Die anderen Gurlitts: Unterwegs zu einer Familiengeschichte 9783534404650, 9783534404674, 9783534404667, 3534404653

Um den Maler Louis Gurlitt, der die Schwester der deutsch-jüdischen Schriftstellerin Fanny Lewald heiratete, ranken sich

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German Pages 428 [426] Year 2021

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Table of contents :
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Impressum
Inhalt
Einleitung
Warum die Gurlitts nicht dieBuddenbrooks sind. Familien-Narrativund Generationen-Diskurs
1 Wiedersehen in Düsseldorf
2 Das Buddenbrooks-Narrativ
3 Familien-Narrative
4 Der Fall der Gurlitts
Geschichte und Familiengeschichte.Johann Gottfried Gurlitt und JohannAugust Wilhelm Gurlitt
1 Anfänge
2 Johann Gottfried Gurlitt (1754–1827)
3 Vom Ansehen
4 Johann August Wilhelm Gurlitt (1774–1855)
Die „liebende Tante Fanny Lewald Stahr“
„Einfalt des Empfindens“ – „Natur ansich“. Louis Gurlitts Landschaften undihre familiale Überlieferung
Der klassische Archäologe Wilhelm Gurlittim Netz der Altertumswissenschaft
Cornelius Gurlitt.Modern „Barockforscher“ and theInterconfessional Family History
Ein Bildungsreformer, der „seinHandwerk treibt wie ein Künstler“.Ludwig Gurlitt
Das Familienerbe im Künstlerleben.Ludwig Gurlitts Biographie seines Vaters
Einleitung
1 Biographie – Familie – Vererbung
2 Gurlitt über Gurlitt: Künstler-,Vater- und Familienbiographie
Else Gurlitt. Ein Leben zwischensechs Brüdern
1 Das familiäre Umfeld
2 Wien (1855–1859)
3 Gotha-Siebleben, Schloss Mönchshof, 1859–1872
4 Dresden 1872–1888
5 Berlin-Steglitz 1888–1917
6 München 1916–1926; Stuttgart / Esslingen 1926–1931
Kunst leben. Wolfgang Gurlittsexpressionistische Wohnräume zwischen Kunstförderung, Galerieerweiterung und extravagantem Lifestyle
Lucie Lipman-Wulfs Büste von ManfredGurlitt. Zu einem Fund aus dem Foto-Bestand Wolfgang Gurlitt
Der Musikwissenschaftler Wilibald Gurlitt
Das kurze Leben einer deutschen Expressionistin. Ein Radio-Feature zum 100. Todestag von Cornelia Gurlitt
Anmerkungen
Zu den Autorinnen und Autoren
Personenregister
Backcover
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Die anderen Gurlitts: Unterwegs zu einer Familiengeschichte
 9783534404650, 9783534404674, 9783534404667, 3534404653

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Ursula Renner ist Professorin für Literatur- und Kulturwissenschaften. Seit ihrer Pensionierung lebt sie in Freiburg im Breisgau.

www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40465-0

Ursula Renner (Hg.) Die anderen Gurlitts

Die Familie Gurlitt ist mehr als eine skandalträchtige Kunstsammlerfamilie, mehr auch als eine Reihe von verwandten Personen hinter Werken der Malerei, Musik, Kunstgeschichte oder anderen Wissenschaften. Sie ist ein Geflecht von Schicksalen im 19. und 20. Jahrhundert, bei denen sich Privates, Politisches und Ökonomisches durchdringt. Die Lebensgeschichten, die hier in 14 historischen Fallstudien gesammelt sind, berühren sich im familiären Austausch und driften doch in alle Richtungen wieder auseinander.

Ursula Renner (Hg.)

Die anderen Gurlitts Unterwegs zu einer Familiengeschichte

Ursula Renner (Hg.)

Die anderen Gurlitts

Ursula Renner (Hg.)

Die anderen Gurlitts Unterwegs zu einer Familiengeschichte

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar

wbg Academic ist ein Imprint der wbg © 2021 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Satz und eBook: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40465-0 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-40467-4 eBook (epub): 978-3-534-40466-7

Inhalt Einleitung – Ursula Renner.................................................................................................................... 6 Warum die Gurlitts nicht die Buddenbrooks sind. Familien-Narrativ und GenerationenDiskurs – Anna Kinder......................................................................................................................... 15 Geschichte und Familiengeschichte. Johann Gottfried Gurlitt und Johann August Wilhelm Gurlitt – Heinrich Bosse...................................................................................................... 26 Die „liebende Tante Fanny Lewald Stahr“ – Gabriele Schneider................................................... 48 „Einfalt des Empfindens“ – „Natur an sich“. Louis Gurlitts Landschaften und ihre familiale Überlieferung – Jana Kittelmann................................................................................ 66 Der klassische Archäologe Wilhelm Gurlitt im Netz der Altertumswissenschaft. Mit einem Anhang: Briefwechsel zwischen Cornelius und Wilhelm Gurlitt über „das Schöne in der Kunst“ – Justus Cobet .......................................................................................................................... 86 Cornelius Gurlitt. Modern „Barockforscher“ and the Interconfessional Family History – Evonne Levy....................................................................................................................... 122 Ein Bildungsreformer, der „sein Handwerk treibt wie ein Künstler“. Ludwig Gurlitt – Ursula Renner........................................................................................................ 132 Das Familienerbe im Künstlerleben. Ludwig Gurlitts Biographie seines Vaters – Stefan Willer.......................................................................................................................... 155 Else Gurlitt. Ein Leben zwischen sechs Brüdern – Elizabeth Baars............................................. 169 Kunst leben. Wolfgang Gurlitts expressionistische Wohnräume zwischen Kunstförderung, Galerieerweiterung und extravagantem Lifestyle – Sonja Feßel..................... 218 Lucie Lipman-Wulfs Büste von Manfred Gurlitt. Zu einem Fund aus dem Foto-Bestand Wolfgang Gurlitt – Sonja Feßel................................................................................. 252 Manfred Gurlitt. Ein Künstler zwischen den Stühlen – Hans-Joachim Bieber........................... 256 Der Musikwissenschaftler Wilibald Gurlitt – Rainer Bayreuther................................................. 280 Cornelia Gurlitt. Ein Biogramm in Bildern – Hubert Portz.......................................................... 301 Das kurze Leben einer deutschen Expressionistin. Ein Radio-Feature zum 100. Todestag von Cornelia Gurlitt – Frank Odenthal................................................................... 322 Anmerkungen...................................................................................................................................... 344 Zu den Autorinnen und Autoren...................................................................................................... 404 Register................................................................................................................................................. 409 5

Abb. 1: Der Stammbaum der Familie Gurlitt (Auszug), die im Buch vorgestellten Mitglieder sind durch Fettdruck hervorgehoben

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Einleitung „Von dir höre ich viel Erfreuliches“, schrieb der Kunst- und Architekturhistoriker Cornelius Gurlitt im Frühjahr 1922 an seinen ältesten Sohn Wilibald, der als Professor für Musik­ wissenschaften an der Universität Freiburg wirkte und soeben vom Badischen Staatsministerium zum Mitglied der musikalischen selbständigen Kammer für Württemberg, Baden und Hessen ernannt worden war.1 „Man fragt mich schon, ob ich dein Vater sei. Erst war ich meines Vaters Sohn, dann Fritz Gurlitts Bruder, gelegentlich auch der Neffe von Cornelius Gurlitt – nun komme ich zu neuen Würden!“2 Diese stolz und mit leichter Ironie berichtete Verschiebung der öffentlichen Wahrnehmung ist interessant. Für uns heute wäre Cornelius Gurlitt II. (1850–1938) der Vater von Hildebrand Gurlitt (1895–1956), dem „Kunsthändler Hitlers“, und der Großvater des unglückseligen Cornelius Gurlitt III. (1932–2014). Eine Fülle von Namen, teils sogar identisch, eine Fülle von familiären Beziehungen und dazu die unstete öffentliche Aufmerksamkeit. Es ist eine kaum überschaubare Familie, der die Skandalfiguren unserer Gegenwart, Hildebrand und Cornelius III, ihre Herkunft verdanken. Gegenstand unseres Buches sind nicht die grellbeleuchteten Figuren, sondern die, die im Schatten stehen und doch dazu gehören. Sie öffnen einen Blick zurück auf mehrere Generationen des weiland deutschen Bürgertums und zugleich nicht nur deutscher Kulturgeschichte. Die Schlüsselfigur im Familiennarrativ ist sicherlich der Landschaftsmaler Louis Gurlitt (1812–1897), gewissermaßen ihr Rückgrat. Um die Jahrhundertwende tragen dann seine publizierenden und vielfältig agierenden Söhne  – vor allem Cornelius, Fritz und Ludwig  – den Familiennamen in eine breite Öffentlichkeit. Der Artikel, den die Wiener Neue Freie Presse im Juni 1897 anlässlich der Goldenen Hochzeit von Louis Gurlitt und seiner Frau Elisabeth, der assimilierten jüdischen Schwester von Fanny Lewald, veröffentlicht, feiert und verabschiedet gleichsam den „Hofrath“ und „Professor“ titulierten Maler. Am Horizont der österreichischen Prominenz tauchen bereits die Söhne auf: Gurlitt hat eine geraume Zeit in Wien zugebracht. Er kam im Jahre 1850 hieher, wo er in Friedrich Hebbel einen langjährigen Freund besaß, und wurde bald heimisch. Professor Brücke, der große Physiologe, und Professor Ludwig wurden seine intimen Freunde; namentlich war er auch in dem Kreise heimisch, der sich um Frau v. Wertheimstein sammelte. Baron und Baronin Todesco, Bauernfeld, Castelli und die ganze ‚Gnomenhöhle‘, eine jener Gesellschaften, die vormärzlichen Geist auf nachmärzliche Zeit zu

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übertragen verstanden, standen ihm herzlich nahe. Auch in der Aristokratie erwarben ihm seine Kunst und nicht minder seine gesunde, herzliche und anspruchslose Freude an Geselligkeit viele Freunde. Der Altgraf Hugo zu Salm-Reifferscheidt, dessen geistvolle Gemalin [!], die Fürstin Elise, die Gräfin Saint-Genois und Andere sahen Gurlitt und seine Familie oft in ihrem Kreise, auch noch dann, als er 1859 Wien mit Gotha vertauscht hatte. Einer seiner Söhne, Professor Dr. Wilhelm Gurlitt, ist in Oesterreich geblieben und seit Jahren als Lehrer der Archäologie an der Universität Graz thätig. Frau Gurlitt, die Schwester der Fanny Lewald-Stahr, ist eine geborene Königsbergerin. Louis Gurlitt gehörte als geborener Altonaer in seiner Kunstrichtung jener Hamburger Schule an, welche, unbeeinflußt durch Akademien, die alte Technik und Naturliebe der Holländer in sich fortbildete. Namentlich auf Andreas Achenbach hat Gurlitt einen starken Einfluß gehabt durch seine norwegischen Landschaften. Später hat er in Italien in einem Sinne geschaffen, der das Gefühl für architektonische Linie in der Natur mit Realismus zu vereinen strebte. Hebbel und andere Dichter feierten ihn damals als einen Erschließer der Schönheit italienischer Landschaft. Sein bescheidenes Zurückhalten, seine Abneigung vor dem Lärm der Welt und seine ganze verinnerlichte Natur hielten ihn von jedem Hervortreten ab. In Siebleben bei Gotha als Nachbar Gustav Freytag‘s auf einer ihm vom Herzog von Coburg eingeräumten Villa, später in Dresden und Steglitz lebend, erscheint er seit 15 Jahren mit dem ersten Frühlingstage in dem hübschen Weisowitzthale des Erzgebirges, wo er jetzt auch mit seiner Gattin im Familienkreise das Fest der goldenen Hochzeit zu feiern gedenkt.3

Louis Gurlitts Freundschaft mit Friedrich Hebbel aus der gemeinsamen Zeit in Rom, der ihm sogar ein Sonett gewidmet hatte („An meinen Freund Gurlitt“), wird für mehr als eine Generation zu einer Art Markenzeichen der Familie – von Hebbels Distanznahme ist dabei kaum je die Rede. Insbesondere der Reformpädagoge Ludwig Gurlitt (1855–1931), ein jüngerer Bruder von Cornelius II und dem Friedrich Hebbelschen Patenkind Fritz (1853–1893), hat durch die Publikation der Briefe seines Vaters mit Hebbel und durch eine Monographie über seinen Malervater nicht unwesentlich Öffentlichkeitsarbeit am Familienmythos betrieben. In der Binnenstruktur der Malerfamilie war eine besondere Konstellation dadurch gegeben, dass der zweimal sehr bald verwitwete Künstler den Sohn Wilhelm (genannt Memo, gesprochen Memmo) in seine dritte, langjährige Ehe mit Elisabeth Lewald mitbrachte. Für ihre gemeinsamen sechs Kinder (Otto, Cornelius, Fritz, Else, Ludwig, Hans) wuchs Memo eine besondere, zwischen brüderlicher Freundschaft und väterlicher Autorität changierende Rolle zu. Auch für die Stiefmutter war er eine Stütze, denn der Vater war durch seine Reisen zu den künstlerischen Objekten, den gesuchten eindrucksstarken Naturlandschaften, häufig lange abwesend. In 8

Einleitung

der Generation der Enkel von Louis Gurlitt kann man in Wilibald, dem ältestem Sohn von Cornelius II, eine vergleichbare Vertrauensperson der Eltern entdecken. Nach dem Zweiten Weltkrieg scheint die Louis Gurlittsche Enkel-Generation gleichsam herren- und beratungslos geworden zu sein, auch wenn Wilibald Gurlitt, der wegen seiner „Jüdischen Versippung“ 1937 seine Professur in Freiburg verloren hatte, wieder an der Universität installiert wird. Was aber viele Mitglieder verbindet, ist das weitergereichte, nachhaltige Interesse an Kunst, am Kunstbetrieb, am Kunsthandel. Als im Juni 1945 Wilibalds jüngerer Bruder Hildebrand (1895–1956) von dem amerikanischen Kunstschutz-Offizier Dwight McKay vernommen wird, redet „der Kunsthändler Hitlers“ gewissermaßen um sein Leben. Er soll seine Funktion unter den Nazis offenlegen, die Ankäufe für das „Führermuseum“ in Linz, seine Geschäfte im besetzten Paris, die Raubkunst von jüdischen Familien, die Netzwerke. „Unter Eid schildert Gurlitt in groben Zügen den Hergang der Dinge und das geschäftliche Procedere“. Bei den Verhören rückt er immer wieder „seine honorige Familie in den Vordergrund, den berühmten Vater [Cornelius] und den nicht weniger bekannten Bruder [Fritz], nennt die Zurücksetzungen, die sie durch die Nationalsozialisten erlitten haben. Außerdem erwähnt er den großmütterlichen Zweig der Familie, die Großtante und Schriftstellerin Fanny Lewald sowie den Onkel Theodor Lewald“.4 Lewald, dieser hochangesehene jüdische Verwaltungsbeamte und Sportfunktionär unter Hitler, war der Vetter des Vaters. 1936 stand er dem Organisationsteam der Olympischen Spiele vor. Hildebrand Gurlitt betont, „dass er zweimal seinen Posten verloren hat aufgrund seines Eintretens für die moderne Kunst. Als ‚Mischling II. Grades’ habe er vor der Wahl gestanden, entweder nach Paris zu gehen oder für die berüchtigte ‚Organisation Todt‘5 eingezogen zu werden, die als Bautruppe zur Errichtung von Wällen und Raketenabschussrampen für das Militär eingesetzt wurde.“6 In der Verhör-Situation nach dem Krieg sucht Gurlitt mit seiner Familie, ihrem Namen, der Reputation einzelner Mitglieder, also seiner „Herkunft“, gleichsam ein Schutzschild vor die eigenen Handlungen zu stellen. Nachdem er sich durch die Entnazifizierungsprozesse laviert hat, bekommt er die beschlagnahmten Bilder zurück und sammelt viele von seinen ausgelagerten Schätzen wieder ein. 1948 wird er Leiter des Kunstvereins in Düsseldorf. Nach einem Autounfall stirbt er 1956, mit 61 Jahren. Sein Nachlass geht an die Ehefrau mit den zwei Kindern; Gralshüter des väterlichen Erbes wird nach ihrem Tod der Sohn Cornelius III. Dieser 1932 geborene Enkel des gleichnamigen Kunsthistorikers und Architekturtheoretikers war ein Sorgenkind gewesen: traumatisiert von den Bombenangriffen auf Hamburg, wo die Familie bis Februar 1941 wohnte, und dann auf Dresden, wo die Familie in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945 vollständig ausgebombt wurde.7 Er geriet in die Schlagzeilen, als man seinen, die gesamte zweite Jahrhunderthälfte verborgenen, gigantischen „Schwabinger Kunstschatz“ aufstöberte – eine causa, die noch einmal neu die Abgründe des Kunstmarktes im Nationalsozialismus zu beleuchten versprach, allerdings noch längst nicht abgeschlossen 9

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ist. Über den Ermittlungen von Behörden und Justiz verstarb Cornelius Gurlitt 2014. Hinterlassen hat er ein Testament und den erschütternden Satz: „Mehr als meine Bilder habe ich nichts geliebt in meinem Leben“. Inzwischen ist er auch Bühnenfigur. Ronald Harwood („Der Pianist“) hat den Fall des Münchner Kunstsammlers in dem Stück „Entartete Kunst“ dramatisiert; am 4. Oktober 2015 hat es im Renaissance-Theater in Berlin seine Uraufführung erlebt. Wissenschaftsgeschichtlich ist ein Effekt des Gurlitt-Skandals und der entflammten Raubkunstdebatte, dass die Provenienzforschung, eine „Hilfswissenschaft“ der Kunstgeschichte, nunmehr zur Königsdisziplin zu avancieren scheint,8 mindestens aber einen gleichrangigen Status gegenüber der herkömmlichen Kunstgeschichtsschreibung bekommen hat. Das bedeutet: nicht nur Quellen und Archivalien, auch die Handlungen und Kontexte um Kunstwerke und Sammelobjekte herum sind in den Focus geraten.9 Dass im Rahmen des „Kunstfunds Schwabing“ zugleich auch eine bedeutende expressionistische Künstlerin entdeckt wurde, ist eine besondere Pointe dieser Skandalgeschichte. Cornelia Gurlitt (geb. 1890), die Schwester von Hildebrand, schied nach der Rückkehr aus ihrem Kriegsdienst als Rotkreuzschwester in Vilnius im August 1919 freiwillig aus dem Leben. Ihr Bruder hat das Versprechen einer Ausstellung und Würdigung ihrer Arbeiten bedauerlicherweise nicht eingelöst, so dass ihre künstlerische Hinterlassenschaft, sofern sie sich noch erhalten hat oder durch den ‚Fall Gurlitt‘ ans Licht gekommen ist, noch einer wissenschaftlichen kunsthistorischen Auseinandersetzung harrt.

Familiengeschichtsschreibung als Konzept und Aufgabe Auf mindestens zwei, wenn nicht drei großen Feldern bewegen wir uns mit unserem Band. Zum einen verfolgen wir das Thema der Biographie und Biographieforschung.10 Zum anderen arbeiten wir im großen Feld der Familien- oder Verwandtschaftsgeschichte. Mit ihr hat sich die Forschung über viele verschiedene Disziplinen hinweg beschäftigt.11 Wilhelm Heinrich Riehls Abhandlung über Die Familie12 mit seinen 17 Auflagen war bis weit ins 20. Jahrhundert eine Art Initiationstext. Anthropologie, europäische Ethnologie bzw. Volkskunde, die Rechts-, Staats- und Sozialwissenschaften und natürlich auch die Psychologie haben seither das Thema auf ganz unterschiedliche Weise beleuchtet.13 Biologie und Rassentheorie haben das Ihre dazu getan, Familienverhältnisse als „Blutsverwandtschaften“ über ethnische Merkmale, statistische Besonderheiten oder psychophysische Dispositionen zu konstruieren, wie es etwa Hans Kurella mit seiner parawissenschaftlichen Studie „Die Intellektuellen und die Gesellschaft. Ein Beitrag zur Naturgeschichte begabter Familien“ (Wiesbaden 1913) getan hat, um nur ein Beispiel zu nennen. Und auch der Reformpädagoge Ludwig Gurlitt steckt tief in unreflektierten 10

Einleitung

Ideologemen, wenn er nicht erst in den Zwanzigerjahren behauptet, dass die Familie die tragende Säule der Erziehung sei, und zwar „erstens die rechte Blutmischung durch die Eltern und zweitens ihre vorbildliche Lebensführung“, und ergänzt: „Alles andere ist nur Zutat.“14 Es ist klar, dass solche Konzepte hier keinesfalls bedient werden sollten. Und doch lässt sich ja nicht leugnen, dass wir im Fall einer exemplarisch beobachteten ‚Familie‘ immer auch in einer Geschichtserzählung und im Erzählen von Geschichten gefangen sind, was immer auch bedeutet, in voraussetzungsvollen Konstruktionen. Sowohl in der Vertikalen (historisch) wie in der Horizontalen (kulturell) ist ‚Familie‘ ein komplexes Gebilde. Welche Disziplin auch immer, von welchem Ort auch immer: Das Sprechen über Familie impliziert bewusst oder unbewusst Vorannahmen, die ideologisch oder metaphysisch grundiert sind, selbst da, wo das vermeintlich sachlichste biographische Faktenreferat waltet. Wenn wir ‚Familie‘ nicht geschichtsphilosophisch oder ideengeschichtlich, sondern kulturgeschichtlich auffassen, beobachten wir Geschichten, Symbole oder Zeichen, die das jeweilige ‚kulturelle System‘ mit Bedeutung versehen hat.15 Gerade hier haben die Historiker, die dynastischen ebenso wie die Alltagshistoriker, inzwischen reiches Material beigesteuert. Und hier wäre nun ein Komplex zu nennen, an den das Familienthema notwendig anschließt, das der Generation, und insbesondere an jene Forschung, die sich für generationelle Zusammenhänge und Weitergaben in Familien interessiert.16 Für das grundsätzliche Thema der Familiengeschichtsschreibung seit dem 19. Jahrhundert hat Karl August Varnhagen von Ense ein eindrucksvolles Zeugnis hinterlassen. Seine monumentalen „Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens“ (1837/42) eröffnen ein Erinnerungsprojekt mit einem ebenso differenzierten wie auch panoramatischen Blick: Familiennachrichten und Geschlechtsregister hat man bisher hauptsächlich nur aus Absichten der Eitelkeit und des äußern Vorteils gesammelt und aufgestellt, es ist aber kein Zweifel, daß solche auch zu einer tiefen und wichtigen Belehrung gereichen könnten, wenn man sie zu solchem Behuf einrichtete. Die Aufeinanderfolge, Verbreitung und Dauer eines Geschlechts, die Mischungen, welche es durch Aufnahme und Abgabe von Gliedern erfährt und bewirkt, die Verpflanzungen nach ändern Orten und Ländern, die Wandlungen der äußern Verhältnisse, die Gestaltungen der Charaktere und der Talente, alles dies würde, in gehöriger Masse bestimmter Einzelheiten übersichtlich dargelegt, der Gegenstand ungemein anziehender und lehrreicher Betrachtungen sein. Solche Fäden des Privatlebens — denn auch die Königsgeschlechter dürften in diesem Sinn keine ­andre Auffassung ansprechen —, durch größere Zeiträume fortgeführt, müßten selbst den Lauf der weltgeschichtlichen Ereignisse in einer eignen, neuen Verwebung und Färbung zeigen. Die fortschreitende Wissenschaft der geselligen Lebensverhältnisse, wozu doch, aus ihren geringen Anfängen, die statistischen Bemühungen sich künftig emporheben

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müssen, hätte die neuen Tatsachen zu ergreifen, und würde unfehlbar die außerordentlichsten, überraschendsten Folgerungen und Anwendungen daraus gewinnen. Es entstünde solchergestalt eine neue Art die Genealogie zu treiben, in einem höheren Sinn und zu edlerem Zweck, als die bisherige, nur der äußern Vornehmheit dürftig — und nicht selten unwahr — dienende. Freilich käme hierbei alles auf den eindringenden Blick und die ordnende Hand des Bearbeiters an. Ich will keineswegs ein solches Muster zu geben hier unternehmen […].17

Auch der vorliegende Band wird kein solches Muster geben. Trotzdem kann uns Varnhagen von Ense daran erinnern, was alles in den Blick gerät, wenn man den Modus einer regis­ trierenden oder instrumentalisierenden Genealogie verändert und ins Verhältnis setzt. Es ist beeindruckend, wie viele Aspekte schon Varnhagen beim Thema ‚Familiengeschichte‘ im Blick hatte. In unsere heutige Sprache übersetzt, könnte das vielleicht so lauten: „Familiennachrichten und Geschlechtsregister“ sind Quellen des Wissens und dienen der Belehrung. Sie informieren über die „Aufeinanderfolge“, also Genealogie (1), über ihre „Verbreitung“, d.  h. ihre demographisch-geographischen Raumbeziehungen (2), und über ihre „Dauer“, über ihre zeitliche Geltung oder Kontinuität (3). Sie informieren ferner über ihre „Mischungen […]“ durch „Aufnahme und Abgabe ihrer Glieder“, d.  h. ihre linearen und/oder kollateralen Beziehungen (4).18 Man erfährt etwas über ihre „Verpflanzungen nach ändern Orten und Ländern“, also Migrationsbewegungen (5), und über „Wandlungen der äußern Verhältnisse“, also Ökonomie (6); dazu über die „Gestaltungen der Charaktere und der Talente“, also Psychologie (7). Eine über einen längeren Zeitraum anzulegende Beobachtung des Verhältnisses zwischen den großen „weltgeschichtlichen Ereignissen“ und den „Privatleben“, könnte Geschichte neu bewerten helfen (8). Das heißt, Varnhagen erkennt die Möglichkeit neuer Perspektiven durch die Verknüpfung von Makro- und Mikrogeschichte. Die „Wissenschaft der geselligen Lebensverhältnisse“, eine Soziologie avant la lettre (9), zu der die neu eingeführte Statistik sich fortentwickeln müsse, könnte sozialpolitische Konsequenzen zeitigen. Diese „neue Genealogie“, so das Fazit, verspricht weitreichende, allgemein-bedeutsame Erkenntnisse. Wie sich etwa die Verknüpfung von persönlicher Geschichte und Weltgeschichte, und hier kehren wir zurück zu den Gurlitts, an einem einzigen Ereignis zeigen kann, belegt in dieser Familie z. B. eindrücklich ein Brief von Cornelius Gurlitt II., als er 1933 den Arier-Nachweis erbringen musste. Was man damals noch nicht wissen konnte, dass Herkunft schon sehr bald über Leben und Tod entscheiden würde, ist hier im Vorfeld lediglich als „Ärger“ artikuliert und als Angriff auf die Familie. Die tatsächliche Bedrohung aber ist bereits spürbar. „Die Zeit bringt viel Ärger“, schreibt er aus Dresden an seine Schwester Else:

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Einleitung

Meine Söhne, wie ich, haben Erklärungen abzugeben, ob wir Arier sind. Das ist sehr schwer, denn niemand weiß, was ein Arier sei [das bestimmten erst ab 1935 die Rassegesetze. U.R.]. War unser Ahne, der Mönch Martinus Gorlitius, Deutscher oder Wende? Er wurde Lutheraner und Superintendent in Braunschweig. Sein Name kommt von dem Dorf Görlitz, eine Stunde von Oschatz. Gora heißt der Berg. Der Name ist also slawisch. Aber nun kommt Elisabeth Lewald [die Mutter]. Theodor Lewald ist von der Regierung Hitler seines Amtes als Vorstand des deutschen Sportwesens entsetzt worden, ich und meine Söhne sind, wie alle Mitglieder von Verbänden, aufgefordert worden, ihr Ariertum nachzuweisen. Wir wollen und können nicht unsere so heiß geliebte Mutter und Großmutter verleugnen. Aber entschuldigt sind die, die in den Kriegen Deutschlands teilnahmen. So Onkel Emanuel, Otto, ich, Wilibald, Cornelia, Hildebrand. Wir haben vier Eiserne Kreuze in der Familie.19

Der vorliegende Band ist aus einer Tagung am Deutschen Literaturarchiv in Marbach 2015 hervorgegangen. Wie erwähnt, will er statt der inzwischen so ausgiebig behandelten Skandalfiguren, Vater und Sohn Hildebrand und Cornelius Gurlitt, an die ‚anderen‘ Gurlitts erinnern und damit einer noch zu schreibenden Familienbiographie zuarbeiten. Er interessiert sich für das kommunikative Handeln innerhalb der Familie, und zwar vor allem innerhalb der beiden Generationen des Malers Louis Gurlitt und seiner Kinder, tut aber auch einen Blick zurück auf dessen Herkunftsfamilie und einen Seitenblick auf die durchaus einflussreiche Gestalt der Schwägerin Fanny Lewald. In diesem Sinne sind auch die Beiträge angeordnet. Sie laufen auf Louis Gurlitt zu, der als Maler und Familienoberhaupt doppelt vorgestellt wird. Vier weitere Beiträge sind seinen direkten Nachkommen gewidmet, die letzten Beiträge vier Angehörigen der folgenden Generation. Auf diese Weise werden einzelne Blätter des Stammbaums genauer angeschaut, wobei sich von selbst versteht, dass viele Blätter unbeschrieben bleiben mussten. Auch was sie alle zusammenhält, entzieht sich einer einfachen Beschreibung und soll auch nicht fahrlässig behauptet werden. Die Beiträge selbst jedoch folgen einem Muster: das Biogramm zur Person, eine freie Annäherung an die Bedeutung dieser Person. Wir haben es daher nicht mit einer Familienmonographie im strengen Sinne zu tun, sondern mit den vielen Lebensgeschichten, die aus einer Familie aufgerufen werden können. Ich danke dem Deutschen Literaturarchiv Marbach am Neckar und seinem damaligen Leiter Ulrich Raulff sowie Marcel Lepper, dass sie die Idee aufgegriffen und so die Tagung als Initial zu diesem Buch überhaupt ermöglicht haben. Die Robert Bosch Stiftung hat sie großzügig unterstützt, das Buch wurde von der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften gefördert. Eine ganz außergewöhnlich konstruktive und wunderbar

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Ursula Renner

zuverlässige Hilfe war David Brehm. Elizabeth Baars vom privaten Archiv der Familie Gurlitt in Hamburg hat freundlicherweise vielfach und umstandslos Auskunft gegeben. Es ist ein besonderes Merkmal dieses Bandes, dass seine Beiträger nicht aus einer mehr oder weniger homogenen Forschungsgruppe stammen, sondern dass hier auch ein Familienmitglied und an der Familie Gurlitt Interessierte zu Wort kommen. Sie alle waren bereit, der Frage nach der besonderen Rolle einzelner Mitglieder im Netzwerk der Gurlitt-Familie anzugehen und ihre Ergebnisse vorzustellen. So möchte ich ihnen allen danken, dass sie sich eingelassen haben, mitzutun; Heinrich Bosse hat mich darüber hinaus kollegial bei der Redaktion der Beiträge unterstützt. Ursula Renner

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Warum die Gurlitts nicht die Buddenbrooks sind. Familien-Narrativ und Generationen-Diskurs Anna Kinder

1 Wiedersehen in Düsseldorf 1954 kam es für Thomas Mann in Düsseldorf nach über 25 Jahren nicht nur zum Wiedersehen mit Klaus Heuser, dem „Geliebte[n] von einst“;1 vielmehr führte der Deutschland-Besuch den Schriftsteller auch in die große und international viel beachtete Kunstausstellung Meisterwerke aus dem Museu de Arte in São Paulo, die im Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen in Düsseldorf eröffnet wurde: „Der Mittagschlaf wird knapp. Um halb drei steht die Kunst­ sammlung an. Morgen wird eine Ausstellung eröffnet, wir werden sie heute schon erleben, Cranach, Holbein, Rubens und obendrein Expressionisten.“2 Mit diesen Worten fasst Katia Mann in Hans Pleschinskis Thomas Mann-Roman Königsallee (2013) das anstehende Nachmittagsprogramm zusammen. Verantwortlich für die beachtliche Zusammenstellung war kein anderer als der damalige Direktor des Kunstvereins, Hildebrand Gurlitt, mit dem Thomas Mann dort auch zusammentraf.3 Bringt man dies in Anschlag, so lässt der Hinweis, dass „obendrein Expressionisten“ zu sehen waren, angesichts der aktuellen Debatte um NS-Raubkunst und die Familie Gurlitt zumindest aufhorchen. Gottfried Benn hingegen hätte diese Begegnung zwischen Thomas Mann und dem Kunsthändler und -sammler vielleicht als Indiz für das Aufeinandertreffen zweier Mitglieder einer ‚Talentfamilie‘ gewertet. Folgte man Benns biologistischer Doktrin der ‚Talentfamilie‘,4 wo­runter er die hohe Wahrscheinlichkeit fasst, dass Genies untereinander ‚verwandter‘ seien als mit den übrigen Menschen, so fände man möglicherweise, ginge man nur weit genug zurück, auch Affiliationen zwischen den Familien Mann und Gurlitt. Eine solche genealogische Spurensuche wäre jedoch nicht nur politisch höchst fragwürdig und zudem recht aufwändig, sondern mit Blick auf die Frage nach der Erkenntnisrelevanz auch ziemlich ertraglos. Denn richtet man den Fokus auf die systematische Frage nach Familien-Narrativen, so geht es dabei um mehr als eine Dokumentation reiner Verwandtschaftsbeziehungen. Wäre dies nicht 15

Anna Kinder

der Fall, so bräuchte man wohl keine dicken Bücher verfassen, vielmehr würden Stammbäume ausreichen. Hierauf weisen schon Walter Benjamins aphoristische Anmerkungen über die Prinzipien der Wälzer oder Die Kunst, dicke Bücher zu machen hin, wo es unter Punkt VI heißt: „Zusammenhänge, die graphisch darstellbar sind, müssen in Worten ausgeführt werden. Statt etwa einen Stammbaum zu zeichnen, sind alle Verwandtschaftsverhältnisse abzuschildern und zu beschreiben.“5 Ginge es lediglich darum, Verwandtschaftsverhältnisse überschaubar abzubilden, so ist der Stammbaum wohl in der Tat das Darstellungsmittel der Wahl. Zusammenhänge, Beziehungen und vor allem Erbfolgen lassen sich mit einem Blick erfassen, während Aufzählungen in Prosa – wie etwa die alttestamentarischen Genealogien – mühsamer zu rezipieren und, hier ist Benjamin beizupflichten, seitenfüllender sind. Ist man jedoch geneigt, Benjamins Sarkasmus zu teilen, so doch deshalb, weil man davon ausgehen kann, dass sich das Beschreiben und Erzählen von Familienverhältnissen von der hier gesetzten Stammbaum-Pragmatik unterscheidet.6 Dass genealogische Erbfolge-Narrative (deren Form vorläufig hintan gestellt sei) ausgeklügelte und untersuchenswerte „Verhandlungen über Zeugung, Gattung und Geschlecht“ sowie „Praktiken der Generationsbildung“ bieten, haben in den letzten Jahren Sigrid Weigel, Stefan Willer und andere gezeigt.7 Der Frage nach der spezifischen Funktion von Narrativen gilt es jedoch noch einen Schritt weiter zu folgen: Worin besteht das ‚Mehr‘, das es lohnenswert macht, ein Narrativ zu analysieren? Welchen Wert, welche Funktion haben Familien-Narrative, wie und wozu lassen sie sich nutzbar machen – und wie, so die Frage, lassen sich die Gurlitts darin einordnen? Ausgehend von der literaturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Familien-Narrativen wird im Folgenden eine Antwort auf diese Frage allgemein und perspektiviert auf ein mögliches Narrativ der Gurlitts gesucht. Anliegen ist dabei auch, eine Art Fragenkatalog zu entwickeln, der bei den einzelnen Fallstudien, die der vorliegende Band versammelt, im Hintergrund mitgedacht werden kann. Ausgegangen wird hierbei von dem ‚klassischen‘ Familien-Narrativ schlechthin, an dem sich die literaturwissenschaftliche Forschung nach wie vor abarbeitet und orientiert, von Thomas Manns Buddenbrooks (1901), um dann im nächsten Schritt einen Blick auf Familien-Narrative im Allgemeinen zu richten, bevor abschließend der Bogen zu den Gurlitts geschlagen wird. Die Buddenbrooks bieten sich dabei nicht nur ob ihrer prominenten Repräsentanz als literarisches Familien-Narrativ als Vergleichsfolie an, sondern auch in ihrer Spezifik als Narrativ des Verfalls einer Familie. Leitend wird daher auch die Frage sein, wieviel der ‚Fall Gurlitt‘ mit dem Verfall der hanseatischen Kaufmannsfamilie gemein hat. Denn folgt man der Presseberichterstattung nach Bekanntwerden des ‚Falls Gurlitt‘ im Herbst 2013, so steht die Frage im Raum, ob es sich bei diesem Fall nur um einen juristischen handelt oder auch um einen moralischen Fall und damit auch den Verfall einer Familie?8 16

Familien-Narrativ und Generationen-Diskurs

2 Das Buddenbrooks-Narrativ Das Buddenbrooks-Narrativ ist inzwischen vielfach dargestellt und untersucht worden, so dass sich die folgenden Ausführungen synoptisch auf dessen zentrale Merkmale beschränken können.9 Der Verlauf des Narrativs der Buddenbrooks ist bekannt und schon dem Untertitel des Romans – Verfall einer Familie – zu entnehmen.10 Es geht ‚abwärts‘, so noch eine frühe Titelidee des Autors, und mit der Familie zu Ende. Ein erster Blick auf das Romanpersonal kann veranschaulichen, was dies im Detail bedeutet, und wer gemeint ist, wenn hier von Familie die Rede ist.

Abb. 1: Stammbaum der Familie Buddenbrook Die Familiengeschichte, wie sie auf dem Stammbaum (Abb. 1) dargestellt ist, der dem Buddenbrooks-Handbuch entnommen wurde,11 erstreckt sich von Johann Buddenbrook – der explizit als ‚Gründer der Firma‘ und ohne Ehefrau an seiner Seite eingeführt wird und zu Beginn des Romans im Jahr 1835 bereits verstorben und nur mehr als Vorbild präsent ist – über die auf ihn folgenden Generationen, die im Mittelpunkt der Handlung stehen. Besonderes Augenmerk liegt, hierauf verweisen die Unterstreichungen, auf den männlichen Nachfolgern und Firmenerben. Diese patrilineare Erbfolge endet mit dem Tod des lebens- und arbeitsunwilligen 17

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Hanno Buddenbrook im Jahr 1877, mit dem auch die Romanhandlung und die Firmengeschichte zu ihrem Ende kommen. Die Sterbedaten der verbleibenden weiblichen Nachkommen bleiben ebenso offen wie deren weitere Schicksale. Anhand der Auswahl und Gestaltung dieses Stammbaums lässt sich somit schon sehr deutlich erkennen, dass die Familienverhältnisse der Buddenbrooks primär Geschäftsbeziehungen sind. Firma und Familie werden als eine Einheit gedacht, die die Handlungen der Protagonisten strukturiert und legitimiert und damit auch den Umfang ihrer Romanpräsenz festlegt.12 Das einzelne Familienmitglied ist vor allem und zunächst Teil der Kaufmannsfamilie, Individuelles wird dem Primat von Firma und Familie untergeordnet. Exemplarisch verdeutlichen lässt sich dies an der Heiratspraxis der Buddenbrooks, geht es hierbei doch vor allem darum, der Firma einen „Kapitalzufluß“13 zu erobern. Im Zentrum stehen finanzielle Überlegungen; Eheschließungen, die für die Familie unvorteilhaft sind, werden kategorisch abgelehnt, mal selbstentsagend-freiwillig wie bei Thomas Buddenbrooks Liaison mit dem Blumenmädchen Anna, mal etwas unfreiwilliger, wie im Fall seiner Schwester Tony Buddenbrook, der ihr Vater erklärt: Wir sind, meine liebe Tochter, nicht dafür geboren, was wir mit kurzsichtigen Augen für unser eigenes, kleines, persönliches Glück halten, denn wir sind nicht lose, unabhängige und für sich bestehende Einzelwesen, sondern wie Glieder in einer Kette, und wir wären, so wie wir sind, nicht denkbar ohne die Reihe derjenigen, die uns vorangingen […].14

Im Dienst der Familienfirma gilt es für das einzelne Glied, sich stets der Verantwortung für die Familie als ganze bewusst zu sein. So erklärt auch Thomas seiner Mutter in einer Auseinandersetzung über Geldausgaben: „Und ich entgegne dir, meine liebe Mutter, […], daß aber meine Eigenschaft als Sohn zu Null wird, sobald ich dir in Sachen der Firma und der Familie als männliches Oberhaupt und an der Stelle meines Vaters gegenüberstehe!“ …15 Auf den ersten Blick liegt hier also ein Narrativ vor, das dem Einzelnen einen klaren Platz zuweist und ihn in eine Legitimation stiftende Reihe stellt. Doch man darf nicht vergessen, dass das Narrativ ein Verfallsnarrativ ist, das sukzessive (über drei Generationen hinweg) ökonomische Stagnation an psychische und physische Degeneration koppelt. Der Leser kann den Abstieg der Kaufmannsfamilie vom Höhepunkt des Erfolgs – zu Beginn des Romans weiht man gerade das neu erworbene Haus ein – bis zur Liquidation der Firma und zum Wegzug Gerdas mitverfolgen; zu diesem Zeitpunkt ist der kleine Hanno bereits verstorben und die patrilineare Erbfolge an ihrem Ende. Christian Buddenbrook ist in einer Klinik, übrig sind nur eine unglückliche, zweimal geschiedene Tony und ihre Tochter und Enkelin. Fasst man die zentralen Merkmale systematisch zusammen, so lassen sich folgende Charakteristika für das Buddenbrooks-Narrativ ausmachen:

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Erstens sind sich die Familienmitglieder ihrer Stellung innerhalb von Firma und Familie bewusst, ist das Familiennarrativ als handlungsweisende Größe stets präsent, ob der Einzelne dieses aktiv fortschreibt (wie etwa Jean und Thomas mit ihren Einträgen in die Familienchronik), diesem wissentlich zuwiderhandelt (wie Christian) oder schlicht einsieht, dass er dem Erbe nicht gewachsen ist, wie Hanno, der unter seinen Namen in der Familienchronik einen dicken Schlussstrich zieht und dies ganz richtig seinem Vater erklärt: „Ich glaubte … ich glaubte … es käme nichts mehr …“.16 Damit hängt auch zusammen, dass sich das einzelne Familienmitglied immer im Spannungsfeld von Individualität und Familienganzem verortet findet und positionieren muss. Zweitens erstreckt sich das Familiennarrativ über mehrere Generationen, so dass sich eine generationelle Entwicklung ausmachen lässt. Von Generation zu Generation nehmen beispielsweise finanzielle Verluste ebenso zu wie Spuren des physischen Verfalls und der psychischen Verfeinerung. Drittens bietet diese generationelle Abfolge damit ein Ordnungs- und Zeitschema, in das sich auch historische oder kontextuelle Entwicklungen einordnen lassen. So können etwa die wirtschaftlichen Veränderungen und Beschleunigungsprozesse über die Folge der Generationen nachgezeichnet werden. Damit fungiert das Familiennarrativ viertens als eine Erzählung, bei der es immer noch um etwas Anderes geht. Die Familie steht repräsentativ für etwas, das anhand der Familie exemplarisch verhandelt wird. Mit der Kopplung von ökonomischen und psychischen Prozessen lassen sich die Buddenbrooks beispielsweise exemplarisch als Kritik einer kapitalistischen Moderne mit ihren psychischen Effekten verstehen. So fokussiert, kann der Roman als (sehr begrenzte und privilegierte) Kapitalismuskritik gelesen werden. Das Familien-Narrativ liefert eine Gesellschaftsdiagnose, lässt sich als eine Art Allegorie für gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Entwicklungen einer bestimmten Zeit verstehen.

3 Familien-Narrative Tritt man einen Schritt zurück und löst sich von den Buddenbrooks, so lassen sich, eine Abstraktionsebene höher, grundlegende Funktionen von Familien-Narrativen ableiten. Als Familien-Narrative können erstens Narrative bezeichnet werden, die sich, und hierüber herrscht in der Forschung große Einigkeit, über mehrere Generationen einer Familie erstrecken. Familien-Narrativ und Generationen-Diskurs sind damit eng verknüpft. Gerade auch in den Literatur- und Kulturwissenschaften hat sich das Paradigma der ‚Generation‘ in den letzten Jahren durchgesetzt und das der ‚Familie‘ weitgehend abgelöst.17 Zahlreiche Monographien, Aufsätze und Sammelbände diagnostizieren seit Anfang der 2000er Jahre eine Konjunktur der ‚Generationenromane‘. Hatte sich die Forschung mit der Bestimmung der Gattung des ‚Familienromans‘ immer schwer getan, scheint sich der ‚Generationenroman‘ als Gattungslabel 19

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inzwischen fest etabliert zu haben.18 Ausgangspunkt dieses verstärkten Interesses ist eine ganze Reihe an deutschsprachigen Gegenwartsromanen, die sich über die Auseinandersetzung der zweiten und dritten Generation mit der Eltern- und Großelterngeneration (also der NS-Generation) vor allem mit Prozessen des Erinnerns, mit Erinnerungspraktiken befassen.19 Dem Strukturprinzip der ‚Generation‘ kommt damit vor allem eine erinnerungskulturelle Funktion zu. Dass dabei die Verbindungslinien zur Generationenforschung und zur Auseinandersetzung mit Erinnerungsdiskursen stark sind, ist evident. Sigrid Weigel etwa widmet in ihrem Buch zur Genea-Logik dem Roman der Gegenwartsliteratur eigene Kapitel und weist diesem (neben einem identitätsstiftenden Moment) vor allem die Funktion zu, einen „Zugang zu einem verschütteten Wissen der Geschichte“20 bereitzustellen. Harald Welzer wiederum knüpft in seinem 2004 erschienen gleichnamigen Beitrag die „Konjunktur der Familien- und Generationenromane“ an die Differenz zwischen den öffentlichen, kollektiven Erinnerungsdiskursen der Bundesrepublik und den privaten, also dem, was das familiäre Archiv überliefert. Die Romane ermöglichen, so Welzers These, das Erinnern jenseits des kollektiven Gedächtnisses.21 Hier soll es jedoch weniger um Gattungsfragen und -zuordnungen gehen, sondern, mit dem Blick auf das Narrativ, vor allem um Verfahrens- und Funktionsfragen.22 Strukturell wird mit dem Blick auf mehrere Generationen, und das ist der zweite Punkt, zweierlei erreicht: Mit der Generationenfolge und dem Generationenwechsel erfolgt zum einen eine Temporalisierung der Narration; eine zeitlich-historische Abfolge und Verortung wird möglich. Gleichzeitig hat die Begrenzung auf die Generationen einer Familie eine Ordnungsfunktion, wird das große Ganze – überführt in das Exemplum einer Familie – überschaubar und verhandelbar: „Ohne zeitlichen Rahmen, ohne den Wechsel der Generationen, ohne die Strategien historischer Darstellung, die stets den Charakter von Zeitaltern meinen (und nicht nur die Nebenrollen vorgeblich handelnder Personen), verliert die Familiengeschichte ihre Funktion.“23 Das FamilienNarrativ, so Thomas Machos Argument, entwirft eine Art ‚Prisma‘ einer bestimmten Zeit; die „wahre Heldin von Familiengeschichten“ ist, so lautet auch der Titel seines Aufsatzes, „die Zeit“. Familien-Narrative fungieren damit drittens gleichsam als Platzhalter für das, worum es scheinbar ‚eigentlich‘ geht, sie literarisieren und diskursivieren, um es etwas weiter zu fassen, durch das Strukturprinzip der Generation historische und soziokulturelle Konstellationen. FamilienNarrative sind dabei aber nicht nur Spiegel und Repräsentanz, sondern vor allem auch Mittel der Reflexion. Deutlich lässt sich dies an einem Blick auf aktuelle Familienbiografien veranschaulichen, die in den letzten Jahren auf dem Buchmarkt nahezu einen Boom ausgelöst haben, der in der Forschungsliteratur ebenso wie im Feuilleton registriert und mal als Inflation, mal als Epidemie eingeordnet wird.24 Unterzieht man die Titel dieser Publikationen einer kurzen Analyse, so fallen einige Gemeinsamkeiten auf:25 Haupttitel ist vielfach der Familienname – Die Benjamins, Die 20

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Reemtsmas, Die Oetkers, Die Manns, Die Plancks, Die Rothschilds usw. −, im Untertitel wird das Feld, für das die Familie paradigmatisch steht, genannt. Zudem wird dabei sehr häufig auf ein national markiertes, nämlich ein deutsches Paradigma verwiesen. Die Geschichte einer Familie steht hierbei für die Geschichte der Deutschen. Eine bestimmte Kulturidee wird damit, geknüpft an eine Familie, als spezifisch nationale Idee konturiert.26 Dies ist etwas, das nicht nur für die Buddenbrooks-Rezeption gilt, sondern vor allem auch mit Blick auf den Verlauf des GurlittNarrativs, wie noch zu zeigen sein wird, nicht unerheblich, steht der ‚Fall Gurlitt‘ doch in engem Zusammenhang mit einem spezifischen, besonders düsteren Kapitel der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Sucht man nach einer Erklärung für das aktuell so große Interesse an Familienbiografien, so lassen sich drei zentrale Angebote ausmachen. Erstens werden die Biografien als Reaktion auf ein Bedürfnis von Rezipientenseite gedeutet: Eine Gesellschaft mit verarmten Hierarchien sucht Zuflucht bei Institutionen und Personen, die dem Abbild dynastischer Strukturen entsprechen. Zweitens wird ein voyeuristisches, ein Interesse am (vielfach auch privaten) Skandalon ausgemacht. Und drittens wird ein narratives Argument stark gemacht: Durch das stark literarisierende, erzählerische Darstellungsverfahren wird Geschichte unmittelbar erfahrbar. Deutlich ablesen lässt sich dies etwa an der im Herbst 2015 erschienenen Familienbiografie der Manns, in der Tilmann Lahme die Geschichte von Thomas und Katia Mann und ihren sechs Kindern erzählt. Der Autor greift dabei auf einen Erzählstil zurück, der seinen Protagonisten unmittelbar, miterlebend und im Präsens zu Leibe rückt. Entscheidend für den vorliegenden Zusammenhang scheint jedoch etwas ganz Anderes zu sein, nämlich die Möglichkeit, durch den und ausgehend vom Fokus auf eine Familie einen Ausschnitt eines bestimmten kulturellen, wirtschaftlichen, politischen und wissenschaftlichen Milieus  – und damit auch Netzwerke und Querverbindungen in verschiedenen Funktionsbereichen einer Gesellschaft – kritisch in den Blick nehmen zu können. Von Bedeutung ist bei der Frage nach der Funktion von Familien-Narrativen schließlich noch ein dritter Punkt, der beim Blick auf Buddenbrooks evident wird, nämlich die Frage nach der Trennung von Fremd- und Eigenzuschreibung. Befasst man sich mit Familien-Narrativen, so ist immer auch zu fragen, wer diese zu welchem Zweck entwirft, aufgreift, fortschreibt oder variiert. Handelt es sich um familienexterne Erzählinstanzen und -anlässe oder schreiben auch die Familienmitglieder selbst eifrig am eigenen Narrativ mit? Bei Buddenbrooks ist diese Frage im Hinblick auf die Fiktionalisierung einer Familiengeschichte durch den Autor besonders virulent. Die Buddenbrooks sind bekanntlich nicht die Manns – und in gewissen Hinsichten eben doch.27 Dies ist ein Aspekt, der auch mit Blick auf die Gurlitts relevant ist, und so gilt es im nächsten Schritt zu klären, von welcher Familie gesprochen wird oder werden kann, wenn von ‚den Gurlitts‘ die Rede ist. 21

