiert, allerdings ist umstritten, ob tatsächlich jede Form der flagrancia für eine Anwendbarkeit des Art. 353 bis Abs. 1 CPPN (1992) aus reicht.832 Noch umfangreichere Interpretationsmöglichkeiten bieten die Vorausset zungen für die Anordnung der Untersuchungshaft nach Art. 312, 316 Abs. 2, 317 und 319 CPPN (1992).833 Weiterhin wird vertreten, dass angesichts des summa rischen Charakters der Untersuchung noch eine weitere ungeschriebene Voraus setzung für seine Anwendung bestehe, nämlich die Einfachheit der Sachverhalts aufklärung. Seien komplexere Ermittlungen erforderlich, müsse der Richter auch bei Vorliegen der ausdrücklichen Voraussetzungen des Art. 353 bis Abs. 1 CPPN (1992) den Übergang in die instrucción sumaria mit entsprechend begründetem 828 Di Corleto/Soberano, Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 10 (2000), S. 377 ff. (393 ff.); Sourigues, Jurisprudencia Argentina 2001-2, S. 1052 ff. (1058); Cicciaro, El Derecho 182 (1999), S. 1361 ff. (1362) jeweils mit Nachweisen zur Gesetzgebungsdiskus sion. Zu beachten ist die Parallele zu der gleich motivierten staatsanwaltlichen Untersuchung im CPPN Córdoba (1940), siehe dazu oben 4. Kapitel, A. III. 1. 829 „[…] la investigación quedará directamente a cargo del agente fiscal […].“ 830 So Candioti, Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 14 (2004), S. 70 ff. (75); Tesoriero, Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 10 (2002), S. 55 ff. (55). 831 Übers. d. Verf. 832 Einige Stimmen fordern angesichts der dargestellten Motivation des Gesetzgebers für die Schaffung der instrucción sumaria, sie einschränkend nur dann anzuwenden, wenn das Betroffensein auf frischer Tat auch tatsächlich zu einem so dringenden Tatverdacht führt, dass keine umfangreiche Beweiserhebung mehr erforderlich ist, vgl. etwa Marchisio, juicio abreviado, S. 149 f. Zum ganzen Streit siehe Sourigues, Jurisprudencia Argentina 2001-2, S. 1052 ff. (1058); Cicciaro, El Derecho 182 (1999), S. 1361 ff. (1366 f.); Di Corleto/Soberano,: Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 10 (2000), S. 377 ff. (398 ff.). 833 Der Richter muss hier im Vorhinein eine Prognose der Strafbarkeit des Beschuldigten vor nehmen sowie eine Reihe von Haftverschonungsgründen in Betracht ziehen. Vgl. Di Corleto/ Soberano, Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 10 (2000), S. 377 ff. (400 ff.) und Sourigues, Jurisprudencia Argentina 2001-2, S. 1052 ff. (1059), die festhalten, dass sich an gesichts der weiten Voraussetzung der Untersuchungshaft kein festes, objektives Anwendungs kriterium für die instrucción sumaria festlegen lasse.
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Beschluss ablehnen.834 Tatsächlich spricht einiges für diese Auffassung. Unab hängig davon, ob man ihr folgt, bleibt aber festzuhalten, dass die instrucción sumaria gegenüber der bisherigen Gesetzeslage eine weiteren Schritt in Richtung der Ausgestaltung der Staatsanwaltschaft als Ermittlungsorgan bedeutet. Zwar hat der Richter praktisch nach wie vor erhebliche Möglichkeiten, die Übertragung der Untersuchung auf den Staatsanwalt zu verhindern, angesichts der gesetzlichen Zuweisung des Art. 353 bis Abs. 1 CPPN (1992) ist er aber gezwungen, seine Ablehnung als Ausnahme zu begründen. Anders als in Art. 196 CPPN (1992) steht die Übertragung der Ermittlungen auf den Staatsanwalt nicht mehr im freien Ermessen des Richters, sondern ist an, allerdings recht unbestimmte, Kriterien gebunden. Einige Gerichte sowie Teile der Literatur sehen auch diese Einschränkung der richterlichen Herrschaft über das Vorverfahren als schon zu weitgehend an und ge hen von einer Verfassungswidrigkeit der Art. 353 bis und 353 ter CPPN (1992) aus. Nach dieser Ansicht verstoßen die Vorschriften gegen das Recht des Angeklag ten auf einen fairen Prozess sowie gegen sein Verteidigungsrecht, welche beide durch Art. 18 CN garantiert sind. Teilweise leitete man eine solche Verletzung schon daraus her, dass der Staatsanwalt richterliche Aufgaben übernehme.835 Dem wurde vielfach der reine Vorbereitungscharakter der staatsanwaltlichen Ermittlun gen entgegengehalten, welcher dadurch sichergestellt sei, dass nach Art. 212, 213 CPPN (1992) alle Rechtsprechungsaufgaben beim Richter verblieben.836 Stärker vertreten innerhalb derer, welche die Vereinbarkeit der instrucción sumaria mit der argentinischen Verfassung in Zweifel ziehen, ist daher die Strömung, die sich auf die fehlende richterliche Kontrolle der staatsanwaltlichen Ermittlungen beruft. Da durch dass die schützenden Formen der richterlichen Vernehmung, des einen aus reichenden Tatverdacht feststellenden Prozessbeschlusses sowie des Zwischenver fahrens837 wegfielen, werde die Anklageseite nicht mehr ausreichend kontrolliert und der Beschuldigte möglicherweise zu Unrecht der Belastung einer Hauptver handlung ausgesetzt.838 Demgegenüber lässt sich nach mehrheitlicher Ansicht aus der Verkürzung des Verfahrens noch nicht seine Verfassungswidrigkeit herleiten. Zunächst sei das Grundkonzept zu bedenken, wonach die instrucción sumaria nur 834 Marchisio, juicio abreviado, S. 153 f.; Cicciaro, El Derecho 182 (1999), S. 1361 ff. (1369 f.). Diese Auffassung überschneidet sich mit der oben dargestellten, wonach schon das Betroffensein auf frischer Tat aus denselben Gründen einschränkend auszulegen ist. 835 Die Argumentation, welche der traditionellen argentinischen Auffassung vom Vorverfah ren als richterliche Domäne entspricht, findet sich bspw. in den von Cicciaro, El Derecho 182 (1999), S. 1361 ff. (1364) zitierten richterlichen Ausführungen. Vgl. dazu auch schon die aus führlichen Erörterungen oben 4. Kapitel, B. III. 1. 836 Marchisio, juicio abreviado, S. 167; Cicciaro, El Derecho 182 (1999), S. 1361 ff. (1365); Sourigues, Jurisprudencia Argentina 2001-2, S. 1052 ff. (1064); Huarte Petite, Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 10 (2000), S. 94 ff. (103 f.). 837 Siehe zu diesen Prozessakten oben, 5. Kapitel, A. I., die Beschreibung des Verfahrens im CPPN (1992). 838 D’Albora, La Ley 1998-D, S. 365 ff. (366 ff.); ders., CPPN Bd. 2, S. 784 ff. m. w. N.
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bei einfachen Sachverhalten Anwendung findet, so dass der Angeklagte etwa des Prozessbeschlusses zur Aufklärung über den Tatvorwurf regelmäßig gar nicht be dürfe.839 Im Übrigen ließen sich die Art. 353 bis und 353 ter CPPN (1992) verfas sungskonform auslegen. So habe der Staatsanwalt bei der Vernehmung des Be schuldigten alle bei der richterlichen Vernehmung geltenden Schutzvorschriften zu Gunsten des Beschuldigten, wie etwa das Verbot von Zwang und Täuschung nach Art. 296 CPPN (1992), zu beachten840 und Art. 353 ter stehe der richterlichen Überprüfung des staatsanwaltlichen Abschlussantrags keineswegs entgegen841. Zuletzt sei zu bedenken, dass es jederzeit in der Macht des Beschuldigten stehe, in das reguläre Vorverfahren überzuleiten.842 Zwar ist den Verteidigern der instrucción sumaria in ihrer Argumentation grund sätzlich Recht zu geben, dies bedeutet jedoch keineswegs, dass dieses Institut völ lig unkritisch zu sehen ist. Wie Di Corleto und Soberano treffend anmerken, ist schon fraglich, inwieweit überhaupt das gesetzgeberische Ziel einer Entforma lisierung des Verfahrens erreicht wird. Folgt man obiger Auslegung einer Anglei chung der staatsanwaltlichen an die richterliche Untersuchung, besteht nämlich die einzige Änderung in der Verfahrensstruktur darin, dass der Prozessbeschluss des Richters wegfällt.843 Zwar sorgt die Fünfzehn-Tages-Frist des Art. 353 bis Abs. 4 CPPN (1992) in der Theorie für eine zeitliche Abkürzung des Verfahrens, es ist allerdings angesichts der nach wie vor recht hohen Bürokratisierung des Ver fahrens zweifelhaft, inwieweit sich diese Frist überhaupt einhalten lässt. Abgese hen von der Frage, ob sich mit der instrucción sumaria die vom Gesetzgeber ver folgten Ziele verwirklichen lassen, fällt zudem noch eine ganz andere Schwäche ins Gewicht. Aufgrund ihrer unbestimmten Anwendungsvoraussetzungen und des Verweises auf die Art. 212, 213 CPPN (1992) bezüglich der staatsanwaltlichen Befugnisse führt die instrucción sumaria wie schon die Delegationsbefugnis nach Art. 196 CPPN (1992) zu einer unklaren Abgrenzung zwischen staatsanwaltli chem und richterlichem Aufgabenbereich in der Voruntersuchung. Hinzu kommt, dass die Möglichkeit des Beschuldigten, in ein richterliches Vorverfahren überzu leiten, wie ein Damoklesschwert über den staatsanwaltlichen Ermittlungen hängt, eine Unsicherheit, die in diesem Falle nicht zu seinen Lasten geht, in jedem Falle
839 Huarte Petite, Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 10 (2000), S. 94 ff. (94). 840 Marchisio, juicio abreviado, S. 161 ff.; Di Corleto/Soberano, Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 10 (2000), S. 377 ff. (416 ff.); Sourigues, Jurisprudencia Argentina 2001-2, S. 1052 ff. (1061 f.); Cicciaro, El Derecho 182 (1999), S. 1361 ff. (1372 f.). 841 Sourigues, Jurisprudencia Argentina 2001–2, S. 1052 ff. (1063); Huarte Petite, Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 10 (2000), S. 94 ff. (98 f.); Di Corleto/Soberano, Cua dernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 10 (2000), S. 377 ff. (413, 425). 842 Cicciaro, El Derecho 182 (1999), S. 1361 ff. (1372); Marchisio, juicio abreviado, S. 168; Sourigues, Jurisprudencia Argentina 2001–2, S. 1052 ff. (1065). 843 Di Corleto/Soberano, Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 10 (2000), S. 377 ff. (413 f., 426).
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aber zu denen der Ermittlungseffektivität.844 Es bleibt daher dabei, dass auch nach Einführung der Art. 353 bis und 353 ter das Vorverfahren des CPPN (1992) in einem Zwischenstadium zwischen richterlicher und staatsanwaltlicher Herrschaft verbleibt. Die Rechtsunsicherheit wurde durch die Reform nicht verringert, son dern eher noch verschärft. Der nächste bedeutende Schritt in Richtung einer staatsanwaltlichen Vorunter suchung war interessanterweise keine Reform der Bundesstrafverfahrensordnung selbst, sondern der Erlass des Gesetzes zur Organisation der Staatsanwaltschaft im Jahre 1998. Denn mit Art. 26 dieses Gesetzes wurde eine neue Rechtsgrundlage für eigenständige Ermittlungen des Staatsanwalts eingeführt. Danach kann der Fiskal schriftliche Informationen von anderen staatlichen Behörden und auch von Privaten verlangen sowie unter Mithilfe der ihm zu diesem Zwecke unterstellten Polizei Zeugen vernehmen und sonstige Ermittlungsmaßnahmen vornehmen.845 Diese weitreichende Formulierung der staatsanwaltlichen Befugnisse scheint al lerdings auf einem Missverständnis des Gesetzgebers zu beruhen: Dieser wollte offenbar gar kein neuartiges eigenständiges staatsanwaltliches Ermittlungsverfah ren schaffen, sondern dem Staatsanwalt lediglich ermöglichen, seine bereits nach der Bundesstrafverfahrensordnung bestehenden Aufgaben besser wahrzunehmen. Indizien dafür bietet schon der Gesetzestext selbst. Der Titel der Norm ist „An forderung zur Mitarbeit“846 und laut Text werden dem Staatsanwalt die folgenden Befugnisse „zur besseren Erfüllung seiner Aufgaben“847 zur Verfügung gestellt.848 Noch deutlicher ist allerdings die Gesetzgebungsgeschichte. Im Rahmen der Dis 844 Aus dieser Erwägung heraus will bspw. Sourigues, Jurisprudencia Argentina 2001-2, S. 1052 ff. (1064) dem Beschuldigten zumindest dann nicht mehr das Recht zur Überleitung ins reguläre Vorverfahren zugestehen, wenn er die Untersuchungen des Staatsanwalts wider spruchslos geduldet und Letzterer bereits seinen Abschlussantrag formuliert hat. 845 Der vollständige Originaltext des Art. 26 Ley Org.MP (1998) lautet: „Los integrantes del Ministeio Público, en cualquier de sus niveles, podrán – para el mejor cumplimiento de sus funciones – requerir informes a los organismos nacionales, provinciales, comunales; a los organismos privados; y a los particulares cuando corresponda, así como recabar la colaboración de las autoridades policiales, para realizar diligencias y citar per sonas a sus despachos, al solo efecto de prestar declaración testimonial. Los organismos policiales y de seguridad deberán prestar la colaboración que les sea requerida, adecuándose a las directivas impartidas por los miembros del Ministerio Público y destinando a tal fin el personal y los medios necesarios a su alcance. Los fiscales ante la justicia penal, anoticiados de la perpetración de un hecho ilícito – ya fuere por la comunicación prevista en el art. 186 del Cód. Procesal Penal de la Nación o por cualquier otro medio – sin perjuicio de las directivas que el juez competente imparta a la policía o fuerza de seguridad interveniente, deberán requerir de éstas el cumplimiento de las disposiciones que tutelan el procedimiento y ordenar la práctica de toda diligencia que estimen pertinente y útil para lograr el desarollo efectivo de la acción penal. A este respecto la prevención actuará bajo su dirección inmediata.“ 846 Übers. des Verf., im Original requerimiento de colaboración. 847 “[…] para el mejor cumplimiento de sus funciones […].“ 848 Vgl. Gómez, La Ley vom 13.01.2004, S. 1 f. (1), der sich allerdings nur auf den Titel der Norm bezieht.
A. Bundesstrafverfahrensordnung von 1992 und ihre Weiterentwicklung
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kussion des Gesetzesentwurfs im Senat schlug Senator Meneghini eine Verände rung des späteren Art. 26 ley org.MP (1998) vor, da er gegen die im Código Procesal Penal de la Nación verankerte Ermittlungszuständigkeit des Richters verstoße. Der Antrag des Senators wurde jedoch von der Mehrheit mit der Begründung ab gelehnt, die Norm diene dem Staatsanwalt nur zur Unterstützung seiner ohnehin schon durch den CPPN gewährten Aufgaben, eine Kollision mit der Herrschaft des Richters über das Vorverfahren bestehe nicht.849 Tatsächlich aber nutzen die Staats anwälte die Befugnisse des Art. 26 ley org.MP (1998), um selbständig nicht nur vor Einleitung des richterlichen Ermittlungsverfahrens zu ermitteln, sondern auch parallel dazu, unabhängig davon, ob ihnen die Ermittlungen nach Art. 196 CPPN (1992) vom Richter übertragen wurden oder nicht. Sie verstehen die neue Vor schrift vielfach als Möglichkeit, das in bürokratischen Zwängen erstarrte Vorver fahren zum Vorteil aller Beteiligten deutlich effektiver gestalten zu können.850 Dies hat allerdings zu erheblichen Konflikten mit der Richterschaft geführt, welche das Verhalten der Fiskale als Eingriff in ihren Aufgabenbereich begreift.851 Und auch von Verteidigerseite852 und aus der Literatur heraus853 wird die weite Auslegung des Art. 26 ley org.MP (1998) durch die Staatsanwaltschaft scharf kritisiert. Indem der Fiskal außerhalb der schützenden Formen ermittle, welche das reguläre Ver fahren für die Voruntersuchung vorsehe, verstoße er nicht nur gegen die Kompe tenzverteilung des CPPN, sondern auch gegen die Rechte des Beschuldigten auf Verteidigung und einen fairen Prozess, zudem sei das Prinzip der Waffengleich heit missachtet. Der Beschuldigte sehe sich zwei staatlichen Ermittlungsorganen gegenüber und habe keine Möglichkeit, Umfang und Richtung der Ermittlungen ausreichend zu überblicken, um sie zu kontrollieren und seine Verteidigung dar auf einzustellen. Um dies zu vermeiden, sei Art. 26 ley org.MP (1998) einschrän kend auszulegen und nur dann anwendbar, wenn er nicht mit den Vorschriften des CPPN (1992) bzw. des zugrundeliegenden Verfassungsrechts kollidiere. Da nach seien Ermittlungen des Fiskals nach Art. 26 ley org.MP (1998) in zwei Fäl len denkbar: Zum einen im Vorfeld des eigentlichen Vorverfahrens zur Klärung der Frage, ob überhaupt ein ausreichender Tatverdacht für sein Ersuchen der Einlei tung förmlicher staatlicher Untersuchungen besteht, und zum anderen zur Beweis sicherung, bevor der Richter über das staatsanwaltliche requerimiento entschie den hat.854 Demgegenüber hat der Procurador General de la Nación als Dienstherr 849 Siehe dazu die Schilderung sowie die Zitate bei Morín, La Ley 2000-E, S. 318 ff. (325) und auch González da Silva, La Ley 2004-D, S. 608 ff. (611 Fn. 27). 850 Vgl. dazu die Ausführungen des Staatsanwalts Gómez, La Ley vom 13.01.2004, S. 1 f., der die Befugnisse des Art. 26 Ley Org.MP (1998) als „Allheilmittel“ (Übers. d. Verf.) preist und die Einführung vergleichbarer Regelungen in allen Provinzen empfiehlt. 851 Candioti, Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 14 (2004), S. 70 ff. (79 f.) mit Beispie len; siehe auch die Fallaufzählung bei Gómez, La Ley vom 13 01.2004, S. 1 f. (2). 852 Martínez de Buck/Plesel de Kiper, La Ley 2002-E, S. 1200 ff. 853 González da Silva, La Ley 2004-D, S. 608 ff. (610 ff.). 854 Siehe dazu González da Silva, La Ley 2004-D, S. 608 ff. (610 ff.); Martínez de Buck/Plesel de Kiper, La Ley 2002-E, S. 1200 ff.
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5. Kap.: Formaler Anklagegrundsatz in der Krise und ein eigener Weg
der Fiskale die Auffassung seiner Untergebenen in verschiedenen Entscheidungen bestätigt. Die Staatsanwälte dürften unabhängig von der richterlichen Vorunter suchung nach Art. 26 ley org.MP (1998) alle Ermittlungsmaßnahmen durchführen, welche nicht ausdrücklich dem Ankläger verboten und dem Richter vorbehalten seien. Das Gesetz sehe keine Differenzierungen vor, wie bspw. dass eine Delega tion der Ermittlungen nach Art. 196 CPPN (1992) Voraussetzung zur Anwendung des Art. 26 ley org.MP (1998) sei. Die umfassende Anwendbarkeit der Vorschrift verstoße auch nicht gegen verfassungsrechtlich garantierte Verfahrensgrundsätze, da die vom Staatsanwalt gesammelten Erkenntnisse nicht per se Beweisqualität hätten, sondern diese erst erlangten, wenn sie förmlich in das Verfahren eingeführt werden. Auf diese Weise werde dem Beschuldigten auch in der durch den CPPN vorgesehenen Weise die Kenntnisnahme und Kontrolle der Ermittlungsergebnisse ermöglicht.855 Die Argumentation des Generalstaatsanwalts überzeugt jedoch nicht. Ange sichts der drängenden praktischen Probleme einer totalen Überlastung der ar gentinischen Strafverfolgungsorgane einhergehend mit einer unzumutbaren Dauer der Strafverfahren856 ist das Ziel der Staatsanwaltschaft einer Entformalisierung und Agilisierung des Vorverfahrens begrüßenswert. Das Mittel, auf Grundlage des Art. 26 ley org.MP (1998) parallel zur richterlichen Voruntersuchung eigene, au tonome Ermittlungen anzustellen, verstößt jedoch gegen das Prinzip des CPPN (1992), wonach das Ermittlungsverfahren grundsätzlich richterlicher Natur ist, vgl. Art. 194 CPPN (1992). Zwar kennt auch die Bundesstrafverfahrensordnung mit Art. 196, 209 ff. CPPN (1992) ein Vorverfahren, wo Richter und Staatsan walt nebeneinander ermitteln. Allerdings verbleiben hier die staatsanwaltlichen Ermittlungen anders als im Falle des Art. 26 ley org.MP (1998) stets unter Kon trolle des Richters, der die wichtigsten Ermittlungsmaßnahmen selbst vornimmt und das gesamte Verfahren jederzeit an sich ziehen kann. Durch die Ausweitung der staatsanwaltlichen Befugnisse nach Art. 26 ley org.MP (1998) verschärft sich die schon im Rahmen des Art. 196 CPPN (1992) aufgezeigte Problematik, welche entsteht, wenn zwei Staatsorgane nebeneinander ermitteln. In jedem Falle führen die parallelen Ermittlungen zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Beschul digtenrechte. Sprechen sich Staatsanwalt und Richter nicht ab, leidet zudem die Effektivität der Ermittlungen. Aus diesen Gründen ist die einschränkende Ausle gung des Art. 26 ley org.MP (1998) im Einklang mit der Bundesstrafverfahrens ordnung zu bevorzugen, wonach der Fiskal nur im Vorfeld des Vorverfahrens so wie vor Einschreiten des Richters zur Beweissicherung ermitteln darf. Die sicher dringend notwendige Flexibilisierung des Vorverfahrens kann nur durch eine Re form des CPPN (1992) selbst erfolgen. Alles andere führt zu einer Verschärfung des Aufeinanderprallens verschiedener Verfahrenskonzeptionen zu Lasten des Be 855
Vgl. Morín, La Ley 2000-E, S. 318 ff. (321 ff.); González de Silva, La Ley 2004-D, S. 608 ff. (609 f.). 856 Siehe dazu ausführlicher unten 5. Kapitel, A. III. 1. f).
A. Bundesstrafverfahrensordnung von 1992 und ihre Weiterentwicklung
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schuldigten, wie es sich schon in der teilweise in sich widersprüchlichen Bundes strafverfahrensordnung findet. Auch wenn das inquisitorische Rollenbild eines schwachen Staatsanwalts im richterlichen Vorverfahren erhebliche Nachteile birgt, muss es die Auslegung des Art. 26 ley org.MP (1998) dominieren, um eine klare Abgrenzung der Aufgabenbereiche zwischen Richter und Ankläger im Interesse des Beschuldigten zu gewährleisten. Im Jahre 2001 wurden durch das Bundesgesetz Nr. 25.409 die Artikel 196 bis, 196 ter und 196 quater in die Bundesstrafverfahrensordnung eingefügt. Nach Art. 196 bis CPPN (1992) obliegt dem Staatsanwalt die Ermittlungsleitung in all denjenigen Fällen, in denen ein Täter zunächst nicht individualisierbar ist. Die Polizei wendet sich in diesen Fällen direkt an die Staatsanwaltschaft, dem zu ständigen Untersuchungsrichter ist lediglich eine Mitteilung über den Verfahrens beginn zu machen, Art. 196 bis, 196 ter CPPN (1992). Sobald jedoch ein Beschul digter identifizierbar ist, wird das Verfahren nach Art. 196 quater CPPN (1992) dem Untersuchungsrichter übergeben, der innerhalb von drei Tagen darüber zu entscheiden hat, ob er den Staatsanwalt die Ermittlungen nach Art. 196 CPPN (1992) weiterführen lässt. Die besondere Bedeutung dieser Reform liegt darin, dass damit die Ermitt lungszuständigkeit der Fiskale in der Praxis ganz erheblich ausgeweitet wurde. Denn naturgemäß machen die Fälle, in denen zunächst kein Tatverdächtiger indi vidualisierbar ist, einen großen Teil aller Verfahren aus.857 Die Formulierung des Art. 196 bis CPPN (1992) gleicht derjenigen des Art. 353 bis CPPN (1992), wo nach die Voruntersuchung dem Staatsanwalt schon von Gesetzes wegen obliegt.858 Anders als bei der instrucción sumaria ist hier jedoch auch keine richterliche Wertung bezüglich der gesetzlichen Voraussetzungen der Ermittlungsübertragung mehr erforderlich, die Ermittlungsorgane wenden sich direkt an den Staatsanwalt. Insofern stellt das Gesetz Nr. 25.409 aus dem Jahre 2001 einen weiteren großen Schritt in Richtung einer vollständigen Übertragung der Ermittlungsbefugnisse auf den Staatsanwalt dar. Allerdings teilt diese Reform auch die große Schwä che ihrer Vorgänger, nämlich eine erhebliche Rechtsunsicherheit zu Lasten so wohl des Beschuldigten als auch im Zweifel zu Lasten der Ermittlungseffektivität durch die Überschneidung der Ermittlungsbefugnisse von Staatsanwalt und Rich ter. Die Ermittlungsbefugnisse des Fiskals sind nicht ausdrücklich abweichend geregelt, so dass von der Regelaufteilung der Art. 212, 213 CPPN (1992) auszu gehen ist, wonach alle abschließenden Ermittlungsmaßnahmen sowie solche von besonderer Bedeutung beim Richter verbleiben, beide Staatsorgane also aktiv er mitteln. Zudem wird eine mögliche Effektivitätssteigerung in diesen Fällen wie 857 Solimine, La Ley 2001-E, S. 1245 ff. (1248) beruft sich auf eine Statistik, wonach darunter 69 % aller Verfahren fallen, welche jährlich von der Strafjustiz in der Bundeshauptstadt Buenos Aires bearbeitet werden. 858 „[…] la dirección de la investigación quedará desde el inicio de las actuaciones delegada al Ministerio Público Fiscal […].“
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5. Kap.: Formaler Anklagegrundsatz in der Krise und ein eigener Weg
der dadurch torpediert, dass der Staatsanwalt jedes Mal, wenn kein Täter ermittel bar ist, die Einstellung bzw. Archivierung beim Untersuchungsrichter beantragen muss.859 Auch wenn sich ein Tatverdächtiger individualisieren lässt, ergeben sich Unklarheiten. Zunächst ist nicht gesetzlich festgelegt, wann ein Tatverdächtiger nach Art. 196 quater individualisierbar und die Voruntersuchung mithin dem Rich ter zu übergeben ist. Hier bietet es sich an, auf den weiten Beschuldigtenbegriff des Art. 72 CPPN (1992) zurückzugreifen und diesen Zeitpunkt dann anzusetzen, sobald eine Person von den Ermittlungsbehörden als potentiell Beteiligter an dem untersuchten Delikt namhaft gemacht oder gar festgesetzt wird.860 Anschließend entscheidet der Richter aber wieder gemäß Art. 196 CPPN nach freiem Ermessen darüber, ob er selbst die Ermittlungen vollständig übernimmt oder nicht.861 Letzt lich liegt es also bei jedem Verfahren, das überhaupt eine gewisse Reife erlangt, doch wieder allein in der Entscheidungsgewalt des nicht an objektive Kriterien gebundenen Richters, inwieweit der Staatsanwalt aktiv an den Ermittlungen mit wirken darf. Neben diesen dem Regelungsinhalt immanenten Schwächen krankte Gesetz Nr. 25.409 zudem noch an dem Problem einer mangelhaften Implementie rung. Mit Art. 196 bis CPPN (1992) übertrug man der Staatsanwaltschaft plötzlich umfangreiche neue Ermittlungsaufgaben, ohne ihr jedoch durch eine begleitende organisatorische Reform die zur Bewältigung des zusätzlichen Arbeitsaufwands notwendigen Mittel zur Verfügung zu stellen. Auf diese Weise wurde das mit der Reform verfolgte Ziel einer Steigerung der Ermittlungseffizienz schon im Ansatz zunichte gemacht.862 Hier zeigt sich beispielhaft die Notwendigkeit, eine verfah rensrechtliche Ausgestaltung der Staatsanwalt als Ermittlungsorgan durch eine entsprechende organisatorische Stärkung zu begleiten, welche umgekehrt aber wieder zu Lasten des Beschuldigten gehen kann.863
859 Das Erfordernis der richterlichen Entscheidung ist herrschende Ansicht, vgl. Solimine, La Ley 2001-E, S. 1245 ff. (1253); D’Albora, CPPN Bd. 1, S. 428. Anderer Ansicht ist Hornos, La Ley 2001-C, S. 1236 ff. (1239), der sich dafür ausspricht, dass der Fiskal die Ermittlungen zwar nicht einstellen oder archivieren, aber einfach zurückstellen kann. 860 Hornos, La Ley 2001-C, S. 1236 ff. (1239). 861 Zwar spricht Art. 196 quater Abs. 2 CPPN (1992) davon, dass der Richter nach seiner Benachrichtigung von der Delegationsbefugnis „Gebrauch macht“ („El fiscal interviniente, remitirá las actuaciones al juez competente para que en el plazo de tres días haga uso de la facultad que le otorga el art. 196 párr. 1.“), was darauf hindeutet, dass er in jedem Falle dem Staatsanwalt seine Ermittlungsbefugnisse belässt. Diese missverständliche Formulierung än dert jedoch nichts am freien Ermessen des Richters, da sonst schon das ganze Procedere der Rückverweisung an den Richter keinen Sinn machen würde, wie Hornos, La Ley 2001-C, S. 1236 ff. (1239) treffend bemerkt. 862 Siehe zu diesem Problem Hornos, La Ley 2001-C, S. 1236 ff. (1240 ff.) sowie besonders eindringlich der Ermittlungsstaatsanwalt Solimine, La Ley 2001-E, S. 1245 ff. (1246 ff.). 863 Die Erhebung des Staatsanwalts zum Herrscher über die staatliche Voruntersuchung be deutet automatisch eine übermächtige Stellung seinerseits gegenüber dem Beschuldigten in dieser Verfahrensphase. Allerdings ist dem Konzept eines inquirierenden objektiven Staats organs der Gedanke der Waffengleichheit auch fremd. Vgl. dazu schon oben 4. Kapitel, B. III. 1.
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Im Jahre 2003 schließlich wurde mit Bundesgesetz Nr. 25.760 dem Art. 196 bis CPPN (1992) ein zweiter Absatz hinzugefügt sowie ein neuer Art. 212 bis CPPN (1992) geschaffen. Nach Art. 196 bis Abs. 2 CPPN (1992) obliegt dem Staats anwalt die Untersuchung aller nach den Art. 142 bis und 170 des Bundesstraf gesetzbuches strafbaren Delikte des erpresserischen Menschenraubes von Beginn bis Ende des Vorverfahrens, der zuständige Untersuchungsrichter ist wieder le diglich zu benachrichtigen.864 Ergänzend ändert Art. 212 bis CPPN (1992) für diese Fälle die Grundregel des Art. 213 a) CPPN (1992) ab, wonach die Verneh mung des Beschuldigten in der ausschließlichen Kompetenz des Richters liegt, und überträgt sie dem Staatsanwalt. Nach Art. 212 bis Abs. 2 CPPN (1992) gelten die Schutzvorschriften zu Gunsten des Beschuldigten der Art. 294 ff. CPPN (1992) entsprechend. Der Beschuldigte kann abweichend auch eine Vernehmung durch den Richter verlangen, Art. 212 bis Abs. 1 CPPN (1992). Dies führt aber, anders als bei der oben dargestellten instrucción sumaria, nicht dazu, dass sich das Vor verfahren in eine reguläre, vollständig richterliche Voruntersuchung wandelt. Viel mehr verbleiben dem Fiskal seine Ermittlungsbefugnisse, vgl. Art. 212 bis Abs. 3 CPPN (1992). Zwar gilt Gesetz Nr. 25.760 nur für eine beschränkte Deliktgruppe, es bedeu tet aber dennoch einen weiteren wichtigen Schritt in Richtung der Herrschaft des Staatsanwalts über das Vorverfahren. Denn zum ersten Mal werden dem Fis kal klar und eindeutig eigene Ermittlungsbefugnisse für die ganze Dauer des Vor verfahrens übertragen, ohne dass der Untersuchungsrichter und/oder der Be schuldigte sie ihm vorenthalten bzw. wieder entziehen können. Zudem wird dem Staatsanwalt die Schlüsselkompetenz der Beschuldigtenvernehmung zugebilligt. Letzteres allerdings erachtete die Berufungskammer La Plata in einem vielbeach teten Urteil vom 13. September 2004 für verfassungswidrig. Die Beschuldigten vernehmung gehöre in die ausschließliche Zuständigkeit des völlig unparteilichen Richters, die Vernehmung durch ein Anklageorgan verstoße gegen das Recht des Beschuldigten auf einen fairen Prozess.865 Die Grundannahme, das Anklageorgan könne nie im gleichen Maße objektiv sein wie ein Richter, ist nicht ganz von der Hand zu weisen.866 Dennoch lässt sich, wie treffend eingewandt wurde, hier keine Verletzung von Beschuldigtenrechten konstruieren, da der Beschuldigte ja die freie Wahl hat, ob er sich vom Richter oder vom Staatsanwalt vernehmen lassen
864 Das Ziel des Gesetzgebers war es dabei, die Voruntersuchung derartiger Delikte, wo häu fig zum Schutz des Opfers schnell eingegriffen werden muss, zu beschleunigen und effektiver zu gestalten. Dies ergibt sich deutlich aus weiteren mit Bundesgesetz Nr. 25.760 eingeführten Neuerungen, die auf die Dringlichkeit der Untersuchung abstellen. So kann der Staatsanwalt etwa nach dem ebenfalls neu eingeführten Art. 227 Nr. 5 CPPN (1992) bei begründetem Ver dacht einer unmittelbaren Gefahr für Leib oder Leben des Opfers selbständig und ohne richter liche Beteiligung die Durchsuchung eines Hauses anordnen, wo das Opfer vermutet wird. 865 Vgl. dazu den Nachweis bei Candioti, Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 14 (2004), S. 70 ff. (78); D’Albora, CPPN Bd. 1, S. 457. 866 Vgl. dazu schon die Ausführungen oben 4. Kapitel, B. III. 1.
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möchte.867 Umgekehrt ist tatsächlich nicht die Abweichung von den Art. 212, 213 CPPN (1992) kritikwürdig, sondern gerade, dass im Übrigen weitgehend an die sen Vorschriften festgehalten wird und somit Staatsanwalt und Untersuchungsrich ter beide aktiv die Ermittlungen leiten. Zusammenfassend zeigt sich also nach der graduellen Ausweitung der staats anwaltlichen Zuständigkeiten im Vorverfahren ein komplexes Panorama nebenein ander existierender und sich überschneidender Ermittlungsbefugnisse von Richter und Fiskal. Die entsprechenden Reformen entstanden allesamt aus der Erkennt nis heraus, dass die starre und formelhafte richterliche Voruntersuchung den wach senden, immer komplexeren Anforderungen moderner Strafverfolgung vielfach nicht mehr gewachsen ist, und verfolgten das Ziel, sie mit der Übertragung auf die Staatsanwaltschaft agiler und effektiver zu gestalten. Tatsächlich wurde die ses Ziel aber entweder gar nicht oder nur unter Inkaufnahme einer äußerst bedenk lichen Beeinträchtigung der Beschuldigtenrechte erreicht. Der Grund dafür ist, dass die dargestellten Neuerungen an der Ursprungskonzeption des CPPN (1992) festhalten, wonach die Wahrheitsermittlung grundsätzlich richterliche Domäne ist, gleichzeitig aber auch dem Anklageorgan einige Ermittlungsbefugnisse einräu men. Auf diese Weise wird der Beschuldigte zwei nebeneinander aktiv ermitteln den Staatsorganen ausgeliefert, welche sich allenfalls gegenseitig behindern, nicht aber objektiv von außen die Ermittlungen kontrollieren können. Ganz im Ge genteil entsteht aus dem Zwang heraus, die jeweiligen Ermittlungsmaßnahmen miteinander zu koordinieren, die Gefahr einer Zusammenarbeit zu Lasten des Beschuldigten. Dieser Zustand ist ein Zwischenstadium, hervorgegangen aus dem Kampf zwi schen der im Entwurf Maier manifestierten reformerischen Strömung und der klassischen Denkschule, welche unverändert an der inquisitorischen Grundstruk tur des CPPN (1992) festhalten möchte.868 Beide Konzepte haben demgegenüber allerdings den Vorteil, dass sie die Aufgaben von Anklage- und Urteilsorgan bes ser voneinander abgrenzen, indem sie eine Grundentscheidung hinsichtlich der Ermittlungszuständigkeit treffen. Angesichts dessen, dass die richterliche Vorun tersuchung aber nicht nur erhebliche rechtsstaatliche Defizite aufgrund der un zureichenden Kontrolle des Untersuchungsrichters aufweist, sondern wegen ihrer Umständlichkeit auch rein praktisch nicht mehr den Anforderungen an eine mo derne Strafjustiz genügt, ist in jedem Falle die Aufgabenteilung zwischen ermit telndem Staatsanwalt und kontrollierenden Ermittlungsrichter zu bevorzugen.869
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Corvalán, La Ley 2004-C, S. 661 ff.; D’Albora, CPPN Bd. 1, S. 457 f. m w. N. Siehe dazu schon oben die Gesetzgebungsgeschichte des Entwurfs Maier, 4. Kapitel, B. I., sowie des CPPN (1992), 5. Kapitel, A. I. 869 Siehe dazu schon die ausführlichen Erörterungen oben 4. Kapitel, B. III. 1. 868
A. Bundesstrafverfahrensordnung von 1992 und ihre Weiterentwicklung
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d) Das Verhältnis des ermittelnden Staatsanwalts zur Polizei
Mit dem zunehmenden Übergang der Ermittlungsbefugnisse im Vorverfahren auf die Staatsanwaltschaft stellt sich auch in Argentinien die Frage nach ihrem Ver hältnis zur Polizei. Ist der Staatsanwalt nach einer der zahlreichen genannten Son dervorschriften mit den Ermittlungen betraut, bedient er sich wie in Deutschland870 mangels eigener Ressourcen der Polizei als Hilfsorgan zur Durchführung seiner Voruntersuchung, Art. 186, 183 Abs. 1 CPPN (1992). Die Polizei kann, wenn sie etwa durch eine Anzeige von einer Straftat erfährt, zunächst auch von Amts wegen beweissichernd tätig werden und Zeugen am Tatort vernehmen, Fotografien an fertigen, Spuren sichern etc., Art. 183 Abs. 1, 184 CPPN (1992).871 Sie hat jedoch nach Art. 186 Abs. 1 S. 1 CPPN (1992) unverzüglich den Untersuchungsrichter so wie den Staatsanwalt von der Aufnahme der Ermittlungen zu unterrichten. Nach dem gesetzlichen Leitbild sollen alle Ermittlungsmaßnahmen, deren Verzögerung nicht zu schwerem Schaden für die Tataufklärung führt, erst dann vorgenommen werden, wenn der Untersuchungsrichter oder eben der Staatsanwalt die Leitung der Untersuchung übernommen hat.872 Fraglich ist aber, inwieweit sich die Gesetzesvorgabe einer funktionalen Lei tung der polizeilichen Ermittlungen durch den Staatsanwalt in die Praxis um setzen lässt.873 Anders als in vielen anderen Ländern, wo die Staatsanwaltschaft häufig erst mit Abschluss des Vorverfahrens überhaupt von den Ermittlungen er fährt874, funktioniert in Argentinien das System der unverzüglichen Kommunika tion zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft.875 Unklar ist dann allerdings, wie die
870 In Deutschland spricht man insoweit mit einer von Eduard Kern geprägten Formulierung von der Staatsanwaltschaft als „Kopf ohne Hände“, vgl. Roxin/Schünemann, Strafverfahrens recht, S. 51. 871 Verboten ist der Polizei nach Art. 184 Nr. 10 CPPN (1992) interessanterweise die Be schuldigtenvernehmung. Dies hängt mit den Erfahrungen aus den vergangenen Militärdiktatu ren zusammen, wo die Folter von Beschuldigten durch die Polizei eine häufige Praxis war, vgl. Córdoba/Pastor, in: Ambos/Gómez Colomer/Vogler (Hrsg.), policía, S. 71. 872 Vgl. Córdoba/Pastor, in: Ambos/Gómez Colomer/Vogler (Hrsg.), policía, S. 68. 873 Siehe Ambos/Malarino, ZStW 116 (2004), S. 513 ff. (521), die dies unter Verweis auf die in Europa bekannten Schwierigkeiten als „zentrale Frage“ der staatsanwaltlichen Ermittlungs leitung bezeichnen. 874 Für Deutschland, wo die Polizei nach § 163 Abs. 2 S. 1 der Strafprozessordnung ebenfalls zur unverzüglichen Mitteilung an die Staatsanwaltschaft verpflichtet ist, dieser Pflicht aber gerade in Fällen kleinerer und mittlerer Kriminalität sehr oft nicht bzw. zu spät nachkommt, vgl. Blankenburg/Sessar/Steffen, Staatsanwaltschaft, S. 90 ff.; Kühne, Strafprozessrecht, S. 98; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, S. 53 ff. Auch in Lateinamerika ist das Phäno men nicht unbekannt, vgl. Malarino, in: Ambos/Gómez Colomer/Vogler, policía, S. 615 f., der diese Praxis als dort weitverbreitet bezeichnet und als Beispiele Peru und Guatemala anführt. 875 Dies konstatieren Córdoba/Pastor, in: Ambos/Gómez Colomer/Vogler, policía, S. 65. Gleiches bestätigte auch Adrián Marchisio, Sekretär der Generalstaatsanwaltschaft des Bun des, in einem Gespräch mit dem Autor der vorliegenden Arbeit. Nach seiner Aussage ist das
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staatsanwaltliche Leitung der Ermittlungen im Einzelnen aussieht. Ob der Staats anwalt selbst die Ermittlungen führt und jeden Schritt vorgibt, oder ob er sich mit der rechtlichen Kontrolle und Bewertung der polizeilichen Untersuchung begnügt, ist von der individuellen Handhabe des jeweiligen Amtsträgers abhängig.876 Soweit der Staatsanwalt seine Rolle in ersterem Sinne interpretiert, also direkt auf die Er mittlungen Einfluss nehmen will, wird ihm dies dadurch grundlegend erschwert, dass ihm keine effektiven Korrektur- und Sanktionsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, wenn Polizeibeamte seinen Anweisungen nur unzureichend Folge leis ten. Art. 187 CPPN (1992) sieht für diesen Fall zwar die Möglichkeit gerichtlicher Sanktionen vor, dabei handelt es sich jedoch lediglich um einen nachträgliche und recht umständliche Kontrolle der polizeilichen Arbeit. Darüber hinaus dürfte es einen für den Staatsanwalt kaum zu bewältigenden, rein praktisch auch nicht angezeigten, Arbeitsaufwand darstellen, in allen Verfahren sämtliche alltägliche Ermittlungsmaßnahmen anzuordnen. Verfehlt ist es aber, daraus den Schluss zu ziehen, dass die Staatsanwaltschaft sich von vornherein auf die lediglich nach trägliche Kontrolle der polizeilichen Ermittlungen beschränken sollte. Gerade in komplexeren Verfahren ist es sinnvoll, dass die Staatsanwaltschaft die Voruntersu chung so lenkt, dass sie bereits die für eine spätere richterliche Entscheidung über Tat- und Schuldfrage wesentlichen, später häufig nicht mehr in dem Maße aufklär baren Punkte umfasst. In diesem Zusammenhang ist es auch Aufgabe des Staats anwalts, sicherzustellen, dass die Ermittlungen objektiv verlaufen und sich nicht zu sehr auf die Überführung eines Beschuldigten konzentrieren. Die Verpflichtung des Staatsanwalts selbst zur Objektivität wird durch die Ermittlungsführung kei neswegs zwingend beeinträchtigt.877 Um die Objektivität der staatlichen Ermittlungen sicherzustellen, wird in Ar gentinien immer wieder gefordert, der Staatsanwaltschaft eine eigene, nur mit Strafverfolgungsaufgaben befasste sog. Justizpolizei, policía judicial, unterzuord nen und beide Staatsorgane in die Judikative einzugliedern.878 Die Erfahrungen in der Provinz Córdoba, deren Strafverfahrensordnung schon seit dem Jahr 1940 eine solche Polizei vorsieht, haben jedoch gezeigt, dass ihre Implementierung ausge Problem in Argentinien im Gegenteil eher darin zu verorten, dass die Polizeibeamten auch in dringenden Fällen häufig nicht selbständig tätig werden, sondern eine Anweisung des Staats anwalts oder Richters abwarten. 876 Vgl. Rodríguez Estévez, conflicto, S. 30 f., mit Zitaten entsprechender Aussagen von Praktikern. 877 Siehe dazu schon die ausführlichen Erörterungen oben 4. Kapitel, B. III. 1. Anderer Ansicht in Bezug auf das deutsche Strafverfahren ist Gössel, GA 1980, S. 325 ff. (348 ff.), der fordert, die Polizei grundsätzlich selbständig ermitteln zu lassen und der Staatsanwalt schaft lediglich Kontrollaufgaben aufzuerlegen. Dies entspreche der bereits gängigen Praxis in Deutschland und sei zudem rechtsstaatlich geboten, da die Verpflichtung des Staatsanwalts zur Objektivität erfordere, ihn von den Ermittlungen abzukoppeln. 878 Siehe allgemein zu der Idee einer policía judicial Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 2, S. 410 ff.; Vázquez Rossi, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 362 ff.; Claría Olmedo, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 302 ff. sowie Kessler, El Derecho 197 (2002), S. 871 ff.