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4 Der Fall der Gurlitts Wer sind die Gurlitts? Welche Personen werden zur Familie Gurlitt gezählt, welche Protagonisten lassen sich ausmachen und welche Geschichte lässt sich von ihnen konkret erzählen? Um sich möglichen Antworten zu nähern, ist im ersten Schritt ein Blick auf die Überlieferungslage hilfreich und auf die Frage, wo die Geschichte der Gurlitts bisher geschrieben wurde. Zur Verfügung stehen zunächst kontextbezogene Publikationen zu einzelnen Familienmitgliedern ebenso wie Einträge in biografischen Handbüchern, die mit ihrem Fokus auf den einzelnen Protagonisten an dieser Stelle jedoch in den Hintergrund treten sollen.28 Befasst man sich mit den Gurlitts als Familie, so bietet die Online-Enzyklopädie Wikipedia eine erste mögliche Orientierung. Unter der Kategorie „Deutsche Familie“ ist auch ein Eintrag zum Lemma „Gurlitt (Familie)“ zu finden, die hier als „deutsche[] Familie von namhaften Künstlern, Wissenschaftlern und Kunsthändlern“ gefasst wird.29 Dieser Definition folgt eine Liste mit Vertreterinnen und Vertretern der Familie, die mit dem Philologen und Pädagogen Johann Gottfried Gurlitt (1754–1827) eröffnet und mit der Generation Cornelius Gurlitts („deutscher Kunstsammler, 2013 im Mittelpunkt des Schwabinger Kunstfundes„30) beendet wird. Angeführt werden ausschließlich diejenigen Familienmitglieder, die unter dem Label der Künstler- und Gelehrtenfamilie subsumierbar sind. Eine ähnliche Auswahl trifft Hilde Herrmann in ihrem 1955 erschienenen Portrait der Gurlitts, denen sie in ihrer Reihe über Große Familien einen Beitrag widmet.31 Auch wenn sie im Nachvollzug der genealogischen Familiengeschichte ebenso wie im Vokabular stark auf fragwürdige Blutsbande setzt, so liegt der Schwerpunkt ihrer Argumentation doch auf der im weitesten Sinne kulturhistorischen Relevanz der Familie und ihrer Mitglieder. Die Auswahl der dargestellten Familienmitglieder und deren Bedeutung für die Familiengeschichte rechtfertigt sich über berühmte Gewährsleute und bedeutende Ämter, Funktionen und Kontexte. Dabei wird der Kern der Familie als mehr als die Summe der einzelnen Talente gesetzt: „Man sieht, wir haben es mit einer nicht ganz unfruchtbaren Familie zu tun, einer Familie voll mannigfaltiger Begabungen und eigenwilliger Köpfe, der jedoch, bei aller individuellen Ausprägungen, eben ihre Begabtheit als gemeinsames und fortdauerndes Erbe im Blut zu sitzen scheint.“32 Herrmanns Gurlitt-Saga im eigentlichen Sinne beginnt mit dem Golddrahtzieher Johann August Wilhelm Gurlitt (1774–1855) und endet mit dem Kunsthändler Hildebrand Gurlitt und dem Ausblick auf weitere Gurlitt-Nachkommen, die als Gewähr dafür genommen werden, „daß das ‚Begeisterung‘ erzeugende Gurlittblut immer noch lebendig ist.“33 Dass damit gerade die Generation angesprochen ist, die in jüngster Zeit nicht nur für eine enorme Aufmerksamkeitssteigerung, sondern möglicherweise auch für den Fall der Familie verantwortlich ist, lässt diese Behauptung retrospektiv in anderem Lichte erscheinen. 22

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Auch in aktuellen Studien ist es Hildebrand Gurlitt, der als Katalysator und Referenzpunkt dient, von dem aus die Familie Gurlitt in den Blick genommen wird und von dem aus sich die Erzählungen ihren Weg bahnen. Exemplarisch kann dies an den jüngst erschienenen Studien von Meike Hoffmann und Nicola Kuhn (Hitlers Kunsthändler: Hildebrand Gurlitt 1895–1956), Catherine Hickley (The Munich Art Hoard. Hitler’s dealer and his secret legacy) 34 sowie Susan Ronald (Hitler’s Art Thief. Hildebrand Gurlitt, the Nazis and the Looting of Europe’s Treasures) nachvollzogen werden. Ausgehend von Hitlers Kunsthändler Hildebrand Gurlitt wird in allen drei Studien auch ein Blick auf die Familienkonstellation der Gurlitts geworfen, jeweils ergänzt durch die Abbildung eines Stammbaums der Familie, der in allen drei Fällen mit Louis Gurlitt (1812–1897) beginnt.35 Bei Hickley und Hoffmann/Kuhn endet der Stammbaum mit der Generation Cornelius Gurlitts36  – Susan Ronald schließt noch eine Kindergeneration an. Genannt bzw. hervorgehoben werden in den Abbildungen auch hier jeweils diejenigen Familienmitglieder, die sich im weitesten Sinne künstlerisch-intellektuell hervorgetan haben. Die Familie wird als „family steeped in the arts“37 beschrieben, als „one of the premier cultural families in that most cultured city of Dresden“, die in ihrer männlichen Linie „several generations of successful writers, artists, and musicians“38 hervorbrachte. Ronald verweist in ihrer Darstellung auch auf einen der zentralen Unterschiede zu Familien wie den Buddenbrooks hin: „The Gurlitt family was made for intellectual and artistic prowess, not grubbing about in trade.“39 Der Schwerpunkt aller drei Publikationen, das wird bereits aus den Titeln deutlich, liegt auf der Person Hildebrand Gurlitts und seiner Tätigkeiten als Kunsthändler für das NS-Regime. Damit wird eng an die Presseberichterstattung der vergangenen Jahre angeschlossen, die ausgehend von Cornelius Gurlitt die Spurensuche in die Vergangenheit seines Vaters Hildebrand Gurlitt angestoßen hat.40 Folgt man der Berichterstattung seit Bekanntwerden der Causa Gurlitt im Herbst 2013, so wird schnell klar, dass der Blick auf die Familie Gurlitt hier generationell verengt und thematisch zugespitzt wird. Im Fokus steht nun eine „Familiengeschichte im deutschen Kunstbetrieb“, die, so das einhellige Urteil, mit Cornelius Gurlitt „zu ihrem Ende“41 gekommen ist, der für die Aufbewahrung der Kunstsammlung den Preis zahlte, dass er „die Tradition der Künstler- und Gelehrtenfamilie nicht fortführen konnte“.42 Im Fokus der journalistischen Erzählung stehen die beiden Generationen von Hildebrand und Cornelius Gurlitt und damit ein repräsentativer Ausschnitt der deutschen (Nach) Kriegsgeschichte. Aufmerksamkeit erfahren hat der Fall also nicht ob seiner Besonderheit, sondern gerade aufgrund seiner Normalität.43 Interessant wird die Familiengeschichte als Normalfall, denn, so Julia Voss, die „Lügen des Vaters waren die Lügen der Bundesrepublik“.44 Die Familiengeschichte wird damit zum Exempel der moralischen und juristischen Frage nach dem Umgang mit Raubkunst: Am Schicksal der Familiensammlung der Gurlitts wird stattdessen vor allem das furchtbare Schicksal vieler jüdischer Mitbürger im Deutschland der 23

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Naziherrschaft ausgeleuchtet, wird das brutale Vorgehen gegen persönliches Eigentum zwischen 1933 und 1945 verdeutlicht und wird die Debatte über Raub- und Beutekunst endlich ins öffentliche Bewusstsein gehoben.45 Mit Fokus auf eine begrenzte familiäre Konstellation von Vater und Sohn, und damit auf zwei Generationen, „kann man das Thema Raubkunst endlich einmal angehen.“46 Das Bekanntwerden der Sammlung der Privatperson Cornelius Gurlitt eröffnet eine narrative Chance: „Der Schwabinger Kunstfund schaffte es ja auch deshalb in die Schlagzeilen, weil er die Problematik von Raub und Restitution […] auf bis dahin nicht gekannte Weise personalisierte und mit einer erzählbaren (also auch aufladbaren oder bestreitbaren) Geschichte samt Gesicht versah.“47 Die individuelle Geschichte von Hildebrand und Cornelius Gurlitt und die Frage nach deren persönlicher Schuld und Verantwortung führen im zweiten Schritt also zur Frage nach dem öffentlichen, politischen und juristischen Umgang mit Raub- und Beutekunst. Historischmoralische Urteile stehen dabei ebenso auf dem Prüfstand wie juristische Instrumentarien, musste mit Cornelius Gurlitt rein rechtlich betrachtet doch ein Privatmann für das politische Versäumnis büßen, dass das Verstreichen von Verjährungsfristen zugelassen wurde. Fasst man diese Befunde zusammen, so scheinen sich zwei Gurlitt’sche Familiengeschichten identifizieren zu lassen. Die erste konturiert, stark selektierend, die Familie als intellektuelle Gelehrten- und Künstlerfamilie und konzentriert sich auf die in dieses Bild passenden Familienmitglieder. Wer den Anforderungen nicht entspricht, wird im Stammbaum vergessen, ignoriert oder zumindest nicht hervorgehoben. Ein kohärentes Narrativ, das die unterschiedlichsten Familienmitglieder über Generationen zusammenhielte, lässt sich hierbei schwer ausmachen. Die typologische Funktion des Einzelnen, die etwa beim Familien-Narrativ der Buddenbrooks ausgemacht werden kann, weicht im Fall der Gurlitts dem Exzeptionellen. Daher scheint es sinnvoll, hier eher von einer dynastischen Großkonstellation zu sprechen, also von einer Dynastie, einer, nach Definition des Duden, „auf einem bestimmten Gebiet bekannte(n) oder hervorragende(n), Einfluss ausübende(n) Familie“. Das einzelne Familienmitglied scheint dabei nicht mehr als Prisma eines bestimmten Narrativs – vielmehr ergibt sich das Narrativ aus der „Summe der Einzelnen“.48 In einem kurzen historischen Porträt der Warburgs fasst der Historiker Bernd Roeck das wie folgt: „Nähme man die Familiengeschichte als große Biographie eines einzigen, imaginären Warburg, begegnete [man] einer vielschichtigen, äußerst widersprüchlichen Persönlichkeit. Wirtschaftlichem Genie stehen Spekulation und Hasardspiel gegenüber, in sich versponnenes Gelehrtentum und strenge Religiosität souveräner Weltoffenheit. Nobelpreiswürdige wissenschaftliche Vernunft gesellt sich zu Wahnsinn; Understatement und Pflichtethik konterkarieren neureichen Pomp und ungehemmte Freude an der Leichtigkeit des Seins. Warburgs imaginaire ist sublimer Geist und Verrückter, Dandy und Priester, Tycoon, big spender und barmherziger 24

Familien-Narrativ und Generationen-Diskurs

Samariter: Er begegnet als Nationalist und Weltbürger, als Hanseat und Amerikaner. Er ist in literarischer Verschlüsselung, Konsul Buddenbrook, Thomas, Hanno und Christian in einer Person.“49 Die zweite Familiengeschichte, die beim Blick auf die Gurlitts sichtbar wird, ist die Geschichte einer kunst- und kunstmarktaffinen Familie von Kunsthistorikern, -händlern, Malern und Sammlern, die in der Verstrickung Hildebrand Gurlitts in das NS-Raubkunstgeschäft kulminiert und mit Cornelius Gurlitt zu ihrem Ende kommt.50 Anhand dieser Geschichte, die sich auch als typisch deutsche Familiengeschichte erzählen lässt und in der Presse auch oft genug als solche erzählt wurde, kann die Frage nach den Parallelen bzw. Unterschieden zum Buddenbrook’schen Verfallsnarrativ gestellt werden. Gemeinsam ist den beiden Narrativen zunächst, dass sowohl der Familie Buddenbrook als auch der Familie Gurlitt Repräsentanz und Exemplarizität zugeschrieben werden können. Der entscheidende Unterschied tritt jedoch zu Tage, wenn man die Frage nach dem Fall bzw. Verfall der jeweiligen Familie stellt. Während sich bei Buddenbrooks der Niedergang der Familie über die Generationen hin ankündigt und das Narrativ auf eine Generationenfolge setzt, steht bei der Familie Gurlitt das strafrechtlich relevante (und inzwischen verjährte) individuelle Vergehen von Vertretern einer Generation und die Frage nach der moralischen Schuld von zwei Generationen im Mittelpunkt. Erzählen ließe sich somit allenfalls eine VaterSohn-Geschichte. Die Frage, inwiefern sich die Gurlitt’schen Protagonisten ihrer Stellung innerhalb der Familienkette bewusst waren und diese auch als handlungsleitend ausgewiesen werden kann, harrt einer Antwort. Allein der im Verborgenen lebende Cornelius Gurlitt, wie man ihn aus der Presseberichterstattung kennengelernt hat, erinnert zwar zunächst an den arbeitsunwilligen Hanno Buddenbrook, könnte aber mit dem Hüten des Bilderschatzes – der gerade für den Fall der Familie verantwortlich ist – im Geheimen der Familientradition gefolgt sein.

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Johann Joachim Faber, Johannes Gurlitt. Kupferstich, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg JOHANN GOTTFRIED GURLITT (1754–1827), geboren am 11.  März 1754 in Halle, studierte von 1772 Theologie und andere Fächer an der Universität Leipzig, wo er 1776 den Magistergrad erwarb und Vorlesungen über griechische Literatur hielt. Von 1778 bis 1802 wirkte er als Lehrer, zuletzt auch als Direktor an der Internatsschule Kloster Berge bei Magdeburg, ab 1802 bis zu seinem Tode war er Direktor des Johanneums und auch Professor für orientalische Sprachen am Akademischen Gymnasium in Hamburg. Er starb am 14. Juni 1827 unverheiratet und kinderlos.

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Günther Gensler, Louis Gurlitts Vater, 1824, Bleistiftzeichnung [in: Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt, S. 18] JOHANN AUGUST WILHELM GURLITT (1774–1855), geboren in Hamburg am 1. April 1774, wurde in der Werkstatt seines Vaters als Golddrahtzieher ausgebildet und übernahm nach dem frühen Tod des Vaters (15. November 1793) und der Mutter (17. April 1794) den väterlichen Betrieb in Altona. Er war, nach dem Niedergang seines Handwerks, in wechselnden Geschäften tätig, um seine immer zahlreicher werdende Familie zu ernähren. Mit seiner ersten Frau Margaretha Martina Ehrhorn (1773–1809) hatte er fünf Kinder, mit seiner zweiten Frau Christine Helene Eberstein (1783–1857) zwölf. Die beiden Vertreter der Familie Gurlitt sind entfernt miteinander verwandt, fungieren aber beide als Leuchttürme in der Familiengeschichte, indem sie  – der eine bildungsgeschichtlich, der andere wirtschaftsgeschichtlich  – repräsentativ sind für das Bürgertum des beginnenden 19. Jahrhunderts. 27

Geschichte und Familiengeschichte. Johann Gottfried Gurlitt und Johann August Wilhelm Gurlitt Heinrich Bosse

1 Anfänge Vor dem Anfang ist nicht nichts, sondern immer noch etwas, vielleicht ein Vorraum oder eine Vorzeit. So taucht auch die Familie Gurlitt aus dem Halbdunkel der unsicheren Nachrichten erst im 18. Jahrhundert nachweislich auf. Das Deutsche Geschlechterbuch, das die Verzweigungen der Familie Name für Name dokumentiert hat, fasst den Anfang wie folgt zusammen: Das Geschlecht [der Gurlitts] verdankt denen, die nach Westen auszogen, nach Leipzig und von da nach Hamburg und Altona einen bedeutenden Aufschwung. Die im Osten bleibenden lebten bis in die neueste Zeit zumeist als Landbesitzer, Ackerbauer, Handwerker und Tagelöhner, die anderen gingen durch den Handwerkerstand in kaufmännische, gelehrte und künstlerische Berufe über.1

Ein Zweig der großen Familie zeichnet sich durch Teilnahme am Aufschwung aus, konkretisiert in einer dreifachen Bewegung: einmal (topographisch) vom Land in die Stadt, zum anderen (geographisch) von Osten nach Westen und schließlich (sozial) von unten nach oben. Um diesen Zweig soll es im Folgenden gehen und zugleich um die Präzisierung dessen, was ‚Aufschwung‘ heißen mag. Den Anfang markieren zwei Väter in derselben Stadt, in Leipzig. Als gesichert gilt, dass sie beide aus Schlesien kommen, aus dem Fürstentum Wohlau (Wołów), unsicher ist ihre verwandtschaftliche Beziehung. Nach der Familienüberlieferung handelt es sich um Brüder, nach dem Geschlechterbuch wären Johann Georg Gurlitt aus Kreydelwitz (Krzydłowice) und Christian Gurlitt aus Konradswaldau (Grzędy) wohl eher als Vettern anzusehen. Johann Georg Gurlitt (?–1790) muss aus dem preußischen Halle zugewandert sein, denn sein viertes Kind gleichen Namens war 1754 noch in Halle geboren. 1765 wurde der Vater Johann Georg Gurlitt 28

Johann Gottfried Gurlitt und Johann August Wilhelm Gurlitt

als Schneidermeister, zusammen mit 12 anderen Schneidern, in die Bürgerschaft Leipzigs aufgenommen. Er hatte vier Kinder: Sein Sohn Friedrich Rudolph Gurlitt ging bei ihm in die Lehre und wurde 1780 Schneidermeister; seine Tochter Rosina heiratete ihrerseits einen Schneidermeister; das Schicksal der Tochter Johanna Sophie ist nicht bekannt; das vierte Kind, Johann Gottfried Gurlitt (1754–1827), verlässt die Welt des Handwerks, um zu studieren, und steigt auf zum Schuldirektor in Hamburg. Christian Gurlitt (1716–1778) wird bedeutend früher, nämlich 1748, zusammen mit zwei Leipziger Bürgersöhnen in die Bürgerschaft aufgenommen, muss aber die Hälfte des zu zahlenden Bürgergeldes (10 Reichstaler [Rth]) schuldig bleiben. Sein Beruf wird als „Pachter“ angegeben, bei der Taufe des ältesten Sohnes als „Landkramer“, bei der Taufe des zweiten Sohnes als „Herrendiener“, bei der Taufe des dritten und vierten Sohnes fehlt die Berufsbezeichnung gänzlich.2 Offenkundig ist er als Bauer mit der Landflucht in die Stadt gespült worden und befindet sich in prekären Arbeitsverhältnissen, unterhalb der durch Zünfte und Gilden regulierten ‚bürgerlichen Nahrung‘. Einige Kinder müssen früh gestorben sein, zwei überlebende Söhne gingen nach Hamburg. Der ältere, Carl Christian (1746–1812), lernte Tapezierer, wanderte bis Riga und Moskau, gab das Handwerk auf und wurde Constabler [Unteroffizier] bei der Stadtwache, schließlich in einem Kaffeehaus als Kellner (Marqueur) tätig. In welchem Gewerbe der jüngere Sohn Gottlob Wilhelm (1751–1793) ausgebildet wurde, weiß man nicht; möglicherweise als Golddrahtzieher, da er schon jung (1773) in dieses angesehene Handwerk einheiratet.3 Vor dem Jahr 1792 muss er in das damals dänische Altona gezogen sein, denn dort ist der Lehrbrief seines Sohnes ausgestellt. Er stirbt im nächsten Jahr, als sein Sohn und Nachfolger Johann August Wilhelm Gurlitt (1774–1855) kaum 20 Jahre zählt. Will man den Weg nach oben beschreiben, den die Söhne zweier verschiedener Väter zurücklegen, so muss man zu den rechtsgeschichtlichen Kategorien des Standes (status) greifen. Johann Gottfried Gurlitt steigt aus dem Handwerkerstand in den (gelehrten) Stand der Akademiker auf  – Gottlob Wilhelm Gurlitt (1751–1793) immerhin innerhalb des Handwerkerstandes zu einem der vornehmsten Gewerbe, das dem Goldschmied benachbart ist. Die beiden Wege entsprechen der alteuropäischen Gesellschaft, in welcher soziale Ungleichheit vor allem durch Sonderrechte (Privilegien) und die Zugehörigkeit zu Korporationen organisiert wird. Vor der Französischen Revolution gibt es sozialen Aufstieg praktisch nur als Statusverbesserung oder als Statuswechsel. Auch ohne den Stand zu verlassen, lässt sich der eigene Status verbessern, sei es durch familiäre Netzwerke, durch das Aufrücken in kommunalen Ämtern oder durch die Akkumulation von Reichtum. Auffälliger ist der Statuswechsel vom bürgerlichen in den adligen oder in den gelehrten Stand. Vom Mittelalter bis ins 19. Jahrhundert fanden Nobilitierungen statt. Nicht nur Wohlhabende, die sich den Adelsbrief erkaufen konnten, sondern auch Künstler wurden nobilitiert – im Umkreis des Wiener Hofes etwa der Kapellmeister Johann Carl Ditters (1773), der Goldschmied Franz Mack (1791), der Maler Arthur Ramberg (1848), im Umkreis 29

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des Münchener Hofes die Maler und Architekten Johann Christian Mannlich (1808) und Peter Cornelius (1825) sowie die Malerfürsten Wilhelm Kaulbach (1866), Franz Lenbach (1882), Franz Stuck (1906).4 Der Wechsel in den gelehrten Stand geschah üblicherweise durch die Immatrikulation an einer Universität.5 Dort konnte man den Doktortitel erwerben und zum Bestandteil des Namens machen oder gar selber ein Professor werden, der seinerseits mit der Universität zusammen Doktortitel zu vergeben hatte. Diese ständischen Voraussetzungen sind nicht einfach verschwunden, sie wurden aber doch seit der Französischen Revolution durch die Aufhebung der Privilegien und die Rechtsgleichheit aller Untertanen bzw. Bürger in den Hintergrund gedrängt. Soziale Ungleichheit wird seitdem vor allem über die ökonomischen Unterschiede organisiert. Aber auch Schlüsselpositionen in Politik, Bürokratie und Öffentlichkeit verhelfen im Rahmen der nationalen Staaten und Gesellschaften zu einer ‚sozialen Macht‘, die mehr ist als nur Prestige, weil sie die Möglichkeit bedeutet, Einfluss zu nehmen.6 Dies nicht nur im Sinne der heutigen influencer, sondern auch im vormodernen, aber gewissermaßen zeitlosen System der Patronage. Ein Patron (Schutzherr) hat soziale Macht durch die Gefälligkeiten, die er seiner Klientel erweisen kann, und die Gefälligkeiten, welche die Klienten umgekehrt ihrem Patron schulden, erhöhen seine soziale Macht. Die Französische Revolution mit ihrem anschließenden europäischen Durcheinander bildet daher gewissermaßen die Achse für den ‚Aufschwung‘ der Familie Gurlitt. Johann Gottfried Gurlitt (1754–1827) beschreitet den traditionellen Weg eines Aufstiegs durch Bildung, gehört jedoch darin zur Moderne, dass er in Hamburg als bildungsgeschichtliche Neuerung das Abitur einführt. Aber er bleibt unverheiratet und stirbt kinderlos. – Johann August Wilhelm Gurlitt (1774–1855), der Sohn des früh gestorbenen Gottlob Wilhelm Gurlitt, wird als Handwerksgeselle arbeitslos und damit gewissermaßen an den Anfang der Familiengeschichte zurückgeworfen. Er wehrt sich auf kreative Weise gegen den sozialen Abstieg, indem er, nach einigen Umwegen, als Kaufmann arbeitet, der seine eigenen Waren produziert, und wird also Unternehmer. Damit verkörpert er exemplarisch, was Aufstieg unter kapitalistischen Verhältnissen heißt. Zugleich bildet er den Fluchtpunkt der familiengeschichtlichen Überlieferungen. Diese Überlieferungen kulminieren in der Biographie, die Ludwig Gurlitt, der Enkel von Johann August Wilhelm, über seinen Vater verfasste: Louis Gurlitt. Ein Künstlerleben des XIX. Jahrhunderts. Dargestellt von seinem Sohne Ludwig Gurlitt. (Berlin 1912). In die Darstellung gehen sowohl mündliche Erzählungen als auch schriftliche Dokumente ein, unter letzteren namentlich Familienbriefe und autobiographische Aufzeichnungen zweier Söhne von Johann August Wilhelm (1774–1855). Louis Gurlitt (1812–1897) schrieb im Jahr 1870 Kindheitserinnerungen für seinen Ältesten auf, das Manuskript publizierte der Heimatverein Buxtehude 1965.7 Sein jüngerer Bruder Gustav Cornelius Gurlitt (1820–1901) schrieb um die gleiche Zeit eine Familienchronik, ein Manuskript, das bisher nicht veröffentlicht ist, aber für Veröffentlichungen 30

Johann Gottfried Gurlitt und Johann August Wilhelm Gurlitt

benutzt wurde.8 Aus solchen Überlieferungsströmen bildet sich das Gedächtnis einer Familie: die immer wieder neue Antwort auf die Frage ‚wer sind wir?‘.

2 Johann Gottfried Gurlitt (1754–1827) Auch von Johann Gottfried Gurlitt, dem ersten Bildungsreformer in der Familie, existieren autobiographische Aufzeichnungen, in Form einer lateinischen Lebensbeschreibung. Darin gibt er Leipzig als Geburtsort an, tatsächlich war es Halle.9 Sein Vater, der Schneidermeister Johann Georg Gurlitt, wird also nach der Geburt des Sohnes aus dem preußischen Halle in das sächsische Leipzig gezogen sein. Dort gab es keinen städtisch überwachten Elementarunterricht, Johann Georg wurde durch unterschiedliche Lehrer, übrigens auch im Französischen, so weit mit Kenntnissen versorgt, dass ihn mit acht Jahren (1761) die lateinische Thomasschule aufnahm. Elf Jahre lang besuchte er die gelehrte Schule, deren Lehrer mitunter auch als Professoren an der Leipziger Universität lehrten, so vor allem der Rektor Johann Friedrich Fischer. Fischer kommentierte die lateinischen Ausdrücke extensiv und lateinisch, nach Etymologie, Parallelstellen, Lesarten, Kommentaren, ließ sie aber sehr nachlässig ins Deutsche übersetzen; nur bei den Übersetzungen vom Griechischen ins Lateinische gab er sich penibel.10 Er war es auch, der Gurlitt in seinen Privatstunden für das Studium „der classischen und biblischen Philologie“ so sehr begeisterte, dass Gurlitt, abgesehen vom Unterricht im Hebräischen und Arabischen, zusätzlich Syrisch, Samaritanisch und Äthiopisch auf eigene Faust erlernte. Der anspruchsvolle Unterricht führte in die lateinische akademische Kultur und in das Selbststudium ein, kaum in die Sprach- und Textkompetenz des Deutschen. Dafür sorgte eher der berühmte reformierte Geistliche Georg Joachim Zollikofer (1733– 1788), dessen Predigten Johann Georg zu Hause aus dem Gedächtnis jahrelang nachschrieb. Eine Reifeprüfung gab es noch nicht in Deutschland, seine Qualifikation zum Studium wies der junge Gelehrte von sich aus durch eine Erklärung des dreiundvierzigsten Psalms nach, selbstverständlich lateinisch.11 Mit neunzehn Jahren (1772) setzte Gurlitt seine Studien an der Universität Leipzig fort, speziell in Philologie, Philosophie, Theologie, Geschichte und Mathematik. Unterstützt wurde er finanziell durch den Vater, wie er dankbar schreibt, zusätzlich auch durch Stipendien. So konnte er seinen Interessen „durch beständiges Nachtarbeiten“ unbesorgt nachgehen. Die Meinungsverschiedenheiten seiner akademischen Lehrer, namentlich auf religiösem Gebiet, halfen ihm, wie er sich ausdrückt, „die Kraft des Denkens, Urtheilens, des Disputirens und Zweifelns zu schärfen“, das heißt, sie bestärkten ihn in seiner Richtung weg vom Gottesdienst, hin zum Schuldienst. 1776 habilitierte sich Gurlitt als Privatdozent (Magister legens), studierte weiter und bot zugleich zwei Jahre hindurch eigene Vorlesungen an, über Hebräisch, Gesänge 31

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aus dem Homer, die Theogonie des Hesiod, Platonische Dialoge und die Memorabilien des Xenophon. „Ich würde mein ganzes Leben sehr gern der akademischen Laufbahn gewidmet haben, wenn mein Vermögen hingereicht hätte, mir wenigstens einige Jahre hindurch meine äußere Stellung zu sichern.“ Aber die Stipendien hörten auf und der Privatdozent Gurlitt musste sich nach einer Stellung als Lehrer umsehen.12 Ein Staatsexamen für Lehrer gab es im Ancien Régime noch nicht, der Stellenmarkt funktionierte dank persönlicher Bekanntschaften oder Empfehlungen (Patronage) sowie Eingangsprüfungen. Gurlitt wurde durch einen wohlwollenden Professor mit Friedrich Gabriel Resewitz (1729–1806) bekannt gemacht, der die Internatsschule Kloster Berge bei Magdeburg leitete, und nutzte die Beziehung, um bei Resewitz eine Stelle als Oberlehrer anzutreten. Resewitz (1729–1806) hatte als Prediger in Kopenhagen eine Realschule eingerichtet und sich generell für eine Modernisierung des Unterrichts ausgesprochen, der auch die Nicht-Akademiker zum Fortschritt in ihren Geschäften und in der Gesellschaft erziehen sollte.13 Zwar versprach ein Schulprogramm von 1776, „so viel möglich, die bürgerlich-nützliche Unterweisung mit der gelehrten zu vereinigen“, aber die Schule war und blieb nun einmal eine lateinische Vorbereitungsanstalt für – adlige wie bürgerliche – Akademiker. Anders als die sächsischen Fürstenschulen oder die württembergischen Klosterschulen war Kloster Berge kein säkularisiertes Kloster, sondern auf dem alten Klostergut gewissermaßen zu Gast, was zu finanziellem Dauerstreit führte. Resewitz selbst, zugleich Abt und Generalsuperintendent des Herzogtums Magdeburg, gerierte sich im Lauf der Zeit immer mehr als Fürst und immer weniger als Schulleiter, so dass er 1797 nach langen Streitigkeiten seines Amtes enthoben wurde. Bezeichnend die Hierarchie der Gehälter: Resewitz bezog jährlich 4000 Reichstaler (Rth) oder mehr, die Lehrer hatten Tisch, Wohnung und Heizung frei, die drei oder vier Oberlehrer bekamen immerhin 300 pro Jahr, die etwa 9 Unterlehrer erst 40, später 60 Rth.14 Auch wenn die Schule Kloster Berge an Ansehen und Schülerzahl im Lauf der Jahre verlor, behielt sie doch ihr akademisches Selbst- und Standesbewusstsein und verband es mühelos mit dem Bildungsgedanken, der sich am Ende des 18. Jahrhunderts durchsetzte. In einer Schulrede sagte Gurlitt 1798: Es ist für den Gelehrten ein belohnender Gedanke, daß von seinem Stande alle Ausbildung der Menschheit ausgehe, daß sein Stand nicht nur auf den Geist des Zeitalters, in welchem er lebt, sondern auch auf die Denkart nachkommender Menschengenerationen den wohlthätigsten Einfluß habe, daß, durch ihn geleitet, die Menschheit zu ihrem Ziele fortschreite, dem großen Plane gemäß, welchen die Vorsehung mit dem Menschengeschlechte zu beabsichtigen scheint. Aus diesem Gesichtspunkte betrachtet, erscheint die Ausbildung und Vervollkommnung dieses Standes selbst von der größten Wichtigkeit.15

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In die lateinische Ausbildung des gelehrten Standes flossen jedoch zunehmend Impulse von außen ein. Während der Französischen Revolution lasen sich die Primaner die Zeitung vor, und die Tagelöhner lernten politische Reden auswendig. „Auch hörten wir in der Klasse selbst von Gurlitt ein großes Gewicht darauf legen, daß eine Nation ihren König vor Gericht fordere“.16 Sogar Schillers Jenaer Antrittsvorlesung (1789) geriet irgendwie in die zwei Unterrichtsstunden Deutsch, die in jeder Klasse vorgesehen waren – neben den 8 Wochenstunden Französisch oder 11 Stunden Latein und anderen. Zumeist aber wurde deutsche Gegenwartsliteratur, und zwar aus den Leihbibliotheken Magdeburgs, außerhalb des Unterrichts zur Kenntnis genommen, sei es in den freien Lesestunden, sei es im Theaterspiel. Die Erfolgsromane der 1770er Jahre, darunter natürlich Werther, veränderten das rabaukenhafte Schulklima hin zur Empfindsamkeit, versichert der Schüler Matthisson.17 In den 80er Jahren veranstalteten die Schüler Aufführungen in einem Theater auf dem Dachboden, Stücke von Kotzebue oder auch Goethes Clavigo; der später als bayerischer Schulreformer bekannte Heinrich Stephani (1761–1850), der sich vier Jahre als Hofmeister eines Grafen Castell in der Schule aufhielt, inszenierte sogar Schillers Räuber mit den Schülern – gegen den Widerstand der Lehrer, mit Billigung des Abtes.18 Die zeitgenössische Didaktik unterschied zwischen ‚statarischer‘ und ‚kursorischer‘ Lektüre eines Autors; erstere mit genauen Wort- und Sacherklärungen, letztere um ein Erfassen des ganzen Textes bemüht. Offenbar hat Gurlitt eher statarisch unterrichtet, um gelehrtes Wissen über die Antike zu vermitteln, als das Verständnis des Autors oder gar eigentliche Sprachkompetenz zu üben. Sein Schüler Schütze bemerkt jedenfalls bedauernd: Man schätzte sich glücklich, wenn man erst in Prima saß, um Gurlitts Unterricht zu genießen, dieses feinen Mannes, der, immer des Nachts bis 1 Uhr Gelehrsamkeit einsammelnd, in den Klassen an lehrreichen und nützlichen Kenntnissen überfloß und sie so passend verknüpfte, daß sein Vortrag sowohl den Geist zu bereichern als den Geschmack der Schüler zu bilden geschickt war; aber – die eigentliche Erlernung der Sprache wurde doch darüber verabsäumt. Den geheimen Wunsch, Professor einer Universität zu werden, den er schon lange gehegt hatte, befriedigte er hier vom Katheder aus, weshalb er denn auch, wenn er eine Stunde ausfallen ließ, nur zu sagen pflegte: ich lese heute nicht! Er gefiel sich immer darin, den Text zu einer Unterlage von gelehrten Bemerkungen zu machen, die alle mit dem größten Eifer nachgeschrieben wurden. So rückten wir im Autor nie von der Stelle […]. In Prima beschäftigten mich Herodot und Homer. Der gute Homer! Wie gern hätte ich ihn ganz kennen gelernt, aber Gurlitt kam wieder nicht von der Stelle.19

Nach dieser Schilderung scheint Gurlitt der Typ des fortstudierenden Lehrers gewesen zu sein, dem die mönchische Klause des Studierzimmers Wohnstatt und Arbeitsplatz bot. Dort widmete er sich nicht nur der Unterrichtsvorbereitung, sondern der Fülle eines humanistischen 33

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Wissens, das die Theologie und zuletzt auch die Kunst einschloss. Er durchwanderte, wie er in seiner Lebensbeschreibung sagt, „das ganze Feld der heiligen und Profan-Philologie, um daraus Einiges für den Gebrauch der Vorlesungen entlehnen und für die Kräfte des jugendlichen Geistes passende auswählen zu können“ – wobei er sich durch die Liebe der Schüler dafür belohnt fühlte, dass er „jene Zeit meines männlichen und jugendlichen Alters, welches ja so sehr zur Freude auffordert und sie unterstützt, der Schule wegen in Studien und Nachtwachen verlebt habe, so dass bald Runzeln der Stirn, Blässe des Gesichtes, trüber Blick sich bei mir einstellten, obwohl mein Temperament sich zum jugendlichen Frohsinn hinneigt.“20 Außerhalb der Schule war es wohl nur die Verbindung mit der Freimaurerloge in Magdeburg, die Gurlitt Umgang und Anregung vermittelte.21 Zwei Freimaurerreden von ihm wurden 1785 publiziert. In einer davon rühmt er das Zweifeln nach dem Vorbild des Descartes und vor allem die Toleranz gegenüber abweichenden Meinungen, weil ja „die Verschiedenheit der Meynungen selbst die Weisheit finden, befestigen und ausbreiten helfe“.22 Damit scheint auch, nach sieben Jahren Lehrertätigkeit, eine Scheu überwunden, die ihn von der Autorschaft zurückhielt. Nun publizierte Gurlitt Übersetzungen von Pindar und von Oden des Horaz und Catull (1785, 1787), dazu einen Abriß der Geschichte der Philosophie zum Gebrauch der Lehrvorträge (1786), wovon ein Viertel auch die neuere Philosophie seit der Wiedergeburt der Wissenschaften in der Renaissance behandelte. Gurlitt ließ sich seine stille Lehr-und-Lern-Existenz nicht durch Angebote von außerhalb unterbrechen, obwohl Gymnasien in Berlin, Breslau, Grünstadt ihn gewinnen wollten. Professor an einer Universität wäre er, wie er bekennt, zwar gerne geworden, aber die Aussichten dazu zerschlugen sich. Eine entscheidende Zäsur machte allerdings die Neuorganisation seiner Schule im Jahr 1797. Neben Resewitz’ Nachfolger wurde Gurlitt nun von der preußischen Regierung zum Direktor von Kloster Berge bestellt. Er ließ als erstes ein neues Inskriptionsbuch für die Schüler anlegen, dazu ein weiteres für die Lebensbeschreibungen der Lehrer. Sodann modernisierte er die verstaubte Schulbibliothek, indem er Lehrer und ehemalige Schüler aufforderte, Bücher der „besten deutschen, französischen, italienischen und englischen schriftsteller aus dem fache der schönen redekünste“, d. h. der Belletristik zu spenden.23 Ausnahmsweise widmete Gurlitt, der sonst nur antike Autoren und Themen behandelte, ein Schulprogramm Ossian, dem fiktiven Naturdichter Schottlands (1802). Vor allem führte er die vergessenen öffentlichen Halbjahresprüfungen wieder ein, zu denen er in seinen Schulprogrammen regelmäßig einlud, wobei ausgezeichnete Schüler mit Büchern oder auch Kupferstichen (!) belohnt wurden. In diesen Schulprogrammen entfaltete Gurlitt sein wachsendes Interesse für das, was damals ‚Archäologie‘ hieß, für alle Überreste der Antike. Maßgebend wurden dabei vor allem Johann Joachim Winckelmanns Geschichte der Kunst des Alterthums (1764) und Christian Gottlob Heynes Einleitung in das Studium der Antike (1772). Gegen den berühmten Göttinger Professor Heyne wollte Gurlitt auch die Architektur und die Münzkunde (Numismatik) als „ein Theil 34

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des schönen Alterthums“ betrachtet wissen;24 mit Heyne nahm er teil an jener Historisierung und Ästhetisierung der Antike, die den deutschen Neuhumanismus prägte. Den Anstoß gab wohl das Interesse für Winckelmann, über den Gurlitt eine Biographische und literarische Notiz mit zahlreichen ungedruckten Dokumenten herausgab (1797). Es folgten ein Beitrag zur Gemmenkunde, der das Mechanische ebenso wie die Geschichte der Steinschneidekunst behandelte (1798), desgleichen Abhandlungen Ueber die Mosaik (1798) und ein Versuch über antike Köpfe, Hermen und Büsten (1799/1800). Zugleich mit diesen gelehrten Schulschriften publizierte Gurlitt neun Abschlussreden unter eher pädagogischer Zielsetzung, die er bei den öffentlichen Prüfungen hielt, und betonte, „daß ich gar häufig Erfahrungen meines eigenen Amtes und Lebens, Gedanken und Gesinnungen meines eigenen Herzens, nicht immer blos angelernte Ideen vorgetragen habe“.25 Durch die Widmung an den für Bildungspolitik zuständigen Justizminister von Massow sowie zwei Schulreden Von den Vorzügen der Preußischen Lande wollte Gurlitt vermutlich auf seine Leistungen aufmerksam machen, um seinen Aufstieg in der akademischen Welt fortzusetzen. Es kam jedoch anders. Zu Ostern 1802 erhielt er, ohne dass er sich selbst beworben hätte, den Ruf, die Direktion des Johanneums in Hamburg zu übernehmen. Man bot ihm 2200 Rth Jahresgehalt, freie Feuerung und Wohnung; Gurlitt forderte und erhielt darüber hinaus die Professur für Morgenländische Sprachen am Akademischen Gymnasium, der Hamburger Proto-Universität.26 Bleibeverhandlungen hatten keinen Erfolg und im Herbst 1802 zog Gurlitt nach Hamburg, wo ihn immerhin der ersehnte Professorentitel erwartete. Nach Hamburg nahm er eine preußische Errungenschaft mit, die er mit folgenden Worten gelobt hatte: „Es ward die Prüfung der Reife zu den akademischen Studien verordnet, und die Aufsicht darüber zur Sache des Staates erhoben. Eine Einrichtung, die schon viele der vortrefflichsten Früchte getragen […] und noch viele derselben hervorbringen wird.“27 Die Reifeprüfung, eine an die Lateinschulen verschobene Aufnahmeprüfung zur Universität, ist der eigentliche Hebel zur Verstaatlichung des Schulwesens in den protestantischen Ländern geworden.28 Sie war zunächst nicht selektiv gedacht; erst 1834 verlangte Preußen generell eine Bescheinigung der Studierfähigkeit, während die übrigen Staaten des Deutschen Bundes lediglich ein allgemeines Zeugnis der wissenschaftlichen Vorbereitung sowie des politischen Verhaltens forderten. Anfangs, nach dem Erlass vom 23.  Dezember 1788, gab es in Preußen Anpassungsschwierigkeiten, so etwa, wenn alle Schulabgänger ausnahmslos für reif erklärt wurden, egal wie schlecht die Prüfungen ausgefallen waren. In Kloster Berge besorgten sich die Abiturienten 1794 einen Schlüssel zu Gurlitts Zimmer, um die gefürchteten Prüfungsfragen von seinem Schreibtisch ‚zu praktizieren‘, was glücklicherweise unentdeckt blieb.29 In Hamburg wurde die Reifeprüfung von der Hochlöblichen Schuldeputation ebenfalls beschlossen und zu Ostern 1804 zum ersten Mal durchgeführt. Gurlitt vermied die preußischen Anfangsfehler, etwa den mehrstündigen griechischen Aufsatz, und schuf seine eigene Prüfung: 35

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Lateinische Prosaschriftsteller und Poeten musste der Schüler übersetzen und erklären können, in der deutschen, lateinischen und französischen Sprache musste er sich fehlerfrei und klar ausdrücken, in Geschichte sollte er die Chronologie der Epochen beherrschen, in der Philosophie vor allem die antike Philosophie, Mathematik nur ein bisschen. Die revolutionäre Einrichtung begründete Gurlitt damit, dass die Studierunfähigen rechtzeitig zu einer anderen Berufswahl umgeleitet, die Fähigen dagegen besser vorbereitet würden, und nicht zuletzt auch mit der Disziplinierung der Schüler, die „gegen das Ende ihrer Schullaufbahn eine gewisse Schlaffheit und Gleichgültigkeit gegen den Schulunterricht zeigten, die Lectionen häufig verabsäumten, und sich den Banden der Geseze und Disciplin vielfältig entzögen.“30 Die Begründung wurde gebraucht, solange die Väter, Vormünder, Lehrer von sich aus das Ende der Schulausbildung festsetzen konnten. Den Elternrechten entsprechend blieb die Reifeprüfung eine freiwillige Sache – erst mit der Reichsgründung 1871 wurde auch in Hamburg der Hochschulzugang von Staats wegen kontrolliert. Solange musste also der Direktor Druckmittel (Empfehlung für Stipendien) und Lockmittel (Feierstunde) einsetzen, um die neue Einrichtung schmackhaft zu machen. Zwischen 1804 und 1827 gingen 169 Schüler durch die Maturitätsprüfung und anschließend, ob ‚reif ‘ oder ‚unreif ‘, an eine Universität oder ins Akademische Gymnasium; fast die gleiche Zahl (151) umging die Reifeprüfung.31 Eine Besonderheit Hamburgs wie auch anderer Hansestädte (Bremen, Stettin, Danzig) war das Akademische Gymnasium, das 1611 eingerichtet worden war. Es sollte nach der lateinischen Gelehrtenschule den Übergang zur Universität erleichtern durch ein Lehrprogramm, das in etwa der alten Artes-Fakultät (später: Philosophische Fakultät) entsprach. Sechs Professoren waren bestellt, um Vorlesungen über Mathematik, Physik, theoretische und praktische Philosophie, Geschichte und Morgenländische Sprachen zu halten. Das Gehalt war dünn, Hörgelder fielen kaum in voller Höhe (12  Rth) an, weil sie den Bedürftigen erlassen wurden, und weil in den letzten Jahren vor 1800 nur ein bis zwei Gymnasiasten pro Jahr aufgenommen wurden. Bei seinem Wechsel nach Hamburg forderte und erhielt Gurlitt die Sprachprofessur. Er unterrichtete am Akademischen Gymnasium Hebräisch, die Anfangsgründe des Aramäischen oder Syrischen, erklärte biblische Bücher, wie die Psalmen oder auch die Briefe des Neuen Testaments, und bot von sich aus Vorlesungen über griechische Dichter an. Für die lateinischen Autoren war nicht gesorgt, weshalb Gurlitt die Hörer dazu drängte, auch den Unterricht in der Prima des Johanneums zu besuchen. Varnhagen von Ense (1785–1858) beispielsweise, Hauslehrer bei deutschen und jüdischen Familien, setzte sich als Erwachsener auf die Schulbank und hörte zugleich Vorlesungen im Gymnasium.32 Es kamen freilich wenige Hörer; in den Kriegs- und Krisenjahren von 1790 bis 1815 schrieben sich kaum fünf Schüler pro Jahr in beiden Institutionen, Schule und Gymnasium, ein.33 Danach stiegen die Zahlen wieder an, ab 1820 zählte man im Akademischen Gymnasium durchschnittlich 19 Studierende pro Jahr, sie verweilten in der Regel ein Jahr.34 Auch hier 36

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sorgte Gurlitt für die Repräsentation der Lehranstalt in der Öffentlichkeit, indem er die lateinischen Abschiedsreden der Studenten publizieren ließ. Schon in Kloster Berge muss Gurlitt begriffen haben, dass Öffentlichkeitsarbeit entschieden zur Aufgabe der Schulleitung gehört. Die Gelehrtenschule des Johanneums war Ende des 18. Jahrhunderts der Auflösung nahe gewesen. In den drei untersten Klassen fanden sich überhaupt keine Schüler mehr ein, die Quarta dagegen hatte der Klassenlehrer zu seiner eigenen Privatschule aufgebläht, wie er im Oktober 1800 stolz berichtet: „Außer diesen Scholas, die ich selbst gehalten habe, haben auch andere Doctores, von mir eingesetzt, Privatschüler die Kunst des Schreibens und Rechnens, die heutigen Sprachen und Waffenübungen [Fechten] gelehrt.“35 Schuld daran war sicher die Gleichgültigkeit des letzten Rektors Lichtenstein, der von 1782 bis 1799 allen Konflikten aus dem Wege ging. Darüber hinaus aber blühte gegen Ende des pädagogischen Jahrhunderts so etwas wie ein Schulunternehmertum auf; berühmte Pädagogen wie Johann Heinrich Campe (1746–1818), unerfahrene Magister und erfahrene Pastoren gründeten Privatinstitute und Pensionsanstalten und multiplizierten damit den früheren Unterricht durch Hauslehrer.36 Sie boten statt Latein und Griechisch moderne Fremdsprachen, Rechnen und Geographie an und damit eine ökonomische Lösung für die „bürgerlich-nützliche Unterweisung“ (Resewitz). Dagegen wandte sich Johann Georg Büsch (1728–1800), Mathematikprofessor am Akademischen Gymnasium und Begründer der Hamburger Handelsakademie, mit seinem Wort an die Bürger Hamburgs über ihre Nichtachtung brauchbarer Gelehrsamkeit in der Erziehung ihrer Söhne und den daher rührenden Verfall unserer beiden öffentlichen Lehrinstitute (1800). Und so stellte sich ganz konkret in Hamburg auch für Johann Gottfried Gurlitt die Aufgabe, an der bis heute gearbeitet wird, wie die Schule auf die Universität und zugleich auf das praktische Leben vorbereiten könne. Gurlitt kämpfte gegen die private Konkurrenz mit alten Formen (Rede-Actus) und neuen Inhalten (deutsche Gegenwartsliteratur). Er ließ jeden Monat öffentliche Redeübungen abhalten; die erste am 11.  Oktober 1803 präsentierte zugleich eine Ode des eben verstorbenen Klopstock, Balladen von Schiller und die Schlussszene von Goethes Egmont, umrahmt und unterbrochen von Musik.37 Statt der bisherigen Lektionskataloge veröffentlichte er regelmäßig Schulprogramme. Sie enthalten eine gelehrte Abhandlung des Direktors, Schulnachrichten und die Einladung zu den öffentlichen Prüfungen: zum ersten „Maturitäts-Examen am 22.  März 1804 von 9 bis 1  Uhr“ die Namen der abgehenden Schüler, dazu eine Textprobe Der Rhein, Fragment aus einem Gedicht ‚Die Ströme‘ von Herrn Prediger Bodenburg, schließlich Gurlitts Rechtfertigung der neuen Prüfung. Auch die freiwilligen Abiturprüfungen sind öffentlich: Die korrigierten schriftlichen Arbeiten liegen zur Einsicht aus, alle Lehrer, Schüler, Schülereltern und Honoratioren sind anwesend, um eine Feierstunde zu gestalten (bis 1829). Außer dem Maturitätsexamen wurden zweimal im Jahr öffentliche Prüfungen der ganzen Schule abgehalten, die zwei Tage lang dauerten. 37

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Als Direktor konnte Gurlitt sich hier ungewöhnliche Handlungsfreiheit sichern, nachdem ihn Berlin mit der Zusage eines Rektorats abwerben wollte. In den Bleibeverhandlungen des ersten Jahres setzte er durch, dass ihm weder Pastoren noch Scholarchen in die innere Einrichtung der Schule hineinreden durften. Er stellte schon im ersten Jahr einen Zeichenlehrer ein und trennte die Unterklassen (8.–6. Klasse) als Bürgerschule (schola civica) von den fünf oberen Klassen, die als Gymnasium (schola superior) den Gelehrten diente. Zukünftige Kaufleute konnten, wie früher auch, nach Belieben teilnehmen, doch wurde für sie, anders als früher, ein eigener Parallelzug eingerichtet mit Italienisch und gegen Aufgeld auch Englisch, Spanisch, Portugiesisch. Zum Lehrer für diesen Zweig gewann Gurlitt Carl Friedrich Hipp (1763–1838), der seine erfolgreiche Privatschule aufgab, um ab 1805 am Johanneum und zugleich am Akademischen Gymnasium Mathematik zu unterrichten.38 In den gelehrten Klassen tritt an die Stelle der Klassenlehrer das Fachlehrersystem (bis 1828), das Schulgeld fließt in eine gemeinsame Kasse, statt ad personam gezahlt zu werden, die Besoldung für alle Lehrer steigt auf 2400 Mark jährlich (ca. 1000 Rth). Solche organisatorischen Veränderungen fanden in einem Umfeld statt, das sich selbst auf das schärfste veränderte. 1791 hatte der Rektor des Johanneums die 20 Scholarchen wiederholt gebeten, die Aufnahme von Juden zu erlauben, was abgelehnt wurde. 1803 nahm Gurlitt den Juden David Mendel (1806 getauft als Johann Wilhelm Neander) auf und begleitete dessen lateinische Abschiedsrede 1805 mit einer eigenen Abhandlung zum Bürgerrecht der Juden.39 Doch kurz darauf wurde Hamburg in das Französische Kaiserreich, Departement Bouchesde L’Elbe, integriert (1.  Januar 1811), das französische Zivilstandsregister wurde eingeführt, wonach alle Staatsbürger, gleich welcher Konfession, gleichgestellt waren und die Lutheraner ihre privilegierte Stellung verloren.40 Eine kaiserliche Kommission prüfte im Sommer 1811 die Verhältnisse am Johanneum, beließ der Schule jedoch ihre Selbständigkeit. Nachdem Napoleons Niederlage vor Moskau bekannt geworden war, kam es Anfang des Jahres 1813 vielfach zu örtlichen Aufständen, so auch in Hamburg. Im März wurde Hamburg von den Russen erobert bzw. von den Franzosen befreit. Nach einem Aufruf des Obersten Freiherrn von Tettenborn zum heiligen Krieg bildeten sich Freiwilligenverbände unter dem Namen der Hanseatischen Legion, auch Lehrer und Schüler des Johanneums nahmen die Waffen auf.41 Ende Mai jedoch rückten die Franzosen wieder ein und begannen, Hamburg, dessen Wälle 1804 niedergelegt worden waren, zur Festung auszubauen und zu verproviantieren. Der ‚eiserne Marschall‘ Davoȗt vertrieb zu Weihnachten 1813 20–25 000 unnütze Esser (bouches inutiles), etwa ein Sechstel der Bevölkerung, aus der Stadt, von denen viele zunächst Zuflucht in Altona fanden.42 Im Mai 1814 kapitulierten die Franzosen endgültig und zogen zurück nach Frankreich. Im folgenden Jahrzehnt erreichte Gurlitt den Höhepunkt seines Aufstiegs. Zahlreiche seiner Schüler nahmen Führungspositionen im norddeutschen Bildungsbereich ein. Die Universität Helmstedt hatte ihm 1806 den Ehrendoktor der Theologie verliehen, obgleich er als überzeugter 38

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Aufklärer eher kirchenfern eingestellt war.43 Und als ihn die Universität Kiel 1818 zum Professor der Theologie und Philosophie berief, brauchte er nicht mehr zuzugreifen. Er arbeitete an einer Biographie des Abtes Resewitz (unpubliziert), veröffentlichte in seinen Schulprogrammen zunehmend auch Vorlesungsnachschriften aus Göttingen. Zur Feier des 300-jährigen Jubiläums der Reformation 1817 warf er Blicke in die Zukunft, veränderungswillig und bewahrend. Er plädierte für den modern werdenden Turnunterricht und für weitere Bildungsstätten für Kaufleute, gewöhnliche Bürger und Künstler: So möge denn noch nach einem Jahrhundert, wenn unsere Nachkommen diese kirchliche Feier wieder begehen, das Johanneum blühen wie jetzt, ja in noch schönerer Kraft und Stärke! Möge auch dann noch die Lesung und Erklärung der Alten einen Hauptbestandteil der Unterweisung der studierenden Jugend ausmachen! Möge das Turnwesen als gymnastische Übung immerhin auch dann noch bestehen; aber auch in den Schranken erhalten sein, aus welchen es bis jetzt, vielleicht hier und da, aber bei uns nie, wich […]. Möge auch des Johanneums äußerliche Blüte noch möglich gemacht sein durch Aufführung eines großen Gebäudes, sei es auf dem Platze des Domes oder der Marien Magdalenenenkirche, in dessen vier Flügeln angelegt seien vier Lehranstalten mit vier Direktoren, das Gymnasium und die Gelehrtenschule, eine Kaufmannsschule, eine große Bürgerschule und vielleicht eine Zeichen- und Kunstakademie; letztere für die Stadt nicht nur, sondern für das ganze nördliche Deutschland!44