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sprochen schwierig ist. Neben der wirtschaftlichen Herausforderung, eine perso nalstarke neue Behörde einzurichten, besteht das Problem, dass präventive und re pressive Aufgaben der Polizei in der Praxis teils ineinander übergehen und sich nicht trennscharf abgrenzen lassen.879 Aus Sicht der Staatsanwaltschaft ergibt sich die Gefahr, dass ein an der Spitze einer solchen Behörde stehender Fiskal zwar in die Judikative eingeordnet ist, sich aber tatsächlich in eine Art „Superpolizis ten“ verwandelt.880 Deshalb erscheint die Einrichtung eines speziell mit Strafver folgungsaufgaben betrauten Zweiges der Polizei allenfalls innerhalb der Struktur der allgemeinen, von der Exekutive abhängigen Polizei sinnvoll, indem spezi ell geschulte Beamte zu diesem Zweck abgestellt werden. Auch hier wird deut lich, dass die Ermittlungen entgegen der lange klar herrschenden, inquisitorisch geprägten Vorstellung in Argentinien eben keine eindeutig der Rechtsprechung zuzuordnende Aufgabe sind. Viel spricht dafür, sie einem Staatsanwalt zu über tragen, der gerade nicht der Judikative angehört.881 e) Der Abschluss des Vorverfahrens
Ganz in der Tradition des bisherigen Bundesrechts steht die Entscheidung über den Abschluss des Vorverfahrens nach dem CPPN (1992) allein dem Richter zu, die staatsanwaltlichen Einflussmöglichkeiten sind sehr beschränkt. Stellt der Rich ter die Ermittlungen vorzeitig nach Art. 334 CPPN (1992) ein, weil sich ergibt, dass bereits eindeutig eine der Voraussetzungen des Art. 336 CPPN (1992) vor liegt, bspw. dass der untersuchte Sachverhalt keine Straftat darstellt, kann der Staatsanwalt innerhalb von drei Tagen Berufung gegen die Entscheidung des Rich ters einlegen, Art. 337 Abs. 2 CPPN (1992). Wird der Sachverhalt dagegen aus ermittelt, übt der Staatsanwalt seine Anklagefunktion dadurch aus, dass er einen Antrag nach Art. 347 CPPN (1992) beim Untersuchungsrichter auf Eröffnung des Hauptverfahrens oder Verfahrenseinstellung stellt. Beantragt der Staatsan walt die Eröffnung des Hauptverfahrens, darf der Richter nur noch dann einstel len, wenn die Verteidigung dies beantragt, sonst ist er gezwungen, dem Antrag des Staatsanwalts Folge zu leisten und das Hauptverfahren zu eröffnen, Art. 349, 350 CPPN (1992). Spricht sich der Fiskal dagegen für eine Einstellung des Ver fahrens aus, kann der Richter, wenn er anderer Ansicht ist, nach Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) das für Rechtsmittel im Vorverfahren zuständige Berufungsgericht anrufen, welches dem Fiskal entweder Recht gibt oder ihn ersetzt und seinen Nachfolger zur Anklageerhebung anweist. An diesem Bild ändert sich auch dann nichts, wenn der Staatsanwalt selbst die Ermittlungen leitet. Auch dann ist er 879 Zu der Einrichtung der policía judicial in Córdoba siehe schon oben Fn. 569 m. w. N. Zu den Argumenten gegen eine reine, völlig aus der Exekutive ausgegliederte Justizpolizei siehe Kessler, El Derecho 197 (2002), S. 871 ff. (873 f.). 880 Vgl. Kessler, El Derecho 197 (2002), S. 871 ff. (874): „superpolicía“, und Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 2, S. 414 f., der ebenfalls in diese Richtung argumentiert. 881 Siehe dazu schon oben 4. Kapitel, A. II. 3., B. III. 1.
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5. Kap.: Formaler Anklagegrundsatz in der Krise und ein eigener Weg
nicht dazu befugt, sie selbständig für beendet zu erklären, wenn schon früh offen sichtlich wird, dass kein ausreichender Ermittlungsgrund gegeben ist, sondern er muss nach Art. 213 d) CPPN (1992) die Verfahrenseinstellung beim Richter be antragen. Zudem hat der Richter jederzeit die Möglichkeit, das Verfahren nach Art. 214 CPPN (1992) wieder an sich zu ziehen und es von sich aus einzustellen. Ermittelt der Staatsanwalt zu Ende, muss er nach Art. 215 Abs. 1 i. V. m. Art. 347 CPPN (1992) wiederum einen Antrag auf Verfahrensbeendigung oder Eröffnung der Hauptverhandlung stellen, wonach das Verfahren in die oben dargestellten re gulären Bahnen übergeht. Die partielle Übertragung von Ermittlungsbefugnissen auf die Staatsanwaltschaft hat also nichts daran geändert, dass dem Staatsanwalt jede Möglichkeit zum eigenständigen Verfahrensabschluss nach wie vor vorent halten wird. Nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers sind derartige Ent scheidungen eine rein richterliche Domäne. Auch in Bezug auf die Überprüfung des staatsanwaltlichen Abschlussantrags, welche anders als im Entwurf Maier und im deutschen Strafverfahren nicht als eigenständiges Zwischenverfahren ausgestaltet ist, scheint der CPPN (1992) zu nächst weitgehend dem Vorgängergesetz aus dem Jahre 1889 zu folgen. Die ent sprechenden Vorschriften sind nun lediglich dem Buch zum Vorverfahren und nicht mehr dem Hauptverfahren zugeordnet, was zwar treffender erscheint, letzt lich aber lediglich einen formalen Unterschied bedeutet. Es besteht allerdings auch eine inhaltliche Abweichung, die sich bei näherer Be trachtung als von erheblicher Bedeutung erweist. Diese betrifft den Fall, dass der Staatsanwalt die Verfahrenseinstellung beantragt, der Untersuchungsrichter jedoch die Eröffnung des Hauptverfahrens für angezeigt hält. Der CPPN (1889) löste diesen Konflikt dahingehend, dass der Richter dem auf nächsthöherer Stufe, am Berufungsgericht, angesiedelten Fiskal die Sache vorlegen konnte, welcher dann entweder dem Staatsanwalt Recht gab, woraufhin der Richter einstellen musste, oder aber dem Richter, was zur Ersetzung des Staatsanwalts und Anklageerhebung durch seinen Nachfolger führte. Der Verfasser des CPPN (1889), Obarrio, wollte auf diese Weise gewährleisten, dass einerseits die Entscheidung über die Ver fahrensfortführung nicht allein in der Hand eines Staatsanwalts liegt, anderer seits aber auch der Richter nicht einfach wie im Inquisitionsverfahren die An klage ersetzen kann und somit seine Unparteilichkeit kompromittiert.882 Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) sieht nun ein ganz ähnliches Verfahren vor, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass die übergeordnete Entscheidungsinstanz nun nicht mehr der Ankläger am Berufungsgericht, sondern das Berufungsge richt883 selbst ist. Der Autor des Gesetzentwurfes, auf welchem der spätere CPPN 882
Siehe dazu die Ausführungen oben 3. Kapitel, B. III. 3. a). Mit Einführung der mündlichen Hauptverhandlung durch den CPPN (1992) ist das Be rufungsgericht entgegen der auf den ersten Blick irreführenden Bezeichnung nur noch für die Entscheidung über im Vorverfahren eingelegte Rechtsmittel zuständig. Über die Kassation, mit der in wenigen Ausnahmefällen das Endurteil angegriffen werden kann, entscheidet der natio nale Kassationsgerichtshof. 883
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(1992) basiert, Levene (h.), wich hier ganz bewusst von der bis dato eingebür gerten Verfahrensweise ab, wie sich deutlich aus den Motiven der entsprechen den Regelung ergibt. Nach seiner Ansicht werden dem Staatsanwalt an der Be rufungskammer mit der endgültigen Entscheidung über Verfahrenseinstellung oder Anklageerhebung originär richterliche Befugnisse übertragen. Um zu ver meiden, dass das Anklageorgan in die richterliche Zuständigkeit eindringt, sei da her gegenüber dem bisherigen System die gerichtliche Kontrolle der Anklageer hebung zu bevorzugen, wie sie auch in Deutschland, Frankreich und Österreich praktiziert werde.884 In den Auffassungen Obarrios und Levenes (h.) zeigt sich ein prinzipieller Widerspruch im Verständnis der Entscheidung über Verfahrenseinstellung oder Anklageerhebung. Während Obarrio diese Entscheidung als Anklagetätigkeit sieht und sie daher vom Gericht fernhalten will, versteht Levene (h.) sie als gerade dem Richter zustehende Letztentscheidung, welche nicht der Antragsfunktion des Staatsanwalts entspricht, die sich darauf beschränkt, eine solche Entscheidung des Richters in Gang zu setzen. Die Regelung des Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) betrifft damit die grundsätzliche Ausgestaltung der Anklagefunktion der Staats anwaltschaft im Verhältnis zum Gericht. Die Frage, inwieweit ein Gericht die Mitwirkung der Anklagebehörde ersetzen bzw. übergehen kann, um zu vermei den, dass die Staatsanwaltschaft den Prozess eigenständig beendet, hat entspre chend nicht nur für die dort ausdrücklich geregelte Verfahrensphase Bedeutung. Angesichts der identischen Interessenlage ist es wie bereits dargelegt sinnvoll, den gleichen Mechanismus schon auf einen Dissens zwischen Staatsanwalt und Untersuchungsrichter über die Einleitung des Vorverfahrens anzuwenden. Und auch mit dem späteren, ebenfalls vieldiskutierten Problem, inwieweit sich das Gericht bei einem Antrag des Staatsanwalts auf Freispruch auf den Antrag auf Verfahrenseröffnung stützen kann, um zu verurteilen, hängen die folgenden Er örterungen zusammen, dazu sogleich. Die Vorschrift des Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) gehörte daher in der ersten Dekade nach dem Inkrafttreten des CPPN (1992) zu den umstrittensten Vorschriften des neuen Gesetzes und führte zu sehr umfangreichen und kontroversen Diskussionen sowohl in der Lehre als auch in der Rechtsprechung über die Rollenverteilung zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht. Schon früh sahen einige Kritiker die Vorschrift in Ahnlehnung an den Ge dankengang Obarrios als verfassungswidrig an, da sie im Widerspruch zum An klagegrundsatz stehe und damit das Recht des Angeklagten auf einen fairen Pro zess aus Art. 18 CN verletze. Erheblich an Stärke gewann diese Kritik mit der Verfassungsreform im Jahre 1994, durch welche Art. 120 CN Eingang in die Verfassung fand. Damit ordnet die Verfassung die Anklagefunktion ausdrücklich der Staatsanwaltschaft zu, welche sie unabhängig von Exekutive und auch Judi
884
Levene (h.), Proyecto, S. 24 f.
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kative ausüben soll.885 Als einfachgesetzliche Umsetzung des verfassungsrecht lichen Unabhängigkeitsgebots trat zudem im Jahre 1998 das Gesetz zur Orga nisation der Bundesstaatsanwaltschaft in Kraft, dessen Art. 1 Weisungen durch Externe an Amtsträger der Staatsanwaltschaft verbietet. Eine Reihe von Stim men sahen hierin einen klaren Widerspruch zu Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992), wonach die Berufungskammer den staatlichen Ankläger zur Anklageerhebung „anweist“. Daher finde Art. 76 ley org.MP (1998) Anwendung, wonach alle Nor men, die im Widerspruch zum Organisationsgesetz stehen, aufgehoben werden.886 Die Verletzung des Anklagegrundsatzes war zwar der Hauptkritikpunkt gegenüber Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992), jedoch nicht der einzige. Teilweise wurde auch an geführt, das dort vorgesehene Verfahren verstoße gegen das Verteidigungsrecht des Beschuldigten, da zwar die Anklageseite, nicht aber er vom Berufungsgericht gehört werde.887 Und zuletzt brachte man auch noch ein rechtspolitisches Argu ment an: Die Anklageerhebung bedeute aufgrund der Überlastung der Strafver folgungsorgane notwendig eine Verfahrensselektion. Die Gerichte seien hingegen schon aufgrund ihrer inneren Struktur, d. h. ihrer Unabhängigkeit voneinander, per se nicht in der Lage einheitliche Kriterien für eine solche Selektion durch zusetzen.888 Umgekehrt fanden sich aber, vor allem in der Rechtsprechung889, viele Vertei diger der bestehenden Gesetzeslage, welche Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) als ver fassungsrechtlich unbedenklich ansahen. So wurde vertreten, die Norm stelle zwar eine Ausnahme zum Anklagegrundsatz dar, diese sei jedoch gerechtfertigt, da le diglich in einem Konflikt zwischen Verfahrensgrundsätzen dem Legalitätsprin zip der Vorrang eingeräumt werde, welches eine gerichtliche Überprüfung der staatsanwaltlichen Anklage erfordere. Zudem übe die Staatsanwaltschaft in jedem Falle zumindest formal noch ihre Anklagefunktion aus.890 Mit eingebracht in diese Argumentation wurde auch, dass der staatsanwaltliche Antrag auf Verfahrens eröffnung allenfalls ein Teil der staatsanwaltlichen Anklage sei und die Beru fungskammer sie somit auch nicht vollständig übernehme. Vielmehr klage die Staatsanwaltschaft später noch einmal selbständig im Hauptverfahren in Form ih 885
Cerletti/Folguero, in: Maier (Hrsg.), Ministerio Público, S. 139; Gil Lavedra, Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 7 (1997), S. 829 ff. (833 f., 842 ff.); Di Masi/Obligado, CPPN, S. 423; Vegezzi, Nueva Doctrina Penal 2001-A, S. 265 ff. (266 ff.). 886 Vegezzi, Nueva Doctrina Penal 2001-A, S. 265 ff. (274 ff.); Goransky/Rusconi, Nueva Doctrina Penal 1999-A, S. 245 ff. (261); auch Filippini, La Ley 2002-D, S. 837 ff. (839 ff.), der die Aufhebung schon direkt aus Art. 120 CN herleitet. 887 Goransky/Rusconi, Nueva Doctrina Penal 1999-A, S. 245 ff. (257 f.). 888 Bruzzone; in: Maier (Hrsg.), Ministerio Público, S. 184; Pons/Bruzzone; Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 0 (1993), S. 219 ff. (230 ff.). 889 Rechtsprechungsnachweise finden sich bei Gil Lavedra, Cuadernos de Doctrina y Juris prudencia Penal Nr. 7 (1997), S. 829 ff. (830 ff.); Amadeo/Palazzi, CPPN, S. 532; Chiara Díaz/ Meana, CPPN, S. 187. 890 Narvaiz; Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr: 4, 5 (1997), S. 983 ff. (986 f.); D’Albora, CPPN Bd. 2, S. 770 f.
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res dortigen Abschlussantrags an.891 Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) verstoße außer dem nicht gegen die Unabhängigkeitsgarantie des Art. 120 CN, da diese Ver fassungsvorschrift deutlich klarstelle, dass die Unabhängigkeit der Staatsanwalt schaft keine uneingeschränkte Übertragung der Anklagefunktion auf die Fiskale bedeute, sondern diese ihre Tätigkeit „in Koordination mit den anderen Staatsor ganen“ auszuüben hätten. Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) sei lediglich Ausdruck der durch diese Formulierung gedeckten rechtsstaatlichen Kontrolle der Staatsanwalt schaft von außen, keinesfalls jedoch eine Übernahme der Anklagefunktion.892 An gesichts der zahlreichen verfassungsrechtlichen Verschränkungen zwischen den Gewalten sei es reiner Formalismus, auf eine trennscharfe Abgrenzung zwischen Anklage- und Entscheidungsfunktion zu pochen. Auch das Verfahrensrecht kenne eine Reihe von Ausnahmen zu den Prozessgrundsätzen, ohne dass dadurch das Ge samtsystem in Gefahr gerate. Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) sei eine davon, da die Objektivität des Gerichts der Hauptverhandlung aufgrund der Personenverschie denheit zur Berufungskammer in keiner Weise beeinträchtigt sei. Zumindest bei konkreter Betrachtung bestehe schon daher kein Grund zur Beanstandung der Vor schrift.893 Angesichts dessen habe der Gesetzgeber sie auch nicht mit dem Gesetz zur Organisation der Staatsanwaltschaft von 1998 aufheben wollen, wie sich daran zeige, dass Art. 76 ley org.MP (1998) eine Reihe von widerrufenen Normen nenne, nicht aber den Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992), welcher als eine zentrale Norm der Bundesstrafprozessordnung sicher ebenfalls Erwähnung gefunden hätte.894 Auch diese Gegenargumente konnten die Zweifel an der Verfassungsmäßig keit des Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) jedoch nicht ausräumen. Die Kritiker der Norm erwiderten, dass der Verstoß gegen den Anklagegrundsatz keineswegs mit dem Legalitätsprinzip gerechtfertigt werden könne, der behauptete Widerspruch zwischen den beiden Prozessgrundsätzen bestehe gar nicht. Denn der Fiskal, wel cher die Einstellung des Verfahrens beantragt, weil nach seiner Einschätzung keine ausreichende Verurteilungswahrscheinlichkeit besteht, disponiere nicht frei über die Strafklage, sondern wende einfach objektiv das Gesetz an. Aber selbst wenn man eine Einschränkung des Legalitätsprinzips annehme, könne dies niemals eine Ausnahme zum verfassungsrechtlich garantierten Anklagegrundsatz begründen, da das Legalitätsprinzip selbst keinen Verfassungsrang besitze.895 Dass der Staats anwalt jederzeit formal die Anklageposition behalte und zudem auch noch zum 891 So die Argumentation des Nationalen Kassationsgerichtshofes in der Entscheidung „Sánchez“, vgl. Gil Lavedra, Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 7 (1997), S. 829 ff. (831). Die Frage, welche Verfahrensakte im CPPN (1992) genau die staatsanwaltliche Anklage konstituieren, wird später noch ausführlich im Rahmen der Stellung des Staatsanwalts im Hauptverfahren untersucht werden. 892 Palacio, La Ley 2004-C, S. 97 f. (98); Bidart Campos, La Ley 2003-D, S. 574 ff. 893 Maier/Langer, Nueva Doctrina Penal 1996-B, S. 617 ff. (621); Palacio, in: La Ley 2004C, S.97 f. (98). 894 Palacio, La Ley 2004-C, S. 97 f. (98); Filippini, La Ley 2002-D, S. 837 ff. (839). 895 Gil Lavedra, Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 7 (1997), S. 829 ff. (845 f.).
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Abschluss des Hauptverfahrens seine Funktion ausüben könne, sei ebenfalls keine überzeugende Legitimation des Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992). Unabhängig von der genauen Definition der staatsanwaltlichen Anklage sei der Antrag auf Ver fahrenseröffnung als Voraussetzung für den Übergang ins Hauptverfahren ein we sentlicher Teil der Anklagefunktion, welcher nicht einem Gericht überlassen wer den dürfe. Genau dies sei aber der Fall, wenn das Berufungsgericht materiell über den Antrag entscheide und die Staatsanwaltschaft nur noch seinen Willen exeku tiere.896 Zuletzt sei eine Verletzung des Anklagegrundsatzes nicht schon deswegen abzulehnen bzw. als ungefährlich einzustufen, weil das Gericht des Hauptverfah rens vom Berufungsgericht personenverschieden und damit nicht in seiner Objek tivität beeinträchtigt ist. Der Anklagegrundsatz gelte als Ordnungsprinzip für Ge richte und Staatsanwaltschaft in ihrer Gesamtheit.897 So sei zwar die Objektivität des Gerichtes des Hauptverfahrens nicht konkret verletzt, aber diejenige des Be rufungsgerichts im Vorverfahren. Die Objektivität, mit welcher das Berufungsge richt über die im Vorverfahren eingelegten Rechtsmittel zu entscheiden habe, sei nicht mehr gewährleistet, und das Gericht habe im Falle, dass die Verteidigung nach Art. 350 CPPN (1992) im Anschluss an die Anklageerhebung Klagemängel geltend mache, gar seine eigene Entscheidung zu überprüfen.898 Die aus den gegensätzlichen Positionen entstehende Uneinigkeit über die An wendbarkeit des Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) führte zu erheblicher Rechts unsicherheit, welche erst im Dezember des Jahres 2004 durch die Entscheidung „Quiroga“ beseitigt wurde, mit welcher der Oberste Gerichtshof Argentiniens das Verfahren des Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) für verfassungswidrig erklärte.899 Auf grund der Bindungswirkung dieser Entscheidung900 wurde die Vorschrift damit für alle argentinischen Bundesgerichte unanwendbar. In der umfangreichen und komplexen Urteilsbegründung901 setzte sich das Gericht ausführlich mit den oben 896 Gil Lavedra, Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 7 (1997), S. 829 ff. (837 f.); ähnlich Filippini, in: La Ley 2002-D, S. 837 ff. (841). 897 Goransky/Rusconi, Nueva Doctrina Penal 1999-A, S. 245 ff. (257); Gil Lavedra, Cuader nos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 7 (1997), S. 829 ff. (846). 898 Suriz, Nueva Doctrina Penal 1999-A, S. 263 ff. (280). 899 Corte Suprema de Justicia de la Nación, Q. 162.XXXVIII Quiroga, Edgardo Oscar s/ causa Nº 4302, Entscheidung vom 23.12.2004, abgedruckt in: Secretaría de jurisprudencia del tribunal (Hrsg.), Fallos de la Corte Suprema de Justicia de la Nación, Bd. 327–4 (2004), S. 5863–5959. 900 Im wie schon dargelegt am US-amerikanischen Vorbild orientierten argentinischen Ver fassungssystem können alle Gerichte anhand eines konkreten Falles eine einfachgesetzliche Vorschrift für verfassungswidrig und damit nicht anwendbar erklären. Nur die Entscheidun gen des Obersten Gerichtshof Argentiniens entfalten jedoch Bindungswirkung für alle übrigen Tribunale. Diese für die Rechtssicherheit unabdingbare Vereinheitlichung der Rechtsprechung ergibt sich aus Verfassungsgewohnheitsrecht und ist allgemein anerkannt, vgl. Sagretti, La Ley Córdoba 2003, S. 45 ff. (46 ff.); Guardia, Doctrina Judicial 2004–2, S. 20 ff. (22 f.) m. w. N. 901 Von den sechs Richtern der urteilstragenden Mehrheit (ein Richter lehnte schon die Zu ständigkeit des Obersten Gerichtshofs aus prozessualen Erwägungen heraus ab) begründeten vier die Entscheidung in z. T. sehr ausführlichen Sondervoten, vgl. Fallos de la Corte Suprema 327-4 (2004), S. 5898 ff.
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dargelegten Argumenten auseinander. Es kam zum Schluss, dass Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) zwar nicht schon durch den Gesetzgeber mittels Art. 76 ley org.MP (1998) aufgehoben worden sei, da er in letzterer Vorschrift keine Erwähnung fin det902, aber als Verstoß gegen den Anklagegrundsatz die Garantien der richter lichen Unparteilichkeit, des Verteidigungsrechts und des fairen Prozesses gefährde und zudem die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft verkenne903. Seit Einfügung des Art. 120 CN sei unzweifelhaft, dass die Verfassung eine strikte Trennung zwi schen Anklage- und Urteilsfunktion vorsehe, Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) hinge gen vereinige diese Funktionen im Berufungsgericht.904 Die rechtsstaatliche Kon trolle der Staatsanwaltschaft bei Ausübung der Anklagefunktion könne nicht ihre Ersetzung durch das kontrollierende Staatsorgan rechtfertigen, sondern habe die engen Grenzen, welche die Unabhängigkeitsgarantie des Art. 120 CN vorgebe, zu beachten.905 Zwar werde durch die Aufhebung des Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) die Überprüfbarkeit des staatsanwaltlichen Entscheidungsmaßstabs verringert, was in der Tat eine Einschränkung des Legalitätsprinzips bedeute, auch dieser Grundsatz rechtfertige aber keine Ausnahme zum Akkusationsprinzip, da er nicht die Erzwingbarkeit der Klageerhebung von außen erfordere.906 Zuletzt bejahte der Oberste Gerichtshof auch eine Beeinträchtigung der richterlichen Objektivität als konkrete Folge der Verletzung des Anklagegrundsatzes, da er nicht auf das Gericht des Hauptverfahrens abstellte, sondern im Sinne der bereits oben dargestellten Argumentation schon auf das Berufungsgericht im Vorverfahren. Durch die An weisung zur Anklage werde die Unparteilichkeit bei zuvor getroffenen Entschei dungen über im Vorverfahren eingelegte Rechtsmittel nachträglich in Zweifel ge zogen, zudem könne Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) zu der Konsequenz führen, dass das Berufungsgericht auf Veranlassung der Verteidigung seine eigene Anklage zu überprüfen habe.907 Aus den dargelegten Gründen habe Art. 120 CN, welcher die unabhängige Ausübung der Anklagefunktion durch die Staatsanwaltschaft vor sehe, den Gerichtshof dazu gezwungen, das in Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) vor gesehene Kontrollverfahren für verfassungswidrig zu erklären.908 Mit der Außerkraftsetzung des Verfahrens nach Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) durch die Entscheidung „Quiroga“ ist die zentrale Regelung des CPPN (1992) zur Siehe Punkt 36 der Urteilsbegründung, Fallos, S. 5896 f., sowie Punkt 37 des Sonder votums Maqueda, Fallos, S. 5949. 903 Siehe Punkt 7 der Urteilsbegründung, Fallos, S. 5886. 904 Siehe Punkt 30 der Urteilsbegründung, Fallos, S. 5893 sowie die Punkte 13, 17 des Son dervotums Zaffaroni, Fallos, S. 5954 f., 5955 f. 905 Siehe die Punkte 31, 33 der Urteilsbegründung Fallos, S. 5893 f., 5895 und auch Punkt 9 des Sondervotums Maqueda, Fallos, S. 5937. 906 Siehe die Punkte 22, 31 der Urteilsbegründung, Fallos, S. 5891, 5893 f. sowie Punkt 44 des Sondervotums Fayt, Fallos, S. 5925 f. 907 Siehe die Punkte 12, 18, 34 der Urteilsbegründung, Fallos, S. 5887, 5889 f., 5895; Punkt 35 des Sondervotums Maqueda, Fallos, S. 5948 f.; Punkte 12, 18 des Sondervotums Zaffaroni, Fal los, S. 5954, 5955 f. 908 Siehe Punkt 38 der Urteilsbegründung, Fallos, S. 5897. 902
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Lösung des Dissenses zwischen Richter und Staatsanwalt über die Fortführung des Verfahrens weggefallen. Daraus ergibt sich die Frage, welche Konsequen zen die auf diese Weise gerissene Lücke für die Ausübung der Anklagefunktion durch die Staatsanwaltschaft hat. Auch nach den Vorstellungen der Kritiker des Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) sollte die Aufhebung des Kontrollmechanismusses nicht dazu führen, dass die Entscheidung über den Fortgang des Verfahrens allein in den Händen eines einzelnen Staatsanwalts liegt. Dies verstoße gegen das Lega litätsprinzip sowie den Grundsatz der Kontrollierbarkeit staatlicher Entscheidun gen.909 Entsprechend suchte man nach alternativen Möglichkeiten, den Antrag des Fiskals auf Verfahrenseinstellung der Überprüfung durch einen Dritten zugänglich zu machen, ohne dadurch die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft bei der Aus übung der Anklagefunktion zu verletzen. Die von vielen favorisierte Variante ist dabei die einer internen Kontrolle innerhalb der Hierarchie des Ministerio Público Fiscal durch den Staatsanwalt am Berufungsgericht, wie sie schon die alte Bun desstrafverfahrensordnung Obarrios vorsah.910 Bis zu einer entsprechenden ge setzlichen Neuregelung im CPPN seien Art. 1 Abs. 4 ley org.MP (1998), wel cher den Vorgesetzten innerhalb des Ministerio Público Fiscal die Kontrolle der untergeordneten Staatsanwälte überträgt, sowie das in der Verfassung verankerte Rechtsstaatsprinzip als ausreichende Rechtsgrundlagen heranzuziehen.911 Auch in der Entscheidung „Quiroga“ findet diese Möglichkeit Erwähnung. Richter Ma queda erklärt in Punkt 27 seines Sondervotums ausdrücklich, dass sie nicht gegen Art. 120 CN verstoße, letztlich sei ihre Implementierung aber eine kriminalpoliti sche, der Rechtsprechung fremde Frage.912 Innerhalb der Staatsanwaltschaft selbst wird diese Lösung ebenfalls favorisiert. Der Procurador General de la Nación übersandte bereits kurz vor der „Quiroga“-Entscheidung ein entsprechendes Re formprojekt an das Abgeordnetenhaus und erließ in Folge der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs im Jahre 2005 eine Resolution, wonach die Staatsanwälte des Bundes in Fällen, wo das Gericht den Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) anwenden will, die Verfassungswidrigkeit des Verfahrens einwenden und beantragen sollen, dass stattdessen dem Staatsanwalt am Berufungsgericht der Fall zur Entscheidung vorgelegt wird.913 Da der Gesetzgeber bis heute keine Reform des Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) durchgeführt hat, findet gegenwärtig also auf Grundlage der Resolu tion des Generalstaatsanwalts des Bundes ein Kontrollmechanismus Anwendung, welcher der Regelung des CPPN (1889) entspricht. Diese Praxis wird von eini gen Seiten allerdings scharf kritisiert. Das Gesetz zur Organisation der Staatsan waltschaft aus dem Jahre 1998 sehe lediglich eine Kontrolle innerhalb des Ministerio Público Fiscal vor. Dafür, dass der Untersuchungsrichter als Außenstehender den Staatsanwalt am Berufungsgericht einschalte, fehle jede Rechtsgrundlage. 909
Eindrücklich in diesem Sinne Solimine, in: La Ley 2002-A, S. 1143 f. Solimine, in: La Ley 2002-A, S. 1144 f.; Suriz, in: Nueva Doctrina Penal 1999-A, S. 276; Di Masi/Obligado, CPPN, S. 423; Carra,l in: La Ley 2006-B, S. 1076 f. 911 Solimine, in: La Ley 2002-A, S. 1144 f. 912 Fallos de la Corte Suprema 327–4 (2004), S. 5945 f. 913 Vgl. dazu D’Albora, CPPN Bd. 2, S. 776 f. 910
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Der Generalstaatsanwalt maße sich gesetzgeberische Befugnisse an, welche auch noch zu Lasten des Beschuldigten gingen.914 Das Fehlen der Regelung des Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) führe dazu, dass der Untersuchungsrichter dem Einstellungs antrag des Staatsanwalts grundsätzlich Folge leisten müsse.915 Dies bedeute jedoch nicht, dass gar keine weiteren Möglichkeiten zur Kontrolle des staatsanwaltlichen Abschlussantrags existierten. So wird auf die Vorschriften der Art. 69 sowie 347 letzter Teil CPPN (1992) verwiesen, wonach der Richter den Einstellungsantrag des Fiskals für nichtig erklären kann, wenn er nicht ausreichend begründet ist, so wie auf Art. 272, 274 des argentinischen Strafgesetzbuches, welche einen unge rechtfertigten Einstellungsantrag des Staatsanwalts als Amtspflichtverletzung mit Strafe bedrohen.916 Neben diesen allgemeinen Vorschriften besteht auch noch eine weitere Variante zur Kontrolle des staatsanwaltlichen Einstellungsantrags, wel che ihrerseits besonderes Interesse verdient. Dabei handelt es sich um die Mög lichkeit des Opfers einer Straftat als Privatkläger, querellante i. S. d. Art. 82 CPPN (1992), die Überprüfung des staatsanwaltlichen Einstellungsantrags zu verlangen. Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) sieht nicht nur vor, dass der Einstellungsantrag dem Berufungsgericht vorgelegt wird, wenn der Untersuchungsrichter sich für die Er öffnung des Hauptverfahrens ausspricht, sondern auch, wenn dies nur der Pri vatkläger tut. Der Oberste Gerichtshof stellt in seiner „Quiroga“-Entscheidung nebenbei klar, dass letztere Alternative weder gegen die Unparteilichkeit des Ge richts noch gegen die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft verstößt, da hier eben der Privatkläger die Anklagefunktion übernimmt und nicht das Gericht.917 Eine Überprüfung des Einstellungsantrags durch das Berufungsgericht ist also dann nach wie vor möglich, wenn sie durch den Privatkläger veranlasst wird. Dem entspricht, dass der Privatkläger auch schon die Entscheidung des Untersuchungs richters, eine Anzeige abzuweisen, nach Art. 180 Abs. 3 CPPN (1992) angreifen kann. Die Beteiligung des Opfers stellt daher im CPPN (1992) eine beachtens werte Möglichkeit dar, die Entscheidung zur Verfahrensbeendigung überprüfen zu lassen, ohne die Funktionenaufteilung von Gericht und Staatsanwaltschaft zu beeinträchtigen.918 Trotz des Verweises auf die verschiedenen bestehenden Kon trollmöglichkeiten sehen jedoch gerade auch diejenigen, welche die gegenwär tige Praxis der Überprüfung durch den Staatsanwalt am Berufungsgericht mangels Rechtsgrundlage ablehnen, eine dringende Notwendigkeit, dass der Gesetzgeber 914
Navarro/Daray, CPPN Bd. 2, S. 1020 f.; D’Albora, CPPN Bd. 2, S. 777. In diesem Sinne schon Gil Lavedra, in: Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 7 (1997), S. 846 f. 916 Gil Lavedra, in: Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 7 (1997), S. 847; vgl. auch Punkt 43 des Sondervotums Fayt in der Entscheidung „Quiroga“ in: Fallos de la Corte Suprema 327–4 (2004), S. 5925 sowie Punkt 25 des Sondervotums Zaffaroni in derselben Ent scheidung in: Fallos de la Corte Suprema 327–4 (2004), S. 5957 f. 917 Fallos de la Corte Suprema 327–4 (2004), S. 5897. 918 Ausführlich Castex, in: La Ley 2006-B, S. 67 ff. Zur Perspektive dieser Form der Opfer beteiligung am Strafprozess vgl. auch Goransky/Rusconi, in: Nueva Doctrina Penal 1999-A, S. 260. 915
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5. Kap.: Formaler Anklagegrundsatz in der Krise und ein eigener Weg
tätig wird und das Verfahren des Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) verfassungskon form reformiert.919 Im Konflikt zwischen den Konzeptionen der vorherigen und der gegenwärtigen Bundesstrafverfahrensordnung, welcher als Ausgangspunkt der vorliegenden Er örterungen diente, hat sich also letztlich die ältere Auffassung Obarrios durchge setzt, wonach die funktionale Trennung von Gericht und Staatsanwalt vorgibt, dass die endgültige Entscheidung über die Anklageerhebung bei Letzterem verbleibt.920 Dies bedeutet jedoch keinen Anachronismus. Ganz im Gegenteil ist es so, dass die neuere Regelung des Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) einen Rückschritt gegenüber der über hundert Jahre älteren vorherigen Verfahrensordnung darstellt. Das zu lö sende Problem lässt sich zurückführen auf die zwei unterschiedlichen Konzep tionen der Wahrheitsfindung, welche durch die Einführung des Anklagegrundsat zes in eine inquisitorische Grundstruktur aufeinandertreffen. Im adversatorischen Verfahren führen Anklage und Verteidigung dem Richter, welcher sich auf die Rolle eines neutralen Schiedsrichters beschränkt, die Beweisgrundlage für seine Entscheidung zu. Nach dem der Inquisitionsmaxime zugrundeliegenden Gedan ken bedeutet die Filterung dessen, was zum Richter gelangt durch die Parteien, bis hin zu dem Extrem, dass sie ihm die Entscheidungsgrundlage vollständig entzie hen, gerade eine Beeinträchtigung der richterlichen Objektivität. Daher liegt hier die Verfahrensherrschaft vollständig beim staatlichen Entscheidungsorgan, wel ches von sich aus umfassend die historische, materielle Wahrheit ermittelt. Le vene (h.) bezieht sich nun auf die klassische Aussöhnung dieses Widerspruchs durch das reformierte Inquisitionsverfahren, wonach der Anklagegrundsatz neben der Inquisitionsmaxime nur formale Geltung beanspruchen kann. Danach muss die Ermittlungstätigkeit des Richters durch einen Impuls des Anklageorgans aus gelöst werden. Ist dies einmal geschehen, kann der Staatsanwalt die Wahrheits ermittlung nicht mehr beeinträchtigen, indem er dem Gericht nachträglich die Ent scheidungsgrundlage entzieht.921 Eine genauere Betrachtung des CPPN (1992) zeigt jedoch, dass sich dieses Konzept angesichts der doppelten staatlichen Wahr heitsermittlung, zunächst in einem Vor- und dann im Hauptverfahren, nicht voll ständig durchhalten lässt. Aufgrund ihrer Verstaatlichung wird bereits die Voruntersuchung in der Bundes strafverfahrensordnung Argentiniens als ein förmlicher Teil des Strafverfahrens angesehen.922 Wendet man wie Levene (h.) darauf die Aufgabenverteilung nach dem formalen Anklagegrundsatz an, steht auch das Vorverfahren unter der Verfah 919
Navarro/Daray, CPPN Bd. 2, S. 1021; D’Albora, CPPN Bd. 2, S. 777; Gil Lavedra, in: Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 7 (1997), S. 847. 920 Auch die „Quiroga“-Entscheidung nimmt direkten Bezug auf Obarrio, vgl. Punkt 15 der Urteilsbegründung in Fallos de la Corte Suprema 327–4 (2004), S. 5888 f. 921 Siehe dazu schon oben 1. Kapitel, B. II. 922 Anders ist dies in den adversatorischen Verfahrensstrukturen, wo die Voruntersuchung noch nicht zum eigentlichen Strafverfahren gezählt wird, vgl. dazu die Ausführungen oben 4. Kapitel, B. III. 1.
A. Bundesstrafverfahrensordnung von 1992 und ihre Weiterentwicklung
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rensherrschaft des Richters und der Staatsanwalt ist lediglich auf Antragsrechte be schränkt. Er kann die richterliche Untersuchung einleiten, nicht jedoch beenden.923 Nun soll aber im reformierten Inquisitionsprozess die eigentlich entscheidungser hebliche Wahrheitsfindung erst in einem anschließenden, eigenständigen Haupt verfahren stattfinden, die Voruntersuchung dient ausschließlich zur Feststellung, ob ausreichender Grund zur Anklageerhebung besteht. Die Zäsur zwischen Vorund Hauptverfahren bedeutet gerade, dass der Kern der staatsanwaltlichen Ankla gefunktion nicht in der Einleitung des Vorverfahrens, sondern im qualifizierten, auf dem staatlichen Ermittlungsergebnis basierenden Antrag liegt, welcher die für das Urteil maßgebliche richterliche Beweiserhebung in der Hauptverhandlung in itiiert. Dass sich der Staatsanwalt auch gegen die Einleitung des Hauptverfahrens und damit für eine Verfahrensbeendigung entscheiden kann, ist nichts anderes als die negative Ausübung jener Anklagebefugnis. Entzieht man ihm diese und gibt einem Gericht die Möglichkeit, das Hauptverfahren einzuleiten, wie mit Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) geschehen, ist zwar bei isolierter Betrachtung des Vorverfah rens die gezeigte Aufteilung zwischen Anklage- und Urteilsorgan gewahrt, nicht jedoch in Bezug auf das Hauptverfahren, welches von einem Gericht eingeleitet wird. Dies führt, wie in der „Quiroga“-Entscheidung überzeugend dargelegt, zu nächst konkret zu einer Beeinträchtigung der Objektivität des Berufungsgerichts, welches sich als Ankläger betätigt. Aber auch die Objektivität des Gerichts des Hauptverfahrens ist gefährdet. Zur Begründung für diese These lässt sich argu mentativ ein Bogen zu den Erwägungen bezüglich der Organisation der Staats anwaltschaft spannen. Anhand der Judikativstellung der Anklagebehörde wurde dort dargelegt, dass die Unabhängigkeit des Anklageorgans von der Rechtspre chung einerseits und die Objektivität des Entscheidungsorgans andererseits nicht mehr ausreichend gewahrt bleiben, wenn beide innerhalb der Judikative eingeord net sind.924 Dies gilt natürlich in gleichem, wenn nicht noch stärkerem Maße, wenn die Anklage nicht durch eine der Judikative zugeordnete Staatsanwaltschaft, son dern durch ein auch als solches bezeichnetes Gericht ausgeübt wird.925 Die Tren nung von Anklage- und Urteilsfunktion, welche die Objektivität des Gerichts erst ermöglicht, verlangt, dass die Anklagefunktion außerhalb der Judikative ausge übt wird. Oder umgekehrt formuliert, die Einordnung von Ankläger und Urteilsor gan in verschiedene Gewalten ist die Basis zur Wahrung des Anklagegrundsatzes. Folglich ist der Anklagegrundsatz tatsächlich mit Obarrio als formales Ordnungs 923 Lässt man demgegenüber wie Maier in seinem Konkurrenzentwurf den Staatsanwalt selbst die Beweisgrundlage für seine Entscheidung über die Anklageerhebung ermitteln, ver meidet man zumindest das Problem, dass der Staatsanwalt mit der negativen Entscheidung über die Anklageerhebung eine richterliche Untersuchung beendet. Dennoch beließ auch der Ent wurf Maier die Verfahrenseinstellung letztlich in richterlicher Hand. Vgl. dazu oben 4. Kapitel, B. III. 1. 924 Vgl. dazu die Erörterungen oben, 4. Kapitel, A. II. 3. 925 Siehe dazu schon oben, 4. Kapitel, B. III. 1., die Ausführungen zum Zwischenverfahren im Entwurf Maier, wonach ebenfalls ein Gericht die Staatsanwaltschaft zur Anklageerhebung anweisen konnte.
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5. Kap.: Formaler Anklagegrundsatz in der Krise und ein eigener Weg
prinzip anzusehen, demgemäß die Anklagefunktion stets von der organisatorisch streng von den Gerichten getrennten Staatsanwaltschaft ausgeübt werden muss.926 Für eine solche Auslegung bietet auch das argentinische Verfassungsrecht eine Stütze, welches nicht nur nach seiner Gesamtkonzeption Anklage- und Urteils funktion strikt voneinander trennt927, sondern vor allem seit der Verfassungsreform im Jahre 1994 in Art. 120 CN die Anklagefunktion ausdrücklich der Staatsanwalt schaft zuordnet.928 Konkret darf die Verfassungswidrigkeit des Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) aber auch nicht dazu führen, dass das Schicksal des Verfahrens nun in der Hand eines einzelnen Staatsanwalts liegt. Die Gefahr, dass er die Kehrseite seiner Anklage funktion, die Befugnis nicht anzuklagen, missbraucht, ist gerade vor dem Hinter grund der zahlreichen Fälle politisch motivierter Straflosigkeit in Argentinien, sog. impunidad,929 keineswegs abwegig.930 Um dieser Gefahr zu begegnen ohne gleich zeitig den Anklagegrundsatz zu verletzen, wäre es, unabhängig von den anderen, im Anschluss an die „Quiroga“-Entscheidung aufgezeigten Kontrollmechanismen, sinnvoll, die alte Verfahrensweise der Vorlage des staatsanwaltlichen Einstellungs antrags an den übergeordneten Fiskal wieder auf eine sichere Rechtsgrundlage zu stellen. f) Entscheidungsmaßstab des Fiskals: Legalität und Opportunität
Auch unter der Geltung der Bundesstrafverfahrensordnung von 1992 ist der Fiskal strikt an das Legalitätsprinzip gebunden, d. h. er muss seine Anklagetätig keit streng nach den objektiven Kriterien des Gesetzes richten, Zweckmäßigkeits erwägungen sind grundsätzlich nicht zugelassen. Dies ergibt sich schon aus der in quisitorischen Grundkonzeption des Gesetzes, wonach der Staat verpflichtet ist, in Gestalt des Richters aktiv, umfassend und objektiv das reale Tatgeschehen zu ermitteln. Zwar muss die Untersuchungstätigkeit des Richters durch einen staat 926 Im Ergebnis, allerdings ohne explizite Begründung, so auch Goransky/Rusconi, in: Nueva Doctrina Penal 1999-A, S. 257; Gil Lavedra, in: Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 7 (1997), S. 846. 927 Als Beispiele lassen sich hierzu die Vorschriften zum politischen Prozess und zum Ge schworenenprozess anführen, siehe dazu schon oben 2. Kapitel, B. III. 928 Siehe dazu die Ausführungen des Richters Fayt in seinem Sondervotum im Rahmen der „Quiroga“-Entscheidung, mit denen er die Verfassungswidrigkeit von Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) aus Art. 120 CN herleitet. Vgl. Sondervotum Fayt Punkte 36 bis 39, 47 in: Fallos de la Corte Suprema 327–4 (2004), S. 5920 ff., 5926 f. 929 Vgl. dazu Ambos, Straflosigkeit, S. 71 ff.; 107 ff. 930 Nicht verschwiegen werden soll an dieser Stelle allerdings, dass die impunidad keines wegs vorrangig ein strafverfahrensrechtliches Problem ist. Auch das beste Strafverfahrensrecht kann sie nicht ausmerzen, wenn der politische Wille zur Bestrafung von Menschenrechtsver letzungen fehlt. Vgl. dazu nur die Ausführungen zur Politik der Regierung Alfonsín nach Ende der letzten Militärdiktatur oben 4. Kapitel, B. I.
A. Bundesstrafverfahrensordnung von 1992 und ihre Weiterentwicklung
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lichen Ankläger initiiert werden, aber auch dieser ist grundsätzlich der Pflicht zur gleichmäßigen, rein am Gesetz ausgerichteten Strafverfolgung unterworfen. An dernfalls würde der Anklagegrundsatz dazu führen, dass der Staatsanwalt nach freiem, unkontrollierbarem Ermessen über den Verfahrensfortgang disponieren könnte, was mit obigem Konzept von staatlicher Objektivität im Strafverfahren nicht in Einklang zu bringen ist.931 Entsprechend findet sich die strikte Bindung der Staatsanwaltschaft an Recht und Gesetz in einer Reihe von Vorschriften der Bun dessstrafverfahrensordnung wieder. Nach Art. 5 CPPN (1992) erhebt die Staats anwaltschaft die staatliche Strafklage von Amts wegen und kann sie danach nicht mehr fallen lassen, soweit dies nicht ausdrücklich vom Gesetz vorgesehen ist.932 Der Fiskal muss seine Entscheidungen und Anträge stets begründen, Art. 69 CPPN (1992), und kann gleich einem Richter wegen Befangenheit abgesetzt werden, Art. 71 CPPN (1992). Auch im Gesetz zur Organisation der Staatsanwaltschaft aus dem Jahre 1998 ist das Legalitätsprinzip ausdrücklich geregelt. Art. 29 ley org.MP (1998) enthält eine dem Art. 5 CPPN (1992) vergleichbare Formulierung, welche die Staatsanwaltschaft verpflichtet, alle ihr zur Kenntnis gelangenden Delikte von Amts wegen anzuklagen. Nun befindet sich das Legalitätsprinzip in der argentinischen Strafjustiz aber seit geraumer Zeit in einer schweren Krise. Wie in anderen Ländern auch hat die Realität in Argentinien gezeigt, dass eine Strafverfolgung aller Delikte, die zur Kenntnis der zuständigen Behörden gelangen, schlicht unmöglich ist.933 Weithin und unbestritten wird eine völlige Überlastung der Strafverfolgungsbehörden kon statiert, welche zu einer selektiven Strafverfolgung führt, die sich vor allem auf die weniger komplexen Delikte konzentriert. Sie geht damit zu Lasten der ohne hin schon sozial unterprivilegierten Bevölkerungsschichten, aus denen sich die Tä ter dieser Deliktsgruppen im Wesentlichen rekrutieren. In der Praxis erreichen die strengen Vorgaben des Legalitätsprinzips auf diese Weise genau das Gegenteil des gewünschten Effekts, nämlich eine statistisch eindeutig belegbare erhebliche Un gleichheit in der Strafverfolgung.934 931
Siehe dazu schon oben 1. Kapitel, B. II. sowie die Nachweise in Fn. 481. Der Originaltext des Art. 5 CPPN (1992) liest sich wie folgt: „La acción penal pública se ejercerá por el Ministerio fiscal, el que deberá iniciarla de oficio siempre que no dependa de instancia privada. Su ejercicio no podrá suspenderse, interrumpirse ni hacerse cesar, excepto en los casos expresamente previsto por la ley.“ 933 Vgl. Cafferata Nores, in: Nueva Doctrina Penal 1996-A, S. 8. 934 Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 832 ff.; Cafferata Nores, in: Nueva Doctrina Pe nal 1996-A, S. 8 ff.; Marchisio, juicio abreviado, S. 46 ff., ders., in: Stippel/Marchisio (Hrsg.), Principio de oportunidad, S. 65; Bovino/Hurtado, in: dies., Justicia Penal y Derechos Humanos, S. 223 ff.; Vázquez Rossi, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 358 f.; Guariglia, in: Maier (Hrsg.), Ministerio Público Fiscal, S. 88 f.; Almirón, in: Cafferata Nores (Hrsg.), Eficacia del sistema penal y garantías procesales, S. 11 f.; Klass, in: La Ley 2004-D, S. 1479 ff. Zu Einzelbeispie len und Fallgruppen der Auswahlprozesse in der Strafverfolgung siehe Bruzzone, in: Maier (Hrsg.), Ministerio Público, S. 160 ff., ders., in: Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 9 (2002), S. 152 f.; Adler, in: La Ley 1993-A, S. 900 ff. Umfangreiche Statistiken finden sich bei Marchisio, juicio abreviado, S. 27 ff. 932
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5. Kap.: Formaler Anklagegrundsatz in der Krise und ein eigener Weg
Vor dem genannten Hintergrund steht die Frage im Fokus der argentinischen Rechtswissenschaft, inwieweit man gesetzlich auf diese Realität reagiert, indem man dem Staatsanwalt ausdrücklich die Möglichkeit einräumt, unter Anwen dung von Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten bestimmten Verfahren Vorrang einzu räumen und andere durch eine Abweisung von Strafanzeigen oder durch Einstel lung auszusondern. Denn sowohl von ihrer prozessualen Stellung als auch ihrer organisatorischen Ausgestaltung her ist die Staatsanwaltschaft das Organ im Straf prozess, das am besten dazu geeignet ist, Opportunitätserwägungen in die Straf verfolgung einfließen zu lassen. Als diejenigen, welche das Verfahren einleiten, können die staatlichen Ankläger gleich zu Beginn des Vorverfahrens oder nach dessen Abschluss darüber entscheiden, in welchen Fällen der Aufwand eines regu lären Strafprozesses unangemessen ist. Würde man hingegen dem Gericht erlau ben, sich diejenigen Fälle auszusuchen, über die es dann auch selbst entscheidet, wären Zweifel an der für seine Rolle als Letztentscheider erforderlichen Objekti vität die Folge.935 Auf organisatorischer Ebene hat die Staatsanwaltschaft den Vor teil, dass sie, soweit sie gleich einem Exekutivorgan ausgestaltet ist, in der Lage ist, einheitlich zu handeln und damit Opportunitätsentscheidungen nicht willkür lich, sondern zielgerichtet nach den Vorgaben einer bestimmten Kriminalpolitik treffen kann. Ein solcher Ansatz scheitert in Bezug auf die Gerichte wiederum an der zum Schutze ihrer Objektivität notwendigen Unabhängigkeit.936 Fraglich ist aber, ob nicht schon gesetzliche Vorgaben außerhalb des Straf verfahrensrechts eine derartige Filterfunktion der Staatsanwaltschaft verbieten. Die argentinische Bundesverfassung enthält insbesondere in ihrem Artikel 18 eine Reihe von Vorgaben zum Strafprozess937 und seit der Verfassungsreform von 1994 auch die Formulierung des Art. 120 CN, wonach es Aufgabe des staatlichen Anklä gers ist, die Justiz in Verteidigung der Legalität und der allgemeinen gesellschaft lichen Interessen zu fördern.938 Sie schreibt hingegen an keiner Stelle ausdrücklich vor, ausnahmslos alle Straftaten zu verfolgen.939 Festgeschrieben ist das Legalitäts prinzip allerdings nach wie vor in Art. 71 des argentinischen Strafgesetzbuches.940 Dies hindert den Bundesgesetzgeber nicht daran, diese von ihm selbst getroffene Regelung im Nachhinein abzuändern und Opportunitätsvorschriften einzufüh ren; problematisch sind demgegenüber entsprechende Vorschriften in den Straf 935 Bruzzone, in: Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 9 (2002), S. 155; Guariglia, in: Maier (Hrsg.) Ministerio Público, S. 88 f,; Cafferata Nores, in: Nueva Doctrina Penal 1996-A, S. 22 f. 936 Bruzzone, in: Maier (Hrsg.), Ministerio Público, S. 184; Bovino, in: ders./Hurtado, Justicia Penal y Derechos Humanos, S. 213 f., 227; Cafferata Nores, in: Nueva Doctrina Penal 1996-A, S. 22. 937 Siehe dazu schon oben 2. Kapitel, B. III. 938 „El Ministerio Público […] tiene por función promover la actuación de la justicia en defensa de la legalidad, de los intereses generales de la sociedad […].“ 939 Cafferata Nores, in: Nueva Doctrina Penal 1996-A, S. 5; Marchisio, juicio abreviado, S. 45; Klass, in: La Ley 2004-D, S. 1479. 940 Siehe dazu schon die Ausführungen oben 3. Kapitel, B. III. 3. b).
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verfahrensordnungen der Provinzen, wenn man davon ausgeht, dass die Regelung des Legalitätsprinzips tatsächlich materieller Natur ist und damit in die Bundes zuständigkeit fällt. Genau diese Bundeszuständigkeit zweifeln einige Autoren in jüngerer Zeit aber mit überzeugenden Argumenten an. Als Grundlage und Aus gangspunkt der Strafverfolgung hat der Legalitätsgrundsatz zumindest eine ver fahrensrechtliche Seite. Während andere prozessrechtliche Regelungsbefugnisse wie die bezüglich des Geschworenenprozesses von der Verfassung ausdrücklich dem Bundesgesetzgeber übertragen wurden, fehlt eine entsprechende Befugnis bezüglich der Pflicht zur lückenlosen Strafverfolgung. Es kommt also die Grund regel der Art. 75 Nr. 12, 121 CN zur Anwendung, wonach das Verfahrensrecht in die Provinzzuständigkeit fällt.941 Demnach dürften auch die argentinischen Provin zen befugt sein, der Staatsanwaltschaft in ihren jeweiligen Strafverfahrensordnun gen Zweckmäßigkeitserwägungen zuzugestehen. Konkret erwogen werden in der argentinischen Rechtswissenschaft dabei mit Blick auf internationale Vorbilder zwei Modelle. Zum einen ist dies die Staats anwaltschaft angloamerikanischer Prägung, welche keinen Verfolgungszwang im Sinne des Legalitätsprinzips kennt, sondern allein nach ihrer Erfolgswahrschein lichkeit über die Anklage entscheidet, wobei die Beweislage lediglich ein Faktor neben anderen ist.942 Und zum zweiten die moderne kontinentaleuropäische Alter native einer Staatsanwaltschaft, die nach wie vor an das Legalitätsprinzip gebunden ist, aber in gesetzlich geregelten Ausnahmefällen aus Zweckmäßigkeitserwägun gen heraus von der Strafverfolgung absehen kann.943 Hier wird häufig die deut sche Strafprozessordnung als konkretes Beispiel angeführt.944 Praktisch einhellig erachten die argentinischen Strafverfahrensrechtsexperten dabei letzteres Modell als vorzugswürdig. Am angloamerikanischen Verfahrenssystem wird kritisiert, dass dem Staatsanwalt eine unkontrollierte Machtbefugnis in die Hand gegeben werde, mittels derer er willkürlich über die Verfahrensauswahl entscheiden könne. Dies sei mit den Anforderungen an eine rechtsstaatliche Ausübung der staatlichen
941
Bruzzone, in: Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 9 (2002), S. 150 ff.; Zvilling, in: Ju risprudencia Argentina 2004–4, S. 662. Ebenfalls so argumentiert Herbel, in: Nueva Doctrina Penal 2003-A, S. 56 ff., allerdings mit der durchaus bedenkenswerten Einschränkung, dass kein umfassendes Opportunitätsprinzip nach angloamerikanischem Vorbild von der Verfassung zu gelassen sei, da dies die Funktionsfähigkeit des in der Bundeskompetenz liegenden materiellen Strafrechts gefährde, vgl. ders., in: Nueva Doctrina Penal 2003-A, S. 69 ff. 942 Genauso können bspw. taktische Erwägungen in Bezug auf Verhandlungen mit dem Be schuldigten oder auch kriminalpolitische Gedanken eine Rolle spielen. Vgl. dazu schon die Fn. 73 und 312 m. w. N. 943 Siehe zu den beiden Alternativen Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 836 f.; Guariglia, in: Maier (Hrsg.), Ministerio Público, S. 86, 89 ff.; Vázquez Rossi, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 359 f.; Cafferata Nores, in: Nueva Doctrina Penal 1996-A, S. 13 f.; Almirón, in: Cafferata Nores (Hrsg.), Eficacia, S. 7 f.; Marchisio, juicio abreviado, S. 51. 944 Vázquez Rossi, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 360; Guariglia, in: Maier (Hrsg.), Ministerio Público, S. 92; Almirón, in: Cafferata Nores (Hrsg.), Eficacia, S. 7 f.; Adler, in: La Ley 1993-A, S. 900.
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Strafgewalt nicht zu vereinbaren.945 Die eingeschränkte Zulassung von Zweck mäßigkeitserwägungen in ausdrücklich geregelten Fällen ermögliche demgegen über die Koexistenz von Legalität und Opportunität.946 Auf diese Weise könne der staatliche Anspruch einer gleichmäßigen, kontrollierbaren Strafverfolgung aufrecht erhalten, gleichzeitig aber den praktischen Zwängen Rechnung getragen werden. Cafferata Nores zitiert dazu in einem in Argentinien vielbeachteten Aufsatz Win fried Hassemer: „Soviel Legalität wie möglich, soviel Opportunität wie nötig“.947 Die Befürworter einer in Ausnahmefällen zu Zweckmäßigkeitserwägungen be fugten Staatsanwaltschaft verweisen weiterhin darauf, dass trotz der formal strik ten Geltung des Legalitätsprinzips bereits jetzt in der argentinischen Gesetzgebung eine Reihe von Ausnahmen zu dem Grundsatz des Strafverfolgungszwangs be stehen, eine Koexistenz von Legalitäts- und Opportunitätsprinzip sei daher in gewissem Maße bereits Realität.948 Angeführt wird hier etwa das Betäubungs mittelgesetz des Bundes Nr. 23.737, welches die Straflosigkeit des verdeckten polizeilichen Ermittlers regelt sowie dann einen Verzicht auf Strafe ermöglicht, wenn ein wegen Drogenbesitz Beschuldigter nachweislich abhängig ist und sich zu Rehabilitationsmaßnahmen bereit erklärt. Im argentinischen Strafgesetzbuch, dem Código Penal, findet sich als beachtenswerte Ausnahme zu der Regel des Art. 71 CP der im Jahre 1994 durch Gesetz Nr. 24.316 eingeführte Art. 76 bis CP, welcher die Strafaussetzung auf Bewährung regelt, die der Richter mit Zu stimmung des Staatsanwalts bei leichteren Straftaten mit einer Freiheitsstrafe von maximal drei Jahren erklären kann.949 Und zuletzt kennt auch die Bundesstraf 945
Guariglia, in: Maier (Hrsg.), Ministerio Público, S. 94; Herbel, in: Nueva Doctrina enal 2003-A, S. 49 ff. Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 837, weist auch darauf hin, P dass die Abschaffung des Legalitätsprinzips aufgrund der inquisitorischen Rechtskultur Argen tiniens dort gar nicht vermittelbar sei. 946 Gelvez, in: Doctrina Judicial 1999–1, S. 482 f.; Spota, in: La Ley 1988-E, S. 995 f. Bovino, in: ders./Hurtado, Justicia Penal y Derechos Humanos, S. 217, spricht sich dagegen für einen interessanten Mittelweg zwischen kontinentaleuropäischer und angloamerikanischer Ausgestaltung der Opportunitätsbefugnisse aus. Danach sollen dem Staatsanwalt bei leichten Delikten umfassende Einstellungsmöglichkeiten wie im angloamerikanischen Verfahren zur Verfügung stehen, während er bei schweren Delikten Zweckmäßigkeitserwägungen nur in ge setzlich geregelten Ausnahmefällen, wie sie das deutsche Recht kennt, anwenden darf. 947 Cafferata Nores, in: Nueva Doctrina Penal 1996-A, S. 21: „Tanta legalidad como sea posible: tanta oportunidad como sea necesaria […]“. Das Zitat stammt aus La persecución penal: legalidad y oportunidad, unter anderem veröffentlicht in: Lecciones y Ensayos (Facul tad de Derecho de la Universidad de Buenos Aires) Nr. 50 (1988), S. 13–21. Bei dem Text han delt es sich, wie sich aus der Fußnote auf S. 14 entnehmen lässt, um die spanische Übersetzung eines Beitrags Hassemers zum internationalen Symposium im Jahre 1988 anlässlich des „Ent wurfs Maier“ für ein argentinisches Bundesstrafverfahrensgesetz. Zu dem Symposium vgl. schon oben das 4. Kapitel, B. I. 948 Cafferata Nores, in: Nueva Doctrina Penal 1996-A, S. 14 ff.; Almirón, in: Cafferata Nores (Hrsg.), Eficacia, S. 8 f.; Marchisio, juicio abreviado, S. 56 ff. 949 Siehe dazu die ausführlichen Besprechungen dieses Instituts von De la Rúa, Código Penal Parte General, S. 1166 ff. sowie von Marchisio, in: Stippel/ders. (Hrsg.), Principio de oportuni dad S. 66 ff.
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prozessordnung selbst bereits eine Ausnahme von der Pflicht der Staatsanwalt schaft zur lückenlosen Strafverfolgung. Nach Art. 443 Abs. 3 CPPN (1992) kann der Staatsanwalt in der Berufungsinstanz bereits eingelegte Rechtsmittel nachträg lich zurückziehen.950 Die wichtigste, und zugleich umstrittenste, Ausnahme zum Legalitätsprinzip bildet aber das sog. juicio abreviado, das abgekürzte Verfahren nach Art. 431 bis CPPN (1992), welches im Jahre 1997 durch Gesetz Nr. 24.825 in die Bundesstrafverfahrensordnung eingefügt wurde. Es verdient eine nähere Be trachtung, da es das Konzept einer Absprache zwischen Staatsanwalt und Beschul digtem in das argentinische Strafverfahren einführt.951 Vorbild ist das U. S.-ameri kanische plea bargaining.952 Die Abkürzung des Verfahrens kann der Staatsanwalt nach Art. 431 bis Nr. 1 CPPN (1992) im Rahmen seiner Anklageschrift beantragen, wenn er bei der Be wertung der Ergebnisse des Vorverfahrens eine Freiheitsstrafe von weniger als sechs Jahren für angemessen erachtet, Art. 431 bis Nr. 1 CPPN (1992). Der An klageschrift beifügen muss der Fiskal ein Einverständnis des Beschuldigten, mittels welchem dieser die ihm vorgeworfene Tat, deren rechtliche Bewertung und seine Beteiligung einräumt, also ein Geständnis ablegt953, Art. 431 bis Nr. 2 CPPN (1992). Zur Erlangung eines solchen Einverständnisses lädt der Staatsan walt den Beschuldigten samt dessen Verteidiger nach zuletzt genannter Norm zu einer Zusammenkunft ein. Erklärt sich der Beschuldigte einverstanden, leitet der 950
Vgl. dazu die Ausführungen oben 4. Kapitel, A. III. 3. und weiter unten 5. Kapitel, A. III. 3., sowie Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 829 Fn. 31 m. w. N. 951 Auch im deutschen Strafprozess existiert eine rege Praxis von Absprachen zwischen Ge richten bzw. Staatsanwaltschaft auf der einen und der Verteidigung auf der anderen Seite. Zu ihrer Regelung wurde daher kürzlich der neue § 257c in die deutsche Strafprozessordnung ein gefügt. Nach dieser Vorschrift sowie der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung kann das Gericht dem Angeklagten dabei im Gegenzug für ein Geständnis eine bestimmte Höchst strafe zusagen, es darf allerdings keine feste Zusage zum Strafmaß abgeben oder den Schuld spruch selbst zum Gegenstand der Absprache machen. Das Gericht hat darüber hinaus insbe sondere darauf zu achten, dass das Geständnis des Angeklagten freiwillig geschieht, und muss die Absprache in die öffentliche und mündliche Hauptverhandlung einbeziehen. Vgl. dazu zusammenfassend Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, S. 91 ff., 332 ff.; Kühne, Straf prozessrecht, S. 456 ff.; Ranft, Strafprozessrecht, S. 410 ff. 952 Vgl. Langer, in: Harvard International Law Journal 45 (2004), S. 54 f., der allerdings dazu weiter feststellt, dass die Orientierung am U. S.-amerikanischen Beispiel weniger auf einen grundlegenden kulturellen Einfluss des nordamerikanischen Rechts in Argentinien zurück zuführen sei als auf pragmatische Erwägungen des argentinischen Gesetzgebers, der einen Me chanismus zur Verfahrensbeschleunigung schaffen wollte. 953 Die Rechtsnatur des Einverständnisses des Beschuldigten ist in der argentinischen Litera tur nicht unumstritten. So vertritt etwa Maier, in: Jurisprudencia Argentina 1993–3, S. 755, der Beschuldigte erkläre sich lediglich mit der Abkürzung des Verfahrens einverstanden, dies be deute aber kein Geständnis. Die wohl ganz herrschende Meinung nimmt aber angesichts des Inhalts des Einverständnisses sehr wohl die Rechtsnatur eines Geständnisses an. Vgl. Marchisio, juicio abreviado, S. 121 ff.; Cafferata Nores, in: Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 0 (1998), S. 95 f.; Di Masi/Obligado, CPPN, S. 516; Otero, in: Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 14 (2004), S. 45.
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5. Kap.: Formaler Anklagegrundsatz in der Krise und ein eigener Weg
Untersuchungsrichter den staatsanwaltlichen Antrag sowie das Einverständnis an das Gericht des Hauptverfahrens weiter, welches den Beschuldigten noch ein mal persönlich anhört und über den Antrag entscheidet, Art. 431 bis Nr. 3 CPPN (1992). Ablehnen kann das Gericht den Antrag auf ein abgekürztes Verfahren nach Art. 431 bis Nr. 3 CPPN (1992) nur, wenn es entweder umfangreichere Sachver haltsermittlungen für notwendig erachtet oder aber in der rechtlichen Bewertung der Tat nicht mit Staatsanwalt und Beschuldigtem übereinstimmt. In diesem Fall wird das Gericht ersetzt und ein anderes Tribunal führt eine normale Hauptver handlung durch, in deren Rahmen weder das Einverständnis des Beschuldigten gegen ihn verwendet werden darf, noch der dortige Anklagevertreter an den zu vor gestellten Strafantrag gebunden ist, Art. 431 bis Nr. 4 CPPN (1992). Ist das Gericht des Hauptverfahrens dagegen mit dem Antrag auf ein abgekürztes Verfah ren einverstanden, findet gar keine Hauptverhandlung mehr statt, sondern das Ge richt spricht direkt innerhalb von zehn Tagen das Urteil, Art. 431 bis Nr. 3 CPPN (1992). Es stützt sich dann auf die im Vorverfahren gesammelten Beweise und ist in seiner Strafzumessung an den Antrag des Staatsanwalts gebunden, Art. 431 bis Nr. 5 CPPN (1992). Die Erfahrungen mit dem juicio abreviado in der ersten Dekade seit seiner Ein führung zeigen, dass es einerseits in der argentinischen Rechtspraxis umfassend Aufnahme gefunden hat und sich heute von dort praktisch nicht mehr wegdenken lässt, andererseits aber auch inhaltlich sehr umstritten ist, insbesondere wird seine Verfassungskonformität immer wieder angezweifelt.954 Zum einen bezieht sich die Kritik auf das Fehlen der Hauptverhandlung als Kern des Strafverfahrens, was gegen die in Art. 18 CN garantierten Rechte auf einen fairen Prozess und auf Verteidigung verstoße. Die Hauptverhandlung sei nicht lediglich ein Privileg des Beschuldigten, auf das er verzichten könne955, sondern ergebe sich aus der staatlichen Pflicht, den Sachverhalt aufzuklären und dem Beschuldigten Raum zu seiner Verteidigung zu bieten; beides sei al lein durch das Vorverfahren, welches lediglich vorbereitenden Charakter habe, nicht in ausreichendem Maße gewährleistet.956 Der zweite Kritikpunkt konzen triert sich auf die Vereinbarung zwischen dem Staatsanwalt und dem Beschuldig ten. Dadurch würden in der Person des Staatsanwalts, welcher über die Schuld des Angeklagten sowie die Höhe der Strafe entscheide, Anklage- und Urteilsfunktion 954 Marchisio, in: Stippel/ders. (Hrsg.), Principio de oportunidad, S. 79; Ruilopez, in: Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 5 (2000), S. 185; Bigliani, in: Maier/Bovino (Hrsg.), procedi miento abreviado, S. 177 ff. 955 Die argentinischen Autoren beziehen sich damit auf die entsprechende Auslegung des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten von Amerika, vgl. Ruilopez, in: Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 5 (2000), S. 173. 956 Ruilopez, in: Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 5 (2000), S. 172 ff.; Margariños, in: Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal 9-B (1999), S. 91 ff., 99; D’Albora, CPPN Bd. 2, S. 960, 972; Otero, in: Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 14 (2004), S. 46 f.; Di Masi/ Obligado, CPPN, S. 516.
A. Bundesstrafverfahrensordnung von 1992 und ihre Weiterentwicklung
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vereint.957 Zudem liege ein Verstoß gegen das Verbot des Aussagezwangs nahe, welches in Art. 18 der Bundesverfassung sowie in verschiedenen internationalen Menschenrechtsvereinbarungen, die über Art. 75 Nr. 22 CN Verfassungsrang be sitzen, normiert ist. Der Beschuldigte, den die Konsequenzen des Verfahrensaus gangs persönlich betreffen und der als einziges Verhandlungsmittel sein Geständ nis besitzt, könne nie frei und auf gleicher Ebene mit dem Ankläger verhandeln, welcher die staatliche Strafmacht im Rücken hat. Die Erfahrungen mit dem plea bargaining in den Vereinigten Staaten von Amerika zeigten vielmehr, dass der Staatsanwalt wenigstens konkludent die Drohung aufbaue, dass der Beschuldigte mit einer höheren Strafe rechnen müsse, falls er sich gegen ein Geständnis und für ein reguläres Verfahren entscheidet.958 Das Problem werde in der argentinischen Regelung noch dadurch verstärkt, dass die Initiative zu einer solchen Vereinba rung nach Art. 431 bis Nr. 1, 2 CPPN (1992) vom Fiskal und nicht vom Beschul digten ausgehe.959 Vor allem sei aber zu bedenken, dass sich der Beschuldigte re gelmäßig in Untersuchungshaft befinde960 und angesichts der langen Wartezeiten auf eine reguläre Hauptverhandlung oft als einzige Möglichkeit, um in absehba rer Zeit wieder in Freiheit zu gelangen, die schnelle Verurteilung im abgekürzten Verfahren habe.961 Zuletzt befragt das Gericht zwar nachträglich den Beschuldig ten, Art. 431 bis Nr. 3 CPPN (1992), eine richterliche Kontrolle des Ablaufs der Verhandlung, insbesondere bezüglich der Freiwilligkeit des Beschuldigten im Mo ment seines Einverständnisses, sei jedoch äußerst schwierig.962 Zusammengefasst 957
Anitua, in: Maier/Bovino (Hrsg.), procedimiento abreviado, S. 150; Margariños, in: Cua dernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal 9-B (1999), S. 80 f.; Bovino, in: Cuadernos de Doc trina y Jurisprudencia Penal 8-A (1998), S. 534 f. 958 Margariños, in: Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal 9-B (1999), S. 78 ff.; Ruilopez, in: Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 5 (2000), S. 166 ff., 177; Anitua, in: Maier/ Bovino (Hrsg.), procedimiento abreviado, S. 145 ff.; D’Albora, CPPN Bd. 2, S. 959 f.; Di Masi/ Obligado, S. 516 f. Die genannten Quellen beziehen sich in ihrer Argumentation weitgehend auf spanische Übersetzungen von Arbeiten des deutschen Professors Bernd Schünemann, ¿Cri sis del procedimiento penal?, in Argentinien erschienen in: Cuadernos de Doctrina y Juris prudencia Penal 8-A, S. 417–431, sowie seines amerikanischen Kollegen John H. Langbein, Sobre el mito de las constituciones escritas: la desaparición del juicio penal por jurados, in: Nu eva Doctrina Penal 1996-A, S. 45–53. Dies ist als Beispiel der schon erwähnten Tatsache in teressant, dass sich die argentinische Literatur in der Frage der Opportunität und Verfahrens vereinfachung vor allem an den Vereinigten Staaten von Amerika sowie an der Bundesrepublik Deutschland orientiert. 959 Castejon, in: La Ley 1998-A, S. 930 f.; Bruzzone, in: Cuadernos de Doctrina y Jurispru dencia Penal 8-A (1998), S. 594 f. Fn. 58. 960 Nach den Art. 312, 316 Abs. 2, 317 und 319 CPPN (1992) ist die Untersuchungshaft nicht die Ausnahme, sondern die Regel, siehe dazu schon oben 5. Kapitel, A. I. In Verbindung mit den aus der Überlastung der Justiz herrührenden langen Wartezeiten bis zur Verhandlung führt dies zu dem Problem, dass die Untersuchungshaft als Strafersatz missbraucht wird. Siehe dazu Bovino, in: ders., Problemas, S. 6 sowie die ausführliche Darstellung bei Maier, Derecho Pro cesal Penal Bd. 1, S. 520 ff. 961 Besonders eindrücklich sind hierzu die Ausführungen Bovinos, in: Maier/ders. (Hrsg.), procedimiento abreviado, S. 75 ff. 962 Marchisio, juicio abreviado, S. 112.
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5. Kap.: Formaler Anklagegrundsatz in der Krise und ein eigener Weg
bedeute das juicio abreviado damit einen Rückfall in die Zeiten des klassischen, gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses; in einem weitgehend schriftlichen Ver fahren presse ein Staatsorgan, das Anklage- und Urteilsfunktion in sich vereine, dem Beschuldigten, der nur unzureichende Verteidigungsmöglichkeiten habe, un ter Zwang sein Geständnis ab.963 Die Befürworter des abgekürzten Verfahrens halten dem entgegen, dass das Recht des Beschuldigten auf einen fairen Prozess keineswegs verletzt werde, da dessen notwendige Bestandteile, also Anklage, Verteidigung, Beweiserhebung, Urteil und Rechtsmittel alle vorlägen. Das reguläre Hauptverfahren kenne be reits jetzt umfangreiche Möglichkeiten, das Urteil auf schriftlich in die Hauptver handlung eingeführte Beweise aus dem Vorverfahren zu gründen, ohne dass deren Verfassungskonformität angezweifelt werde.964 Die Vereinbarung zwischen Fiskal und Angeklagtem habe nach wie vor das Legalitätsprinzip und den Grundsatz der materiellen Wahrheit zu beachten, welche in keiner Weise aufgegeben würden, ein erzwungenes Geständnis des Beschuldigten sei daher wertlos. Der Strafantrag des Fiskals, dem der Beschuldigte zustimmt, müsse nämlich immer auf einer objekti ven Bewertung der Ergebnisse des zuvor notwendig durchzuführenden Vorverfah rens beruhen. Sei dies nicht der Fall, lehne das Gericht des Hauptverfahrens, das den Antrag nach Art. 431 bis Nr. 3, 5 CPPN (1992) überprüft, ihn ab.965 Die Gefahr, dass der Fiskal dennoch Druck auf den Beschuldigten ausübe, sei zwar nicht ganz auszuschließen, ihr könne aber in ausreichendem Maße durch die Gewährleistung einer effektiven Verteidigung des Beschuldigten und die nachträgliche gerichtliche Überprüfung entgegengewirkt werden.966 Für das Verständnis des juicio abreviado ist es zunächst einmal notwendig, es auf der Skala zwischen den beiden Extremen des strikten Strafverfolgungszwangs, an welchem sich der Staatsanwalt nach bisherigem argentinischen Recht zu orien tieren hatte, auf der einen Seite und dem angloamerikanischen plea bargaining, wo der Ankläger allein nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten agiert, auf der an deren Seite einzuordnen. D. h., es ist festzustellen, inwieweit dem Staatsanwalt im abgekürzten Verfahren wirklich Opportunitätserwägungen gestattet werden. Einige argentinische Autoren gehen wie gezeigt davon aus, dass der wesentliche Unterschied zu der amerikanischen Form der Absprachen im Strafprozess in Ar gentinien darin bestehe, dass das Legalitätsprinzip und Findung der materiellen Wahrheit im juicio abreviado nicht beeinträchtigt würden. Zutreffend ist, dass sich die nach argentinischem Recht möglichen Absprachen strukturell erheblich vom angloamerikanischen plea bargaining unterscheiden. Wie Bovino treffend aus 963 Bovino, in: Maier/ders. (Hrsg.), procedimiento abreviado, S. 90 ff.; Margariños, in: Cua dernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal 9-B (1999), S. 100 f. 964 Cafferata Nores, in: Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 0 (1998), S. 96, 98. 965 Claría Olmedo, Derecho Procesal Penal Bd. 3, S. 325 f.; Cafferata Nores, in: Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 0 (1998), S. 93 ff.; Marchisio, juicio abreviado, S. 125 ff.; D’Albora, CPPN Bd. 2, S. 953. 966 Cafferata Nores, in: Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 0 (1998), S. 94, 96.
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führt, ersetzt das Schuldeingeständnis im US-amerikanischen Recht den Schuld spruch der Jury, so dass der Richter keine Erwägungen zu Tatfragen mehr vor nimmt und das Verfahren sofort in die Phase der Strafzumessungsverhandlung übergeht.967 Im Gegensatz dazu nimmt das Gericht in Argentinien aufgrund der im Vorverfahren gesammelten Beweisgrundlage noch einmal eine Bewertung von Schuld- und Tatfrage vor. Zweifelt es an der Sachgrundlage der Anklage oder der rechtlichen Bewertung des Staatsanwalts, lehnt es dessen Antrag auf Verfahren abkürzung ab, sonst spricht es ein Urteil ohne über die beantragte Strafe hinaus zugehen, Art. 431 bis Nr. 3, 5 CPPN (1992). Der Antrag des Staatsanwalts und das Einverständnis des Beschuldigten werden also anhand dessen, was sich nach der polizeilichen Untersuchung als materielle Wahrheit darstellt, überprüft. Darin manifestiert sich, dass wenigstens formal der Grundsatz der materiellen Wahrheit nicht aufgegeben wird.968 Von dieser Überprüfung nicht erfasst sind aber die Straf zumessungserwägungen des Staatsanwalts. Nach dem Wortlaut des Art. 431 bis Nr. 3 CPPN (1992) beschränkt sich das Ablehnungsrecht des Gerichts auf die ge nannten Gründe einer unzureichenden Sachverhaltsaufklärung oder einer unzu treffenden rechtlichen Bewertung. Das Gericht kann den Antrag des Staatsanwalts also nicht schon deswegen ablehnen, weil es nur bezüglich der Strafzumessung von der Bewertung des Anklägers abweicht.969 Dies kann im nicht unwahrscheinli chen Fall, dass der Staatsanwalt die gesetzliche Mindeststrafe beantragt, gar dazu führen, dass das Gericht diesbezüglich vollständig an den Antrag des Staatsan walts gebunden ist, dieser also letztlich die Strafzumessung übernimmt970, in den sonstigen Fällen kann das Gericht zumindest nicht mehr den gesetzlichen Strafrah men voll ausschöpfen. Die Strafzumessungserwägungen des Staatsanwalts rich ten sich dabei, unkontrollierbar für das Gericht, lediglich nach dem Ergebnis der Verhandlungen mit dem Beschuldigten. Es lässt sich auf diese Weise keinesfalls sicherstellen, dass sich die Strafverringerung lediglich an der schuldmildernden Wirkung des Geständnisses orientiert und es letztlich zu einer schuldangemes senen Strafe kommt, vielmehr entzieht sich die Verhandlungslogik der Abspra che objektiven, nachvollziehbaren Kriterien.971 In der Frage der Strafzumessung 967
Bovino, in: Maier/ders. (Hrsg.), procedimiento abreviado, S. 60 f. Die Bedeutung des Geständnisses des Beschuldigten als Grundlage für die Urteilsfindung ist gar nicht zu überschätzen, vgl. dazu Marchisio, juicio abreviado, S. 126 f. Nur bei offen sichtlichen Widersprüchen zum Ermittlungsergebnis wird das Gericht noch einmal eigene Er mittlungen anstellen, so dass in der Praxis die Grenzen zur formellen, auf Parteiangaben basie renden Wahrheit zumindest verschwimmen. 969 Vgl. Otero, in: Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 14 (2004), S. 48. 970 Bruzzone, in: Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal 8-A (1998), S. 582; Margariños, in: Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal 9-B (1999), S. 80 f.; Bovino, in: Maier/ ders. (Hrsg.), procedimiento abreviado, S. 65 f. Letzterer weist auch darauf hin, dass angesichts dessen, dass der Staatsanwalt dem Beschuldigten regelmäßig eine Strafminderung in Aussicht stellt, es nicht unwahrscheinlich ist, dass er nur die gesetzliche Mindeststrafe beantragt. 971 Vgl. Ruilopez, in: Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 5 (2000), S. 183 f.; Margariños; in: Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal 9-B (1999), S. 78; Di Masi/Obligado, CPPN, S. 517. 968
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5. Kap.: Formaler Anklagegrundsatz in der Krise und ein eigener Weg
innerhalb des gesetzlich vorgegebenen Strafrahmens kommt es damit sehr wohl zu einer Durchbrechung des Legalitätsgrundsatzes, da das Gericht nicht frei und ob jektiv darüber entscheiden kann, sondern ihm durch den aus dem Verhandlungs ergebnis der Absprache entsprungenen Antrag des Staatsanwalts zumindest eine Strafobergrenze vorgegeben wird. Beim argentinischen juicio abreviado handelt es sich also um eine Zwischenform zwischen den beiden eingangs genannten Ex tremen. Wie in der sentence bargaining genannten Form des plea bargaining kann der Staatsanwalt dem Beschuldigten in seinem Strafantrag entgegenkommen. Die Zulassung von Opportunitätserwägungen beschränkt sich jedoch auf die Strafzu messungsebene, im Übrigen hält das argentinische Recht in fundamentalen Unter schied zum angloamerikanischen plea bargaining am Legalitätsprinzip und dem Grundsatz der materiellen Wahrheit fest. Die anzuklagenden Delikte selber sind nicht verhandelbar, Tatbeschreibung und rechtliche Bewertung werden später vom Gericht überprüft. Trotz dieser auf den ersten Blick gering scheinenden Durchbrechung des Lega litätsgrundsatzes darf die Wirkung des juicio abreviado nicht unterschätzt werden. Es ist ein erster Schritt hin zu einer Wandlung der Rolle des Staatsanwalts. Er ent fernt sich von seinen inquisitorischen Ursprüngen eines lediglichen Hilfsorgans des Gerichts, dessen Existenzberechtigung darin besteht, dieses bei der effizienten Strafverfolgung zu unterstützten und entwickelt sich zu einer eigenständigen Vor instanz mit umfangreicher Filterfunktion. Bruzzone, der dies als globale Tendenz erkennt, befürchtet daher als weiteren Schritt in diese Richtung eine spätere ge setzliche Ausweitung der Absprachemöglichkeiten dahingehend, dass der Staats anwalt nicht nur über die Strafzumessung, sondern auch über die Deliktsbeschrei bung disponieren kann.972 Zu beachten ist zudem, dass sich schon nach der jetzigen Gesetzeslage ein Übergreifen der Vereinbarung von der Strafzumessung auf den Deliktscharakter selbst nicht ausschließen lässt. Der Zweck des abgekürzten Ver fahrens, die Strafjustiz zu entlasten, ist nur dann erreichbar, wenn das Gericht le diglich eine summarische Prüfung des staatsanwaltlichen Antrags sowie des Ein verständnisses des Beschuldigten vornimmt. Es wird die Vereinbarung daher nur ablehnen, wenn ein offensichtlicher Widerspruch zum Ermittlungsergebnis be steht.973 Die Begrenzung der staatsanwaltlichen Opportunitätserwägungen auf die Strafzumessung dürfte sich deswegen keineswegs so eindeutig durchhalten lassen, wie vom Gesetz gewollt. Die aus seiner Rollenveränderung resultierende erhebliche Stärkung der Stel lung des Staatsanwalts im Vorverfahren, welcher über die Einleitung des juicio abreviado entscheidet,974 wäre angesichts seiner oben dargestellten Geschichte in Ar 972
Bruzzone; in: Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal 8-A (1998), S. 588. Siehe dazu schon oben Fn. 968. 974 Auf die bedeutende Aufwertung der Staatsanwaltschaft weisen etwa Ruilopez; in: Revista del Ministerio Público Fiscal Nr. 5 (2002), S. 164 und Bovino; in: Maier/ders. (Hrsg.), proce dimiento abreviado, S. 65 f. hin. Dies gilt allerdings nur für den im Vorverfahren tätigen Fiskal, 973
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gentinien als Anhängsel des Gerichts975 grundsätzlich durchaus zu begrüßen. Eine nähere Betrachtung zeigt allerdings, dass sie in der in Argentinien durchgeführten Form äußerst problematisch ist. Dies liegt weniger am Verzicht auf das Hauptver fahren, der, anders als von den genannten Autoren vertreten976, nicht per se unmög lich ist. Sicherlich spielt die Hauptverhandlung in der Verfahrensstruktur des re formierten Inquisitionsprozesses theoretisch eine entscheidende Rolle. Tatsächlich führt aber gerade diese Struktur dazu, dass die Hauptverhandlung dazu tendiert, zu einer bloßen ritualisierten Bestätigung der Ergebnisse des Vorverfahrens zu ver kommen.977 Dies zeigt sich besonders eindrücklich am Beispiel der Hauptverhand lung im CPPN (1992), welche sich keinesfalls als Hort des Verteidigungsrechts sti lisieren lässt, wie es einige der genannten Autoren tun.978 So mag der Beschuldigte den Wegfall der Hauptverhandlung in eindeutigen Fällen auch als Vorteil begrei fen, da er auf diese Weise nicht öffentlich an den Pranger gestellt wird. Es gibt da her gute Gründe, die Hauptverhandlung wie im Parteiverfahren nicht als obligato risch zu begreifen, sondern als Privileg des Beschuldigten, mittels welchem er dem Staat die Beweisführung auferlegt. Dreh- und Angelpunkt dieser Sichtweise ist allerdings, dass der Beschuldigte freiwillig darüber entscheiden kann, ob er einer Absprache zustimmt oder nicht. Hier kommt die zweite wesentliche in Argentinien geäußerte Kritik ins Spiel, wel che mit Blick auf die US-amerikanische Absprachepraxis moniert, dass die Verein barungen zwischen Staatsanwaltschaft und Beschuldigten nicht das Parteielement im Strafprozess stärken würden, sondern ganz im Gegenteil zu einem Verfahren führten, welches an den gemeinrechtlichen Inquisitionsprozess erinnere. In der Tat ist der Vergleich keineswegs abwegig, zu offensichtlich sind die Parallelen zu den mittelalterlichen Prozessen, in denen das Urteil im Wesentlichen auf dem un ter Folter abgepressten Geständnis des Angeklagten beruhte. Auch im modernen summarischen Verfahren in Argentinien ist das Geständnis des Angeklagten von zentraler Bedeutung, da es die eigene Wahrheitsfindung des Gerichts praktisch er setzt.979 Zwar ist die Folter abgeschafft, aber dennoch wirkt ein erheblicher Zwang auf den Beschuldigten. Lehnt er das Abspracheangebot des Staatsanwalts ab, geht er nicht nur das erhebliche, statistisch belegbare Risiko einer höheren Strafe ein, sondern kann zudem bereits sicher von einer deutlichen Verlängerung seiner be reits bestehenden Untersuchungshaft ausgehen, bis die Hauptverhandlung über haupt erst beginnt. Unter diesen Umständen kann auch ein objektiver Staatsanwalt nicht vermeiden, dass sich zumindest implizit ein Drohszenario aufbaut, grund der für das Hauptverfahren zuständige Anklagevertreter wird durch den Wegfall dieses Ver fahrensschritts praktisch bedeutungslos, Marchisio, juicio abreviado, S. 108; Castejon; in: La Ley 1998-A, S. 932. 975 Vgl. dazu insb. oben 2. Kapitel, A. IV.; 3. Kapitel, B. IV. 976 Siehe die Nachweise oben in Fn. 956. 977 Ferrajoli, Derecho y Razón, S. 566. 978 Siehe dazu die ausführlichen Ausführungen sogleich, 5. Kapitel, A. III. 2. 979 Vgl. dazu schon die Ausführungen oben in Fn. 968.