Gurlitt bewohnte das Erdgeschoß der dreistöckigen Gymnasial- und Stadtbibliothek. Er dürfte eine Haushälterin gehabt haben, denn man weiß von Schülern, die bei ihm über Jahre hinweg in Pension lebten.45 In den letzten Lebensjahren litt er an Gicht oder Arthritis und erblindete auf einem Auge. Trotz seiner Bitten um Pensionierung ließ ihn die Hamburger Schuldeputation gnadenlos bis zuletzt unterrichten. Ob Gurlitt seine Verwandten in Altona unterstützt hat, ist unbekannt und eher unwahrscheinlich. Der Nachlass enthält, wie es scheint, keinerlei Familienbriefe. Einen Teil seines Vermögens in Höhe von 4000 Mark vermachte Gurlitt dem Johanneum als Grundlage für Stipendien. In seinem Testament, das am 3. Juli 1827 öffentlich bekannt gemacht wurde, setzte er sieben Gruppen von Erben ein:46 die Kinder seines ‚Bruders‘ [Vetters] Carl,47 die Kinder seiner beiden Schwestern, Bekannte (oder Verwandte) im schlesischen Zobten (Sobótka), in Leipzig und in Breslau, also enge Angehörige von sich selbst und Personen seiner Lebensgeschichte mit deren Kindern. „Prof. Gurlitt stand eigentlich unserem Hause sehr fern. Wohl erinnere ich ihn gesehen zu haben, wie er auch Taufzeuge meines sel. Bruders Eduard [1806] war, doch war der Umgang mit meinem Vater oberflächlich“, erinnert sich Gustav Cornelius Gurlitt in seiner Familienchronik.48 39

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3 Vom Ansehen Innerhalb des Familiengedächtnisses ein Solitär, ist Johann Gottfried außerhalb desselben als Akteur vernetzt in vielen Feldern und Geschichten anzutreffen. Ein wahrer Strom von Texten von ihm und über ihn erlaubt, ihn beim Aufblühen des Neuhumanismus, bei der Beschäftigung mit antiker Kunst ebenso wie als Restitutor Johannei (lokalgeschichtlich) zu beobachten.49 Dazu spielt er eine wichtige Rolle in der zu wünschenden, wenn auch noch ungeschriebenen Geschichte, welche die Durchsetzung des Abiturs in Deutschland zu erzählen hätte. In der Familiengeschichte figuriert er als berühmter Mann. „Der Mann, dessen Name durch die ganze wissenschaftliche Welt drang, ehrte auch unser Haus“, hält Gustav Cornelius Gurlitt fest.50 Entsprechend rühmt Ludwig Gurlitt den akademischen Vorfahr wegen seiner sozialen Macht außerhalb der Familie, als „Gelehrter und Geistlicher, der einen ganz erstaunlich starken und weithinreichenden Einfluß ausübte. Jahrzehnte lang wurde kaum ein Direktor an norddeutschen und auch nordischen Gymnasien angestellt, den er nicht vorher dazu empfohlen hatte: Als mein Vater [der Maler Louis Gurlitt], jung an Jahren, in Dänemark, Norwegen und Schweden reiste, schuf ihm der Name seines Großonkels bei Pastoren und Gelehrten stets freundliche Aufnahme.“51 Die Prominenz ist in ehrendem Andenken zu halten, aber für die Familiengeschichte, wie Ludwig Gurlitt sie erzählt, spielt sie keine Rolle. Laut Ludwig Gurlitt führt die Familiengeschichte weniger nach oben, als vielmehr zur Kunst. Schon jener Christian Gurlitt in ungeklärten Arbeitsverhältnissen „machte den Schritt, der unseren Vorfahren aus Bergmännern (?) und Ackerbauern zum städtischen Handwerke führte und schlug somit die Brücke zur künftigen künstlerischen Betätigung“.52 Dessen Sohn Gottlob Wilhelm wiederholt die vorweggenommene Bewegung: „Indem er zum Kunsthandwerk überging, bereitete er den Schritt zur Kunst vor, den seine Nachkommen machen sollten.“53 Dass der Fokus sich auf die Kunst richtet, ist zu erwarten bei einer Monographie, die einem Maler gilt. Zugleich scheint sich aber doch auch ein Thema abzuzeichnen, das in der Familiengeschichte wiederkehrt, wenn Ludwig, der (Gymnasial)Professor, sich zugleich als Akademiker und Künstler fühlt, so dass er sein Lehramt fahren lässt. Zumindest bei ihm bricht die traditionelle Ambivalenz auf, die den Begriff ‚Musensohn‘ bestimmt: einerseits Künstler zu sein, andererseits Akademiker und Student.54 Bei Johann August Wilhelm Gurlitt, dem entfernten Neffen, verhält es sich genau umgekehrt wie bei seinem Großonkel. Johann Gottfried, ein kinderloser Sohn, hat, wie es scheint, nur den Ruhm für sich anzuführen. Johann August Wilhelm, ein kinderreicher Sohn, hat, wie es scheint, nur seine Nachkommen und deren Begabung für sich anzuführen. Also ist seine familiengeschichtliche Bedeutung kardinal, seine Rolle außerhalb der Familiengeschichte eher undeutlich. Der Enkel Ludwig Gurlitt nennt ihn „eine echte Künstlernatur“ und macht ihn, 40

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den Vater des Malers Louis Gurlitt, zum eigentlichen Ahnherrn der Familie, zum Stifter ihres ‚Aufschwungs‘: Ich habe hier von einem in jeder Hinsicht sehr beachtenswerten Menschen zu sprechen. Mein Großvater war ein körperlich, geistig und sittlich hochstehender Mann. Ich habe seine Söhne und Töchter – lauter Menschen von achtbarer Geisteskultur – von ihrem Vater nie anders als im Hymnentone sprechen hören. Er ist einer von denen, die der Welt nichts hinterlassen haben, nichts, außer einem Geschlecht von körperlicher Rüstigkeit und geistiger Regsamkeit. Aber ist das vielleicht wenig? Ich darf behaupten, daß der Aufschwung der Gurlittschen Familie vor allem diesem Manne verdankt wird und seiner in jeder Hinsicht ihm ebenbürtigen Gattin, von der später noch die Rede sein wird.55

In einer Kultur, die die Leistung eines Menschen entweder nach seinem Vermögen oder der von ihm erlangten sozialen Macht oder wenigstens nach ‚hinterlassungsfähigen Gebilden‘ (Gottfried Benn) schätzt, sieht Ludwig Gurlitt die familienbegründende Leistung seines Großvaters rein biokulturell, in dem rüstigen Geschlecht von ‚achtbarer Geisteskultur‘. Tatsächlich sind die künstlerischen Anregungen aus dem Elternhaus ein hervorragendes Element für die Familiengeschichte der nächsten Generation. Ich möchte sie aber auch in Verbindung sehen mit dem kaufmännischen Geschick in dem ökonomischen Kampf ums Dasein, den Johann August Wilhelm Gurlitt und seine zwei Frauen mit Erfolg geführt haben, einem doppelten ‚Aufschwung‘ mithin. Die Fabrikation der ‚Gurlitt-Tropfen‘ ist so erfolgreich, dass sie sein Schwiegersohn Stanislaus Bury, Ehemann der jüngsten Tochter, fortsetzen kann. Sie gehen noch heute, so Ludwig Gurlitt 1912, unter dem Namen Gurlitt „in die Welt und genießen, zumal in Südamerika, berechtigtes Ansehen.“56 Vielleicht ist das Ansehen nur die bürgerliche Version dessen, was vor Zeiten Ruhm hieß und heute Prominenz – ein kostbares Erbe. Und wie man sieht, können nicht nur Werke ein Ansehen verschaffen, sondern auch Waren, die Geld einbringen, gestempelt mit dem Familiennamen.

4 Johann August Wilhelm Gurlitt (1774–1855) Johann August Wilhelm war der Älteste von dreizehn Kindern. Drei seiner Schwestern überlebten und heirateten – einen französischen Oberst a. D., einen Gärtner, einen Lohndiener –, die anderen acht sind offenbar früh gestorben.57 Er ging in eine Elementarschule, mit zwölf Jahren begann die Lehrzeit bei seinem Vater. Ein Lehrbrief, unterschrieben von seinem Vater und dessen Kollegen Kletzer als „Gold und Silber drahtzieher Meister“ hat sich erhalten, ebenso eine Kundschaft, d. h. eine empfehlende Bescheinigung für die Wanderschaft, vom 23. März 1793, 41

Heinrich Bosse

sowie ein Arbeitszeugnis ein Jahr später.58 Der Vater starb im Jahr 1793, im folgenden Jahr 1794 auch die Mutter, so dass der Sohn nunmehr die Arbeit seines Vaters übernehmen musste, um seine Schwestern versorgen zu helfen; diese wurden von der Schwester der Mutter, verheiratet mit Meister Kletzer, aufgenommen.59 Im folgenden Jahr heiratete er selber (25. Juni 1795), bereits am 7. Januar 1796 wurde ihm die erste Tochter geboren. Da zu der Arbeit eines Golddrahtziehers wegen des Materials Betriebskapital gehörte, das der Sohn nicht besaß – die Eltern waren mittellos gestorben –, arbeitete er für die Gold- und Silbertressenweberei des Goldschmieds Johann Jakob Gensler in Hamburg, wobei sich eine regelrechte Freundschaftsbeziehung zwischen den Familien entwickelte. Die drei Söhne Genslers haben selbst zunächst im Betrieb ihres Vaters gearbeitet, wurden dann aber alle drei Maler.60 Die Tätigkeit des Golddrahtziehers findet ihren Platz zwischen der des Bandwirkers und dem Goldschmied, sie ist verwandt dem Goldschläger, der Blattgold macht.61 Der HandwerkerKünstler stellt jene feinen Gold- und Silberfäden her, die zu Tressen auf Hüten, Westen und Röcken der Männer gebraucht werden, für Uniformen, für die Überspannung von Knöpfen und vor allem für die Kleidung eleganter Frauen. Im Mai 1796 druckt das Journal des Luxus und der Moden einen Bericht aus Berlin: […] nur ein goldner Gürtel darf es seyn, oder eine goldne Schnur mit einer reichen Troddel an jedem Ende, leicht um die Taille genommen, wie es der Augenblick oder Laune und Geschmack wollen. Gold, dieser Tyran des weiten Erdenrundes, herscht noch immer, und mehr als jemals, an unseren Toiletten. Goldner Gürtel, Stickereyen, Franzen oder Tressen, um die Aermel und den Ausschnitt des Kleides, Schnüre und Troddeln davon mit Linon [sehr feines Leinen] gepaart.62

Die Modewaren sind freilich selber der Mode unterworfen und diese wechselt mit der Politik – von den Verzierungen des Ancien Régime zu den Simplizitäten des napoleonischen Empire. Waren 1792 zwei Golddrahtzieher-Meister in Altona zu finden, so ist es 1803 nur noch einer.63 Altona, die zweitgrößte Stadt nach Kopenhagen und die bedeutendste Handels- und Gewerbestadt des dänischen Gesamtstaats (1800: 23 000 Einwohner) wurde wirtschaftlich schwer getroffen, 1803 bis 1805 durch die englische Elbblockade, ab 1806 durch Napoleons Kontinentalsperre. Unter diesen widrigen Umständen verlor das Handwerk immer mehr seinen goldenen Boden. Der Enkel Ludwig Gurlitt berichtet von der Kunstfertigkeit des Großvaters, hauchdünne Goldfäden herzustellen, aber die Nachfrage versiegte ganz offensichtlich. Johann August Wilhelm hatte zu kämpfen, um nicht dorthin abzusinken, wo 40 % der Altonaer Bevölkerung existierten, in die Schicht der Unvermögenden und Armen.64 Nachdem die Ehefrau Margarete Martina Ehrhorn im Januar 1809 gestorben war, heiratete Gurlitt im Januar 1810 Christine Helene Eberstein, die er auf einer Reise kennengelernt hatte 42

Johann Gottfried Gurlitt und Johann August Wilhelm Gurlitt

und zog mit ihr in ein Haus, das der Schneiderinnung gehörte. Christine Helene (1783–1857) war die Tochter eines Grobschmieds in Buxtehude, die bei einem angesehenen Kaufmann als Stubenmädchen diente. Um ihre Heirat rankt sich eine Geschichte von dem verlorenen Brautschatz, die innerhalb der Familie unterschiedliche Versionen hervorbrachte. Fest steht, dass gespartes Geld vom Schwager der Braut veruntreut wurde, aber wie die Ersparnisse zustande kamen, wie hoch die Summe war und wie der Schaden reguliert wurde, wird verschieden erzählt. Dem Bericht von Gustav Cornelius Gurlitt zufolge hatte Christine Helene den Lohn und ebenso die Trinkgelder, die sie beim Servieren der häufigen Diners bekam, in Höhe von 900 Mark ihrem Schwager anvertraut, doch der verlor die Summe in unklaren Geschäften. Eines dieser Geschäfte war eine Gewürzhandlung, mit der er nicht reüssierte. Zur Entschädigung bot er die Einrichtung seines Ladens dem jungen Ehepaar an, das daraufhin Kästen und Töpfe, dazu das goldverzierte Schild „Gewürz und Colonialwarenhandlung“ übernahm und in der Diele einen Laden aufbaute.65 Die harten Jahre im Kampf ums Überleben, zumal die Kriegsjahre 1813/14, die auch Altona zu ruinieren drohten, waren dem Geschäft ungünstig, einem Geschäft zudem, das Johann August Wilhelm nie erlernt hatte und das ihm nicht lag. Der Maler Louis Gurlitt berichtet davon wie folgt: Da das Geschäft meines Vaters in den Kriegszeiten ganz darniederlag, so entschlossen sich meine Eltern, einen Gewürzladen anzulegen, so wie zugleich auch eine Näh- und Strickstube, in welcher mein Vater auch Unterricht im Schreiben erteilte; denn obgleich beide nur einen höchst mangelhaften Schulunterricht genossen hatten, so besaßen sie zu allem eine ungemeine Geschicklichkeit. Von dieser Zeit habe ich noch eine schwache Erinnerung; namentlich sind es die Honigtonnen und auch die steifgefrorenen Dorsche, die im Winter von Eckernförde kamen, auch des kleinen Ladens auf dem Hausflur weiß ich mich noch zu erinnern. Nachdem meine Eltern die Erfahrung gemacht, daß aus ihrem Unternehmen für die Dauer sich kein Vorteil herausstellen wollte, wurde das Geschäft mit einer nicht unbedeutenden Schuld an den Kaufmann Wilkens, von wo man die Waren bezogen hatte, aufgehoben.66

Der Versuch, sich beruflich – als Lebensmittelhändler (Krämer) und Schreibmeister – neu zu orientieren, war also misslungen, und die Familie mit langjährigen Schulden belastet, welche die Mutter durch ihre Näharbeiten abzutragen bemüht war. Die aufopfernde Nachtarbeit der Mutter und Großmutter ging in die Familiengeschichte ein, mit leichter Verschiebung (Mitgift statt Schulden) bis hin zum Enkel Ludwig Gurlitt: „Mein Vater erzählte uns oft mit Ergriffenheit, daß seine Mutter Jahre lang und unter Tränen daran gearbeitet hätte, oft mit Drangabe der Nachtstunden, ihrem Manne durch Handarbeit diese Mitgift wieder einzubringen.“67 Ein anderer Neuanfang ergab sich, wie Louis Gurlitt es erzählt, aus der Bekanntschaft mit einem Altonaer Arzt, der Gurlitt die Rezepte für verschiedene Medikamente in die Hand 43

Heinrich Bosse

drückte und ihn auch die Zubereitung lehrte. Solcherart war dieser zu einer Art Apotheker geworden, der (wie heute die Internet-Apotheke) an den lizenzierten Apotheken vorbei mit seinen Medikamenten eine Kundschaft versorgte, die er sich durch Werbung überhaupt erst verschaffen musste. Er begann damit bereits in der Zeit seiner ersten Ehe und noch bevor er (am 22.  Juli 1800) als Bürger in Altona aufgenommen wurde. Unter seinen Geschäftsbriefen befindet sich ein Zettel, womit das Honorar für eine Übersetzung ins Englische von der Anzeige der „würklich echten Gurlittschen wunderbaren Essentia“ im Jahr 1796 quittiert wurde.68 Auch in den Hamburger Zeitungen erschienen vor oder um 1798 eine oder mehrere Anzeigen, die zudem die Adressen der Kontaktpersonen (Kommissionäre) enthielten. Die Zuschriften aus der näheren Umgebung, aus Rendsburg, Itzehoe, Husum, Tondern, aber auch aus Hildesheim, Hanau, Lüneburg, Königsberg, Regensburg zwischen 1797 und 1845 sprechen für einen intensiven Schriftverkehr und einen ebenso intensiven Kommissionshandel. Gurlitt wurde im Lauf der Jahre zum Unternehmer, der sein Produkt selbständig herstellt und verkauft. Louis Gurlitt erinnert sich: „Mein Vater hatte längst sein Drahtziehergeschäft aufgegeben, um desto besser das Tropfengeschäft betreiben zu können. Das Herstellen der verschiedenartigen Species: Altonaer Kron-Wunden-Essenz, Lebensbalsam, Hoffmannstropfen, Lebensöl, Scorpionöl, Spicköl, Bischofextrakt, Eau de Cologne, Wund- und Fußpflaster usw.“ wurde seine Beschäftigung.69 Das ‚Tropfengeschäft‘, die kleine Pharma-Fabrik, war da untergebracht, wo Gurlitt mit seiner Familie wohnte, in der kleineren Hälfte eines Hauses, das dem Schneiderhandwerk als ‚Herberge‘ diente, Kleine Mühlenstraße 418. Im Erdgeschoss, erinnert sich Gustav Cornelius Gurlitt, befand sich die Diele, eine Vorstube und ein dunkler Raum, „eine Feuerstelle, wo Vater seine Pflaster und Harlemer Öle kochte, Kessel und sonstige Geräte verwahrte. Die Kocherei, mit widrigem Gestank verbunden, kam zum Glück nur selten vor, weil immer gleich große Quantitäten fabriziert wurden“; ein Stockwerk höher befand sich unter dem Dach anstatt der Golddrahtzieher-Werkstatt nun der eigentliche Arbeitsraum, die „Tropfenkammer“. Gustav Cornelius gibt eine eingehende Beschreibung von ihrer Einrichtung, dem Arbeitstisch mit den Filtrieranlagen, den Schiebladen, den Bücherborden mit Reisebeschreibungen und „2 grimmig aussehenden Krokodillen“.70 Sobald sie dazu fähig waren, mussten die Kinder dem Vater bei der Arbeit helfen, die Flaschen und Fläschchen auswaschen, aber auch Besorgungen in Hamburg und Stade machen. Louis durfte im Alter von 12 Jahren, also 1824, den Vater zweimal auf Geschäftsreisen begleiten, die ihn durch ganz Schleswig-Holstein bis nach Kiel und Eckernförde führten. „In den Städten wohnten wir gewöhnlich bei Kunden meines Vaters. Meist hatten sie Kramläden und Gastwirtschaft.“71 August Ludwig Wilhelm Gurlitt besorgte also nicht nur die Herstellung, sondern auch den Transport seiner Waren selbst, so dass er im Alter von fünfzig Jahren als selbständiger Unternehmer dastand. Das Geschäft hatte sich entschieden gehoben: „Der Absatz seiner Waren beschränkte sich nicht mehr allein auf Hamburg-Altona und die Herzogthümer, sondern wurde nach überseeischen Plätzen exportiert.“72 44

Johann Gottfried Gurlitt und Johann August Wilhelm Gurlitt

Abb. 1: Das Wohnhaus von Johann August Wilhelm Gurlitt in Altona, Kleine Mühlenstraße 448 (nicht 418). Die rechte Haushälfte gehört dem Schneideramt, daher das Schild „Sch. d: Haus“. [= Schneider: Haus]. Die linke Haushälfte ist das Wohnhaus. Handzeichnung des Komponisten Cornelius Gurlitt (1820–1901) in seinen Aufzeichnungen aus meinem und der Meinigen Leben [Staatsarchiv Hamburg 424-88_22_1_(Fam. Gurlitt)], S. 48. Ebd. die Erläuterungen: „Dieses ist in rohen Zügen die Abconterfeiung des väterlichen Hauses. Links von dem Striche, welcher das Haus in 2 Theile theilt ist, oder war uns. Wohnung. 1 ist das Schlafzimmer, 2 u 3 Vorplatz 1 Etage. 4 u 5 das Wohnzimmer. 6 die Hausdiele, 7 u 8 die Vorstube. 9 ist die Thüre zum Gange, welcher neben dem Haus lag u zum Garten führte. Oben auf dem Dache erblickt man den Taubenschlag. 10 Ein Schild mit Vaters Namen [J. A. W. Gurlitt]. 11 Ein Nebenhaus, welches ehemals zu dem Hause gehörte.“ 45

Heinrich Bosse

Der ausgebildete Gold- und Silberdrahtzieher leitete schließlich den Pharma-Betrieb „J. A. W. Gurlitt u. Cie“. Er hatte seine Familie und sich vor dem sozialen Abstieg bewahrt und aus eigener Kraft den Aufstieg ins Unternehmertum geschafft – gewiss durch seine persönliche Wendigkeit oder das, was sein Sohn die „ungemeine Geschicklichkeit“ seiner Eltern nennt, ebenso gewiss auch durch gutes Marketing über die Holsteinischen Fürstentümer hinaus. Schließlich ist es nichts Geringes, sich in die mechanischen und chemischen Operationen einzuarbeiten, die eine Apothekertätigkeit damals erforderte.73 Ebenso bemerkenswert ist Gurlitts Fähigkeit, Gelegenheiten zu ergreifen und auszubauen – was, nebenbei bemerkt, eine klassische Definition von Begabung ist.74 Und schließlich fällt in den Berichten seiner Nachfahren sein Talent zum Sozialen auf, das Netz alter und neuer Bekanntschaften hilft ihm bei der Bewältigung der Schwierigkeiten. Insofern ist es auch nicht nebensächlich, dass er der Altonaer Bürgerwehr angehörte und zwanzig Jahre lang, bis 1830, als ihr Waffenmeister fungierte, das heißt, die Waffen in einer Waffenkammer seines Hauses aufbewahrte. Gurlitts Erfolg lässt sich daran ablesen, wie er für die Ausbildung seiner Kinder sorgte. Drei Söhne besuchten die städtische Schule in Altona, wo ein Lehrer mit zwei Hilfslehrern eine Schar von 200 Knaben im Lesen, Schreiben, Rechnen, ein wenig Geographie und Orthographie, aber auch in Weltgeschichte und dänischer Sprache unterrichtete. Die ungünstige Lernsituation wurde  – etwa Mitte der 1820er Jahre  – durch Privatstunden in Französisch, Englisch, Zeichnen, Dänisch und auch etwas Lateinisch entschieden aufgebessert.75 Louis Gurlitt entzog sich nach Möglichkeit dem Unterricht; er wurde 1828 bei dem Hamburger Maler Bendixen auf vier Jahre in die Lehre gegeben, der pro Jahr 200 Mark Lehrgeld forderte. „Die 200  Mk. waren für die Verhältnisse meiner guten Eltern noch immer eine bedenklich hohe Summe; aber es wurde ein Übereinkommen getroffen, daß mein Vater auch in Butter, Schinken usw., die mein Vater oft in Zahlung für Medicamente aus Holstein bekam, zahlen konnte, welches ihm das Bedenkliche der Zahlung sehr erleichterte.“76 Auch Gustav Cornelius kam in die Lehre, als er 16 Jahre alt war (1836); zu seinem Leidwesen nicht bei einem Maler, sondern bei dem Altonaer Musiker Reinecke. Um diese Zeit wurde ein Tafelklavier angeschafft, ein Indiz für den Wohlstand wie für die Musikalität des Hauses. Zwei Brüder sangen im Chor der Altonaer Hauptkirche, zwei Schwestern sangen im Gesangverein, der Vater selber sang gern Arien und Volkslieder. Gerühmt wird darüber hinaus die große malerische Begabung des Vaters und das gemeinsame Theaterspielen. Neben der Tropfenkammer gab es eine eigene ‚Komödienkammer‘ mit einem fest installierten Theater, auf dem die Kinder zusammen mit einem Schulfreund, Sohn des Theaterschneiders, nach tagelangen Vorbereitungen Stücke und Szenen aufführten, darunter eine vollständige Darbietung des Freischütz. Wie Goethe in seinem Bildungsroman Wilhelm Meister (1795/1796) das Theaterspielen zur Hauptbeschäftigung seines jugendlichen Helden macht, so bildet es im Hause Gurlitt „nicht nur für uns Kinder, sondern auch für die Jugend der Nachbarschaft einen 46

Johann Gottfried Gurlitt und Johann August Wilhelm Gurlitt

Hauptzentralpunkt des Interesses“.77 Der Sohn des Theaterschneiders vermittelte die Beziehung zum wirklichen Theater und dieser Freund, erinnert sich Louis Gurlitt nach der Erinnerung seines Sohnes, „brachte seinen Freunden die deutschen Klassiker näher, als es wohl der Mehrzahl unserer Gymnasialoberlehrer möglich ist.“78 Damit offenbart sich, dass Familiengeschichten zugleich Bildungsgeschichten sind, aber, wie an Johannes Gottfried Gurlitt zu sehen, nicht umgekehrt. Für diesen war Bildung die lateinische Welt ‚der Alten‘, für die Nachkommen von Johann August Wilhelm Gurlitt ist es die intensive Binnenatmosphäre ihrer Familie, abgesehen von den beruflichen Ausbildungsverhältnissen. Damit sind wir auch aus der ständischen Welt Alteuropas eingetreten in das bürgerliche Zeitalter und in die weltoffene Atmosphäre eines Haushalts, in dem Haus und Garten erfüllt waren von Kindern. Es sind aus erster Ehe: – Maria Christiane Henriette (1796–1870), verheiratet mit einem Schiffskapitän in Altona, – Johanna Elisabeth Mancy (1797–1803), als Kind gestorben, – Martin Wilhelm Heinrich (1800–1803), als Kind gestorben, – Johanna Elisabeth Wilhelmine (1803–1869), besorgte den Hausstand der Eltern und heiratete 1828 einen Färbermeister in Altona, – Jan Tycho Eduard (1806–1855), Sattler und Tapezierer in Altona.

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Aus zweiter Ehe: Wilhelm Gustav (1810–1812), als Kind gestorben, Heinrich Louis Theodor (1812–1897), Maler, Emilie Fanni (geboren und gestorben 11. Juni 1814), Zwilling mit Margarethe Dorothea (gestorben 26. Juni 1814), Johann August Christian Theodor (1815–1821), 6-jährig an Scharlach gestorben, Karl Bernhard Wilhelm (1817–1863), Kaufmann in Südamerika und Deutschland, Adolf Friedrich (geboren und gestorben 1820), Gustav Cornelius (1820–1901), Komponist und Professor, Emma Sophie Albertine (1822–1888), verheiratet mit einem Kaufmann, Zwilling mit Elise Marie Mathilde (1822–1897), verheiratet mit einem Kaufmann aus Burg-Uffeln, Hans Christian Emanuel (1826–1896), Uhrmacher und Bürgermeister von Husum, Maria Christine Bertha (1830–1897), verheiratet mit Stanislaus Bury, dem Nachfolger von „J. A. W. Gurlitt und Cie.“79

Den wenigen berühmten Kindern stehen mindestens ebenso viele unberühmte gegenüber und ihnen allen die große Zahl der früh Gestorbenen. Man könnte sagen, es sind die Zurückgelassenen. 47

Porträt Fanny Lewald von Lazarus Wihl aus dem Jahr 1851 (Privatbesitz) FANNY (MATHILDE AUGUSTE) LEWALD (vormals MARCUS), Schriftstellerin, Vorläuferin d. bürgerl. Frauenbewegung. Geb. 24. März 1811 in Königsberg, älteste Tochter d. jüd. Kaufmanns David Marcus u. seiner Frau Zipora, geb. Assur (Assing). 1817–1824 Besuch einer Privatschule. 24.  Februar 1830 protestant. Taufe. 1831 Familienname geändert in Lewald. 1840 Beginn d. schriftsteller. Arbeit, Feuilletons u. Erzählungen. 1841 Tod d. Mutter. 1843 erste jungdeutsche Tendenzromane: Clementine u. Jenny (anonym). 1845 Umzug n. Berlin, ab Sommer Reise n. Italien. In Rom Begegnung m. Adolf Stahr. 1846 Tod d. Vaters, Rückkehr n. Berlin. Literar. Durchbruch m. d. Reisebeschreibung Italienisches Bilderbuch u. d. Satire Diogena (1847). 1848 Reise n. Paris n. d. Februarrevolution, Erinnerungen aus dem Jahre 1848. 1850 Reise n. England u. Schottland (gleichnam. Reisetagebuch 1851). Ab Mitte 1852 Zusammenleben mit Adolf Stahr in Berlin, 1855 Eheschließung. 1860f. Autobiographie Meine Lebensgeschichte (6 Bde.). Hauptwerke: Wandlungen (Roman 1853) u. Von Geschlecht zu Geschlecht (Roman 1864f.), Schriften zur Frauenemanzipation: Osterbriefe für die Frauen (1863), Für die Gewerbthätigkeit der Frauen (Für und wider die Frauen, 1869), Die Frauen und das allgemeine Wahlrecht (1870). 1876 Tod Adolf Stahrs in Wiesbaden. 1887 letzter Roman Die Familie Darner, 1888 Memoiren Zwölf Bilder nach dem Leben. 5. August 1889 Tod in Dresden u. Beisetzung an d. Seite Adolf Stahrs auf d. Alten Friedhof in Wiesbaden. 48

Die „liebende Tante Fanny Lewald Stahr“ Gabriele Schneider „… in der braunen Stube bei Tante Fanny …“1 – Die Familie des Landschaftsmalers Louis Gurlitt ist undenkbar ohne Fanny Lewald. Angefangen hat alles in Rom, im Herbst 1845. Am 11. Oktober war Fanny Lewald am Ziel ihrer lang geplanten Reise angekommen. Die junge Schriftstellerin, die seit 1843 drei erfolgreiche Romane  – Clementine, Jenny und Eine Lebensfrage  – anonym veröffentlicht und sich gerade in Berlin etabliert hatte, war auf dem Weg in ein neues Leben. Mit Empfehlungsschreiben von zu Hause ausgestattet, fand sie rasch Zugang zur römischen Gesellschaft, in der sie Anfang November auch Louis Gurlitt traf: Unter den Künstlern, mit denen ich in der Familie meiner beiden Freundinnen2 und in der Gesellschaft überhaupt sehr häufig zusammentraf, befand sich auch der Landschaftsmaler Louis Gurlitt. In Altona in einer sehr braven, dem kleinen Bürgerstande angehörenden Familie geboren, verdankte er seine ganze Bildung und seine ganze künstlerische Bedeutung dem eignen Fleiße, der eigenen Strebsamkeit und seinem großen, wahrhaften Talente. Er hatte seine Studien in Kopenhagen gemacht, schon mit vierundzwanzig Jahren eine schöne Dänin aus guter Familie geheiratet und diese Frau nach kurzer Ehe infolge eines Herzübels verloren. Eine zweite Ehe, die er mit zweiunddreißig Jahren geschlossen, war ebenfalls nur von kurzer Dauer gewesen. Die stattliche, blühende Frau, eine katholische Rheinländerin, war in ihrem ersten Wochenbette, anderthalb Jahre ehe ich nach Rom kam, gestorben, und das schwere Schicksal, das Gurlitt erlitten hatte, prägte sich in seinem Wesen, wie in seinen schönen, schwermütigen und höchst poetischen Campagnabildern aus.3

Seine Bilder gefallen ihr ausnehmend gut: „Man hätte Stunden und Stunden hinträumend vor ihnen verweilen, sie immer vor Augen haben mögen …“4 – und sie schätzt seinen großzügigen, hilfsbereiten Charakter: Gurlitt war von Herzen ein vortrefflicher Mensch. Er hatte kein Vermögen, aber er war, mehr noch als alle damals in Rom lebenden Künstler sehr einfach in seinen Ansprüchen und Bedürfnissen, und er erwarb mit seinen vielgesuchten Bildern mehr, als er brauchte. Dadurch war er nicht nur stets bereit, sondern auch in der Lage, andern zu helfen […].5

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Gabriele Schneider

Fanny Lewalds Reise nach Italien stellt eine Art Flucht dar: fort von der Familie, an die sie sich als Älteste von acht Geschwistern eng gebunden fühlt, zumal nach dem frühen Tod der Mutter 1841; fort von den Erinnerungen an unglückliche Liebesbeziehungen, eine fehlgeschlagene Verlobung mit einem protestantischen Pfarramtskandidaten 1829, eine nicht erwiderte Liebe zu dem Breslauer Juristen Heinrich Simon, ihrem Vetter, ab 1832; fort von den entwürdigenden Versuchen des Vaters, eine Versorgungsehe für die Tochter zu arrangieren. Nichts hätte näher gelegen, als dass Fanny Lewald und Louis Gurlitt ein Paar werden würden, der Vorteil einer Verbindung lag auf der Hand: Eine Frau mußte er wieder haben, im Alter konnten wir miteinandergehen, denn er war nur um ein Jahr jünger als ich, und er brauchte eine Frau, die nicht nur eine gute Haushälterin, sondern auch imstande war, seine künstlerische Bedeutung zu verstehen und zu ehren. Diese Eigenschaften besaß ich, und daß ich fähig war, durch meinen literarischen Erwerb einem Manne zu Hilfe zu kommen, ward von unseren gemeinschaftlichen Freundinnen ebenfalls in Anschlag gebracht.6

Wenn auch Gurlitt und Lewald die Gesellschaft des jeweils anderen schätzten, so hegten sie doch keine wirkliche Neigung füreinander. Außerdem meinte das Schicksal es anders. Nicht umsonst hatte sich Fanny Lewald geschworen, wenn überhaupt nur aus Liebe zu heiraten – schließlich hatte sie den Beweis dafür, wie falsch und verlogen Konvenienzehen waren, in ihrem Roman Clementine dargelegt. Und dieser Liebe sollte sie in Rom begegnen: Adolf Stahr. Der Oldenburger Gymnasiallehrer und Altphilologe, der aus gesundheitlichen Gründen in Rom weilte, gehörte ebenfalls zur römisch-deutschen Künstlergesellschaft. Gurlitt wurde der Katalysator, der die Beziehung der beiden ins Rollen brachte. Am Weihnachtsabend berichtete er der Freundin, dass Stahr allein und krank in seiner Wohnung läge. Sie schickte ihm eine Aufmerksamkeit, der Beginn einer schicksalhaften Beziehung. Louis Gurlitt seinerseits blieb dem Paar Lewald / Stahr „durch das ganze Leben ein lieber und treuer Freund …“7

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Die „liebende Tante Fanny Lewald Stahr“

Abb. 1: Ausflug nach Roma Vecchia. Zeichnung von Louis Gurlitt, 1846. Neben dem zeichnenden Gurlitt sitzt Fanny Lewald, links stehend Adolf Stahr (aus: Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt. Ein Künstlerleben des XIX. Jahrhunderts. Berlin 1912) Nachdem das Schicksal Fanny Lewald den Partner zugeführt hatte, den sie sich immer gewünscht hatte, mit dem sie – wenn auch erst nach vielen Schwierigkeiten – eine für ihre Zeit ungewöhnliche, weil absolut gleichberechtigte Lebens- und Arbeitsgemeinschaft einging, spielte sie selbst Schicksal. Noch während ihres Aufenthalts in Italien erfährt sie von einem unerwarteten Schicksalsschlag, der die ganze Familie Lewald hart trifft: Der Vater stirbt völlig unerwartet mit nur 59 Jahren in Königsberg an einem Schlaganfall. Die einzigen erwerbstätigen Familienmitglieder sind fortan Fanny sowie ihre beiden jüngeren Brüder Otto (Jurist) und Moritz (Arzt). Keine der fünf jüngeren Schwestern im Alter zwischen 21 und 30 Jahren ist zu dem Zeitpunkt verheiratet, Bruder Otto setzt sich das ehrgeizige Ziel, keines der Mädchen in eine abhängige Stellung zu geben. Nun kommt Louis Gurlitt ins Spiel. Ab Oktober 1846 hat er in Berlin eine Wohnung und ein Atelier bei Professor Adolf Wichmann bezogen,8 wo er neben den Kontakten zu Künstlern wie Wilhelm Hensel und Peter Joseph Lenné auch weiter den Kontakt zu seiner römischen Freundin Fanny pflegt. Sie lebt zusammen mit ihren Schwestern Minna, Elisabeth und Henriette bei einer Tante in Berlin. Am 18.  November 1846 berichtet Fanny Lewald Adolf Stahr: „Gurlitt ist da und will sich eine 3. Frau suchen.“9 Er käme fast täglich und kokettiere mit Else (Elisabeth). Mittlerweise hat Fanny ihm den Spitznamen 51

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„Breese“ gegeben, wobei sie sowohl auf sein „bräsiges“ wohlgenährtes Aussehen anspielt wie auf seine Dickfelligkeit, die er zuweilen an den Tag legt.10 Die Beziehung zwischen Else Lewald und Louis Gurlitt entwickelt sich positiv in den nächsten Monaten, wie Fanny an Adolf Stahr schreibt: Gurlitt ist munter. Ich glaube, Else, die sich merkwürdig zu ihrem Vorteil verändert hat und mich sehr liebt, gefällt ihm, wäre auch sehr passend für ihn, aber ich kann ihm das doch nicht sagen. Sie hat ihn auch gern und besitzt all die Energie und praktische Tüchtigkeit, die ihm fehlt. Es wäre solch gutes Paar.11

Am 20. April 1847 ist es dann soweit, die beiden werden offiziell ein Paar: bei uns scheint die Sonne viel heller noch als draußen, Else ist von 5 Uhr auf, hat schon all ihre Briefe geschrieben, um frei zu sein, wenn Gurlitt kommt und kann vor unendlichem Glück nichts tun als uns – in Erwartung eines Besseren um den Hals fallen. […] Grüß mir Louis und sage, ich wäre glückselig über Elses Glück, das ich ihm verdanke und ans Herz lege mit einem Mutterherzen voll Vertrauen.12

Zum ersten Mal benennt Fanny Lewald die Rolle, die sie Else gegenüber einnimmt: Sie hegt mütterliche Gefühle für die elf Jahre jüngere Schwester. Da die Mutter Zipora Assur, verheirate Markus (später Lewald), wegen zahlreicher Schwangerschaften und einer Lungenerkrankung, an der sie schließlich starb, häufig pflegebedürftig war, lag die Verantwortung für die Betreuung und Erziehung der jüngeren Geschwister bei Fanny. Umso mehr freute es sie, wenn das Resultat ihrer mütterlichen Bemühungen geschätzt wird: „Louis sehr entzückt von Else, pries mir heute privatim ihre guten Eigenschaften. Das hat mich sehr gefreut.“13 Sie unterstützt das junge Paar liebevoll: Gurlitt ist noch hier. Sie haben heute eine reizende Wohnung gesehen, mit Atelier, die sie für 220 Taler mieten werden, was mitten in der Stadt, sehr billig ist. Ich bekomme, durch Gurlitts Liebe für mich, Elses Verehrung, die ganz liebevoll u demütig für mich ist. Heute Nachmittag schrieb ich in meiner Stube und Louis schlief in der ersten Stube in Elsens Armen den Nachmittagsschlaf, in Hemdärmeln, wozu ich ihn ermutigt, trotz Elses fürchterlicher Rotwerderei. Da rufen sie uns zum Kaffee u ich sage zu dem verschlafenen Gurlitt: „Dicker! Was gibst Du mir, wenn ich Dich u Else liegen lasse u Euch Kaffee rüber bringe.“ „Einen Kuss“ – „Ach! das ist zu großmütig, Louis sei kein Verschwender!“ – Darauf nimmt

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Die „liebende Tante Fanny Lewald Stahr“

er mich an die Hände und sagt, die Augen voller Tränen: „Ich habe vor einer Weile noch zur Else gesagt, Dich habe ich unaussprechlich lieb. Du bist das beste, edelste Geschöpf, das mir vorgekommen ist und bist immer dieselbe geblieben, seit der ersten Stunde, wo ich Dich sah!“ – Dabei nahm er mich und küsste mich sehr herzlich, und Else küsste mir die Hand. Wie gut das tut, kannst Du denken. Heute die Wohnung nahm Louis nicht eher, bis ich hingegangen war, sehen, ob ich sie auch gut fände.14

Der Verlobungsbrief, den Louis Gurlitt am 20. April 1847 an seine Eltern schickt, bestätigt seine Liebe zu Else sowie seine sehr freundschaftlichen Gefühle für Fanny und den Rest der Familie Lewald: Froh und glücklich fühle ich mich, liebe Eltern, indem ich diese Zeilen an Euch richte; ich habe mich für ein Mädchen entschieden, von dem ich sicher bin, daß sie mich aufs treueste liebt und mich glücklich machen wird und Ihr, liebe Eltern, findet an ihr die treueste, liebevollste Tochter. Meine liebe Braut ist die Schwester meiner Freundin, der Schriftstellerin Fanny Lewald. Sie ist 24 Jahre alt, ein heiteres, lebensfrisches, edles Kind mit einem Herzen voll überströmender Liebe für Euren Sohn und für meinen Sohn. Nachdem ich wieder so lange untätig in der Welt gewandelt bin, fühle ich mich in ihrer Nähe so beruhigt und glücklich, und habe Vertrauen auf eine gute Zukunft! Seit dem Tod ihres Vaters, der Kaufmann in Königsberg war, ist ein Teil ihrer Geschwister noch in Berlin. […] Es ist ein Kreis so edler, schöner Naturen, daß ich’s für keinen kleinen Gewinn halte, sie alle meine Angehörigen nennen zu können. […] Von dem Jubel, in den sie ausbrach, als ich um sie anhielt, könnt Ihr Euch unmöglich einen Begriff machen. Sie liebt mich, mit der ganzen Glut einer reinen, unschuldsvollen Seele. Wenn ich die Glückseligkeit in ihren Augen sehe, fühle auch ich mich aufs höchste beglückt und preise mein Schicksal, das mich diese Wahl hat treffen lassen. Gott gebe, daß wir lange lange zusammenbleiben!15

Dieser Wunsch Louis Gurlitts wird in Erfüllung gehen, er und Else erleben über 50 gemeinsame Jahre. Vor der Eheschließung mit Else reist Gurlitt nach Kopenhagen. Seit 15 Jahren hat er Kontakte zum dänischen Hof, seit sieben Jahren ist er Mitglied der dänischen Akademie der schönen Künste, nun wird er mit dem Danebrog-Orden ausgezeichnet. Gurlitts finanzielle Aussichten sind gut, seine Bilder werden geschätzt und gekauft.16 In Rom hat er die Bekanntschaft von Ferdinand von Ritzenberg und seiner Frau Jacobine gemacht, der Tochter des preußischen 53

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Generalstabschefs von Krauseneck. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland übernimmt Ritzenberg ein im Familienbesitz in Nischwitz in Sachsen befindliches Rittergut, das er zu einer „Kunsthalle“17 machen möchte. Er erteilt Louis Gurlitt einen Auftrag für vier große Landschaftsbilder für den Rittersaal des Schlosses, außerdem soll er Ritzenberg bei Ankäufen künstlerisch beraten. Die Aussichten für die Brautleute sind gut, als sie am 5. Juli 1847 vor den Altar der Werderschen Kirche in Berlin treten. Fanny Lewald beschreibt die Hochzeit, bei der nur die engsten Mitglieder der Familie sowie einige Freunde anwesend sind, ausführlich in einem Brief an Adolf Stahr: Montag [war] um drei Uhr in der Werderschen Kirche die Trauung. Nur wir Geschwister, Blochs, Tante Assur, Onkel Sachs, als Trauzeugen. 10, 12 Bekannte […] waren außerdem in der Kirche. Die Traurede so wahnsinnig, dass ich mir die Lippen zerbiss um nicht hell zu lachen und zuletzt mir Deinen Fächer vorhielt, als blende mich die Sonne. Barer Unsinn! Louis sagte: Das war keine Kleinigkeit die Rede! – ein Pastor Pauli der glückliche Redner. Verrücktes Zeug! Und immer im Kreise herum. Else wunderschön, bei den Worten: ihm treu anzuhangen in Leid und Krankheit – sie hob die Augen in die Höhe gen Himmel mit einem Blick bei dessen Erinnerung mir noch jetzt wieder die Tränen in die Augen kommen. Sie hat ihre Fehler, aber ohne Egoismus zu lieben, das verstehen alle Kinder meiner Eltern, und wenn Louis nicht glücklich wird  – das schwöre ich  – so ist es nicht Mangel an Hingebung von Else, denn sie liebt ihn sehr und – bis in Kleinigkeiten, wo ich es oft mit Freude sah – mit voller Selbstverleugnung. […] Ein paar Tage vor der Hochzeit sagte sie: Kinder! Wenn ich lachend von Euch gehe, denkt nicht, dass ich leicht von Euch scheide, aber der Louis hat einmal gesagt, es sei schrecklich für den Mann, ein Mädchen so der Familie zu entreißen, da will ich’s ihm doch nicht schwer machen. Ein paarmal sagte sie im Scherz, aber doch mit tiefem innerem Ernst vor der Abreise: Fanny, Minna, verlasst mich nur jetzt nicht, denkt nun nur nicht, die Else gehört nicht mehr zu uns. – Aber sie blieb ganz heiter, lachte, freute sich des schönen Wetters  – nur als sie zuletzt von Otto Abschied nahm, stürzten ihr die Tränen aus den Augen, sie küsste ihm die Hand und sagte: Ich danke Dir für alles Gute, wir haben uns ja alle so lieb. Dann aber wendete sie sich sogleich zu Louis, küsste ihn und lief vor ihm die Treppe herunter, in die Droschke. Beide sahen so elegant, so hübsch aus, Louis mit einem bescheidenen Ordensbändchen im Überrock, dass Jacoby auch sagte: Es ist eines der hübschesten Paare, die ich je gesehen. Sie sahen beide so kindlich jung aus.18

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Die „liebende Tante Fanny Lewald Stahr“

Abb. 2: Elisabeth/Else Gurlitt. Ölgemälde von Carl Rahl, 1858 (Privatbesitz ) Das Verhältnis von Fanny Lewald zu Louis und Else Gurlitt bleibt eng und vertraut. Zunächst noch lebt man in derselben Stadt und besucht sich regelmäßig. Bei einem Aufenthalt bei ihrer Freundin Therese von Bacheracht Ende November 1847 sucht Fanny auch Louis’ Eltern in Altona auf.19 Als Louis Gurlitt 1848 in Nischwitz ein Haus erwirbt und die Familie dorthin umzieht, wird der Aufenthalt dort für Fanny Lewald ein Fixpunkt ihres eigenen, unsteten Lebens. Vor allem im Frühjahr 1851 wird das Haus der Gurlitts in Nischwitz ein paradiesisch anmutender Zufluchtsort für sie, denn noch hängt ihre Zukunft mit Adolf Stahr am seidenen Faden, beide wissen nicht, wie und wo es mit ihnen weitergehen wird, Fanny Lewald hat ihre Wohnung in Berlin aufgegeben und einige Monate in Jena verbracht. Neidvoll beschreibt sie das gemütliche Zuhause von Schwester und Schwager: Ihr Haus ist sehr hübsch u apart eingerichtet, das Atelier prachtvoll, sie wohnen u essen winters darin. Durch das Atelier geht es in einen kleinen Anbau, in dem parterre eine Stube ist, die habe ich mir ausgesucht. […] Ich packte noch abends aus, arrangierte meinen Schreibtisch, ließ mir von Louis Dein Bild u Dein Uhrchen über den Schreibtisch nageln u brachte dann den Rest des Tages mit ihnen u dem Besehen Ihres Besitzes zu. Es ist eine Existenz, die zeitweise uns sehr wohltun würde, könnten wir sie allein genießen. […] Es ist eine schickliche Häuslichkeit. Else näht viel, da sie aber ein ganz bequemes Haus u eine ordentliche Kinderfrau u Köchin hat, hat sie es bequem, die Kinder sind wenig zu merken u sie ist tagsüber, wie es scheint, im Atelier. Das ganze Haus kostet 2500 Taler, wobei sie 600 Taler für das Atelier verbaut haben. […]

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Ich glaube, wenn wir hier ein solches Haus mieten könnten, könnten wir beide mit dem leben, was ich jetzt brauche, und Du könntest Deine Pension und die ganzen Zinsen für die Familie verwenden […].20

Es sind vor allem die Kinder, die Fanny Lewald im familiären Umgang mit Else und Louis Gurlitt zu einer steten Quelle der Freude werden, allen voran der älteste Sohn Wilhelm, von der römischen Kinderfrau „Memmo“, von Guglielmo, genannt; in den Familienbriefen auch „Memo“. Er wird Fanny Lewald bis ins hohe Alter ein enger Vertrauter bleiben. Sein freundliches Wesen, gepaart mit einem früh ausgeprägten Sprachtalent, das, so Louis Gurlitt über seinen Erstgeborenen, „ihn zum philologischen Studium befähigte“,21 stellt wohl das enge Band zu „Tante Fanny“ her. Während ihres Romaufenthalts hat Fanny Lewald den Jungen nur flüchtig kennengelernt, er lebte damals meist bei Pflegeeltern, der Baseler Patrizierfamilie Burckhardt. Im Anschluss an ihre Hochzeitsreise nach Italien holen Else und Louis Gurlitt Memmo, den inzwischen 3-Jährigen, dort ab und nehmen ihn als ihr erstes Kind mit nach Berlin, das erste gemeinsame und somit zweite ist bereits unterwegs. Fanny Lewald ist entzückt von Memmo, den sie als besonderes Kind wahrnimmt, das mit großer Liebe an seiner Stiefmutter hängt: Wie Else und der Memmo ganz ausschließlich einander lieben, das habe ich erlebt. Es liegt die leidenschaftlichste Anbetung darin, wenn er von „meiner Mama“ spricht u ebenso hängt sie an ihm. Sie gehen wie Spielkameraden und wie Freunde miteinander um; Memmo hat den Verstand und die Selbständigkeit eines 8, 9-jährigen Knaben.22 Er findet sich in der ganzen Stadt, wo er je gewesen ist, zurecht. Wenn er uns nur leben bleibt. Ich fürchte das Klima für ihn, das ihm sichtlich schadet.23

Nie wird sie es müde, ihre Briefe an Adolf Stahr mit Anekdoten des Lieblingsneffen zu schmücken: Dabei fällt mir wieder eine Geschichte meines Anekdotenschatzes Memmo ein. Der Junge ist von dem brennendsten Ehrgeiz und sein Gedankenkreis dreht sich um „ein ordentlich großer Junge“ und „andere große Jungen“. – Er war bei 16 Grad Kälte nicht abzuhalten, in die Schule zu gehen, obgleich ich abends noch ausdrücklich raten ließ, sie möchten ihn zu Hause behalten. Er behauptete aber weinend: „Was sollen denn die anderen großen Jungen von mir sagen, wenn ich so verpimpelt werde?“ – Er ward also in der Kinderfrau Mantel gewickelt hingetragen u hatte versprechen müssen, nicht einmal den Kopf hinauszustrecken. Dagegen wollte er sich durchaus morgens nicht kalt waschen

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lassen, zappelte u schrie, bis Elisabeth sagte: „Ich werde noch anfangen müssen, Dich wie ein kleines Mädchen mit warmem Wasser zu waschen!“  – Memmo sehr ärgerlich: „Werden denn alle großen Jungens morgens kalt abgewaschen?“ – Else: „Was denkst Du Dir wohl, versteht sich!“  – Memmo, das Hemd herunterreißend u wütend den rechten Arm hinstreckend: „Da nimm!“ – Wie mir diese Geschichten fehlen werden, wenn Memmo fort sein wird, kann ich nicht sagen u Du musst sie geduldig aushalten, weil sie wirklich mein Entzücken sind.24

Ein Besuch bei Tante Fanny ist für beide, Tante und Neffe, ein Vergnügen: Als ich mittags zu schreiben aufhörte, kam Memmo, den ich zum Essen eingeladen hatte, da er es so sehr wünschte, einmal in der braunen Stube bei Tante Fanny zu essen. So unwohl mir war, entzückte mich das Kind. Sein Organ, sein Dialekt, seine Physiognomie, seine Ausdrucksweise sind so lieblich u so edel, wie es bei einem Kinde nur gedacht werden kann. Wenn der Junge erwächst u nur halbwege gute Leitung hat, muss er vortrefflich werden. Mit einem Wort, mit einem Blick ist das Kind zu allem zu bringen.25

Nach dem Umzug der Familie Gurlitt ersetzen kleine Briefe wie der nachfolgende den direkten Kontakt zwischen Tante und Neffe: Liebe Tante Fanny! Ich danke Dir für Dein schönes Bilderbuch (Raffs Naturgeschichte). Ich schreibe so gern, daraus. Und lese auch so gern fom Colibri der ist der schönste Vogel auf der welt. Unser Schwei – n, (so komisch trennt er die Endsilben durch die Lautiermethode wie ich denke) ist sehr fet geworden u unser Haus ist sehr schön u gros für Dich. Wo Du kanst gut darin wonen. Otto der kan schon gehen. Ich sch – icke auch allen einen Kuss. Die Kirsch bäume waren ser voll aber die sperlinge haben vil abefreßßen. Dein Memmo Gurlitt.26

Die Familie Gurlitt wächst, im Juni 1848 war Otto Gurlitt hinzugekommen, Anfang 1850 wird Cornelius geboren. Über Memmos kleinen Halbbruder Otto schreibt Fanny Lewald im Dezember 1848, zunächst etwas reserviert: Der Kleine ist sehr gesund, sehr schwarz, sehr freundlich u sehr hässlich, aber Louis’ Abgott, der behauptet, geistvollere Augen, eine beweglichere Physiognomie habe kein Kind. Ich nenne ihn nur den Gurlittschen Mohren. Er ist wirklich sehr hässlich, nur schöne Augen hat er – ganz Elsens.27

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Doch auch dieses Kind wächst ihr bald ans Herz. Vor Weihnachten 1848 bangt die ganze Familie um den kleinen Otto, der, gerade erst ein halbes Jahr alt, schwer erkrankt: Der kleine, dicke Otto von Gurlitts war an einer Brustentzündung auf den Tod krank. […] Wie herzzerreißend ist solch krankes Kind. […] Ich habe mir aus dem Kleinen nie sehr viel gemacht, so lange er noch ganz dumm war. Seit einigen Wochen aber kannte er uns, u da er ein gutes Kind ist, machte er die glücklichsten Gesichterchen, wenn er uns sah. Gestern aber, wenn er mit dieser Todesangst der Luftlosigkeit sich förmlich aufrichtete, Else, Louis u mich groß ansah, der Reihe nach die Händchen nach uns ausstreckte, und mit seinem wortlosen Jammer so flehend „Helft mir doch!“ rief, so empfand ich jeden dieser Blicke wie einen Schmerz in der Brust u litt zehnfach für Else mit, die wie eine Leiche aussah. […] Else hatte solchen Trost, wenn ich da war, dass sie – sobald ich die Hand des Kleinen aus der meinen ließ, immer flehte: „Ach, lass ihn doch nicht los!“ – […] Ich werde die drei Stunden u die Blicke u die Töne des Kindes nie vergessen. Was habe ich dabei innerlich erlebt, gedacht, gefühlt.28

Der Kleine erholt sich und kommt in Nischwitz wieder zu Kräften, ein Jahr später berichtet Tante Fanny: „Ottchen soll dick, vergnügt u hässlich sein.“29 Das Jahr 1850 beginnt freudig für die Familie Gurlitt, am ersten Tag des Jahres wird Cornelius geboren. Fanny Lewald, die in diesem Jahr lange auf Reisen ist (erst allein vier Monate in England und Schottland, anschließend zwei Monate in Paris gemeinsam mit Adolf Stahr), lernt das neue Familienmitglied erst Ostern 1851 kennen: „Der kleine Cornelius, der nun 1¼ Jahr ist, ist auffallend schön, hellbraunes Haar, mit den schönsten seegrünen Augen u Nase u Mund bezaubernd schön.“30 Obwohl Else Gurlitt eigentlich „genug an ihren drei Jungen“31 hat, wird die Familienplanung der Gurlitts fortgesetzt, denn „Louis wünscht sich noch ein Mädchen“.32 Dieses Mädchen, Fanny Lewalds Patentochter Else, wird aber erst am 1. Juni 1855 geboren, dazwischen kommen noch zwei Jungen, Friedrich (1853) und Elses wenige Stunden älterer Zwillingsbruder Ludwig (1855). Das letzte und, Memmo eingerechnet, siebte Kind von Else und Louis Gurlitt, wird 1857 geboren (Johannes). Die ganze Familie vereint zeigt ein Foto anlässlich der Silberhochzeit der Eltern Gurlitt.