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sätzlich wird aber auch das Staatsorgan ohnehin ein Interesse am Zustandekom men der Absprache haben, um auf diese Weise die Strafjustiz zu entlasten. Ange sichts dessen erscheint es geradezu absurd, davon auszugehen, der Beschuldigte könne frei über sein Einverständnis zur Absprache entscheiden, vielmehr wird auch der Unschuldige im Zweifel ein Geständnis als das kleinere Übel wählen. Verwandelt sich also der Staatsanwalt, der Absprachen mit dem Beschuldigten eingeht, in eine moderne Form des Inquisitionsrichters? Zunächst ist festzuhalten, dass die Idee einer Absprache zwischen Anklage und Verteidigung dem inquisi torischen Grundgedanken einer staatlichen Ermittlung der materiellen Wahrheit eigentlich fremd ist. Vielmehr entspricht sie dem Verfügungsgrundsatz im adver satorischen Verfahren, wonach die Parteien über den Verfahrensgegenstand dis ponieren können, der Kläger also seine Anklage zurückziehen, umgekehrt aber auch der Beklagte den gegnerischen Anspruch anerkennen kann. Das Problem ist nun aber, dass dieses Konzept darauf ausgelegt ist, dass zwei private, gleichgeord nete Parteien gegeneinander antreten und nicht auf der einen Seite der übermäch tige Staat in Form des Staatsanwalts steht. Anhand der Absprachepraxis zeigt sich in Reinform das Problem der Parteistruktur im Strafprozess, nämlich dass diese grundsätzlich nicht auf das Gewaltverhältnis im Strafrecht zwischen dem über geordneten Staat auf der einen und dem untergeordneten Bürger auf der anderen Seite passt. Die inquisitorische Verfahrensstruktur hingegen hat sich gerade aus der Verstaatlichung des Strafverfahrens entwickelt, hat aber, wie anhand der argen tinischen Strafverfahrensgeschichte eindrücklich gezeigt, den Nachteil, dass der Beschuldigte dem Ankläger untergeordnet ist und ihm nicht auf einer Ebene entge gentreten kann, Anklage- und Urteilsfunktion befinden sich in gefährlicher Nähe zueinander. Wird nun, wie vorliegend, ein Element des Parteiverfahrens, welches Waffengleichheit voraussetzt, in eine inquisitorische Verfahrensstruktur, die an der Überordnung des Staatsanwalts festhält, eingebunden, summieren sich die jewei ligen Nachteile. Der Staatsanwalt übernimmt Aufgaben, die zwar nach dem Ver handlungsgrundsatz einer Partei zustehen, nach dem die Verfahrensstruktur be stimmenden Inquisitionsgrundsatz aber dem aktiv ermittelnden Richter, wodurch es zu einer weiteren Unklarheit in der Abgrenzung zwischen den jeweiligen Rol len kommt. Zudem setzen diese Aufgaben eigentlich eine Waffengleichheit vor aus, welche aufgrund der Rolle des Staatsanwalts in der inquisitorischen Verfah rensstruktur schon per se nicht bestehen kann. Ein ähnliches Phänomen wurde schon oben anhand der Übertragung der Voruntersuchung auf die Staatsanwalt schaft dargestellt980, vorliegend sind die resultierenden Nachteile allerdings deut lich schwerwiegender. Während im Ermittlungsverfahren die mangelnde Mit wirkung des Beschuldigten noch weitgehend kompensiert werden kann, ist die fehlende Waffengleichheit bei den Absprachen nicht hinnehmbar. Bei einer Ent scheidung des Beschuldigten über den Verzicht auf seine Verteidigungsmöglich keiten ist es absolut unverzichtbar, dass er keinerlei staatlichem Druck ausgeliefert 980
Vgl. dazu oben 4. Kapitel, B. III. 1.
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ist. Es spricht daher viel dafür, dass die Absprachepraxis mit der Eigenschaft des Anklägers als Staatsorgan und dem dahinter stehenden Konzept staatlicher Straf verfolgung unvereinbar ist. Weil die Praxis nicht nur in Argentinien auf die Ab sprachen angesichts deren Effizienz bei der Verfahrenserledigung kaum noch ver zichten mag, steht allerdings zu befürchten, dass sich die Entwicklung nicht mehr zurückdrehen lässt und sich realistischerweise lediglich die Frage stellt, wie man die Absprachen möglichst rechtsstaatskonform ausgestaltet. Fazit bleibt, dass die Möglichkeit des Staatsanwalts, mit dem Beschuldigten Ab sprachen einzugehen, äußerst kritisch zu sehen ist. Je nach Umfang der Abspra chemöglichkeiten nimmt er tatsächlich eine der alten Figur des Inquisitionsrich ters vergleichbare Stellung ein, da ihm Entscheidungsbefugnisse gewährt werden, welche nur beim von der Anklage getrennten Richter liegen dürfen. Vor allem aber ist die per se fehlende Waffengleichheit zwischen Anklage und Verteidigung pro blematisch, welche dazu führt, dass erheblicher Zwang auf den Beschuldigten aus geübt wird. Dieses Ergebnis bedeutet allerdings nicht, dass dem Staatsanwalt gar keine Zweckmäßigkeitserwägungen zugestanden werden können. Die Realität in Argen tinien hat eindeutig gezeigt, dass eine strikte Geltung des Legalitätsprinzips ge nau das Gegenteil des gewünschten Resultats einer gleichmäßigen und gerechten Strafverfolgung erzielt. Aufgrund eines verdeckten, unkontrollierbaren Selektions prozesses werden vor allem weniger komplexe Delikte verfolgt und es entsteht ein Ungleichgewicht zu Lasten der ohnehin schon unterprivilegierten sozialen Schichten. Es müssen also Ausnahmen vom strengen Strafverfolgungszwang ge schaffen werden, die es ermöglichen, bestimmte Verfahren ganz einzustellen oder zumindest alternativen Lösungsmöglichkeiten zuzuführen. Wie von einigen argen tinischen Autoren treffend dargestellt981, ist der Staatsanwalt die geeignete Figur, um zumindest in einem ersten Schritt eine solche Filterfunktion wahrzunehmen. Diese Funktion fügt sich ein in seine traditionelle Aufgabe, über die Einleitung des Verfahrens zu entscheiden. Vom Gericht sollte sie dagegen soweit wie mög lich ferngehalten werden, da es zur Wahrung seiner Objektivität nicht selbst dar über entscheiden darf, welcher Verfahren es sich annimmt. Zumindest bei Ein stellungsentscheidungen des Staatsanwalts ist daher so weit wie möglich auf eine richterliche Kontrolle zu verzichten. Anzudenken sind hier alternative Lösungen wie eine Kontrolle innerhalb der staatsanwaltlichen Hierarchie982, durch die Legis lative, direkt durch das Volk in Form von Wahlen oder durch eine stärkere Betei 981
Siehe dazu die Nachweise oben in den Fn. 935 und 936. Ist die Staatsanwaltschaft gleich einem Exekutivorgan ausgestaltet, können die Richt linien- und Weisungsbefugnisse dazu beitragen, die Verfahrensselektion zu rationalisieren und Willkür zu verhindern. Richtlinien sollen dann anhand einer bestimmten Kriminalpolitik den Entscheidungsspielraum des Staatsanwalts abstecken und ihm Entscheidungskriterien an die Hand geben, während Einzelweisungen dazu dienen, korrigierend einzugreifen, wenn der Staatsanwalt im konkreten Fall den vorgegeben Spielraum übertritt. Vgl. zu diesem Zusam menspiel der Weisungsbefugnisse schon die Ausführungen oben 5. Kapitel, A. II. 2. 982
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ligung des Opfers als Privatkläger.983 Deutlich anders liegt der Sachverhalt, wenn der Staatsanwalt nicht über die Verfahrensbeendigung entscheidet, sondern über Verfahrensvereinfachungen oder alternative Lösungsmöglichkeiten des strafrecht lichen Konflikts. Bovino bezeichnet solche Befugnisse des Staatsanwalts als Op portunitätsbefugnisse im weiteren Sinne, da sie zwar eine Ausnahme vom Legali tätsprinzip darstellten, nicht jedoch eine Anwendung des Opportunitätsprinzip im eigentlichen Sinne, wovon nur der tatsächliche, sofort verfahrensbeendende Ver zicht des Staatsanwalts auf die weitere Strafverfolgung erfasst sei.984 Das Grund problem in den Fällen der Verfahrensvereinfachung ist, dass dem Beschuldigten nach wie vor eine Strafe oder zumindest strafähnliche Konsequenzen drohen, er aber die Schutzmechanismen des regulären Verfahrens aufgibt. Der Staatsanwalt übernimmt, wenn er über strafähnliche Sanktionen oder gar die Strafe selbst ent scheidet, richtergleiche Funktionen, welche sich mit seiner Anklägereigenschaft vereinen. Zudem fehlt es per se an der Waffengleichheit gegenüber dem Beschul digten. Es ist daher besondere Vorsicht angebracht, wie sich anhand des abgekürz ten Verfahrens zeigen ließ. Hier ist sehr wohl eine richterliche Kontrolle bezüglich der Wahrung des Verteidigungsrechts geboten, zudem ist die Stellung der Vertei digung insgesamt möglichst stark auszugestalten, um einer Übermacht des Staats anwalts entgegenzuwirken. Zusammengefasst lässt sich also unter Rückgriff auf die Unterscheidung Bovi nos zwischen Opportunität im engeren und weiteren Sinne folgendes Fazit ziehen: Opportunitätsbefugnisse des Staatsanwalts im engeren Sinne, d. h. die Möglich keit, Verfahren aus Zweckmäßigkeitserwägungen einzustellen, sind aus prakti schen Gesichtspunkten heraus unverzichtbar. Den daraus resultierenden Gefahren für die Gleichheit und Gerechtigkeit der Strafverfolgung sollte auf andere Weise als durch eine richterliche Kontrolle begegnet werden, welche angesichts dessen, dass sie die Objektivität des Gerichts beeinträchtigt, kontraproduktiv ist. Demge genüber bedeuten Opportunitätsbefugnisse im weiteren Sinne, d. h. Befugnisse des Staatsanwalts in Ausnahme vom Legalitätsprinzip über Verfahrensvereinfachun gen oder alternative Lösungen zu entscheiden, erhebliche Beeinträchtigungen zu Lasten des Beschuldigten und sind mit entsprechender Vorsicht zu handhaben. Hier sind auch richterliche Kontrollen durchaus angebracht.
983 Zumindest die Alternative einer Wählbarkeit der Staatsanwälte begegnet allerdings an gesichts des U. S.-amerikanischen Beispiels gleich wieder erheblichen Bedenken. Sie würde noch einmal zur ohnehin in Argentinien schon weit fortgeschrittenen Politisierung der Straf verfolgung beitragen und zur Befürchtung Anlass geben, dass populistische bzw. wahltaktische Motive einen erheblichen Raum bei den Anklageentscheidungen des Staatsanwalts einneh men könnten. Auch eine stärkere Einflussnahme des Opfers auf das Verfahren ist nicht ganz unzweifelhaft, da auf diese Weise die Anklageseite noch einmal zulasten der Waffengleichheit mit dem Beschuldigten gestärkt wird. Siehe dazu auch die Ausführungen weiter unten 5. Kapi tel, B. III. 3. 984 Vgl. Bovino/Hurtado, in: dies., Justicia Penal y Derechos Humanos, S. 228 ff.
A. Bundesstrafverfahrensordnung von 1992 und ihre Weiterentwicklung
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2. Hauptverfahren
Mit der Einführung einer öffentlichen und mündlichen Hauptverhandlung in das argentinische Bundesstrafverfahrensrecht durch den CPPN (1992) ging keine grundsätzliche Aufwertung der staatsanwaltlichen Stellung in diesem Verfahrens abschnitt einher. Zu stark ist die Hauptverhandlung noch dem Konzept des In quisitionsprozesses verhaftet. Wie im Vorgänger aus der Provinz Córdoba domi niert der Vorsitzende des Gerichts, welcher die Verhandlung leitet und von Amts wegen Beweise erhebt, die Wahrheitsfindung, vgl. Art. 375, 378, 382 388 CPPN (1992). Er hat zudem recht umfangreiche Möglichkeiten, die Beweiserhebung wie der zu verschriftlichen, indem er die Verlesung von Vernehmungsprotokollen aus dem Vorverfahren anordnet, bspw. wenn der Angeklagte die Aussage verweigert, Art. 378 Abs. 2 CPPN (1992), wenn die Prozessparteien sich einverstanden erklä ren, Art. 391 Nr. 1 CPPN (1992) oder um Widersprüche zwischen einer Zeugen aussage im Vor- und im Hauptverfahren aufzuzeigen, Art. 391 Nr. 2 CPPN (1992). Der Staatsanwalt ist demgegenüber gezwungen, seine Beweisanträge schon im Vorhinein während der Verhandlungsvorbereitung zu stellen, Art. 355 CPPN (1992), ein formales Antragsrecht mit ausdrücklich geregelten Ablehnungsvor aussetzungen steht ihm später nicht mehr zu. In der Hauptverhandlung selbst be schränkt sich seine Rolle darauf, im Nachgang zur gerichtlichen Beweiserhebung ergänzend Fragen zu stellen, Art. 389 CPPN (1992), und schließlich in seinem Ab schlussantrag nach Art. 393 CPPN (1992) das Ergebnis der Hauptverhandlung aus seiner Sicht zusammenzufassen, rechtlich zu würdigen und die entsprechende Rechtsfolge zu beantragen. Der absolute Vorrang der Instruktionsmaxime sowie die starke Formalisierung des Verfahrens verhindern, dass der staatliche Ankläger durch eine Auseinandersetzung mit der Verteidigung in einem kontradiktorischen Verfahren zur Wahrheitsfindung beitragen kann.985 Das Anklagemoment ist im CPPN (1992) also nur dahingehend verwirklicht, dass das Gericht für seine Inquisitionstätigkeit der staatsanwaltlichen Anklage als Auslöser bedarf, Art. 347 ff. CPPN (1992). Der Staatsanwalt gibt demnach mit dem in seinem Antrag auf Verfahrenseröffnung bezeichneten Tatgeschehen den Gegenstand der richterlichen Untersuchungen vor. Nach Art. 381 CPPN (1992) kann er den Verfahrensgegenstand ausnahmsweise auch noch nachträglich auf sol che Taten erweitern, die mit dem bereits angeklagten Sachverhalt in Form eines Dauerdelikts oder einer Qualifikation verbunden sind. Diese aus dem Strafverfah rensrecht Córdobas übernommene und auch im gescheiterten Konkurrenzentwurf 985 Siehe dazu schon die entsprechende Kritik oben bezüglich des Hauptverfahrens im CPP Córdoba (1940), 4. Kapitel, A. III. 2. sowie bezüglich des Hauptverfahrens im Entwurf Maier, 4. Kapitel, B. III. 4. Vgl. auch die besonders eindrücklichen Ausführungen von Cerletti und Folguero, in: Maier (Hrsg.), Ministerio Público, S. 145. Die Autoren schließen aus der dar gestellten Struktur des Hauptverfahrens im CPPN (1992) auf die Gefahr, dass die Einführung des Prinzips der Mündlichkeit, und damit ein Kernstück der Reformen des Inquisitionsprozes ses, entwertet wird.
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5. Kap.: Formaler Anklagegrundsatz in der Krise und ein eigener Weg
Maiers enthaltene Regelung ist, wie schon bei Erörterung der genannten Geset zeswerke dargelegt, kritikwürdig, da sie auf bedenkliche Weise in das Verteidi gungsrecht des Anklagten eingreift.986 Die rechtliche Bewertung der angeklagten Taten durch die Staatsanwaltschaft ist dagegen von vornherein nicht von der Bin dungswirkung der Anklage gegenüber dem Gericht erfasst. Nach Art. 401 Abs. 1 CPPN (1992) kann das Gericht ausdrücklich in seinem Urteil von der rechtlichen Bewertung der Staatsanwaltschaft abweichen, auch wenn dies eine härtere Be strafung nach sich zieht, als sie aufgrund der angeklagten Delikte möglich gewe sen wäre. Nichtsdestotrotz plädieren einige Stimmen für eine einschränkende Aus legung dieser Vorschrift. Auch ein Wechsel lediglich des rechtlichen Standpunkts könne für den Angeklagten derart überraschend sein, dass sein Recht auf Verteidi gung dadurch verletzt werde. Ein solcher Wechsel sei daher nur zulässig, wenn er für den Angeklagten so vorhersehbar sei, dass dieser ausreichende Verteidigungs möglichkeiten gehabt habe.987 Wenn der Kritik an Art. 401 CPPN (1992) auch im Grundsatz Recht zu geben ist, führt die vorgeschlagene Differenzierung jedoch zu erheblichen Abgrenzungsschwierigkeiten. Vorzugswürdig erscheint es daher, dem Gericht, welches eine Änderung des rechtlichen Gesichtspunktes erwägt, schlicht eine Pflicht zur rechtzeitigen Mitteilung an den Angeklagten aufzuerlegen, wie sie das deutsche Strafverfahrensrecht kennt.988 Als Hauptproblem in Bezug auf die Verwirklichung des Anklagegrundsatzes im CPPN (1992) kristallisierte sich jedoch ein anderes heraus, nämlich die Frage, ob das Gericht an den Abschlussantrag des Staatsanwalts auf Freispruch gebun den ist und infolgedessen gezwungen ist freizusprechen, oder ob es dennoch den Angeklagten auch verurteilen kann.989 Das Fehlen einer ausdrücklichen Regelung hierzu in der Bundesstrafverfahrensordnung gab den Anlass zu einer äußerst um fangreichen Diskussion in der argentinischen Rechtsprechung und Lehre über die Aufgabenverteilung zwischen Staatsanwaltschaft und Gericht im reformierten In quisitionsverfahren. Die Leitlinien in dieser Auseinandersetzung werden vorge geben durch eine Reihe höchstrichterlicher Grundsatzentscheidungen, in welchen sich der Oberste Gerichtshof Argentiniens mit dem Problem der Bindungswirkung des staatsanwaltlichen Antrags auf Freispruch befasste. Den Anfang machte die 986
Siehe dazu schon die Erörterungen oben 4. Kapitel, B. III. 4. Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 569; Maier/Langer, in: Nueva Doctrina Penal 1996-B, S. 629 f.; Navarro/Daray, CPPN Bd. 2, S. 1154; Falcone, principio acusatorio, S. 97 f., ders., in: El Derecho 164 (1995), S. 1225. 988 Diese Möglichkeit erwähnt auch Maier selbst, ders., Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 570. Vgl. dazu § 265 der deutschen Strafprozessordnung. 989 Dieses Problem gewinnt in Argentinien dadurch erheblich an praktischer Bedeutung, dass der im Hauptverfahren tätige Staatsanwalt von demjenigen im Ermittlungsverfahren, wel cher den Antrag auf Eröffnung des Hauptverfahrens verfasst hat, personenverschieden ist, vgl. Art. 67, 68 CPPN (1992), Art. 7 ff. ley Org.MP (1998) sowie schon oben 5. Kapitel, A. II. 1. Damit hat der Fiskal, welcher im Hauptverfahren die Anklage vertritt, gar nicht selber über ihre Erhebung entschieden und kann durchaus zu einer anderen Würdigung des Ergebnisses des Er mittlungsverfahrens kommen. 987
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Entscheidung „Tarifeño“, welche am 29. Dezember 1989, also noch zu Zeiten der vorherigen Bundesstrafverfahrensordnung990, erging.991 Diese Entscheidung, wel che nachfolgend vom Obersten Gerichtshof wiederholt bestätigt wurde, begrün dete die gleichnamige „Tarifeño“-Doktrin, wonach das Gericht nicht verurteilen kann, wenn der Staatsanwalt zum Abschluss der Hauptverhandlung einen Frei spruch beantragt. Es muss dann dem staatsanwaltlichen Antrag folgen und frei sprechen, was einen Verbrauch der Strafklage zur Folge hat.992 Die Begründung des Tribunals für diese These fiel allerdings äußerst knapp aus. Es beschränkte sich darauf, festzuhalten, dass, wenn der Staatsanwalt Freispruch beantrage, keine An klage vorläge, weshalb eine Verurteilung gegen die durch das Recht auf einen fai ren Prozess nach Art. 18 CN vorgegebenen Verfahrensformen verstoße.993 Trotz der nur sehr spärlichen Ausführungen hat die Linie des Obersten Gerichts hofs eine umfangreiche Anhängerschaft in der argentinischen Rechtswissenschaft gefunden, welche die Begründung der „Tarifeño“-Doktrin nach und nach weiter ausarbeitete und durch neue Argumente bereicherte. Eine kleine Minderheit in nerhalb dieser Strömung versteht das vom Obersten Gerichtshof bemängelte Feh len der Anklage so, dass nur der Abschlussantrag der Staatsanwaltschaft die An klage ausmache, welche dem Gericht in Verwirklichung des Akkusationsprinzips die Urteilsfindung ermögliche.994 Anzunehmen, die Hauptverhandlung finde statt ohne das Vorliegen einer Anklage, mit welcher der zu verhandelnde Tatvorwurf überhaupt erst formal definiert und dem Beschuldigten zur Kenntnis gebracht wird, erscheint jedoch recht abwegig995, weshalb die große Mehrheit davon aus geht, dass sich die staatsanwaltliche Anklage aus zwei komplementären Akten zu sammensetzt, nämlich dem Antrag des Staatsanwalts auf Einleitung des Hauptver fahrens nach Art. 347 CPPN (1992) sowie aus seinem Strafantrag zum Abschluss der Hauptverhandlung nach Art. 393 CPPN (1992). Fehle Letzterer, sei die An klage nicht vollständig, was eine Verurteilung durch das Gericht verbiete.996 Der 990 Auch die alte Bundesstrafverfahrensordnung kannte schon ein, allerdings schriftliches, Hauptverfahren, vgl. dazu oben 3. Kapitel, B. I., III. 3. c). Ihre eigentliche Begründungstiefe er langte die Tarifeño-Doktrin allerdings erst mit Einführung der mündlichen Hauptverhandlung durch den CPPN (1992), wie im Folgenden zu sehen sein wird. 991 Die Entscheidung findet sich abgedruckt in: La Ley 1995-B, S. 32 f. 992 Der richterliche Urteilsspruch ist stets der materiellen Rechtskraft fähig, vgl. für den Frei spruch Navarro/Daray, CPPN Bd. 2, S. 1159. Ein Prozessurteil ohne Sachentscheidung, das noch die Möglichkeit erneuter Strafverfolgung wegen derselben Tat offen lässt, wie es etwa nach § 260 Abs. 3 der deutschen Strafprozessordnung möglich ist, kennt das argentinische Recht nicht. 993 Vgl. die Punkte 3 und 4 der Urteilsbegründung in: La Ley 1995-B, S. 32 f. 994 So das Strafgericht Nr. 23 der Bundeshauptstadt in einem Urteil vom 15.12.1994, zi tiert bei Anitua/Capuccio, in: Nueva Doctrina Penal 1996-A, S. 148 f. sowie bei Grassi, in: La Ley 2003-A, S. 776. 995 D’Albora, CPPN Bd. 2, S. 870 bezeichnet dies gar als „Absurdität“ (Übers. d. Verf.). 996 Rúa, in: Ciencias Penales Contemporáneas Nr. 3 (2002), S. 569 ff., ders., in: La Ley 2002F, S. 43 ff.; Falcone, principio acusatorio, S. 64, ders., in: El Derecho 164 (1995), S. 1226; Pereyra, in: Nueva Doctrina Penal 2002-A, S. 197 ff.; Guardia, in: Doctrina Judicial 2004-2,
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Antrag auf Einleitung des Hauptverfahrens habe also Anklagecharakter, sei allein aber nicht ausreichend, um auch die gerichtliche Urteilsfindung zu initiieren. Ihm fehle schon inhaltlich ein entscheidendes Element, nämlich die Forderung einer bestimmten Strafe. Könne das Gericht nur auf Grundlage des Eröffnungsantrags verurteilen, sei nicht gewährleistet, dass sich der Angeklagte bezüglich der für die Strafzumessung maßgeblichen Erwägungen ausreichend verteidigen könne.997 Zu dem sei die Hierarchie innerhalb des Ministerio Público Fiscal zu bedenken. Bilde allein der Eröffnungsantrag des Ermittlungsstaatsanwalts die Anklage, bedeute dies, dass ihm weitaus größere Machtbefugnisse eingeräumt werden, als seinem im Hauptverfahren tätigen Vorgesetzten, welcher mangels eigener Einwirkungs möglichkeiten praktisch überflüssig sei.998 Vor allem aber bedeutete der Verzicht darauf, dass auch der staatliche Ankläger in der Hauptverhandlung die Anklage aufrechterhalten muss, einen völligen Wegfall des kontradiktorischen Elements, mit der Folge einer Verletzung der richterlichen Unparteilichkeit und des Vertei digungsrechts des Angeklagten aus Art. 18 CN.999 Schließe sich der Fiskal in der Hauptverhandlung der Haltung der Verteidigung an, bedeute das Fehlen der An klageposition, dass das Gericht, um zu einer Verurteilung zu kommen, seine neu trale Position verlassen und die Rolle des Anklägers mit übernehmen müsse.1000 Der Angeklagte müsse weiterhin die Möglichkeit haben, sich in der Hauptver handlung gegen die Schlüsse zu verteidigen, welche die Anklageseite aus der Beweiserhebung zieht. Sie dürfe nicht darauf angewiesen sein, zu raten, welche belastende Beweiswürdigung das Gericht im Nachhinein vornimmt.1001 Der Eröff nungsantrag, welcher sich lediglich auf die vorläufigen Beweismittel aus dem Vor verfahren stützt, nicht aber auf die entscheidungserhebliche Beweiserhebung und -würdigung1002, sei daher als Anklage nicht ausreichend. Auch sei ein bindender Antrag des Staatsanwalts auf Freispruch nicht als Verstoß gegen den Legalitäts grundsatz zu werten, da es keine freie Disposition über die Anklage, sondern le
S. 25 ff.; Salas, in: La Ley 2004-C, S. 73 f.; Sagretti, in: La Ley Córdoba 2003, S. 57 ff.; Pons/ Bruzzone, in: Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 0 (1993), S. 233 ff.; De Luca/ Manriquez, in: La Ley 1995-B, S. 801 ff.; Anitua/Capuccio, in: Nueva Doctrina Penal 1996-A, S. 144 ff.; Di Masi/Obligado, CPPN, S. 420, 468. 997 Di Masi/Obligado, CPPN, S. 420 f., 468; Rúa, in: Ciencias Penales Contemporáneas Nr. 3 (2002), S. 574; ders., in:. La Ley 2002-F, S. 46; Guardia, in: Doctrina Judicial 2004-2, S. 26 f.; Anitua/Capuccio, in. Nueva Doctrina Penal 1996-A, S. 148; De Luca/Manriquez, in: La Ley 1995-B, S. 802 f. 998 Pons/Bruzzone, in: Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 0 (1993), S. 244 ff.; Anitua/Capuccio, in: Nueva Doctrina Penal 1996-A, S. 147. 999 Guardia, in: Doctrina Judicial 2004–2, S. 27; Falcone, principio acusatorio, S. 64. 1000 Rúa, in: Ciencias Penales Contemporáneas Nr. 3 (2002), S. 576; ders., in : La Ley 2002F, S. 47; Falcone, in: El Derecho 164 (1995), S. 1226; Grassi, in: La Ley 2003-A, S. 782. 1001 Pereyra, in: Nueva Doctrina Penal 2002-A, S. 196; Cafferata Nores, in: La Ley 1997-A, S. 283; De Luca/Manriquez, in: La Ley 1995-B S. 806; Pons/Bruzzone, in: Cuadernos de Doc trina y Jurisprudencia Penal Nr. 0 (1993), S. 237. 1002 De Luca/Manriquez, in: La Ley 1995-B, S. 804 f.; Rodríguez, in: Semanario Jurídico 1997-A, S. 396.
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diglich ihre negative Ausübung bedeute, wenn der Staatsanwalt zu der Erkenntnis gelange, dass die Voraussetzungen für ihre Aufrechterhaltung objektiv nicht mehr vorliegen.1003 Richte der Staatsanwalt sich bei seinem Antrag nicht nach solchen nachprüfbaren Gesichtspunkten, müsse das Gericht nicht freisprechen, sondern könne den Antrag nach Art. 69, 167 CPPN (1992) wegen unzureichender Begrün dung für nichtig erklären.1004 Zuletzt sei zu bedenken, dass der Antrag des Staats anwalts auf Eröffnung des Vor- bzw. des Hauptverfahrens von der Polizei nach Art. 195 bzw. vom Berufungsgericht nach Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) ersetzt werden kann. Sei eine spätere Mitwirkung des Staatsanwalts nicht mehr erforder lich, führe dies zur Möglichkeit einer Verurteilung durch das Gericht, ohne dass das Anklageorgan überhaupt einmal tätig geworden ist.1005 In diesem Zusammenhang ist noch eine weitere besonders bedeutsame Ent scheidung des Obersten Gerichtshofs Argentiniens zu erwähnen, mittels welcher er seine „Tarifeño“-Doktrin bestätigte, gleichzeitig aber auch einen Weg aufzeigte, wie das Gericht trotz des staatsanwaltlichen Antrags auf Absolution zu einer Ver urteilung kommen kann. In der Entscheidung „Santillan“ vom 13. August 1998 hielt das Gericht fest, dass dem Anklageerfordernis im Strafverfahren nicht nur mit der staatlichen Klage des Ministerio Público Fiscal Genüge getan werden könne, sondern in gleichem Maße mit der Privatklage des Opfers.1006 Dem Opfer wird also ein eigenständiges, vom staatlichen Strafanspruch unabhängiges Kla gerecht aus der durch die Straftat erlittenen Rechtsverletzung eingeräumt.1007 Der Oberste Gerichtshof erweitert damit grundlegend die strafprozessuale Anklage definition und auf diese Weise die Mittel, um auch unter Beibehaltung seiner strengen Auslegung des Anklagegrundsatzes die gerichtliche Aktivität zu initi ieren. So lässt sich bei einem Tätigwerden des Opfers indirekt auch der staats anwaltliche Einstellungsantrag kontrollieren, ohne dass das Gericht seine neu trale Position durch aktives Eingreifen zu Gunsten der Anklageseite gefährden muss. Der Staatsanwalt wird dadurch nicht in der Ausübung seiner Anklagefunk tion beeinträchtigt, sondern lediglich darin, durch ihre Nichtausübung die Ver fahrensbeendigung herbeiführen zu können. Das staatliche Strafverfolgungsinte resse wird mithin nicht in Mitleidenschaft gezogen, es stellt sich allerdings die 1003
Rúa, in: Ciencias Penales Contemporáneas Nr. 3 (2002), S. 572 f.; ders., in La Ley 2002F, S. 46 f.; Pereyra, in: Nueva Doctrina Penal 2002-A, S. 198 ff.; Salas, in: La Ley 2004-C, S. 73; Cafferata Nores, in: La Ley 1997-A, S. 285 ff.; Anitua/Capuccio, in: Nueva Doctrina Pe nal 1996-A, S. 153; De Luca/Manriquez, in: La Ley 1995-B, S. 809 f. 1004 Falcone, principio acusatorio, S. 66, 72; Salas, in: La Ley 2004-C, S. 70 f. 1005 Dieses häufig zitierte Argument stammt ursprünglich aus dem Minderheitenvotum des Richters Bisordi am Nationalen Kassationsgerichtshof in der Entscheidung „Ferreyra“ vom 14. April 1994, vgl. Pereyra, in: Nueva Doctrina Penal 2002-A, S. 190 f. Es wird unter ande rem auch verwandt von Rúa, in: Ciencias Penales Contemporáneas Nr. 3 (2002), S. 583 f. so wie ders., in: La Ley 2002-F, S. 47 f. 1006 Die Entscheidung ist abgedruckt in: La Ley 1998-E, S. 329–333. Zustimmend Cafferata Nores, in: La Ley 1998-E, S. 329 ff. sowie Bidart Campos, in: La Ley 1998-E, S. 432 ff. 1007 Cafferata Nores, in La Ley 1998-E, S. 330 f.
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Frage, inwieweit die Interessen des Beschuldigten eine unzulässige Einschrän kung erfahren.1008 Die „Tarifeño“-Rechtsprechung des Obersten Gerichtshof hat nicht nur Zustim mung erfahren, sondern ist bis heute auch andauernder, heftiger Kritik ausgesetzt. Eine ganze Reihe gewichtiger Stimmen in Lehre und Rechtsprechung vertritt, dass das Gericht nicht an einen Antrag des Staatsanwalts auf Freispruch gebunden ist und auch in diesem Fall sehr wohl zu einer Verurteilung kommen kann.1009 Denn dem Erfordernis einer vorherigen staatsanwaltlichen Anklage sei schon mit dem Antrag auf Eröffnung des Hauptverfahrens Genüge getan. Der Eröffnungsantrag erfülle alle Voraussetzungen einer Anklage, die dort vorgenommene Zuschrei bung einer strafbaren Handlung initiiere das Hauptverfahren und bestimme sei nen Gegenstand. Die Benennung eines konkreten Strafmaßes sei nicht erforder lich, da sich im Gesetz ein Strafrahmen für die angeklagten Delikte finde. Zudem sei das Gericht letztlich ohnehin in seiner Strafzumessung frei und könne sogar durch einen andere rechtliche Bewertung wegen einem mit schwererer Strafe be drohten Delikt als dem angeklagten verurteilen, Art. 401 CPPN (1992). Die Aus legung, dass der Eröffnungsantrag eine vollständige Anklage darstelle, werde auch durch den Gesetzestext gestützt, welcher ihn in den Art. 67 Nr. 21010 und 381 CPPN (1992)1011 ausdrücklich als „Anklage“ bezeichnet.1012 Die Verfechter der Bindung des Gerichts an den Abschlussantrag des Staatsanwalts auf Freispruch oblägen einem grundsätzlichen Irrtum über die Reichweite des Anklagegrundsatzes im re formierten Inquisitionsprozess. Der Anklagegrundsatz gelte im Verfahren nach dem CPPN (1992) nur formal und in Verbindung mit dem Untersuchungsgrund 1008 So lässt sich durchaus erwägen, dass der „Verhinderungsmacht“ des Staatsanwalts auch eine Schutzfunktion zugunsten des Beschuldigten innewohnt. In jedem Falle aber ist die Be teiligung des Opfers am Strafverfahren und die daraus resultierende Stärkung der Anklage position besonders kritisch anhand des Grundsatzes der Waffengleichheit zu überprüfen, siehe dazu schon oben Fn. 983 sowie weiter unten 5. Kapitel, B. III. 3. 1009 Zu nennen sind hier etwa D’Albora, CPPN Bd. 2, S. 867 ff.; ders., in: La Ley 1996-A, S. 67 ff.; Ábalos, CPPN, S. 845; Maier/Langer, in: Nueva Doctrina Penal 1996-B, S. 620 ff.; Palacio Laje, in: La Ley 2004-C, S. 1537 sowie der Oberste Gerichtshof der Provinz Córdoba, vgl. Griboff de Imahorn, in: La Ley Córdoba 2004, S. 346 f.; Lescano, in: La Ley Córdoba 2005, S. 1088. 1010 Nach Art. 67 Nr. 2 CPPN (1992) kann der Staatsanwalt des Hauptverfahrens den Ermitt lungsstaatsanwalt bei Meinungsverschiedenheiten über den Eröffnungsantrag hinzuziehen, da mit Letzterer „die Anklage“ auch im Hauptverfahren weitervertritt (Übers. d. Verf.). 1011 Art. 381 CPPN (1992) bestimmt die Voraussetzungen zu einer nachträglichen Erweite rung „der Anklage“ im Hauptverfahren (Übers. d. Verf.). 1012 Siehe zu den Argumenten bzgl. des staatsanwaltlichen Eröffnungsantrags als Anklage die beispielhaften Ausführungen der Strafkammer Nr. 4 der Provinz Córdoba in einer Entschei dung vom 29. September 1999 dargestellt bei Falcone, principio acusatorio, S. 62 f. Vgl. auch D’Albora, CPPN Bd. 2, S. 869 f.; ders., in: La Ley 1996-A, S. 67 f.; Cafferata Nores, in: La Ley 1997-A, S. 283. Grundsätzlich ebenfalls dieser Auffassung sind Maier/Langer, in: Nueva Doctrina Penal 1996-B, S. 622. Sie erkennen allerdings das Fehlen eines bestimmten Straf antrags als Problem an und schlagen als Lösung die Einführung eines Schuldinterlokuts vor, Maier/Langer, S. 623 f.
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satz. Die Koexistenz dieser beiden Verfahrensgrundsätze bedeute, dass die gericht liche Ermittlungs- und Urteilstätigkeit zwar durch den Impuls eines vom Entschei dungsorgan getrennten Anklageorgans ausgelöst werden müsse, danach liege aber die Verfahrensherrschaft allein beim zur Findung der materiellen Wahrheit beru fenen Gericht und könne ihm nicht wieder vom Anklageorgan entzogen werden. Der Anklagegrundsatz in der Bundesstrafverfahrensordnung sei also keineswegs mit dem Dispositions- oder Verfügungsgrundsatz identisch, welcher die Herr schaft über das Strafverfahren den Parteien zuweise, und könne einen Rückzug der Klage entsprechend auch nicht rechtfertigen.1013 Die „Tarifeño“-Doktrin zeige demgegenüber ein materielles Verständnis des Anklagegrundsatzes mit der Folge der Disponibilität der Strafklage und einer Annäherung an das angloamerikanische Verfahrenssystem.1014 Auf diese Weise erhalte der Staatsanwalt die Befugnis zur abschließenden Entscheidung über die Strafklage, welche nach der argentinischen Verfassung allein dem Richter zustehe.1015 Schlimmer noch, die Abhängigkeit des Anklageorgans von der Exekutive bedeute, dass richterliche Entscheidungsbefug nisse letztlich der vollziehenden Gewalt zufielen.1016 Der Streit über die „Tarifeño“-Doktrin blieb auch vom Obersten Gerichtshof nicht fern. Ganz im Gegenteil begann er, auch innerhalb des höchsten Recht sprechungsorgans Argentiniens ausgetragen zu werden. Als Gegengewicht zu den jenigen, welche „Tarifeño“ aufrecht erhielten, bildete sich aus Richtern, welche ihre vorherige Auffassung revidierten, sowie anderen, die neu hinzukamen, eine Gruppe, welche die „Tarifeño“-Doktrin in ihren Urteilsvoten scharf kritisiert. Die Mehrheitsverhältnisse waren zwischenzeitlich so knapp, dass auch kleinere per sonelle Änderungen innerhalb des Richterkollegiums sich auf das gesamte Ver fahrensergebnis auswirken konnten. Daraus ergab sich in den letzten Jahren ein Zick-Zack-Kurs der höchstrichterlichen Rechtsprechung bezüglich der Geltung von „Tarifeño“.1017 Den Anfang machte die Entscheidung „Caseres“ vom 25. September 1997, wel che die „Tarifeño“-Doktrin noch aufrecht erhielt, wo aber schon erhebliche Dis sonanzen innerhalb des höchsten argentinischen Rechtsprechungsorgans deutlich wurden.1018 Nur die knappest mögliche Mehrheit von fünf der acht Richter des Gremiums sprach sich noch für die Bindungswirkung des staatsanwaltlichen An 1013 Diese vielfach aufgegriffene Argumentation geht auf D’Albora zurück. Siehe dazu D’Albora, CPPN Bd. 2, S. 875 f.; ders., in: La Ley 1996-A, S. 69. 1014 Maier/Langer, in: Nueva Doctrina Penal 1996-B, S. 619; Maier in einem Urteil des Obersten Gerichtshof der Stadt Buenos Aires, dargestellt bei Rúa, in: Ciencias Penals Contem poráneas Nr. 3 (2002), S. 567 ff. 1015 So die Strafkammer Nr. 4 der Provinz Córdoba, zitiert von Falcone, principio acusatorio, S. 63; D’Albora, CPPN Bd. 2, S. 873; Palacio Laje, in: La Ley 2004-C, S. 1537. 1016 So zwei erstinstanzliche Strafgerichte in der Bundeshauptstadt, vgl. De Luca/Manriquez, in: La Ley 1995-B, S. 807 mit Nachweisen. 1017 Einen guten Überblick bis ins Jahr 2004 über die wechselhafte diesbezügliche Recht sprechung des Obersten Gerichtshofs bietet Carrió, in: La Ley 2004-E, S. 1246 ff. 1018 Die Entscheidung „Caseres“ ist bspw. abgedruckt in: La Ley 1998-B, S. 386 ff.
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trags aus, ohne der kargen Formel aus „Tarifeño“ einer Verletzung der von Art. 18 CN geforderten Verfahrensformen argumentativ etwas hinzuzufügen. Demgegen über begründeten die drei unterlegenen Richter jeweils in ausführlichen Minder heitsvoten ihre abweichende Haltung. Tenor war dabei die schon oben dargestellte Argumentation, wonach der Antrag des Staatsanwalts auf Eröffnung des Haupt verfahrens zur Initiierung der gerichtlichen Urteilstätigkeit ausreichend ist, eine bestimmte Strafmaßforderung sei nicht notwendig.1019 Die Entscheidung „Marcilese“ vom 15. August 2002 bedeutete schließlich ein Umschwenken des Obersten Gerichtshofs, denn diesmal sprach sich eine Mehr heit von fünf Richtern des jetzt mit sieben Richtern besetzten Tribunals gegen die Bindungswirkung des staatsanwaltlichen Antrags auf Freispruch aus.1020 Der Richter Fayt hatte die Seiten gewechselt und begründete seine neue Auffassung in einem langen Sondervotum.1021 In seinen interessanten Ausführungen wieder holt er nicht nur die bisher für die Anklageeigenschaft des staatsanwaltlichen Eröffnungsantrags gebrachten Argumente, sondern macht sich auch die grund legenden Gedanken D’Alboras und Maiers zur Systematik des reformierten In quisitionsverfahrens zu eigen. Er unterscheidet zwischen dem materiellen Akku sationsprinzip, nämlich dem im angloamerikanischen Strafverfahren geltenden Parteien- oder Verfügungsgrundsatz, sowie dem formalen Akkusationsprinzip, das in der argentinischen Rechtsordnung im Einklang mit Offizial- und Legalitäts prinzip existiere. Nach Letzterem müsse die inquisitorische Tätigkeit des Gerichts, welches im Hauptverfahren die materielle Wahrheit erforsche, lediglich durch die staatsanwaltliche Anklage, also den Antrag auf Eröffnung des Hauptverfahrens, eingeleitet werden. Anders als im Parteiverfahren, wo der Kläger einen eigenen Anspruch aus einer materiellen Rechtsbeziehung geltend mache, habe die Staats anwaltschaft hier kein subjektives Recht auf die Bestrafung des Angeklagten. Das Recht auf Bestrafung wegen einer Verletzung der Normen des materiellen Straf rechts liege allein beim Staat selber, welcher in der Verfassung den Gerichten die Entscheidung darüber zugewiesen habe. Der Staatsanwalt könne dem Gericht diese Entscheidungsmacht daher nicht mehr entziehen, nachdem er dessen Tä tigkeit durch seinen Eröffnungsantrag initiiert hat.1022 Die lediglich formale Aus legung des Anklagegrundsatzes bedeute auch keine unzulässige Einschränkung der Kontradiktion im Hauptverfahren. Eine solche liege lediglich dann vor, wenn der Urteilsinhalt für den Angeklagten überraschend sei und er aufgrund dessen zu vor keine ausreichende Verteidigungsmöglichkeit gehabt habe. Dies sei jedoch an gesichts des im Eröffnungsantrag des Staatsanwalts enthaltenen Tatvorwurfs re gelmäßig ausgeschlossen.1023 1019 Votum Nazareno, Punkte 9, 10 und 11; Votum Moliné O’Connor Punkte 6, 7 und 8; Votum Vázquez Punkte 15, 17 und 18, nachzulesen in: La Ley 1998-B, S. 389 ff. 1020 Die Entscheidung „Marcilese“ ist unter anderem nachzulesen in: La Ley 2002-E, S. 718 ff. 1021 Das Sondervotum Fayts findet sich in: La Ley 2002-E, S. 722 ff. 1022 Punkte 10, 11 und 13 des Sondervotums Fayt aaO. 1023 Punkt 17 des Sondervotums Fayt aaO.
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Die Abkehr von „Tarifeño“ war jedoch nur von kurzer Dauer, schon mit der Ent scheidung „Mostaccio“ vom 17 Februar 2004 kehrte die Mehrheit des teilweise neu besetzten Obersten Gerichtshofs zur Doktrin von der Bindungswirkung des staatsanwaltlichen Antrags auf Freispruch zurück.1024 Eine eigene Erklärung für ihre Rückkehr zu „Tarifeño“ lieferten die fünf Richter dabei nicht, sie verwiesen lediglich auf die Ausführungen der Mehrheit in der Entscheidung „Caseres“, wel che sich letztlich auf die alte, allgemeine Formel einer Verletzung der von Art. 18 CN vorgegebenen Verfahrensformen beschränkte.1025 Die Richter Fayt und Váz quez dagegen blieben bei ihrer Haltung aus „Marcilese“, wonach der staatsanwalt liche Antrag auf Freispruch das Gericht nicht bindet, und begründeten ihre Ansicht erneut ausführlich in einem gemeinsamen Minderheitsvotum, welches argumenta tiv dem Votum Fayts aus „Marcilese“ folgte.1026 Mit „Mostaccio“ ist also angesichts der Bindungswirkung der höchstrichter lichen Rechtsprechung für die untergeordneten argentinischen Gerichte1027 grund sätzlich davon auszugehen, dass ein Gericht nicht verurteilen kann, wenn der Staatsanwalt zum Abschluss der Hauptverhandlung einen Freispruch beantragt. Dieses Ergebnis entspricht allerdings nur eingeschränkt der argentinischen Rea lität. Wie schon aus den vorhergehenden Nachweisen zur Kritik an „Tarifeño“ zu entnehmen, tut sich besonders die Rechtsprechung äußerst schwer damit, die entsprechende Doktrin zu übernehmen. Nicht hilfreich in diesem Sinne ist si cher auch der beschriebene unklare Kurs des Obersten Gerichtshofs, wie Fayt und Vázquez treffend in ihrem Minderheitenvotum zu „Mostaccio“ feststellen.1028 Viele Gerichte setzen jedenfalls bis heute die Vorgaben aus „Tarifeño“, „Caseres“ und „Mostaccio“ nicht um und verurteilen bisweilen auch bei einem gegentei ligen Abschlussantrag des Staatsanwalts.1029 Daraus entstand ein parallel zu der inhaltlichen Auseinandersetzung geführter Streit über die Bindungswirkung der genannten höchstrichterlichen Entscheidungen. Ausgangspunkt ist die durch den Obersten Gerichtshof selbst eingeführte Formel, wonach seine Entscheidungen in gleich gelagerten Fällen grundsätzlich für die untergeordneten Gerichte bin dend sind, diese aber abweichen können, wenn sie neue, vom Obersten Gerichts hof nicht berücksichtigte Argumente vorbringen. Die Gegner der „Tarifeño“-Dok trin berufen sich nun darauf, dass sie neue Argumente einbringen, während ihre
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Die Entscheidung „Mostaccio“ findet sich unter anderem in: La Ley 2004-B, S. 457 ff. Vgl. La Ley 2004-B, S. 457. 1026 Siehe La Ley 2004-B, S. 457 ff. 1027 Siehe dazu bereits oben Fn. 900. 1028 Vgl. Punkt 7 des Minderheitenvotums von Fayt und Vázquez, in: La Ley 2004-B, S. 457 ff. 1029 Allen voran stützt diese Haltung der Oberste Gerichtshof der Provinz Córdoba. Nach weise zu dessen Rechtsprechung sowie der weiterer Tribunale, welche den staatsanwaltlichen Abschlussantrag nicht als bindend ansehen, finden sich bei D’Albora, CPPN Bd. 2, S. 874 ff. An gleicher Stelle nimmt besagter Autor aber auch die Einschätzung vor, dass zumindest die Mehrheit der Bundesgerichte dem Obersten Gerichtshof folgen. 1025
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Befürworter auf dem Prinzip der Bindungswirkung beharren.1030 Die Frage, ob der Antrag des Staatsanwalts in der Hauptverhandlung auf Freispruch für das Gericht zwingend ist, ist also auch durch „Mostaccio“ keineswegs abschließend beant wortet und bleibt in Argentinien äußerst umstritten. Tatsächlich handelt es sich um einen Streit, welcher wie derjenige zur Ver fassungsgemäßheit der Vorschrift des Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) an den Grund festen des reformierten Inquisitionsprozesses oder des sistema mixto, wie er in Ar gentinien genannt wird, rührt. Wieder geht es um das Aufeinandertreffen zweier grundlegend unterschiedlicher Verfahrensideen, der des adversatorischen Verfah rens und der des Inquisitionsprozesses, und um die Frage, welcher Raum dem Anklagegrundsatz eingeräumt werden kann, ohne die Errungenschaften der Ver staatlichung des Strafverfahrens zu gefährden. Im Rahmen der Diskussion um Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) zeigte sich ein Widerspruch zwischen Anklage- und Inquisitionsgrundsatz aufgrund der Trennung zwischen Vor- und Hauptverfahren. Er musste zu Gunsten des Anklagegrundsatzes entschieden werden, da dieser auch bei lediglich formaler Auslegung so zu verstehen war, dass das Hauptverfahren immer von einer von der Gerichtsbarkeit klar abgetrennten Anklagebehörde ein zuleiten ist. Bei dem vorliegenden Problem der Bindungswirkung des staatsan waltlichen Antrags auf Freispruch zum Abschluss des Hauptverfahrens stellt sich wiederum, parallel zu dem bei Abschluss der vorhergehenden Verfahrensphase, die Frage, was eigentlich genau die staatsanwaltliche Anklagetätigkeit ausmacht. Während sich eindeutig nachweisen ließ, dass die Einleitung der entscheidungs erheblichen Beweisermittlung durch den Richter im Hauptverfahren zum Kern der Anklagebefugnis des Staatsanwalts gehört, stellt sich der Fall zum Abschluss des Hauptverfahrens keineswegs so klar dar. Zur Bestimmung der Reichweite des Anklagegrundsatzes in der Bundesstraf verfahrensordnung von 1992 soll zunächst auf die oben dargestellten Ausfüh rungen D’Alboras, Maiers und Fayts zurückgegriffen werden, die wie die vorlie gende Untersuchung1031 zwischen der materiellen und einer lediglich formellen Ausprägung des Anklagegrundsatzes unterscheiden. Während der materielle An klagegrundsatz bedeutet, dass der Ankläger seiner Parteistellung entsprechende Dispositionsbefugnisse über die Klage besitzt, fordert der formale Anklagegrund satz lediglich, dass die inquisitorische Tätigkeit des Richters durch die Anklage des Staatsanwalts in Gang gesetzt wird. Ist dies einmal geschehen, genießt die In struktionsmaxime Vorrang, der Ankläger kann nicht nachträglich die Aufklärung der materiellen Wahrheit durch das Gericht noch weiter beschränken. Der Grund satz der Kontradiktion gilt allenfalls ergänzend und soll dem Gericht die Unter 1030 Zu diesem Streit siehe Sagretti, in: La Ley Córdoba 2003, S. 45 ff. und De Luca/Manriquez, in: La Ley 1995-B, S. 812, welche die Bindungswirkung der „Tarifeño-Rechtsprechung“ be tonen, sowie Griboff de Imahorn, in: La Ley Córdoba 2004, S. 347, die im Einklang mit dem Obersten Gerichtshof Córdobas den Ausnahmetatbestand als gegeben ansieht. 1031 Siehe dazu schon oben 1. Kapitel, B. III.
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suchung vereinfachen, sie aber keinesfalls verhindern. Entsprechend ist auch das Hauptverfahren des CPPN (1992) ausgestaltet. In Vorbereitung zur Hauptverhand lung kann der Fiskal Beweise anbieten, Art. 355 Abs. 1 CPPN (1992). Dies ist je doch nicht zwingend notwendig, denn im Übrigen wählt der Vorsitzende des Ge richts direkt diejenigen Beweise aus dem Vorverfahren aus, die er noch einmal in der Hauptverhandlung erheben möchte, Art. 356 Abs. 2 S. 2 CPPN (1992). Die Hauptverhandlung selbst wird absolut vom Vorsitzenden des Gerichts dominiert, er leitet die Verhandlung und erhebt von Amts wegen alle notwendigen Beweise, Art. 375, 378, 382 CPPN (1992). Der Fiskal besitzt hier nicht einmal mehr ein for males Beweisantragsrecht, die einzige signifikante Befugnis, die ihm dort zur Ver fügung steht, nämlich ausnahmsweise nach Art. 381 CPPN (1992) nachträglich seinen Eröffnungsantrag zu erweitern, bezieht sich wiederum auf seine Funktion als Initiator der richterlichen Untersuchung. Nach diesem Konzept ist der staats anwaltliche Abschlussantrag am Schluss der Hauptverhandlung lediglich eine un verbindliche Stellungnahme, ihm eine Bindungswirkung auf das Gericht zuzu sprechen bedeutet einen Bruch der dargestellten Systematik. Der Staatsanwalt erhält auf diese Weise nämlich die Möglichkeit, nachträglich, d. h. nach der rich terlichen Beweiserhebung, noch einmal die Urteilsgrundlage des Gerichts zu be schränken, oder gar vollständig zu entziehen, je nachdem, ob er Teile des Tatvor wurfs nicht mehr in den Antrag aufnimmt oder gar einen umfassenden Freispruch beantragt. Das Gericht erhebt dann zwar formal noch selbst die Beweise, ob es sie aber zur Grundlage seines Urteils machen kann, darüber entscheidet bis zuletzt der Staatsanwalt, der die Anklage als Voraussetzung einer Verurteilung entfallen las sen kann. Eine solche Befugnis des Anklägers, die Anklage zurückzuziehen und damit noch in der Hauptverhandlung über den Verfahrensgegenstand zu verfügen, entspricht wie gezeigt einer materiellen Ausprägung des Anklagegrundsatzes und damit der Rollenverteilung in einem Parteiverfahren. In einer inquisitorischen Ver fahrensstruktur wird sie dagegen durch die Instruktionsmaxime verdrängt, wonach das Gericht das reale Tatgeschehen von Amts wegen ermitteln soll. Die Bindung des Gerichts an den staatsanwaltlichen Abschlussantrag lässt sich also mit der in quisitorischen Form der Wahrheitsfindung nicht in Einklang bringen. Ein erstes Zwischenergebnis ist demnach, dass die Interpretation, welche den staatsanwaltlichen Abschlussantrag nach Art. 393 CPPN (1992) als Teil der An klage sieht, sich nicht aus dem Text der Bundesstrafverfahrensordnung herleiten lässt. Die nachträgliche Beschränkung des Gerichts in seiner Urteilsfindung auf den vom Ankläger zur Verfügung gestellten Sachverhalt setzt sich in Widerspruch zu dem dort verfolgten Konzept der Wahrheitsfindung und der daraus resultieren den Rollenverteilung zwischen Staatsanwalt und Gericht. Die Bindungswirkung des staatsanwaltlichen Abschlussantrags lässt sich dem nach allenfalls mittels einer verfassungskonformen Auslegung der Bundesstraf verfahrensordnung konstruieren. Die Vertreter der entsprechenden „Tarifeño“-Dok trin berufen sich wie gezeigt konkret darauf, dass andernfalls Art. 18 CN verletzt sei. Fehle die aktive Anklagevertretung des Fiskals in der Hauptverhandlung, über
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nehme das Gericht die Anklageposition, wodurch seine Objektivitätspflicht und das Verteidigungsrecht des Angeklagten verletzt würden. Eine nähere Betrach tung des Hauptverfahrens nach dem CPPN (1992) zeigt, dass die Befürchtung, der Angeklagte müsse sich nicht allein gegen die staatsanwaltliche Anklage vertei digen, sondern sei den belastenden Erwägungen des Gerichts ohne ausreichende Verteidigungsmöglichkeiten ausgeliefert, nicht unberechtigt ist. Die absolute Do minanz des Gerichts über eine stark formalisierte und bürokratisierte Beweiserhe bung, welche zudem noch weitgehend verschriftlicht werden kann1032, sowie die Beschränkung der Mitwirkung von Ankläger und Verteidigung im Wesentlichen auf ein nachträgliches Fragerecht führen dazu, dass der Angeklagte letztlich nur auf den Inhalt des staatsanwaltlichen Eröffnungsantrags eingehen kann, eine dy namische Verteidigung in einem kontradiktorischen Verfahren entsprechend dem Verlauf der Hauptverhandlung ist ihm praktisch unmöglich. Der Eröffnungsan trag umreißt zwar die Grenzen des historischen Tatgeschehens als Verhandlungs gegenstand, ist im Übrigen jedoch nicht nur in Bezug auf die Strafzumessung un vollständig, sondern naturgemäß auch dahingehend, dass er nur auf die vorläufige Beweislage nach Abschluss des Vorverfahrens Bezug nimmt. Es besteht eine er hebliche Gefahr, dass der Angeklagte nicht ausreichend Kenntnis von den belas tenden Erwägungen des Gerichts erhält und eine Verurteilung für ihn überraschend ist. Dieses Problem wird noch verstärkt durch die oben untersuchte Regelung des Art. 401 CPPN (1992), wonach das Gericht ohne Hinweis an den Angeklagten die rechtliche Bewertung der angeklagten Taten ändern kann. Die konstatierte Verlet zung der Verfahrensgarantien nach Art. 18 CN ist also zutreffend. Eine Änderung des einfachgesetzlichen Strafverfahrensrechts ist tatsächlich geboten. Fraglich ist aber, ob sich daraus, wie von der Tarifeño-Doktrin vertreten, die Notwendigkeit ergibt, die das Gericht bindende Anklagebefugnis des Staatsan walts auf seinen Abschlussantrag zu erweitern. Dies wäre dann der Fall, wenn sich die Schwächen der Hauptverhandlung des CPPN (1992) speziell auf die Beschrän kung der staatsanwaltlichen Anklage auf den Eröffnungsantrag zurückführen lie ßen. Dagegen spricht, dass die Mitwirkungsbefugnisse des Fiskals und des Ange klagten auch bei einer aktiven Anklagevertretung so gering sind, dass es zu einer wirklich kontradiktorischen Verhandlung gar nicht kommen kann. Auch die über mächtige Stellung des Vorsitzenden Richters bleibt in jedem Falle bestehen. Die dargestellte Problematik existiert in Wahrheit unabhängig davon, ob der Staats anwalt in der Hauptverhandlung den Freispruch des Angeklagten beantragt, auch wenn sie in diesem Fall besonders deutlich hervortreten mag. Die Verfassungswid rigkeit des Hauptverfahrens des CPPN (1992) ergibt sich nämlich nicht isoliert aus 1032 Wie bereits dargelegt sieht Art. 391 CPPN (1992) recht umfangreiche Möglichkeiten vor, Beweismittel durch Verlesung in die Hauptverhandlung einzuführen, bspw. immer dann, wenn Staatsanwalt und Verteidigung zustimmen. Nach Art. 355 Abs. 2 CPPN (1992) können die Ver fahrensbeteiligten auch schon im Vorhinein auf das persönliche Erscheinen von Zeugen ver zichten und stattdessen der Verlesung von Vernehmungsprotokollen zustimmen. Siehe dazu auch schon oben 5. Kapitel, A. I.
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der Anklagedefinition, sondern aus dem umfassenderen Konzept der Wahrheits findung durch ein aktiv ermittelndes Gericht. Der Instruktionsmaxime wohnt eine Schwäche bezüglich der Abgrenzung von Anklage- und Urteilsfunktion sowie der Wahrung des Verteidigungsrechts inne, welche im CPPN (1992) nicht ausreichend durch Gegenmaßnahmen kompensiert wird. Diese Schwäche besteht schlicht darin, dass das Gericht nicht nur Ent-, sondern auch Belastungsbeweise zusammenträgt, über die es nachher selbst zu urteilen hat. Es darf dabei zwar nicht über die Grenzen des in der Anklage bezeichneten Tat geschehens hinausgehen, sehr wohl aber über das im Vorverfahren gesammelte Beweismaterial, auf welchem die Anklage basiert. Andernfalls wäre die Haupt verhandlung von vornherein lediglich eine wertlose Wiederholung der Vorunter suchung. So aktualisiert das Gericht nicht nur bereits bekannte Beweise, indem es sie im Hauptverfahren noch einmal erhebt, sondern kann auch völlig neue Beweis erhebungen anordnen. Die Beiträge von Staatsanwalt und Verteidigung können zwar im Idealfall eine wichtige Rolle bei der Wahrheitsfindung spielen, sind aber wie gezeigt nach der Systematik des reformierten Inquisitionsverfahrens nicht zwingend notwendig. Kommt das Gericht zu einer Verurteilung, wird diese also immer bis zu einem gewissen Maße oder gar vollständig auf einer vom Gericht selbst geschaffenen Beweisgrundlage basieren. Der Angeklagte muss sich daher stets auch gegen direkt vom Gericht erhobene Belastungsbeweise und die dar aus resultierenden Erwägungen verteidigen. Das Gericht nähert sich der Ankla geposition damit deutlich mehr an als in einem adversatorischen Verfahren, wo es lediglich die vom Ankläger beigebrachte Beweisgrundlage bewertet. Zum Aus gleich soll das Gericht gleichzeitig auch Verteidigeraufgaben übernehmen, indem es die den Angeklagten entlastenden Umstände zu ermitteln und in seine Urteils findung einzubeziehen hat. Fehlt es nun vollständig an der Anklage eines Dritten, kommt es zu der bekannten psychologischen Überforderung des Inquisitionsrich ters, der davor scheut, seine eigene Anklagetätigkeit nachträglich zu entwerten und dementsprechend den Anklägerteil seiner Rolle überbewertet. Diese Zwangs lage besteht zwar nicht, wenn das Hauptverfahren wie im CPPN (1992) durch den Staatsanwalt eingeleitet wird. Problematisch kann hier allerdings sein, dass der Richter sich mit der Anklage identifiziert, weil die Person des Staatsanwalts ihm deutlich näher steht als die des Beschuldigten. Richter und Staatsanwalt verfol gen beide aktiv das gleiche Ziel einer objektiven Ermittlung der materiellen Wahr heit, während der Beschuldigte einseitig seine Verteidigungsinteressen wahrnimmt und in diesem Sinne von den Staatsorganen gar als Hindernis bei der Wahrheits findung wahrgenommen werden könnte. Die Ermittlungsbefugnisse des Richters dürfen nicht dazu führen, dass er mit dem Staatsanwalt eine Anklagefront gegen über dem Angeklagten bildet. Tun sich die beiden objektiven Staatsorgane zusam men, vereinen sich Anklage- und Urteilsfunktion mit der Folge, dass die Objek tivität gerade wieder verloren geht. Ein weiteres sich aus dem „Anklageteil“ der richterlichen Ermittlungstätigkeit ergebendes Problem kann darin bestehen, dass der staatsanwaltliche Eröffnungsantrag unvollständig oder unklar ist, so dass das
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Gericht die Anklägerstellung übernimmt, wenn es diese Lücken in der Hauptver handlung selbständig ausfüllt. Und zuletzt führt die Tatsache, dass sich das Gericht nicht auf zuvor von einem separaten Ankläger als belastend bewertete und beige brachte Beweise beziehen muss, zu der großen Gefahr, dass die für das Urteil maß geblichen belastenden Erwägungen nicht in der Hauptverhandlung öffentlich ge macht werden und der Kenntnis des Angeklagten vorenthalten bleiben. Diese strukturellen Schwächen des reformierten Inquisitionsprozesses, in wel chen sich das Grundproblem der inquisitorischen Verfahrensstrukturen bezüglich der Abgrenzung von Gericht und Ankläger perpetuiert, müssen nicht notwendig zur Verfassungswidrigkeit eines solchen Verfahrens führen. Sie bedürfen aber ent schiedener Gegenmaßnahmen, welche vom CPPN (1992) nicht in ausreichendem Maße ergriffen werden. So muss Ankläger und Verteidigung zusätzlicher Raum in einer öffentlichen und mündlichen Beweiserhebung eingeräumt werden. Na heliegend ist es, ihnen ein förmliches Beweisantragsrecht während der Verhand lung zuzubilligen und auch die Idee aus dem Entwurf Maier, zunächst Ankläger und Verteidigung die Zeugen befragen zu lassen und erst im Anschluss das Ge richt1033, ist interessant. Was die rechtliche Bewertung der angeklagten Taten an geht ist wie bereits erwähnt eine Hinweispflicht des Gerichts bei Änderungen denkbar. Und in der Frage der Strafhöhe ist der Vorschlag Maiers einer eigenstän digen Strafzumessungsverhandlung beachtenswert. Zuletzt ist es besonders wich tig, die Figur des Staatsanwalts organisatorisch so klar wie möglich von der Ju dikative abzugrenzen, um auf diese Weise seine Annäherung an das Gericht zu durchbrechen.1034 Die Probleme des CPPN (1992) ergeben sich also letztlich aus der praktisch ungezügelten Geltung der Instruktionsmaxime aufgrund des Fehlens ausreichen der Sicherungsmechanismen. Sie werden nicht dadurch beseitigt, dass der Staats anwalt das Gericht durch seinen Abschlussantrag bindet. Das Risiko eines für den Angeklagten überraschenden Urteils ist nur dann ausgeschlossen, wenn der Staatsanwalt tatsächlich einen vollständigen Freispruch beantragt, im Übrigen ist das Gericht gemäß Art. 401 CPPN (1992) nach wie vor nicht an die recht liche Würdigung des Staatsanwalts gebunden. Vor allem aber ändert sich nichts an der grundsätzlichen Passivität von Staatsanwalt und Verteidigung während der Hauptverhandlung. Stattdessen wird das gesamte vorherige Konzept einer ob jektiven und umfassenden richterlichen Wahrheitsermittlung im Nachhinein da durch konterkariert, dass der bis dahin kaum an der Hauptverhandlung beteiligte Staatsanwalt seine Anklage ganz oder teilweise fallenlassen und damit das Gericht zwingen kann, den Angeklagten insoweit freizusprechen. Anders als nach adver 1033
Siehe dazu oben 4. Kapitel, B. III. 4. Im Gesetz zur Organisation der Staatsanwaltschaft von 1998 wird dies versäumt. Zwar ist die Staatsanwaltschaft dort formal (auch von der Judikative) unabhängig, dies führt letztlich aber zu einer Annäherung an die Judikative, da genau diese Unabhängigkeit deren konstituie rendes Merkmal ist. Siehe dazu die ausführliche Darstellung oben 5. Kapitel, A. II. 3. 1034
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satorischem Verständnis, wonach der Ankläger sich entscheiden kann, seinen An spruch auf Bestrafung des Angeklagten einfach nicht weiterzuverfolgen, bedeu tet der Rückzug der Anklage in der inquisitorischen Verfahrensstruktur des CPPN (1992) einen Eingriff in den Kernbereich der richterlichen Urteilstätigkeit. Der Staatsanwalt bewertet das Ergebnis der Hauptverhandlung abschließend dahinge hend, dass eine Verurteilung des Angeklagten bezüglich einzelner Taten oder ins gesamt nicht in Betracht kommt und führt dann einen der materiellen Rechtskraft fähigen Freispruch herbei. Die Vermischung von richterlichem und staatsanwalt lichem Aufgabenbereich geht in diesem Fall nicht zu Lasten des Angeklagten, da der Staatsanwalt das Gericht lediglich zu einer Entscheidung zu seinen Gunsten verpflichten kann. Es handelt sich bei dem bindenden Abschlussantrag des Staats anwalts aber um einen, zudem weitgehend wirkungslosen, Fremdkörper im refor mierten Inquisitionsprozess, der die richterliche Wahrheitsfindung völlig aushe belt. Dem Verfahren des CPPN (1992) wohnen also Schwächen inne, sie führen aber nicht zu einem Verfassungsmandat, wonach die Anklagedefinition auf den Abschlussantrag des Staatsanwalts zu erweitern wäre. Die „Tarifeño“-Doktrin ist demnach im Ergebnis unzutreffend. Vielmehr muss der Gesetzgeber die Mängel der Instruktionsmaxime entweder durch eine Reihe von Gegenmitteln wirksam abmildern, oder aber den Strafprozess grundlegend auf ein Parteiverfahren umstellen, was weit über die bloße Änderung der An klagedefinition hinausgeht. Die argentinische Bundesverfassung stellt ihm, wie schon oben anhand der Untersuchung ihres Originaltextes festgestellt, diese Ent scheidung frei.1035 Dennoch lassen sich einige Leitlinien ausmachen, welche den Vergleich der Verfahrenssysteme erleichtern. Und genau hier liegt der Wert der Diskussion um die „Tarifeño“-Doktrin. Denn sie beschreibt in ihrer kritischen Be standsaufnahme des Hauptverfahrens im CPPN (1992) treffend die Schwäche der Instruktionsmaxime bezüglich einer klaren Abgrenzung von Richter und Anklä ger. Umgekehrt weisen die Verteidiger der Instruktionsmaxime auf den Wider spruch zwischen der Verstaatlichung des Strafverfahrens und einer Parteistruktur hin1036, welcher sich insbesondere im Problem der Waffengleichheit zwischen dem Staatsanwalt einerseits und der Verteidigung andererseits manifestiert1037. Die Ins truktionsmaxime entspricht also der Verstaatlichung des Strafverfahrens, bedeutet allerdings eine gefährliche Machtkonzentration in Person des Richters; das adver satorische Verfahren grenzt dagegen klar zwischen Richter und staatlichem Anklä ger ab, stellt Letzteren aber künstlich auf eine Ebene mit dem Beschuldigten als 1035
Siehe dazu oben 2. Kapitel, B. III. So bspw. Fayt in seinen soeben dargestellten Ausführungen im Rahmen seines Sonder votums zur Entscheidung „Marcilese“ in: La Ley 2002-E, S. 722 ff. 1037 Vgl. zu dem Problem, dass Parteibefugnisse des Staatsanwalts eine Waffengleichheit vor aussetzen, die in einer inquisitorischen Verfahrensstruktur per se nicht bestehen kann, die Aus führungen zur Übertragung von Ermittlungsbefugnissen auf den staatlichen Ankläger, 4. Kapi tel, B. III. 1., sowie zum Opportunitätsprinzip als Entscheidungsgrundlage des Staatsanwalts, 5. Kapitel, A. III. 1. f). 1036
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Privatperson. Die Widersprüche der beiden hybriden Systeme konzentrieren sich in der Figur des Staatsanwalts, der wegen seiner Anklagefunktion nicht auf die Ebene des unparteilichen Richters passt und wegen seiner Eigenschaft als Staats organ nicht auf diejenige einer dem Beschuldigten gleichwertigen Prozesspartei. Auch wenn es wie gezeigt nicht ausgeschlossen ist, den Inquisitionsprozess so zu reformieren, dass er rechtsstaatlichen Anforderungen entspricht, erscheint es zu mindest in Argentinien angesichts der Erfahrungen mit dieser Verfahrensform be denkenswert, die Aufgabe des Staatsanwalts als Bewahrer der richterlichen Objek tivität zu betonen und ihn auf der Parteiebene anzusiedeln.1038 3. Rechtsmittel
Die Rechtsmittelbefugnisse des Staatsanwalts im CPPN (1992) sind denjeni gen der Strafverfahrensordnung Córdobas aus dem Jahre 1940 nachempfunden. Der Fiskal hat daher grundsätzlich Zugang zu allen verfügbaren Rechtsmitteln1039 und kann sie sowohl zu Gunsten als auch zu Lasten des Beschuldigten einlegen, Art. 433 CPPN (1992). Auch die Rücknahme eines einmal eingelegten Rechtsmit tels ist dem Staatsanwalt in der Berufungsinstanz wie im Vorgängergesetz aus Cór doba möglich, er muss sie lediglich begründen, Art. 443 Abs. 3 CPPN (1992). Eine bedeutende Einschränkung der Rechtsmittelbefugnisse des Staatsanwalts findet sich jedoch in den Vorschriften zur Kassation. Angesichts des sehr be schränkten Anwendungsbereichs der inconstitucionalidad, mit der nur die Verfas sungswidrigkeit einer angewandten Norm geltend gemacht werden kann, Art. 474 CPPN (1992), und der revisión, die sich lediglich auf die in Art. 479 Nr. 1–5 auf gezählten Gründe, im Wesentlichen das Auftauchen neuer, entscheidungserheb licher Beweismittel, erstreckt, stellt die casación die mit Abstand wichtigste Mög lichkeit dar, ein Endurteil anzugreifen. Sie kann nach Art. 456 CPPN (1992) dann eingelegt werden, wenn das Gericht materielles Recht falsch angewandt hat oder es zu einer vom Rechtsmittelführer gerügten Verletzung entscheidender Verfah rensvorschriften gekommen ist. Einen Freispruch kann der Staatsanwalt damit al lerdings nur dann angreifen, wenn er zuvor eine Freiheitsstrafe von mehr als drei Jahren, eine Geldstrafe von mehr als 200.000 Australes1040 oder das Verbot zur 1038 Zur konkreten Ausgestaltung der prozessualen Parteistellung des Staatsanwalts vgl. die Ausführungen zum Entwurf „Beraldi“ weiter unten 5. Kapitel, B. III. 1039 Das Endurteil lässt sich lediglich durch die gegen Rechtsfehler gerichtete casación, Art. 456 ff. CPPN (1992), die Beschwerde der Verfassungswidrigkeit inconstitucionalidad, Art. 474 f. CPPN (1992) und die auf wenige aufgezählte Gründe beschränkte revisión, Art. 479 ff. CPPN (1992) angreifen. Eine umfassende zweite Tatsacheninstanz existiert also nicht, vgl. dazu schon oben 5. Kapitel, A. I. 1040 Der Austral war zwischen 1985 und 1992 die argentinische Währung. Obwohl er schon im Jahre des Inkrafttretens der Bundesstrafverfahrensordnung vom argentinischen Peso abgelöst wurde, ist der Gesetzestext bis heute nicht geändert worden. Die Summen in Austral sind nach Bundesgesetz Nr. 23.928 zu konvertieren, vgl. D’Albora, CPPN Bd. 2, S. 1057.
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Ausübung einer bestimmten Tätigkeit (inhabilitación) von mindestens fünf Jah ren beantragt hatte, Art. 458 Nr. 1 CPPN (1992), eine Verurteilung, wenn damit eine Freiheitsstrafe verhängt wird, welche unter der Hälfte der von ihm beantrag ten liegt, Art. 458 Nr. 2 CPPN (1992). Eine vergleichbare Beschränkung des Rechts des Beschuldigten auf Einlegung der Kassation in Art. 459 CPPN (1992) wurde bereits im Jahre 1995 vom Obers ten Gerichtshof Argentiniens in der Entscheidung „Giroldi“ für verfassungswid rig erklärt. Sie verstoße gegen das Recht des Beschuldigten auf Rechtsmittel aus Art. 8 Abs. 2 h) der Amerikanischen Menschenrechtskonvention, welches nach Art. 75 Nr. 22 der argentinischen Bundesverfassung Verfassungsrang genießt.1041 Daraus ergab sich die Frage, ob nicht auch die die Staatsanwaltschaft betreffende Beschränkung in Art. 458 CPPN (1992) aus denselben Gründen in Verbindung mit dem Gleichheitsgebot aus Art. 16 CN verfassungswidrig ist. Dies wiederum ver neinte der Oberste Gerichtshof in der nachfolgenden Entscheidung „Arce“ aus dem Jahre 1997. Die Menschenrechtskonvention wolle ihrem Wortlaut nach nur dem beschuldigten Individuum eine Rechtsmittelgarantie geben, nicht jedoch den unterzeichnenden Vertragsstaaten selbst. Andernfalls würde die zum Schutz des Beschuldigten gedachte Garantie auch zu seinen Lasten ausgelegt. Der Staats anwalt unterscheide sich vom Beschuldigten nun gerade grundsätzlich durch seine Eigenschaft als Staatsorgan. Er könne sich daher zur Begründung seiner Rechts mittelbefugnis nicht auf die Menschenrechtskonvention berufen, was jedoch nicht verhindere, dass der einfache Gesetzgeber ihm gleiche Rechte einräumen dürfe, soweit er dies wolle.1042 Die Ablehnung einer Rechtsmittelgarantie der Staats anwaltschaft aus der Menschenrechtskonvention mit der dargelegten Begründung fand in der argentinischen Literatur einhellige Zustimmung.1043 Teile der Literatur gehen allerdings noch erheblich über die Position des Obers ten Gerichtshofs, wonach die Rechtsmittelbefugnisse der Staatsanwaltschaft ver fassungskonform beschränkt werden können, hinaus und kritisieren dessen Fest stellung, dass der argentinische Gesetzgeber frei sei, dem Staatsanwalt in gleichem Maße die Anfechtung eines Urteils zu gestatten wie dem Beschuldigten.1044 Diese auf Thesen des renommierten Strafverfahrensrechtsexperten Julio B. J. Maier zu rückgehende Strömung vertritt, dass dem Staatsanwalt überhaupt keine Möglich 1041 Siehe dazu das Urteil „Giroldi“, abgedruckt in: La Ley 1995-D, S. 462 ff.; Navarro/Daray, CPPN Bd. 2, S. 1293 f.; Carrió, Garantías, S. 90 f.; Woischnik, Untersuchungsrichter, S. 118. 1042 Siehe dazu das Urteil „Arce“, in: La Ley 1998-A, S. 325 ff.; Carrió, Garantías, S. 91 f. 1043 Vgl. D’Albora, CPPN Bd. 2, S. 1059; De Luca, in: La Ley 2002, S. 857 ff.; Piñol Sala, in: Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 14 (2002), S. 334 f. Zuvor schon in diesem Sinne: Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 711; Ábalos, CPPN, S. 983; Garrido, in: Maier (Hrsg.) El nuevo Código, S. 227 f. 1044 Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 632 ff., 705 ff.; Díaz Cantón, in: Nueva Doctrina Penal 2001-A, S. 145 ff.; Piñol Sala, in: Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 14 (2002), S. 289 ff.; Sienra Martínez, in: Hendler (Hrsg.), garantías, S. 175 ff.; Gorsd, in: Maier (Hrsg.), recursos, S. 46 f.; wohl auch Pastor, nueva imagen, S. 132 ff.
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keit eingeräumt werden dürfe, das Urteil zu Lasten des Beschuldigten anzugreifen. Maier kommt in einer historischen Analyse zu dem Ergebnis, dass die bilaterale Ausgestaltung der Rechtsmittel, wonach sie gleichermaßen dem Beschuldigten wie dem staatlichen Ankläger zur Verfügung stehen, eine Folge ihres Entstehens im gemeinrechtlichen Inquisitionsprozess ist. Dort delegierte der die Staatsmacht in seiner Person vereinigende Monarch lediglich die Urteilsbefugnis an die ihm in einer hierarchischen Struktur untergeordneten Gerichte und die Rechtsmittel dien ten der vertikalen Kontrolle einer pflichtgemäßen Amtsausübung innerhalb dieser Delegationskette. Als innerstaatliche Kontrollmechanismen konnten sie gleicher maßen vom Beschuldigten wie auch vom staatlichen Ankläger beantragt werden. Dieser Charakter der Rechtsmittel habe sich bis heute im reformierten argenti nischen Strafverfahren als Teil seiner inquisitorischen Grundstruktur gehalten.1045 Mit der Integration der internationalen Menschenrechtskonventionen in die argen tinische Bundesverfassung durch die Einfügung des Art. 75 Nr. 22 in den Verfas sungstext im Jahre 1994 habe sich aber ein fundamentaler Wandel des Rechtsmit telverständnisses im Strafverfahren vollzogen. Die Anerkennung des Grundrechts des Beschuldigten auf eine höherinstanzliche Urteilsüberprüfung bedeute näm lich, die Rechtsmittel nun nicht mehr in der Tradition des Inquisitionsverfahrens als innerstaatliche Kontrollmechanismen, sondern als Verfahrensgarantie zu Guns ten des Beschuldigten zu betrachten. Letztere Sichtweise entstamme ursprünglich dem angloamerikanischen Strafverfahrensverständnis, wonach der Staat in Person des Staatsanwalts lediglich die einmalige Chance erhält, vor dem durch die Ge schworenen repräsentierten Volkssouverän seinen Strafanspruch zu beweisen. Sie sei unvereinbar mit dem bisherigen inquisitorischen Ansatz, dem Staatsanwalt die gleichen Rechtsmittelbefugnisse zuzubilligen wie dem Beschuldigten.1046 Dies ergebe sich zunächst aus einer praktischen Überlegung. Lege der Fis kal Rechtsmittel zu Lasten des Beschuldigten ein und folge ihm das Berufungs gericht, bedeute dies eine erste, neue Verurteilung, gegenüber der das Recht des Verurteilten auf eine Urteilsüberprüfung in nächsthöherer Instanz greife. Respek tiere man die Bilateralität der Rechtsmittel, müsse der Fiskal immer die Möglich keit haben, noch in letzter Instanz, also etwa vor dem Obersten Gerichtshof, eine solche neue Verurteilung zu erreichen, welche ihrerseits wiederum durch den Ver urteilten angreifbar ist. Beende man also nicht diesen Kreislauf, indem man dem Staatsanwalt die Rechtsmittelbefugnis entzieht, müsse entweder der Beschuldigte eine erste Verurteilung ertragen ohne dagegen vorgehen zu können, oder aber es entstehe eine nicht realisierbare unendliche Spirale, ein regressus in infinitum.1047 Weiterhin gebiete das Verständnis der Rechtsmittel als Beschuldigtengarantie eine weite, strenge Auslegung des ne bis in idem-Grundsatzes, wie sie das angloame rikanische Recht als Verbot der double jeopardy kenne. Danach bedeute der Re 1045
Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 706 f. Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 633 ff.; 708 ff. 1047 Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 635 f.; 714 f.; Piñol Sala, in: Cuadernos de Doc trina y Jurisprudencia Penal Nr. 14 (2002), S. 335, 339. 1046
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kurs des Staatsanwalts stets die erneute Gefahr einer Verurteilung, vor welcher der Beschuldigte zu bewahren sei.1048 Nach dem gleichen Gedanken stehe auch das Verbot der reformatio in peius dem staatsanwaltlichen Verurteilungsbegeh ren in der Rechtsmittelinstanz entgegen. Es schütze den Beschuldigten nicht nur dann, wenn allein Rechtsmittel zu seinen Gunsten eingelegt wurden, sondern ver biete von vornherein Rechtsmittel zu seinen Lasten. Durch das erstinstanzliche Ur teil sei eine absolute Grenze hinsichtlich seiner Strafbarkeit gezogen worden, wel che nicht mehr im Nachhinein zu seinen Ungunsten abgeändert werden könne.1049 Zuletzt verbiete das Verständnis der Rechtsmittel als Beschuldigtengarantie auch schon deswegen ihre Verwendung zu seinen Lasten, weil der Staat damit ein der Verteidigung des Beschuldigten dienendes Recht für sich in Anspruch nehmen, sich also absurderweise praktisch gegen sich selbst verteidigen würde.1050 Abgese hen vom Widerspruch zum Charakter der Rechtsmittel als Beschuldigtenrecht er gebe sich im Übrigen auch schon aus der allgemeinen Rolle des Staatsanwalts als staatlicher Ankläger, dass er das gerichtliche Urteil nicht nachträglich angreifen könne. Er sei nicht, wie bisher im reformierten Inquisitionsverfahren angenom men, ein Gesetzeswächter, der die Legalität des Verfahrens im Nachhinein kon trolliere. Die Kontrollfunktion sei vielmehr eine richterliche Aufgabe, während der Staatsanwalt als aktiver Ermittler agiere. Gerade die Trennung zwischen akti vem Ermittlungs- und Anklageorgan einerseits sowie Kontroll- und Urteilsorgan andererseits sei die Daseinsberechtigung der Staatsanwaltschaft. Indem sie erstere Rolle übernehme, ermögliche sie dem Gericht die für seine Funktion erforderliche Unparteilichkeit.1051 Die in der argentinischen Reformdiskussion vorgebrachte Ansicht, wonach es dem Staatsanwalt nicht erlaubt sein soll, Rechtsmittel zu Lasten des Beschuldigten einzulegen, ist insbesondere deswegen ausgesprochen interessant, weil sie direkt auf die unterschiedliche Bedeutung der Rechtsmittel im inquisitorischen und im adversatorischen Verfahren Bezug nimmt. Zusammengefasst sollen sich danach die aus dem Inquisitionsprozess hervorgegangenen Rechtsmittelbefugnisse des Staats anwalts nicht mit ihrem adversatorischen Verständnis als Beschuldigtenrecht ver tragen. Die Argumentation, welche diese These stützt, offenbart allerdings Schwä chen. Eine Reihe davon haben schon ihre Befürworter selbst aufgezeigt, auch wenn sie letztlich dem Endergebnis beipflichten. So lässt sich nicht verneinen, dass in Fällen krasser Fehlurteile ein erhebliches Interesse, nicht nur aus Opfer sicht, sondern auch von staatlicher Seite, an einer Korrektur solcher Entscheidun gen besteht. Die strafprozessuale Nichtberücksichtigung dieses Interesses bedarf einer guten Begründung. Das Argument eines unendlichen Rechtsmittelkreislaufs 1048 Maier, Derecho Procesal Penal Bd. 1, S. 633 ff.; 715 ff.; Sienra Martínez, in: Hendler (Hrsg.), garantías, S. 203 f.; Gorsd, in: Maier (Hrsg.), recursos, S. 47. 1049 Sienra Martínez, in: Hendler (Hrsg.), garantías, S. 204 ff. 1050 Pastor, nueva imagen, S. 133 f. 1051 Díaz Cantón, in: Nueva Doctrina Penal 2001-A, S. 155 ff.; Sienra Martínez, in: Hendler (Hrsg.), garantías, S. 182 f.