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Abb. 3: Die Familie Gurlitt, Silberhochzeit von Else (Elisabeth) und Louis Gurlitt 1872. Vor den Eltern Fanny Lewalds Patentochter Else, neben ihr Hans, hinten v. l. n. r. Ludwig, Memo, Cornelius, Otto, Fritz. Nachlass Cornelius Gurlitt, Universitätsarchiv TU Dresden. Nach dem Weggang der Gurlitts nach Wien 1852 wird die räumliche Distanz zu Fanny Lewald größer. Erst nach mehreren Stationen in Gotha, Dresden und Plauen verlegt Louis Gurlitt seinen Hauptwohnsitz wieder in Fannys Nähe nach Berlin-Steglitz. Der familiäre Zusammenhalt bleibt die ganze Zeit bestehen. Am 27. Juli 1874 schreibt Fanny an ihre Schwester: Du hast wohl Recht, liebe, alte Elsa! Daß wir wenig voneinander hören, ich brauche Dir nicht zu sagen, daß ich dies sehr bedaure. Ich weiß es nur von meiner Seite nicht zu ändern, denn das Leben u meine Verhältnisse machen nicht weniger, sondern mehr Ansprüche an mich, als in früheren Jahren […].33

Reisen, Kuraufenthalte zur Stärkung der eigenen und der fragilen Gesundheit Adolf Stahrs gestalten die Lebensführung der unermüdlich tätigen und schreibenden Fanny Lewald schwierig. – Mit einem umfangreichen Werk, insgesamt 26 Romane, 43 Novellen, 36 autobiographische Schriften und mindestens 40 Feuilletons, hat sich Fanny Lewald einen festen Platz im Literaturbetrieb geschaffen. Insbesondere ihre Schriften zur Frauenemanzipation und -bildung machen sie zu einer gesellschaftlichen Instanz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 59

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An der Entwicklung von Neffen und Nichten nehmen Fanny Lewald und Adolf Stahr regen Anteil, sie ersetzen eine eigene Familie. Gemeinsame Kinder haben die beiden nicht, aber Stahrs fünf Kinder aus erster Ehe halten sich häufig in Berlin bei Vater und Stiefmutter auf, vor allem die drei Söhne Alwin, Edo und Ado, die ihre Ausbildung in Berlin absolvieren. Auch zu den Kindern von Otto Lewald und seiner Frau Elisabeth (geb. Althaus) – Martha (geb. 1852), Felix (geb. 1855), Moritz Otto Fidelio (geb. 1857) und Theodor (geb. 1860) – haben sie eine enge Verbindung34 (schließlich war Tante Fanny bei der Geburt von Martha dabei),35 wenn auch der Kontakt zu Bruder und Schwägerin, immer schwierig und konfliktreich, später abbricht. Fanny Lewald, die von 1847 bis 1887 in Berlin einen einflussreichen Salon führt, in dem zahlreiche Prominente der Zeit aus Kunst, Kultur und Politik verkehren, darunter Franz Liszt, George Eliot, Carl-Alexander von Sachsen-Weimar-Eisenach, Ferdinand Lassalle, Berthold Auerbach, Gustav Freytag und der junge Theodor Fontane, um nur einige zu nennen, verfügt über ein weitverzweigtes soziales Netzwerk, das den jungen Mitgliedern ihrer Familie Impulse gibt. So kann ihr Neffe Theodor Lewald, der spätere Initiator und Organisator der Olympischen Spiele von 1936, als junger Jurist in ihrem Salon wichtige Kontakte für seine Karriere im kaiserlichen Staatsdienst knüpfen. Schon allein der Ruf „Fannys Neffe“ zu sein, stellt eine Empfehlung dar.36 Immer wieder ist es Memmo und sein Werdegang, der Fanny Lewald besonders beschäftigt, wie sie der Schwester Else mitteilt: Dein Memo hat uns Beiden sehr gefallen — in jeder Beziehung. Er ist gescheit, maßvoll u weltklug, übersieht die Menschen u die Verhältnisse, in denen er lebt, u wird sich seinen Weg machen. Wir würden uns freuen, ihn dauernd in Berlin zu haben […].37

Nach seinem Studium der klassischen Philologie und Archäologie arbeitet Wilhelm Gurlitt einige Jahre als Deutschlehrer in Athen, bevor er einen Ruf als außerordentlicher Professor für klassische Archäologie an die Universität Graz erhält (s. dazu den Beitrag von Justus Cobet in diesem Band). Um die Gesundheit seines Bruders Fritz macht sich Tante Fanny Sorgen: Fritz anlangend so behaltet ihn bei Euch in Dresden und schickt ihn nicht wieder fort. Es ist nach meiner Erfahrung, u ich habe soviel der Art erlebt, gegen wirkliche Schwindsucht nicht mit Cairo u Madeira zu helfen — u bei Lungenübeln wie Fritz sie haben soll, mit sorgfältiger häuslicher Aufsicht u Einhalten bei rauhem Wetter in gut gelüfteten Zimmern unendlich mehr für die Ausheilung der wunden Stellen u die Vermeidung von den immer gefährlichen Katarrhen zu erreichen, als [mit] irgendeinem Aufenthalt unter Fremden.38

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Die Sorge ist nicht unbegründet, der bekannte Kunsthändler Fritz Gurlitt wird nicht alt werden, er stirbt 1893 mit knapp 39 Jahren an den Folgen von Syphilis, einer „paralysis progressiva“. 1870 sorgt sich Fanny Lewald zusammen mit den Eltern Else und Louis Gurlitt um die im Deutsch-französischen Krieg kämpfenden Söhne Otto und Cornelius: Geliebte Else! Ich lasse alles stehen u liegen, um Dir zu sagen, daß ich vollkommen begreife, wie Euch, Dir u Louis zu Muthe sein muß […]. Gestern erst schrieb ich an Bucher in’s Hauptquartier: „es ist eigentlich ein ganz unerträglicher Zustand, in dem man lebt. Man ist mit seinem Körper u mit seinen Gedanken auseinander – man sitzt hier im Warmen u lebt mit denen, die dort frieren – u kein Brief, der mit guten Nachrichten ankommt, hilft Etwas – denn was kann geschehen sein, seit er geschrieben worden ist?“ – Ich wache in der Nacht mit dem Gedanken an das Heer aus dem Schlaf auf – u wenn ich auch keine Söhne im Felde habe, verstehe ich Euren Zustand doch.39

Die Gurlittkinder gehen ihren Weg: Patentochter Else gibt als ausgebildete Lehrerin Privatunterricht, unterstützt Bruder Fritz in seiner Kunsthandlung und fertigt für Ludwig und Cornelius Übersetzungen an; Cornelius wird Architekt und Kunsthistoriker, der Kontakt zu Fanny Lewald wird über Briefe40 und persönliche Besuche aufrechterhalten. 1879 hält sich die 24-jährige Else für längere Zeit bei der Tante in Berlin auf, Fritz, Otto und Cornelius besuchen sie regelmäßig.41 Am 3. Oktober 1876 stirbt Adolf Stahr an den Folgen einer Lungenentzündung in Wiesbaden. 31 Jahre haben Fanny Lewald und Adolf eine außergewöhnliche Lebens- und Arbeitsgemeinschaft geführt, wie sie allenfalls von ihren Zeitgenossen Bettina und Achim von Arnim oder George Henry Lewes und George Eliot bekannt war. Nach dem langen Kampf, ein Ehepaar zu werden, bei dem sie allen Widerständen und Konventionen trotzten (Adolf Stahr gab für Fanny seine Familie mit fünf Kindern und seine ganze Existenz auf, Fanny überwarf sich mit ihren Geschwistern, die Beziehung galt als Skandal) gelang es ihnen tatsächlich, Lewalds Ideal einer gleichberechtigten Partnerschaft in die Tat umzusetzen, wie diese es in ihrem frühen Roman Jenny symbolisch skizziert hatte: zwei Bäume, die mit verschlungenen Ästen eng nebeneinander stehen und „aus gleicher Tiefe, frei und vereint“ in die Höhe ragen. Nicht immer war das Zusammenleben der beiden Schriftsteller einfach und harmonisch, sie waren auch Konkurrenten, und Adolf Stahr, ein einflussreicher Kritiker, Goethe- und Altertumsforscher, hatte ein sehr empfindliches und aufbrausendes Temperament. Aber die intellektuelle Gemeinschaft, der Austausch und die gegenseitige Anregung waren für beide produktiv. Zudem stand das „Unternehmen“ auf einer soliden Basis: Beide trugen zu gleichen Teilen zum Lebensunterhalt bei, das eigene Vermögen aus dem Familienerbe behielt sich Fanny Lewald im Ehevertrag ausdrücklich vor. 61

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Nach Adolf Stahrs Tod wird Lieblingsneffe Wilhelm „Memmo“ Gurlitt Fanny Lewalds Stütze und Vertrauter. Das geht aus einem Konvolut von Briefen und Postkarten hervor, die das Düsseldorfer Heinrich-Heine-Institut 1996 von Mercedes Gurlitt erhielt, der Ehefrau von Winfried Gurlitt, Sohn des 1855 geborenen zweitjüngsten Sohnes von Louis und Else Gurlitt.42 In den 41 überlieferten Schreiben an den Neffen aus den Jahren 1876 bis 1878 spricht vor allem die grenzenlose Trauer Lewalds um Adolf Stahr, die sie kaum jemandem gegenüber so unverhohlen äußert wie gegenüber Memmo: An jedem Abende denke ich: morgen mußt Du gesammelter sein! Morgen mußt Du Etwas thun, u am Morgen stehe ich mit der Frage auf: wozu denn eigentlich?  – Ich habe das Schwergewicht verloren, das mich an das Dasein band, u zugleich die Schwingen, die mich über alle seine Beschwerden forthoben. Dreißig Jahre einer Liebe, wie sie tiefer, bewußter, leidenschaftlicher, die Erde nicht gekannt hat, eines verständnißvollen Einsseins, das sich in keiner Minute verläugnete – sind ein so unvergeßliches Glück – daß der Verlust desselben nicht zu verschmerzen ist. – Ich soll ein neues Leben lernen in einer Welt, in der mir mein Halt u mein Zweck genommen ist! […] Ich hatte mir oft gedacht, wie es sein würde, wenn er mir fehlen würde – so unertragbar wie ich die Lücke u die Oede fühle, hat selbst meine Phantasie es sich zu denken nicht vermocht. Ich komme mir vor wie ein Spiegel, hinter dem der Reflektor abgenommen ist.43

Sie vermisst den gewohnten geistigen Austausch, hätte gern den Neffen an ihrer Seite: Schade daß Du nicht hier lebst! – Ich könnte einen Menschen wie Dich, recht zu meinem Trost brauchen. Ein dreißigjähriges Zusammen- u Ineinanderleben mit einem Manne wie Stahr – hat mich geistig – Dir kann ich das wohl sagen – sehr verwöhnt […].44

Nur mühsam gelingt es Lewald, sich ins Leben zurück zu kämpfen: Fragst Du mich, wie es mir geht? – Mein alter Junge! Ich lebe nach außen, als wenn mir Nichts geschehen wäre. So, wie ein Mensch, der es gewohnt wird ein Krüppel zu sein – u dann angelegentlich mit einem Schrecken zum Aufschreien, es gewahr wird, was ihm fehlt, um ein Mensch zu sein. […] Ich lebe eben – ich sehe mich von der hiesigen Gesellschaft in einer Weise gesucht, die mir wohl thun muß – aber es bleibt das Spielen auf einem Instrumente ohne Resonanz.45

Erst allmählich kehrt sie zu der alten, gewohnten Lebensweise  – Schreiben, Literatur, soziale Tätigkeit und gesellschaftliches Leben – zurück, wie sie in einem Brief an Memmo beschreibt, den sie ihm am 6. März 1879 zum Geburtstag schickt:46 62

Die „liebende Tante Fanny Lewald Stahr“

Lieber Memmo! es ist 7 Uhr, eben verläßt mich Prof. Carl Böttichers Frau, u ich benutze die Zeit, die ich noch vor dem Anziehen zu einer Gesellschaft habe, um Dir zu sagen, daß ich Dir zu Deinem neuen Lebensjahr alles Dir Erfreuliche, u als mir Erfreulichstes mehr Nachricht von Dir wünsche. Du gehörst zu den Correspondenten, die wie „Seeschlangen“ zu […47] pflegten, weil sie oft so lange verschwinden, daß man aufhört, an ihre Existenz zu glauben. Ich will aber hoffen, daß erfolgreiches Arbeiten u angenehme Geselligkeit Deine Zeit beanspruchen, u daß nur darüber die Tante so sehr ins Vergessen kommt, als wenn sie nicht Tante Fanny und eine gute Freundin wäre. Inzwischen habe ich neulich einmal mit Hofrath Weber u der Tochter, die ich öfters sehe, viel und gut von Dir gesprochen, und auch ein Dr. Pforschl, der an Alwins48 empfohlen u von diesem zu mir gebracht worden war, kannte Dich und sprach von Dir. Ich habe ihn aber nach jenem Gesellschafts Abend bei mir u einer danach folgenden Morgen-Visite noch nicht wieder bei mir gesehen, weil ich es ganz aufgebe vor Ende März wieder Einladungen zu machen. Wir, d. h., die hiesige Gesellschaft – die doch lange Abende und schlecht Wetter von Mitte Oktober bis Ende April hat, begeht die […]49, ihre Geselligkeit in 10 Wochen zu […]50, so daß ich, deren Kreis nicht übermäßig groß ist, durch diese ganze Zeit nicht einen Tag ohne Einladung zu großen Gesellschaften – oft zu 2, 3 an einem Tage gewesen bin, u es nur darum gut durchhalte, weil ich dazwischen 2, 3 Tage hintereinander fest um 10, 10½ Uhr zu Bett gehe, u nirgend lange bleibe. Ich glaube, daß Du Dich hier sehr behagen würdest, wenn Du Dich gut zu konzentrieren vermagst – denn Berlin neigt dazu, die Menschen auszupressen, die es sich gefallen lassen – u es war eine von Onkels Energien, daß er, der die Gesellschaft sehr liebte, sich sehr in ihr zusammen zu halten, u durch sie in seiner Thätigkeit sich nicht stören zu lassen, wußte. Ich lebe nun so hin in alter Weise – ein glückliches, höchst bevorzugtes Alter, sagen die Leute. Ich erkenne es auch als ein Glück an, daß ich – obschon mein Herz gar nicht in Ordnung u wohl bedroht ist – doch noch bei Kräften u ohne eigentliches Leiden bin. Ich schätze sehr hoch, daß ich noch arbeiten kann, was die Menschen freut, daß es sie freut, mich zu sehen, zu haben, daß ich keine Sorgen habe; daß man mich ehrt – aber! das Alles müßte ich dem sagen, das müßte Alles der auch mit mir haben, dem alles Gute, was mir zu kam, unendlich lieber war, als was er selber hatte. – Ich bin ruhig geworden, auch heiter, wenn Du willst – u weiß doch, daß der Schein über seinem Grabe liegt – sehe das ewig vor Augen, u erschrecke heute noch in jeder Nacht, wenn ich plötzlich erwachend, ihn nicht finde. – Es ist in diesen Zuständen etwas Unerklärtes, Geheimnisvolles – sprechen kann man darüber besser als schreiben. Ich habe in diesem Winter eine, vor meines Mannes Tods begonnene Erzählung beendet, die Hallberger bekommen hat.51 Nun habe ich ein Ding angefangen, das eigentlich künstlerisch ein Fehler ist. Ich bin aber seit Jahren u zu verschiedenen Zeiten immer wieder darauf zurückgekommen – u da ja ohnehin bei meinen Jahren doppelt die Frage ist, ob ich Zeit haben werde, es zu vollenden, so pussele ich doch daran weiter fort und werde sehen, was es wird. – Ich muß für jetzt schließen, denn es ist 7¾ Uhr. Auf morgen also!

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d. 6te – Morgens 10 Uhr. Ich bin gegen meine Gewohnheit erst um 11¾ Uhr heimgekehrt […]. Man hat aber um meinetwillen das Abendbrot eine Stunde früher angesetzt, so mußte ich bleiben, aber ich bin müde, möchte es wäre gutes Wetter, dann führe ich eine Stunde aus, mich zu erfrischen. In dem schneenassen Thiergarten, in dem es von allen Bäumen tropft, so daß man wie im Wasser athmet, ist das kein Vergnügen u so bleibt es dann bei meinem täglichen Gesundheitstrapp von 1 - 1½ Stunden. Gestern erhielt ich ein gedrucktes Heft in grauem, titellosen Umschlag d. Buchhändler Gelegenheit, u bildete mir ein, ich weiß eigentlich nicht warum gerade gestern – es seien die Vorlesungen, die Du gehalten. Es war aber der in Nord u Süd gedruckte Roman „Gute Gesellschaft“ den Rudolf Lindau die Galantrie gehabt hatte, so für mich zusammen heften zu lassen, da er weiß, daß ich ihn für den besten lebenden Erzähler halte.52 – Da er mir nun schon zum drittenmale seine Sachen mit freundlichen Zuschriften sandte, habe ich ihn aufgefordert, mich zu besuchen. Er ist ein ungewöhnlich interessanter Mann, war in Japan im diplom. Dienst, dann im Hauptquartier während des Krieges, darauf bei der Gesandtschaft in Paris, und nun als Legitimationsrath [Legationsrath?] im hiesigen auswärtigen Amt. Er ist in diesem Jahr der Löwe der großen Welt, u obschon ich ihn schon, als er von Japan kam kennen lernte u inzwischen sah, mochte ich ihn nicht einladen, weil ich dachte, er kann mehr haben. Indeß diese dritte Zusendung forderte wohl die Einladung. Neue Pause. Die Köchin kommt vom Markt, ich soll Fleisch ansehen, habe gerechnet – drei Briefe – […] nun will ich aber schließen, u etwas zu arbeiten versuchen. Pläne für den Sommer kann man gegenüber der drohenden Pestgefahr, die Jeden an sein Haus bannen würde, nicht machen. Der russische Leichtsinn ist ein Fanal an der Menschlichkeit. Von Dir zu hören, wünsche ich sehr. Dir wird das Leben durch das Vorwärtskommen Deiner Brüder doch auch sehr erleichtert. Ich wollte es Dir recht gönnen, daß Du Etwas in den Druck brächtest. Es wäre soweit ich es verstehe, sehr förderlich für Dich, und lange wirst Du doch auch in Gratz nicht bleiben mögen. Wie sehr [gern] ich Dich in meiner Nähe hätte, brauche ich Dir nicht zu sagen. Leipzig, Jena, das ist alles schon viel erreichbarer als Gratz. – […] Neues Klingeln – 5 Mark für den Fortbildungs– Schulverein – 5 Mk 25 Pf. deutscher Rechnung. – Darüber ist es ¾ auf Zwölf. Nun frühstücke ich, arbeite bis 2 Uhr, gehe spazieren, esse um 4 Uhr allein. – Abends kommen 2 ältliche mir sehr werthe Menschen, vielleicht verschiedene Besuche dazwischen – um 10 Uhr will ich heute u morgen zu Bett. Da hast Du meinen Lebenslauf. Wie das heute klingt, u ja auch gut ist – u wie lange noch! – Es ist etwas sehr Merkwürdiges um das Alter! Bleibe leben und jung! Treulich Dir das Beste wünschend Deine Dich liebende Tante Fanny Lewald Stahr

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Bis ins hohe Alter ist Fanny Lewald sehr daran gelegen, die Familie zusammenzuhalten und zu unterstützen. Überglücklich ist sie, als Schwester und Schwager endlich wieder in ihrer Nähe wohnen: „Geliebte Else, guter lieber Louis, einen herzlichen Gruß nun aus der Nachbarschaft! Sei Euch Steglitz gesegnet wie das freundliche Plauen, u uns ein häufiges Wiedersehen gegönnt!“53 Nun lässt sich ein Besuch einfacher vereinbaren: „Kommst Du in der nächsten Woche einmal herein, so lasse mich’s, womöglich vorher wissen, um welche Stunde ich Dich, u dann wohl Eure Else, erwarten darf.“54 In ihrem letzten Lebensjahr kann sich Fanny Lewald kaum noch Reisen oder Ausgänge leisten, sie ist zu krank. Immer wieder muss sie Besuche absagen oder verschieben: „Ich sähe u spräche Euch so lebensgern! u empfinde die Entbehrung schwerer, als da Ihr mir unerreichbar wart.“55 Die mittlerweile „alte, sehr alte Fanny Lewald Stahr“56 hat begonnen, ihre persönlichen Angelegenheiten zu regeln. „Ich habe aber von 10–12 den Bücherpacker hier gehabt, da ich Adolfs Bibliothek / über 3000 Bd. / dem Oldenburger Gymnasium schon jetzt schenke, wie er es für den Fall meines Todes gewünscht.“57 Bereits nach dem Tod von Bruder Otto im Jahr 1874 hat sie für die Schwestern vorgesorgt: Sein [=Ottos] Vermächtnis wollte ich erst gar nicht antreten, habe mich dann aber anders besonnen, u werde die paar Thaler Zinsen, so lange ich lebe, für die Schwestern in seinem Sinn verwalten u verwenden, u wenn ich todt sein werde, könnt Ihr die Summe theilen. Ich habe sehr reichlich für Euch vorgesorgt, u wenn ich u Adolf todt sind, erhaltet Ihr von mir bedeutend mehr als die 4250 Thl, die ich von unserem Vater ererbt habe.58

Am 5. August 1889 erliegt Fanny Lewald während eines Aufenthalts in Dresden den schweren Herzbeschwerden, mit denen sie in den letzten Lebensjahren zu kämpfen hatte. Ihr Tod ist ein großer Verlust für die Familie Gurlitt. Einen Monat später schreibt ihre Schwester Else in einem Trauerbrief an Stiefsohn Memmo: Es ist mir eine große Freude gewesen, Fanny noch ein volles Jahr vor ihrem Tod so oft gesehen u. gesprochen zu haben59 u. ich bin glücklich, mir sagen zu können, welche Liebe und welche Achtung sie mir gezollt hat. Als ich die Geliebte das letzte Mal noch in ihrem Hause sprach, wie liebevoll empfing sie mich, wie gut u. theilnehmend frug sie nach unserer ganzen Familie.60

Voller Dankbarkeit für die große Schwester notiert Else Gurlitt in der Hauschronik: Ihr Name hat der Familie Ruhm und Ehre gebracht. Ihr Fleiß, ihre Tatkraft und Tüchtigkeit mag ganzen späteren Generationen unserer Familie zum Beispiel dienen.61

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Wilhelm Marstrand, Louis Gurlitt, Privatbesitz Elizabeth Baars LOUIS GURLITT, Landschaftsmaler, geboren am 8. März 1812 im dänischen Altona als Sohn des Golddrahtziehers Johann August Wilhelm Gurlitt. 1828 tritt er in die Malerschule von Siegfried Bendixen (einem Schüler von Jacques-Louis David) in Hamburg ein. 1832 Ausbildung an der Kunstakademie in Kopenhagen; erste Studienreisen nach Norwegen und Schweden. 1836 Umzug nach München, Studienreisen an den Chiemsee und ins Berchtesgadener Land. In dieser Zeit Bekanntschaft mit den Malern der Düsseldorfer Schule. 1837 Hochzeit mit Elise Saxild, die 1839 stirbt. 1843-47 Aufenthalt in Italien. Geburt des ersten Sohnes Wilhelm, Gurlitts zweite Frau Julie Bürger stirbt. In Rom Bekanntschaft mit Friedrich Hebbel, Fanny Lewald und Adolf Stahr. 1847 heiratet Gurlitt Lewalds Schwester Elisabeth (Else), aus der Ehe gehen sechs Kinder (Otto, Cornelius, Friedrich, Elisabeth, Ludwig, Johannes) hervor. 1847 Rückkehr nach Berlin, Bekanntschaft mit Alexander von Humboldt. Das von Friedrich Wilhelm IV. geplante Großprojekt einer Halle mit Landschaften Gurlitts geht in den Wirren der 1848 Revolution unter. Gurlitts Bilder werden aus politischen Gründen aus der königlichen Gemäldegalerie in Kopenhagen abgehängt. 1852 Reise nach Dalmatien. 1855 Reise nach Paris zur Weltausstellung, Gurlitt sieht die Werke der Schule von Barbizon. 1858 Studienreise nach Griechenland. 1860 Übersiedlung der Familie Gurlitt nach Gotha-Siebleben. In der Nachbarschaft lebt der Dichter Gustav Freytag. 1861–1864 Studienreisen nach Schleswig-Holstein. 1867/68 Studienreise nach Spanien und Portugal. 1873 Umzug nach Dresden. In den folgenden Jahren wiederholt Reisen nach Italien, Mähren, Böhmen und Schleswig-Holstein. Weiterhin intensive künstlerische Tätigkeit. 1884 hört Gurlitt aus gesundheitlichen Gründen mit dem Malen auf. 1885 Reise nach London zum Sohn Otto. 1888 Umzug nach Berlin-Steglitz. Am 19. September 1897 stirbt Louis Gurlitt in Naundorf bei Schmiedeberg (Erzgebirge) und wird dort beerdigt. Sein Grab existiert nicht mehr. 66

„Einfalt des Empfindens“ – „Natur an sich“. Louis Gurlitts Landschaften und ihre familiale Überlieferung Jana Kittelmann

Familiengeschichte als Kunstgeschichte Es lag in diesen Bildern eine Einfalt des Empfindens, eine Naturwahrheit, die besänftigend auf das Gemüt wirkten, wie die Natur an sich. Man hätte Stunden und Stunden hinträumend vor ihnen verweilen, sie immer vor Augen haben mögen, und man konnte sich des Gedankens nicht entschlagen, daß nur ein sanfter, sehr gleichmäßig gestimmter Sinn eben diese Bilder habe erschaffen können.1

Eine der treffendsten Bemerkungen über die Landschaften Louis Gurlitts stammt von einem Mitglied der Familie. Die Schriftstellerin Fanny Lewald, mit deren Schwester Elisabeth (genannt Else) der Maler in dritter Ehe verheiratet war, hatte sie niedergeschrieben und damit zugleich versucht, die spezifische Stimmung der Gurlittschen Landschaften in Worte zu fassen. Zu Lebzeiten Gurlitts und Lewalds blieben diese Zeilen unveröffentlicht. Erst in dem 1927 von Heinrich Spiero publizierten Römischen Tagebuch von Fanny Lewald sind sie zu finden.2 Die darin geschilderte Zeit in Rom und der dortigen deutschen Künstlerkolonie, wo sich neben Gurlitt3 und Fanny Lewald auch Friedrich Hebbel, Ottilie von Goethe, Adolf Stahr, Hermann Hettner, Oswald Achenbach, Adele Schopenhauer und viele andere aufhielten, erwies sich in vielerlei Hinsicht als schicksalshaft. Gurlitt, dessen zweiter Italienaufenthalt von 1843–47 währte, verlor in Rom seine zweite Frau Julie4 und lernte bald darauf Lewalds Schwester Elisabeth kennen, die er 1847 heiratete.5 Aus der Ehe gingen 6 Kinder hervor: die Söhne Otto, Cornelius, Fritz, Ludwig und Johannes sowie die Tochter Else Gurlitt (siehe Abb. S. 59). Der Sohn Wilhelm, genannt „Memo“, aus der Ehe mit Julie Bürger fand in Elisabeth Lewald eine liebevolle Stiefmutter.

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In Italien machte Gurlitt Bekanntschaften, die sein Leben und Nachleben prägen sollten.6 Mit seinem Landsmann Friedrich Hebbel schloss er schnell eine „sehr enge Freundschaft“. Gurlitt, den Hebbel als „treffliche[n] Künstler und edlen Menschen“ charakterisierte, nahm sich des Dichters „wacker“ an, unterstütze ihn finanziell und genoss den geistigen Austausch.7 Hebbel widmete ihm das Gedicht „An meinen Freund Louis Gurlitt“. Auf diese Freundschaft mit dem berühmten Dichter war die Familie Gurlitt äußerst stolz; in Briefen, aber auch Erinnerungen an den Vater sowie in den Publikationen über ihn und sein Werk nimmt sie einen besonderen Stellenwert ein. Noch die Einladungskarte zu der von Hildebrand Gurlitt 1938 veranstalteten Ausstellung von „etwa 50 Gemälden und vielen Zeichnungen“8 seines Großvaters in seinem Kunstkabinett in der Hamburger Alten Rabenstraße ziert das Gedicht Hebbels, dessen 125. Geburtstag man im gleichen Jahr beging.9 Nicht nur aus genealogischer, auch aus künstlerischer Perspektive bilden Louis Gurlitt und Italien eine Art von Anfang innerhalb der Familiengeschichte, die so zu einem Stück deutscher Kunstgeschichte wird, wie schon Ludwig Gurlitt bemerkte.10 Die enge Verknüpfung der Entwicklung der deutschen Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts mit Italien als Sehnsuchtsort schlechthin11 spiegelt sich sowohl in der Gurlittschen Biographie und Genealogie als auch im Sujet und der Programmatik von dessen Kunst wider. Im Bergland östlich von Rom um den bei Künstlern beliebten Ort Olevano, in den Albaner Hügeln und ihren vulkanischen Seen, am Gardasee oder in Sizilien fand er die Landschaften vor, die er immer und immer wieder in nur leicht variierender Form in idyllischen, beschaulich schönen, sanften und stimmungsvoll durchleuchteten Bildwelten porträtiert hat. „Ich male seit meiner Rückkehr von Berlin wieder italienische Landschaften; mit größtem Interesse, es ist mir als wäre ein Bann von mir genommen, u ich wieder frey geworden“, bemerkt er 1864 in einem Brief an seinen Sohn Wilhelm. Noch 1884, in dem Jahr, in dem Gurlitt schließlich aus gesundheitlichen Gründen mit der Malerei aufhört, heißt es in einem Brief seiner Frau: „Papa arbeitet jetzt ein großes Italienisches Bild, er hat die Jahre kein so großes Bild gemalt.“12 In Fanny Lewalds Beschreibung finden wir die Kombination aus Naturwahrheit und Seelenstimmung, die geradezu programmatisch für die kunstkritische Rezeption und Bewertung der Landschaften Louis Gurlitts ist  – einer Kunst im Spannungsfeld zwischen Wahr und Schön, dem „bipolaren Begriffspaar Realismus und Idealismus“.13 Andererseits deuten Lewalds Ausführungen an, wie eng die Beurteilung, Charakterisierung, Protektion und Überlieferung der Künstlerpersönlichkeit Louis Gurlitts und seines Werkes an die Familie gebunden war. Beispielsweise protegierte Lewalds späterer Ehemann, der Schriftsteller und Historiker Adolf Stahr, den zukünftigen Schwager seiner Frau mit einem Beitrag im Kunstfeuilleton:14 Seine unter dem Titel Die moderne Landschaftsmalerei und ihre Vertreter in Rom in den Jahrbüchern der Gegenwart erschienenen Ausführungen sind nur eines der Beispiele, wie stark Gurlitts Werk und dessen Rezeption in ein Freundes- und Familiennetzwerk eingebettet erscheint, das seine 68

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Arbeiten schon zu Lebzeiten mit Ausstellungsprojekten und Publikationen förderte. In diesem Zusammenhang ist ein Brief Gurlitts15 an Adolph Vogell, Hofbaumeister und Sekretär des Kunstvereins in Hannover zu verstehen, der 1849 um Bilder für eine Ausstellung gebeten hatte: Die Bilder sind diesen Augenblick, auf Wunsch meiner Verwandten u Freunde in Hamburg, von wo mir mehrere Zuschriften die Versicherung geben, daß sie sich vielen Beifall zu erfreuen haben.16

Zudem fertigte Gurlitt Arbeiten für Familienmitglieder an bzw. diese erwarben Gemälde von ihm. Gurlitts Frau Else berichtet Wilhelm Gurlitt von einer Auftragsarbeit für Alwin Stahr, den Sohn von Adolf Stahr: Papa hat in Berlin kein Bild verkauft, der König sagte zu den Herrn „laßen sie mich mit Bildern in Ruh“. Jetzt sind 14 Bilder bei Sachse ausgestellt, u es ist ja möglich, daß sich das ein oder das andere Bild noch verkauft. Der König will selbst zu Sachse. Trotzdem finde ich Papa durchaus heiter aus Berlin zurückgekehrt, er fängt die italienischen Bilder für Alwin Stahr an, der sich in diesen Tagen mit der 18jährigen Tochter von Gerson verlobt hat, die hundert tausend Thaler Vermögen hat.17

Zu den Käufern gehörte auch Louis Gurlitts Bruder Emanuel: Nebenbey suche ich auch für den Verkauf von Bildern thätig zu sein u. einige Aussichten, außer den Bildern für Emanuel, sind mir schon eröffnet. […] Emanuel wird auf jeden Fall 2 der Bilder behalten, das ganz kleine u. eins für 90 Thl., vielleicht auch das 3te für denselben Preis; er kommt in diesen Tagen wieder hierher u. dann werde ich die Sache zum Abschluß bringen.18

Die Kinder engagierten sich ebenso für den Vater. Unter anderem handelte Fritz Gurlitt mit dessen Gemälden und Ludwig Gurlitt setzte sich für Ausstellungen der Werke des Vaters bereits zu dessen Lebzeiten ein. An seinen Halbbruder Wilhelm schrieb er knapp ein Jahr vor dem Tod Louis Gurlitts über eine geplante Ausstellung in Kiel: „Betreff der Gurlitt-Ausstellung in Kiel hat es keine Eile; ich habe nach Papa’s Angaben seine wertvollsten Arbeiten bezeichnet u. eine große Zahl aus unserem Besitze angeboten.“19 Dieses Engagement für die Gurlitt’schen Landschaften setzte sich in den nachfolgenden Generationen fort. Die Galerie Fritz Gurlitt veranstaltete 1910 eine Louis-GurlittGedächtnisausstellung in Berlin, durch die Ludwig Gurlitt zufolge die künstlerische Frühphase seines Vaters eine stärkere Beachtung fand. „Man konnte dabei“, schrieb Ludwig Gurlitt in 69

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einem Beitrag für die Monatsschrift Kunst und Künstler, „die Beobachtung machen, dass man ihn bisher in Deutschland nur halb gekannt hat, da sich die Zeit seines Aufstieges zumeist in Kopenhagen abgespielt hat und in Deutschland fast unbeachtet blieb.“20 In der Tat war Gurlitt zu der Zeit weitgehend in Vergessenheit geraten. Der Liebermann-Biograph Hans Rosenhagen bemerkte in der Deutschen Montagszeitung: „Was weiß das deutsche Publikum von Louis Gurlitt. Gar nichts. […] Wenn Louis Gurlitt zur Fontainebleau-Schule gehören würde, wäre sein Name in allen deutschen Kunstgeschichten zu finden.“21 Die von Gurlitts Nachfahren initiierten Retrospektiven holten den Künstler ein Stück weit ins Bewusstsein zurück.22 Doch nicht nur die Präsentation von Louis Gurlitts Werken, sondern auch die Erschließung und Überlieferung seiner Briefe, in denen Gurlitts Biographie sowie seine Arbeitspraxis und sein Kunstverständnis dokumentiert und archiviert sind, war und ist eng an die Familie gebunden. Einer der Söhne, der Reformpädagoge Ludwig Gurlitt, veröffentlichte einige Briefe seines Vaters an den befreundeten Dichter Friedrich Hebbel in einem Beitrag für Westermanns Monatshefte. Weitere Briefe Gurlitts, der neben Hebbel mit Alexander von Humboldt korrespondierte, sind in der ebenfalls von Ludwig Gurlitt verfassten Künstlerbiographie Louis Gurlitt. Ein Künstlerleben des XIX. Jahrhunderts, die im Jahr 1912 anlässlich des 100. Geburtstages des Vaters erschien, publiziert worden. Der Sohn Cornelius Gurlitt widmete in seinem Werk Die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts. Ihre Ziele und Taten (1899) den Landschaften seines Vaters zahlreiche Passagen. Louis Gurlitt ist mit einer Abbildung seines Gemäldes Jütische Landschaft vertreten23 und erscheint hier als prominente Figur der Landschaftsmalerei um 1850, bei der es dem Verfasser zufolge darum ging, „einen weiten Blick in die Natur in ein Bild zusammenzufassen und malerisch beherrschen zu lernen“. Wie andere „Landschafter“, so habe es auch sein Vater verstanden, „im Streite mit der Natur Bilder [zu] schauen, [..] das Malerische heraus [zu] reißen und […] das Gefundene wahr wiederzugeben“.24 Diese Aktivitäten, Louis Gurlitts Landschaften durch eine familieninterne und zugleich publizistisch und öffentlich wirksame Erinnerungskultur vor dem Vergessen zu bewahren, stehen in einem gewissen Widerspruch zum Kunstfeuilleton. Hier spielte Gurlitt trotz seines zeitweilig großen Erfolges erstaunlicherweise nur eine untergeordnete Rolle. Bis auf den Beitrag von Adolf Stahr finden sich in den einschlägigen Journalen und kunsthistorischen Abhandlungen meist nur einseitige, knappe Bemerkungen und Randnotizen. Zu nennen sind hier ein Beitrag in der Illustrirten Zeitung aus dem Jahr 1856 und Wilhelm Weingärtners Ausführungen in den Dioskuren. Weingärtner sah in Gurlitts Landschaften den „Uebergang von den Naturalisten zu den Stilisten“ verkörpert, gestand aber zugleich ein, dass er von dessen „allzusehr bewunderte[n] Bildern […] nur wenige aus eigner Anschauung kenne.“25 Obwohl Gurlitt bestens mit den zeitgenössischen Künstler- und Literatenkreisen26 vernetzt war, seine Landschaften in den großen Museen der Zeit hingen und sowohl der dänische König Christian VIII. als auch 70

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der preußische König Wilhelm  IV. ihn zeitweilig unterstützten und förderten, war er in der öffentlichen Kritik unterrepräsentiert. Vor allem sein Einfluss auf jüngere Künstler wie Oswald Achenbach, der mehrfach formulierte, durch Gurlitt habe er Italien malen gelernt, blieb unterschätzt.27 Dementsprechend vermerkte man akribisch in der Familie jede Erwähnung Gurlitts in der Fachliteratur, wie eine handschriftliche Notiz Else Gurlitts28 aus dem Jahr 1858 zeigt, in der sie ihren in Griechenland weilenden Ehemann über ihn betreffende Beiträge von Anton Springer29 und Friedrich Precht30 informierte. Umso mehr Beachtung verdient in diesem Zusammenhang Adolf Stahrs umfangreichere Studie, in der er Gurlitt neben Ernst Willers als bedeutendsten Landschaftsmaler seiner Zeit vorstellte. Stahr würdigte Gurlitts Kunst als Einlösung zeitgenössischer ästhetischer und philosophischer Ideen. Er inszeniert die Begegnung mit Gurlitt in Italien als eine Art künstlerischphilosophisches Entdeckungserlebnis. Demnach war Stahr erstaunt darüber, in der „waldigen Einsamkeit des Albanergebirges einem Künstler zu begegnen, der ohne Hegel, Strauß und Feuerbach je gelesen zu haben, […] in seinem eigenen Innern den ganzen Proceß der deutschen Gedankenumwälzung durchgearbeitet hatte.“31 Für Stahr setzte Gurlitt mit seinen „nach der Natur“32 gemalten Landschaften die Religions- und Idealismuskritik Feuerbachs und Strauß’ ikonographisch um und präsentiert sich damit als höchst modern. Stahr greift hier einen populären Diskurs der zeitgenössischen Kunstkritik auf: die Modernität der Landschaftsmalerei. In einer Zeit des Zusammenbruchs der traditionellen Gattungshierarchie wurde die Landschaft als „Gattung der Zukunft“33 propagiert und das Gefühl für landschaftliche Schönheit als „modernes Gefühl“34 beschrieben. Gurlitts Landschaftsmalerei stehe im „Einklange“ mit „unserer Zeit“, in der die zunehmende Vorherrschaft der Naturwissenschaft, das „System des alten Weltgebäudes [nach und nach] aus den Angeln heben wird“, betonte Stahr.35 Er steht damit im Widerspruch zu späteren Kritikern, die Gurlitts Kunst als überholt und nicht mehr zeitgemäß abtaten, ein Vorwurf, mit dem sich Louis Gurlitt auch in den Briefwechseln mit seiner Familie auseinandersetzte. Die Familienkorrespondenz, die uns noch näher beschäftigen wird, offenbart sich als zentraler Ort der Zirkulation und der Archivierung von Wissen, Ideen und Gedanken über die Arbeitspraxis und künstlerische Anschauung Gurlitts. Zugleich spielen weitere mediale Formen wie etwa die von Familienmitgliedern verfassten Biographien, Abhandlungen und Journalbeiträge bei der Tradierung und Überlieferung von Gurlitts Werk eine nicht unerhebliche Rolle. Man kann im Falle Gurlitts durchaus von einer familienmotivierten Biographik und ‚Werkpolitik’ sprechen, in der sich kunstwissenschaftliche und historiographische mit genealogischen Interessen vermischen.36 Wären Gurlitts Landschaften also vergessen, wenn sich nicht seine Familie um eine dauerhafte Rezeption und Wahrnehmung seines Werkes bemüht hätte? Schauen wir uns Louis Gurlitts Bildwelten ein wenig näher an. 71

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Gurlitts Bilderwelten Eine zum 100. Todestag von Louis Gurlitt im Altonaer Museum in Hamburg und anschließend in Flensburg und Kopenhagen veranstaltete Ausstellung trug den Beinamen Porträts europäischer Landschaften und bezog sich damit wohl auch auf Adolf Stahr, der 1843 geschrieben hatte: „So nähert sich Gurlitts Landschaft oft völlig dem Porträt; aber dies Porträt wird ein Kunstwerk, wird zur Darstellung des Idealen“, weil er die „innerste Seele des Originals […] heraufzuzaubern versteht“37. Auf eine knappe und doch zugleich schlüssige Weise spiegelt sich darin die wesentliche ikonographische Programmatik des viel- und weitgereisten Malers Louis Gurlitt,38 der nach Stationen in Dänemark, Norwegen, München, Rom, Wien, Nischwitz, Siebleben bei Gotha (wo auch der Dichter Gustav Freytag lebte)39 und Dresden erst im hohen Alter in Berlin-Steglitz endgültig sesshaft wurde, wider. Gurlitt war durch und durch Landschaftsmaler, sein Motiv war ganz Europa von Norwegen bis zur südlichsten Spitze des Peloponnes. Unter dem Einfluss von Malern wie Christian Morgenstern und Christian Clausen Dahl stehend reüssierte er mit norwegischen und dänischen Landschaften. Nahezu unerschöpflich liefert ihm der Norden Europas bis ans Ende seines Lebens Material für weitere Bilder. In Öl oder mit dem Bleistift hielt er die Gegend um Düppel, Sylt, die Heidelandschaften, die Flensburger Förde, die Kreidefelsen von Møen und zahlreiche weitere Motive fest. Mit seinen naturnahen, großformatigen Gemälden trug er in seinen jungen Jahren erheblich zur Entdeckung und „nationalromantischen“40 Stilisierung der norddeutschen und dänischen Landschaften für die Kunstgeschichte bei.41 Gurlitt sah sich dabei stets „erfüllt von der vaterländischen Sache“42 und befürwortete die Einheit von Schleswig und Holstein: „Politisch sind auch wir ganz u. gar benommen u. Papa kann nicht genug davon hören“,43 schrieb Else Gurlitt ihrem Stiefsohn 1863 am Vorabend des Deutsch-Dänischen Krieges. Zu den nordischen Studien gesellten sich bald Szenen aus der Tiroler Bergwelt. Außerdem fand Gurlitt abseits der „Tücke des nordischen Himmels“44 auf seinen Reisen nach Italien, Griechenland, Spanien und Portugal die bevorzugten Topographien seiner Landschaftskunst. Gurlitt wurde zeitweilig als erster Porträtist Europas gehandelt. Friedrich Wilhelm IV. plante eine große Halle für einen europäischen Landschaftszyklus von Gurlitt zu errichten, der sich an den von Carl Rottmann für den bayerischen König Ludwig I. geschaffenen italienischen und griechischen Zyklen orientieren sollte. Das Vorhaben ging jedoch in den Wirren des Revolutionsjahres 1848 unter. In der von Ludwig Gurlitt verfassten Biographie seines Vaters nimmt dieses Kapitel dennoch breiten Raum ein. Als Vermittler trat demnach Alexander von Humboldt, Freund und Förderer Gurlitts, dem die räumlichen Repräsentationsverfahren von Natur und Landschaft des Malers zusagten, auf. Gurlitt, von dem zwar auch zahlreiche 72

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kleinformatige Bilder und Studien überliefert sind, bevorzugte die großformatige Konzeption seiner Landschaften als Panorama,45 von dem Humboldt im Kosmos sagte, dass es die „Vervollkommnung der Landschaftsmalerei“46 sei. Für Gurlitt war Humboldt nicht nur als Förderer und Vermittler von Aufträgen, sondern gleichsam als Ideengeber wichtig. In einem Brief an Hebbel schrieb Gurlitt, noch bevor er Humboldt persönlich kennenlernte, dass er in einem „Cyclus von großen Bildern die mannigfachen von Clima und sonstigen Verhältnissen bedingte[n] Charactere der Landschaft“ darstellen wolle und dass Humboldt „in seiner Abhandlung über Landschaftsmalerei im Cosmos […] Ideen“ ausspräche, „an die man sich anlehnen kann.“47 Die von Humboldts Landschaftsauffassung inspirierten großformatigen Landschafts­pano­ ramen und „repräsentativen Überblickslandschaften“48 Gurlitts bargen allerdings Probleme. Viele der Bilder ließen sich aufgrund ihrer Größe schlichtweg nicht verkaufen. An Adolph Vogell schrieb Gurlitt 1849 nach dem Scheitern des Großprojekts: „Oben genannte Bilder waren Bestellungen die durch die Zeitverhältniße rückgängig gemacht sind, für den Privat-Besitz fast zu groß, würden sie vielleicht einen Gönner in Sr. Maj. dem König finden, in deßen Besitz schon einige meiner früheren Arbeiten sich befinden.“49 Tatsächlich musste Gurlitt, um Geld zu verdienen, auf den Vertrieb von kleinformatigen Radierungen seiner Landschaften zurückgreifen. Dabei bekam er Unterstützung von seinem in Graz lebenden Sohn Wilhelm, der über den Verein für vervielfältigende Kunst in Wien den Vertrieb vermittelte und so die Einkünfte des Vaters aufbesserte.50 Dieser beklagte sich in einem seiner Briefe: „Die Zeit ist für die Kunst so ungünstig“.51 Überhaupt war der zeitweilig schlechte Absatz der Bilder Gurlitts häufig Thema in den Familienbriefen. Trotz eines neuen Ateliers, das ihm die Möglichkeit gab, nun auch wieder „ein größeres Bild zu malen“, schrieb Gurlitt 1874 aus Dresden voll Bitterkeit an seinen Sohn Wilhelm: „Verkaufen kann ich nichts, und dieser Uebelstand hemmt meine Schaffenslust nicht wenig.“52 Eines der großen Ölgemälde kam schließlich doch in die königlichen Kunstsammlungen, wie das von Gustav Waagen 1861 publizierte Verzeichnis der Wagenerschen Gemäldesammlung dokumentiert.53 Waagen, der Gurlitt eine Ausstellung in London vermittelt hatte, die allerdings im Desaster endete, weil zahlreiche Bilder verloren gingen,54 vermerkt hier zu Gurlitts Landschaft: „Ansicht der Gegend zwischen Genzano und Velletri im Albanergebirge. Im Mittelgrunde Velletri, in der Ferne die Volskergebirge, die pontinischen Sümpfe und das Meer, woraus sich der Monte Circello erhebt. Alle Gegenstände schwimmen in dem Licht eines warmen Sonnenuntergangs“.55 Mit der „warmen“ Beleuchtung spricht Waagen ein wesentliches Charakteristikum der Gurlittschen Landschaften an, wie etwa das heute unter dem Titel Albaner Berge (1850, Abb.  2) bekannte (und von Waagen verzeichnete) Bild und die Gegend um Sorrent (1874, Abb. 3) zeigen. 73

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Abb. 2: Louis Gurlitt: Albaner Berge, bpk, Nationalgalerie, SMB, Foto: Andres Kilger.