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jedenfalls kann nicht rechtfertigen, warum der Anklageseite jegliche Möglich keiten vorenthalten werden müssen, ein Urteil anzugreifen.1052 Dem Staatsanwalt können zunächst durchaus Rechtsmittel zugestanden werden, es ist ausreichend, den Kreislauf in einem beliebigen späteren Stadium zu unterbrechen. Es ist etwa gut denkbar, dem Staatsanwalt lediglich Rechtsmittel gegen das erstinstanzliche Urteil zuzugestehen.1053 Was die strenge Anwendung des ne bis in idem-Grund satzes angeht, so zeigt eine nähere Untersuchung des U. S.-amerikanischen Ver fahrensrechts, dass sie untrennbar mit der Institution des Geschworenengerichts und dessen Wertschätzung als Recht des Beschuldigten auf das Urteil einer Volks vertretung verbunden ist. Entscheidungen des Berufsrichters, das Verfahren schon vor der Juryzusammenstellung zu beenden, sowie solche zur Strafzumessung nach dem Geschworenenurteil kann der Staatsanwalt durchaus zu Lasten des Beschul digten angreifen. In Argentinien hingegen wird das Urteil vollständig von Berufs richtern gefällt. Die Prüfung der Strafbarkeit des Beschuldigten ist also nicht durch die endgültige Entscheidung des mit absoluter Entscheidungsgewalt ausgestatte ten Geschworenengerichts abgeschlossen, sondern steht unter der Bedingung ih res Bestands in der Rechtsmittelinstanz, so dass es sich bei der Berufungsverhand lung nicht um eine neue, zweite Strafverfolgung handelt.1054 Zur Begründung, dass im argentinischen Strafverfahren dennoch die strenge Auslegung des Verbots der doppelten Strafverfolgung gelte, wird darauf verwiesen, dass die Bundesverfas sung in Art. 24, 67 Nr. 11, 102 CN die Einrichtung von Geschworenengerichten vorschreibe. Die verfassungswidrige Nichtberücksichtigung dieses Mandats durch den argentinischen Gesetzgeber könne nicht auch noch dahingehend zu Lasten des Beschuldigten gehen, dass ihm die mit der Institution des Geschworenengerichts verbundenen Garantien vorenthalten werden.1055 Dieser Gedankengang ist jedoch nicht ganz schlüssig. Auch wenn m. E. die gegenteilige Auffassung zutreffend ist, lässt es sich durchaus vertreten, die ver fassungsrechtlichen Vorschriften zum Geschworenenverfahren nicht nur als un verbindliche Zielvorgaben, sondern als bindendes Mandat aufzufassen.1056 Wenn jedoch zuvor schon richtig analysiert wurde, dass die Unangreifbarkeit des Urteils von der Anklageseite aus untrennbar mit dem Charakter des Gerichts als Laiengre mium in Verbindung steht, erscheint es unsinnig, allein aus der Fiktion solcher Ge richte die Beschneidung der staatsanwaltlichen Rechtsmittelbefugnisse zu fordern, obwohl tatsächlich ein völlig anderes, ausschließlich auf Berufsrichtern basieren des System existiert. Auch für einen derart weiten Vertrauensschutz des Beschul digten, dass die erstinstanzliche Verurteilung eine absolute Grenze dahingehend 1052
Piñol Sala, in: Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 14 (2002), S. 339. Díaz Cantón, in: Nueva Doctrina Penal 2001-A, S. 149 f. 1054 Díaz Cantón, in: Nueva Doctrina Penal 2001-A, S. 150 ff.; Piñol Sala, in: Cuadernos de Doctrina y Jurisprudencia Penal Nr. 14 (2002), S. 289 ff., 338 f. 1055 Díaz Cantón, in: Nueva Doctrina Penal 2001-A, S. 153 f.; ähnlich Maier, Derecho Pro cesal Penal Bd. 1, S. 715 f. 1056 Siehe zu dieser Diskussion oben 2. Kapitel, B. III. 1053
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aufstellt, dass jede Verschlechterung eine verbotene reformatio in peius bedeutet, besteht bei einem berufsrichterlichen Urteil kein Anlass. Im Übrigen überzeugt auch die Auffassung nicht, dass der staatliche Ankläger deshalb keine Rechtsmittel gegen eine Verurteilung einlegen kann, weil er damit ein Verteidigungsrecht ge gen den Beschuldigten wendet. Die Charakterisierung der Rechtsmittel als Vertei digungsrecht schließt nicht aus, dass der Anklageseite vergleichbare eigenständige Rechte zugestanden werden können. Lediglich das ausgeübte Verteidigungsrecht selbst, also ein zu Gunsten des Beschuldigten eingelegtes Rechtsmittel, darf nicht zu seinem Nachteil führen. Genau das ist die eigentliche, zutreffende Aussage des Verbots der reformatio in peius. Es ist in diesem Zusammenhang auch keineswegs absurd, dass der Staat sein eigenes Urteil angreift, dies ist lediglich eine Folge der personellen Aufspaltung der Strafverfolgungsorgane. Demnach ergibt sich daraus, dass die Rechtsmittel als Verfahrensgarantie zu Gunsten des Beschuldigten begrif fen werden, nicht zwingend der Umkehrschluss, dem Staatsanwalt keine Rechts mittel zu Lasten des Beschuldigten zuzugestehen. Auch die allgemeine Rolle des Staatsanwalts im adversatorischen Verfahren als aktives Ermittlungsorgan, die diesbezüglich als letztes Argument ins Feld geführt wird, schließt in keiner Weise aus, dass er Rechtsmittel zu Lasten des Beschuldigten einlegt. Es ist ganz im Ge genteil gerade Ausdruck des die adversatorische Verfahrensstruktur beherrschen den Grundsatzes der Waffengleichheit, dass Anklage und Verteidigung in gleicher Weise eine richterliche Entscheidung angreifen können1057, wobei der parteiliche Ankläger dann sogar ausschließlich zu Lasten des Beschuldigten tätig wird. Er tut dies dann nämlich nicht als dem Gericht über- oder nebengeordneter Kontrolleur im inquisitorischen Sinne, sondern schlicht in Verwirklichung des Parteiinteresses der Anklageseite an einer Verurteilung. In Bezug auf die Rechtsmittelbefugnisse des Staatsanwalts dem adversatori schen Verfahrensverständnis zu folgen, welches sich seinem Ursprung nach auf einen privaten Ankläger bezieht, führt also zu keiner Verbesserung für den Be schuldigten. Vorzugswürdig erscheint es demgegenüber, auf die Eigenschaft des Staatsanwalts als Staatsorgan abzustellen. Er vertritt damit heute nicht mehr einen Monarchen, der sich über das Votum der von ihm abhängigen Richter hinwegset zen will, sondern einen Rechtsstaat, der die Korrektur richterlicher Fehlentschei dungen anstrebt, indem er sie dem nächsthöheren, unabhängigen Gericht vorlegt. Dies kann zu Gunsten, aber eben auch zu Lasten des Beschuldigten geschehen.1058 1057
Dies bemerkt treffend D’Albora, CPPN Bd. 2, S. 1060, der diesbezüglich darauf hinweist, dass ein Wesenszug des adversatorischen Verfahrens gerade die Chancengleichheit zwischen Anklage und Verteidigung ist. 1058 Anders sieht dies Bovino, in: ders./Hurtado, Justicia Penal y Derechos Humanos, S. 199, der die Befugnis des Staatsanwalts, zugunsten eines Verurteilten Rechtsmittel einzulegen, als Feigenblatt, das seine natürliche Parteilichkeit verdecken solle, ablehnt. Tatsächlich war der Staatsanwalt während der Geltung der alten Bundesstrafverfahrensordnung von 1889 vor allem dazu angehalten, Rechtsmittel zulasten des Beschuldigten einzulegen, vgl. dazu oben 3. Kapi tel, B. III. 4. Dies war jedoch eine Folge des damaligen Strafverfahrensverständnisses und ist
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Im Rahmen seiner Selbstbindung kann der Staat dann auch beschließen, zum Schutz des Beschuldigten die Rechtsmittelbefugnisse des Staatsanwalts zu be schränken, wie es derzeit in Argentinien der Fall ist. Die gegenwärtige argentini sche Regelung, die der Staatsanwaltschaft zudem ermöglicht, einmal eingelegte Rechtsmittel noch zurückzunehmen, und insofern eine Ausnahme vom Legalitäts prinzip macht, schafft auf diese Weise ein Gleichgewicht zwischen dem Schutz des Beschuldigten und der staatlichen Verpflichtung, falsche Entscheidungen zu berichtigen. IV. Zusammenfassung und Fazit
Der Entwurf Levenes (h.) und die daraus hervorgegangene Bundesstrafverfah rensordnung des Jahres 1992 behält die in Argentinien traditionelle Aufgabenver teilung zwischen Richter und Staatsanwalt strikt bei. Die Anklagefunktion des Staatsanwalts ist danach zu Gunsten des Inquisitionsgrundsatzes ausschließlich auf Antragsrechte beschränkt, mittels derer er die richterliche Wahrheitsfindung einleiten soll. Dieses Konzept erweist sich allerdings aus rechtsstaatlicher Sicht als aus gesprochen bedenklich. Im Vorverfahren setzt sich die Struktur des gemeinrecht lichen Inquisitionsprozesses, wo der Beschuldigte den unkontrollierten richter lichen Ermittlungen als Objekt ausgeliefert war, nahezu unverändert fort. Zudem ist in der doppelten richterlichen Untersuchung in Vor- und Hauptverfahren bereits die Gefahr angelegt, dass die eigentliche Hauptverhandlung zu einer bloßen Wiederholung der Voruntersuchung verkommt und sich der Verfahrens schwerpunkt nach vorne verlagert.1059 Eine kleine, aber entscheidende Ände rung Levenes (h.) gegenüber dem bisherigen argentinischen Verfahrensrecht hat schließlich ein weiteres Konstruktionsproblem offenbart. Levene (h.) ging zu treffenderweise davon aus, dass die bisherige Regelung, wonach die Entschei dung, zum Abschluss des Vorverfahrens keine Anklage zu erheben, innerhalb der Staatsanwaltschaft verblieb, nicht mit der oben dargestellten Aufgabenverteilung vereinbar sei, da dem staatlichen Ankläger damit eine über bloße Antragsrechte hinausgehende Befugnis zur Verfahrensbeendigung zugebilligt werde. Er zog dar aus den Schluss, die Überprüfung und letztendliche Entscheidung über den Ein stellungsantrag des Staatsanwalts einem Gericht aufzuerlegen. Damit blieb der formale Anklagegrundsatz in Bezug auf das Vorverfahren gewahrt, nicht jedoch in Bezug auf das Hauptverfahren, das nun gegen den Willen der Staatsanwalt schaft von einem Gericht eingeleitet werden konnte. An der Schnittstelle zwi keineswegs zwingend. Es besteht zwar ein gewisser Gegensatz zwischen der Anklagefunktion und absoluter, richtergleicher Objektivität, daraus allerdings gleich per se auf eine beschuldig tenfeindliche Haltung des Staatsanwalts zu schließen, geht m. E. zu weit. Vgl. dazu auch die Ausführungen unten 5. Kapitel, B. III. 3., insb. Fn. 1105. 1059 Siehe dazu bereits 2. Kapitel, A. I.; 3. Kapitel, B. I.; 4. Kapitel, B. III. 1.
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schen Vor- und Hauptverfahren zeigt sich ein systemimmanenter Widerspruch, da die negative Entscheidung des Staatsanwalts über die Einleitung des Hauptver fahrens immer auch die Beendigung des durch die richterliche Voruntersuchung bereits begonnenen förmlichen Verfahrens bedeutet. Dieser Widerspruch muss zu Gunsten des Staatsanwalts gelöst werden, denn die Initiierung der Hauptver handlung ist der Kern seiner Anklagetätigkeit. Übernimmt ein Gericht diese Auf gabe, bedeutet das eine unzureichende Abgrenzung von Anklage- und Urteilsfunk tion, welche sowohl die Objektivität des anklagenden als auch die des urteilenden Gerichts bedroht. Entsprechend revidierte der Oberste Gerichtshof Argentiniens Levenes (h.) Änderung wieder, indem er die fragliche Vorschrift für verfassungs widrig erklärte. Auch an den unzureichenden Einwirkungsmöglichkeiten des Staatsanwalts in der Hauptverhandlung hat sich heftige Kritik entzündet, die mit der These einher geht, dass ein staatsanwaltlicher Antrag auf Freispruch gegenüber dem Gericht Bindungswirkung entfalten müsse. Andernfalls sei der Beschuldigte den belasten den Erwägungen des Gerichts praktisch schutzlos ausgeliefert. Diese Diagnose ist zutreffend, lässt sich jedoch schlicht auf die Instruktionsmaxime zurückführen, wonach nicht der Staatsanwalt das belastende Beweismaterial beibringt, sondern das Gericht nicht nur Entlastungs-, sondern eben gleichermaßen Belastungsbe weise ermittelt. Der Angeklagte muss sich gegen direkt vom Gericht erhobene Be lastungsbeweise und die daraus resultierenden Erwägungen verteidigen, das Ge richt nähert sich der Anklagefunktion an. Aus dem „Anklageteil“ der richterlichen Ermittlungen ergibt sich eine Reihe von Gefahren für den Beschuldigten. Ein un vollständiger oder unklarer Antrag des Staatsanwalts auf Eröffnung des Haupt verfahrens kann dazu führen, dass das Gericht solche Lücken selbständig ausfüllt und insoweit ganz in die Anklägerstellung einrückt. Weiterhin ist angesichts des sen, dass sich das Gericht nicht auf von einem separaten Ankläger beigebrachte Beweise beziehen muss, besonders darauf zu achten, dass belastende Beweis bewertungen des Gerichts dem Beschuldigten so zur Kenntnis gelangen, dass er sich noch dagegen verteidigen kann. Darüber hinaus bestehen ganz grundsätz lich Bedenken dahingehend, dass die Überschneidungen in der Zielrichtung von richterlicher und staatsanwaltlicher Tätigkeit zu einer Identifikation des Richters mit der Anklage beitragen können. Die Beibehaltung des Inquisitionsgrundsatzes und die Beschränkung des Staatsanwalts auf Antragsrechte führen im Ergebnis also dazu, dass sich sowohl im Vor- als auch im Hauptverfahren die fundamentale Schwäche der inquisitorischen Verfahrensstruktur perpetuiert hat. Anklage- und Urteilsfunktion lassen sich nicht völlig klar voneinander abgrenzen, was die rich terliche Objektivität gefährdet. Auch die mit dem formalen Anklagegrundsatz ein hergehende Idee, wonach der Staatsanwalt das Gericht als eine Art Wächter des Gesetzes kontrollieren soll, bleibt angesichts seiner eingeschränkten Einfluss möglichkeiten letztlich weitgehend inhaltsleer. Lediglich durch die Einlegung von Rechtsmitteln ist es dem Anklageorgan möglich, zumindest eine nachträgliche ge richtliche Kontrolle herbeizuführen.
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Nicht zuletzt hat sich das Verfahrensmodell des CPPN (1992) auch aus Effek tivitätsgesichtspunkten heraus als untauglich erwiesen. Die überbürokratisierte und stark formalisierte richterliche Untersuchung kann den Anforderungen an die heutige Strafjustiz, die schnell und variabel auf immer komplexere Deliktformen reagieren muss, nicht mehr gerecht werden. Schon vor Inkrafttreten der neuen Bundesstrafverfahrensordnung wurde der Kollaps der Strafjustiz und das Schei tern des Gedankens einer umfassenden Strafverfolgung nach dem strengen Legali tätsprinzip konstatiert. Die praktischen Folgen der fehlenden Effektivität sind eine extreme Ungerechtigkeit in der Strafverfolgung zu Lasten der sozial unterprivile gierten Schichten sowie eine jahrelange Untersuchungshaft vieler Beschuldigter als Strafersatz ohne rechtskräftige Verurteilung. Sie sind damit noch weitaus um fassender und oft auch gravierender für den Beschuldigten als die Folgen aus der Gefährdung der richterlichen Objektivität. Der formale Anklagegrundsatz in seiner strikten Anwendung befindet sich also in Argentinien spätestens seit dem Inkrafttreten der Bundesstrafverfahrensordnung im Jahre 1992 in einer schweren Krise. Hierauf reagierten Gesetzgeber und Recht sprechung, indem sie schrittweise die klassische Aufgabenverteilung zwischen Anklage- und Urteilsorgan durchbrachen und die staatsanwaltlichen Befugnisse erweiterten. Die beiden bedeutendsten Änderungen betrafen die zeitliche Straf fung des Vorverfahrens und die Vermeidung des regulären Hauptverfahrens durch Verhandlungen zwischen dem Staatsanwalt und dem Beschuldigten. Der erste Ansatzpunkt war, die Ermittlungen zunehmend der Staatsanwaltschaft zu übertragen, um sie auf diese Weise zu beschleunigen und zu flexibilisieren. Schon im Gesetzgebungsverfahren wich man vom Entwurf Levenes (h.) ab, wel cher ausschließlich richterliche Ermittlungen vorgesehen hatte. Eingefügt wurde eine für das argentinische Recht völlig neuartige Regelung, wonach der Unter suchungsrichter nach seinem freien Ermessen der Staatsanwaltschaft die Ermitt lungen übertragen und auch wieder entziehen kann. Ausgenommen sind einige besonders bedeutsame Maßnahmen wie die Vernehmung des Beschuldigten oder nicht wiederholbare Beweiserhebungen, welche stets in der Hand des Richters verbleiben. In den nachfolgenden Jahren wurde die Ermittlungszuständigkeit des Staatsanwalts immer weiter ausgedehnt. Er ermittelt, solange noch kein Täter in dividualisierbar ist oder wenn im Gegenteil ein Täter schon auf frischer Tat ange troffen wurde, und ihm obliegt die Untersuchung von Delikten des erpresserischen Menschenraubs. Weiterhin gibt ihm das Organisationsgesetz zur Staatsanwalt schaft gewisse Ermittlungsbefugnisse, die nach richtiger Auslegung allerdings nur im Vorfeld des Ermittlungsersuchens an den Richter anwendbar sind. All diesen Reformen ist gemein, dass sie die Herrschaft über das Vorverfahren grundsätz lich beim Richter belassen, zu seiner Beschleunigung aber noch zusätzlich den Staatsanwalt einschalten. Auf diese Weise ist ein komplexes Panorama nebenei nander bestehender und sich teilweise überschneidender Ermittlungsbefugnisse entstanden. Ob dadurch tatsächlich die Effektivität der staatlichen Ermittlungen gesteigert wird, bleibt zweifelhaft, da die Verfahrensstruktur nicht entformalisiert
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wird und der Staatsanwalt nach wie vor weitgehend auf die Mitwirkung des Rich ters angewiesen ist.1060 In jedem Falle geht die fehlende Bereitschaft, auf die Fi gur des klassischen Untersuchungsrichters zu verzichten, indem Untersuchungsund Urteilsfunktion voneinander getrennt werden, zu Lasten des Beschuldigten. Statt einem Untersuchungsrichter oder einem ermittelnden Staatsanwalt sieht der sich nun zwei staatlichen Ermittlungsorganen mit unklarer Zuständigkeitsabgren zung gegenüber, die, statt sich gegenseitig zu kontrollieren, ihre Aktivitäten koor dinieren müssen. Die für den Beschuldigten nachteilige staatliche Machtkonzen tration im Vorverfahren wird also nicht nur nicht verringert, sondern sogar noch erhöht. Der zweite wichtige Ansatzpunkt war die Verringerung der Verfahrenslast durch eine Erledigung außerhalb der Formen des regulären richterlichen Verfahrens. Eine Verfahrensselektion nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten ist dem Staats anwalt im CPPN (1992) mangels entsprechender Einstellungsbefugnis nicht mög lich, er kann jedoch in Verhandlungen mit dem Beschuldigten treten und so das aufwändige Hauptverfahren vermeiden. Im sog. abgekürzten Verfahren trifft der Staatsanwalt eine Absprache mit dem Beschuldigten, auf deren Grundlage Letz terer ein Geständnis ablegt. Anschließend überprüft das Gericht die Sachgrund lage der Vereinbarung sowie die rechtliche Bewertung der Staatsanwaltschaft und spricht im Falle seines Einverständnisses ein Urteil, das nicht über die vom Staats anwalt beantragte Strafe hinausgehen darf. Formal wird also auch im abgekürzten Verfahren am Grundsatz der materiellen Wahrheit festgehalten, lediglich in Be zug auf die der richterlichen Überprüfung entzogenen Strafzumessungserwägun gen hat die Staatsanwaltschaft einen Verhandlungsspielraum und kann Zweckmä ßigkeitsgesichtspunkte einfließen lassen. Aus praktischer Sicht ist aber fraglich, ob derartige Absprachen angesichts dessen, dass das Geständnis die eigentliche Wahrheitsfindung ersetzt und lediglich eine summarische Kontrolle anhand des Ermittlungsergebnisses aus dem Vorverfahren stattfindet, tatsächlich auf die Straf zumessungsebene beschränkbar sind. Über das allgemeine Problem hinaus, inwie weit der Staat seinen exklusiven Strafanspruch noch legitimieren kann, wenn er ihn zum Verhandlungsgegenstand macht, liegt der weitaus gefährlichere Schwach punkt einer solchen konsensualen Verfahrenerledigung darin, dass einseitige Er gebnisse nur dann vermieden werden können, wenn zwischen beiden Verhand lungspartnern Waffengleichheit besteht. Ein derartiges Gleichgewicht ist ohnehin schwer zu erreichen, wenn auf der einen Seite der Staat steht und auf der ande ren Seite der Beschuldigte, für den es um empfindliche persönliche Konsequenzen geht und der als Verhandlungsmittel lediglich sein Geständnis besitzt. Gerade im Kontext der argentinischen Bundesstrafverfahrensordnung ist das Missverhältnis aber ganz besonders eklatant, denn die Konsequenz der Verweigerung einer Ver einbarung mit der Staatsanwaltschaft ist für den Beschuldigten eine faktische Be 1060 Es scheint durchaus keine Seltenheit zu sein, dass die Ermittlungsarbeit der Staatsanwalt schaft dadurch behindert wird, dass ein Richter die ihm zustehenden Ermittlungsmaßnahmen nicht rechtzeitig vornimmt. Vgl. dazu schon oben Fn. 824.
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strafung in Form der langen Untersuchungshaft, deren Ende häufig nicht einmal absehbar ist. Die staatliche Abpressung eines Geständnisses als Ersatz der Wahr heitsfindung im abgekürzten Verfahren erinnert fatal an die schlimmsten Aus wüchse des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses. Hier zeigt sich eindrücklich die Gefahr der Verbindung von Elementen des adversatorischen Verfahrens mit dem Über-/Unterordnungsverhältnis in einem verstaatlichten Verfahren. Verfah rensvereinfachungen und alternative Erledigungswege wie das abgekürzte Verfah ren des CPPN (1992), mit denen zu Lasten des Beschuldigten von den schützenden Formen des regulären Verfahrens abgewichen wird, müssen unbedingt effekti ven Kontrollen unterzogen werden, um sicherzustellen, dass der Beschuldigte frei darüber entscheiden kann, ob er sich lieber dem normalen Verfahrensgang aus setzen möchte. Zu beachten ist dabei allerdings, dass eine richterliche Über prüfung nicht nur das Ziel einer Verfahrensbeschleunigung ad absurdum führen kann, sondern im Falle einer (in der Bundesstrafverfahrensordnung nicht vorgese henen) staatsanwaltlichen Verfahrenseinstellung nach Zweckmäßigkeitsgesichts punkten darüber hinaus kontraproduktiv ist, weil sie die Objektivität des Urteils organs gefährdet. Einen weiteren Korrekturversuch innerhalb des normalen Hauptverfahrens nach der Bundesstrafverfahrensordnung unternahm die vom Obersten Gerichtshof be gründete und von der Lehre ausgebaute sog. Tarifeño-Doktrin, wonach der Ab schlussantrag des Staatsanwalts auf Freispruch für das Gericht bindende Wirkung haben soll. Tatsächlich werden auf diese Weise aber nicht die der Instruktions maxime inhärenten Probleme beseitigt. Der Staatsanwalt ist nach wie vor während der eigentlichen Wahrheitsfindung zur Passivität verdammt und auch die Gefahr einer für den Beschuldigten überraschenden Entscheidung ist, soweit das Gericht noch verurteilen kann, in gleichem Maße gegeben. Der bindende Abschlussantrag des Staatsanwalts ist ein weitgehend wirkungsloser Fremdkörper, der die richter liche Wahrheitsfindung in der inquisitorisch geprägten Hauptverhandlung nach träglich auf den Kopf stellt. Zuletzt wird noch vorgeschlagen, eine zweitinstanzliche Verhandlung nur noch auf Initiative des Beschuldigten zuzulassen und dem Staatsanwalt jegliche Rechts mittelbefugnisse zu entziehen. Zur Begründung wird auf den inquisitorischen Ur sprung der bilateralen Rechtsmittel und auf die fehlenden Möglichkeiten des U. S.amerikanischen Staatsanwalts, Geschworenenurteile anzugreifen, verwiesen. Diese Argumentation kann jedoch die Nichtberücksichtigung der staatlichen Verpflich tung, auf eine Korrektur von Fehlentscheidungen hinzuwirken, nicht rechtfertigen. Die Unangreifbarkeit von Juryentscheidungen von Seiten des Staates ist ein Son derfall, der sich aus der demokratischen Natur der Geschworenenentscheidung ergibt. Im adversatorischen Verfahren legt der Ankläger grundsätzlich genauso Rechtsmittel ein, wobei er allerdings ausschließlich zu Lasten des Beschuldig ten vorgeht. Demgegenüber erscheint die bisherige Regelung des CPPN (1992), die einen Ausgleich zwischen dem Schutz des Beschuldigten und dem Straf verfolgungsinteresse schafft, vorzugswürdig.
B. Der „Entwurf Beraldi“ von 2007
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Im Ergebnis haben die nachträglichen Ausbesserungsbemühungen die aus der schwachen Stellung der Staatsanwaltschaft und der richterlichen Dominanz resul tierenden Mängel des CPPN (1992) nicht nur nicht beseitigt, sondern teilweise so gar verschlimmert. Halbherzig hat man versucht, Parteielemente wie die staats anwaltliche Voruntersuchung, Absprachen zwischen Anklage und Verteidigung sowie einen bindenden Abschlussantrag des Staatsanwalts in das Verfahren zu in tegrieren, ohne sich dabei von der Konzentration von Untersuchungs- und Urteils funktion sowie dem strengen Legalitätsgrundsatz zu lösen. Das Ergebnis ist ein Kompetenzengewirr zwischen Staatsanwalt und Richter, das den Kern des Verfah rens, die richterliche Wahrheitsfindung, beeinträchtigt und teilweise sogar aushe belt. Ohne Zweifel stellt die Bundesstrafverfahrensordnung in dieser Form, in der sie in eigentlich unvereinbarer Weise inquisitorische und Parteielemente mitein ander vereint, nur ein Zwischenstadium dar. Wohin der weitere Weg führen kann und wie sich die dargestellten Widersprüche auflösen lassen, demonstriert in ein drucksvoller Weise der Entwurf Beraldi, welcher im Folgenden untersucht wer den soll.
B. Der „Entwurf Beraldi“ von 2007 I. Entstehungsgeschichte und Grundzüge des Entwurfs Beraldi
Auch die Regierung Menems konnte den wirtschaftlichen Abschwung Ar gentiniens nur vorübergehend stoppen, und so kam es im Jahre 2001 zur bisher schwersten Wirtschaftskrise der argentinischen Geschichte, die einen faktischen Zusammenbruch der Ökonomie Argentiniens bedeutete. Der enorme öffentliche Druck zwang den Präsidenten de la Rúa, der 1999 die Nachfolge Menems ange treten hatte, zum Rücktritt. Dies stürzte das Land auch ins politische Chaos, ins gesamt fünf Präsidenten wechselten sich innerhalb weniger Tage ab. Erst dem vor maligen Gouverneur der südargentinischen Provinz Santa Cruz, Néstor Kirchner, gelang es, die Lage zu stabilisieren und eine Konsolidierung einzuleiten, die seit dem in einen langsamen, aber stetigen wirtschaftlichen Aufschwung übergegan gen ist. Auch politisch ist wieder Kontinuität eingekehrt, Kirchner erlangte große Popularität und konnte das Präsidentenamt an seine Frau Cristina Fernández de Kirchner weitergeben, welche die Präsidentschaftswahlen des Jahres 2007 un gefährdet gewann. Eines der drängendsten, am stärksten im öffentlichen Bewusstsein veranker ten Probleme Argentiniens ist gegenwärtig die unzureichende öffentliche Sicher heit. Im Zuge stetig steigender Deliktsraten sind in den letzten Jahren die Defi zite der 1992 erlassenen Bundesstrafverfahrensordnung in besonderem Maße zu Tage getreten.1061 Aus diesem Grunde richtete die Regierung Néstor Kirchners 1061
Vgl. Beraldi (Hrsg.), Proyecto, S. 35.
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5. Kap.: Formaler Anklagegrundsatz in der Krise und ein eigener Weg
im Februar 2007 per Dekret eine mit Vertretern des Kongresses sowie mit Straf verfahrensrechtsexperten besetzte Kommission unter dem Vorsitz Carlos Alberto Beraldis ein und beauftragte sie mit der Erarbeitung von Gesetzentwürfen, welche eine grundlegende Modernisierung des schwerfälligen und formelhaften Bundes strafverfahrens ermöglichen sollen.1062 Im Einzelnen umfasste der Auftrag der Ex ekutive die Erstellung eines Vorprojekts für eine Bundesstrafverfahrensordnung, eines Vorprojektes für ein Gesetz zur Organisation der Strafjustiz sowie eines Re formvorschlags für die Abänderung des Gesetzes zur Organisation der Bundes staatsanwaltschaft.1063 Bereits wenige Monate später, im September 2007, legte die Kommission dem Justizministerium des Bundes das Ergebnis ihrer Arbeit vor. Kernstück ist der Entwurf für ein Bundesstrafverfahrensgesetz, Proyecto de Código Procesal Penal de la Nación. Im Einklang mit der bisher für Gesetz entwürfe verwandten Terminologie soll er im Folgenden nach seinen Verfassern, hier stellvertretend für die Kommission nach ihrem Vorsitzenden, als „Entwurf Beraldi“ bezeichnet werden. Anders als die bisherigen Bundesstrafverfahrensordnungen ist der Entwurf Be raldi nicht lediglich eine vorsichtige Modifikation von Altbekanntem, sondern ein vollkommen eigenständiges Modell, welches von einer Vielzahl in- und ausländi scher Vorbilder inspiriert ist, ohne eines von ihnen umfassend zu kopieren.1064 Er könnte damit den Beginn eines neuen, eigenständigen Wegs des argentinischen Strafverfahrensrechts markieren. Der Entwurf besteht aus vierhundert Artikeln, welche sich in einen Allgemeinen und einen Besonderen Teil gliedern, die ihrerseits wieder in Bücher unterteilt sind. Der Allgemeine Teil umfasst ein Buch mit allgemeinen Vorschriften, eines zu den Prozesssubjekten und eines zu den Prozesshandlungen. Nach Art. 7 E Beraldi sol len in Verwirklichung der Verfassungsvorschriften Art. 24, 75 Nr. 12 und 118 CN Geschworene am Strafverfahren beteiligt werden, die Ausgestaltung der Volksbe 1062 Die durch das Nationale Dekret 115 vom 13. Februar 2007 eingerichtete Kommission trägt den Namen Comisión Asesora para la Reforma de la Legislación Procesal Penal und ist dem Justizministerium des Bundes untergeordnet. Sie setzt sich zusammen aus Carlos Alberto Beraldi; Alberto Juan Becanni; Fernando Díaz Cantón; Jorge Felipe di Lello; Luis Mario García; Vilma Lidia Ibarra; Ángela Ester Ledesma; Luis Francisco Jorge Cigogna; María Fernanda López Puleio; Adrián Marchisio; Silvia Edith Martínez; Miguel Ángel Pichetto; Rosario Romero; Marcos Gabriel Salt und Ernesto Ricardo Sanz. Vgl. dazu Beraldi (Hrsg.), Proyecto, S. 37 f. 1063 Beraldi (Hrsg.), Proyecto, S. 37. 1064 Im offiziellen Begleittext zum Entwurf sind die zu seiner Erarbeitung genutzten Quellen nicht ausdrücklich gekennzeichnet. Zwei seiner Urheber, Fernando Díaz Cantón und Adrián Marchisio, nannten jedoch dem Autor der vorliegenden Arbeit gegenüber als inländische Vor bilder die aktuellen Strafverfahrensordnungen der argentinischen Provinzen Buenos Aires, Córdoba und Chubut, einen 2004 vorgestellten, allerdings erfolglosen, Entwurf für eine Bun desstrafverfahrensordnung von Binder und Arduino sowie den gegenwärtigen CPPN (1992). Aus dem Ausland holte man sich unter anderem Anregungen bei den Strafverfahrensgesetzen Chiles, der Dominikanischen Republik und in, Bezug auf die Opportunitätsvorschriften, bei der deutschen Strafprozessordnung.
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teiligung im Einzelnen wird allerdings einem noch zu schaffenden Spezialgesetz überlassen. Hervorzuheben ist, dass das in Art. 9 E Beraldi verankerte Legalitäts prinzip nicht mehr lückenlos gilt. So kann der Staatsanwalt nach Art. 12 E Beraldi in bestimmten Fällen aus Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten von der weiteren Straf verfolgung absehen. Weiterhin fällt die deutliche Stärkung der Verfahrensrechte des Deliktsopfers gegenüber seiner bisherigen Stellung im argentinischen Strafver fahrensrecht auf.1065 Der Besondere Teil beschreibt dann den Verfahrensgang. Das Ermittlungsverfahren wird vom Staatsanwalt nach objektiven Kriterien ge leitet, Art. 227, 164 Nr. 1 E Beraldi. Eingriffsintensive Ermittlungsmaßnahmen muss allerdings der Ermittlungsrichter anordnen, vgl. Art. 168 Abs. 3, 172 Abs. 1, 179 Abs. 1, 181 Abs. 1, 182 Abs. 1, 188, 190 E Beraldi. Dies gilt auch für die Un tersuchungshaft, welche jedoch nur dann auf einen entsprechenden Antrag hin an geordnet werden kann, wenn kein leichteres Mittel wie Hausarrest in Betracht kommt und ein ausreichender Tatverdacht („elementos de convicción suficientes“) sowie einer der besonderen Haftgründe Flucht- oder Verdunklungsgefahr vorliegt, Art. 148 ff. E Beraldi. Grundsätzlich muss der Fiskal spätestens, wenn er eine Er mittlungsmaßnahme beim Richter beantragt, die Formalisierung des Verfahrens durchführen, was heißt, dass er den Beschuldigten im Beisein des Richters über den Tatvorwurf und die entsprechenden Beweismittel informiert, Art. 253 f. E Beraldi.1066 Die Formalisierung bedeutet eine Weichenstellung für den weiteren Verfahrensverlauf, denn von diesem Zeitpunkt an bis zum Ende des Zwischen verfahrens (dazu sogleich) kann der Ermittlungsrichter bzw. dann das Gericht des Zwischenverfahrens je nach Bedürfnis das Verfahren unter bestimmten Voraus setzungen in spezielle Formen überleiten. Um das Verfahren zu beschleunigen, kann es den direkten Übergang in das Hauptverfahren, Art. 259 E Beraldi, oder ein demjenigen des CPPN (1992) ähnliches abgekürztes Verfahren, Art. 322 ff. E Beraldi, anordnen. Umgekehrt existiert auch die Möglichkeit, die Regelfris ten auszudehnen, um die Bearbeitung besonders komplexer Fälle zu ermöglichen, Art. 319 ff. E Beraldi. Bleibt es beim regulären Verfahren, muss der Fiskal das Er mittlungsverfahren spätestens sechs Monate nach seinem Beginn abschließen und Anklage erheben oder beim Ermittlungsrichter die Verfahrenseinstellung beantra gen, Art. 262 ff. E Beraldi. Erhebt er Anklage, wird diese anschließend von der auch für Rechtsmittel im Vorverfahren zuständigen Berufungskammer in einer öffentlichen und mündli chen Verhandlung überprüft, Art. 272 ff., 48 E Beraldi. Hier sollen sich nach dem Willen der Verfasser des Entwurfs wie schon bei der Formalisierung der Vorunter 1065 Dem Opfer werden schon Informations-, Anhörungs- und Antragsrechte zugestanden, wenn es nicht als Privatkläger auftritt. Tut es dies, kann es zusätzlich unabhängig von der Staatsanwaltschaft die Anklage weiterführen. Vgl. zum Ganzen die Art. 85 ff. E Beraldi. 1066 Schon zuvor, bei der Verfahrenseröffnung, muss der Fiskal den Beschuldigten informie ren, soweit ein solcher bereits individualisierbar ist, Art. 250 E Beraldi. Der Beschuldigte kann dann Einblick in die Ermittlungen nehmen und bestimmte Ermittlungsmaßnahmen beantragen, Art. 251 f. E Beraldi.
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5. Kap.: Formaler Anklagegrundsatz in der Krise und ein eigener Weg
suchung eine Reihe von Verfahrensakten konzentrieren.1067 Das Gericht entschei det also nicht nur über die Zulassung der Anklage, sondern es werden weiterhin eine Reihe von Vorfragen des Prozesses geklärt und die Parteien bieten bereits ihre Beweismittel an, Art. 269 Nr. 6, 272 f., 275 E Beraldi. Lässt das Gericht des Zwischenverfahrens die staatsanwaltliche Anklage zu, folgt die ebenfalls öffentliche und mündliche Hauptverhandlung, Art. 281 ff. E Beraldi. Die Ausnahmen zum Mündlichkeitsgrundsatz, vgl. Art. 284 E Beraldi, sind gegenüber dem bisherigen argentinischen Verfahrensrecht erheblich einge schränkt, so können die Parteien bspw. nicht mehr auf die mündliche Beweis erhebung verzichten.1068 Der Vorsitzende Richter leitet die Verhandlung, Art. 285 E Beraldi, erhebt jedoch nicht von Amts wegen, sondern nur auf Antrag der Par teien Beweise, Art. 293, 296, 164 Nr. 3 E Beraldi. Nach den Abschlussanträgen der Parteien, Art. 298 E Beraldi, fällt das Gericht sein Urteil, Art. 301 ff. E Beraldi. Es kann dabei in seiner rechtlichen Bewertung von der Anklage abweichen, darf aber keine härtere Strafe verhängen, als die vom Staatsanwalt und/oder Privatkläger be antragte, Art. 305 E Beraldi. Das Rechtsmittelsystem des CPPN (1992) mit seinen eingeschränkten Möglich keiten, ein Endurteil anzugreifen, wird im Entwurf Beraldi grundlegend beibehal ten. Allerdings sind die Rechtsmittelbefugnisse im Vorverfahren noch geringer1069, während das Recht des Beschuldigten, die Kassation als wichtigsten Rechtsbehelf einzulegen, wieder erweitert wird, Art. 357 ff. E Beraldi. Ob der Entwurf Beraldi in der dargestellten Form in naher Zukunft Gesetz wer den wird, ist mehr als fraglich. Auch drei Jahre nach seiner Fertigstellung und Weiterleitung an das argentinische Justizministerium ist er noch nicht in das Ge setzgebungsverfahren des Kongresses eingebracht worden. Viel spricht daher da für, dass er das Schicksal vorheriger ambitionierte Reformprojekte teilen wird, die sich letztlich politisch nicht durchsetzen ließen, beispielhaft genannt sei hier nur der oben ausführlich besprochene sog. Entwurf Maier.1070 Nicht unwahrschein lich ist demgegenüber, dass der Entwurf Beraldi mittelbar Eingang in das argenti nische Strafprozessrecht findet, indem seine Grundzüge die Reformdiskussionen der kommenden Jahre in gleicher Weise dominieren wie diejenigen des Entwurfs Maier es in der Vergangenheit taten.1071 Dies ist wünschenswert, denn jedenfalls in 1067
Vgl. Beraldi (Hrsg.), Proyecto, S. 50. Vgl. dazu schon die Motive in Beraldi (Hrsg.), Proyecto, S. 50. 1069 Dies verfolgt das Ziel die Voruntersuchung zu beschleunigen, vgl. die Motive in Beraldi (Hrsg.), Proyecto, S. 53. 1070 In den Motiven des Entwurfs Beraldi selbst sind die Projekte der Jahre 1913, 1933, 1942, 1948, 1970, 1975, 1985, 1987 und 1990 genannt, vgl. Beraldi (Hrsg.), Proyecto, S. 35. 1071 Tatsächlich wurde am 09. Juni 2010 ein Projekt für eine neue Bundesstrafverfahrensord nung in die Abgeordnetenkammer des Kongresses eingebracht, welches inhaltlich in wesent lichen Punkten dem Entwurf Beraldi entspricht. Insbesondere ist der Staatsanwaltschaft die Leitung der Voruntersuchung und, gemeinsam mit der Verteidigung, die Beweisführung im Hauptverfahren übertragen, gleichzeitig ist sie als Staatsorgan aber zur Objektivität verpflich 1068
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Bezug auf die Ausgestaltung der Staatsanwaltschaft bietet der Entwurf überzeu gende Antworten auf die im bisher geltenden Recht aufgeworfenen Probleme, wie im Folgenden zu zeigen sein wird. II. Die Organisation der Bundesstaatsanwaltschaft nach dem VE Beraldi Org.
Angesichts der Erkenntnis, dass eine grundlegende Reform des Strafverfah rens auch immer Änderungen auf organisatorischer Ebene erfordert, wird der Ent wurf Beraldi wie erwähnt von zwei weiteren Vorentwürfen begleitet. Der Vorent wurf für eine Organisation der Strafjustiz behält die bisherige Gerichtsstruktur grundlegend bei1072, seine übrigen, durchaus interessanten Vorgaben, wie bspw. die Einrichtung eines Justizbüros als Verwaltungsunterbau der Gerichte1073, betrifft die Staatsanwaltschaft nicht. Die organisatorische Neuausrichtung der staatlichen Anklagebehörde bleibt dem Vorentwurf für eine Reform des Gesetzes zur Organi sation der Staatsanwaltschaft, kurz VE Beraldi Org., vorbehalten. 1. Die Amtsträger der Bundesstaatsanwaltschaft nach dem VE Beraldi Org.
Der oberste Amtsträger der Bundessstaatsanwaltschaft bleibt nach dem VE Beraldi Org. der Procurador General de la Nación, seine Aufgabenbeschreibung wird lediglich noch weiter präzisiert, nicht aber wesentlich modifiziert, vgl. Art. 33 des Vorentwurfs.1074 Vor dem für Rechtsmittel gegen Endurteile zuständigen Nationalen Kassati onsgerichtshof vertreten nach wie vor Fiscales Generales die Staatsanwaltschaft, ihr Aufgabengebiet hat sich nicht geändert, Art. 37 VE Beraldi Org. Neben ih nen existieren jetzt noch Fiscales Generales de Coordinación y Control, Art. 38 VE Beraldi Org., denen, wie ihr Name schon sagt, speziell die Kontrolle und Ko ordination der in der Hierarchie unter ihnen angesiedelten Fiskale obliegt. Insbe sondere sind sie als vorgesetzte Staatsanwälte für die Kontrolle der Anordnungen der Fiskale im Vorverfahren zuständig, mit denen das Verfahren alternativ erledigt, vereinfacht oder eingestellt wird1075, Art. 38 g) VE Beraldi Org. tet, Art. 91, 92, 199,265,268,269 des Projekts. Das Gericht ist demgegenüber auf seine Urteils funktion beschränkt und darf keine Beweise von Amts wegen erheben, Art. 131 Ziff. 3) des Pro jekts. Vgl. dazu den Text des Projekts, Vorgang 4050-D-2010, veröffentlicht in der Publikation der Abgeordnetenkammer Trámite Parlamentario Nr. 72/2010 vom 09. Juni 2010. 1072 Beraldi (Hrsg.), Proyecto, S. 56. 1073 Vgl. Beraldi (Hrsg.), Proyecto, S. 57. 1074 Siehe dazu auch die Motive in Beraldi (Hrsg.), Proyecto, S. 59. 1075 Zu diesen staatsanwaltlichen Anordnungen siehe die Ausführungen zum Verfahrensrecht weiter unten 5. Kapitel, B. III. 1. b), c).
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Die bedeutendste Neuerung ist aber, dass in der ersten Instanz des Strafver fahrens nun als Unidades Fiscales bezeichnete Einheiten von Staatsanwälten agieren. Jeder solchen Einheit steht ein Fiscal General vor, unter ihm arbeiten Agentes Fiscales und Fiscales Auxiliares, Art. 39 ff. VE Beraldi Org. Grundsätz lich sollen die Fiscales Generales selbst das Vorverfahren leiten, in Zwischenund Hauptverfahren auftreten und schließlich bei Bedarf Rechtsmittel einlegen, Art. 39 a) VE Beraldi Org. Sie können diese Aufgabe allerdings nach Art. 39 f), 40 a) VE Beraldi Org. an die Agentes Fiscales delegieren, soweit es um die Ver folgung von Delikten mit einer Strafdrohung von nicht mehr als drei Jahren Frei heitsstrafe geht und auch nicht das verlängerte Verfahren für komplexe Delikte nach Art. 391 ff. E Beraldi angeordnet wird. Die Fiscales Auxiliares dagegen wer den fast ausschließlich im Ermittlungsverfahren tätig, wo sie den zuständigen Fiscal General bzw. Agente Fiscal vertreten können, Art. 41 a, b) VE Beraldi Org. Im Übrigen ist es ihnen noch möglich, ihrem Vorgesetzen im Zwischen- und Haupt verfahren zu assistieren, wenn dieser sie anfordert, Art. 41 c) VE Beraldi Org. 2. Die interne Struktur der Bundesstaatsanwaltschaft nach dem VE Beraldi Org.
Nach Art. 1 Abs. 2, 4 des Organisationsgesetzes von 1998 ist die Staatsanwalt schaft eine hierarchisch strukturierte, einheitlich agierende Behörde. Diese Vor schrift wird vom vorliegend untersuchten Reformprojekt nicht angetastet. Wie gezeigt reichen die konkreten Leitungsbefugnisse, welche das Gesetz von 1998 gegenwärtig den vorgesetzten Staatsanwälten zuspricht, nicht aus, um obige Ziel vorgabe konkret umzusetzen. Fraglich ist, inwieweit sich dies durch den VE Be raldi Org. ändert. Nach Art. 33 b), d) VE Beraldi Org. ist der oberste Beamte der Staatsanwalt schaft, der Procurador General de la Nación, nach wie vor nur zu generellen Weisungen, nicht aber zu solchen in Einzelfällen berechtigt. Gleiches gilt nach Art. 37 i) VE Beraldi Org. für die Staatsanwälte vor dem Nationalen Kassations gerichtshof. Den neugeschaffenen Fiscales Generales de Coordinación y Control stehen ebenfalls nur allgemeine Anweisungen („directivas generales“) zur Aus übung ihrer Kontrollfunktion zur Verfügung, Art. 38 b) VE Beraldi Org. Nicht ganz eindeutig ist der Wortlaut des Vorentwurfs hinsichtlich der Weisungsbefug nisse innerhalb der ebenfalls neu eingeführten staatsanwaltlichen Arbeitseinhei ten. Der einer solchen Einheit vorstehende Fiscal General kann nach Art. 39 b) VE Beraldi Org. den ihm untergeordneten Fiskalen „Weisungen im Einklang mit den Vorgaben des Fiscal General de Coordinación y Control“1076 erteilen. Weil hier nicht, wie bei den obengenannten Vorschriften, von „generellen“ Weisungen die 1076 Übers. d. Verf., im Original „[…] instrucciones […] de conformidad con las pautas que fije el Fiscal General de Coordinación y Control […]“.