Abb. 3: Louis Gurlitt: Gegend bei Sorrent, bpk, Museum der bildenden Künste Leipzig, Foto: Ursula Gerstenberger. 74

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Die Gemälde sind im Abstand von etwa 25 Jahren entstanden. Sie offenbaren die künstlerische Kontinuität Gurlitts, der bei der einmal gefundenen Bildsprache blieb. Ludwig Gurlitt bemerkte einmal, sein Vater sei in seinen Landschaften „gefangen“ geblieben.56 Das ältere Gemälde, das in Nischwitz bei Wurzen entstand, präsentiert sich als ein Landschaftspanorama und ist im Breitformat angelegt. Gurlitt führt den Blick des Betrachters von einem erhöhten Standpunkt aus in die fast menschenleere Landschaft hinein. Man blickt auf eine von Bergen umrahmte Bucht. Im linken Vordergrund dominiert ein Wäldchen aus Zypressen und Pinien die Szenerie und begrenzt zugleich auf harmonische Weise das Bild. Charakteristisch für Gurlitt ist die Überschau von der unmittelbaren Nähe bis in die weite Ferne zum Horizont, das Spiel mit der Illusion aus Weite, Tiefe und Ferne. Wie in vielen anderen seiner Werke setzt Gurlitt dabei auf eine „ausgesuchte[] Vielfalt an Naturformen“ und „imponierende[] Tiefenerstreckung“.57 Von den im Vordergrund detailliert ausgeführten Pflanzen- und Erdstudien schweift der Blick langsam weiter über einzelne Architekturstaffagen und Erhebungen bis zum Meer, wo die Szenerie schließlich immer unschärfer und konturloser wird. Es ist ein Abend im Spätsommer. Das von der rechten Seite aus Westen kommende Licht liefert eine warme, lange Schatten werfende Beleuchtung. Der klare und nur von einzelnen Wölkchen – die die Linie der Baumkronen fortsetzen  – durchzogene Himmel nimmt einen Großteil des Bildes ein. Es ist ein typischer Gurlitt-Himmel: ruhig, sanft, weich gefiltert und frei von jeglichem meteorologischen Spektakel und von Extremen. Nur selten sind bei Gurlitt bewegte Wolkenformationen zu finden. Einen Himmel wie in Carl Rottmanns nur ein Jahr früher entstandenem „Schlachtfeld bei Marathon“ (Abb. 4) findet man bei Gurlitt nicht.

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Abb. 4: Carl Rottmann: Schlachtfeld bei Marathon, bpk, Nationalgalerie, SMB, Foto: Jörg P. Anders. Gurlitt liebte die Arbeit bei „schönem Wetter“, wie ein Brief aus Ekensund vom 6. Juni 1864 zeigt: Als ich gestern Morgen um 7 Uhr hier ankam, war das Wetter köstlich u. ich machte viele Pläne, was ich alles von den hübschen Motiven an dem Sunde malen und zeichnen wollte. Das Wasser war spiegelglatt u. alles so wie ich es am meisten liebe. Der Vormittag ging mit Recognossiren hin, Nachmittags war schon wieder Wind u. nichts wollte mir recht

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gefallen, ich machte endlich eine Zeichnung. Heute ist sehr starker Wind u. Regen, ganz durchnäßt kam ich eben nach Hause u. bin unentschlossen ob ich bleibe u. warte u. weiter gehe. […] Gestern u. heute habe ich die ganzen Tage arbeiten können u. habe mehrere kleine Motive (Schiffe u. Ziegeleien am Sunde) bekommen […] Abends will ich mir noch einen Sonnenuntergang skitzieren. […] Bei schönem Wetter bringt die Arbeit mich über vieles hinweg.58

Zudem deutet wenig in den Gurlitt’schen Landschaften darauf hin, dass er ein Zeitgenosse von William Turner war, dessen Farbkompositionen viele seiner Zeitgenossen überforderten und verstört zurückließen.59 Neben Theodor Fontane, der als erster Turner in seinen englischen Kunstkritiken würdigte,60 wird schließlich Cornelius Gurlitt (!) erheblich zur Popularität Turners in Deutschland beitragen.61 Sein Vater allerdings fand an nächtlichen, düsteren Szenerien, am Mondlicht, am meteorologischen Chaos, an Farbspektakeln keinen Gefallen. Er wollte berühren, aber nicht überfordern. Gurlitts Landschaften sind dominiert von der „Vorliebe für die Komposition schöner Linien und poetischer Stimmung“.62 Die Beschaulichkeit überwog alles und steht doch zugleich in einem spannenden Kontrast zu dem unsteten „Vagabundenleben“63 Gurlitts, der in seinen Bildern vielleicht die Ruhe fand und porträtierte, die ihm zeitlebens versagt blieb. Dabei sind Gurlitts Bilder keineswegs ohne Tiefe. Man kann sich durchaus in ihnen verlieren, sich immer weiter in sie hineinsehen. Erst nach und nach eröffnen sich dann weitere Details, wie die beiden Staffagefiguren in der Bildmitte von Albaner Berge. Es handelt sich um heimkehrende Hirten, ein klassisches und beliebtes Motiv der Landschaftsmalerei. Bei Jacob Philipp Hackert, Oswald Achenbach, Adrian Ludwig Richter und vielen anderen Künstlern findet sich das Motiv, das in weiteren Bildern Gurlitts auftaucht. Der Mann und die Frau sind in bäuerlicher Tracht unterwegs. Die weibliche Figur trägt einen Korb auf dem Kopf, den sie mit ihrer rechten Hand hält. Den beiden folgt eine Staub aufwirbelnde Schafherde, die förmlich mit der Landschaft verschwimmt. Sieht man weiter hinein, so werden in dem Wäldchen Mauern und eine Skulptur sichtbar, vielleicht ist es ein Garten, vielleicht auch nicht. Gurlitt lässt den Betrachter mit den Staffagen im Ungewissen. Ihre Bedeutung weicht bei ihm einem Interesse an der Wirklichkeit und Wahrheit der bloßen, von Extremen und Leidenschaften bereinigten Natur und an der Lichtsituation, die in allen seinen Gemälden dominiert. Anders als etwa bei Caspar David Friedrich haben die Staffagen bei Gurlitt keinen Symbolwert. Sie sind weder religiös noch mythologisch aufgeladen. Eben deshalb feierte Adolf Stahr Gurlitt als modernen „Befreier der Landschaft“64 von der Staffage, über die Friedrich Theodor Vischer in seiner Ästhetik urteilt, dass sie kein selbständiges Interesse in Anspruch nehmen dürfe.65

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Gurlitt versteht sich in seinen Bildern als Mittler zwischen Innen und Außen, zwischen Naturwahrheit und Seelenstimmung. Was zählt, sind nicht die einzelnen Objekte, sondern der Eindruck und der Charakter der Landschaft. Sie will er porträtieren, „treu erscheinen“66 lassen und schließlich das „Naturerlebnis zum sittlich reinigenden Erlebnis und zur Matrix grundlegender Reflexionen“67 erheben. Stahr notierte, dass Gurlitt in seine Bilder „die eigene Seele“ gelegt habe, „weil ihre Stimmung ihm aus dieser Natur, wie er sie schaute, laut und vernehmlich entgegenklang“,68 und bemerkt treffend, man bekäme bei dem Anblick der Gurlitt’schen Bilder das Gefühl, „als könne außerhalb dieser Natur überhaupt keine Unruhe mehr sein.“69 Die Autonomie der nahezu menschenleeren Landschaft bildet die Grundvoraussetzung für dieses Gefühl. Gurlitts Bilder berühren durch ihre Unberührtheit70 und vermeintliche Zeitlosigkeit. 1874, als das Bild Gegend bei Sorrent71 entsteht, durchzieht längst ein weitverzweigtes Eisenbahnnetz Europa. Die erste transatlantische Telegrafenleitung wird verlegt. Claude Monet stellt sein Seestück Impression soleil levant, das namensgebend für die Kunstrichtung des Impressionismus wird, im Atelier von Nadar aus. Courbets Die Welle ist längst gemalt, Menzels Eisenwalzwerk steht vor der Fertigstellung. Und Gurlitt? Er bleibt bei seiner etablierten Bildsprache, bei seinen „schöne[n], ruhige[n], beschauliche[n] und naturnahen Landschaften“.72 Im Vergleich mit den Albaner Bergen weist die Landschaft einen recht ähnlichen Bildaufbau auf, wenngleich den Architekturen und Bauwerken nun mehr Platz eingeräumt wird. Das breite und panoramaartige Format, die Lichtsituation, die dargestellte Jahreszeit, die Witterung, der Standpunkt des Betrachters, der geführte Blick von den nahen Pflanzen- und Architekturstudien in die Ferne aufs weite Meer, die in Tracht gekleideten Staffagefiguren als Blickfang und die Weitsicht bis zum Horizont lassen das Gemälde als typische Gurlitt’sche Landschaft erscheinen, die handwerklich überzeugt und einen „unproblematischen“73 Kunstgenuss garantiert. Gerade darin lag jedoch für zeitgenössische Kritiker wie Theodor Fontane das Problem. Der empfand Gurlitts Bilder als nicht mehr zeitgemäß. Zu einer auf der Berliner Kunstausstellung 1866 präsentierten „Italienischen Landschaft“ Gurlitts notierte Fontane74 in der Kreuzzeitung: Gurlitts Italienische Landschaft ist stilvoll und mit einer gewissen akademischen Korrektheit durchgeführt. Nichtsdestoweniger haben wir ein Gefühl davon, daß die Zeit dieser Art von Bildern vorüber und die Entwickelung, die die Landschaftsmalerei inzwischen erfahren hat, darüber hinausgegangen ist.75

Vielleicht wäre Fontane im Fall von Gurlitts Meeresstrand auf Sylt (Abb. 5) aus dem Jahr 1882 zu einem differenzierteren Urteil gekommen.

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Abb. 5: Louis Gurlitt, Meeresstrand bei Sylt, Privatbesitz Elizabeth Baars. In diesem Spätwerk Gurlitts deutet sich eine veränderte, nicht mehr in erster Linie auf die malerische Abbildungsfunktion und die poetische Inszenierung der Landschaft setzende Formsprache an. Die Farbpalette ist hier deutlich heller gehalten. Der von Wolken bevölkerte Himmel nimmt über ein Drittel des Bildes ein. Das Meer, die Schaumkronen der Wellen, die Möwen im Wind machen das Bild zu einer bewegten Momentaufnahme, die sich von den anderen Gurlitt’schen Landschaften auf eigentümliche Weise unterscheidet. Die Szenerie erscheint reduzierter und hinterlässt doch zugleich einen intensiveren Eindruck bei dem Betrachter. Das Bild wirkt wie ein sanfter Neubeginn, bleibt jedoch ohne Nachfolger. Kurze Zeit später hört Gurlitt mit dem Malen auf.

Vererbte Blicke – Die Familienkorrespondenz der Gurlitts Louis Gurlitt war sich der Kritik an seinem Werk durchaus bewusst und nahm die Veränderungen auf dem Feld der Landschaftsmalerei seismographisch wahr. Insbesondere im Austausch mit der Familie äußerte er sich dazu und ließ seine Gedanken und Ideen zur zeitgenössischen Kunst und seiner eigenen Position zirkulieren. In einem Brief an seinen ältesten Sohn Wilhelm kam er 1871 zu folgendem Schluss: 79

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Die Kunsthändler halten sich an diejenigen Künstler, die die neueste Richtung vertreten u. Mode sind, und zu diesen gehöre ich wie Du weißt nicht. Meine Zeichnungen nach der Natur machen hier bei allen die mich besuchen, das größte Aufsehen, und immer muß ich hören, daß sie noch nie so strenge, und mit so vielem Verständnis gezeichnete Studien gesehen haben. Aber wie Andreas Achenbach sagte: „man kann nicht zweien Herren dienen“ so mag es sein – und wie die neue Richtung ganz von der Farbe ausgeht und die Zeichnung vernachlässigt, so gehe ich von der Zeichnung aus, und bleibe in der Farbe zurück und doch kann ich nur auf meinem Wege Erfolge hoffen, und vielleicht erlebe ich es noch, daß die Landschaftsmaler auch wieder zeichnen lernen müssen, was sie großentheils gar nicht können, und sich wieder an Bäume machen, die hier fast gar nicht mehr gemalt werden. Oswald Achenbach persuadirt mich ich solle die Zeichnungen bei Schulte u. Bismeyer ausstellen, damit die jungen Künstler sie sehen und wieder auf die Bäume geführt werden, er ist Prof. der Akademie hier, und meint auch es wäre durchaus nöthig daß die jungen Künstler wieder strengere Vorstudien machen müßten. Zum Aus[s]tellen der Zeichnungen fürs große Publikum kann ich mich nicht verstehen, aber ich werde einen Theil nach Neujahr im Malkasten für die Künstler ausstellen.76

Die Korrespondenzen der Familie Gurlitt dokumentieren eine rege Anteilnahme der Familienmitglieder an der Arbeit des Vaters. Eine Schlüsselrolle kam dabei seiner Frau Else zu, die das epistolare Familiennetzwerk koordinierte, Briefe sammelte, weitergab und archivierte: „Ich bitte dich lieber Memo mir Ottos sämmtliche Briefe aufzuheben, die ich hier, wie Deine sammeln will“,77 notierte sie 1864. Häufig übernahm sie die Korrespondenzen ihres Mannes, der während einer intensiven Arbeitsphase nicht schreiben wollte: „Papa hat sein neues großes historisches Bild wie er es nennt, begonnen. Seine ganze Kraft u. seine ganze Zeit bedarf er dazu, an ein Briefe schreiben ist nicht zu denken.“78 In den Briefwechsel zwischen den Eltern Louis und Else Gurlitt mit dem ältesten Sohn Wilhelm, der in Graz lebte, stiegen im Laufe der Jahre die anderen Kinder ein. Dem Wesen des Briefes entsprechend präsentieren sich die Korrespondenzen der Gurlitts zunächst als Gebrauchstexte, in denen es um die Übermittlung von Informationen, um die Aufgaben, Probleme und Herausforderungen von meist Alltäglichem geht. Darüber hinaus bergen die Briefe allerdings so etwas wie eine auf Louis Gurlitts Landschaftskunst zurückgehende Identität der Familie. Gurlitts Arbeitspraxis, seine Motive, Formsprache, „Eindrücke“79 und nicht zuletzt sein spezifischer Blick auf Landschaften stehen ebenso im Zentrum der Briefe wie Informationen über Studienreisen, über Erfolge oder Misserfolge, Absatz, Verkauf und Verbreitung seiner Arbeiten. Wenn Bilder einen Käufer fanden, was nicht immer vorkam, setzte man die anderen Familienmitglieder meist sofort in Kenntnis: „Soeben erhalten wir von der Galerie [Arestion] die Nachricht, daß Papas Bild 80

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Busaco80 angekauft sei, 4000 Mk. Große Freude, lebhaftes telegraphieren nach Bremen an Papa“, jubelte die Tochter Else 1878.81 Zugleich gewährte Gurlitt seiner Frau und seinen „lieben Bälgern“82 Einblicke in seine Arbeitsweise, wie dieser auf einer Studienreise durch Holstein entstandene Brief aus Kolding zeigt: Ich habe gestern meine Augen angegriffen, ich zeichnete bei starkem Winde, in grellem Sonnenschein auf weißen Papier, da ich meinen Sonnenschirm des Windes wegen nicht brauchen konnte. Heute beim Erwachen waren die Augen ganz zugeklebt. Bei einiger Schonung werden sie wohl bald wieder ganz gut sein. Von Kolding habe ich eine Ansicht gezeichnet u es ist von diesen Städten eigentlich nichts zu machen, u Waldparthie pp sind für den Zweck den ich verfolge, nicht brauchbar und karakterisieren zu wenig gerade diese Gegenden, auch fehlt mir durchaus die Ruhe dazu in diesen kriegerischen Umgebungen, denn alles wimmelt hier von Uniformen, alle Häuser sind vollgestopft u die Bewohner auf den engsten Raum beschrenkt.83

Zuvor war Wilhelm Gurlitt über die bevorstehende Reise informiert worden: „Papa hat die Absicht jetzt nach Schleswig und Jütland zu gehen und die geschichtlich bedeutend gewordenen Gegenden zu mahlen und will dann mit den Bildern nach Wien gehen.“84 Über die Ergebnisse und den schlechten Absatz der auf der Reise entstandenen Arbeiten hielt ihn dann Gurlitt ebenfalls per Brief auf dem Laufenden: Lieber Junge! Seit Donnerstag bin ich wieder in meine alte, liebe Häuslichkeit eingerückt, und genieße die Tage mit vielem Wohlbehagen. Von der Reise habe ich, durch ungünstiges Wetter u. unmalerische Motive an den Orten die ich diesmal der Kriegsthaten wegen aufsuchte, gehindert, blitzwenig mitgebracht u. muß nun sehen wie ich mich aus der Affaire ziehe.85

Wenige Wochen später ist zu lesen: „Das Fehlschlagen der Speculationen mit meinen Bildern vom Kriegsschauplatz, hat dir Mama wohl schon mitgetheilt. Einiges davon scheint doch noch angebracht zu werden.“86 Die Briefe offenbaren die Schwierigkeiten eines Künstlerlebens im 19. Jahrhundert und die Abhängigkeit Gurlitts von Mäzenen und Förderern. Viele seiner Werke sind mit Blick auf potentielle Käufer, wie die Königin Viktoria von England, der Gurlitt ein Bild von Rosenau, Geburtsort ihres Gatten Albert, anbot,87 oder den König Ludwig I. von Portugal, der aus dem Hause Sachsen-Coburg und Gotha stammte,88 entstanden. Gurlitts Kunst zielte auf eine adlige und „feudalgroßbürgerliche“89 Klientel. Höhepunkte wie der Besuch des Gothaer Herzogs Ernst II. und des preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm (späterer Kaiser Friedrich III.) in 81

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Gurlitts Atelier werden in den Briefen als großes Ereignis, das man detailliert und mit Anekdoten angereichert wiedergab, inszeniert: Wir hatten dieser Tage hohen Besuch. Unser Herzog ließ sich bei Papa mit seinen Gästen melden u. es erschienen der Kronprinz von Preußen, die Kronprinzessin, die Prinzessin Alice, der Prinz v. Hessen u. unsere Frau Herzogin. Die Herrschaften waren sehr entzückt von Papas Bildern, besonders gefiel der Kronprinzessin ein Bild aus Coburg, was dem Herzog gehört u. was bei uns im Saale stand, weil Papa es gefirnißt hatte. Die Prinzessin lobte es unaufhörlich u. der Herzog sagte: „ich schenke es Dir, wenn Gurlitt so gut ist, es für mich zu wiederholen. Lassen Sie das Bild gleich verpacken.“ Der Kronprinz […] frug Fritz: „na, Männeke, was willst Du werden?“90

Epistolare Einigkeit herrscht in Bezug auf Gurlitts Meisterschaft und Genie: Ich war heute wieder in Papas Attelier u. habe mich aufrichtig an einer Waldlandschaft erfreut, in die der bekannte Guido Hammer91 ein Paar Hirsche hineingemalt hat. Es thut mir so leid, daß Papa es so schwer erträgt, daß durch die Ungunst der Zeiten der Verkauf nicht glückt, aber es hat ja Jeder durch diese Zeitverhältnisse zu leiden u. ich begreife nicht, wie eine so große Natur, wie Papa sie hat, so wenig darüber hingwegkommt, u nicht eine Befriedigung darin findet, daß ihm die Arbeiten so gut gelingen.92

Else Gurlitt und ihre Kinder kamen zu dem Schluss, „daß Papas ganze Natur sich eignet […] schöne Natur zu malen.“93 Freilich ging diese Beurteilung der Kunst des Ehemanns und Vaters nicht zuletzt auf Gurlitt selbst zurück, der seine Briefe nutzte, um die Bedeutung und Besonderheit des eigenen Werkes an seine Kinder zu vermitteln und weiterzugeben. Das zeigt unter anderem ein in Leipzig entstandener Brief, in dem Gurlitt über Schwierigkeiten mit der „Richtung in den leitenden Kreisen des Museums“, das „sehr nazarenisch […] und ablehnend gegen die neuere Richtung, so auch der meinigen“, sei, berichtet. Eine Übersiedlung nach Leipzig hielt er deshalb für schwierig, betonte aber zugleich, dass seine Bilder dort durchaus Liebhaber hätten: Es ist dies auf jeden Fall ein Übelstand, der die Uebersiedelung sehr erschwert, da das Museum den Mittelpunkt der Kunstinteressen bildet u. den Geschmack großen Theils beherrscht. Jetzt ist die schöne Melusine von Schwind ausgestellt, die die vollste wohlverdiente Anerkennung hier findet, aber man geht so weit in Schwind das Ideal des Coloristen zu sehen. Da weiß man denn freilich nicht, was man sagen soll. Natürlich macht sich auch eine Oposition dagegen geltend, die sich vielleicht meinen Bestrebungen

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Louis Gurlitts Landschaften

geneigt zeigen möchte. Wunderbar u erfreulich ist mir, wie so viele sich jedes Bildes von mir, daß [!] im Laufe von 20 Jahren hier ausgestellt war, lebhaft erinnern und mir aufs Genaueste beschreiben.94

Sowohl durch seine Werke als auch durch seine Briefe beeinflusste Louis Gurlitt die Auseinandersetzung seiner Kinder mit der zeitgenössischen Kunst. Ein Schreiben von Fritz Gurlitt95 an seine Mutter, in dem er über die Kunstausstellung in Gotha berichtet und zugleich mit Carl Friedrich Lessing, einem Malerkollegen seines Vaters, abrechnet, dokumentiert dies eindrücklich. „Glanzpunkt der Ausstellung“ war Fritz zufolge „eine wundervolle ital. Landschaft v. Oswald Achenbach, die uns alle ungeheuer begeistert hat.“ Lessings „Verlaßenes Jägerhaus im Wald“ erscheint ihm hingegen als „ganz jämmerlich“. „Selbst Papa der ja so sehr vorsichtig u. zartfühlend in seinem Urtheil ist, fand das Bild im höchsten Grade schwach“, schreibt er der Mutter. Geradezu empört war Fritz Gurlitt darüber, dass Lessings Bild mit den „liederlich dünn aufgetragenen Farben“ 1500 Reichstaler kosten sollte, „während unser guter Alter für [ein] gewiß bedeutenderes Bild kaum d. dritten Theil verdient.“96 Wie sehr Louis Gurlitts Landschaften zudem die Blicke und Sehweisen seiner Kinder prägten, die auf ihren Reisen auch immer die Bildwelten des weitgereisten Vaters suchten, offenbart ein Brief von Cornelius Gurlitt aus Genua: Ich habe zwei entzückende Exkursionen gemacht. So zunächst nach Stupigni und Montecaliere mit wunderbarem Sonnenuntergang. Vor mir die Alpen vom Col de Tenda bis zum Monte Rosa – großartig! Die Sonne gerade hinter der stolzen Spitze des Monte Viso, die Berge greifbar nahe, tiefblau. Die Höhen hinter Turin wunderbar tiefbraun mit blauen Schatten. Ich habe Dutzende von Bildern von Dir, lieber Papa, in denselben gesehen. Am nächsten Tag Sonnenaufgang über den Nebeln des Tales vom Kapuzinerkloster über Turin.97

Gurlitt vererbte seinen Kindern nicht nur zahlreiche seiner Bilder,98 sondern auch seinen spezifischen Blick auf die Landschaft, der schließlich sogar die Wahl des Begräbnisplatzes für den Vater beeinflusste: „Der Platz, den Ludwig auswählte, ist wirklich herrlich. Ein Platz, den Papa für ein Bild hätte aussuchen können“, schrieb Cornelius an Wilhelm Gurlitt 1897.

Schlussbemerkung Ein 1912, im Jahr des 100. Geburtstages von Louis Gurlitt, entstandenes Foto zeigt die Familie mit der Büste des Vaters und Großvaters, die Cornelius Gurlitt fast liebevoll im Arm hält (Abb. 6). 83

Jana Kittelmann

Abb. 6: Foto der Familie Gurlitt anlässlich des 100. Geburtstages von Louis Gurlitt, 1912, Privatbesitz Elizabeth Baars. Gurlitts Bemühungen, seiner Familie sein Verständnis von Kunst und zugleich die Charakteristik und Bedeutung seines eigenen Werkes zu vermitteln, fruchtete. Die Kinder, insbesondere Ludwig Gurlitt, nahmen die Verpflichtung und die damit verbundene Pflege des künstlerischen und geistigen Erbes Gurlitts an. Noch zu Lebzeiten Louis Gurlitts entstand in der Familie die Idee, den Vater mit einer Biographie zu würdigen. Ludwig Gurlitt spricht in einem Brief an Wilhelm vom Januar 1896 von „unsere[m] Plan, die Biographie betreffend“ und hofft auch auf den „Beistand“ von Cornelius. Es ginge, so Ludwig weiter, nun um die Sammlung und „Beschaffung biographischen Materials“. Nach dem Tod Louis Gurlitts im Jahr 1897 setzte Ludwig Gurlitt alles daran, „das Andenken meines Vaters vor ungerechter Verkleinerung zu bewahren.“99 Er trug weitere Dokumente und Lebenszeugnisse zusammen, darunter die Briefe an Friedrich Hebbel, die ihm die Witwe des Dichters 1899 zur Verfügung stellte und die er 1907 veröffentlichte. Das 300 Seiten starke „Lebensbild“ des Vaters, das Ludwig Gurlitt 1912 publizierte, ist ebenfalls zu großen Teilen aus Briefen rekonstruiert. Was 84

Louis Gurlitts Landschaften

im privaten Raum des Familienbriefes verhandelt wurde, ging teilweise in das öffentlichkeitswirksame Format der Biographie des Vaters über. Ihn habe, so Gurlitt im Vorwort, „vor allem der Gedanke“ geleitet, „dass sich unseres Vaters Leben selbst darstellen sollte“ und, „[w]o es irgend ging“, wollte er „ihm selbst das Wort“ geben.100 Wie die Korrespondenz der Gurlitts, die als Archiv einer familieninternen Identität und Erinnerung erscheint, stellt sich gleichsam die Biographie als gemeinsames Projekt, als Medium eines kollektiven Gedächtnisses sowie als Narrativ der Familie Gurlitt dar. „Es war der letztwillige Wunsch seiner ihn überlebenden Frau dritter Ehe, unserer Mutter, daß ich sein Lebensbild in einem Buch festhalten sollte, und es war das der Wunsch auch aller seiner Kinder und seiner Kindeskinder“,101 betont Ludwig Gurlitt im Vorwort. Das Werk ist chronologisch aufgebaut: „ich bin seinem Leben Schritt für Schritt nachgegangen“,102 bemerkt Ludwig Gurlitt. Den Vorfahren Louis Gurlitts und den „Voraussetzungen“ seines „beschriebenen Lebens“103 wird viel Platz eingeräumt. Gurlitt setzt auf die „Genealogie als brauchbares Erzählmodell“,104 um von dem Leben seines Vaters zu berichten. An die großen Künstlerbiographien der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts anknüpfend, werden Lebensgeschichte und Werkanalyse hier nicht getrennt, sondern zusammenhängend präsentiert.105 Gurlitt soll in seiner Zeit als Familienvater und als Künstler dargestellt werden: „Mehr lag mir daran, den ganzen Menschen zu zeigen und an seinem Beispiel den Kampf, den deutsche Künstler im letzten Jahrhundert in und mit ihrem Vaterlande und im eigenen Hause für ihre Familien zu kämpfen hatten.“106 Ludwig Gurlitt kam zu dem Schluss, dass die Bedeutung Louis Gurlitts für die eigene Familie und für die Nation untrennbar zusammenhängen: „Louis Gurlitt ist der Stolz aller derer, die seinen Namen tragen. Ich brauche sein Bild nur zu zeigen, und unser ganzes deutsches Volk – so hoffe ich – wird ihn gern den Seinen nennen“,107 ist im Vorwort zu lesen. Ludwig Gurlitts Hoffnung blieb unerfüllt. Viele der in den Museen befindlichen Gemälde Gurlitts lagern momentan in den Depots. Wie viele Bilder Gurlitts, der fast 60 Jahre unermüdlich malte, tatsächlich existieren, weiß man nicht. Ein vollständiges Werksverzeichnis fehlt bis heute.

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Portrait Wilhelm Gurlitt, in: Deutsches Geschlechterbuch (Genealogisches Handbuch Bürgerlicher Familien), Bd. 22, Görlitz 1912, gegenüber 118 WILHELM GURLITT, von 1877 bis zu seinem Tod 1905 Professor für Klassische Archäologie in Graz. 1854 Akademisches Gymnasium Wien, ab 1859 Gymnasium illustre in Gotha, Abitur 1863. 1863 Studium der Klassischen Philologie und Archäologie in Bonn u. a. bei Otto Jahn, ab 1865 in Göttingen u. a. bei Hermann Sauppe und Ernst Curtius, Dr. phil. 1867 (De tetrapoli Attica), bis 1869 Reisen nach Portugal, Spanien, Italien, Griechenland. 1869/70 Lehrer am Gymnasium illustre in Gotha, 1870–1874 Erzieher im Haus des Altgrafen Hugo zu Salm-Reifferscheidt-Raitz, einer hoch renommierten Wiener Adelsfamilie. 1875 Habilitation bei Alexander Conze (Das Alter der Bildwerke und die Bauzeit des sogenannten Theseion in Athen), bis 1877 Privatdozent in Wien, seit 1877 an der Universität Graz außerordentlicher, 1890 ordentlicher Professor für Klassische Archäologie. Seit 1883 Konservator der Zentral-Kommission für Kunst- und historische Denkmale Steiermark, 1887 Kurator und Leiter der Prähistorischen und Antikensammlung am steiermärkischen Landesmuseum Joanneum, 1890–1901 Ausgrabungen im römischen Poetovio (Pettau/ Ptuj) an der Drau, 1895 Vorstand des neu gegründeten Archäologischen Instituts der Universität 86

Graz, 1901 Präsident des steiermärkischen Kunstvereins und zentrale Figur des ‚Grazer kreativen Milieus‘ um 1900. Mitglied des Deutschen Archäologischen Instituts seit 1892, des gerade gegründeten Österreichischen Archäologischen Instituts seit 1899, seit 1900 Korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften Wien. Wilhelm Gurlitt wurde am 7. März 1844 in Rom geboren als Sohn des Malers Louis Gurlitt und der wenige Monate nach seiner Geburt gestorbenen Julie geb. Bürger. Nachdem Wilhelm über drei Jahre bei der Basler Familie Burckhardt-Hiss Pflegekind gewesen war, wuchs er in der neuen Ehe des Vaters mit Else Lewald, einer jüngeren Schwester der Schriftstellerin Fanny Lewald, zusammen mit fünf Halbbrüdern und einer Halbschwester auf. Verheiratet war er seit 1885 mit Mary Labatt (1857–1940), deren Hauslehrer Gurlitt bei der Familie des Grafen Salm gewesen war, wo Mary nach dem Tod ihrer Eltern, seit sie 14 Jahre alt war, lebte. Wilhelm und Mary hatten drei Töchter, Brigitta/Gitta, Ludwiga/Wiga und Wilhelmina/Helma. Am 13.  Februar 1905 verstarb Wilhelm Gurlitt in Graz mit knapp 61 Jahren.

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Der klassische Archäologe Wilhelm Gurlitt im Netz der Altertumswissenschaft Mit einem Anhang: Briefwechsel zwischen Cornelius und Wilhelm Gurlitt über „das Schöne in der Kunst“ Justus Cobet „S[ein]e. Majestät der Kaiser hat den Privatdocenten an der Universität zu Wien, Herrn Dr. Wilhelm Gurlitt, zum außerordentlichen Professor der classischen Archäologie und der realen Fächer der classischen Philologie an der k[aiserlich] k[öniglichen] Universität in Graz ernannt“ (Grazer Volksblatt, 25. Juni 1877). Schon dem jungen Herrn Doktor hatte der Vater, Louis Gurlitt, zu Weihnachten 1871 nach Wien geschrieben: „Mich freut es so sehr aus Deinen letzten Briefen zu sehen, daß Du ein festes Ziel gefunden hast, nach welchem Du mit Deinen Arbeiten strebst. Behalte es fest im Auge.“1 Seit seiner Schulzeit in Gotha können wir erkennen, dass sein Weg in die Mitte der Altertumswissenschaft führte, wie sie sich im 19. Jahrhundert als ein Leitfach an den deutschsprachigen Universitäten entfaltete. Im biographischen Lexikon zur „Geschichte der Altertumswissenschaften“ des Neuen Pauly kommt Wilhelm Gurlitt nicht vor, so auch nicht in Lullies/Schierings Klassiker, den Archäologenbildnissen.2 Interessant erscheint er indes als ein erfolgreicher Akteur – Schüler, Lehrer, Organisator und Ausgräber – in einer Phase, in der die um 1800 etablierte Klassische Altertumswissenschaft sich in Philologie, (Alte) Geschichte und Archäologie ausdifferenzierte;3 Wolfgang Schierings Geschichte der Archäologie im einschlägigen Handbuch nennt Gurlitt einen „archäologisch interessierten Philologen“.4 Die entstehende Archäologie erwies sich dabei als ein durchaus unklares Fach zwischen dem Proprium Kunstgeschichte in der Tradition Winckelmanns,5 den aus der Heterogenität der Bodenfunde erwachsenden Hilfswissenschaften und dem Proprium Spatenwissenschaft, für die als Pionier gerne Heinrich Schliemann mit seinen Grabungen in Troia und Mykene zwischen 1870 und 1890 in Anspruch genommen wird.6 Am 19. Juli 1877 schrieb Cornelius Gurlitt aus Dresden an seinen Bruder Wilhelm: „Da man hier sehnlichst Nachricht über Deine Professur erwartete, ist die ganze Familie in der größten Spannung, Nachricht von Dir zu erhalten.“7 Dass 88

Wilhelm Gurlitt

Wilhelms Weg über Wien nach Graz nicht ganz so geradlinig verlief wie es dem Vater Ende 1871 erschien, zeigt das einzigartige Selbstzeugnis eines Briefes, in dem er dem Empfänger auf Aufforderung und offenbar in Bewerberhaltung Anfang 1874 während einer für ihn kritischen Phase auf acht Seiten sein wissenschaftliches „curriculum vitae“ vorstellt; am Ende entschuldigt er sich, dass der Brief „ausführlicher geworden als ich wollte“.8

Im Netz der Familie Zehn Jahre nach Wilhelms Tod veröffentlichte Ludwig Gurlitt aus Dokumenten und eigener Erinnerung einen langen Nachruf auf den Bruder, das ausführlichste Dokument zu seinem Leben. Dort lesen wir, von seiner Mutter, Louis Gurlitts zweiter Frau, habe er sein mildes, versöhnliches Wesen. Wir anderen Gurlitt, sämtlich aus dritter Ehe meines Vaters stammend, sind von härterem Stoff gebaut. Wilhelm schaltete daher auch in unserer Familie jederzeit als guter Genius, als Friedenshort. Er war der rücksichtsvollste Sohn, daher auch der ausgesprochene Liebling der – Stiefmutter, war der verständnisvollste Bruder.9

Dem Vater, der an der Staffelei stehend für seine große Familie sorgte, nahm er, so weiter Ludwig, „einen großen Teil der Erziehungsmühen an den jüngeren Brüdern ab und wurde uns ein zweiter Vater“ (85), „der lichte Sonnenglanz auf unseren Lebenswegen“ (87f.). Er stand im Zentrum des dichten Austausches zwischen den Eltern und ihren sieben Kindern. Ihr Briefwechsel bezeugt einen engen Familienverband, in dem Nachrichten über Ergehen und Tun ständig untereinander mitgeteilt und weitergeleitet wurden. Von außen konnte dies als geschlossene Gesellschaft erscheinen, wenn „wir Gurlitts bei Gerlachs [Cornelius’ Schwiegereltern] in dem komischen Rufe des Hochmuts sind“ (32/86). Doch ihrer aller Verschiedenheit waren sich die Geschwister bewusst, gemeinsame Projekte verfolgten sie nicht. Anlässlich der Feier des 70. Geburtstages von Vater Louis schrieb Cornelius an Wilhelm: Im Grunde beklage ich nicht, daß wir Geschwister nicht zu Hause vereint sind. Papa ist für den Andrang verschiedener Lebensanschauungen nicht gemacht, namentlich nicht, wenn sie von seinen Kindern ausgehen. Er kann dann nicht vergessen, daß der Einzelne im Wesentlichen zu fest in sich selbst geworden ist, um sich nach fremden Ansichten umzumodeln. [32/39]

Eine Vorstellung vom Familienverband aber hatten sie. „Du oder Ludwig könntet vielleicht“, schrieb Wilhelm in Vorbereitung des 80. Geburtstags ihres Vaters an Cornelius, „einen lustigen 89

Justus Cobet

Stammbaum der Familie Gurlitt anfertigen. Denn: Wer sorgt für einen Cantus zum Festmahl?“10 Untereinander tauschten sie Urteile übereinander aus, durchaus kritisch gerieten diese über einzelne Schwägerinnen, bisweilen die eigene Frau. „Beim Durchlesen sehe ich, daß ich gesagt habe, Mariechen wäre nicht recht gescheit: Das ist eine Blasphemie […]. Sie spricht Englisch, Französisch und Sächsisch, […] sie spielt Klavier, singt“ und so weiter, so Cornelius über seine Frau (32/58). Familienarbeit war Frauensache, den Beruf übten die Männer aus.11 Memo, wie sie Wilhelm in den Briefen vertraut anredeten,12 besaß als der Älteste eine Sonderstellung; „Liebe Memmonen“ konnte er mit Frau und Kindern adressiert werden (32/202). „Lieber Memo! Es sind über drei Wochen, ohne daß wir Nachricht von Dir erhalten haben, und Du weißt, wie sehr ich darunter leide, wenn wir nicht [im] geistigen Verkehr untereinander stehen. Ich lege Dir den Brief von Otto ein […]. In Liebe Deine Mama“ (28/09). Zur Planung des 80. Geburtstages des Vaters wünschte sich Cornelius, Memo „als den Ältesten im Kreis hier zu haben. Mich speziell würde es freuen, da somit die neutralen Elemente gestärkt werden und Du zwischen Fritz und Hans, ich zwischen Fritz und Otto geistig die Verbindungslinie herstellen können“ (32/85). Nach des Vaters Tod, bald nach der Goldenen Hochzeit der Eltern 1897, begrüßte ihn Cornelius als „mein lieber Bruder, liebes Haupt der Familie“ (32/123). Als Weihnachtsgruß an Mary, Wilhelms Witwe, schrieb er 1923: „Nächstes Jahr wird Memo 80 Jahre alt. Ich denke viel und gern an ihn als meinen zweiten Vater, einen immer milden, immer teilnehmenden und klugen Berater, dem ich sehr viel verdanke“ (31/17). Wilhelms Tochter (Lud)Wiga (*1891), verheiratete Bornhardt, taufte 1920 ihren ersten Sohn Memo.

Der Weg des Gothaer Gymnasiasten zur archäologischen Privatdozentur in Wien Die Merkpunkte auf Gurlitts Weg zur Professur in Graz beginnen im Gymnasium illustre Ernestinum in Gotha, wohin die Familie 1859 aus Wien gezogen war. Dessen Leiter war Joachim Marquardt (1812–1882). „Dem [!] Einfluß dieses als Paedagogen und Antiquars [!] gleich bedeutenden Mannes sowie der ausgezeichnete Unterricht des Dr. Otto Schneider [1815–1880] u. Friedr. Berger, veranlaßten mich das Studium der Philologie zu wählen“ (Vita, 1f.).13 Ende 1858 war der Vater mit vielen Bildern aus Griechenland zurückgekehrt. Memo bringe er, hatte er der Mutter geschrieben, antike Münzen und drei kleine Tonfiguren mit. „Ich denke die Sachen, so unbedeutend sie sind, könnten ihm Eifer und Liebe zum Studium alter Sprachen und Geschichte erwecken und ihn so in seinem Studium, wenn er dabei bleiben sollte, fördern.“14 Seit der Rückkehr des Vaters hing in der elterlichen Wohnung ein Gemälde 90

Wilhelm Gurlitt

der Akropolis, Ikone des Klassischen Athen. Ein Brief erinnert an den Kommentar des Vaters gegenüber befreundeten Besuchern: „Wenn ihr Euch das Bild gehörig anseht, seid Ihr in Griechenland gewesen!“15 Im Sommer 1863 nahm Wilhelm sein „Studium der Philologie“ auf: drei Semester Bonn, fünf Semester Göttingen. Zum Weg nach Göttingen „haben ihn vermutlich die guten, fast freundschaftlichen Beziehungen seines Vaters und der ganzen Familie zu Ernst Curtius [1814–1896] veranlasst. Sie gingen auf die vierziger Jahre zurück, als Curtius Louis Gurlitt zur künstlerischen Erziehung des Kronprinzen [Friedrich, *1813] bei Hof einführte.“16 Während meines Studiums habe ich mich in Bonn namentlich an O[tto] Jahn [1813– 1869], in Goettingen an [Hermann] Sauppe [1809–1893] angeschlossen, so daß ich mich in Archäologie einen Schüler Jahns, in Philologie einen Schüler Sauppes nennen möchte. [Friedrich] Ritschls [1806–1876] geistsprühende Vorträge wirkten mehr anregend u. begeisternd, während ich erst bei Sauppe die Wohlthat einer strengen Schulung in Hermeneutik und Kritik kennen lernte. [Vita, 3f.]17

Maßgebend für ihn sei, formulierte Gurlitt später, die „sichere, auf ausgedehnte Denkmälerkenntnis und Benützung der Zeugnisse der antiken Literatur rechnende Methode Otto Jahns“.18 Sorgfältige Mitschriften dokumentieren Gurlitts Curriculum.19 Die Philologie bildete den Schwerpunkt seines Pensums: Elemente des Sanskrit, Griechische Syntax, Lateinische Grammatik, Theorie des lateinischen Stils; Aischylos, Aristophanes’ Frösche, Plautus, Terenz, Horaz’ Oden, Juvenals Satiren, Apuleius’ Amor und Psyche; Griechische Literaturgeschichte, „Geschichte des Romans bei den Griechen und Römern, Geschichte der römischen Lyrik bis auf Horaz“; „Methodologie der Philologie nebst Kritik und Hermeneutik“. In den „realen Fächern der Philologie“ hörte Gurlitt Vasenkunde, Ernst Curtius’ „Griechische Kunstgeschichte“ sowie „Topographie und Ethnographie“, schließlich Curt Wachsmuths (1837–1905) „Topographie von Athen“ und eine Einleitung in das Studium der alten Geschichte.20 Darüber hinaus besuchte er Vorlesungen zur Deutschen und zur Kultur- und Kunstgeschichte der Neuzeit und zur Geschichte der Philosophie. In Bonn war er „Mitglied des philologischen Proseminars unter der Leitung von C. Wachsmuth u. [August] Reifferscheid [1835–1887]“ und „des archäologischen Seminars von O. Jahn“, in Göttingen „Mitglied des philologischen Seminars unter Sauppe, Curtius, [Ernst von] Leutsch [1808–1887]“ (Vita, 2f.).21 Bei Sauppe lieferte Gurlitt die Untersuchung zu einer Stileigenart des griechischen Historikers Dionysios von Halikarnass als Kriterium für richtige Lesarten der Codices ab.22 Das Lehrangebot in Wieselers Archäologischem Institut nahm er offenbar nicht wahr.23 91

Justus Cobet

Schlimm war es in Göttingen mit der Archäologie bestellt, weder konnte ich aus Wieselers Vorträgen etwas gewinnen, noch förderte mich die fragmentarische, abspringende [!] Behandlung dieser Wissenschaft durch Curtius. Ich hielt mich daher auch ferner an die sicher schreitende, auf ausgedehnteste Denkmälerkenntniß beruhende Methode Jahns, welche bei ihm mit der schweren ars nesciendi verbunden war, u. mit freiem, für Stilunterschiede geübten Auge, fern von Systemmacherei durchgeführt wurde. Dagegen verdanke ich E. Curtius, dem Meister in topographischen und athenographischen Untersuchungen, die dauernde Vorliebe für dieses Fach der Alterthumswissenschaften. [Vita, 4f.]

Im August 1867 machte Gurlitt in Göttingen „den philologischen Doctor“ mit einer quellenkritischen Arbeit zur Topographie der Tetrapolis, Kultgemeinschaft von vier Orten in der Ebene von Marathon, „in der ich, nach Besprechung der mythischen Vorgeschichte den Nachweis zu führen suche, daß hier die Jonier zuerst auf attischem Boden einen Staat gebildet haben, der dann für Gesammt-Attika vorbildlich wurde“ (Vita, 3).24 Über den Stamm der Jonier selbst noch zu handeln, endet der Text mit Versprechen auf Später,25 hindere ihn eine Reise nach „Hispanien“.26 1874 schrieb Gurlitt: „Von den Vorarbeiten für das Staatsexamen wurde ich durch den Wunsch meines Vaters, ihn auf einer Studienreise durch Portugal u. Spanien zu begleiten, abgerufen“ (Vita, 5). Noch in Graz muss er später immer wieder von den Umständen dieser Promotion erzählt haben,27 die ihn aus den Lehr- in die Wanderjahre stürzten, welche er dann ganz zunftgemäß gestaltete. […] ich entschloß mich um so eher zu dieser Reise, da mir Professor Hübner in Berlin den Auftrag ertheilte, in diesen Ländern für den von ihm redigierten Theil des corpus inscriptionum latinarum thätig zu sein. Ich erhielt zugleich einen Reisezuschuß und was ich leisten konnte, ist theils im corpus selbst, theils in den Berichten der Berliner Akademie niedergelegt. […] während welcher Zeit meine Aufmerksamkeit hauptsächlich auf Inschriften, röm. Alterthümer und die Topgraphie gerichtet war, doch die großen Bildergallerien in Sevilla u. Madrid und die reichhaltige biblioteca nacional […] nicht unberücksichtigt gelassen wurden. [Vita, 5f.]28

Nach neun Monaten mit dem Vater reiste Gurlitt allein weiter nach Italien; [ich] habe mich bemüht, während eines viermonatigen Aufenthalts in Rom, Neapel und auf Sizilien, den Anforderungen, welche die Kenntnißnahme der Antiken wie der Renaissancekunst an den Reisenden stellt, möglichst gleichmäßig zu genügen. [Vita, 6]

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Wilhelm Gurlitt

Ein Jahr blieb er danach in Griechenland, bereiste die Peloponnes und war von Februar bis September 1869 in Athen, verdingte sich nebenbei als Deutschlehrer29 und wandte sich wieder ganz dem Alterthum zu, besonders habe ich mich mit den Fragen der Topographie beschäftigt. Ein Bild des alten Athen, nach meinen damaligen Kenntnissen, an denen ich auch jetzt noch nicht viel zu ändern finde, habe ich damals in einer ausführlichen Recension von E. Curtius’ 7 Karten zur Topographie von Athen [Gotha 1863] gegeben; außerdem habe ich über Statuen- und Inschriftenfunde im bulletino di correspondenza archeologica und im Philologus berichtet. [Vita, 6f.]30

Otto Benndorf (1838–1907), der später einer seiner wichtigen Korrespondenten wurde, erteilte er „Auskünfte über topographische Details zu den Propyläen auf der Akropolis“.31 Im Oktober 1869 kehrte er für ein halbes Jahr nach Hause zurück und unterrichtete am Ernestinum in Gotha Englisch und Griechisch; unter seinen Schülern war der 15-jährige Bruder Ludwig.32 „Ostern 1870 bin ich nach Wien gekommen, habe meine Absicht, mich an der Universität zu habilitiren, wegen Geldverlegenheit aufgegeben und bin in das Haus des Altgrafen Salm eingetreten“ (Vita, 7).33 Im Haus des mit den Eltern befreundeten Hugo Fürst und Altgraf zu Salm-Reifferscheidt-Raitz (1832–1890), „wo die Gräfin Elisabeth, eine geborene Fürstin Liechtenstein, alles um sich sammelte, was in Österreich an Geist und Kultur hervorragte“,34 wurde er Erzieher des jungen Grafen und seiner Schwestern. Als deren Freundin wurde um dieselbe Zeit Mary Labatt (*1857) in die Familie aufgenommen;35 mit ihr verlobte sich Wilhelm, nachdem er in Graz Professor geworden war, 14 Jahre später. Mit „der Fürstin“, wie die Gräfin Salm in den Gurlittschen Familienbriefen genannt wurde, pflegten vor allem Mary und Wilhelm ihr Leben lang vertrauten Kontakt. In seiner Wiener Zeit war Wilhelm immerhin in der Lage, den Bruder Cornelius zu unterstützen,36 und der Vater dankte ihm für Bemühungen um den Verkauf seiner Bilder (32/08). Wilhelm sehnte sich jedoch „aus all den Geselligkeiten, Kinderfesten, Reisen, Theaterbesuchen und sonstigen Zerstreuungen hinaus nach einem geregelten wissenschaftlichen Leben“.37 Immerhin, „eine Lücke in meiner Kenntnis Italiens – Oberitalien bis Florenz – habe ich im Jahre 1872 auf einer dreimonatlichen Reise ausfüllen können“ (Vita, 7). Die angenehmsten, persönlichen Verhältnisse, gute Bezahlung und Freude am Unterricht talentvoller Kinder haben mich zu lange übersehen lassen, daß sich diese Stellung mit wissenschaftlicher Arbeit nicht verträgt. In der ganzen Zeit habe ich nur einen langen Aufsatz über das Theseion in Athen […] abgeschlossen. [Vita, 8] 38

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Justus Cobet

In Athen hatte er unter der Mithilfe des Architekten Ernst Ziller den gut erhaltenen dorischen Tempel oberhalb der antiken Agora, das sog. Theseion, studiert. Aus seinem Bericht darüber entstand innerhalb eines knappen Jahres die Habilitationsschrift. Entscheidend für den Habilitationsantrag an die Wiener Fakultät wurde der 1869 auf die neue Lehrkanzel für Klassische Archäologie berufene Alexander Conze (1831–1914), später Ausgräber von Pergamon und in Berlin Neuorganisator des Deutschen Archäologischen Instituts. Zu den ersten Spuren eines Kontaktes Anfang 1874 mit Ratschlägen „an den jungen Herrn Doktor“ gehört ein Brief Conzes mit dem Hinweis auf die offene Stelle eines Gymnasialprofessors für Lateinisch und Griechisch.39 Zu eben dieser Zeit hatte der Professor für Kunstgeschichte und Gründungsdirektor des Museums für Kunst und Industrie in Wien, Rudolf Eitelberger von Edelberg (1817–1885), Gurlitt zu dem autobiographischen Brief im Bewerbermodus veranlasst.40 Doch am 8. Februar schon forderte Conze ihn auf, einen kritischen Vortrag zu einem Aufsatz über das Theseion in Athen zu halten, den der wenige Jahre jüngere Habbo Gerhard Lolling (1848–1894) gerade veröffentlicht hatte;41 „der Gegenstand muß Ihnen ja gut liegen“.42 Gurlitt wurde jetzt zu den regelmäßigen „archäologischen Abenden“ in Conzes Haus eingeladen, wo „wir ins archaeologische Feuer kamen“43. Ende März 1874 waren Ernst Curtius und Friedrich Adler (1827–1908), „die Olympiawärts ziehen“, zu Gast44. Oft ging es in der Korrespondenz um ausgeliehene Bücher und Literaturempfehlungen. Am 22. Dezember 1875 schrieb Conze an Wilhelm: „Wollen Sie uns zum Weihnachtsabend besuchen, lieber Herr Doktor […]. Hauptpersonen sind natürlich die Kinder.“45 Die Einleitung seiner Habilitation unterschrieb Wilhelm mit „Wien im Januar 1875“. Conzes Gutachten datiert vom März, und im März wurde das Verfahren mit einem Probevortrag über ägyptische Papyri abgeschlossen. Gewidmet hat Wilhelm seine Schrift dem kurz zuvor verstorbenen Studienfreund Friedrich Matz (1843–1874), mit dem zusammen er zuletzt in seiner Athener Zeit Pläne geschmiedet hatte.46 Wilhelms Bruder Ludwig begann 1875 gerade sein Studium der Philologie in Göttingen. Ende 1878 wurde er zur Überlieferungsgeschichte von Ciceros Briefcorpus promoviert.47 Anders als Wilhelm legte er ein Jahr später auch die Lehramtsprüfung ab. 1880 bereiste er Griechenland, zusammen mit Wilhelm fuhr er durch die Peloponnes und besuchte die deutschen Ausgrabungen in Olympia.48 Doch seine Wanderjahre waren kürzer als die Wilhelms. Ende 1880 schon ging er nach Hamburg in den Schuldienst. Obwohl er ganz andere Wege suchte, blieb Ludwig auch ein Philologe. Immer wieder veröffentlichte er Untersuchungen zum Briefcorpus des Cicero.49 Später im Leben übersetzte er die Satiren des Petronius und sämtliche von Plautus überlieferte Komödien, Übersetzungen, die Plautus’ derbem Witz nicht ausweichen.50 Wie Wilhelm trug er 1884 zur Festschrift für Curtius bei mit einer weiteren Frucht seiner Griechenlandreise 1880.51 Trotz der kleinen Ausflüge zu den Monumenten blieb seine Sache die philologische Seite der Philologie. 94

Wilhelm Gurlitt

Die Habilitationsschrift Wilhelms, „Das Alter der Bildwerke und die Bauzeit des sogenannten Theseion in Athen“,52 des besterhaltenen Tempels im griechischen Mutterland, greift einen damals gerade viel diskutierten Gegenstand auf. Lolling hatte der für die meisten bereits überholten Zuweisung des Tempels zu dem attischen Heros Theseus  – Curtius und Wachsmuth hatten auch Herakles erwogen  – nach einer Notiz des Pausanias die olympischen Götter Hephaistos und Athena entgegengestellt, was schließlich zur communis opinio wurde. Gurlitt blieb in dieser Frage unentschieden, objektivierte aber mit Hilfe des Architekten Ziller Lollings Feststellung, der Osten bilde die Frontseite, der Tempel könne also kein Heroon sein, durch die Beobachtung, dass die Türöffnung im Westen, Merkmal für Heroa, erst von der im frühen Mittelalter in den Tempel eingebauten Kirche stamme. Sein Hauptaugenmerk galt aber der zeitlichen Einordnung des Bauwerks im Verhältnis zum Parthenon auf der Akropolis. Hier ist die Methode der Beweisführung interessant als ein Markstein im Prozess der sich im Netz der Altertumswissenschaft emanzipierenden Archäologie. Gurlitts Semester als Privatdozent in Wien verweisen aber zugleich auf die unklare Stellung der Archäologie zwischen Philologie, Realienkunde und Hilfswissenschaften. Er bot eine „Einleitung in die griechische Epigraphik für Historiker und Philologen“ an, Verfassungsgeschichte Athens, Exegese des ersten Buches (über Attika) des Pausanias und „ausgewählte Gemälde“ aus der Schrift Eikónes/Imagines des Philostratos.