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Rede ist, könnte man den Umkehrschluss ziehen, dass auch konkrete Weisungen erfasst sind. Andererseits spricht der Verweis auf die Direktivbefugnis des über geordneten Fiscal General de Coordinación y Control dafür, dass auch hier nur allgemeine Vorgaben gemeint sind. In diesem Sinne lässt sich weiterhin anführen, dass den Fiscales Generales zusätzlich in Art. 39 g) VE Beraldi Org. die Kom petenz zugesprochen wird, den sie im Vorverfahren vertretenden Fiscales Auxiliares Weisungen bezüglich der Anordnung bestimmter Ermittlungsmaßnahmen zu erteilen. Würde Art. 39 b) VE Beraldi Org. bereits die Befugnis zu Einzelwei sungen enthalten, wäre diese Regelung überflüssig. Im Übrigen werden auch die Möglichkeiten zur Weisungskontrolle, welche sich nach gegenwärtiger Rechts lage auf eine Hinweispflicht des Empfängers einer rechtswidrigen Weisung nach Art. 31 Abs. 2 des Organisationsgesetzes von 1998 und im Übrigen auf die all gemeine straf- und verwaltungsrechtliche Verantwortung des Anweisenden be schränken, nicht ausgebaut, was ebenfalls dafür spricht, dass der Vorentwurf keine umfassende Befugnis zu besonders kontrollbedürftigen Einzelweisungen zuge stehen will. Insoweit ist nach dem Gesetzestext davon auszugehen, dass den Fiscales Generales, abgesehen von dem Sonderfall des Art. 39 g) VE Beraldi Org., nach wie vor lediglich das Recht zu allgemeinen Weisungen zusteht. Gleiches gilt für die Vorschriften des Art. 40 b) und Art. 40 e) VE Beraldi Org., wonach dem Agente Fiscal gegenüber dem Fiscal Auxiliar entsprechende Weisungsbefugnisse zuge sprochen werden. In dieses Bild passt, dass der VE Beraldi Org. zudem keine Devolutions- oder Substitutionsbefugnisse vorsieht, mit denen der vorgesetzte Staatsanwalt einen ihm untergeordneten Fiskal bei fehlerhafter Amtsausübung von einem bestimm ten Verfahren abziehen kann. Zu erwähnen ist hier lediglich Art. 38 h) VE Be raldi Org., welcher dem Fiscal General de Coordinación y Control erlaubt, einen Fiskal, der eine Voruntersuchung nicht weiterführen will, durch einen anderen zu ersetzen, wenn er selbst der Meinung ist, dass eine Verfahrensfortsetzung ange zeigt ist. Es handelt sich hierbei allerdings nicht um eine interne Ersetzungsbefug nis, denn aus dem Entwurf für eine Bundesstrafverfahrensordnung, genauer aus den Art. 12, 248, 255, 265 E Beraldi, ergibt sich, dass stets erst der Antrag eines Dritten, des Opfers bzw. des Privatklägers, die Zuständigkeit des übergeordneten Staatsanwalts begründet. Insoweit übernimmt der Entwurf Beraldi lediglich den im argentinischen Strafverfahrensrecht altbekannten Kontrollmechanismus, wo nach ein Einstellungsvotum des Fiskals auf Antrag stets noch einmal von seinem Vorgesetzen überprüft wird.1077 Im Ergebnis bleibt es daher auch nach dem VE Beraldi Org. bei der unzurei chenden Ausgestaltung der Leitungsbefugnisse innerhalb der Staatsanwaltschaft. 1077
Das als „acuerdo de fiscales“ bekannte Institut existierte bereits im CPPN (1889), vgl. 3. Kapitel, B. III. 3. a), und wird gegenwärtig auf nicht ganz sicherer Rechtsbasis angewandt, nachdem Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) vom Obersten Gerichtshof für verfassungswidrig er klärt worden ist, vgl. 5. Kapitel, A. III. 1. e).
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Insbesondere im Hinblick auf die geplanten staatsanwaltlichen Arbeitseinheiten ist dies bedauerlich, denn der dadurch erhoffte Gewinn an Effektivität wird teil weise wieder konterkariert, wenn der Leiter einer solchen Arbeitseinheit seine Un tergebenen nicht ausreichend kontrollieren und bei Überschreitung ihrer Befug nisse sanktionieren kann. Nach Auskunft von Mitgliedern der Kommission Beraldi war ihnen dieses Problem durchaus bewusst. Die konsequente Anpassung der Wei sungsbefugnisse an die Neustrukturierung der Staatsanwaltschaft in Arbeitseinhei ten scheiterte jedoch am heftigen Widerstand aus dem Ministerio Público selbst, wo die mit der Verfassungsreform von 1994 und dem Organisationsgesetz von 1998 gewonnene Angleichung an die richterliche Unabhängigkeit als Privileg an gesehen wird, das es zu verteidigen gilt. So kam es zu der bereits genannten offe nen Formulierung des Art. 39 b) VE Beraldi Org., die nach gegenwärtigem Stand zwar keine konkreten Weisungen erlaubt, aber Raum für zukünftige Reformen in dieser Richtung bietet.1078 3. Die Stellung der Bundesstaatsanwaltschaft im Staatsgefüge als Ganzes nach dem VE Beraldi Org.
Seit der Reform der argentinischen Bundesverfassung im Jahre 1994 ist die Staatsanwaltschaft nach Art. 120 CN außerhalb der klassischen Staatsgewalten angesiedelt, was bei richtiger Auslegung bedeutet, dass sie keiner von ihnen voll ständig untergeordnet ist. Das Gesetz zur Organisation der Staatsanwaltschaft von 1998 interpretiert die Verfassungsvorgabe dagegen im Wesentlichen als Unabhän gigkeit von der Exekutive, ohne die Staatsanwaltschaft in ausreichendem Maße auch von der rechtsprechenden Gewalt abzugrenzen. Es wird damit der staats anwaltlichen Anklagefunktion nicht gerecht und lässt zudem keinen ausreichen den Raum für ihre externe Kontrolle. Insoweit besteht also durchaus Korrektur bedarf.1079 Eine entscheidende Neuerung diesbezüglich stellt das Vorhaben des VE Be raldi Org. dar, die bis dato spiegelbildlich zu den Gerichten organisierte Staats anwaltschaft von der Gerichtsorganisation abzukoppeln, indem, wie oben darge stellt, das Amt des Fiscal General de Coordinación y Control und vor allem die staatsanwaltlichen Arbeitsgruppen, Unidades Fiscales, eingerichtet werden. Mit der Durchbrechung der organisatorischen Verflechtungen von Staatsanwälten und Gerichten wird der Anklagebehörde nicht nur eine flexiblere und dynamischere Aufgabenerledigung ermöglicht1080, sondern auch die Trennung von Anklage- und
1078 Entsprechend äußerten sich zwei der Mitglieder der Kommission Beraldi, Adrián Marchisio und Fernando Díaz Cantón, gegenüber dem Autor der vorliegenden Arbeit. 1079 Vgl. dazu oben 5. Kapitel, A. II. 3. 1080 Dies scheint das Hauptziel der Verfasser des Vorentwurfs zu sein, vgl. die Motive, Beraldi (Hrsg.), Proyecto, S. 36.
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Urteilsfunktion besser abgesichert.1081 Weitere grundlegende Änderungen bezüg lich des Verhältnisses der Staatsanwaltschaft zu den anderen Staatsgewalten fin den sich allerdings nicht. Im Übrigen anführen lässt sich allenfalls, dass noch eine weitere Sicherungsmaßnahme zur Gewährleistung der finanziellen Unabhängig keit der Staatsanwaltschaft insbesondere gegenüber der Exekutive ergriffen wird, indem in Art. 22 des Organisationsgesetzes von 1998 ein neuer Absatz eingefügt wird, wonach die Exekutive dem Kongress nicht nur den Entwurf für den Haushalt des Ministerio Público vorlegen muss, sondern auch die entsprechenden Vorschläge der Staatsanwaltschaft selber, wenn diese vom Haushaltsentwurf abweichen.1082 Während der Vorentwurf also hinsichtlich der Trennung der Staatsanwaltschaft von der Judikative einen wichtigen Fortschritt erzielt, fehlen Anstrengungen zur Verbesserung der externen Kontrolle der Staatsanwaltschaft vollkommen. 4. Zusammenfassung
Insgesamt nimmt der Vorentwurf für eine Reform des Gesetzes zur Organisa tion der Staatsanwaltschaft lediglich einige Ausbesserungen am Organisations gesetz von 1998 vor, nicht aber eine grundlegende Erneuerung und Beseitigung der Schwächen dieses Gesetzes. Den Unterschieden zwischen Anklage- und Urteilsfunktion wird mit der Schaf fung von staatsanwaltlichen Arbeitseinheiten Rechnung getragen, die unabhängig von der Gerichtsstruktur agieren sollen. Der Vorentwurf entfernt sich damit ein deutig von der dem inquisitorischen Verfahrensverständnis entsprungenen Vorstel lung des Staatsanwalts als richterähnliches Organ. Bei der Abkoppelung der An klagebehörde von der Judikative bleibt er jedoch auf halbem Wege stehen, da es nach wie vor an Leitungsbefugnissen innerhalb der Staatsanwaltschaft als auch Kontrollmöglichkeiten von außen fehlt. Wie von Stimmen aus der Kommission Beraldi zu hören ist, scheiterte ein weitergehendes Reformvorhaben bereits am Widerstand innerhalb der Staatsanwaltschaft gegen eine Schwächung ihrer mit dem Organisationsgesetz von 1998 institutionalisierten Unabhängigkeit.1083 Ange sichts der übermäßigen Exponierung der Exekutive im Verfassungsgefüge, welche sich gewohnheitsrechtlich nach und nach zu einer Form des „Hyperpräsidentia limus“ vertieft hat1084, ist der erhebliche Widerwille der Staatsanwaltschaft da gegen, sich der Gefahr irgendeiner politischen Einflussnahme auszusetzen, sei es durch externe Einflussmöglichkeiten oder auch nur durch eine interne Anglei chung an die hierarchische Struktur der vollziehenden Gewalt, verständlich. Auf 1081 Zu den Problemen, die sich daraus ergeben, dass die Anklagefunktion schon auf organisa torischer Ebene als rechtsprechungsähnliche Aufgabe eingeordnet wird, vgl. auch die ausführ lichen Erörterungen oben 4. Kapitel, A. II. 3. 1082 Siehe dazu Beraldi (Hrsg.), Proyecto, S. 58. 1083 Siehe dazu schon oben Fn. 1078. 1084 Siehe dazu oben das 2. Kapitel, B. I.
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der anderen Seite ist zu bedenken, dass Weisungs- und Ersetzungsbefugnisse in nerhalb der staatsanwaltlichen Arbeitseinheiten für ihr Funktionieren notwendig sind und für sich genommen die Gefahr einer politischen Einflussnahme auf die Anklagetätigkeit auch nicht signifikant erhöhen. Hier scheint wieder das grund legende Problem durch, wonach das nicht zu leugnende besondere Bedürfnis in Argentinien, die Judikative von der Exekutive abzugrenzen, eine klare Trennung von Anklage- und Urteilsfunktion innerhalb der Justiz erschwert. III. Die Stellung der Staatsanwaltschaft im Verfahren des Entwurfs Beraldi 1. Vorverfahren a) Staatsanwalt als Herr des Vorverfahrens, Ermittlungsrichter mit Garantiefunktion
Nach dem Entwurf Beraldi obliegen die staatlichen Ermittlungen im Vorver fahren grundsätzlich dem Staatsanwalt, der sie von Amts wegen und objektiv führt und sich dabei der Polizei als Hilfsorgan bedient, Art. 78, 228, 234 E Be raldi. Ziel der Untersuchung soll ausschließlich sein zu ermitteln, ob ein für die Eröffnung eines Hauptverfahrens ausreichender Verdacht hinsichtlich der Bege hung einer Straftat vorliegt, Art. 226 E Beraldi. Entsprechend dienen die dort vom Staatsanwalt gesammelten Beweise zunächst einmal nur zur Begründung dieses Tatverdachts und können für eine Verurteilung des Angeklagten im Haupt verfahren grundsätzlich nicht direkt herangezogen werden, Art. 229 E Beraldi. Die Erhebung von Beweisen, die aufgrund ihrer Natur nicht erneut im Hauptver fahren erhoben werden können, darf der Staatsanwalt daher nicht selbst durch führen, sondern muss sie beim Ermittlungsrichter beantragen, Art. 165 E Beraldi. Gleiches gilt für alle intensiv in Grundrechte eingreifenden Ermittlungsmaßnah men, vgl. Art. 168 Abs. 3, 172 Abs. 1, 179 Abs. 1, 181 Abs. 1, 182 Abs. 1, 188, 190 E Beraldi, sowie die Untersuchungshaft, Art. 148 ff. E Beraldi. Die Forma lisierung des Vorverfahrens in Form der Mitteilung des Tatvorwurfs an den Be schuldigten durch den Fiskal muss im Beisein des Ermittlungsrichters erfolgen, Art. 253 E Beraldi, und schon zuvor kann das Deliktsopfer sowie jede Person, die Gegenstand der Untersuchungen ist, beim Ermittlungsrichter beantragen, dass die ser vom Fiskal Informationen über die Ermittlungen verlangt, Art. 255 E Beraldi. Beantragen der Beschuldigte oder der Privatkläger beim Staatsanwalt bestimmte Ermittlungsmaßnahmen und lehnt dieser sie ab, können die Antragsteller die Ab lehnung beim Ermittlungsrichter überprüfen lassen, der dann den Fiskal anweisen kann, die entsprechenden Maßnahmen vorzunehmen, Art. 251 E Beraldi. Zuletzt ist der Staatsanwalt nicht in der Lage, das Verfahren ohne Mitwirkung des Richters in spezielle Formen bzw. alternative Erledigungswege überzuleiten oder es insge samt zu beenden, mehr dazu sogleich.
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Zusammengefasst findet sich diese Aufgabenverteilung in Art. 230 Abs. 2 E eraldi, wonach dem Staatsanwalt die oben aufgeführten „der Rechtsprechung B eigenen Akte“ („actos propiamente jurisdiccionales“) verwehrt bleiben, während der Richter nicht selbst ermitteln darf. Die Verfasser des Entwurfs erklären es in ihren Motiven ausdrücklich als ihr Ziel, die Ermittlungen zu entformalisieren und vollständig dem Staatsanwalt zu übertragen, während der Richter auf eine Ga rantiefunktion beschränkt wird.1085 Der Untersuchungsrichter „mittelalterlicher Prägung“1086 soll abgeschafft und die Untersuchungs- und Urteilsfunktion getrennt werden, wie es in praktisch allen modernen Verfahrensordnungen der Fall sei.1087 Die vollständige Übertragung der Ermittlungen auf den Fiskal ist der logi sche Schlusspunkt der bereits dargestellten Weiterentwicklung der Bundesstraf verfahrensordnung von 1992. Die gefährliche Konfusion zwischen zwei aktiv ermittelnden Staatsorganen, die in der gegenwärtigen Rechtslage daraus resul tiert, dass man dem Staatsanwalt immer weitere Ermittlungsbefugnisse übertrug, gleichzeitig aber versuchte, die Verfahrensherrschaft beim Richter zu belassen1088, wird durch die von den Autoren angesprochene klare Trennung zwischen Unter suchungs- und Urteilsfunktion beendet. Die Erhebung des Richters auf eine über den Ermittlungen stehende, vollständig neutrale Rolle und die damit einherge hende bessere Wahrung des Vorbereitungscharakters des Vorverfahrens sind denn auch die entscheidenden Vorteile der Ermittlungszuständigkeit des Staatsanwalts. Gleichzeitig zu beachten ist aber, dass der Ankläger als objektiv ermittelndes Staatsorgan zumindest teilweise in die Stellung des Untersuchungsrichters eintritt, was Gefahren hinsichtlich der Objektivität seiner Ermittlungen, vor allem aber be züglich seiner Waffengleichheit mit dem Beschuldigten, birgt.1089 Das erste Pro blem dürfte angesichts der umfangreichen Kontrollen, welchen der ermittelnde Staatsanwalt unterliegt, in der Praxis so gut wie keine Auswirkungen haben, jeden falls handelt es sich um einen großen Fortschritt gegenüber dem weit weniger kon trolliert ermittelnden Untersuchungsrichter. Die zweite dem ermittelnden Staats anwalt inhärente Schwäche lässt sich nicht beseitigen, der Entwurf Beraldi wirkt hier aber so weit wie möglich entgegen, indem er dem Beschuldigten größtmög lichen Einblick in die Ermittlungen gewährt, Art. 233, 252, 255 E Beraldi, und ihm ein richterlich durchsetzbares Antragsrecht hinsichtlich bestimmter Ermittlungs maßnahmen nach Art. 251 E Beraldi sowie die Möglichkeit, nach Art. 164 Nr. 2 E Beraldi mit eigenen Ermittlungen zur Tataufklärung beizutragen, zugesteht.
1085
Beraldi (Hrsg.), Proyecto, S. 36. Im Orginal „de cuño medieval“, vgl. Beraldi (Hrsg.), Proyecto, S. 41. 1087 Beraldi (Hrsg.), Proyecto, S. 41. 1088 Vgl. dazu die ausführliche Darstellung, oben 5. Kapitel, A. III. 1. b), c). 1089 Siehe dazu schon oben, 4. Kapitel, B. III. 1., die ausführliche Untersuchung der Figur des ermittelnden Staatsanwalts anhand des sog. Entwurfs Maier. 1086
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5. Kap.: Formaler Anklagegrundsatz in der Krise und ein eigener Weg
b) Kontrolle der Abschlussverfügung des Staatsanwalts
Traditionell darf der Staatsanwalt im argentinischen Bundesstrafverfahrensrecht das Vorverfahren auch dann nicht selbständig abschließen, wenn ihm die Ermitt lungen übertragen sind, sondern muss einen entsprechenden Antrag beim Richter stellen. Nach dem Entwurf Beraldi kann der Staatsanwalt eigenständig und ohne richterliche Mitwirkung eine Anzeige abweisen oder das Verfahren im Sinne einer vorläufigen Einstellung archivieren, wenn sich schon zu Beginn der Ermittlun gen herausstellt, dass kein ausreichender Tatverdacht besteht oder ein Täter nicht individualisierbar ist, Art. 246, 247 E Beraldi. Eine Kontrolle der Entscheidung des Staatsanwalts nimmt auf Antrag des Opfers der übergeordnete Fiscal General de Coordinación y Control vor, Art. 248 E Beraldi. Meint der vorgesetzte Fiskal, dass eine Fortsetzung der Ermittlungen angezeigt ist, ersetzt er den ermittelnden Staatsanwalt und weist dessen Nachfolger entsprechend an, Art. 248 E Beraldi, 38 h) VE Beraldi Org. Anders ist die Verfahrensweise, wenn der Staatsanwalt den Sachverhalt vollständig ausermittelt hat. Dann erklärt er das Vorverfahren für ab geschlossen, was den übrigen Verfahrensbeteiligten die Gelegenheit bietet, beim Ermittlungsrichter noch einmal auf diejenigen Beweiserhebungen hinzuwirken, welche der Staatsanwalt ihrer Ansicht nach zu Unrecht unterlassen hat, Art. 263 Abs. 1, 2 E Beraldi. Der Ermittlungsrichter kann den Fiskal daraufhin zur Wieder öffnung des Ermittlungsverfahren anweisen, Art. 263 Abs. 3 E Beraldi. Nach dem endgültigen Abschluss der Ermittlungen beantragt der Fiskal beim Ermittlungs richter die Verfahrenseinstellung, Art. 263 Abs. 5 Nr. 1, 264, 265 Abs. 1 E Beraldi, oder erhebt Anklage, Art. 263 Abs. 5 Nr. 2, 269 E Beraldi. Während die Anklage in einem eigenständigen Zwischenverfahren kontrolliert wird, verbleibt die Über prüfung des Einstellungsantrags innerhalb der Staatsanwaltschaft. Kommt der Er mittlungsrichter selbst zum Schluss, dass kein Einstellungsgrund vorliegt, oder haben das Opfer bzw. der Privatkläger entsprechende Einwände geltend gemacht, legt der Richter den Einstellungsantrag nämlich wiederum dem zuständigen Fiscal General de Coordinación y Control vor, welcher den ermittelnden Staatsanwalt ersetzen und seinen Nachfolger zur Anklageerhebung anweisen kann, Art. 266 Abs. 1 und 2 E Beraldi, 38 h) VE Beraldi Org. Bestätigt dagegen der übergeordnete Fiskal seinen Untergebenen, muss der Ermittlungsrichter das Verfahren einstellen, soweit er nicht die Anklage eines Privatklägers zulässt, der dann im weiteren Ver fahren als alleiniger Ankläger auftritt, Art. 266 Abs. 3 E Beraldi. Auch bezüglich der Kontrollmechanismen zur Überprüfung des Einstellungs antrags des Staatsanwalts orientiert sich der Entwurf Beraldi am aktuellsten Stand der argentinischen Rechtswissenschaft, in diesem Falle an den Vorgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung der letzten Jahre. Nachdem die Befugnis des Berufungsgerichts, die Staatsanwaltschaft nach Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992) zur Anklageerhebung anzuweisen, als Eingriff in die Kernkompetenz der Ankla gebehörde für verfassungswidrig erklärt wurde und die Letztentscheidung wie der wie nach der vorherigen Strafverfahrensordnung beim übergeordneten Staats
B. Der „Entwurf Beraldi“ von 2007
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anwalt liegt1090, soll das als „Einverständnis der Fiskale“ („acuerdo de fiscales“) bekannte Institut erneut auf eine klare Rechtsgrundlage gestellt werden. Weil der Entwurf Beraldi auf das Dogma der richterlichen Ermittlungszuständigkeit ver zichtet und die Voruntersuchung dem Staatsanwalt überträgt, stellt sich hier auch nicht das systematische Problem, dass der Staatsanwalt nachträglich über das Er gebnis richterlicher Ermittlungen zu entscheiden hat.1091 Weiterhin greift der Ent wurf die Grundsatzentscheidung „Santillan“ des Obersten Gerichtshofs auf, wo nach die Anklage des Privatklägers derjenigen der Staatsanwalt gleichwertig ist, und schafft auf diese Weise eine, hinsichtlich des Gedankens der Waffengleichheit zwischen Anklage und Verteidigung allerdings kritisch zu betrachtende, Möglich keit, die Verhinderungsmacht der Staatsanwaltschaft zu umgehen, ohne die richter liche Unparteilichkeit zu gefährden.1092 c) Entscheidungsmaßstab des Fiskals: Legalität und Opportunität
Eine der bedeutendsten Neuerungen des Entwurfs Beraldi besteht darin, dass er die strikte Geltung des Legalitätsgrundsatzes aufbricht und in begrenztem Maße Opportunitätserwägungen des Staatsanwalts zulässt. Grundnorm ist Art. 12 E Beraldi. Nach Art. 12 Abs. 1 E Beraldi kann der Fiskal bis zu seiner Anklage erhebung in den vom Strafgesetzbuch vorgesehenen Fällen beim Richter einen An trag darauf stellen, die Strafklage vollständig oder teilweise fallenzulassen bzw. nicht weiterzuverfolgen. Der Verweis auf das Strafgesetzbuch ist deswegen nö tig, weil das Legalitätsprinzip in Argentinien im materiellen Strafrecht, genauer in Art. 71 CP, geregelt ist und deswegen auch Ausnahmen zu diesem Grund satz an gleicher Stelle zu verorten sind.1093 Einhergehend mit dem Entwurf Be raldi soll daher auch das materielle Strafrecht modifiziert werden. In Art. 59 CP, der Gründe für das Erlöschen der Strafklage wie Tod des Beschuldigten oder Am nestie aufzählt, wird in einem neuen Absatz 5 die Anwendung von Opportunitäts erwägungen als Erlöschensgrund eingefügt. Der neugefasste Art. 74 des Strafge setzbuches nennt abschließend die Fälle, in denen der Staatsanwalt beim Richter einen Antrag nach Art. 12 E Beraldi stellen kann. Dies ist zum einen möglich bei Straftaten, die keine Freiheitsstrafe ohne Bewährung erwarten lassen, wenn sie das geschützte Rechtsgut bzw. das öffentliche Interesse nicht bedeutend geschä digt haben oder wenn der Beschuldigte nur in geringfügigem Maße an ihnen be teiligt war; weiterhin bei Fahrlässigkeitsdelikten, wenn der Beschuldigte dadurch bereits selbst einen derartigen Schaden erlitten hat, dass eine weitere Strafe unnö tig erscheint; und schließlich bei allen Arten von Delikten, wenn die zu erwartende 1090
Siehe dazu oben 5. Kapitel, A. III. 1. e). Siehe dazu schon 4. Kapitel, B. III. 1.; 5. Kapitel, A. III. 1. e). 1092 Vgl. dazu oben 5. Kapitel, A. III. 2. 1093 Siehe dazu oben 3. Kapitel, B. III. 3. b). Natürlich bestünde stattdessen auch die Möglich keit, Art 71 CP aufzuheben und die Regeln zu Legalität und Opportunität vollständig ins Straf verfahrensrecht zu integrieren. 1091
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5. Kap.: Formaler Anklagegrundsatz in der Krise und ein eigener Weg
Strafe unbedeutend ist im Vergleich zu einer wegen anderer Taten schon verhäng ten Strafe oder einer solchen, die im selben Prozess, in einem verbundenen oder in einem ausländischen Verfahren verhängt werden soll. Keiner dieser Fälle darf jedoch nach derselben Vorschrift dann Anwendung finden, wenn es sich bei dem Beschuldigten um einen Staatsbeamten handelt, dem eine im Dienst begangene Straftat vorgeworfen wird. Liegt einer der Fälle des neugefassten Art. 74 CP vor und gibt der Richter dem Antrag des Staatsanwalts statt, erklärt er die Strafklage diesbezüglich für erloschen, Art. 12 Abs. 3 E Beraldi. Lehnt der Richter den An trag dagegen ab, verfährt er wie bei einem regulären Antrag auf Verfahrenseinstel lung, d. h. er legt ihn dem zuständigen Fiscal General de Coordinación y Control zur Prüfung vor. Der übergeordnete Staatsanwalt stimmt entweder dem Antrag zu, womit dieser für den Richter verbindlich wird, oder bestätigt die richterliche Ent scheidung und ersetzt den antragenden Fiskal durch einen anderen Staatsanwalt, der das Verfahren fortzuführen hat, Art. 12 Abs. 4 E Beraldi, 38 h) VE Beraldi Org. Auch hier existiert zudem wieder die Möglichkeit, dass der Privatkläger die An klage allein weiterträgt, wenn die Staatsanwaltschaft von der weiteren Strafverfol gung Abstand nimmt, Art. 12 Abs. 5 E Beraldi. Die Opportunitätsvorschriften des Entwurfs Beraldi in Verbindung mit dem entsprechend zu reformierenden Strafgesetzbuch bedeuten aufgrund ihres einge schränkten Anwendungsbereichs keine Aufgabe des Legalitätsgrundsatzes. Statt dessen orientiert der Entwurf sich an der kontinentaleuropäischen Lösung, wonach der Staatsanwalt nur in Ausnahmefällen unter gesetzlich näher bestimmten, über prüfbaren Voraussetzungen Zweckmäßigkeitserwägungen anstellen darf.1094 Dass der Staatsanwalt auf diese Weise die Möglichkeit erhält, die Strafverfolgung effek tiver zu gestalten, ohne dass ihm nahezu schrankenlose Befugnisse zur Verfahren saussonderung zugesprochen werden, wie sie etwa die U. S.-amerikanische Staats anwaltschaft im adversatorischen Verfahren besitzt, ist angesichts der staatlichen Verpflichtung zu einer objektiven Strafverfolgung begrüßenswert.1095 Fraglich ist allerdings, ob die vorgesehenen Regelungen ausreichend sind, um die Justiz zu entlasten, oder ob sie den Anfang einer Entwicklung wie in Deutschland bilden könnten, wo die Opportunitätsbefugnisse der Staatsanwaltschaft nach und nach eine derartige Ausweitung erfahren haben, dass ihre Anwendung von der Aus nahme zur Regel geworden ist.1096
1094 Mitglieder der Kommission Beraldi geben dazu an, man habe sich bezüglich der Op portunitätsbefugnisse des Staatsanwalts insbesondere auch an Deutschland orientiert, vgl. dazu schon Fn. 1064. In der Tat zeigen sich bei der ersten und bei der dritten Ausnahme in Art. 74 CP Parallelen zu den §§ 153, 154 der deutschen Strafprozessordnung, wonach bei Geringfügigkeit des Ver gehens bzw. bei einer unwesentlichen Nebenstraftat von der Strafverfolgung abgesehen wer den kann. 1095 Vgl. dazu schon die Ausführungen oben 5. Kapitel, A. III. 1. f), mit dem Zitat Hassemers: „Soviel Legalität wie möglich, soviel Opportunität wie nötig.“ 1096 Vgl. dazu schon oben Fn. 100.
B. Der „Entwurf Beraldi“ von 2007
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Ein eher nebensächlicher Kritikpunkt ist im Übrigen allenfalls noch die Be teiligung des Richters. Besser erscheint hier eine Einschaltung des übergeord nete Staatsanwalts lediglich auf Initiative des Opfers oder Privatklägers, auch weil auf diese Weise der Richter nicht für den weiteren Verfahrensverlauf kompromit tiert wird, wenn er sich für eine Weiterführung des Verfahrens ausspricht. Ange sichts dessen, dass der Richter allerdings nur die Anwendbarkeit einer Opportuni tätsvorschrift und nicht den eigentlichen Tatverdacht bewertet und außerdem die Letztentscheidung bei der Staatsanwaltschaft verbleibt, handelt es sich hier nur um einen geringen Makel. Neben den Opportunitätsbefugnissen im engeren Sinne, welche dem Fiskal die Beendigung der Strafverfolgung aufgrund von Zweckmäßigkeitserwägungen er möglichen, kennt der Entwurf Beraldi zudem solche im weiteren Sinne, wonach das Verfahren nicht beendet, sondern lediglich abgekürzt wird.1097 Das juicio abreviado nach Art. 322 ff. E Beraldi basiert in groben Zügen auf dem gleichnami gen Verfahren, das gegenwärtig auf der Grundlage des Art. 431 bis CPPN (1992) Anwendung findet. Es setzt voraus, dass der Staatsanwalt eine Freiheitsstrafe von weniger als sechs Jahren für angemessen erachtet und eine Vereinbarung zwischen ihm und dem Beschuldigten zustande gekommen ist, aufgrund derer der Beschul digte die gegen ihn erhobenen Tatvorwürfe ausdrücklich anerkennt und sich mit dem abgekürzten Verfahren einverstanden erklärt, Art. 322 E Beraldi. Der Staats anwalt kann es ab der Formalisierung des Vorverfahrens bis zum Ende des Zwi schenverfahrens beantragen, Art. 323 E Beraldi. Vor der Entscheidung über den Antrag des Staatsanwalts hört der Ermittlungsrichter bzw. das Gericht des Zwi schenverfahrens den Beschuldigten nach Art. 325 E Beraldi an, wobei die Vor schrift im Unterschied zu Art. 431 bis Nr. 3 CPPN (1992) ausdrücklich klarstellt, dass der Richter bzw. das Gericht in der Anhörung überprüfen muss, ob das Ein verständnis des Beschuldigten freiwillig und ohne Zwang zustande gekommen ist und ob ihm die rechtlichen Konsequenzen klar sind. Ist dies der Fall, ist das Er mittlungsverfahren schon ausreichend fortgeschritten und hat der Staatsanwalt eine Freiheitsstrafe von unter sechs Jahren beantragt, lässt der Richter bzw. das Gericht den Antrag zu, Art. 326 E Beraldi. Nun folgt die auffälligste Neuerung des Entwurfs in Bezug auf das abgekürzte Verfahren, denn der Richter bzw. das Ge richt führt anders als bisher eine mündliche Verhandlung durch, in der die Verfah rensbeteiligten kurz ihre Anträge stellen und begründen, Art. 327 Abs. 1 E Beraldi. Erst dann fällt der Richter bzw. das Gericht sein Urteil, das nicht ausschließlich auf der Einlassung des Beschuldigten basieren darf und in der Strafzumessung an die Obergrenze des staatsanwaltlichen Antrags gebunden ist, Art. 327 Abs. 2, 3 E Beraldi. Auch nach dem Entwurf Beraldi basiert das abgekürzte Verfahren also auf einer Vereinbarung zwischen Staatsanwalt und Beschuldigtem, die anschließend vom 1097 Zu der Unterscheidung Bovinos zwischen Opportunitätsbefugnissen im engeren und im weiteren Sinne siehe oben 5. Kapitel, A. III. 1. f).
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5. Kap.: Formaler Anklagegrundsatz in der Krise und ein eigener Weg
Gericht am Maßstab der materiellen Wahrheit, wie sie sich nach dem Ergebnis des Ermittlungsverfahrens darstellt, überprüft wird. Zweckmäßigkeitserwägungen des Staatsanwalts im Rahmen der Verhandlung mit dem Beschuldigten sollen sich demnach allenfalls auf der Strafzumessungsebene auswirken können. Den Ein wänden gegen das abgekürzte Verfahren tragen die Verfasser des Entwurfs Rech nung, indem sie besonders auf den Schutz der Willensfreiheit des Beschuldigten bei Abgabe seiner geständnisgleichen Erklärung abstellen und die gerichtliche Überprüfung der Vereinbarung als mündliche Verhandlung ausgestalten. Dass das Gericht seine Entscheidung nicht mehr in einem rein schriftlichen Verfahren fällt, ist unzweifelhaft einer größeren Transparenz förderlich und be deutet einen Fortschritt.1098 Zu bedenken ist allerdings der begrenzte Umfang der gerichtlichen Prüfung in dieser Verhandlung. Zwar darf sich das Gericht nicht aus schließlich auf die Einlassung des Beschuldigten stützen, in jedem Falle entfaltet sie aber die mit Abstand größte Beweiswirkung. Dies ist anders auch kaum denk bar, denn eine umfassende Beweisaufnahme wie in der regulären Hauptverhand lung würde den Zweck des abgekürzten Verfahrens einer Verfahrensbeschleuni gung sofort wieder ad absurdum führen. Und in Bezug auf die Strafzumessung darf das Gericht aus Schutzgesichtspunkten gegenüber dem geständigen Beschul digten ohnehin nicht über den Antrag des Staatsanwalts hinausgehen. Die münd liche Verhandlung ist daher weitgehend durch die Vereinbarung zwischen Staats anwalt und Beschuldigtem vorherbestimmt. Die Absprache bleibt der Kern des abgekürzten Verfahrens und der eigentlich entscheidende Anknüpfungspunkt bei seiner Bewertung. Angesichts der rein summarischen Natur der richterlichen Kontrolle ist bereits zweifelhaft, ob sich der Einfluss der Zweckmäßigkeitserwägungen, die der Staats anwalt im Rahmen der Verhandlungen mit dem Beschuldigten anstellt, tatsäch lich nur auf die Strafzumessungsebene beschränken lässt. Es steht zu befürchten, dass der Fiskal in die Lage versetzt wird, mit dem Beschuldigten in Verhand lungen über alle Teile des Anklagevorwurfs sowie dessen Beweisgrundlage zu tre ten. Das große Problem hierbei ist, dass der Verhandlungsgedanke schlicht nicht auf das Verhältnis zwischen dem Ankläger als Vertreter des Staates und dem Be schuldigten als Individuum passt. Besonders fatal ist das strukturelle Ungleichge wicht zwischen der Verhandlungsposition des Beschuldigten und derjenigen des Staatsanwalts. Die Gefahr, dass der Staatsanwalt seine überlegene Stellung aus nutzt, um den Beklagten gleich einem Inquisitionsrichter in ein Geständnis zu zwingen1099, lässt sich nicht von der Hand weisen. Viel wichtiger als die münd liche Hauptverhandlung ist daher die zweite angesprochene Neuerung, welche auf 1098 Im deutschen Strafverfahren beispielsweise müssen Absprachen ebenfalls in die öffent liche und mündliche Hauptverhandlung, einbezogen werden, §§ 257c, 273 Abs. 1a StPO. Vgl. dazu auch schon oben Fn. 951. 1099 Die Parallelen zu den Auswüchsen des gemeinrechtlichen Inquisitionsprozesses sind in der Tat unübersehbar. Vgl. dazu die Ausführungen oben 5. Kapitel, A. III. 1. f).
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den besonderen Schutz der Willensfreiheit des Beschuldigten abstellt. Dass das Ungleichgewicht während der Verhandlung durch die erst nachträgliche richter liche Kontrolle1100 vollständig ausgeglichen werden kann, erscheint dennoch un realistisch. Allerdings setzt der Entwurf Beraldi an ganz anderer Stelle wirksam an, indem er die Situation des Beschuldigten während der Verhandlung mit dem Staatsanwalt im Allgemeinen erheblich aufwertet. Weil der Entwurf die Untersu chungshaft des Beschuldigten nicht mehr als Regelfall ansieht bzw. versucht, sie zu verkürzen, indem er das Vorverfahren allgemein verschlankt und beschleunigt, wird der Druck vom Beschuldigten genommen, dem Angebot des Staatsanwalts schon deswegen zuzustimmen, um in absehbarer Zeit wieder in Freiheit zu ge langen und sich nicht einer eventuell noch Jahre andauernden Untersuchungshaft auszusetzen. Allein dies bedeutet eine immense Verbesserung gegenüber dem ge genwärtigen abgekürzten Verfahren. Zwar lassen sich die Bedenken gegen den Verhandlungsgedanken im Strafverfahren nicht vollständig ausräumen. Da die Ab sprachen in Argentinien aus der Praxis nicht mehr wegzudenken sind, muss es aber bei dem Fazit bleiben, dass der Entwurf Beraldi zumindest einen großen Schritt zu ihrer besseren Regulierung macht. 2. Zwischenverfahren
Erhebt der Staatsanwalt Anklage, leitet er diese zunächst direkt dem Privatklä ger und dann der für die Kontrolle der Anklage zuständigen Berufungskammer zu, Art. 271 E Beraldi, welche dem Beschuldigten Gelegenheit gibt, seinerseits Ein wände gegen die Anklage geltend zu machen und Beweise für das Hauptverfahren anzubieten, Art. 272 E Beraldi. Es folgt eine öffentliche und mündliche Verhand lung im Beisein aller Verfahrensbeteiligten, zu deren Abschluss das Gericht über die Zulassung der Anklage entscheidet, Art. 274, 275 E Beraldi. Ist die Anklage mit unheilbaren Formfehlern behaftet oder liegt ein sonstiger Einstellungsgrund vor, stellt das Gericht das Verfahren ein, Art. 275 Abs. 1 Nr. 1, 3 E Beraldi. Liegt dagegen ein solcher Grund nicht vor und hat der Staatsanwalt die Wahrscheinlich keit der Tatbegehung durch den Beschuldigten dargelegt, beschließt das Gericht die Eröffnung des Hauptverfahrens, Art. 275 Abs. 2, 276 E Beraldi. Die Kontrolle der staatsanwaltlichen Anklage wie hier einem Gericht aufzu erlegen, schafft grundsätzlich eine Reihe von Problemen. Zunächst liegt immer eine Verletzung des Anklagegrundsatzes nahe, wenn das Gericht Einfluss auf den Inhalt der Anklage nimmt, indem es sie nachträglich abändert oder die Staats anwaltschaft gar zur Erhebung einer Anklage bestimmten Inhalts anweist.1101 Dies 1100 Einiges spricht dafür, die Anwesenheit des Richters bei der Absprache selbst vorzuschrei ben, wie dies die Verfahrensordnungen einiger U. S.-amerikanischer Bundesstaaten tun. Vgl. dazu Weigend, Absprachen, S. 46 f.; Trüg, Lösungskonvergenzen, S. 160. 1101 Vgl. dazu oben die Untersuchung des Zwischenverfahrens im Entwurf Maier, 4. Kapitel, B. III. 2, sowie des Art. 348 Abs. 2 CPPN (1992), 5. Kapitel, A. III. 1. e).
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5. Kap.: Formaler Anklagegrundsatz in der Krise und ein eigener Weg
vermeidet der Entwurf Beraldi, denn das Gericht kann lediglich bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen das Verfahren einstellen oder die Anklage zulas sen, nicht aber eine Anklage bestimmten Inhalts initiieren. Hinzu kommt, dass eine Voreingenommenheit des Gerichts des Hauptverfahrens dadurch verhindert wird, dass, anders als etwa in der deutschen Strafprozessordnung, das Gericht, welches die Anklage überprüft, verschieden ist von demjenigen, das anschließend in der Hauptsache entscheidet. Weiterhin zu beachten ist dann allerdings noch, dass es bei einer lediglich summarischen, auf die Plausibilität der Anklage beschränkten Prüfung bleibt und nicht schon eine Vorentscheidung hinsichtlich der Täterschaft des Beschuldigten getroffen wird. Vorliegend birgt die eigenständige mündliche Verhandlung die Gefahr einer Vorwegnahme der Hauptsache, welche wiederum das letztlich urteilende Gericht vorbeeinflusst. Dem will der Entwurf aber ent gegenwirken, indem Art. 274 Abs. 4 E Beraldi anweist, dass die Kammer die Dis kussion von in die Hauptverhandlung gehörenden Fragen zu vermeiden hat. Im Ergebnis dürfte die gerichtliche Kontrolle der Anklage im Entwurf Beraldi weit gehend unbedenklich sein. Besser erscheint es jedoch, die entstehenden Probleme gleich zu umgehen, indem die Überprüfung der Anklage innerhalb der Staats anwaltschaft verbleibt. 3. Hauptverfahren
Den größten Wandel gegenüber dem bisherigen argentinischen Strafverfahrens recht macht im Entwurf Beraldi die Hauptverhandlung durch. Die Verfasser des Entwurfs erklären in den Motiven zum Entwurf, ein „adversatorisches Verfahrens modell“ einführen zu wollen.1102 D. h. die Instruktionsmaxime, wonach der Richter von Amts wegen den Sachverhalt aufklärt, wird aufgegeben, stattdessen werden ausschließlich die von Anklage und Verteidigung beantragten Beweise erhoben, Art. 293 Abs. 1, 296 E Beraldi. Die Parteien müssen für das Erscheinen der von ih nen aufgebotenen Zeugen und Sachverständigen sorgen, Art. 278 Abs. 3 E Beraldi, und befragen diese selbst, Art. 294 Abs. 1 E Beraldi. Anschließend kann die an dere Seite nach Art. 294 E Beraldi versuchen, die gegnerische Beweisführung im Wege des Kreuzverhörs zu entkräften. Das Gericht bleibt auf eine schiedsrichter liche Kontrollfunktion beschränkt. Der Vorsitzende leitet nach Art. 285 E Beraldi die Verhandlung, Beweiserhebungen von Amts wegen sind dem Gericht aber ver boten, Art. 164 Nr. 3 E Beraldi. Nur ausnahmsweise darf das Gericht den Zeugen und Sachverständigen im Anschluss an die Befragung durch die Parteien noch Fra gen stellen, um Unklarheiten in ihren Aussagen aufzuklären, Art. 294 Abs. 4 E Be raldi. Die Einführung des Beibringungs- bzw. Verhandlungsgrundsatzes wirkt sich auch auf die Bindung des Gerichts an die Anklage des Staatsanwalts aus. Zunächst ist das Gericht wie bisher auf die Beurteilung des in der Anklage enthaltenen Tat geschehens beschränkt, Art. 305 Abs. 1 E Beraldi. Der Staatsanwalt kann seine 1102
Übers. d. Verf., im Original „modelo adversarial“, vgl. Beraldi (Hrsg.), Proyecto, S. 50.