Das Netz der Klassischen Altertumswissenschaft Gurlitts Grazer Lehrauftrag galt, wie einleitend zitiert, der „classischen Archäologie und den realen Fächern der Philologie“, das sind die altertumswissenschaftlichen Hilfswissenschaften, wie für ihn vor allem die Epigraphik, und das ganze Spektrum der Archäologie von den schönen Kunstwerken der Griechen bis zur Arbeit des Spatens im steirischen Boden. Sein Vorfahr Johann Gottfried Gurlitt (1754–1827) lehrte als Professor der morgenländischen Sprachen am Hamburger Gymnasium Johanneum noch im Horizont eines die geschichtlichen Räume des Alten Testaments einschließenden Altertums.53 Seitdem aber hatte sich die ‚Klassische‘ Altertumswissenschaft ohne die Völker des Alten Testaments aus diesem Horizont gelöst mit dem Programm einer umfassenden Kulturgeschichte der Griechen und Römer als der „Kenntnis der alterthümlichen Menschheit selbst“.54 Die Philologie war die Mutter aller Disziplinen der Altertumswissenschaft. „Aufgabe der Archäologie ist es“, so 1850 Eduard Gerhard (1795– 1867), Schüler von Boeckh,55 dem Schüler wiederum von Wolf (1759–1824), „nicht nur eine Auswahl von Kunstdenkmälern, sondern die Gesammtheit des monumentalen Stoffes, […] der Gesammtanschauung des antiken Lebens zu überliefern“.56 Otto Jahn dagegen engte zu derselben Zeit mit dem Blick auf Winckelmann die Archäologie auf diejenigen Überlieferungen 95

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des Altertums ein, „welche von dem Geist desselben Kunde geben, insoweit er sich in der bildenden Kunst offenbart“.57 Die Ausdifferenzierung in die Disziplinen Philologie, Geschichte, Archäologie und ihre Institutionalisierung durch Lehrstühle vollzog sich in Gurlitts Lehrer- und seiner eigenen Generation; die Grenzen zwischen ihnen blieben lange unscharf. Gurlitts „Doctoratsprüfung in Philologie und alter Geschichte“ nahmen die Philologen Karl Hoeck (1793–1877), der auch althistorische Themen lehrte, und Leutsch ab.58 Sein Lehrer Curtius, in Göttingen auf der Professur für „Klassische Philologie, Archäologie und Eloquenz“ und somit Vertreter der ‚realen‘ Seite der Philologie59 und als solcher nicht Mitglied des von Wieseler geleiteten Archäologischen Instituts,60 wurde 1868 von dort nach Berlin auf die Professur für Archäologie berufen und als Leiter des Alten Museums eingesetzt. Seine „Griechische Kunstgeschichte“ las Curtius, meist vierstündig, von 1857 bis 1896 37 mal, häufiger als jedes andere Thema;61 Gurlitt hörte sie zu Beginn seiner Göttinger Zeit im Wintersemester 1864/65. In der Tradition Winckelmanns kulminierte Curtius’ Geschichte der griechischen Kunst im Athen des Perikles und Phidias, „Mittelpunkt des hellen[ischen] Bewußtseins“.62 Diese Periodisierung ist der literarischen Überlieferung geschuldet. Curtius’ Vorlesung ist das späte Beispiel einer philologisch determinierten Kunstgeschichte. Seine Methode ist nicht die Formanalyse des Materials, die Monumente erfahren keine stilistische Beurteilung, es entsteht keine Vorstellung eines Epochenstils.63 Seine Habilitationsschrift über das Athener Theseion verband Gurlitt mit dem Anspruch, Fragen zu stellen, die von „einschneidender Bedeutung für unsere Vorstellungen von der griechischen Kunst auf ihrem Höhepunkte“ seien (Habilschrift S.  1). Sein Hauptbeweisgang gilt den stilistischen Eigentümlichkeiten der Bildwerke des Tempels im Vergleich zu denen des Parthenon. Curtius’ Beweisführung hatte sich dagegen vor allem antiquarischer Argumente bedient wie der Wahl des Materials, den Steinmetzzeichen und der Ikonographie. Gurlitt bestimmte, anders als Curtius, die Bildwerke des Theseion als das Werk von Schülern des Phidias.64 Dabei suchte sein „vergleichendes Kunsturteil“ (S. 3) Worte für die Formen: der weichere Fluss der Linien im Körper des Hingestreckten, während dem Jüngling in der Metope eine gewisse Gezwungenheit anhaftet, die ergreifende Hilflosigkeit des Unterliegenden, das reiche, noch nicht ganz frei, aber ohne archaische Zierlichkeit oder Aengstlichkeit gebildete Gewand weisen der Gruppe des Frieses ihre Entstehungszeit nach der Metope des Parthenon an. (S. 12)

Als „Nicht-Architekt“ (S. 58) weniger sicher führt ihn der Vergleich der Proportionen des Baus und der Kurvaturen der Bauglieder zu dem Urteil, in einigen Einzelelementen sei das Theseion weiter fortgeschritten als der Parthenon.65 Interessant ist, dass dem Epochenstil für ihn eine Ungleichzeitigkeit der Kunstgattungen eignet. „Der ausführende Künstler ist [schon] ganz Herr 96

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seiner Mittel, die er aber mit der ganzen Frische einer [noch] aufwärtsgehenden Kunstepoche behandelt.“ Anders als die noch aufwärtsstrebende Plastik sei die Architektur schon an das Ende ihrer Mittel gelangt; in den Kurvaturen des Tempels erscheine der Ausdruck des tektonischen Gedankens schon raffiniert. „Ein sehr wählerisches und dogmatisches Auge (konnte) hier schon den Anfang des Verfalls sehen“ (S. 55f.). Gurlitts ‚Habilitationsvater‘ Alexander Conze, 1855 von Gerhard in Berlin promoviert und 1861 bei Wieseler in Göttingen, wie Otto Benndorf 1868 und Friedrich Matz 1870, für „das Fach der Philologie, speziell der Archäologie“ habilitiert,66 hatte 1869 zum Antritt seiner, der ersten archäologischen Professur in Wien „Ueber die Bedeutung der classischen Archaeologie“ gesprochen, über seine „Auffassung des ganzen Faches“.67 Das tue not schon wegen des ganz sinnlos gewordenen Namens; in der Sache schiene es, als handle es sich beim Archaeologen von einer Seite gesehen nur um eine besonders verkehrte und geschmacklose Behandlung der Kunst oder von der andern Seite her betrachtet um ein absonderlich willkürliches, einseitiges und oft genug stark dilettantisch gefärbtes philologisches Treiben. (4)68

Er geht aus von Boeckhs Begriff der Philologie als dem großen Ganzen der Geisteswissenschaften, welche als ihre letzten Ziele die gesammten Geistesäußerungen der Völker [im speziellen Fall] des classischen Alterthums verstehen, um einen auf Fr. A. Wolffs großartiger Anschauung beruhenden Ausdruck mir anzueignen, den Organismus des classischen Alterthums zur Anschauung bringen will. (5)

Spezifischer Gegenstand der klassischen Archäologie sind dabei „alle in räumliche Form hineingeschaffenen Menschengedanken“. Das meint nicht nur die schöne Kunst, sondern auch jegliche Handwerksarbeit, insofern beiden das Streben nach Vollendung eigne,69 eine denkbar weite Formel, die den Brückenschlag sucht zwischen den Monumenten der Kunst und der Unendlichkeit der Bodenfunde und materiellen Zeugnisse. Probleme macht Conze folglich die Unschärfe der Abgrenzungen gegen „die anderen Fächer der classischen Philologie“, die solchem Sprachgebrauch wie ‚Denkmäler‘ oder ‚monumentale Philologie‘ geschuldet seien (7). Wie unzutreffend schließlich der Ausdruck der „realen Fächer der Philologie“ sei, gehe schon daraus hervor, dass gerade die freilich auch besonders schwierige, zuerst von Winckelmann mit durchgreifendem Erfolge angefasste, edelste und eigentliche Endaufgabe der Archaeologie,

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die Darstellung der Geschichte der künstlerischen Stile, eine im eminentesten Sinn im Bereiche des Formalen liegende ist. Das ist die Blüte unserer Forschung. (10)

Die Klassische Archäologie als die Wissenschaft von der klassischen Kunst bedürfe zwar weiter der „beständigen Stütze“ der Philologie, doch stelle sie mit der Formanalyse dem „starken classisch-philologischen Element“ ihren „kunstwissenschaftlichen Charakter“ entgegen (13). Der Praxis kaum gewachsen ist die in seiner Argumentation konsequente Abwehr des ‚Unklaren‘, das die Befassung der Archäologen mit den von ihnen zu Tage geförderten Gegenständen mit sich bringt. So seien die Denkmäler der Epigraphik Gegenstand Klassischer Archäologie nur dann, wenn sie als räumliche Zeichen gelesen oder die Buchstaben als Zeugnis eines vollendeten Formgefühls verstanden werden (7–9). Münzen gehörten als kleine Kunstwerke „dem Begriffe nach“ zur Archäologie, freilich habe sich die Numismatik von ihr emanzipiert (9). Die Mythologie sei Teil der Religionsgeschichte, die Topographie hingegen zu Recht eine Unterabteilung der Archäologie; „alle Umgestaltung, die der Mensch mit der von ihm bewohnten Oertlichkeit vornimmt, muss als Kunst, wie wir das Wort bestimmten, gelten“ (10). Mit Otto Hirschfeld (1843–1922), seit 1876 in Wien auf der Professur für „Alte Geschichte, Altertumskunde und Epigraphik“,70 richtete Conze das „Archäologisch-epigraphische Seminar ein“, um die Studenten „die reine Freude des Selbstfindens der Wahrheit kosten zu lassen“.71 Ab 1877 erschienen die Archäologisch-Epigraphischen Mittheilungen aus Oesterreich, in deren ersten fünf Jahrgängen Gurlitt griechische Inschriften in Triest, Antiken in Wiener Privatbesitz und Inschriften auf Bleiplättchen aus Dodona publizierte.72 Als Conze im Sommer 1877 Leiter der Berliner Skulpturensammlung wurde, überraschten ihn Kollegen und Schüler mit einer Medaille des k. k. Hofmedailleurs Josef Tautenhayn „zum freundschaftlichen Andenken“ an seine Zeit in Wien.73 An Hirschfeld schrieb er: „Beinahe am meisten hat mich gefreut, daß auch Studenten der Phil[olo]g[ie] mitgethan haben, die gar nicht Archaeologie getrieben haben, bei einigen muß also doch eine Einsicht in den Zusammenhang der Dinge vorhanden sein u. an dem lag mir immer besonders hier.“74 Gurlitt, der kurz zuvor den Ruf nach Graz erhielt, hatte die Medaille als Sprecher der Gruppe am 27.Juli überreicht. Conze dankte ihm am folgenden Tag mit der Anrede „lieber Herr Kollege“.75

Aufbau der Archäologischen Lehrkanzel in Graz Gurlitts außerordentliche Professur war zunächst unbesoldet, für seine Lehrtätigkeit bekam er ein Honorar von 1200 Gulden.76 Erst nachdem die Stelle 1881/82 auf Antrag der Klassischen Philologen etatisiert wurde, gründete er eine Familie. Am 2. Januar 1885 heiratete er Mary Labatt, die einst im Hause des Grafen Salm in Wien seine Schülerin gewesen war. Dort im Schloß des 98

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Fürsten in der Liechtensteingasse wurde die Hochzeit in großem Stil gefeiert.77 1889 wurde (Bri) Gitta, 1891 (Lud)Wiga, 1894 (Wil)Helm(in)a geboren. Früher habe Wilhelm manchmal dem Schicksal gegrollt, weil es ihm einen Sohn versagt habe – so als Beobachter der pädagogische Reformer Ludwig Gurlitt –, aber „sein ganzes Glück waren seine drei munteren Töchterchen, die er  – ein Erzieher von tiefster Einsicht  – ganz nach seinen freiheitlichen Grundsätzen im ungetrübtesten jugendlichen Frohsinn aufwachsen ließ“.78 Doch sein Arbeitssinn hielt ihn auch während der Sommerfrische der Familie in der Nähe von Graz während der Vormittage in der Stadtwohnung am Schreibtisch.79

Wilhelm und Mary Gurlitt mit (von links) Wiga (*1891), Gitta (*1889), Helma (*1894), wahrscheinlich Sommer 1903 (Vorlage Elizabeth Baars) Im Oktober 1877 gratulierte Otto Benndorf Gurlitt zu dem Ruf nach Graz: „Ich wünsche mir und hoffe sehr daß Sie auch in Ihrem neuen Wirkungskreise Lust und Stimmung finden das glücklich Begonnene an Ihrem Theile weiter zu fördern.“ Gurlitt revanchierte sich postwendend mit der Gratulation an Benndorf, der gerade von Prag nach Wien berufen worden war. Der seit dieser Zeit dichte Briefverkehr zwischen beiden spiegelt Berufliches wie Privates.80 Dabei befand sich Benndorf mit seiner Nähe zu den Wiener Ministerien und als wissenschaftlicher Organisator in der stärkeren Rolle gegenüber dem Kollegen in der Provinz. Doch auch Gurlitt war ein hartnäckiger und geschickter Kämpfer in Fakultät, Universität und Stadt;81 er vermochte – in enger 99

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Abstimmung mit Benndorf, wenn auch in der Sache nicht immer mit ihm einig – die mühseligen Wege zur Verbesserung seiner Arbeitsbedingungen und der Fortentwicklung seines Feldes oft zu einem guten Ende zu führen. Benndorf hatte Gurlitts Berufung befördert, während die Fakultät in Graz zunächst für den Althistoriker Heinrich Nissen (1839–1912) votiert hatte.82 Gegenüber Benndorf klagte Gurlitt, dass „ich hier in einer geradezu fabelhaften, archäologischen Einsamkeit lebe, weil hier auch gar Niemand ist, mit dem man einmal ein wissenschaftliches Thema besprechen könnte“.83 Zum Aufbau der Bibliothek gab ihm Benndorf auf sein Klagen ganz praktische Ratschläge und sandte ihm die Abteilung ‚Archäologie‘ des Auktionskatalogs der Bibliothek Otto Jahns (†1869).84 Gurlitt wurde 1883 Konservator an der Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Kunst- und historischen Denkmale für die Steiermark. Die Besetzung Bosniens und der Herzegowina 1878 durch Österreich-Ungarn hatte er „vom archäologischen Standpunct aus“ mit Freuden begrüßt: So werden beide Provinzen „der geographischen und archäologischen Forschung erschlossen, deren sie noch sehr bedürftig sind“.85 1887 wurde er Kurator am steirischen Landesmuseum Joanneum für die prähistorische und Antikensammlung, deren Aufstellung im 1895 fertig gestellten Neubau er verantwortete.86 Einen Ruf nach Prag schlug er 1885 aus, „1) weil es Prag ist u. 2) weil ich hier in allerlei Unternehmungen beschäftigt bin, welche ich nicht im Stich lassen möchte“.87 Gegen die Aussicht auf einen Ruf nach Innsbruck verwahrte er sich Anfang 1890 gegenüber Benndorf: „Endlich, nachdem ich Jahre lang das Elend ungenügender und hässlicher Räume mit Geduld ertragen habe, eröffnet sich die Aussicht auf eine gründliche Verbesserung der Verhältnisse.“ Das betraf sowohl die Aufstellung der archäologischen Sammlung der Universität als auch den Neubau des Landesmuseums: Und gerade jetzt sollte ich von hier scheiden müssen, von der größeren Universität an die kleinere […]. Ich gestehe, daß mir der Gedanke, daß ich eines Morgens als Professor in Innsbruck aufwachen sollte, geradezu quälend ist und daß ich in der Ernennung nach Innsbruck nur eine Versetzung, nicht eine Beförderung erblicken könnte.88

Sein erster Listenplatz in Innsbruck vom Juni 1890 verhalf schließlich seiner Beförderung in Graz, die, wiederum auf Vorschlag der Klassischen Philologen, von der Fakultät im Oktober 1889 beantragt worden war, zum Erfolg.89 Im Jahr der Verteilungskämpfe um die guten Plätze beim Einzug in das neue Universitätsgebäude 1894/95 war Gurlitt Dekan, „ein endloses Hinund Herberathen, eine nicht enden wollende Correspondenz!“ Die von Gurlitt bereits vorgefundene Sammlung baute er weiter aus; sie enthielt sowohl Originale als auch Gipse wie den Hermes des Praxiteles, die Nike des Paionios oder die Tyrannenmörder. Im archäologischen Cabinet des Neubaus fand sie eine Aufstellung, die nicht nur damals alle Wünsche Gurlitts befriedigte, sondern offenbar bis heute überzeugt.90 100

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Seit 1894 führt die archäologische Sammlung in Graz mit Bewilligung des Ministeriums den Titel „Archäologisches Institut“,91 dessen Vorstand Gurlitt wurde. Die Einrichtung eines „Archäologischen Seminars“, verbunden mit der Vergütung des Leiters, wurde ihm zu Anfang seiner Grazer Zeit verwehrt.92 „Ein archäologisch-epigraphisches Seminar mit Pichler war ein Ding der Unmöglichkeit“, wie er Benndorf gegenüber 1894 formulierte, ohne dass eine Erklärung nötig schien.93 Möglich wurde das Seminar schließlich, weil Benndorf seit 1893 die Errichtung einer Professur für „Römische Altertumskunde und lateinische Epigraphik“ betrieb.94 Zum Sommer 1896 wurde Wilhelm Kubitschek (1858–1936)95 ernannt, der jedoch bereits im April 1897 als Kustos an das Hofmuseum in Wien wechselte. Als Gurlitt das kommen sah, sprach er von einem harten Schlag „für mich insbesondere, der ich nach jahrelanger Vereinsamung endlich einen Collegen neben mir habe, mit dem zusammen zu arbeiten der Wissenschaft und dem Unterricht förderlich und mir eine wahre Freude ist“.96 Kubitscheks Stelle besetzte 1898 Otto Cuntz (1865–1932),97 und 1900 gelang endlich die Gründung eines „Archäologischepigraphischen Seminars“.98 Die „archäologischen Übungen“, die Gurlitt von Anfang an jedes Semester anbot, wurden jetzt erstmals angekündigt als „Archäologisch-epigraphisches Seminar: Stilistische Übungen“. „Gestern habe ich“, schrieb er zu Beginn des Wintersemesters 1877, „meine Vorlesungen vor etwa 30 Zuhörern mit einer Einleitung über Begriff und Umfang der Archäologie u. die Weise, wie ich sie zu betreiben gedenke, glücklich begonnen.“99 Das Rückgrat von Gurlitts Lehrangebot100 bildete die Kunstarchäologie. „Griechische Bau- und Bildkunst“ I und II las er in seinen beiden ersten Semestern in Graz vierstündig, Teil II mit dem Untertitel „Hellenische und römische Kunst“. Achtmal wiederholte er diese Folge, nicht immer vollständig, seit 1883/84 oft über drei Semester, so zuletzt von 1903/04 bis 1904/05, Teil I gelegentlich mit dem Untertitel „Von den Anfängen bis zur Zeit Alexander des Großen“ (1881/82), Teil II „Bau- und Bildkunst der hellenistischen Zeit“ (1899),101 Teil III „Die griechische Kunst in Rom“ (1884/5) oder „Die Renaissance der griechischen Kunst in Rom“ (1899/1900). In den Semestern dazwischen finden wir dreistündige Vorlesungen über die „Geschichte der Architektur im Alterthum“ (1895/96), „Geschichte der griechischen Vasenmalerei“ (sechsmal zwischen 1878/79 und 1897/98), „Die Anfänge der Kunst“ (1900), einmal auch „Die Kunst der Etrusker“ (1898), weiter die „Encyklopädie der Philologie mit besonderer Berücksichtigung der Archäologie“ (1879/80), eine „Einleitung in das Studium der classischen Archaeologie“ (viermal zwischen 1880 und 1889), die „Geschichte der Archäologie“ (1899/1900). Ein- oder zweistündig behandelte Gurlitt „Die Akropolis von Athen“ (1878; 1892/93) und „Pheidias und seine Schule“ (1895), „Die Gemälde des Philostratos“ (dreimal zwischen 1879 und 1904) und „Die Quellen der griechischen Kunstgeschichte“ (1891/92), 1879/80 auch „Lessings Laokoon“. 1887 kündigte Gurlitt einstündig „Die Ausgrabungen Schliemanns in Hissarlik, Mykenai, Tiryns“102 an, später dann zweistündig „Homer und die mykenische Kunst“ (1898/99). Ludwig 101

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Gurlitt spricht darüber hinaus von einer Vorlesung zur Geschichte des Urmenschen in Europa 1888.103 Ein- bis zweistündig las Gurlitt seit 1887/88 dreimal über die Steiermark zur Zeit der Römerherrschaft, sechsmal zwischen 1877/8 und 1898/9 zwei- bis dreistündig über die Topographie Athens und Attikas, einmal dreistündig über „Pompeji“ (1881), einstündig über Pergamon (1900/01). Das Thema Olympia (1880), „das Fest und seine Stätte“ (1904/05), „nach der Beschreibung des Pausanias“ (viermal zwischen 1880/81 und 1892), mit archäologischen Exkursen (1880/81) und den Ergebnissen der Ausgrabung (1885/86) steht vor allem im Zusammenhang mit seiner Monographie über Pausanias von 1890. Von Conzes Hilfswissenschaften behandelte Gurlitt griechische Mythologie bzw. „Kunstmythologie“ dreimal dreistündig, zweimal als Zyklus über zwei (1894/1895) bzw. drei Semester (1884/5 bis 1885/86). Einmal bot er zweistündig griechische Bühnenaltertümer an (1898). Regelmäßig traktierte er griechische Epigraphik, siebenmal meist dreistündig zwischen 1878/79 und 1903/04, „mit besonderer Rücksicht auf die Entwicklung des griechischen Alphabets“ (1882/83), „verbunden mit praktischen Übungen im Lesen der Inschriften nach Abklatschen und Facsimiles“ (1886/87). Jedes Semester veranstaltete er „Archäologische Übungen“ in ein oder zwei Abteilungen, als „Besprechung der stilistisch wichtigen Gypsabgüsse in der Universitätssammlung“ (z. B. 1880), „Besprechung neuerer Erscheinungen aus der archäologischen Literatur“ (z.  B. 1887), „Erklärung von Bildwerken im archaeologischen Hörsaale“ (1880).104 Zu diesen Zwecken bezog er die „Wiener Vorlegeblätter für archäologische Übungen“.105 Erstaunlicherweise las Gurlitt auch einmal eine „Einleitung in das Studium der classischen Philologie“ (1882/83). Und er bot „Die Staatsverfassung der Athener nach Aristoteles“ (1891), „Erklärung der Mimiamben des Herondas“ (1893), „Theophrasts Charaktere“ (1899), dreimal gar die „Geschichte des Romans bei den Griechen“ (1889, 1896, 1902/3). Gurlitts Hörer waren, anders als seine Schülerinnen im Hause Salm, männlich. Das Grazer Tagblatt veröffentlichte am 8. und 9. Dezember 1899 einen Vortrag „Ueber Frauenstudium“, den er „zu Gunsten des Vereines für Wohlthätigkeit und Armenpflege“ gehalten hatte. Gerne wolle er auch Frauen in seiner Wissenschaft zu gelehrter Tätigkeit anleiten, sie „in den stillen Frieden des trauten Studierzimmers führen“. Als den Männern gleich schätze er „den Durchschnitt der Frauenbegabung“. Aber streng galt die Trennung der Geschlechter für jeglichen höheren Unterricht. In seltenen Fällen durfte seit 1878 nach Einzelfallprüfung eine „Hospitantin“ zugelassen werden. Doch sah Gurlitt 1899, dass inwischen „eine fröhliche und zuversichtliche Schar von Frauen und Mädchen […] unsere Corridore und Collegiensäle erfüllt.“106 Aus den „armen Hospitantinnen“ konnten immatrikulierte Studentinnen werden, die nach vier Jahren auch zur Doktorprüfung zugelassen würden, wenn sie als österreichische Staatsangehörige eine externe Reifeprüfung abgelegt hatten. Gurlitt sprach über die Freiheit von Forschung und Lehre und „Wissenschaft um ihrer selbst willen“. Vom Studium als Fachausbildung unterschied er die methodische Anleitung zu selbsttätiger wissenschaftlicher Arbeit, 102

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wer sich ihr widmet, muß […] seine ganze Muße an sie hingeben, […] nicht daneben etwa Musik oder Malerei betreiben, der modernen schönen Literatur folgen, den zeitraubenden Verpflichtungen der Gesellschaft genügen und alle die großen und kleinen Pflichten, die die Familie, der Hausstand an die Frauen stellen, erfüllen.

Nur wenn „die Frauenwelt in diesem Sinne ihr Verhältnis zur Universität […] auffasst“, entwickle sich die Sache „zum Segen mannigfacher Frauenbildung und gesteigerter Erwerbsfähigkeit der Frauen“. Am Ende dreht Gurlitt das Argument zurück zur traditionellen Frauenrolle. Dazu setzt er rhetorisch die Kritik an einer zunehmenden Spezialisierung der Wissenschaften ein, die nicht mehr „den Besitz der wahren Bildung des Geistes und des Herzens“ verbürge. Die wahre Bildung zu pflegen sei vielmehr „der schöne Beruf der Frauen“, Dichtung, Musik, „den wunderbaren Aufschwung der Künste in unseren Tagen verstehen und genießen – lehren Sie uns, unsere Familie, unser Vaterland, unser Volk inniger und heißer zu lieben“. „Du weißt“, schrieb Wilhelm Gurlitt 1890 dem Bruder Cornelius, damals noch nicht Professor, „dass ich gar nichts dagegen habe, wenn der Professorenstand in die Pfanne gehauen wird.“ Aber nicht jeder von uns geht in der Spezialität auf, welche er gerade betreibt, und wenn wir uns in unseren Arbeiten bemühen, auch im Kleinen getreu zu sein, so ist damit noch nicht bewiesen, dass wir nicht das Ganze zu schätzen und Kleines vom Großen zu unterscheiden wissen. [56/03]

Zu Nietzsches Bildungsphilistern gehörte Professor Gurlitt nicht.107 Das zuverlässig recherchierte Detail sichert die Glaubwürdigkeit des größeren Fragehorizontes. Der ihm befreundete Germanist Bernhard Seuffert sprach als Dekan im Februar 1905 den Nachruf: Er las mit der Feder in der Hand, machte umständliche Auszüge und immer so, daß er dabei aus dem eigenen Wissen, aus seinem Urteil ergänzte und besserte […]. Viele hätten aus diesen Exkursen Dutzende von Büchern zusammengestellt. […] Er meinte, das Lebende nur in lebendiger Wechselwirkung zwischen Sprecher und Hörer ausdrücken zu können. Auch suchte sein Geist […] gerne die letzten Probleme. […] Er war ein Feind jeder Beschränkung, er war ein Feind des Isolierten, weil es unbegriffen bleibt.108

Gegenüber Benndorf bekannte Gurlitt: „Ich schreibe ungeheuer schwer und bin oft wie gelähmt, wenn ich das, was mir klar vor der Seele steht und was ich im mündlichen Verkehr leicht und deutlich zum Ausdrucke bringen kann, niederschreiben soll.“109 Während Cornelius Gurlitt wie auch Ludwig zahllose Bücher erfolgreich für ein breiteres Publikum veröffentlichten, scheute sich Wilhelm, den Auftrag zu einem populären Buch anzunehmen.110 103

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Sein großes Werk über Pausanias’ Beschreibung Griechenlands111 widmete Gurlitt seinem Vater zum 77. Geburtstag, „dem Meister in der Darstellung Griechischer Landschaft“. Er erweist sich hier als der philologisch arbeitende Archäologe, der den Zeugniswert des Textes mit dem neuerdings besser bekannten Denkmälerbestand und der besser erkundeten Topographie von Piräus, Athen und Olympia abgleicht. Er griff damit in eine 1877 von Ulrich von WilamowitzMoellendorff, dem ‚Fürsten der Philologen‘, angestoßene, hoch polemische Diskussion ein; ohne eigenen Plan und ohne Autopsie habe Pausanias sein Werk aus sehr viel älteren Autoren kompiliert, war die herrschende Meinung.112 Die Achtung für Pausanias war allerdings bei den Archäologen gestiegen „in dem Maße, in dem sich in Griechenland die Ausgrabungsstätten mehrten. Im Felde der griechischen Literatur dagegen war der Meinungsumschwung im Wesentlichen das Ergebnis der überaus gründlichen und ausführlichen Untersuchung von W. Gurlitt“ – „nichts als eine Widerlegung von Wilamowitz’ Ansichten“.113 Dieser äußerte sich über Gurlitts Pausanias, die Polemik zu einer Einzelfrage abschließend: „Übrigens will ich nicht gegen Gurlitt etwas sagen, ohne sein Buch als ein erfreuliches und nützliches anzuerkennen.“114 Doch blieb Wilamowitz sein Leben lang bei der Geringschätzung des Pausanias als verlässlicher Quelle.115 Mit seinen Ausgrabungen in Troia hatte Heinrich Schliemann seit 1870 große öffentliche Aufmerksamkeit für die Arbeit von „Spitzhaue und Spaten“ erregt; seine Entdeckungen schienen das Fenster in eine von den Sagen gespiegelte Frühzeit der Griechen zu öffnen. Doch seit Beginn der deutschen Olympia-Grabungen 1875 sah sich Schliemann im Schatten der Aufmerksamkeit. Gurlitt besprach ausführlich Die Ausgrabungen in Olympia in Lützows „Zeitschrift für Bildende Kunst“ 1877, 116 in deren Chronik desselben Jahres unter „Kunstgeschichtliches“ noch fünfmal Olympia behandelt wurde.117 Informationen und Abbildungen erhielt Gurlitt direkt von den Ausgräbern. Sein Bericht hebt grundsätzlich an. Das wachsende Interesse an den Kunstwerken und Monumenten des Alterthums hat allerwärts in großen staatlichen Unternehmungen Ausdruck gefunden, welche den klassischen Boden, besonders Griechenlands und Kleinasiens, nach den Zeugen der einstigen Herrlichkeit und Kunstblüthe untersuchen. Früher waren es nur vereinzelte Kunstwerke und Monumente […], oft zeitlos, da es nur in seltenen Fällen möglich war, sie sicher an die literarische Ueberlieferung anzuknüpfen […], und es gehörte die ganze Genialität eines Winckelmann dazu, um aus diesen losen Bausteinen das Gebäude seiner Kunstgeschichte zusammenzufügen.

Eine neue Epoche „gab dem Abendlande Kunde“, seit James Stuart in Athen war [1751–1753]118 und Lord Elgin die Parthenonskulpturen nach London gebracht hatte [zwischen 1807 und 1811]119 – nun also Olympia. Von da komme das Material, das der Archäologie den Rang einer Wissenschaft verleiht, die neben den Naturwissenschaften zu bestehen vermag und wie diese die Unterstützung des Staates verdiene. 104

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Es muß daher gerechte Verwunderung erregen, wenn die Archäologie […] auch von solchen, welche sich gebildet nennen, Tag für Tag gleichsam von Neuem gezwungen wird sich zu rechtfertigen, wenn einige Wochen, in denen kein Bericht von einem „sensationellen“ Funde durch die Zeitungen geht, Zweifel an der Berechtigung eines solchen archäologischen Unternehmens auftauchen lassen.

Vor allem in Olympia gelte es, eine Anschauung zu gewinnen von dem berühmtesten und besuchtesten Festorte Griechenlands, […] von der Gesamtanlage […]. Wenn irgendwo in Hellas, so können wir hier über diese wichtigste Seite des hellenischen Lebens neuen Aufschluß zu erhalten erwarten. (198)

Gurlitts Bericht konzentriert sich auf den bis dahin mit seinen Skulpturen freigelegten Zeustempel und den Fund der freistehenden Nike des Paionios. Bis in Einzelheiten konnte das Buch des Pausanias die Bestimmung der Funde anleiten. Gurlitt unterscheidet in dem Stil der Skulpturen „die Reste von Archaismus“, „eine treuherzige, einfache Darstellung“ durch die Künstler der Landschaft um Olympia, Elis, von der Hand des Meisters aus Athen, Phidias, und seiner Schüler (294ff.). In den Figuren des Ostgiebels erkennt er dann die gemeinsame Arbeit zweier Kunstschulen, „das Resultat der ersten Einwirkung der überlegenen, attischen Kunst auf die tüchtige, fleißige, aber noch alterthümlich befangene Kunstschule in Elis“ (302). Den mit Ausbruch des Peloponnesischen Kriegs 431 v.  Chr. gerade noch vollendeten Tempel nennt er „das letzte, gemeinsame Werk des Griechenvolks, welches von nun an in unversöhnliche Parteien zerfiel und seine Kraft in Bruderkämpfen rasch aufrieb“ (201). Die Epoche ‚Peloponnesischer Krieg‘, genauer noch die Pest in Athen in dessen Anfangsjahren und der Tod des Perikles als großer Einschnitt, bezeugt die seit Winckelmann ‚philologisch‘, d.  h. von der literarischen Überlieferung angeleitete Periodisierung der klassischen Kunstgeschichte und die damit verbundene Privilegierung Athens.120 In Ernst Curtius’ Vorlesung „Griechische Kunstgeschichte“ hatte Gurlitt mitgeschrieben: Die Kunst ist unzertrennbar verbunden mit der ganzen Haltung des öffentl[ichen] Lebens. Eine epochenmachende Begebenheit war die Pest zu Athen. Denn sie knickte nicht nur die Blüthe Athens, sondern sie raffte die ältere Generation hinweg, u[nd] vereitelte einen allmäl[ichen] Übergang. […] Die Bürgersch[aft] durch fremde Elemente versetzt u[nd] nach den Verheerungen durch [den] Pelopon[nesischen] Krieg wuchs eine andere Race auf, ein[e Menge auf dem Markt]. 121

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In der Kunst-Chronik desselben Bandes von Lützows Zeitschrift erschien „von sachkundiger Hand“, übernommen aus der Kölnischen Zeitung, eine Diskussion der im Dezember 1876 gefundenen „Goldsachen aus Mykenä“; große Zweifel werden geltend gemacht, ob sie von ‚homerischen Zeiten‘ zu zeugen vermögen. Kurz darauf druckte die Chronik eine Erwiderung Schliemanns (465–467); die Entdeckung der Bronzezeit der Ägäis verbindet er mit dem Anspruch, dass seine Ausgrabungen ein „großes historisches Problem gelöst“ haben.122 Gurlitt kam Anfang März 1880 „im Auftrag der k.k. Regierung nach Griechenland, um die Ergebnisse der Ausgrabungen in Olympia zu studieren“.123 Er reiste mit Benndorf und anderen, „denn es erscheint mir auch erwünscht“, wie er diesem schrieb, „daß die oesterreichische Archäologie – sit venia verbo – einmal möglichst vollzählig auftritt u[nd] so Gott will, auch etwas Gemeinsames vom olympischen Siegesfeld zurückbringt“.124 Über Paionios und den Ostgiebel des Zeustempels in Olympia schrieb er 1884 in der Festschrift für seinen Göttinger Lehrer Ernst Curtius, „dem wir die Wiederauffindung dieser Sculpturen von Allem […] verdanken“.125 Er korrigierte sich gegenüber 1877 und rückte den Paionios nun von der Phidias-Schule ab. Dabei ging er, so das Urteil Wredes, „wegen des unbedingten Vertrauens auf Pausanias in die Irre.“126 Schon dem jungen Gurlitt boten „die nüchternen Römer“, wie der Cicero-Forscher Ludwig über den Bruder schrieb, „seiner feinsinnigen Natur viel weniger als die Griechen, denen er mit ganzer Seele, mit allen Sinnen ergeben war“.127 Die verschiedenen Funktionen Gurlitts an der Universität, dem Landesmuseum und in der Denkmalpflege allerdings hatten „zur Folge, dass er an vielen Ausgrabungen in irgendeiner Weise mitwirkte, oft als Organisator, seine Rolle als tatsächlicher Grabungsleiter ist jedoch relativ schwer fassbar.“128 Seit er in Graz 1883 zum Konservator für die Kunst- und historischen Denkmale der Steiermark ernannt wurde, war er verpflichtet zu landesarchäologischen Berichten wie über das Urnenfeld von Borstendorf oder römische Inschriften.129 Im Nachruf sprach der Dekan von Gurlitts Unlust, „sich dauernd auf ein engeres Gebiet zu konzentrieren; fast nur gegenüber dem Aufdecken der Römerspuren in [der] Steiermark hat er sie überwunden“.130 Über die Steiermark zur Zeit der Römerherrschaft las er erstmals 1887/88. Als Kurator des steirischen Landesmuseums Joanneum seit 1887 hielt er 1891 die Festrede zu dessen 80-jährigem Bestehen.131 Ein Neubau des „culturhistorischen und Kunstgewerbe-Museums“ war seit 1889 auf dem Weg. Er selbst war verantwortlich für die prähistorische Sammlung und das „Antikencabinet“. Dieses vereinigte alle Gegenstände, „denen das weltbeherrschende Volk der Römer seinen unverkennbaren Stempel aufgeprägt hat“.132 Besondere Aufmerksamkeit verdienten die Regionen um Flavia Solva bei Leibnitz, wo der Kollege Friedrich Pichler grub, und die Colonia Ulpia Traiana Poetovio, Pettau, heute Ptuj, an einer Draufurt, Legionslager unter Augustus und als Stadt zeitweise Sitz des Verwalters der Provinz Pannonia superior. Gurlitt grub dort immer wieder bzw. ließ graben zwischen 1890 und 1901.133 „Dass Sie sich ein eigenes Pompeji schaffen wollen und im Zuge sind es zu schaffen ist sehr schön“, schrieb ihm Benndorf Ende 1895.134 Sein Bruder Cornelius, der um die eigenen 106

Wilhelm Gurlitt

Arbeiten zu werben wohl verstand, sorgte sich dagegen um den Bruder: „Warum liest man nichts über Pettau? Fängst Du nicht endlich an, Dir selbst ein bisschen Ruhm zu machen?“135 Am meisten beachtet wurde der Fund zweier Mithras-Heiligtümer 1898 und 1901. Der „Zweigverein Marburg [Maribor] an der Drau des allgemeinen deutschen Sprachvereins“ lud im Rahmen der „vom steiermärkischen Volksbildungs-Verein angeregten, in Wien, Graz, Leoben und anderen Städten mit dem größten Beifalle aufgenommenen volksthümlichen Vorträge von Hochschul-Professoren“ für einen Sonntag Ende Februar 1899 zum Vortrag von Gurlitt Ueber den Mithras-Tempel in Pettau, Karten zu 20 kr, für Arbeiter und Studenten zu 10 kr.136 Ausführlich berichteten am 1. März das Grazer Tagblatt und am 2. März die Marburger Zeitung. Die Ausführungen „schlossen mit der Hinweisung, dass sich der […] Dienst des Mythras gegenüber der christlichen Religion, welche sich infolge ihrer Reinheit und ihres edlen Inhaltes […] immer mehr ausbreitete, nicht halten konnte, sondern zugrunde gehen musste“ (2. März). Einleitend hatte Gurlitt bemerkt, „dass der Zweck der volksthümlichen Vorträge der sei, einen Theil der auf den Hochschulen geleisteten Arbeiten und der daraus gewonnenen Erkenntnisse auch in der größeren Masse der Bevölkerung zu verbreiten und dadurch zur Aufklärung und Volksbildung beizutragen“ (1. März).137 „Dem Vortrage wohnten mehr als 180 dankbare, aufmerksame Zuhörer, wovon mehr als die Hälfte Arbeiter waren, bei“; sie haben durch ihre „gespannte Aufmerksamkeit ein ehrendes Zeugnis dafür ausgestellt, dass sie jede Gelegenheit, ihre Bildung zu vermehren, ergreifen“ (2. März).138

Wilhelm Gurlitt organisiert das „Grazer kreative Milieu um 1900“ „Hast Du [Adolf] Göllers „Zur Ästhetik der Architektur“ [1887] gelesen“, hatte der Kunsthistoriker Cornelius Gurlitt Ende November 1887 seinen Bruder, den Klassischen Archäologen, gefragt (32/53). Vier lange Briefe tauschten sie daraufhin über die Frage nach dem Wesen „schönheitlichen Schaffens“ aus.139 Ausgangspunkt ist Cornelius’ Begeisterung für Göllers These von der reinen Form als der wahren Kunst, für die der ‚Gedankengehalt‘ nur ein ‚Angeheftetes‘ sei. Auch Wilhelm kann „das Gewäsch von dem ‚bedeutenden Inhalt‘“ nicht mehr hören. Einig scheinen sie sich im Sinne des Historismus darin, dass es keine allgemeingültige Formel für das formal Schöne gebe; Stil ändere sich mit dem Zeitgeist, einem „ungemein komplizierten Etwas“, das sich der historisch geschulten Betrachtung erst im Nachhinein offenbare. Cornelius lässt dann aber doch zum einen die ‚Idee‘ zu als ein der Sinnenschönheit „Unterlegtes“, das den Verstand anspricht und als Geistesschönes einem Sinnenschönen Dauer verleihen könne. Zum andern bekennt er sich zum Realismus und besteht auf dem Regulativ der Naturwahrheit, wie 107

Justus Cobet

sie unserem Gedächtnis eingeprägt sei. Was aber, fragen beide, gibt dem Werden eines neuen Formgedankens den Anstoß? Es ist der schaffende Künstler, der an irgendeinem Punkt die „Gedächtnisbilder“ nach einer neuen Seite, zu einem neuen Formgedanken hin durchbreche. Die Wissenschaft verfolge das Werden der Formgedanken. In der Rezeption wandele sich dabei die Präferenz der Epochen. Cornelius: Nach dem Renaissancezopf und dem Antikenzopf „kommen (wir) jetzt in den Barockzopf. Wir haben nicht einen Zopf, sondern wir sind der Zopf selbst. Denn wir hängen hinten dran!“ Die gerade entdeckten Skulpturen des Pergamonaltars, vermutete Wilhelm, wären zu Winckelmanns Zeit als „Verfall“ abgelehnt worden, „und nur sehr künstlich hat sich Winckelmann mit dem Laokoon abgefunden, indem er gerade das hineingelegt hat, was nicht in ihm ist.“ Cornelius in einem späteren Brief: „Einer hat den Geschmack von gestern, einer den von heut und einer den von morgen. Für die moderne Kunst kann nur der nützen, der den Geschmack von morgen hat“ (32/171). Es ist offensichtlich, dass Gurlitts Ausbildung und Selbstverständnis noch im Horizont des Klassizismus stehen. Gleichzeitig vollzog seine Praxis als Archäologe den Brückenschlag von der „idealen“ zur „realen“ Antike. Als der Vertreter der älteren Kunstgeschichte, wie seine Lehrkanzel verstanden wurde,140 leitete Gurlitt die Kommission zur Einrichtung einer Professur für neuere Kunstgeschichte. Einen lang gehegten Wunsch sah er erfüllt. Im Januar 1892 wurde Josef Strzygowski (1862–1941) ernannt.141 Gemeinsam betrieben Gurlitt und Strzygowski die Gründung eines kunsthistorischen Seminars. Sie sprechen von „der Einheit der Kunstwissenschaft in beiden Hauptgruppen“ und ihrer Aufgabenstellung, Sinn für das Formale und Stilistische zu gewinnen, die Eindrücke des Auges in Worte zu fassen und das Studium der literarischen Quellen methodisch zu schulen.142 Das Ministerium lehnte ab: „Eine völlige Ausbildung von Kunsthistorikern“ sei „in einer Stadt wie Graz, wo die Kunstsammlungen so wenig Anschauungsmaterial bieten“, nicht möglich.143 Benndorf lenkte Gurlitts Bemühen auf die zu schaffende Lehrkanzel für römische Altertumskunde, und im Jahr 1900 konnte das archäologisch-epigraphische Seminar gegründet werden. 144 Strzygowski hatte auf dem Plan eines archäologisch-kunstgeschichtlichen Seminars bestanden.145 Auch polemisierte er stadtöffentlich gegen die Privilegierung der archäologischen Gipssammlung.146 Weitere Auseinandersetzungen um Ressourcen vertieften das Zerwürfnis der beiden „Schwesterfächer“.147 Im Sommersemester nach Gurlitts Tod 1905 las Strzygowski „Über die künstlerischen Qualitäten in der antiken Kunst“.148 Später als anderswo wurde 1865 in Graz der Steiermärkische Kunstverein gegründet. Gurlitt trat ihm 1881 bei; in demselben Jahr richtete er „Im Krug zum grünen Kranze“ mit dem Dichter Peter Rosegger (1843–1918) und anderen einen Stammtisch ein.149 Jährlich veranstaltete der Kunstverein eine Weihnachtsausstellung. 1887 wurden dort auch Bilder von Arnold Böcklin (1827–1901) gezeigt, der seit 1880 in Fritz Gurlitts Berliner Galerie unter Vertrag stand. Wie überall fand auch ein Teil der Grazer Bürger Böcklin skandalös.150 1896 wählten die Mitglieder 108

Wilhelm Gurlitt

des Kunstvereins Gurlitt in den Vorstand, 1901 zu ihrem Präsidenten. Noch als Vizepräsident führte er die kritische Jahresversammlung im Dezember 1900.151 Viele Mitglieder seien aus-, deutlich mehr aber eingetreten.152 Einfluss genommen habe der Verein „auf die Heranziehung der Künstler Prof. Alfred v. Schrötter [Kristelli (1856–1935)] und Paul Schad-Rossa [1862– 1916]“ aus München. Gurlitt schloss „mit dem Wunsche, die reine Vestaflamme deutscher Kunst möge immer weiter leuchten im deutschen Graz.“ Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit für das Grazer „kreative Milieu“153 steht der Maler Paul Schad-Rossa.154 Im November 1900 stellte er im Kunstverein eigene und Werke seiner Schülerinnen und Schüler aus. Im Katalog formulierte er: Die Natur also benützen wir, um uns zu verständigen, unsere Gemüthsstimmung mitzuteilen. Die Natur haben wir gemeinsam – die Kunst ist individuell. […] Die Form ist mir nur Folie, denn nicht die Form ist schön oder unschön, vielmehr der Ausdruck der Seele.155

Viele Bilder wurden verkauft. Die liberal-konservative Grazer Tagespost kritisierte den pathetischen Ton im Katalog und die von den klassischen Schönheitsgesetzen abweichende Menschendarstellung. Doch die positive Resonanz überwog. Emil Ertl, der Kulturredakteur des deutsch-nationalen Grazer Tagblattes, rief aus: Läßt sich etwas Deutscheres und zugleich Zeitgemäßeres denken als die Kunst Arnold Böcklins und Max Klingers, Hans Thomas und Ludwig v. Hofmanns? In diesem Sinne ist auch die Schönheit Paul Schads zeitgemäß und deutsch durch und durch.156

„Zur Gründung eines ‚Grazer Künstlerbundes‘ (sind) auf Anregung des Malers Schad-Rossa verschiedene hier lebende Künstler zusammengetreten“, meldete die Leipziger Kunstchronik im April 1901.157 Anfang Mai erschien als erster und einziger Band die Zeitschrift Grazer Kunst.158 Im Vorwort sieht Adalbert von Drasenovich das Unternehmen die „Dürre ihres Heimatbodens“ überwinden und „in den gefährlichen Weltstrom“ hinausgleiten. Nur einem wolle er namentlich Dank sagen, der „die treibende Kraft war […], der mit einer Professur für classische Archäologie die wärmste Liebe für lebendige Kunst in einen Klang zu stimmen weiss.“ Dem Bruder Cornelius schickte Wilhelm mit Dank für seine Empfehlungsschreiben ein Besprechungsexemplar. „Habe meine ehrliche Freude daran. Nicht nur wenn […] ich es vom Grazer Gesichtspunkte betrachte, wo früher nichts war und es nun fröhlich zu sprießen beginnt in der bildenden Kunst, sondern auch überhaupt“ (56/34). Zu einer Besprechung kam es nicht; Cornelius antwortete etwas gewunden: Modern ohne Zwang; hat etwas Herzhaftes, das wohl tut gegenüber mancher Überfeinerung; etwas zu viel künstlerischer Muskel, könnte gerne feiner im Strich sein; mit Schlichtheit kokettiert (32/176). 109

Wilhelm und Cornelius Gurlitt

Seit Mitte 1901 wurde der Widerstand gegen die „moderne Kunstbewegung“ im Bürgertum der Stadt zunehmend deutlich.159 Im März 1904 ging Schad nach Berlin.160 Er war sich mit Gurlitt einig gewesen, dass „die Kunst nicht nur für Einzelne sondern für Alle existieren“ solle.161 Dass die Texte über „das Grazer kreative Milieu um 1900“ Gurlitts Krankheit seit dem Frühjahr 1902 und seinen Tod im Februar 1905 als eine der Ursachen für die Kürze der Blütezeit der „anderen Moderne“ in Graz verantwortlich machen, mag übertrieben erscheinen, kennzeichnet jedoch die zentrale Rolle, die dieser für sie spielte. *** Gegenläufig zur Intensität von Gurlitts Einsatz in Stadt und Universität häuften sich seit den späteren 1890er Jahren Zeichen für das Nachlassen seiner Kräfte. Gegenüber Benndorf sprach er später von einer „schweren Neurasthenie“, dem zeitgenössischen Stress- oder Krisenbefund, im Jahr 1896 von seelischer Aufregung, weil er sich von Strzygowski „aufs Schändlichste […] misshandelt sah“, von der Wegberufung des kaum installierten Kollegen für die römische Altertumskunde, von der Trauer um den Tod des Vaters im November 1897, der mit seiner Frau Elisabeth die Mitte der großen Familie gewesen war.162 Sein Bruder Ludwig beobachtete nachlassende Arbeitsfrische.163 Dennoch besuchte Wilhelm 1899 die neuen Ausgrabungen in Pergamon, Priene und Milet in Begleitung seines Londoner Bruders Otto, „der ihm aber durch Erkrankung die Reise sorgenvoll machte“164 und ein halbes Jahr nach Wilhelm starb. Im Frühjahr 1902 traf Gurlitt ein leichterer Schlaganfall. Vom Sommersemester 1902 bis zum Sommer 1903 unterrichtete er nicht. Ende 1902 schrieb er an Cornelius: Ich mache mich langsam wieder ans Arbeiten, dem ich [mich], was mir von Kraft noch geblieben ist, künftig ausschließlich widmen werde. Ich habe nach allen Seiten gewirkt und angeregt, aber habe mich zu wenig konzentriert. Künftig, hoffe ich, wird es in dieser Hinsicht besser werden, wenn es überhaupt besser wird. [56/35]

Das Grazer Volksblatt würdigte Gurlitt am 7. März 1904 zum 60. Geburtstag als Wissenschaftler, versprach ihm in der Kunstgeschichte Steiermarks einen ehrenvollen Namen und erhofft noch viele Semester voller Gesundheit. Doch „eine flüchtige Genesung täuschte die Hoffnung seiner Familie und seine zahlreichen Freunde. […] Am [Montag, den] 13. Februar 1905 Mittag 1 Uhr raffte ihn ein Lungenödem […] hinweg.“165 „Sonnabend war es, da er“, wie ein dankender Schüler schrieb, „die letzten Übungen hielt“166 – von 4–5 Uhr „Griechische Bau- und Bildkunst III“, von 5–7 „Archäologische Übungen“. Von dem politischen Menschen sagte das katholische Grazer Volksblatt im Nachruf vom 14. Februar, in seiner Wiener Zeit sei er „ein treuer Anhänger Mutter Austrias, ein echter guter 110