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Anklage zwar gemäß Art. 292 Abs. 1 E Beraldi nachträglich auf erst in der Haupt verhandlung bekannt gewordene Tatsachen ausweiten, soweit die Anklage dadurch aber bedeutend abgeändert wird, hat der Angeklagte das Recht auf ein neues Ver fahren, Art. 292 Abs. 3 E Beraldi. In seiner rechtlichen Bewertung darf das Gericht von der Anklage abweichen, muss den Parteien allerdings Gelegenheit geben, über seine Bewertung streitig zu verhandeln, soweit es zum Nachteil des Angeklagten von der Anklage abweicht, Art. 305 Abs. 2 E Beraldi. Zuletzt und vor allem darf das Gericht nach Art. 305 Abs. 3 E Beraldi nicht über die vom Staatsanwalt und/ oder vom Privatkläger beantragte Straffolge hinausgehen und muss den Angeklag ten freisprechen, wenn beide Ankläger dies verlangen. Der Staatsanwalt kann also, bei Vorhandensein eines Privatklägers gemeinsam mit diesem, noch mit seinem Schlussantrag am Ende der Hauptverhandlung nach Art. 298 E Beraldi den Straf rahmen des Gerichts begrenzen und es sogar zu einem Freispruch zwingen. Die Stellung des Staatsanwalts in der Hauptverhandlung erfährt demnach eine erhebliche Aufwertung gegenüber der gegenwärtigen Rechtslage. Das Konzept der Wahrheitsfindung in der adversatorischen Hauptverhandlung des Entwurfs Be raldi ist ein völlig anderes als im Inquisitionsprozess, der darauf basiert, dass das Gericht sich selbständig ein umfassendes Bild der Sachlage macht. Die Idee der vorliegenden Verfahrensstruktur ist stattdessen, dass das Gericht die Wahrheit ausschließlich aus dem Wettstreit der Parteien destilliert. Für den staatlichen An kläger bedeutet das, dass er nicht mehr nur die richterliche Untersuchung einleitet und anschließend weitgehend passiv begleitet, sondern selbst die Beweisführung hinsichtlich seines Anklagevorwurfs übernimmt. Er gibt zudem, gemeinsam mit einem eventuellen Privatkläger, nicht nur in sachlicher Hinsicht, sondern auch in Hinblick auf die Straffolge den Rahmen für die richterliche Entscheidung vor, da das Gericht insoweit nicht über die Anträge der Anklageseite hinausgehen kann. Mit Letzterem folgt der Entwurf der oben dargestellten „Tarifeño“-Doktrin, das dort konstatierte Problem eines Widerspruchs zur Verfahrensherrschaft des Ge richts stellt sich vorliegend allerdings nicht. Vielmehr entspricht die Bindung des Gerichts an die vom Staatsanwalt beantragte Strafobergrenze gerade dem Grund gedanken des Parteiprozesses, wonach der Kläger den Verfahrensgegenstand be stimmt. Besteht im reformierten Inquisitionsprozess das Problem, inwieweit sich die Anklagebefugnisse des Staatsanwalts mit dem System der richterlichen Wahr heitsfindung vereinbaren lassen, so ist im adversatorischen Verfahren dafür aber umgekehrt fraglich, wie der Staatsanwalt in einer Rolle agieren kann, die ur sprünglich allein auf einen Privatkläger ausgelegt war.1103 Zunächst ist zu bedenken, dass der Wettstreit, von dem das adversatorische Ver fahren ausgeht, einen Antagonismus zwischen Anklage und Verteidigung voraus setzt, der Staatsanwalt in seiner Eigenschaft als Staatsorgan aber zur Objektivität verpflichtet ist. Die U. S.-amerikanische Lösung dieses Problems, die Objektivi tätspflicht des Staatsanwalts zu Gunsten der adversatorischen Wahrheitsfindung 1103
Vgl. dazu auch schon oben 1. Kapitel, B. III.; 3. Kapitel, A. II. 4.
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einzuschränken1104, überzeugt nicht. Die Legitimation des staatlichen Strafmono pols speist sich daraus, dass der Staat eben nicht an einer einseitigen Strafverfol gung um jeden Preis, sondern nur an einer objektiven und gerechten Ausübung der Strafgewalt interessiert ist. Dies gilt notwendig auch für den Staatsanwalt als Ver treter des Staates.1105 Der Entwurf Beraldi trägt diesen Erwägungen Rechnung und geht einen anderen Weg als die angloamerikanischen Verfahrensordnungen. Er legt die staatsanwaltliche Objektivitätspflicht in seinem Art. 78 ausdrücklich nie der und sichert sie in Art. 79 noch einmal dadurch ab, dass der staatliche Anklä ger wegen Befangenheit abgesetzt werden kann. Tatsächlich steht bei näherer Be trachtung auch eine solche ausgeprägte Objektivitätspflicht, wie sie der Entwurf Beraldi vorsieht, keineswegs in einem unlösbaren Widerspruch zu der adversato rischen Form der Wahrheitsfindung.1106 Hält der Staatsanwalt die Anklage nach Anlegung eines objektiven Maßstabs für begründet und vertritt dies in der Haupt verhandlung, setzt er sich gleichermaßen in Widerspruch zum Angeklagten, wie wenn er die Anklage einseitig vertreten würde. Soweit kein solcher Widerspruch besteht, ist das Gericht schlicht an die Übereinstimmung zwischen den Parteien gebunden.1107 Man könnte allenfalls erwägen, dass die Wahrheitsfindung des Ge 1104
Siehe dazu schon oben 3. Kapitel, A. II. 4. m. w. N. Vgl. in diesem Sinne Ferrajoli, Derecho y Razón, S. 569 f.; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 109, 134. Nicht in Abrede gestellt werden kann, dass Reibungspunkte zwischen der Objekti vitätspflicht und der Anklagefunktion des Staatsanwalts existieren. Der Staatsanwalt darf nicht gleichzeitig Urteilsorgan sein, weil er, zumindest was Letztentscheidungen angeht, als Anklä ger nie eine richtergleiche, völlige Unparteilichkeit und Objektivität erreicht, siehe dazu schon oben 4. Kapitel, B. III. 1. Es besteht vielmehr ein „natürlicher Gegensatz“ (Henkel, Strafverfah rensrecht, S. 113) zwischen Anklage und Verteidigung, der in der Praxis gar dazu führen kann, dass der Staatsanwalt sich in der Hauptverhandlung einzig als Gegenspieler des Angeklagten versteht und seine Objektivitätspflicht darüber vernachlässigt, vgl. Kühne, Strafprozessrecht, S. 101 m. w. N. Dass sich der Grundsatz der staatlichen Objektivitätsverpflichtung nicht ohne Brüche durchhalten lässt, legitimiert jedoch nicht seine Abschaffung (aus dem gleichen Grund ist etwa auch das Legalitätsprinzip beizubehalten, obwohl praktische Zwänge umfangreiche Ausnahmen erforderlich machen). Darüber hinaus ist zu bedenken, dass allein die Zielvorgabe der staatsanwaltlichen Objektivität und das daraus resultierende Selbstverständnis der Ankla gebehörde zu entsprechendem Handeln des einzelnen Staatsanwalts beitragen dürften. 1106 Schon Mittermaier plädiert dafür, allerdings ohne die folgende Begründung, die Stellung des Staatsanwalts als die einer Partei in einem adversatorischen Verfahren auszugestalten, ihm aber trotzdem eine ausdrückliche Objektivitätspflicht aufzuerlegen. Siehe dazu Mittermaier, Gesetzgebung, S. 182 ff., 193, 285, ders., Mündlichkeit, S. 314 f. 1107 Wenn der Staatsanwalt also noch in der Hauptverhandlung über die Anklage disponiert, indem er beantragt, den Angeklagten ganz oder teilweise freizusprechen, tut er dies eben nicht willkürlich, sondern nach einem objektiven Maßstab. Anders kann dies im Vor- oder Zwischen verfahren sein, wo der Staatsanwalt unter bestimmten Voraussetzungen auch nach Zweck mäßigkeitsgesichtspunkten verfahren und bspw. Absprachen mit dem Beschuldigten treffen kann, vgl. schon oben 5. Kapitel, B. III. 1. c). Praktisch sehr gut vorstellbar ist allerdings, dass es entgegen der Vorstellungen der Verfasser des Entwurfs auch noch in der Hauptverhand lung zu Vereinbarungen zwischen Angeklagtem, Staatsanwaltschaft und eventuell dem Ge richt kommt. Eine solche konsensuale Form der Verfahrenserledigung ist kaum mit der Ob jektivitätspflicht der Staatsorgane vereinbar, lässt sich aber häufig nicht vermeiden. In diesem Fall sollten die Vorschriften des Entwurfs Beraldi zu den Absprachen im Vor- bzw. Zwischen 1105
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richts nach der adversatorischen Logik dadurch zu Lasten des Anklageinteresses verfälscht wird, dass der Staatsanwalt nicht gleichermaßen einseitig agiert wie der Ankläger.1108 Diese Gefahr ist indes ohnehin schon gering, weil auch die Verteidi gung dem Grundsatz nach einem „Fair-Play“-Gebot unterworfen ist.1109 Ganz zu vernachlässigen ist sie, wenn man bedenkt, dass nach dem Entwurf Beraldi neben dem Staatsanwalt auch noch ein Privatkläger die Anklage vertreten kann, ohne an die Objektivitätspflicht des staatlichen Anklägers gebunden zu sein. Nichts spricht also dagegen, vom staatlichen Ankläger auch in einer adversatorischen Hauptver handlung umfassende Objektivität zu verlangen. Mit der Figur des Privatklägers wird allerdings gleich das viel schwieriger zu lösende Problem der staatsanwaltlichen Stellung in der adversatorischen Haupt verhandlung des Entwurfs Beraldi deutlich, nämlich die Notwendigkeit einer Waf fengleichheit zwischen Anklage und Verteidigung. Da das Gericht selbst passiv bleibt und nur über die Parteien an die Beweisgrundlage für seine Entscheidung gelangt, ist es unabdingbar, dass beide Seiten gleichwertige prozessuale Möglich keiten dazu haben, ihren Standpunkt zu vertreten. Dies ist bereits deswegen grund sätzlich problematisch, weil sich im verstaatlichten adversatorischen Verfahren der Staat in Person des Staatsanwalts als Ankläger und der Beschuldigte als Ange klagter gegenüberstehen. Vorliegend kommt erschwerend hinzu, dass die Ankla geseite noch weiter durch den Privatkläger verstärkt werden kann. Sieht sich der Angeklagte derart zwei Anklägern gegenüber, bestehen erhebliche Bedenken hin sichtlich der Gleichwertigkeit von Anklage- und Verteidigungsposition. Um die sem Ungleichgewicht entgegenzuwirken, bietet es sich an, der Anklageseite über die grundsätzliche Beweislast hinaus noch strenge Beweiserhebungs- und -verwer tungsregeln aufzuerlegen, wie sie etwa das bereits angesprochene U. S.-amerikani sche Strafverfahren kennt. Der Entwurf Beraldi bindet die Staatsanwaltschaft und die Polizei als ihr Hilfsorgan ebenfalls an umfangreiche Beweiserhebungsregeln, deren Missachtung nach Art. 6 E Beraldi ausnahmslos zur Unverwertbarkeit des jeweiligen Beweismittels führt. Weiterhin ist in einer adversatorischen Hauptver verfahren analog angewandt werden, d. h. die Absprache wird in die mündliche Verhandlung einbezogen und es ist gesondert zu prüfen, ob das Geständnis des Angeklagten mit dem Ermitt lungsergebnis übereinstimmt und freiwillig abgegeben wurde. Zu den ähnlichen Voraussetzun gen der Absprachen im deutschen Hauptverfahren vgl. oben Fn. 951. 1108 Illustrativ zu dieser Überlegung ist der Beispielsfall von McMunigal, in: Fordham Law Review 2000, S. 1453 ff.: Der Staatsanwalt kann eine Freiheitsstrafe von bis zu sechs Jahren beantragen, während sich der Verteidiger für eine Bewährungsstrafe ausgesprochen hat. Für an gemessen erachtet der Ankläger eine Freiheitsstrafe von drei Jahren. Geht er nun nach objekti ven Kriterien vor und beantragt drei Jahre Haft mit der Gefahr, dass der Richter darunter bleibt oder beantragt er sechs Jahre und erwartet, dass der Richter einen Mittelwert aus den Anträgen von Anklage und Verteidigung bildet? 1109 Dass auch das Verteidigungsrecht des Beschuldigten nicht schrankenlos ist, sondern einem Fairnessgebot unterliegt, ist im angloamerikanischen Rechtsraum allgemein anerkannt. Wie weit allerdings diese Beschränkungen im Einzelnen gehen, ist umstritten. Vgl. dazu für die Vereinigten Staaten von Amerika LaFave/Israel/King, Criminal Procedure, S. 31 f. sowie schon oben 1. Kapitel, B. I.
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5. Kap.: Formaler Anklagegrundsatz in der Krise und ein eigener Weg
handlung ganz besonders darauf zu achten, dass der Angeklagte adäquat verteidigt wird, zu denken ist hier an eine finanzielle Stärkung und personelle Aufstockung der staatlichen Pflichtverteidigung für finanziell schwache Angeklagte. Ob sich aber allein dadurch das Problem des Ungleichgewichts zu Lasten der Verteidigung vollständig beseitigen lässt, ist insbesondere in den Fällen, wo neben dem Staats anwalt auch ein Privatkläger auftritt, zweifelhaft. Von ganz besonderer Bedeutung ist daher an dieser Stelle wiederum die Objektivitätspflicht des Staatsanwalts. Die Selbstbindung des Staates dahingehend, die Anklage nur soweit zu führen, wie dies nach einem objektiven Maßstab gerechtfertigt scheint und auch entlastendes Beweismaterial vorzutragen, verringert grundlegend die Gefahr, dass eine zu ein seitige Beweisgrundlage eine objektive Entscheidung des Gerichts verhindert. Als Fazit bleibt festzuhalten, dass die Neugestaltung der Hauptverhandlung durch den Entwurf Beraldi eine klare Verbesserung gegenüber der gegenwärti gen Rechtslage darstellt. Der entscheidende Fortschritt besteht hier wie schon im Vorverfahren des Entwurfs darin, dass das Gericht konsequent von jeder Form der aktiven Ermittlung gegen den Beschuldigten ferngehalten wird, was eine klare Trennung von Anklage- und Urteilsfunktion gewährleistet. Der Konflikt zwischen Anklage- und Verteidigungsinteresse, welcher durch das Verfahren entschieden werden soll, wird offen und vollständig zwischen den Parteien ausgetragen, das Gericht ist dieser Auseinandersetzung gänzlich entzogen und beschränkt sich auf ihre Entscheidung. Der Angeklagte wird mit dem gegen ihn geführten Angriff1110 in jeder Hinsicht, d. h. in Bezug auf sachliche Grundlage, rechtliche Bewertung und Rechtsfolge, schon in der Hauptverhandlung konfrontiert und kann sein Verteidi gungsrecht effektiv ausüben. Das Gericht entscheidet ausschließlich über diesen von der Klägerseite vorgetragenen Angriff und kann ihm seinerseits nichts mehr zu Lasten des Angeklagten hinzufügen, was sich darin manifestiert, dass es nicht über den staatsanwaltlichen Abschlussantrag hinausgehen kann. Trotz der Erwei terung der Anklagefunktion des Staatsanwalts hält der Entwurf Beraldi aber auch an einer strikten Objektivitätspflicht des staatlichen Anklägers fest, was nicht nur mit der adversatorischen Form der Wahrheitsfindung vereinbar ist, sondern auch einen wichtigen Beitrag dazu leistet, dass sie nicht zu Lasten des Angeklagten verfälscht wird. Es gelingt dem Entwurf damit, die Vorteile der adversatorischen Verfahrensstruktur mit denen eines verstaatlichten Verfahrens zusammenzuführen. Der Staatsanwalt sichert durch seine Anklagebefugnisse die Unparteilichkeit des Gerichts ab, ohne selbst die aus seiner Staatsorganseigenschaft resultierende Bin dung an eine umfassende Objektivitätspflicht aufzugeben.
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Vgl. zu dieser Formulierung E. Schmidt, Dt. Strafprozessrecht, S. 24; ders., Lehrkommen tar StPO und GVG Bd. 1, S. 78, der, allerdings nur in Bezug auf das Vorverfahren, interessan terweise vom „ersten Angriff“ gegen den Beschuldigten und von „ermittelnder Angriffstätig keit“ spricht, welche vom Gericht fernzuhalten seien.
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4. Rechtsmittel
Hinsichtlich der Rechtsmittelbefugnisse des Staatsanwalts ändert der Entwurf Beraldi nur wenig gegenüber der Bundesstrafverfahrensordnung des Jahres 1992. Nach Art. 341 Abs. 2 E Beraldi kann der Fiskal sowohl zu Lasten als auch zu Gunsten des Beschuldigten Rechtsmittel einlegen. Art. 347 Abs. 1 E Beraldi ge stattet ihm, ein Rechtsmittel auch ohne Begründung zurückzuziehen, solange dar über noch nicht entschieden ist. Die wichtigste Möglichkeit, ein Endurteil an zugreifen, bleibt für den Staatsanwalt die casación wegen falscher Anwendung des materiellen Rechts oder wegen prozessualer Fehler, die nicht geheilt worden sind und sich auf die Entscheidung ausgewirkt haben, Art. 357 ff. E Beraldi. An ders als der Beschuldigte, dessen verfassungswidrige Rechtsmittelbeschränkung in Art. 359 E Beraldi nicht mehr zu finden ist, kann der Fiskal die casación gemäß Art. 360 E Beraldi nach wie vor nur unter den auch schon gegenwärtig geltenden Einschränkungen einlegen.1111 Der Entwurf Beraldi gestaltet die Rechtsmittelbefugnisse des Staatsanwalts also nicht als die eines einseitigen Anklägers aus, sondern hält an ihrer bisherigen, ursprünglich dem Inquisitionsprozess entstammenden Form fest. Das ist nur folgerichtig, da der staatliche Ankläger zwar in einer adversatorischen Haupt verhandlung agiert, dies aber nichts daran ändert, dass durch das ganze Verfah ren hindurch seine Verpflichtung zur Objektivität gewahrt bleibt. Dass der Staats anwalt richterliche Entscheidungen ausschließlich zu Lasten des Beschuldigten angreift, wäre damit kaum zu vereinbaren. Auch der auf Maier zurückgehen den Auffassung, wonach dem Staatsanwalt gar keine Rechtsmittelbefugnisse zu zugestehen sind, war nicht zu folgen, da dies nur im Sonderfall der Entschei dung durch ein Geschworenengericht erwägenswert scheint. Zwar sieht Art. 7 E Beraldi die Beteiligung von Geschworenen an der Urteilsfindung vor, überlässt die Einrichtung entsprechender Gerichte aber einem Spezialgesetz, in dem dann auch zu regeln wäre, inwieweit die Entscheidungen dieser Gerichte von Staats seite angreifbar sind. In allen anderen Fällen lässt sich die völlige Nichtberück sichtigung der staatlichen Verpflichtung zu einer Korrektur von Fehlentscheidun gen weder mit dem Verständnis der Rechtsmittel als Beschuldigtenrecht noch mit der Ablehnung der Gesetzeswächterrolle des Staatsanwalts ausreichend recht fertigen. Unbedenklich ist dagegen eine bloße Einschränkung der staatsanwalt lichen Befugnis, ein Endurteil anzugreifen, wie sie Art. 360 E Beraldi vorsieht, da
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Nach Art. 358 Nr. 1 CPPN (1992) kann der Staatsanwalt einen Freispruch angreifen, wenn er zuvor eine Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren, das Verbot zur Ausübung einer be stimmten Tätigkeit von mindestens fünf Jahren oder eine Geldstrafe von mindestens 200.000 Australes (diesen Betrag konvertiert der Entwurf Beraldi in 50.000 argentinische Pesos) bean tragt hat. Gegen eine Verurteilung kann er nach Art. 358 Nr. 2 CPPN (1992) dann vorgehen, wenn damit eine Freiheitsstrafe verhängt wird, die unter der Hälfte der von ihm beantragten bleibt. Vgl. dazu oben 5. Kapitel, A. III. 3.
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dem Fiskal als Staatsorgan anders als dem Beschuldigten keine Rechtsmittel garantie zusteht.1112 IV. Zusammenfassung und Fazit
Im Ergebnis ist festzuhalten, dass der Entwurf Beraldi einen enormen Fort schritt zu einer besseren Abgrenzung von Anklage- und Urteilsfunktion darstellt. Die Verfasser ernten die Früchte der bis heute in Argentinien andauernden Diskus sionen zu diesem Thema und setzen die aktuellsten diesbezüglichen Erkenntnisse der argentinischen Rechtswissenschaft um. Dies beginnt bereits auf organisatorischer Ebene, wo die Anklagebehörde durch eine Reform des Gesetzes zur Organisation der Bundesstaatsanwaltschaft vom ge richtlichen Instanzenzug abgekoppelt und eigenständig strukturiert werden soll. Ein Ausbau der Hierarchie innerhalb der Staatsanwaltschaft sowie der Kontroll möglichkeiten von außen ist dabei zwar bedauerlicherweise nicht vorgesehen, dürfte sich aber angesichts der aus dem Präsidialsystem der argentinischen Verfas sung resultierenden Besorgnis einer politischen Beeinflussung des Anklageorgans auch in absehbarer Zeit nicht durchsetzen lassen. Im Verfahren wird die Stellung des Staatsanwalts durch die umfangreiche Inte gration von Parteielementen grundlegend aufgewertet. Zunächst ermittelt er im Vorverfahren, ob die Voraussetzungen für seine Anklageerhebung vorliegen, Art. 78 Abs. 1, 227 E Beraldi. Bis zum Beginn der Hauptverhandlung kann der Staatsan walt nach Art. 12 E Beraldi in begrenztem Umfang nach Zweckmäßigkeitserwä gungen über die Anklage disponieren und Absprachen mit dem Beschuldigten ge mäß der Art. 322 ff. E Beraldi treffen. In der Hauptverhandlung präsentiert er nach den Art. 293, 294 E Beraldi selbst die seine Anklage begründenden Belastungs beweise und bindet das Gericht in seiner Urteilsfindung nicht nur an den von ihm bewiesenen Sachverhalt, sondern auch an die Obergrenze der von ihm beantrag ten Strafe, Art. 305 Abs. 3 E Beraldi. Die große Errungenschaft dieser Neuerun gen gegenüber dem bisherigen Modell des reformierten Inquisitionsprozesses be steht darin, dass sich auf diese Weise jegliche gegen den Beschuldigten gerichtete Angriffstätigkeit in der Person des Staatsanwalts konzentriert und dadurch die ob jektive Wahrheitsfindung eines absolut unparteilichen Gerichts sichergestellt wird. Daneben ist ein wichtiger Vorteil, dass der Staatsanwalt mit den ihm zur Verfügung gestellten Dispositionsbefugnissen zur Entlastung der Strafjustiz beitragen kann. Andererseits betont der Entwurf Beraldi aber nicht ausschließlich die Anklä gereigenschaft des Staatsanwalts, sondern auch diejenige als Staatsorgan, das zu 1112
Vgl. zum Ganzen die ausführlichen Erörterungen oben 5. Kapitel, A. III. 3. Nicht ganz unproblematisch ist allerdings, dass auch der Privatkläger von der Beschränkung des Art. 360 E Beraldi erfasst ist. Hier greift zumindest nicht das Argument, dass der Staat keine Abwehr rechte des Bürgers für sich in Anspruch nehmen kann.
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einer objektiven und gleichmäßigen Amtsausübung verpflichtet ist. Im Vorver fahren ermittelt der Staatsanwalt nicht wie ein Privatkläger einseitig, um seine Anklage zu begründen, sondern soll unvoreingenommen feststellen, ob ein für die Anklageerhebung ausreichender Tatverdacht besteht, oder nicht, vgl. Art. 226 E Beraldi. Zwar kann er bis zur Eröffnung des Hauptverfahrens unter bestimmten Voraussetzungen die Voruntersuchung beenden bzw. die Anklage fallen lassen, da bei handelt es sich aber um abschließend aufgezählte Ausnahmefälle, im Übrigen gilt das Legalitätsprinzip, Art. 9 E Beraldi, Art. 71 CP. Seine Absprachen mit dem Beschuldigten müssen auf der Beweislage, wie sie sich nach dem Ermittlungsver fahren darstellt, basieren, was stets durch ein Gericht zu kontrollieren ist, Art. 325, 327 Abs. 3 E Beraldi. Weiter vertritt er zwar in einer adversatorischen Hauptver handlung die Anklageseite, bleibt aber auch hier an einen objektiven Maßstab gebunden, Art. 78 E Beraldi. Gleiches gilt schließlich für seine Einlegung von Rechtsmitteln, die genauso zu Lasten wie zu Gunsten des Beschuldigten erfolgen soll, 341 Abs. 2 E Beraldi. Die Anklage einem Staatsorgan zu übertragen, beruht auf demselben Gedanken, der in letzter Konsequenz zum Inquisitionsprozess geführt hat, nämlich, dass der Staat, der sich die Strafgewalt exklusiv angeeignet hat, verpflichtet ist, seine Macht gleichmäßig und gerecht auszuüben. Der Staat kann sich daher nicht von Privaten abhängig machen, darf aber auch selbst nicht gleich einem Bürger ein seitig oder willkürlich agieren. Es ist also nur folgerichtig, dass der Staatsanwalt trotz der Ausweitung seiner Befugnisse seine Eigenschaft als Staatsorgan nicht verleugnet und im Grundsatz an einen objektiven Maßstab sowie an das Lega litätsprinzip gebunden ist. In der Figur des Staatsanwalts, der einerseits eine um fassende Anklagefunktion innehat und so die Unparteilichkeit des Gerichts sichert, andererseits aber auch selbst objektiv sein muss, manifestiert sich der gegen wärtige Schlusspunkt der zunehmenden Integration von Parteielementen in das ar gentinische Strafverfahren. Dem Staat wird auf diese Weise die größtmögliche Zu rückhaltung bei der Ausübung seiner Strafgewalt auferlegt, gleichzeitig wird der Anspruch einer gleichmäßigen und gerechten Strafverfolgung aber konsequent umgesetzt. Die klare Aufgabenverteilung zwischen dem ermittelnden Staatsan walt und dem kontrollierenden Richter sowie die durchgehende Objektivitäts pflicht auch des Staatsanwalts bilden im Entwurf Beraldi den gemeinsamen Nen ner zwischen einem Vorverfahren, das vorwiegend inquisitorisch ausgestaltet ist, sowie dem adversatorischen Hauptverfahren. Der lediglich graduelle Unterschied, dass der Staatsanwalt zunächst zur Vorbereitung der Anklage unter geringerer Beteiligung des Beschuldigten umfassend ermittelt, während er später auf einer Ebene mit dem Angeklagten steht, zeigt, dass die Kategorien „adversatorisch“ und „inquisitorisch“ bei einem solchen Verfahren an ihre Grenzen stoßen. Der Entwurf Beraldi ist im wahrsten Sinne des Wortes ein sistema mixto, ein „gemisch tes Verfahren“.
Schlussbetrachtung und Ausblick Die vorliegende Arbeit begann mit der Feststellung, dass es Aufgabe des Straf prozesses ist, eine objektive, gerechte Ausübung der Strafgewalt durch den Staat zu gewährleisten. Die über das spanische Kolonialrecht nach Argentinien gelangte inquisitorische Verfahrensstruktur ist ihrem Grundgedanken nach Ausdruck der staatlichen Verpflichtung zu einer objektiven und lückenlosen Strafverfolgung, hat aber vielfach das genaue Gegenteil bewirkt. Die Machtkonzentration in der Per son des Richters, die ihn über jegliche Bindung an Parteiinteressen erheben und so seine Objektivität sichern sollte, gefährdete diese Objektivität gleichzeitig ge rade wieder, indem sie den Richter psychologisch überforderte. Und der Anspruch einer gleichmäßigen und damit gerechten Verfolgung aller begangenen Straftaten hat in der argentinischen Realität die Justiz zunehmend überlastet und so verdeckte Auswahlprozesse zu Lasten der ohnehin sozial Benachteiligten entstehen lassen. Aus diesem Kontext heraus gewinnt die hier untersuchte Entwicklung der Rolle des Staatsanwalts im argentinischen Strafverfahren ihre Bedeutung. Es konnte her ausgearbeitet werden, wie über die Figur des staatlichen Anklägers ursprünglich dem adversatorischen Verfahren entstammende Elemente in den argentinischen Inquisitionsprozess integriert wurden, um dessen Schwächen entgegenzuwirken. Ausgesprochen aufschlussreich war es in diesem Zusammenhang, die Wechsel wirkung zwischen den Anklageelementen in der staatsanwaltlichen Stellung und dem inquisitorischen Gesamtsystem näher zu betrachten. Lange dominierte das inquisitorische Verfahrenskonzept völlig die Ausge staltung des Staatsanwalts, den man als Rechtsprechungsorgan mit nur sehr be schränkten Anklagebefugnissen verstand. Der Anklagegrundsatz ließ sich so mit der richterlichen Wahrheitsfindung vereinbaren, die bisherigen Verfahrensmängel bestanden allerdings weitgehend fort. Umso umfangreicher werden die staatsan waltlichen Aufgaben im gegenwärtig noch andauernden Reformprozess erweitert, was eine Fülle interessanter Erkenntnisse zu Tage fördert. Es hat sich gezeigt, dass auch die neu hinzugekommenen Befugnisse des Staatsanwalts zunächst nicht als solche eines auf einer Ebene mit dem Beschuldigten stehenden Anklägers ausge legt worden sind, sondern an die inquisitorische Verfahrenslogik der hoheitlichen staatlichen Untersuchung angepasst bzw. in sie übersetzt1113 wurden. Hier mani festierte sich dann aber der Widerspruch, der darin besteht, Befugnisse, die ihrem 1113
Der Begriff der „Übersetzung“ (Translation) systemfremder Elemente in eine andere „Verfahrenssprache“ (procedural language) wird vorgeschlagen von Langer, in: Harvard Inter national Law Journal 45 (2004), S. 29 ff. Siehe zu Langers Terminologie der Verfahrenssprache auch schon oben Fn. 47.
Schlussbetrachtung und Ausblick
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Ursprung nach dazu dienen, dass ein Privatkläger mit den gleichen Waffen wie der Beschuldigte sein einseitiges Interesse verfolgt, auf den argentinischen Staats anwalt zu übertragen, der als Staatsorgan hoheitlich handelt und zur Objektivität verpflichtet ist. Es entstand mit zwei nebeneinander ermittelnden Staatsorganen, den Absprachen zwischen Anklage und Verteidigung sowie dem bindenden staats anwaltlichen Abschlussantrag in einer inquisitorischen Hauptverhandlung ein un klares Kompetenzengewirr zwischen Staatsanwalt und Richter, das die eigentliche richterliche Wahrheitsfindung beeinträchtigt und teilweise sogar ganz aushebelt, ohne sie gleichwertig oder besser zu ersetzen. Als erfolgversprechender erweist sich demgegenüber der Ansatz der aktuells ten Reformbemühungen, die durchgängig eine klare Rollenverteilung zwischen Staatsanwalt und Richter wie im adversatorischen Verfahren vorsehen, dem An kläger als Staatsorgan aber gleichzeitig eine umfassende Objektivitätspflicht auf erlegen. Der Staat steigt danach in Person des Staatsanwalts auf die Ebene des Be schuldigten herab und strebt Waffengleichheit mit ihm an, begibt sich aber nicht der Legitimation für sein Strafmonopol, sondern stärkt sie sogar, indem er die Ob jektivität des Urteilsspruchs absichert. Gleiches gilt für die Befugnisse des Staats anwalts, unter bestimmten Voraussetzungen Zweckmäßigkeitsgesichtspunkte zu berücksichtigen. Sie sind für die Funktionsfähigkeit der Strafjustiz unerlässlich und fördern die Gerechtigkeit der staatlichen Strafverfolgung, statt sie zu beein trächtigen. Die mit der Staatsanwaltschaft integrierten Parteielemente verfälschen so nicht das dem Strafverfahren zugrunde liegende zweiseitige Gewaltverhältnis zwischen Staat und Bürger, sondern sorgen lediglich für eine Aufspaltung inner halb der Staatsmacht, die es ihr ermöglicht, ihrer aus der Strafhoheit resultierenden Verpflichtung zur unparteilichen Entscheidungsfindung gerecht zu werden. Dass sich ein solches wahrhaft „gemischtes System“ bereits in naher Zukunft in Argentinien umfassend wird durchsetzen können, ist unwahrscheinlich. Die tra ditionelle Rollenverteilung zwischen Staatsanwalt und Richter ist sowohl durch ein starkes dogmatisches Fundament als auch durch die Gewöhnung der Rechts anwender tief im argentinischen Strafverfahrensverständnis verankert. Dessen ungeachtet sind mit den in dieser Arbeit untersuchten Reformen und Reform projekten bereits erste Schritte zu einer grundlegenden Umgestaltung der staat lichen Machtverteilung im argentinischen Strafverfahren getan. Und es besteht kein Zweifel daran, dass sich dieser Prozess auf Dauer fortsetzen wird, denn zu viele schwerwiegende Probleme bleiben nach den bisherigen Modifikationen noch ungelöst. Für jeden an der Fortentwicklung des Strafverfahrensrechts Interessier ten wird es daher auch in Zukunft ausgesprochen lohnenswert sein, den Blick nach Argentinien zu richten.
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Personen- und Sachverzeichnis Absprachen siehe Opportunitätsprinzip, Ab sprachen adversatorisches Verfahren 17–18, 24–26, 28–29, 85, 256–257, 293–294 –– verstaatlichtes 34–39, 320–325, 325–327 akkusatorisches Verfahren 23 Alberdi, Juan Bautista 65–66 Alexander VI. 44 Alfons X. 26 Alfonsín, Raúl 115, 169, 206, 211 Almeyra Nazar, Miguel Ángel 170 Amtsermittlungsgrundsatz 26, 39, 41–42, 55, 273, 279–280, 283–285, 288–292, 316 Anklageform 38 Anklagegrundsatz 37, 60, 74–75, 127, 190, 199–200, 249, 250–254, 256–257, 258, 275, 315, 324 –– formeller 41–42, 136, 163, 225–226, 279–281, 283–285, 294, 295, 296 –– materieller 41–42, 279–281, 283–285 Aragoneses Alonso, Pedro 17 Arce-Entscheidung siehe Oberster Gerichts hof Argentiniens, Arce Entscheidung des Attorney General 29–30 Avellaneda, Nicolás 76, 80, 81, 98 Ayarragaray, Carlos A. 121 Beibringungsgrundsatz 317–318 Beraldi, Carlos Alberto 300 Berufung 133, 209, 289–290 Beweisverwertungsverbot 32, 94–95, 196 Binder, Alberto M. 170 Bonaparte, Napoleon 60 Bovino, Alberto 266, 272 Bruzzone, Gustavo A. 268 Bundesgerichtsbarkeit 68–69, 106–107 –– Organisation der 210 Cafferata Nores, José I. 170, 262 Casa de Contratación 44
Caseres-Entscheidung siehe Oberster Ge richtshof Argentiniens, Caseres-Entschei dung des Caudillismo 60 citación directa 158, 188, 229 Code d’Instruction Criminelle von 1808 35 Código Penal siehe Strafgesetzbuch Argen tiniens Columbus, Christoph 43 Comisión Nacional sobre la Desaparición de Personas siehe CONADEP common law 28–29, 37 CONADEP 170 Coni, Emilio 99 Consejo de Indias 45 Constitución Nacional siehe Verfassung Ar gentiniens Constitutio Criminalis Carolina 26 Cortés, Gerónimo 116 Crown Prosecution Service 30 D’Albora, Francisco J. 280, 282 De la Plaza, Victorino 77 De la Rúa, Fernando 299 década infame 139 derecho indiano 46 Di Corleto, Julieta B. 237 Díaz de Solís, Juan 44 Dispositionsmaxime siehe Verfügungsgrund satz double jeopardy siehe ne bis in idem Duarte de Perón, María Eva 139 Edward IV. 29 Ermittlungsrichter 171, 188–192, 194, 197, 244, 310 Fayt, Carlos S. 280, 281, 282 Fernández de Kirchner, Cristina 299 Fiskal 55–58, 124 –– Agente Fiscal 53, 105, 112, 145, 178, 304, 305
Personen- und Sachverzeichnis –– Fiscal ante los jueces de primera instan cia 214 –– Fiscal Auxiliar 214, 304, 305 –– Fiscal de Cámara 145 –– Fiscal de Estado 148 –– Fiscal de Tribunal Superior 145–146 –– Fiscal General 177–178, 214–215, 304– 305 –– Procurador de Tesoro 148 –– Procurador Fiscal 108–109, 112 –– Procurador Fiscal de Cámara 107–108, 112 –– Procurador General de la Nación 107, 111, 177, 213, 220–221, 240–241, 254, 303, 304 Föderalisten 61 Folter siehe Inquisitionsprozess, Folter im Friedrich II. 25 Frondizi, Arturo 115, 139 Fueros 46 Gemeines Recht siehe ius commune Geschworenengericht 20, 24, 35, 66–67, 72– 75, 79–80, 90–91, 96–97, 301 Gewaltenteilung 190 –– im Strafverfahren siehe Strafverfahren, checks and balances im Giroldi-Entscheidung siehe Oberster Gerichts hof Argentiniens, Giroldi-Entscheidung des González, Florentino 77 González, Joaquín V. 116–117 Gorostiaga, José Benjamín 63 Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung und Bilanzierung (GoB) siehe auch Maß geblichkeit handelsrechtlicher GoB guerra sucia siehe Verschwindenlassen Gutiérrez, Juan María 63 Hassemer, Winfried 202, 262 Hyperpräsidentialismus 66–67, 211–212, 307 Illia, Arturo Umberto 139 Imposition von fremdem Recht 48 impunidad 258–259 Indias 44 Innozenz III. 25 Inquisitionsmaxime siehe Amtsermittlungs grundsatz
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Inquisitionsprozess 15, 16, 26–28, 85, 266, 269 –– Beweismittel im 51 –– Folter im 51 –– Heimlichkeit des 49 –– reformierter 17–18, 39–45, 256–257, 283– 285, 288–292, 325–327 instrucción sumaria 142–143, 207, 238–241, 243 ius commune 26, 27 Jescheck, Hans-Heinrich 19 Jofré, Tomás 117 Juan I. 54 Judikative 191–192 –– Staatsanwaltschaft als Teil der siehe Staatsanwaltschaft, als Teil der Judikative juicio abreviado 271–280, 315–317 Jury siehe Geschworenengericht justices of the peace 30 justicia ordinaria 106–107, 212 justicialismo siehe Peronismus Justizpolizei siehe Polizei als Justizpolizei kanonisches Recht 25, 47–48 Karl V. 26 Kirchner, Néstor C. 299 kontradiktorisches Verfahren 280 siehe auch Strafverfahren, kontradiktorisches Laienrichter siehe Geschworenengericht Legalitätsprinzip 87, 132–134, 166, 184, 203–204, 218, 250, 251–254, 259–261, 276, 280–281, 294, 299, 313–315 Levene (h.), Ricardo 19, 175–176, 207, 227, 229, 249–250, 256, 294 ley de obedencia debida 169 ley de punto final 169 Maier, Julio B. J. 19, 81–82, 138, 160, 170, 187, 189, 193, 195, 196, 198, 280, 282, 286, 289, 321 Maqueda, Juan Carlos 254 Martínez de Perón, María Estela 139, 207 Meneghini, Javier R. 239 Menem, Carlos Saúl 111, 175, 207, 211, 299 ministère public 36 Ministerio Público Fiscal 108
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Personen- und Sachverzeichnis
Mitre, Bartolomé 76 Mittermaier, Carl Josef Anton 37, 78 Mostaccio-Entscheidung siehe Oberster Ge richtshof Argentiniens, Mostaccio-Ent scheidung des ne bis in idem 96, 290, 292–293 Nulla poena sine lege siehe Rückwirkungs verbot Obarrio, Manuel 81, 99, 124, 249–250, 256, 257 Oberster Gerichtshof Argentiniens 69–70, 77 –– Arce-Entscheidung des 289 –– Caseres-Entscheidung des 280 –– Giroldi-Entscheidung des 289 –– Mostaccio-Entscheidung des 281 –– Quiroga-Entscheidung des 254–256 –– Santillan-Entscheidung des 278–279, 311 –– Tarifeño-Entscheidung des 275 Oberster Gerichtshof Córdobas 145–146, 281–282 Opportunitätsprinzip 18, 39, 87, 262–264, 315–320, 325–327 –– Absprachen 18, 33, 39, 200, 271–280, 298–299, 315 –– im weiteren Sinne 272–273, 313 Pakt von Olivos 211 PAN siehe Partido Autonomista Nacional Parteiverfahren 23 Partido Autonomista Nacional 98 Peña, Ernesto S. 140 Perón, Juan Domingo 139 Peronismus 139 Philipp II. 52 plena et legitima probatio siehe Inquisitions prozess, Beweismittel im policía judicial siehe Polizei, Justizpolizei politischer Prozess 71 Polizei 78, 86, 100, 187, 247–249 –– als Ankläger 30 –– als Hilfsorgan der Staatsanwaltschaft 171, 185, 238, 246–247 –– als Justizpolizei 156, 247–248 –– Ermittlungen der 32, 83, 126, 193, 196 –– Verfahrenseinleitung durch die 228–229 Popularklage 24
Privatklage 56–57, 83, 124, 128, 255–256, 278–279, 311, 317, 319 Procurador de Tesoro siehe Fiskal, Procura dor de Tesoro Procurador Fiscal siehe Fiskal, Procurador Fiscal Procurador General de la Nación siehe Fis kal, Procurador General de la Nación Protector de los Indios 54 Prozessbeschluss 208, 232 Quiroga-Entscheidung siehe Oberster Ge richtshof Argentiniens, Quiroga Entschei dung des Real Audiencia 45, 104 Rechtsfamilie 16, 23 Rechtsmittel 59–60, 80–81, 96–98, 102, 135– 137, 136, 143–144, 167–169, 173–174, 203–204, 209, 294–300, 302, 322–323 –– als Verfahrensgarantie 294–300 –– Entstehung der 59–60, 290 –– Rücknahme von 134–135, 166–167 Rechtsstaat 15 Recopilación de las Indias siehe derecho in diano reformatio in peius 291, 293 reformierter Inquisitionsprozess siehe Inqui sitionsprozess, reformierter Reichsstrafprozessordnung von 1879 17 requerimiento 153, 208, 225 Rezeption von fremdem Recht 48 Rivarola, Rodolfo 109 Roca, Julio Argentino 80, 81, 98, 115 Roger, Oscar Eduardo 111 Rosas, Juan Manuel de 61 Rückwirkungsverbot 71 Sáenz Peña, Roque 99 San Martín, José de 60 Santillan-Entscheidung siehe Oberster Ge richtshof Argentiniens, Santillan-Entschei dung des Sarmiento, Domingo Faustino 76, 77 Schuldinterlokut 202 Shoemaker, Karl B. 31 Siete Partidas 26, 46 –– Strafprozess der 51–53
Personen- und Sachverzeichnis sistema mixto 35, 195, 210, 282, 323, 325 Soberano, Marina V. 237 Soler, Sebastián 140 Staatsanwaltschaft –– als Teil der Exekutive 70–71, 119–122, 183–186, 271 –– als Teil der Judikative 70–71, 121–123, 152–155 –– als vierte Staatsgewalt 122, 223–228, 307–308 –– als Wächter des Gesetzes 16, 295 –– Beweisantragsrecht der 58–59, 126, 132, 142, 164, 185, 201, 273 –– Ermittlungen der 84–85, 162–170, 197– 210, 244–259, 297–298, 309–311 –– Geschichte der 15 –– grundsätzliche Rolle der 17 –– in den Vereinigten Staaten von Amerika 31–33, 83, 86, 87, 88, 92, 93, 193, 199, 292, 315 –– in Deutschland 18–19, 36, 38, 39, 117, 123, 146, 149, 171, 187, 192, 201, 245, 246, 248, 261, 263, 312, 314 –– in England 30–31 –– in Frankreich 37–38, 120 –– in Italien 121–122, 152, 155, 159 –– in Schottland 30 –– Objektivität der 33, 56, 60, 92–93, 130, 184, 194–197, 319–320, 325 –– Waffengleichheit mit der siehe Waffengleichheit –– Weisungsgebundenheit der 36, 110–112, 114–115, 117–119, 179–180, 216–217, 218, 305–306 –– Zweckmäßigkeitserwägungen der siehe Opportunitätsprinzip Strafgesetzbuch Argentiniens 67–68, 131– 132, 260, 262, 312–313 Strafgewalt 15 Straflosigkeit siehe impunidad Strafverfahren –– als Ausdruck von Rechtsstaatlichkeit 15 –– checks and balances im 135, 187 –– kontradiktorisches 165, 202–203, 233, 273, 276, 282, 284 –– Reform in Argentinien 21–23 –– Reform in Deutschland 17 –– Reform in Kontinentaleuropa 39–44
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–– Reform in Lateinamerika 19–20 –– Systeme siehe adversatorisches Verfahren; Inquisitionsprozess Tarifeño-Entscheidung siehe Oberster Gerichtshof Argentiniens, Tarifeño-Entscheidung des Transplantation von fremdem Recht 48 UCR siehe Unión Civica Radical Unión Civica Radical 99–100 Unitarier 61 Untersuchungshaft 101, 156, 171, 185, 208, 265, 301, 308, 315 Untersuchungsrichter 38, 100, 101, 125, 126, 136, 141, 142, 143, 145, 154, 159, 161, 184, 187, 193, 196, 197, 209–210, 226– 227, 229, 244, 297 Uriburu, José Felix 139 Vázquez, Adolfo R. 281 Vélez Mariconde, Alfredo 120, 140, 165, 188 Verfahrenssprache 28, 324 Verfassung Argentiniens 20, 60–75 Verfügungsgrundsatz 24, 270–271, 279–281 Verhandlungsgrundsatz siehe Beibringungsgrundsatz Verschwindenlassen 139, 169 verstaatlichtes adversatorisches Verfahren siehe adversatorisches Verfahren, verstaatlichtes Verteidigung 16, 24, 27, 34, 51, 57, 62, 71, 284–285 Vertrag von Tordesillas 43 Waffengleichheit 94–95, 196–198, 239, 270, 287, 293, 297, 311, 320–321 Wahrheit –– Findung der 28–29 –– formelle 26, 267 –– materielle 26, 267 Wilde, Eduardo 99, 116 Wilhelm der Eroberer 28 Yrigoyen, Hipólito 99 Zweckmäßigkeitserwägungen siehe Opportunitätsprinzip