über „das Schöne in der Kunst“

Österreicher“ geworden. Ludwig Gurlitt sah Wilhelms Wirken „für Belebung und Stärkung des deutschen Empfindens und Handelns auf jenem bedrohtesten Boden unserer nationalen Kultur. Der Rückgang des Deutschtums in Österreich war ihm ein stets nagender Schmerz“.167 Die Todesanzeigen der Philosophischen Fakultät und von Rektor und Senat weisen eine lange Liste von Gurlitts Ämtern und Funktionen auf. In Graz war er Presbyter der evangelischen Kirchengemeinde und Kurator der evangelischen Schulen gewesen. Die Nachrufe168 sprechen vom Gewinnenden, der Überzeugungskraft und dem Authentischen in seinen vielen Wirkungskreisen. Ein Student dankte am Grab für „die Erkenntnis all des Schönen und Wahren, dessen Herold“ er war.169 Hugo von Hofmansthal sprach 1907 in einem Artikel über Ludwig Gurlitt neben Cornelius von „jenem verstorbenen Dritten, dem ganze Generationen von jungen Grazern übers Grab hinaus anhängen“.170 „Seine Wissenschaft, die Archäologie, war ihm mehr als ein Zweig der klassischen Philologie: seine Äußerungen und Vorträge atmeten den Geist eines tiefen Erfassens der Kunst.“171 Sein Nachfolger Franz Winter (1861–1930) wurde aus Innsbruck berufen. In Schierings Geschichte der Archäologie ist in Graz dieser, nicht Gurlitt, der erste „Lehrstuhlinhaber, zu dessen Lehraufgaben die Archäologie ausdrücklich gehörte“.172 Doch ist auch Winter noch einmal ein Altertumswissenschaftler, der über die Philologie zur Klassischen, d. h. Kunst-Archäologie gekommen war.173

Anhang: Briefwechsel zwischen Cornelius und Wilhelm Gurlitt über „das Schöne in der Kunst“ Cornelius an Wilhelm. Berlin, den 26. November 1887

Nachlass Dresden 032/053174

Lieber Memo! […] Hast Du Göllers ‚Zur Ästhetik der Architektur‘175 gelesen? Ein Prachtbuch, voll Anregung. Weist nach, dass es eine Schönheit der reinen Form gebe, dass also der geistige Inhalt nicht das Wesen der Schönheit, sondern nur einer der möglichen Gründe derselben sei. Was jeder von uns fühlt: dass der Gedankengehalt zwar sehr trefflich, aber etwas der eigentlichen Schönheit, der formalen, nur Angeheftetes sei, wird hier bewiesen. Zwar geschieht dies nur hinsichtlich der Architektur, aber was hier gilt, muss für alle Kunst gelten. Das Hässliche ist also nicht, wie Hegel will, die Form ohne geistigen Inhalt,176 denn diese kann auch schön sein (Linienornament, die Komposition als Farben- und Linienspiel, das unverstandene Bildwerk). Welcher Inhalt steckt im ionischen Kapitell? Keiner weiß es genau. Wir können aber seine Schönheit empfinden, selbst wenn wir den Inhalt falsch verstehen, d.h. wenn er für uns nicht 111

Wilhelm und Cornelius Gurlitt

besteht. Die Folgerungen, welche sich ergeben, werfen so ziemlich unsere ganze angewendete Ästhetik über den Haufen. Namentlich die ‹künstlerische Wahrheit› erscheint als ein ganz müßiges Ding. Lies das Buch! […] Leb wohl, lieber Memo und liebe Mary. Hoffentlich sehen wir uns bald einmal wieder. Euer Cornelius

Wilhelm an Cornelius. Graz, den 29./30. November 1887

Nachlass Dresden 056/001

Lieber Cornelius Deine Briefe machen mir immer die größte Freude; denn sie unterscheiden sich von den meisten anderen, welche ich erhalte, dadurch, dass sie einen Inhalt haben. Göller habe ich nicht gelesen, wohl aber Besprechungen, welche mich über den Inhalt orientiert haben. Ich finde, was ich voraussetzte, durch Deine Mitteilungen bestätigt. Das Gewäsch von dem ‚bedeutenden Inhalt‘, welchen jedes Kunstwerk haben muss, lässt sich in der Tat am besten durch die Architektur und durch die Musik widerlegen. Welchen breiten Raum dieser ‚Gehalt‘ in aller landläufigen Kritik einnimmt – mit Tante Fanny habe ich wiederholt, aber ganz vergebens darüber disputiert, sie beruft sich dann auf Adolf Stahr,177 und damit ist bekanntlich stets der letzte Trumpf ausgespielt – wirst Du, wie ich, oft ganz ärgerlich empfunden haben. Aber mit der Eliminierung dieses ‚geistigen oder realen Inhalts‘ ist man noch nicht über allen Schwierigkeiten hinweg. In der Form, Farbe etc. liegt die Schönheit. Ganz recht! Aber gibt es nun etwa nur eine schöne Form für einen bestimmten Vorwurf, für eine bestimmte Aufgabe? Nur eine ‚schöne‘ Kirche? Nur eine ‚schöne‘ Hausfrau? Nur eine ‚schöne‘ Darstellung von Mutter und Kind? Oder der Venus? Nur ein schönes Kapitell? Oder nur ein schönes ionisches Kapitell? Nur ein schönes Gedicht, welches Liebe ausdrückt? usw. usw. Winckelmann glaubt es und fand die Eigenschaft dieser abstrakten Schönenformen in dem ‚Unbezeichneten‘178, wie er es nennt. Diese Ansicht kann nicht richtig sein: Sie streitet gegen allbekannte Tatsachen. Nun geht das Fragen weiter: Gibt es überhaupt einen objektiven Maßstab für das ‚Schöne‘? D. h. kann man ein Objekt apodiktisch als ‚schön‘ bezeichnen und fordern, dass alle es ‚schön‘ finden müssen? Das Schöne, wie ich es verstehe – ich rede immer nur von dem Formalen, Sichtbaren, Greifbaren, Hörbaren – wird erzeugt durch theoretisch unzählbare Mischungen des Individuellen und Allgemeingültigen, des Charakteristischen und Gemeinsamen, des Realen und Idealen und hat auch wieder theoretisch unzählbare Wirkungen auf die einzelnen betrachtenden, nachempfindenden, kurz: empfangenden 112

über „das Schöne in der Kunst“

Subjekte. Diese Einführung des Besonderen, des Charakteristischen in den Begriff der ‚Schönheit‘ scheint mir ebenso unvermeidlich, als andrerseits schwierig, und ich bin, obgleich ich für meine Vorlesungen diese Frage immer wieder wälze, noch nicht dazu gekommen, die Frage nach dem objektiv – d. h. für Jedermann und jede Zeit Schönem – bejahend zu beantworten. Dagegen gibt es eine im Lauf der Zeiten sich bildende, allerdings auch sich langsam modifizierende Konvention, welche den Begriff ‚schön‘ mit gewissen menschlichen Hervorbringungen verbindet und für die Zeit, in welcher sie gilt, als objektiv wahr gilt. Wäre ich zur Zeit Winckelmanns geboren, so würde ich den Apoll vom Belvedere für unbedingt und absolut ‚schön‘ gehalten haben: Jetzt scheint mir in dieser Statue zu wenig eigener Charakter zu sein, sie scheint mir zu ‹unbezeichnet›, sie wiederholt eine frühere Bildung, in dem sie das Individuelle, das eine bestimmte künstlerische Persönlichkeit in sie legte, vermindert, d. h. sie scheint manieriert. Wie vollzieht sich nun ein solcher Wandel des Urteils? Gewiss nicht durch die ästhetische Theorie, welche immer nur spät und nachträglich den Empfindungen nachhinkt. Mir scheint durch die schaffenden Künstler, in denen sich ein neues Schönheitsideal entwickelt und zwar stets so, dass sie von der Nachahmung für schön gehaltener Werke abgehen und sich von Neuem zur Natur, d. h. dem Zufälligen, Individuellen oder Charakteristischen wenden. Damit hängt auch zusammen der Stil, welcher formal nichts anderes ist als die Weise, wie eine bestimmte Zeit die Natur sieht und darstellt usw. Man könnte darüber Bücher schreiben.179 Was ich sagen will, ist, dass der Begriff des Schönen in einem fortwährenden Fluss sich befindet, ganz so wie die Übung der Kunst, die Kulturentwicklung überhaupt, dass er eine Abstraktion aus den gefallenden Objekten ist und mit ihnen sich wandelte. Mehr noch, ich glaube, dass eine historisch geschulte Betrachtung auch verschiedene Begriffe des Schönen, je nach den Zeiten und Stilen, unterscheiden und genießen kann, ohne das eine der anderen als minderwertig unterzuordnen, so dass eigentlich mit der Kunstgeschichte das Wort „schön“ entweder ganz wegbleiben oder für den Höhepunkt jeder Kunstperiode verwandt werden sollte. […] [Schluss fehlt]

Cornelius an Wilhelm. [Berlin?] 2. Dezember 1887

Nachlass Dresden 032/054

Lieber Memo. Ich habe mich ganz in die Ästhetisiererei verbissen. Ob die Geschichte mir klar wird oder nicht, das ist die Frage, die ich jetzt nicht entscheiden kann. Jetzt stellt es sich so: Die Schönheit ist dualistisch. Das Erste ist die Schönheit der Form, ohne Inhalt. Dies ist, 113

Wilhelm und Cornelius Gurlitt

was wir gemeinhin schön nennen. Sie kann für sich bestehen. Sie ist ganz individuell. Sie macht uns Geistesfreude, solange unser Geist an der Bildung der Formen im Gedächtnis schafft, solange wir sie geistig erlernen, neu erzeugen. Die Freude hört auf, sobald das Gedächtnisbild fertig ist, dann tritt ein, was Göller „Ermüdung des Formgefühles“ nennt.180 Die Form wird uns langweilig, obgleich wir ihr zugestehen, dass sie schön sei, der Anreiz ist da, Neues zu erfassen, den Geist im bildenden Anschauen zu beschäftigen. Das Zweite ist die Schönheit des Inhaltes, die man vielleicht auch die Idee, das Bedeutsame, den Stoff nennen kann. Es hat diese mit dem landläufigen Begriff Schönheit wenig zu tun. Denn für sich allein ist sie nicht schön, sondern wahr, groß, edel, tief. Sie ist ein der Sinnenschönheit Unterlegtes, welches verhindert, dass die Ermüdung zu schnell eintritt, weil es sich über die Sinne hinaus an den Verstand richtet. Durch diese Geistesschönheit kann ein sinnenschönes Werk Dauer erhaltenen im Wohlgefallen der Menschen. Die formale Schönheit muss sich ewig wandeln, denn sie besteht nicht in sich, sondern in unserem Geistesbestreben, ihr Bild im Gehirn zu rekonstruieren. Sie ist ganz abgängig davon, ob verwandte, ähnlich gestaltete Bilder in unserem Gehirn sich finden, welche uns erleichtern, das Bild in uns zu schaffen. Also erscheinen mir die Dinge schön, wenn ich ähnliche Dinge in meinem Gedächtnis habe, sie aber nach einer Seite hin dieselben übertreffen, also den Geist zu neuem Schaffen der Gedächtnisbilder anregen. So entsteht der Stil, so die Beschränkung des ästhetischen Urteils innerhalb des Stiles. Kommt etwas ganz Neues, so missfällt es, bis man sich ihm angewöhnt hat. Heute haben Hunderte eine ehrliche Freude an Böcklin. Wäre er nicht Mode geworden, so würde er vielleicht nie als schön empfunden, vielleicht nach 100 Jahren ausgegraben werden. Dies steht andeutungsweise schon in Göller, welcher aber nicht den Mut hat, seine Anschauungen auf die ganze Kunst zu übertragen und der namentlich den ‚geistigen Gehalt‘ noch für eine Sache hält, die einen Teil der Schönheit ausmache, während ich, wie gesagt, diesen von derselben derart getrennt haben will, dass es zwei Schönheiten gibt, die eine, die Schönheit kurzweg, die andere, der geistige Gehalt. Letzterer ist dann eine Zugabe, die mit dem Wesen des Schönen nichts zu tun hat, denn dieses ist rein formal und rein sinnlich. Ich sehe hierin einen großen Fortschritt. Zunächst muss „die Wissenschaft umkehren“. Ich arbeite jetzt an Vischers Ästhetik.181 Wie verdreht ist der doch. Er kommt von der Metaphysik und geht in die Einzelheit, statt auf die Einzelheit sein System zu bauen. Der Wahn, dass ein Blinder die beste geistige Anschauung der Kunst haben könne, dass man aus dem System durch Schlussfolgerung zu dem Verständnis der Erscheinungen gelangen kann, muss doch gebrochen werden. Denn die ersten Fundamentalsätze sind doch stets zu schwankend, als dass man mit unbedingter Sicherheit folgen kann. Die Ästhetik will von einem Turm herab mit dem Fernrohr die ausgestreuten Körner betrachten. Aber der Turm ist so wackelig, dass auch bei den schönsten Gläsern die Bilder verwirrt erscheinen. „Ästhetik ist die Wissenschaft des 114

über „das Schöne in der Kunst“

Schönen und der Kunst“, sagt Schasler.182 Gibt’s eine Wissenschaft der Kunst? Ich glaube, sie besteht so wenig wie eine Kunst der Wissenschaft! Meine Lehre führt auf die Verherrlichung des Realismus hinaus. Das kommt so: die formale Schönheit etwa im Bild kann sich äußern 1. im Aufbau der Linien und Farben (Komposition), d. h. ein Bild kann schön sein ohne Inhalt, ohne Naturwahrheit. Zum Beispiel eine Farbenskizze von Makart, von der man nicht weiß, was sie darstellt. 2. in der Wechselbeziehung der Farben zueinander (Kolorit) 3. in der von der Natur absichtlich oder unabsichtlich von der Wahrheit abweichenden Linienführung (Stil). Diese Arten der Schönheit sind rein formal. Sie werden uns als Schönheiten bewusst, wenn sie sich den in uns lebendigen Gedächtnisbildern formal anschließen, d. h. wenn sie ‚in unserem Geschmack‘ sind. Dieselbe Komposition, Kolorit oder Stil kann uns heute als schön, morgen als hässlich oder doch langweilig, trivial erscheinen. Der Maßstab sind also unsere Gedächtnisbilder, welche zumeist der Natur entlehnt sind. Das Bild behandelt Naturerscheinungen. Nun kann es mir behagen und besonders gefallen, wenn gewisse Abweichungen von der Natur, welche einmal mir als neu, reizend, also als schön erschienen sind, übertreibend fortgebildet werden. Diese Auswüchse behagen dann außerordentlich und zwar je mehr sie von der Natur abweichen. Wir haben den Eindruck, als sei die Natur vergrößert, erweitert. Wir nehmen ihr die ‚Zufälligkeiten‘, um unsere Naturerfindung, den Stil, dafür zu setzen in dem Wahne, diese sei besser, tiefsinniger. Denn unser Werk behagt uns natürlich stets am allerbesten. So wird der Stil immer weiter geführt. Ginge es nach der Kunst, nach dem Schönheitsgefühl allein, so würde die menschliche Gestalt der Mode ebenso unterliegen als die Kleider, hätten unsere Frauenstatuen jetzt wahrscheinlich Ärsche wie die 80-Taler-Pferde. Nun aber ermüdet die Formenfreude an der einseitig formalen Stilbildung. Die Natur steht neben den Dingen, das Auge vergleicht, der Geist ist am Ende mit der Freude an der Fortbildung des Auswuchses. Der Stil bricht zusammen, der Schrei nach der Natur wird laut, das, was man als eine Veredelung der Natur angesehen hat, wird als eine Verhunzung derselben verlacht. Man hat die Natur idealisieren wollen und hat sie verballhornisiert, man hat einzelne Formen derselben auf Kosten der anderen ‹edel› ausgebildet, aber nicht gesehen, dass das Ganze ärmer geworden ist. Jeder Idealismus ist also einseitig, eine Verkleinerung der Wahrheit. Die Aufgabe der Kunst ist, der Natur so nahe als möglich zu bleiben, mit vollem Bewusstsein darauf zu achten, dass man nicht von ihr abweiche. Dies wird bei der Schwachheit des Menschengeschlechts zwar immer geschehen, aber das einseitige Verrennen in Formen muss hintangehalten werden. Denn das allen Zeiten Gemeinsame ist die Naturwahrheit. Gibt das Bildnis in leicht fasslicher Weise die Natur wieder, so wird es stets gefallen, individuell als schön empfunden werden. Betrachtet man den ‚Idealismus‘ der verschiedenen Kunstschulen, so ist es bei den Alten 115

Wilhelm und Cornelius Gurlitt

zumeist ein Verharren in jenen Naturverballhornungen, welche in ihrer Jugend Mode waren. Sie sind stehen geblieben mit ihrer Fähigkeit, die Formenempfindung weiterzubilden. Bei den Jungen besteht er darin, dass sie vorauseilen, die Natur in neuer Weise auffassen, d. h. sich und nach und nach auch den Andern naturalistisch, naturwahrer erscheinen, bis dann auch die Eigentümlichkeiten ihrer Naturauffassung fortgebildet, d. h. ein Stil werden. So gibt es denn auch für mich keine berechtigte Kritik. Wer Richter sein will, muss ein Gesetz haben, und in der Kunst gibt es kein Gesetz. Es ist sogar Pflicht jedes echten Kunstwerkes, anders zu sein als die früheren, d. h. in irgendeinem Punkt die alten Gesetze zu durchbrechen. Die Aufgabe der Wissenschaft, der Kunst gegenüber, ist nur eine historische, das Werden der Formgedanken zu verfolgen und an diesem den Anteil der einzelnen Personen festzustellen. Aber so wenig wir eine ‚Kultur‘ philosophisch ausarbeiten, um dann von der Welt zu verlangen, sie solle in ihren Grenzen sich bewegen, so wenig kann man eine Ästhetik, Gesetze des künstlerischen Schaffens, für die Zukunft feststellen. So ist mir denn die ganze ästhetische Episode von Boileau183 bis heute ein großer Irrtum! Das sage ich zunächst Dir, weil, wenn man es laut sagte, die Welt schreien würde. Aber sei sicher: in 15 Jahren sind wir Jüngeren alle dieser Meinung. Dann wird der ‚Zopf ‘ abgeschlossen sein, dessen Hauptvertreter Winckelmann und Lessing sind! Unter Zopf verstehe ich nämlich, freilich im Privatgebrauch, die Zeit der Vorbildlichkeit der Antike und aller anderen Stilarten. Wir sind im Renaissancezopf und kommen jetzt in den Barockzopf. Wir haben nicht einen Zopf, sondern wir sind der Zopf selbst. Denn wir hängen hinten dran! Herzlichen Gruß an Mary. Dein Cornelius […]

Wilhelm an Cornelius. Graz, den 6. Dezember 1887

Nachlass Dresden 056/002

Lieber Cornelius. Ich konstatiere zunächst die Übereinstimmungen unserer ästhetischen Auffassung. 1) Schönheit erscheint in der Form, am äußerlich und direkt durch die Sinne Erfassbaren. Die Sinne, um die es sich hier handelt, sind Gehör und Gesicht, Ohr und Auge: bei den niederen Sinnen ist nur von sinnlichem, nicht ästhetischem Vergnügen die Rede. 2) Es gibt, wie ich mich ausdrücke, keinen objektiven Maßstab für das formal Schöne, keine allgemeingültige Formel. Wir können also weder a priori sagen, ein bestimmtes Kunstwerk, übrigens ebenso wenig wie ein bestimmtes Naturprodukt, muss von jedem Menschen und zu jeder Zeit als „schön“ empfunden werden, noch können wir für den schaffenden Künstler 116

über „das Schöne in der Kunst“

eine Regel angeben, durch deren Befolgung er die Garantie erhielte, nur ‚schöne‘ Werke zu schaffen. Wir halten also beide alle Anläufe, eine gemeingültige Theorie des Schönen aufzustellen, für missglückt und meinen auch zu wissen, warum sie missglückten. Ich schließe nun so weiter: der Begriff das ‚Schöne‘ ist, abgesehen von den unzähligen subjektiven, individuellen Einzelempfindungen, einem stetigen Wandel unterworfen, gerade wie die philosophische Auffassung der Welt und ihrer Ursache oder Ursachen, gerade wie die Stellung des Menschen zur Natur, wie die Gesellschaftsformen, die Wirtschaftsordnung, die Bildungsideale, die politischen Konzeptionen – kurz: gerade wie all’ das, was man mit einem vagen Worte ‚Zeitgeist‘ nennen könnte. So sehr es nun ein Bedürfnis jeder Zeit ist, sich selbst auch theoretisch zu begreifen, die Berechtigung der empirisch vorhandenen Grundanschauungen auch philosophisch oder gedanklich zu begründen, so wenig ist irgendeine der bisher vorübergegangenen Kulturepochen berechtigt gewesen – und ich sage hierzu: So wenig ist unsere Zeit berechtigt, ihre theoretische Begründung nun auf einmal als eine für alle Zeiten zweifellos gültige hinzustellen. Ich behaupte, unsere – d. h. die Weltauffassung der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, – und damit auch unserer Auffassung des Schönen ist ein empirisch Gegebenes, dessen mannigfaltige Komponenten darzustellen das Schwierigste, aber zugleich Nützlichste ist, was man wissenschaftlich leisten kann. Diese gesamte neue Weltauffassung setzt sich in den schärfsten Gegensatz gegen die Weltauffassung des Zeitalters unserer klassischen Literaturepoche, also zu Winckelmann und Lessing, zu Goethe und Schiller und zu Vischer, dessen Ästhetik eine Nachblüte jener Zeit ist. Es ist – nach meiner Ansicht – selbstverständlich, dass der Begriff des ‹Schönen› gleichfalls eine ganz neue Formulierung verlangt. Du suchst eine solche in Andeutungen zu geben: ich betrachte sie lediglich als einen Versuch, für Empfindungstatsachen philosophische – d. h. mit dem Verstande begreifliche – Gründe anzugeben. Dabei ist es wesentlich gleichgültig, ob Du diese Gründe an die Spitze Deiner Auseinandersetzungen stellst, also Dich auf allgemein anerkannte Grundsätze des Denkens und Empfindens berufst und nun ihre Richtigkeit an den Tatsachen erweisest, oder ob Du von Deiner Anschauung ausgehst, und [dich] durch sie zu den Gründen leiten lässt. Jeder Schriftsteller will überzeugen, und er wählte daher die Form, welche er für die dazu geeignetste hält. Aber auch die aprioristische [...] beruht, wie die synthetische, auf dem Grunde empirischer Erfahrungstatsachen. Sie überzeugt nur dann, wenn sie mit derselben stimmt, wenn sie dem durchschnittlichen Geisteszustand der betreffenden Zeit entspricht. Sonst wird sie entweder ein vollkommener Fehlschlag sein oder erst in der Zeitperiode wirken, welcher die zum Grunde liegenden Anschauungen homogen sind. Auch was ich schreibe und schrieb, ist lediglich ein Versuch, mir meinen Empfindungsinhalt verstandesgemäß klar zu machen. Er ist, solange ich auf einem bestimmten Standpunkt stehe, für mich 117

Wilhelm und Cornelius Gurlitt

überzeugend, hat aber schon oft gewechselt und kann neuen Anschauungen gegenüber wieder wechseln. Nun meinst Du in Deinem letzten Brief: Die „rein formale Schönheit“ und ihr Empfinden sind vollkommen individuell, bei jedem Individuum tritt aber eine „Ermüdung des Formgefühls“ ein, so dass es nach neuen Eindrücken strebt usw., und folglich muss sich die Schätzung der „formalen Schönheit“ in jedem Einzelwesen fortwährend wandeln. Du willst Dir also auf diese Weise klar machen, wie es kommt, dass das „‚formal Schöne‘ und sein Begriff, wie wir beide zugeben, wandelbar [sind]. Da sich nun zu jeder Zeit das Gesamtempfinden aus dem Empfinden aller Individuen zusammensetzt, so müsste sich etwa in jeder Generation dieser Wandel der Anschauungen und damit die Freude an ästhetischen Gegenständen vollziehen und nachweisen lassen. Und dies stimmt ja ungefähr, nur freilich ist absolut nicht vorherzusehen, nach welcher Seite sich das ästhetische Wohlgefallen wendet: Es kann die ‚Natur‘ sein, die an die Reihe kommt, oder die ‚Antike‘ oder die ‚Gotik‘ oder die ‚Renaissance‘ usw., es kann z. B. in der Malerei die ‚schöne‘ Linie sein oder das ‚Gedankenhafte‘ oder das ‚Koloristische‘ usw., in der Architektur: die ‚Simplizität‘, das ‚Farbige‘, das ‚Reiche‘ usw. Zum Verständnis der Erscheinung also und ihrer Erklärung müssen wir auch den besonderen Anstoßer kennen, der dem Wandel seine Richtung gibt. Dieser liegt nach meiner Meinung in dem, was ich oben den ‚Zeitgeist‘ nannte, d. h. in einem ungemein komplizierten Etwas, das sich für uns Nachlebende in allen Hervorbringungen der betreffenden Zeit, am spätesten natürlich in der Theorie, offenbart. Um nun aus diesem ewigen Wechsel etwas Bleibendes zu retten, möchtest Du neben die ‚formale Schönheit‘ auch eine ‚Schönheit des Inhalts‘ stellen, welcher den Ekel an zu viel gesehenen Arten (oder Manieren), des Formalen, überdauert. Der Grund dieses Satzes scheint mir der zu sein, dass Du neben dem Wandel der Anschauungen auch ein gewisses Beharren im Wohlgefallen an bestimmten Kunstwerken beobachtet hast – oder aber dass es Dir Bedürfnis ist, neben das Empfinden, durch den Sinn vermittelt, auch irgendetwas Verstandesmäßiges zu setzen, also Allgemeingültiges. Damit gerätst Du aber in die ‚graue Theorie‘, der Du gerade entfliehen willst. Zunächst gefällt jeder Zeit etwas ganz anderes an den Hervorbringungen früherer Zeiten und an der Natur. Ich spreche da nicht von der Theorie, sondern von dem einzelnen empfindenden Individuum. Zum Beispiel die Antike: sie umfasst ein Jahrtausend von 600 v. Chr. bis 300 n. Chr. Jede ästhetische Stimmung kann in ihr Werke finden, welche ihr entsprechen, und jede sucht sich die betreffenden Werke aus der Masse heraus. Ein Werk wie die pergamenischen Skulpturen wäre vermutlich zu Winckelmanns Zeit einfach als ‚Verfall‘ abgelehnt worden, und nur sehr künstlich hat sich Winckelmann mit dem Laokoon abgefunden, indem er gerade das hineingelegt hat, was nicht in ihm ist – hier beeinflusst durch die Bewunderung eines Michelangelo, der zu demselben vollkommen berechtigt war usw. 118

über „das Schöne in der Kunst“

Ferner ist es etwas ganz anderes, unser ästhetisches Wohlbehagen zu erklären, etwas anderes, den Begriff des ‚Schönen‘ festzustellen, von dem wir ausgingen. Das ist nicht Silbenstocherei, sondern absolute Vorbedingung der Verständigung ist, dass man sich über die Definitionen klar ist und klar bleibt. Eine ‚Schönheit des Inhalts‘ von Kunstwerken gibt es nicht, weil kein noch so tiefer, erfreulicher, geistreicher usw. Inhalt den Mangel der ‚formalen‘ ersetzen kann. Ich berufe mich da einfach auf die Erfahrung von jedem Bilde, besonders in den Galerien, welche wir mit anderen Augen betrachten, als die modernen Kunstausstellungen. Das Dargestellte ist da so gleichgültig, dass wir uns höchst selten veranlasst sehen, nach demselben zu fragen. Du gibst dies ja übrigens selbst zu: also ist Deine Formulierung falsch. Auch gibt es viele Arten von Kunstwerken, welche überhaupt einen Gedankeninhalt nicht haben können. Auch bedarf es Deiner zweiten Art Schönheit nicht, um das Gefallen von gewissen Kunstwerken auch in verschiedenen Epochen zu erklären, denn jeder Zeit gefällt etwas anderes an ihnen, und eine allgemeingültige Formel für das Schöne oder einen Teil desselben lässt sich überhaupt nicht geben. Unabhängig von dieser Annahme des Dualismus des Schönen ist Deine weitere Ausführung. Du meinst, wenn ich Dich recht verstehe, der Maßstab, den wir an die Werke der Kunst anlegen, sind die Naturerscheinungen; finden wir diese, so wie sie sich selbst unserem Gedächtnis eingeprägt haben, wieder, so wird unser Wohlgefallen erregt. Ja, wir sind geneigt, eine Seite des Naturwirklichen und eine bestimmte Art ihrer Wiedergabe mit unserm Wohlgefallen bis an ihr Extrem zu begleiten, um uns dann freilich mit unserm Wohlgefallen wieder um so entschiedener der ‚Natur‘ zuzuwenden. Aufgabe der Kunst sei also, da jeder solcher stilistischer Exzesse zu Reaktion unseres Empfindens führte, der ‚Natur so nahe als möglich zu bleiben‘, d. h. dem ‚Realismus‘ zu huldigen. Da ist nun zunächst zu sagen: Die Natur ist gewiss ein Objekt außer uns, aber, soweit sie nicht als Objekt des wissenschaftlichen Erkennens, sondern für die künstlerische Reproduktion und für das Empfinden des Einzelnen in Betracht kommt, ist sie ein durchaus und rein Subjektives. Ich glaube, es ist falsch zu sagen, dass in irgendeiner Zeit bei dem Zurückgreifen auf die ‚Natur‘ diese objektiv in den Kunstwerken zur Erscheinung gekommen sei oder kommen könne. Abgesehen von allem anderen muss sie durch ein reproduzierendes Subjekt hindurchgehen. Die Art, die Natur zu sehen und darzustellen, hört auf zu gefallen oder vielmehr: Sie hört auf, die Künstler zu befriedigen. Warum? Du sagst, weil das, was uns erst gefiel, weil es mit der Naturerscheinung übereinzustimmen schien, uns aus zwei Gründen nicht mehr behagt. 1. weil jede besondere Art, [der] Natur nachzueifern, in sich die Neigung zum Exzess trägt und sich also von der Natur entfernt, mit der wir fortwährend, fast unbewusst, die Kunstwerke vergleichen. 2. weil die längere Einwirkung ähnlicher Formelemente unsern Genuss enorm abstumpft und uns nach neuer, anders gearteter Anregung begierig macht. 119

Wilhelm und Cornelius Gurlitt

Darin ist sehr viel Wahres: aber mir scheint das Problem zu einseitig gestellt und gelöst. Du denkst doch eigentlich wissenschaftlich an Malerei und vielleicht Plastik; schon die Architektur lässt sich in ihren Wandlungen nach dieser Hypothese schwer begreifen und ebenso die Musik. Auch der Dichtkunst ist mit dem Begriff der Naturnähe schwer beizukommen. [Schluss fehlt]

Cornelius an Wilhelm. [Berlin? Dezember] 1887

Nachlass Dresden 032/055

Lieber Memo u liebe Mary. […] Aus Deinem letzten Brief, wenn man den Artikel so nennen darf, lieber Memo, habe ich mit Erstaunen gesehen, wie weit ab auch Du von der zünftigen Kunstanschauung bist. Ich sende Dir heute einen Artikel aus der ‚Deutschen Bauzeitung‘,184 die mich sehr pussiert; derselbe ist schon vor Empfang Deines Briefes geschrieben. Ich lese jetzt den englischen Ästhetiker [John] Ruskin [1819–1900] und bin erstaunt, wie die Engländer, welche nicht die Hegelsche Schule und die Abziehung aller Gedanken aus der Metaphysik durchgemacht haben, simpel und verständig bei der Erklärung des Schönen aus dem ‚Geschmack‘ geblieben sind. Denn darauf kommst auch Du hinaus. Ich meine nur, dass wir uns bewusst bleiben sollen, dass bisher diese Ansicht, welche eigentlich alle Welt hat, allein von den ‚Denkern‘ geleugnet wird. Der ‚gesunde Menschenverstand‘ siegt, ein Ding, vor dem ich eigentlich sehr wenig Achtung habe, denn zumeist ist es der Verzicht auf tieferes Denken. Du weißt vielleicht, dass zu Weihnachten ein kleines Buch von mir erscheinen sollte, welches ich ‚Im Bürgerhaus‘185 nannte. Dort findest Du die Anfänge meiner von den zünftigen Anschauungen abweichenden Meinung in dem Gedanken: Deine Individualität bringe im Raume Ausdruck, nicht Stile vergangener Zeiten. Viele Individualitäten wie Du sind das Volk, dessen Gesamtgeschmack der ‚neue Stil‘, ob die Formen nun auch aus China oder Griechenland entlehnt sind. Das Buch wird nun erst in zwei bis drei Monaten erscheinen. Nebenbei gesagt: Ich wollte, es erschiene nie, denn es ist herzlich trivial. Nur Mariechen, welche die Aushängebogen las, schwärmt dafür. Hoffentlich verkauft es sich wenigstens gut, denn es enthält so eine Art Rezeptsammlung für Zimmereinrichtungen. Es ist in London entstanden und sein Hauptverdienst besteht darin, dass ich kein Buch zur Hand hatte, außer Ottos Bibliothek. Es ist also wenigstens aus dem bloßen Kopf geschrieben. […] Nun noch zu Deinem letzten Brief. Den Unterschied zwischen Idealisten und Realisten sehe ich darin, ob der betreffende Künstler mitwirkt, die von der Natur abweichende Form 120

über „das Schöne in der Kunst“

nach [einer] außer der Natur liegenden Schönheit fortzubilden, oder ob er von letzterer zur Naturnachahmung zurückstrebt. Michelangelo war Idealist in dem Sinn, dass er die geschlossene Kompositionsart, die Übermenschlichkeit der Formen, welche er wohl aus der älteren Skulptur erlernt oder teilweise sich selbst vorbildlich geschaffen hatte, immer weiter bildete und somit über der Natur zu stehen, diese zu verbessern bemüht war. Raffael erscheint mir dagegen in seinen späteren Arbeiten auf dem Wege zu einem zwar noch nicht allseitigen Realismus. Die meisten Künstler sind Realisten und Idealisten zugleich – vielleicht wird es nie einen geben, der diese Mischung nicht hat. Es muss nur betont werden, dass für die Kunst der Rückweg von der ‚idealen Schönheit‘, welche stets eine Verballhornung ist, zur Wahrheit das Entscheidende, Löbliche ist, und dass das Verharren auf erreichten Idealen unter allen Umständen geistlos ist, also nicht ideal. Idealismus ist doch die Erhebung der Form aus dem Zufälligen des Individuums zu einer mittleren, aus der Gesamtheit der Individuen gezogenen Gestaltung. Dieses Mittel existiert faktisch nicht, erscheint daher jedem anders. Man kann sehr leicht in Irrtum verfallen, indem man einen Zug desselben für den entscheidenden hält und diesen übertreibt. Diese Übertreibung ist der Stil. Wer nun aus dem Stil hinausdrängt, wer an dem Individuum wieder die richtige, möglichst ungeschminkte Natur sucht, wer das in der Natur des Menschen liegende Verallgemeinern somit wieder auf den Fuß der Wahrheit stellt, ist mein Mann. Ich stehe hierbei inmitten des modernen Kunstlebens und der heftigen Gegnerschaft wider die, welche ‹Idealismus› vom Künstler als bewusste Eigenschaft fordern, während ich nur den unbewussten gelten lassen kann, ersteren für Lüge halte. Unsere Briefe beginnen lawinenartig anzuschwellen. Ich beeile mich daher, zum Ende zu kommen und auch für Dich, liebe Mary, noch einen Gruß speziell zu bringen. Ich beklage es, dass wir noch nie längere Zeit miteinander gehaust haben und werde zuschauen, ob mir ein gütiges Geschick Geld und Zeit gibt, einmal etwas längere Zeit in Graz bleiben zu können. Mit herzlichen Weihnachtswünschen Cornelius Gurlitt […]

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Cornelius Gurlitt (um 1908/10), Originalaufnahme Martin Herzfeld, Stadtmuseum Dresden CORNELIUS GURLITT wurde am 1. Januar 1850 als Sohn des Landschaftsmalers Louis Gurlitt in Nischwitz/Sachsen geboren. Nach dem Besuch der Baugewerbeschule in Gotha absolvierte er eine Zimmermannslehre und war im Büro Ludwig Bohnstedt in Gotha tätig. 1867 wurde er an der Berliner Bau-Akademie aufgenommen und setzte 1868 das Studium der Architektur an den Technischen Hochschulen in Wien und 1869–1872 in Stuttgart fort, unter anderem bei Theodor Vischer und Wilhelm Lübke. Nach vergeblichen Versuchen, sich als Architekt in Wien (1868/69), Kassel (1872/73) und Dresden (1873–11875) zu etablieren, war Gurlitt ab 1879 als DirektorialAssistent am Kunstgewerbemuseum in Dresden tätig. 1889 wurde er, ohne ein KunstgeschichteStudium absolviert zu haben, aufgrund seiner Publikationen von Anton Springer an der Universität Leipzig promoviert und im gleichen Jahr an der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg habilitiert. An der Technischen Hochschule Berlin-Charlottenburg war Gurlitt ab 1889 als Privatdozent tätig, bevor er 1893 als Professor für Geschichte der Baukunst an die Technische Hochschule in Dresden berufen wurde. Obgleich er selbst nicht als Architekt hervortrat, nahm er wesentlichen Einfluss auf die zeitgenössische Architektur. Wissenschaftsgeschichtlich bedeutsam sind Gurlitts Publikationen zur Barock-Architektur, in denen er noch vor Heinrich Wölfflin und Alois Riegl eine Aufwertung der Architektur des 17. und 18. Jahrhunderts vertrat. Als einer der ersten bestand er dabei auf eine distanzierte, wesentlich auf Baubefund beruhende Formanalyse als Grundlage der Interpretation. Sein Einfluss als Hochschullehrer, Gutachter und ArchitekturKritiker auf die zeitgenössische Architektur, Raumkunst und den Städtebau war bedeutend. Unter anderem promovierte er neben zahlreichen weiteren Architekten Hermann Muthesius. Neben seiner Zusammenarbeit mit Fritz Schumacher und Hans Poelzig für die Reformbewegung um 1900 unterstützte er als Herausgeber Veröffentlichungen von zahlreichen Architekten, darunter Bruno Taut. Ab 1910 war er zusätzlich Leiter des von ihm gegründeten Städtebaumuseums. Gurlitt verstarb am 25. März 1938 in Dresden [Bundesarchiv Koblenz]. 122

Cornelius Gurlitt. Modern „Barockforscher“ and the Interconfessional Family History Evonne Levy Cornelius Gurlitt, born on the first day of January in 1850 to the painter Louis Gurlitt and his wife Elisabeth Lewald Gurlitt, saw himself as a modern man. It is striking that in two preserved snapshots we see him embracing the great new technologies of his day: on a family outing in a hot air balloon and on a landing strip by a prop plane. He was unusual in his times for having taken an oceanic voyage when he travelled to New York in 1925 to the International Town and Regional Planning Commission.1 While he was at the conference, the central issue of which was the very modern problem of traffic, Gurlitt reacted to the great metropolis. He expressed awe for the jagged peaks of the New York skyline („fantastic“), and understood the exigency of scale and density in the metropolis. Yet he was critical of the underlying passivity the large-scale buildings suggested: „The skyscrapers have dignity for everything great [large in scale] has dignity, but it seems to me they take away the individuality from the thousands of clerks who work in them. You say you don’t like militarism in America, and you are right, but the workers in your big buildings do not do things of their own volition. They are obeying orders from many people all day long. The men who live and work here seem more like numbers.“ As a German nationalist formed in the 1870s and 1880s, Gurlitt saw the city and its architecture through the lens of the individualism that he had identified in the late 1880s in his trilogy of books on baroque architecture as characteristic of the German nation, even and especially once unified. In his openness and modernity, both professional and personal, Gurlitt struck a striking contrast to one of the „Ästhetiker“ he never wanted to be: the art historian Heinrich Wölfflin. When the patrician Swiss professor was invited to give the inaugural address for an exhibition of German art at the Metropolitan Museum in 1909, Wölfflin declined. What would be the point? Gurlitt by contrast crossed the ocean and engaged with the problems of modern life. His life was a continual process of self-invention, entrepreneurially moving into new professional contexts as quickly as they developed. Not much of a student, but interested in architecture, he attended the Stuttgart Polytechnikum but never finished his degree. He apprenticed with architects, and worked in some architectural offices in his 20s. When the 1880 inflation hit Germany he looked 123

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for other opportunities. We know Cornelius Gurlitt’s activity as a cultural journalist from a compact monograph by Jürgen Paul, who painstakingly reassembled Gurlitt’s extensive writings over decades.2 For in addition to his numerous books, he wrote for journals and feuilletons not just on architecture but on a wide range of topics informed by his varied professional activities. He became curator of Dresden’s Kunstgewerbeschule and began archival research on Saxon architecture, stimulated by the rapid changes to Dresden’s cityscape. He was a self-taught urban planner and founder of monuments protection in Germany, contributing massively to the inventories of Saxon architectural monuments. Gurlitt did not consider himself an art historian, but he made major contributions to the history of architecture. And in particular, he did more than anyone to legitimize baroque architecture. Cornelius Gurlitt’s greatest legacy in architectural history was his trilogy on baroque architecture: 1500 pages in three volumes, the first true survey of Italian, French, Belgian, Dutch, English and especially German baroque and rococo architecture populated by many plans and elevations he newly commissioned for the publication.3 I have written elsewhere about the genesis of the books, Gurlitt’s travels to study architecture, previous publications, and his main interlocutors.4 Here my focus is on the historical and familial context, both confessional, that motivated the form and principal message of the trilogy, namely, that the German baroque was an important chapter as much in architectural history as in the history of the German nation.

Gurlitt’s audience To understand the baroque trilogy it is important to keep in mind the audience to which Gurlitt wrote. His model was not the historian and art historian Jacob Burckhardt, who he did admire. He sent the elderly Burckhardt the baroque books noting that his generation did not have to overcome the prejudices towards the baroque held in Burckhardt’s day.5 The art historians Wölfflin and Riegl were not his models either, though they both read and were dissatisfied by the lack of a broader definition of the baroque in Gurlitt’s work.6 Rather, Gurlitt’s model was Wilhelm Lübke, who Gurlitt encountered at the Stuttgart Polytechnikum. Lübke was a popularizer, and Gurlitt defended his books on several occasions for bringing art history to the people. Whether in his books or his journalism Gurlitt declared that he wrote not for the „Ästhetiker“ but for the Frau Buchholzes, referring to the protagonist of the wildly popular series of novels by Julius Stinde about a middle class Berlin family.7 Frau Buchholz, who reads novels and attends concerts to improve her mind, complained in Sketches of Berlin Life about „that woman Bergfeldt!“ who has „not a particle of culture about her.“ People like her „never take up an edifying book or an instructive newspaper but sit the whole day drinking coffee and eating cakes.“8 She becomes an authoress when she receives an unexpected honorarium for a letter she wrote to 124

Cornelius Gurlitt

a local newspaper complaining about the indecency of a children’s play.9 Gurlitt’s identification of his readers with the Frau Buchholzes also had to do with Stinde’s characterization of them as patriotic Germans – a torchlight procession to honor Bismarck on his 70th birthday moves the Buchholzes to tears. Afterwards, the family retreats to the privacy of their home to discuss the event and to read aloud the biography of Bismarck by Ernst Scherenberg, who had been a great supporter of the Kulturkampf.10 Frau Buchholz thought being a member of the German polity was a simple matter: one did not need to know about the Neolithic origins of Germans– one only needed to know „he is a German and his duty is to love his fatherland and his emperor with all his heart.“11 In writing for the Frau Buchholzes Gurlitt positioned himself as an outsider to academia. He wrote for the gebildete Publikum; and he wrote to patriotic Germans.

The Baroque Trilogy and Its Confessional Political Framework Although Gurlitt’s trilogy was criticized by Alois Riegl as failing to see the forest through the trees, Gurlitt’s trilogy was in fact a systematic work. Its coherence derives from its rigorously adhered to historical-political framework, finding a place for the baroque in the Hegelian teleology of German unification. In my reading of the trilogy, the entire work, that is, the first volume on the baroque in Italy, and the second volume on France, Belgium, Holland and England, all help to explain the Germanic baroque, the subject of the third volume. Let me briefly describe what is contained in these volumes, their overarching conceptual armature, and why Germany’s ba­ roque is the culmination of all that went before.12 There are two interrelated cultural-historical elements that structure the entire trilogy. The first is the role of political unification (the formation of states) in the early modern period as the key to the emergence of a monumental baroque architecture. For Gurlitt, in the history of ba­ roque architecture one found a history of state-formation and unification: partially achieved in Italy, and fully achieved in England, France and Italy, but of course achieved only very belatedly in Belgium and most belatedly by Germany in the nineteenth century. The second cultural-historical structuring element of the trilogy are the confessional differences between Catholics and Protestants, the defining factor in Germany’s difficulty in uniting as a nation. In architecture both confessional differences and the lawful organization of a centralized state will play out in a foundational polarity between a rule-bound classical architecture (alternately aligned with Protestant and Catholic nations) and a „free“ baroque architecture (always Protestant at heart). These differences, which can be found in baroque architecture all over Europe, are already set on their course in the Renaissance. This is how Gurlitt opens the first volume. 125

Evonne Levy

For Gurlitt the work of the Renaissance architect Palladio displays the rule-bound mentality. This means that the architecture was a product of a kind of social and political order based on lawful relationships, as on logic and reason. Gurlitt saw this good form of lawfulness in particular historical situations: in Rome as long as the idea of religious reform was operative, in England and Holland, and in France with philosophical scepticism under Louis XIV; and in eighteenthcentury Germany and Italy under French influence and the classical movement that followed.13 The rule-bound however had a negative side; during the Counter-Reformation those rules became too binding, forcing conformity and uniformity of belief; Counter-Reformation rules stood in contrast to the „ruling principle of subjective meaning“ of the Protestant Reformation. Architecture produced in the Counter-Reformation spirit was not only found in Italy but was disseminated, particularly by the Jesuits, to many parts of Europe; the application of rules in Jesuit architecture became clinical and superficial. Gurlitt is extremely attentive to works of architecture that in his view lacked invention and individuality (Eigenartigkeit) in their adherence to rules: he contrasts the imagination of Protestant subjectivity to this kind of cookie-cutter architecture produced by the Jesuits. That was the negative strand of the rule-bound classicism that originated with Palladio. Yet Gurlitt could find a positive aspect in the rule-bound architecture of Italy because he saw Italy, where Palladio worked, as moving in the positive direction of political unification. Both the Roman Church and the Tuscan court of Cosimo I were erecting modern states on absolutist monarchical principles that created the underlying condition for the baroque to emerge. „The effort“ he said, „was to set these endeavors on lawful lines, to arrange things without the influence of brute force, to move from military dictatorship to the rule of law. This inner drive towards lawfulness, this strict notion of duty towards the public, the subsuming of the individual under the whole, this conception of things that turns to the whole over the parts, to the group over the individual; it is this … which dominates the architecture of that time.“14 In this trend towards unification the Italians were taking the lead, organizing individual subjects (die Einzelnen) under the whole (das Ganze), or the state. Although Italy would not yet unite as a nation, Gurlitt saw sufficient seeds in papal and princely political organizations to justify the unified architectural forms of the baroque. In architecture formed of classical components this usually meant that individual elements like columns and pilasters, niches, pediments and pedestals were organized into a whole composition. The concept of political unity is thus directly translated into architectural terms, a convergence of the formal imaginary of the state in political thought and a language of formalism evolving in art history. This political language of formalism was not unique to Gurlitt. His contemporary Wölfflin was using very similar terms of parts and wholes, projecting the relations between subject and state onto churches, palaces and other buildings, though they had different politics, so they saw different things.15 126

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On the other side of Palladio’s rules was Michelangelo, father of the baroque, the „titan of individual will“ (Wollens), and of personal feeling (Empfindung) who chose the path of free imitation. From Michelangelo’s assertion of an inner will (Wollen) against the rules arose the ba­ roque. Because Gurlitt aimed ultimately to define a (good) German baroque, whose principle of subjectivity was a product of German Protestantism, Michelangelo’s project, born in Catholic Italy, must remain an unfinished one.16 The baroque would not arise as a result of Michelangelo’s teachings and work but in a „world city“, Rome, and for a „world power“ (the Catholic Church), for the baroque is an art of power and great scale, of Grösse. The Counter-Reformation Church enforced unity of belief and diffused it throughout the world. Yet ultimately this unity was built on faulty ground, on a faulty relationship between part and whole, between individual and Church. It will become clear in Gurlitt’s account that it is only in Germany that the right relation will prevail. In the second volume of the trilogy, Geschichte des Barockstiles, des Rococo und des Klassicismus in Belgien, Holland, Frankreich, England (Stuttgart 1888), Gurlitt assesses the classical and baroque moments in England, France, Belgium and Holland, according to the organization of the state and confession. So, for instance, Belgium is the place where, in spite of the presence of the au­ thoritarian and cosmopolitan Jesuits, an imaginative architecture arose because the people were fundamentally Germanic. Their Protestant spirit allowed them to transcend their Catholicism. This explains how an imaginative, inventive highly individual baroque could be found there. The Antwerp Jesuit church provided a good example of the mixed situation in Belgium: the façade shows a confusion of richness and a powerfulness that is typical of the Jesuits while the fundamentally Germanic Belgian spirit still finds expression in the rational clarity of the interior.17 France, the preeminent unified nation and Protestant for a time but then Catholic again, was complicated for Gurlitt. He sees the political unification under Louis XIV as positive, but accomplished in the wrong way. At the Royal Chapel at Versailles, the upper level, occupied by the King, was completely separated from where the people gathered below. So the architectural form showed a king separated from his people rather than bound to them.18 But French classicism and the rationalism that was behind it was so diffused in Europe that Gurlitt needed to justify its influence. He did so by arguing that even though the French kings returned to the Catholic Church, they did so on their own terms: the lesson from France is that political unity of the strong state resulted in independence from Rome. In England Gurlitt saw fertile ground for the baroque because by the seventeenth century it had become a powerful and unified, rational mercantile nation. And, also very positive, Protestantism had taken hold in England without opposition. Because Protestantism entered England uncontested, England’s earlier Gothic architecture could happily coexist with modern baroque forms. In other words, architectural style did not register opposing confessions as it did 127

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elsewhere. And even after the official return of Catholicism to the court under Charles I, Gurlitt sees a strong Protestant spirit remaining in the people. So when Christopher Wren designed the Catholic St. Paul’s Cathedral he mediated the Catholic court’s desire for pomp and the desire for the contrary on the part of the Protestant people. Architecturally this meant that Wren married the strong centralized dome (a protestant form for Gurlitt) to the longitudinal plan of Catholic processional churches.19 What is more, the very fact that the English were able to complete St. Paul’s so quickly stood as a testament to English power and in stark contrast to Cologne Cathedral, whose incompletion stood as a testament to Germany’s failure to unite as a nation because of its confessional differences. The themes of all three volumes of Gurlitt’s baroque trilogy are remarkably consistent because he sees the entire period through the optic of the organization of the state and confessional identity. He dismantles the idea that the history of baroque and rococo architecture is a story of the shift from Italian to French cultural hegemony. In its place he inserts a complicated narrative of how combinations of the two ideal conditions – of a unified state and of Protestantism – interacted in the creation of baroque architecture in a confessionally-divided Europe. All of this is explicit in the text of the first two volumes. But the table of contents of the final volume on the German baroque immediately signals the distinctiveness of the German situation. Whereas the chapters of the Italian volume were dedicated primarily to individual architects, and the chapters of the second volume to a combination of individuals and regions, those in Gurlitt’s volume on German baroque architecture encapsulate late nineteenth-century Germany’s struggle to define itself as a cosmopolitan but singular nation. The first part of the book is divided by confessions or political forces of confessional diffusion: the Jesuit style and then the Protestant, Huguenot, and Catholic baroques. These chapters constitute the heart of the book. In addition to the four chapters on confessional architectures there are three chapters on German regions. A final chapter on the French masters takes on Germany’s former occupier and cultural nemesis. The regional sections reflect the struggle in Germany after unification to balance nationalism and particularism, a goal that was accomplished by the Heimat movement of the 1870s. All of the problems imperfectly addressed in other parts of Europe governed either by a Protestant spirit or by political unification find their solutions in German buildings. For example, in Georg Bähr’s Frauenkirche, a culminating work for Gurlitt, the problem of the Protestant church absorbs elements of the Catholic church like greater attention to the high altar amidst a fundamentally congregational type, dominated by seating to hear the sermon.20 And in the Berlin Schloss Gurlitt sees Andreas Schlüter creating a form of architecture that conveys the prince binding himself to his people  – thus correcting the mistake of the Royal Chapel as Versailles where the king was situated high above the people.21 All of this is a kind of fantasy of architectural forms and design motivated by a desire to write history for the present. 128

Cornelius Gurlitt

The Message: German unification across confessional diversity Gurlitt’s message in the late 1880s when he worked on the baroque trilogy was that baroque architecture had a lesson for contemporary Germans. Gurlitt worked on the final volume on the German baroque in 1887, the year the Kulturkampf, was brought to a close. When Germany achieved unification in 1871 under Prussia, neither its political divisions nor its religious differences were magically swept away. The Kulturkampf attempted to repress Germany’s Catholics so as to achieve the fulfillment of the long-dreamed-of goal of a unified state under Protestant Prussia. Provoked by the papal syllabus of 1870, Bismarck passed numerous measures to ensure the loyalty of German Catholics to the Reich over the pope. But by 1887 most of the oppressive laws of the Kulturkampf had been repealed: Germany was going to have to live with its internal religious differences. As Helmut Walser Smith put it, 1887 marked a decisive shift in defining Germany’s problem: prior to this moment confessional conflict focused on the separateness of Germany’s „two nations“, whereas after 1887, Germans sought confessional integration.22 From the late 1880s, German historians endeavoured to rewrite Germany’s history as that of a unified though confessionally heterogeneous nation. There was no more important historical account for Germans of the Second Reich than Heinrich von Treitschke’s Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert.23 In it Treitschke recounts the slow march to German unification in the nineteenth century, beginning with a revisionist argument about the moment of the foundation of modern Germany. He starts not in the Reformation but with the Peace of Westphalia in 1648, rooting a modern unified German state in the aftermath of a devastating war. To begin at this moment was to break through the thicket of confessional debates amongst historians about the meaning of the Thirty Years’ War: was it a religious war, as Protestants insisted, that sowed the seeds of a resilient national character, or a political war, as Catholics claimed, that marginalized them in the German nation? The Protestant point of view prevailed and went further in making a virtue of Germany’s religious heterogeneity.24 Treitschke, although a Protestant and anti-Catholic, defined Germany’s essential characteristic as the religious freedom that became possible because of the separation of church and state that resulted from Luther’s reform.25 In Treitschke’s widely read lectures published as Die Politik, Prussia took the lead in establishing this principle of tolerance — „freedom of religious belief.“ The result of this freedom, which Prussia established as law — Prussia as lawgiver guaranteeing freedoms was another important theme in Treitschke’s Deutsche Geschichte — was the constitution of German life in what he calls „variegated assembly.“26 Germany’s unification of Catholics and Protestants is the triumphal outcome of Treitschke’s history of modern Germany. 129

Evonne Levy

Treitschke’s was „not a German history but the German history,“ and it became the „gospel of German patriotism, to be taken on faith.“ As such it „made its way into thousands of German homes.“27 Gurlitt’s father read the histories of Treitschke, Heinrich von Sybel and Leopold von Ranke with pleasure and we can be certain that Cornelius Gurlitt read them as well.28 Treitschke’s Deutsche Geschichte is only one key historical intertext for Gurlitt’s trilogy, but in my view it constitutes its guiding light. Three core political themes thread through Gurlitt’s account: confessional freedom, unity, and the ideal relation of the individual to the state, a relation which does not suppress individuality. Indeed, Gurlitt’s text complements Treitschke’s so well, structured as it is by the lengthy passages that describe historical circumstances, that his books could be described as the architectural companion volumes to Treitschke’s. Gurlitt’s thinking thus differs wildly from that of his contemporary Wölfflin, who was suspicious of cultural-historical explanations for stylistic change and isolated works of art from their historical circumstances. But his ambition was close to that of Wilhelm Lübke, who aimed explicitly in his „Geschichte der deutschen Renaissance“ (1872) to write the history of architecture as a chapter in the history of the nation.29 Gurlitt took up this national narrative for architecture, promoting formal unity as the great achievement of the baroque style and the key to the political code of the text; that modern unified Germany originated in the baroque era, at the moment when the German feeling for unified form first arose. But the Germans had to learn unity, and in his trilogy Gurlitt traces how other states, those like France and England, which successfully unified long before Germany, manifested political unity in built form. In showing how a unified baroque architecture appeared in Germany long before the formation of the Second Reich, Gurlitt showed Germans that they were at heart a unified nation and it was the architects of authentic German spirit who had been able to show it first. The political philosophy that shaped Gurlitt’s baroque was in turn fundamentally shaped by his family history insofar as the Gurlitt family itself strongly mirrored Germany’s confessional politics.30 In particular, the formation of Cornelius’s immediate family by his father Louis Gurlitt encapsulates the vicissitudes of Germany’s confessional history in the nineteenth century. Louis Gurlitt was a Protestant who married twice outside his confession. His second marriage to Julie Bürger from Mannheim was opposed by his parents as she was a Catholic. He reassured them that Mannheimers were tolerant and that mixed marriages were becoming a daily occurrence. Yet one year later, when Julie fell mortally ill in Rome, a Catholic priest who came to her bedside was not tolerant. Louis Gurlitt blamed the „fanatical monk“ for so frightening her for the fate of her soul that he caused her death. It is said that he bore a grudge against the Catholic Church for the rest of his life. Louis Gurlitt’s third wife and the mother of Cornelius was Elisabeth Lewald, a convert to Protestantism from Judaism. Thus the Gurlitt family was truly a mosaic of Germany’s confessions; it is a family that could not have been formed without equal measures of tolerance and assimilation. Gurlitt’s history of German baroque architecture carries the perspective of the 130

Cornelius Gurlitt

family history. It tells the story of baroque architecture from Catholic, Lutheran and Huguenot points of view; and its telos is the unification of the confessions though always with a more decisive Protestant note. Cornelius Gurlitt’s initial interest in baroque architecture had a good measure of provocation, since the baroque was still considered in bad taste in many circles. But his treatment of it was a deeply considered one. The trilogy was wildly ambitious in its scope — so many buildings discussed together for the first time — and a national project, an ideologically coherent work. With it Gurlitt conveyed and encouraged tolerance and understanding. As the historian Fritz Stern pointed out long ago in his classic study of the roots of National Socialism, Gurlitt was of the generation enthralled with the conservative cultural nationalism of Julius Langbehn and Paul Lagarde.31 The baroque trilogy was written in a period of intense contact of the Gurlitt family with Langbehn in Dresden and Gurlitt reviewed books by both figures.32 But the kind of nationalism that Gurlitt arrived at in the late 1880s put Gurlitt into the ideological bind in which many Germans of Jewish extraction found themselves in the 1930s. The tolerance his work promoted in the late 1880s did not prevent him late in his life from supporting Adolf Hitler in spite of the confusion about his status in the National Socialist racial categories.33 We do not know his reaction to the regime’s denial on racial grounds of his son’s request that his father, an admirer of the Führer, be honoured on his 85th birthday in 1935 by official recognition or a photograph. We can with confidence surmise that he would have taken it as a devastating betrayal of his deep love for Germany and for his own family, with its Catholic, Lutheran and Jewish parts.

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Ludwig Gurlitt, 1925, Foto Else Seifert, Anacapri In: Die Pädagogik in Selbstdarstellungen, hg. von Erich Hahn, Bd II, Leipzig 1927, S. 26 LUDWIG GURLITT wird am 31.  Mai 1855 in Wien geboren. Sein Vater, der zweifach verwitwete Landschaftsmaler Louis Gurlitt (1812–1897) aus Altona, war mit seiner dritten Ehefrau Elisabeth, geb. Lewald, Mitte der Fünfzigerjahre in die Habsburgermetropole übergesiedelt. Als dem Vater Schloss Mönch(s)hof in Siebleben bei Gotha zur Verfügung gestellt wird, kehrt die Familie 1859/60 zurück nach Deutschland. Ganz besonders die höhere Schule, das Ernestinum in Gotha und das Gymnasium zum Heiligen Kreuz in Dresden, war eine Tortur; dennoch ab 1875 Studium der Altphilologie in Göttingen, ein Gastsemester in Berlin. 1878 Promotion zum Dr. phil. über Ciceros Briefe. Von Dezember 1879 bis Juni 1880 Hauslehrer in Griechenland, wo er mit seinem Bruder Wilhelm auch die Peloponnes bereist; 1880 nachgeschobenes Staatsexamen in Göttingen; 4 Monate Hilfskraft am Berliner Antiquarium, dann Probelehrer an der nach seinem Vorfahren benannten Gelehrtenschule des Johanneums in Hamburg, ab Herbst 1883 Hilfslehrer am Falk-Realgymnasium in Berlin, 1886 erste Festanstellung am Progymnasium in Steglitz, wo er bis zum 1. April 1907 seinen Dienst ausübt. Ende 1903 Titularprofessor; seit der Jahrhundertwende größere öffentliche Aufmerksamkeit durch harsche Bildungskritik und Texte zur Schulreform. Mit der „Wandervogel“-Bewegung, gegründet von ehemaligen Schülern, sympathisiert er. Nach anhaltenden Querelen mit der Schulbürokratie Frühpensionierung. Weiterhin große Resonanz zwischen Zustimmung und Ablehnung als öffentlicher Redner und pädagogischer Autor. Verschiedene Versuche, Erziehungsheime zu gründen, ohne nachhaltigen Erfolg. Am 12. Juli 1931 stirbt Ludwig Gurlitt in Freudenstadt; beigesetzt wird er auf dem Pragfriedhof in Stuttgart. 132

Ein Bildungsreformer, der „sein Handwerk treibt wie ein Künstler“. Ludwig Gurlitt Ursula Renner Der Bildungsreformer als Künstler  – diesen Gedanken hat Hugo von Hofmannsthal über einen der bemerkenswertesten Repräsentanten der Schulkritik im deutschsprachigen Raum vor dem Ersten Weltkrieg geäußert.1 Um die Stoßrichtung von Gurlitts Kritik verständlich zu machen, bedarf es zunächst einiger bildungshistorischer Vorbemerkungen, danach wird es um Gurlitts Erfahrungen in Familie und Schule gehen, dann um die Resonanz seiner Ideen in der Öffentlichkeit, exemplarisch aufgezeigt an Hofmannsthals Einsatz für Gurlitt in Österreich und Gurlitts Verhältnis zu seinem Schüler Rudolf Pannwitz. Im Ruf nach grundlegenden Reformen bündelt sich um 1900 Kritik am staatlichen Bildungssystem.2 Kinder und Jugendliche sollen zu ihrem natürlichen Recht, zu ihrer natürlichen Entwicklung kommen. Damit werden revolutionäre Gedanken des 18. Jahrhunderts unter den Bedingungen der Industriegesellschaft wieder aufgegriffen. Friedrich Nietzsches lebensphilosophisch begründete Ächtung des Bildungsphilisters, aber auch die kulturkritischen Positionen von Emerson, Lagarde, Langbehn und anderen Querdenkern verstärken diesen Diskurs, der die Kritik mit einer Vielzahl weiterer Verlautbarungen in die Öffentlichkeit trägt. Der Bildungsimpuls öffnet neue Felder, wenn man nach der kindgerechten Entwicklung vor der Schule, dem Erlebnis der Jugend innerhalb und außerhalb der Schule, der Erwachsenenbildung nach der Schule fragt, und wenn namentlich, wie im Wahlrecht, die Gleichberechtigung der Frauen zu verwirklichen ist, um Anschlüsse an die ‚moderne‘ Gegenwart herzustellen. Schulische Neugründungen experimentieren mit Unterrichtsund Lebensformen von Jugendlichen. Gesetzliche Neuregelungen werden entworfen und eingefordert. Im Bereich des Gymnasiums wird die überlieferte Orientierung am philologischen Wissen kritisiert, man verlangt mehr Kreativität, mehr körperliche Bewegung, mehr Naturwissenschaften, mehr Praxisbezug. Die Debatte wird verstärkt in der zeitgenössischen Literatur: die (Leidens)Geschichten von Schülern erzählen Frank Wedekinds Generationendrama Frühlings Erwachen (1891),3 Emil Strauß’ Schulroman Freund Hein 133

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(1902), Rainer Maria Rilkes Turnstunde (1902), Heinrich Manns Professor Unrat (1905), Robert Musils Verwirrungen des Zöglings Törleß, Hermann Hesses Unterm Rad (beide 1906) und Felix Huchs Mao (1907), um nur einige prominente Beispiele zu nennen.4 „Wenn ich jetzt den Roman von Emil Strauß Freund Hein lese“, schreibt Ludwig Gurlitt im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts, „so finde ich darin all meine ehemaligen Schulstimmungen wieder.“5 Die öffentlich gemachten Missstände des Schulsystems bereiten den Weg für die neue Psychologie des Kindes und begründen den Ruf der Pädagogik nach einer kindgerechten Reform von Schule und Unterricht: „In unserer Zeit“, so Ludwig Gurlitt in seiner Schrift Der Deutsche und seine Schule (1905), „erwacht ein tieferes und lebendiges Verständnis für die Psyche der Jugend. Eine an Haß grenzende Mißachtung gegen die bisher herrschende herzlose Abrichtung des Kindes für seine künftigen Berufszwecke ist zuerst in den Romanen feinsinniger Frauen zum Ausdruck gekommen. Daran schlossen sich Aufsehen erregende Schülerromane, und Schul-Schauspiele. Diese zu lesen sollte sich jeder Schulmann angelegen sein lassen. Sie zeigen uns gewöhnlich den Revers der Medaille, das Spiegelbild unserer Arbeit, wie diese nämlich auf die Objekte unserer Erziehung wirkt.“6 Gurlitts pädagogische Kritik lebt genau davon, dass er sich selbst als Objekt der Erziehung erlebt hat und subjektiv daran erinnern will: Ich möchte meinen Freunden nachweisen, wie ich Reformer geworden bin, sie davon überzeugen, daß ich keiner […] Mode gefolgt bin, sondern dem unentrinnbaren Zwange meiner ganzen Entwicklung. […] Wenigstens deckt sich mein Innenleben mit dem mancher der jungen Menschen, die in den modernen Schülerromanen Interesse erregen. Nur fehlt mir bisher zu meiner Freude das tragische Ende.7

Die eigenen Erfahrungen grundieren Gurlitts Schriften. Sie bilden sich und werden sagbar vor dem Hintergrund einer selbstbewussten Künstlerfamilie, in deren Zentrum der idealisierte Maler-Vater Louis Gurlitt steht. (Abb. 1)

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Abb. 1: Die Familie Gurlitt, 80. Geburtstag von Louis Gurlitt 1892. Das Ehepaar eingerahmt von den Zwillingen Ludwig und Else, hintere Reihe (v. l. n. r.) Hans, Wilhelm, Cornelius, Otto, Fritz. Foto: Privatarchiv Elizabeth Baars, Hamburg.

Die Künstlerkinderzeit Ludwig Gurlitt wird am 31. Mai 1855 in Wien geboren; wenige Stunden später, am 1. Juni, die Zwillingsschwester Else.8 Der zweimal früh verwitwete Vater Louis Gurlitt (1812–1897) hatte sich nach Stationen in Berlin und Nischwitz (Sachsen) mit seiner dritten Ehefrau Elisabeth, geb. 135

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Lewald, Mitte der Fünfzigerjahre in der Habsburgermetropole niedergelassen. Er hoffte dort auf einen besseren Absatz für seine Bilder, „denn dort findet sich“, schrieb er seinem Künstlerfreund Friedrich Hebbel, „wie sonst nirgend in Deutschland in dem Grade, ein reicher Adel und Bürgerstand.“9 Die Hoffnung erfüllte sich nur bedingt, und so kehrte die Familie 1859/60 zurück nach Deutschland. Dem Vater war der Mönch(s)hof in Siebleben aus dem 18. Jahrhundert von Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha als Atelier und großräumiger Wohnsitz zur Verfügung gestellt worden.10

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Abb. 2: Schloss Mönchhof (unten links), Postkarte um 1900, Privatbesitz. Seine Kindheit hat Ludwig Gurlitt als zwiespältige Erfahrung von glücklichem Kinderparadies im Elternhaus und quälender Schulwelt beschrieben. Während die Volks- und Bürgerschuljahre noch halbwegs glimpflich verliefen – die Eltern hatten den mit Schlagstock arbeitenden Lehrern 137

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auf dem Dienstweg körperliche Züchtigung untersagt –,11 war die Kinderzeit definitiv zu Ende, als er mit 8 Jahren auf das humanistische Gymnasium in Gotha, dann in Dresden kam. „Ich mußte in das Gymnasium gehen, weil mich meine Eltern dort hinschickten und weil ich sonst in Deutschland nichts hätte erreichen können. Es hat aber niemals ein Mensch danach gefragt, ob ich in diesem angeblichen Neste mich irgend wohl […] fühlte. […] Mein Nest ist mein Elternhaus […]. Mein Nest ist mein Vaterland, dem ich in Treue diene.“12 Der Schüler litt unter unfähigen Lehrern und Schulstress, war häufig krank, blieb mehrfach sitzen (Sexta, Quinta, Tertia, Prima). Den Glaubenssätzen des protestantischen Religionsunterrichtes kann er nicht folgen. Selbst als sein Halbbruder in der Tertia sein Griechischlehrer wurde, änderte das nichts an seiner misslichen Situation. „Da ich in hartem Kampfe mit der griechischen Formenlehre stand, Wilhelm [Memo] sich aber zu meinen Gunsten keiner Ungerechtigkeit vor der Klasse schuldig machen wollte, so wurde dieses Halbjahr die einzige trübe Strecke in dem Lebensweg, den ich mit ihm gemeinsam ging. Väter oder Brüder sollten nicht zugleich Lehrer in der Klasse sein.“13 Immerhin schafft Ludwig Gurlitt 1875, mit Zwanzig, dann doch das Abitur. Scham und Kränkungen haben, wie Selbstzeugnisse an vielen Stellen belegen, tiefe Spuren hinterlassen. Intelligent und ehrgeizig, schämt er sich für seine Noten. Entlastend wirkt, dass der Schule als Institution von den Eltern, insbesondere vom Künstlervater, wenig Anerkennung entgegengebracht wird. Und dass alle Brüder schlechte Schüler waren. Später sieht er das Problem des Schulkonfliktes auch in der Familie begründet, allerdings ohne sie dafür anklagen zu wollen. Schule und Elternhaus waren definitiv Parallelwelten. „Zum Glück waren meine Brüder nicht bessere Schüler, so daß ich die Beschämung nicht allein und nicht zu schwer zu tragen hatte. / Jetzt [1927] weiß ich, daß unser von künstlerischem Geist erfülltes Leben im Elternhause, unsere Sommerlust in Siebleben und die Gleichgültigkeit meines Vaters den Schulerfolgen gegenüber schuld waren, aber nicht das allein, sondern auch die Lehrstoffe und die Methoden, mit denen wir während unserer ganzen Kindheit gequält wurden.“ Die Kehrseite der Misere: „Wir Geschwister schufen uns neben der Schule das, was heute alle führenden Pädagogen erstreben: eine Arbeitsschule. Unsere Kinderstube war wie eine Akademie der Künste.“14 Die öffentliche Schule als Anstalt aber hängt als Damoklesschwert über der ganzen Familie, betrifft vor allem die Mutter. Sie, eine Schwester der bekannten Schriftstellerin Fanny Lewald, habe er in dem wenig frommen Haushalt nie „inbrünstiger Gott anrufen hören“, als an jenem Tag, als „der letzte ihrer Söhne aus der Schule entlassen wurde“, schreibt Gurlitt. Und, so der Sohn weiter, „[n]och heute“, 1905, „denkt die Achtzigjährige mit Grausen an all die Verhandlungen mit ungnädigen Direktoren, Ordinarien, an die jährlichen 4x7=28 zumeist recht mäßigen Zeugnisse (in Summa während ca. 40 Jahren etwa 350 Stück) – an das Sitzenbleiben, die Tadel, Arreste, an die Verstimmungen des alternden Vaters […], an die Vorwürfe der Tanten und all die weiteren Qualen. Erst als die Schulzeit vorbei war, zogen Friede und Ruhe, Behagen und Glück wieder ins Elternhaus ein.“15 138

Ludwig Gurlitt

Was überrascht: Dieser wahrhaft leidgeprüfte Schüler wird Lehrer, eine Berufswahl im Modus der Ambivalenz, verschärft nicht zuletzt dadurch, dass der bewunderte Vater, der viel gereist war und ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein als Künstler hatte, nicht nur die Schule, sondern im Grunde auch die Bücherbildung für sekundär hielt: „‚Eine Hand, von Michelangelo modelliert, ist mehr wert, als all die 100 Bücher und Essays, die über ihn geschrieben worden sind‘“, zitiert ihn sein Sohn.16 Was diesen Künstlervater allerdings nicht davon abhielt, in den sechziger Jahren einen Professorentitel anzunehmen, den ihm sein Gönner Herzog Ernst persönlich verliehen hatte. Und da ist im Haus und später in der Ferne die unangefochtene Autorität des großen Halbbruders Memo, der „selbst keine produktiv künstlerische Anlage hatte“, aber „ein rechter Büchermensch [] war von unglaublich schneller und umfangreicher Rezeptivität. Was er an deutschen, lateinischen, griechischen, portugiesischen, spanischen, italienischen, neugriechischen, französischen und englischen Büchern gelesen und verarbeitet hat, war unübersehbar“, der die akademische Laufbahn anstrebte, und der „unserem alten Vater, der an seiner Staffelei stehend, nur für seine Kunst sann und sich wegen der Aufzucht der großen Familie sorgte, einen großen Teil der Erziehungsmühen an den jüngeren Brüdern ab[nahm]“ und „uns ein zweiter Vater“ wurde.17 Das heißt aber auch, dass über die Doppelspitze der beiden männlichen Erzieherpersonen, den geliebten und häufig lange abwesenden Vater und die Stellvertreterfigur des großen Halbbruders, ein unausgesprochenes Spannungsfeld erzeugt wurde. Als Lehrer wie als gelehrter Altphilologe tritt Ludwig Gurlitt in die Rolle ein, der sein Vater, der weder Griechisch noch Latein konnte,18 ambivalent begegnete: „Er schalt die Schulmänner und vor allem die Philologen, die auf den Gymnasien die Jungen nur dümmer machten, aber er verkehrte doch gern mit ihnen und horchte auf, wo er etwas von ihnen lernen konnte.“19 Der große Bruder Memo wollte zwar entschieden kein Schullehrer werden, aber umso mehr ein akademischer Lehrer. Dabei ging es – gleichsam der ‚gemeinsame Nenner‘ im Hause Gurlitt – um das sinnliche Erfassen von (bildender) Kunst und das Verstehen ästhetischer Grundfragen. Als Ludwig Gurlitt ab 1898 selbst in seiner Steglitzer Schule Zeichenunterricht gibt, wofür er eine unübersehbare Begabung besaß (und was ihm Nebenbezüge einbringt), entdeckt er die Unfähigkeit der Schüler zur Beobachtung, ein Erziehungsdefizit, aus dem er wiederum die Kluft zwischen Kunstsinn und Kunstgerede ableitet. „Wenn schon mein Vater hundertfach behauptet hatte, daß ihm jeder Bauernjunge vor seinen Bildern erwünschter wäre als der Gymnasialprofessor, so hatte ich jetzt als Zeichenlehrer und als Zeuge der Kunstausstellungen meines Bruders Fritz unausgesetzt Gelegenheit, die Berechtigung dieses Ausspruches anzuerkennen. Es ist nicht zu sagen, was für ein törichtes Geschwätz akademisch gebildete Leute den Kunstwerken gegenüber zutage fördern!“20 Das Erziehungsziel der Eltern war die Entfaltung der grundsätzlich guten individuellen ‚Natur‘ des Kindes. Gefördert wurden Selbstdenken und Selbstbeobachten, Kreativität und Authentizität. Die Familie, so Ludwig Gurlitt noch im Alter und mit deutlich völkisch-nationalem 139

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Ton, präge recht eigentlich die Persönlichkeit: „erstens die rechte Blutmischung durch die Eltern und zweitens ihre vorbildliche Lebensführung. Alles andere ist nur Zutat.“21 Wie man sich die ‚Nationalerziehung‘ vorzustellen hat, darüber berichtet er u. a. in seinem Buch Der Deutsche und seine Schule (1905): „In der Familie herrschten bei uns noch die fernen Nachklänge der Befreiungskriege. Am Abend sangen wir mit dem Vater bei Klavierbegleitung am liebsten Körners und Arndts begeisterte Freiheitslieder. […] Die patriotische Phrase und die Liebe zum angestammten Fürstenhause auf Kommando […] haben wir als Kinder nicht kennen gelernt. Aber gute Deutsche waren wir.“22 An der Familientafel aßen die im Hause arbeitenden Handwerker mit, und der Vater duldete nicht, „daß wir Söhne als Studenten eher an zu essen anfingen, als bis diese Gäste beisammen waren“.23 Umgekehrt war der Vater vielfach Gast bei adligen Mäzenen und Unterstützern, am Hof Friedrich Wilhelms IV etwa, oder dem jungen Kronprinz Friedrich, der ihn wiederholt besuchte; mit den Kindern des Herzogs Friedrich von Augustenburg spielte man, so dass, wie Gurlitt stolz bemerkt, „wir Gespielen unserer jetzigen Kaiserin und ihrer Schwester gewesen [sind], die meiner Schwester bis heute eine freundliche Gesinnung bewahrt haben.“24 Auf den möglichen Vorwurf der Selbstgefälligkeit reagiert er vorauseilend mit einem Plädoyer für den positiven Wert des ‚Selbstbewusstseins‘, wie es im großgeschriebenen „I“ der Engländer zum Ausdruck komme: „In diesem englischen I liegt eine Welt des edelsten Selbstbewußtseins, dieses I macht sie noch zu Herren der Erde, wenn wir uns nicht ermannen, um ihnen nachzukommen“.25 Mit einem „gesunden Selbstgefühl“ ausgerüstet, so hat es Hugo von Hofmannsthal einmal formuliert, zeigt sich die vorbildhafte ‚Persönlichkeit‘, die in der Gesellschaft so bitter gebraucht wird. ‚Persönlichkeit‘, Leitidee, Schlagwort und Diskursbegriff zugleich, Containerwort für Kreativität und Individualität, ist ein Schlüsselwort in Gurlitts pädagogischem Konzept, was wiederum auch die jüdische Mutter integrieren würde – – wenn nicht die Frauen, auch in der Familie Gurlitt, weitgehend ausgespart wären. Zum Geburtstag des 80-jährigen Malervaters 1892 (Abb. 1) malt Gurlitt mit Worten seine Familie als Tableau erfolgreicher Männer: „In fast 50 Jahren kein Toter unter neun Menschen! Von 7 Kindern keines gestorben, keines verdorben, alle 6 Söhne verheiratet, mit Kindern gesegnet und in sicherer Lebensstellung: Wilhelm Universitätsprofessor in Graz, Otto selbständiger Wechselmakler in London, Cornelius Dozent der Kunstgeschichte in Charlottenburg, Fritz Gründer und Besitzer des Kunstsalons in Berlin, ich, Ludwig, Oberlehrer in Steglitz, Hans (Johannes) Kaufmann in Altona, Else, die treue Hüterin der greisen Eltern, auch in rüstiger Kraft [,] dazu ein fröhliches Gewimmel von Enkelkindern.“26 Ganz zuletzt erst, kinderlos, in die Ursprungsfamilie zurückdefiniert, kommt Else, Ludwigs Zwillingsschwester. Von der begabten Zwillingsschwester Else ist in Gurlitts Familienrückblicken selten die Rede, ganz im Gegensatz zu ihrer integrativen und kommunikativen Funktion, wie sie sich in den Familienbriefen zeigt. Einmal heißt es: „Ich war schwächlich. Meine Zwillingsschwester war 140

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besser weggekommen.“27 Wir erfahren, dass sie sich eher „studentenhaft“ gab, was einer auf Etikette bedachten „unberufenen Erziehungskünstlerin“ (Gouvernante) ein Dorn im Auge war, woraufhin der Vater nicht die Tochter maßregelte, sondern sich von der Erzieherin verabschiedete.28 Else bekam eine Ausbildung als Lehrerin und übersetzte auf Ludwig Gurlitts Initiative die bahnbrechende Erziehungsschrift von John Dewey The School and Society (1899).29 Außer ihrer in der Familie vielbesprochenen „Episode“ mit dem berühmt-berüchtigten „Rembrandtdeutschen“ Julius Langbehn ist nichts über Männerfreundschaften bekannt. Else Gurlitt blieb unverheiratet und übernahm im Haushalt der Eltern „in rüstiger Kraft“ bis zu deren Tod die Rolle einer dienstbaren Tochter und Gesellschafterin, unterbrochen von Verwandtschaftsbesuchen und von Aufenthalten bei der befreundeten Yella Baronin Oppenheimer in deren großbürgerlich-aristokratischem Ambiente in Wien und Altaussee.30 Der Kultur- und Naturraum Österreichs zwischen Wien, woher seine Frau Helene Schrotzberg stammte, Graz, wo der Halbbruder Wilhelm als Archäologieprofessor lehrte, und der Sommerfrische Altaussee ist auch Ludwig Gurlitts zweite Heimat, wie er selbst schreibt.

Abb. 3: Ludwig Gurlitt mit seiner Familie am Augsbach bei Altaussee, um 1905, in: Ludwig Gurlitt, Der Verkehr mit meinen Kindern, 1907, S. 187 Die freundschaftlichen Verbindungen nach Wien gehen noch auf die vom Kunstmarkt bestimmten Beziehungen zu Aristokratie und gebildetem Großbürgertum des Künstlervaters zurück, 141

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fortgesetzt von Wilhelm Gurlitt, der in der Adelsfamilie des Hugo Graf Salm-Reifferscheidt fünf Jahre lang Hauslehrer gewesen war und 1884 in ihrem Palais Liechtenstein seine Hochzeit mit deren Pflegetochter Mary Labatt hatte feiern können.

Ein Schüler wird Lehrer Nachdem er endlich mit Zwanzig das Abitur geschafft hatte, ging Gurlitt nach Göttingen, um Klassische Philologie, Geschichte, Philosophie und Germanistik zu studieren. Er beendete sein Studium 1878/79 mit einer quellenkritischen Promotion über Ciceros Briefe.31 47 Seiten waren das damals, das Echo war positiv. Die Jobs als Hauslehrer, zunächst in Göttingen, dann bei der Familie des Bankdirektors Basilou in Athen, können als Versuchsanordnungen für eine zukünftige Berufswahl gelten.32 Als man bei den deutschen Archäologen in Griechenland seine zeichnerische Begabung entdeckte, bekam er das Angebot, für das Antiquarium des Berliner Königlichen Museums zu arbeiten  – unter der Ägide des prominenten Archäologen und Altertumswissenschaftlers Ernst Curtius, der seinen Vater bei Hof eingeführt, bei dem sein Bruder Wilhelm studiert hatte und für den Ludwig Gurlitt später in Berlin vorübergehend eine Art Privatassistent wurde.33 Nach einem Jahr des Zögerns und Ausprobierens und nachdem er auf Wunsch der Eltern ein notdürftiges Staatsexamen nachgeschoben hatte, entscheidet er sich jedoch für das Lehrerdasein und beginnt als Hilfslehrer in Hamburg. Dort verschaffen ihm die Beziehungen des in Altona aufgewachsenen Vaters Zutritt zu den Hamburger Familien, darüber hinaus öffnet ihm sein Familienname Türen, denn er wird „als alter Hamburger bewertet, da der berühmte Johannes Gurlitt, der zu des großen Napoleons Zeit den Ruhm des Johanneums begründet hatte, von den Hamburgern mit Stolz genannt wurde.“34 Für eine Festanstellung im Staatsdienst geht er zwei Jahre später nach Berlin, dann ans neugegründete, zunächst: Pro-, dann Gymnasium in Steglitz. Es ist sicherlich ganz entscheidend seine eigene Schulgeschichte, und deshalb sei sie im Folgenden etwas breiter dargestellt, die Gurlitt zu einem der lautstärksten Befürworter der Bildungsreform um 1900 machte. Hartnäckig, unbequem, unausgewogen zuweilen, besteht er auf der 1. Person Singular und erhebt mit betätigungslustiger Entrüstungsfähigkeit seine persönliche Stimme in der Kampfzone ‚Schule‘. Das kostet ihn 1907 seine Stellung als Lehrer; er wird frühpensioniert. Seine öffentliche Position als streitbarer pädagogischer Autor behält er bei. Als die hohe Zahl von Schülerselbstmorden zunehmend das humanistische Bildungssystem skandalisiert, nimmt Gurlitt 1908 empört in einer eigenen Monographie zum Thema Stellung.35 Heute wird zumeist nur noch seine Rolle in der Wandervogel-Bewegung erinnert, die sich seit 1896 aus einem Teil seiner ehemaligen Schüler formierte.36 Zweifellos hat er mit ihren Zielen sympathisiert; 1902 tritt er dem „Wandervogel-Ausschuß für Schülerfahrten e.V.“ bei und erreicht

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1903 die behördliche Anerkennung des Vereins durch das preußische Kultusministerium. 1907 beendet er die Mitgliedschaft. Im Laufe seiner Dienstzeit in Steglitz wird Professor Gurlitt, wie er sich seit 1903 nennen darf, mehr und mehr zum Skandalon, ein von Kollegen als untauglich gescholtener Lehrer, Jugendverführer, Nestbeschmutzer. Die Querelen mit Lehrern, Schulleitung und der vorgesetzten Behörde katapultieren ihn schließlich ins Aus.37 Auf die zwar auch entlastende, alles in allem aber kränkende Frühpensionierung hat Gurlitt mit dem Buch Mein Kampf um die Wahrheit (1907) reagiert, das sein schärfster Kontrahent, der Direktor des Steglitzer Gymnasiums Dr. Robert Lück, wiederum umgehend mit der Schrift Das Steglitzer Gymnasium und Herr Prof. Dr. Ludwig Gurlitt. Mit einem Anhang: Erklärungen aus dem Kreise des Lehrerkollegiums beantwortet.38 Die pädagogischen Blätter und auch die allgemeine Presse greifen einen solchen öffentlichen Skandal genüsslich auf und kommentieren je nach Partei. So schreibt etwa die illustrierte Berliner Zeitung Der Tag: In der Person Ludwig Gurlitts hat sich ein Gymnasialprofessor, ein namhafter altphilologischer Gelehrter, von dem überlieferten Schulwesen schroff losgesagt und es mit recht als reif für die Vernichtung bezeichnet. Seine Bücher: Der Deutsche und sein Vaterland [1902], Der Deutsche und seine Schule [1905], beide in vielen Exemplaren verbreitet, mit Heißhunger gelesen, leidenschaftlich bewundert und bekämpft, waren eine befreiende Tat. Sie fassen alle Einwendungen gegen das herkömmliche System der römischen schola, der alten Klosterschule, zusammen und verurteilen es schonungslos. Sie ziehen das Ergebnis aus den Ansichten unserer Philosophen und Patrioten.39

Der pädagogische Reformenthusiast Gurlitt kämpft bis zu seinem Lebensende mit Vorträgen, Aufsätzen und Büchern für seine Sache. Als Kritiker des Religionsunterrichts und der kirchlichen Dogmen war er 1908 dem Monistenbund beigetreten. 1911 engagiert er sich für eine eigene Schulanstalt und gründet in Berlin-Zehlendorf ein kurzlebiges Jugenderholungsheim für „nervös heruntergekommene Schüler“ beiderlei Geschlechts, eine Kombination aus Schule und Reha, könnte man sagen.40 In den Zwanzigerjahren versucht er mit der über zwei Dekaden jüngeren Schriftstellerin Emilia Rogge, geb. Ludolph, die er nach dem Tod seiner Frau Helene geheiratet hatte, 41 eine „Kulturschule für junge Mädchen“ auf Capri zu etablieren, allerdings ohne durchschlagenden Erfolg. Dass Gurlitts Projekte durchaus praktische Defizite haben, sehen die sich untereinander genau beobachtenden Geschwister deutlich. So berichtet etwa der Bruder Cornelius, hoch angesehen als Kunsthistoriker, Architekturtheoretiker und Denkmalpfleger (ohne je ein staatliches Examen abgelegt zu haben), ihrem älteren Bruder Wilhelm 1903, also noch während Gurlitts Lehrertätigkeit:

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Ludwig war […] in Weimar, wo er auch gesprochen hat, jedoch nicht gut abgeschnitten zu haben scheint. Ich bin in Sorge um ihn. Sein Schwadronieren wird nachgerade bedenklich, und er dadurch immer unfähiger, die tatsächlichen Dinge zu beurteilen. Jetzt erzählt er aller Welt, er wolle eine neuartige Schule in Abazia gründen, den Staatsdienst verlassen etc. etc. Dorthin sollten ihm schwächliche Kinder zugeschickt werden. Mit solchen wird er wohl keine Musteranstalt schaffen! […] So lebt er in Illusion. Das Schlimme ist nur, dass das Schimpfen auf die Schule schließlich zu der Konsequenz führen muss, dass er sie zu verlassen habe. Ich halte ihn dazu für sehr wenig befähigt, ein Privatinstitut zu leiten. Dazu gehört vor allem ein Geschäftsmann, der eine entsprechende Frau hat. Aber Helene ist alles andere als eine Wirtin für einen Riesenhausstand, und Ludwig ganz ungeeignet, etwa einen Hausinspektor oder eine Wirtschafterin auf Betrügerei zu kontrollieren. Ich kann’s auch nicht, und Du wirst es auch nicht können: darum gründen wir aber auch keine Anstalten!42

Dabei lässt sich Gurlitts Suche nach Alternativen zur staatlichen Schule sehr gut begreifen, wenn man die Privatlehranstalten, die vor und nach 1900 in ganz Europa aus dem Boden schießen, als Hybride versteht, entstanden aus dem heftigen Wunsch, die Trennung von Schule und Familie zu überwinden. Ludwig Gurlitt jedenfalls neigt dazu, die Umstände des Aufwachsens und die Aufgaben des Unterrichts zusammenzusehen. Der Schlüsselbegriff, der seine eigenen widerstreitenden Kindheitserfahrungen, Familie und Schule, verbindet, ist die Selbstbildung. Autodidaxe und Selbstmotivation sieht er als die Bildungsfaktoren in seiner Familie: „ich sah rings und schon in der eigenen Familie an meinem Vater sowohl wie an einigen meiner Brüder, daß sie sich, von irgend einem Gebiete ausgehend, welches sie sich für ihr Berufsleben gewählt hatten, durch Selbstbildung leicht weitere Kreise ziehend den Umfang ihres Wissens erweiterten, eines Wissens, das dann in der eigenen Natur und in dem eigenen geistigen Bedürfnisse, nicht aber in dem Lehrpensum einer Schule seine Wurzel hatte, eines Wissens, das dadurch gleichsam eigenes Gepräge erhielt, zu dem ganzen Menschen in lebendige Beziehung trat und sich leicht in die Tat umsetzte – ‚Da gebieret das Glück dem Talent[e] die göttlichen Kinder, Von der Freiheit gesäugt wachsen die Künste der Lust.‘“43

Im Sinne seines „Königs der Pädagogik“ Friedrich Nietzsche  – und auf den Schultern Herders, Goethes, Pestalozzis, Hebbels  – zieht Gurlitt gegen die Bildungsphilister zu Felde, nennt Das Humanistische Gymnasium, das 1890 gegründete Organ des Gymnasialvereins, den „Erbbegräbnisplatz jedes neuen, gesunden Gedankens aus dem Leben der modernen Pädagogik.“44 Den Selbstwiderspruch, als Lehrer die Schule, als Philologe die Antike zu verdammen, literarisiert er in einer Art sokratischem Dialog mit sich selbst45 und findet unter der 144

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Überschrift „Fragen ans Gewissen“ natürlich eine Lösung: „Solange es sich nur um die Kenntnis des Altertums handelt, ist jede Mühe […] berechtigt. Da mache ich selbst mit Freuden […] mit. Sobald man mir aber mit dem hohen sittlich-erzieherischen Wert des Altertums für unsere Schuljugend kommt protestiere ich laut. Das ist […] Phrase.“46 Die Uneinigkeit mit sich selbst, auch eine tiefe Wut ganz offenbar, wird seine Inspiration. Leidenschaftlich kämpfend, schreibt er, nachdem er die publizistische Tätigkeit als Resonanzraum für sich entdeckt hat, fast ohne Unterlass und Hemmung, ein „literarischer Sturmvogel“.47

Resonanz in Österreich Als „literarischen Sturmvogel“ nimmt auch Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) den streitbaren Pädagogen wahr. Anfang des 20. Jahrhunderts interessiert sich der österreichische Dichter, selbst junger Vater, seinerseits für die Bildungsreformbewegung. Nachdem der befreundete Harry Graf Kessler in Weimar eine vielversprechende Position als Kulturbeauftragter erhalten hat, schmiedet Hofmannsthal mit ihm und den gleichermaßen reformfreudigen Eberhard von Bodenhausen und Felix Baron von Oppenheimer den Plan einer Reformschule. Ziel war die Erziehung von ‚ganzen Männern‘, worunter man sich das Ideal von in sich gefestigten, im Idealfall charismatischen Persönlichkeiten vorstellen muss. Die Reformschule wird zwar nicht realisiert, aber Hofmannsthal setzt sich nachdrücklich für Ludwig Gurlitt als Repräsentanten einer solchen Idee in einem Artikel in der Wiener Zeit ein, als dieser 1907 anlässlich der Gründung des österreichischen Vereins für Schulreform nach Wien kommt, um die Eröffnungsrede zu halten. Hofmannsthals Werbung für den Vortrag dokumentiert, mit welchem Enthusiasmus in dieser Zeit Bildungsreform als Lebensreform verkündet wurde. Aus diesem Grund folgt hier der Wortlaut in voller Länge, ein literarisches Personenporträt von bemerkenswerter Prägnanz und Qualität: Der entlassene Steglitzer Gymnasialprofessor Ludwig Gurlitt. Ein Mann, ein deutscher Mann, ein lebendiger Mensch, eine Natur. Ein ziemlich berühmter Mann heute in Deutschland. Und ein einigermaßen dramatischer Mann, durch seine Schicksale, durch seine Haltung dem Leben, den Menschen, den Behörden gegenüber. Dies Dramatische aber gerundet, nicht geglättet, durch eine wundervolle Menge von Vitalität und Humor. Ein runder Mann, kein glatter Mann. Ein runder, lebendiger, feuriger, zorniger, fröhlicher Mann. Eine Natur also: ein Mann, der, sich sagt: was meine Linke tut, davon muß meine Rechte wissen (oder ich sei ein Schuft); der nicht eine andere Haltung hat, wenn er vor dem Herrn Schulrat steht, und eine andere, innerlich, wenn er daheim seinen Lagarde liest; der einige klaffende Widersprüche unserer Existenz einfach nicht erträgt, weil er selbst aus

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ganzem Holz ist; für den vieles Scheinhafte, das für scheinhafte Menschen eine ‚Autorität‘ bildet, gar nicht existiert, weil er so organisiert ist, daß er es einfach nicht sieht. Der sein Handwerk treibt wie ein Künstler, mit ganzer Seele.48 Sein Handwerk nun wurde durch eine Fügung des Lebens das Gymnasiallehrfach. (Er hätte ebensogut Blumenzüchter werden können, oder Landschaftsmaler, oder ein tüchtiger Bildhauer: er hat es in sich.) Und er trieb es: mit Leib, mit ganzer Seele, mit der ganzen Breite seiner Natur; trieb es vom Standpunkt des Lebens, nicht vom Standpunkt der ‚Vorschrift‘, trieb es mit innerer Freiheit, mit der Rundheit seines Wesens, mit Feuer, Fröhlichkeit, Humor, Rücksichtslosigkeit. Erzielte ausgezeichnete Resultate natürlich, aber geriet in Widerspruch mit der Behörde, natürlich, weniger durch das, was er tat, lehrte, forderte (und nicht forderte) als durch das, ‚wie er’s tat‘. Geriet zum Lehrkörper, zum Direktor, zur vorgesetzten Behörde in ein ‚unhaltbares Verhältnis‘. Das Ministerium dachte daran, einzugreifen und den Mann hinzustellen, wohin er vielleicht gehört hätte: an eine einflußreiche Stelle: ihn zum vortragenden Rat zu machen. Doch unterblieb die Sache. (Es liegt in der Natur von Behörden, daß gewisse Dinge meist unterbleiben.) Schließlich wurde das Verhältnis ganz unmöglich, der einzige lebendige Mensch, der einzige Mann unter Lehrbeamten, Drillmaschinen, Flachsmanns49 — flüchtete in die Öffentlichkeit und schrieb Bücher. Schrieb Bücher, die acht, zwölf, fünfzehn Auflagen hatten. (Der Deutsche und seine Schule, Der Deutsche und sein Vaterland, Erziehung zur Mannhaftigkeit.) Schrieb seine Bücher, wurde berühmt, und wurde entlassen. Auf diese Weise wurde das Steglitzer Gymnasium bedeutend ärmer und Deutschland bedeutend reicher: um einen ganzen Mann. Diesen Mann nun wird man reden hören. Er redet, wie er schreibt, er schreibt, wie er lebt. Seine Beiträge, seine Bücher sind – was sein mündlicher Unterricht war (und hoffentlich wieder werden wird) — Vitalität. Leben, traktiert vom Standpunkt des Lebens. Worte des Lebens, gesetzt aus der sicheren Fülle einer ganzen und heiteren Natur. Die Begriffe, mit denen er hantiert, am Leben erprobt, Institutionen an seinen Erlebnissen, Theorien an seinem Gefühl. Anekdote, Analyse, Zitat, Humor, Geschwätzigkeit, Feuer, Dialektik, Menschentum. Ein Fachmann — und gar kein Fachmann. Ein Mann, der ein Deutscher ist bis an den Rand des Chauvinismus und nach England reist und sich entzückt. Das Gegenteil ungefähr von einem Liberalen nach der Schablone — und ein sehr liberales Gemüt. Der sich seine Informationen über Dinge des Lebens von Kindern holt, von Künstlern, von Leuten auf der Tramway, von links und von rechts. Kein Fremder schließlich. Besonders uns kein Fremder. Der Sohn von Hebbels sehr teurem Freund, dem Landschaftsmaler Gurlitt. Der Bruder von Cornelius Gurlitt und jenem verstorbenen Dritten, dem ganze Generationen von jungen Grazern übers Grab hinaus an-

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hängen. Der Schwiegersohn des alten Schrotzberg, der halb Wien und der unsere Kaiserin in ihrem schönsten Moment gemalt hat. Also wirklich kein Fremder. Und er kommt in einem Augenblick, da Österreich lebendiger ist als je. Ich wüßte niemanden, der in dieser Atmosphäre, die keine Schablone verträgt, erfreulicher wirken könnte als dieser Mann (dessen ganzes Dasein die Negation der Schablone ist) – sei es für eine Stunde! sei es für lange.50

Wer sich durch Gurlitts Texte hindurchgelesen hat, merkt die Treffsicherheit von Hofmannsthals Skizze (auch wenn seine Wertschätzung später privat in Kritik umschlagen wird).51 Natürlich ist Hofmannsthal hier Partei, und es zeigt sich auch, wie sehr seine Wahrnehmung durch die prominente Familie mit Verbindungen zum österreichischen Adel getönt ist: Louis Gurlitt war durch seine Zeit in Wien, wozu ihn nicht zuletzt Friedrich Hebbel motiviert hatte,52 in die Salons eingeführt worden. Davon profitierten noch die Kinder, so dass Ludwig nicht ohne Stolz berichtet, dass er „tausendfach Gelegenheit“ hatte, sich „an der vollendeten gesellschaftlichen Kultur der österreichischen Oberschicht zu erfreuen“.53 Diese Verbindung wurde verstärkt durch die österreichische Herkunft seiner Frau Helene (1863–1917), die er im Haus seines (Halb-)Bruders Wilhelm, dem 1905 verstorbenen Professor der Philologie und Archäologie in Graz, kennengelernt und Ostern 1890 geheiratet hatte. Helene war die älteste Tochter des Wiener Malers Franz Schrotzberg, der sich als Porträtist der jungen Kaiserin Elisabeth und des österreichischen Hochadels Mitte des 19. Jahrhunderts großes Ansehen erworben hatte. Was erst durch die Zeitungsberichte auf uns kommt, ist Gurlitts Begabung als Redner, seine Performanz, wie wir heute sagen. So berichtet das Neue Wiener Tagblatt unmittelbar nach Gurlitts Auftritt bei der Gründung des Schulvereins in Wien: Professor Gurlitt, den die meisten Zuhörer nach seinen vielgelesenen Schriften kannten, war ihnen als Sprecher eine völlige Ueberraschung. Temperamentvoll bis in die Fingerspitze, schleudert er seine epigrammatisch zugespitzten Sätze, seine überaus drastischen Gleichnisse wie Blöcke mit völliger Unbekümmertheit gegen alle konventionell akademische Art von sich, und wirkt mit unmittelbarer Schlagkraft zündend auf sein Publikum. Eine Art von grimmigem Humor oder humoristischem Ingrimm gegen die Gymnasialbeamten, gegen die Schulbureaukraten erfüllt ihn, und nach wenigen Sätzen schon hat er die Lacher auf seiner Seite. In seinem Eifer für das Recht des Kindes auf Kindlichkeit, mit seinem Naturenthusiasmus, der auch das Rousseausche Naturevangelium weit hinter sich lässt […], gewinnt er sich […] die Herzen der Hörer, denn aus all seinem Poltern gegen die von Amts wegen bestellten Feinde der Kindheit spricht eine dichterische Persönlichkeit, eine tiefe Sehnsucht nach der Einfalt, Reinheit und Schönheit der unverbildeten Menschennatur, die sich im Kinde offenbart. Einem solchen Sprechen nimmt man

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auch die saftigsten Ausfälle nicht übel, da sie vom Humor gemildert sind, und man würde ihm auf alle Fälle mit größter Aufmerksamkeit zuhören, mag der Gegenstand welch immer sein, über den er spricht.54

Der Deutsche und sein Vaterland Bei allen anthropologischen Konstanten des Phänomens ‚Kindheit‘ – Erziehung liegt nach Gurlitt primär in nationaler Verantwortung. Seine bildungskritischen Schriften zielen auf Deutschland, und die reformwillige Öffentlichkeit war bereit, ihm darin zu folgen. Entsprechend hatte sein Buch Der Deutsche und sein Vaterland mit dem Untertitel Politisch-pädagogische Betrachtungen eines Modernen (1902) nach Gurlitts eigenem Bekunden eingeschlagen „wie eine Bombe“: Die Presse behandelte es wie ein politisches Ereignis. In acht Monaten wurden sieben Auflagen nötig. Die darin vorgetragenen Gedanken machten keinen Anspruch auf Neuheit und auf Geist. Die ganze Schrift war mehr eine Zusammenfassung der in unserem Volke lebendigen Unzufriedenheit mit dem herrschenden Schulsystem, die bisher von der Lehrerschaft als grundlose Nörgelei abgelehnt worden war […].55

Gurlitt versteht sich an dieser Stelle als Sprecher eines Kollektivs. Das legitimiert ihn für sein öffentliches Auftreten, und von hier datiert Gurlitt auch seine Anfeindungen im Schuldienst. Worum es den Reformern ganz konkret zu tun war, wird er später so zusammenfassen: Wir forderten Herabsetzung der Stundenzahl, Aufgabe des sprachlichen Formalismus, stärkste Betonung der heimatlichen geistigen Güter, späteres Einsetzen des fremdsprachigen Unterrichtes, Aufhebung des unbegrenzten Sitz- und Lernzwanges in den Unterklassen, Unterricht im Freien, Fragerecht der Schüler, kurz, eine naturgemäße, heimatliche Erziehung vom Nahen zum Fernen. Die alten Sprachen sollten nur von den dazu befähigten Schülern und nach viel lebendigeren Methoden gelehrt werden.56

Nicht nur Der Deutsche und sein Vaterland, auch die folgenden beiden Bücher, Der Deutsche und seine Schule (1905) und Erziehung zur Mannhaftigkeit (1906), wurden Bestseller. In Der Deutsche und seine Schule. Erinnerungen, Beobachtungen und Wünsche eines Lehrers ging Gurlitt so weit, mit Paul de Lagarde unter anderem die Abschaffung des Abiturs zu fordern.57 Gurlitt, der Lagarde in seiner Göttinger Studienzeit nur sporadisch gehört hatte, entdeckt später dessen Deutsche Schriften. Begeistert ist er, wo Lagarde „über die erzieherische Aufgabe der Schule spricht“,58 und mit Zustimmung zitiert er: „Gegenwärtig gedeihen allenfalls der korrekte Beamte, 148

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der streng wissenschaftliche Gelehrte, der Volksvertreter wie er sein soll: Alles Zinkguss, inwendig hohl, und je nach Bedarf wieder einzuschmelzen: Götzen, aber keine Götter, und zur Erziehung der Nation so geeignet wie ausgestopfte Uniformen […]“.59 Wie Lagarde schreibt der eine Generation jüngere Gurlitt an einem pädagogischen Programm für die Gesellschaft der Zukunft. Nicht die Vergangenheit zu bewahren, sei Aufgabe der Schule (Stichwort: ‚Historismus‘), sondern das „Gegenwartsleben ehren und zu voller Betätigung bringen“, die „Jugend […] als Jugend leben lassen“,60 und junge Menschen zur ‚Tat‘ zu bringen für die Zukunft, dies sei die Aufgabe. Lagarde wird zum Stichwortgeber für Gurlitt: Vor allem aber war es sein Aufsatz „Über die Klage, daß der deutschen Jugend der Idealismus fehle“, der in meinem Denken eine völlige Umwälzung hervorrief. Ich glaubte, ihm Recht geben zu müssen, daß das, was wir unter Hinweis auf Griechenland und Rom unseren Schülern als Idealismus bieten, diese hohe Bezeichnung überhaupt nicht verdiene, daß wahrer Idealismus nur in dem wirkenden und strebenden Menschen lebendig sei, nicht aber aus dem im wesentlichen untätigen und wehmütigen Versenken in die Geistesgüter längst verstorbener Menschengeschlechter gewonnen werde, daß es nur einen Idealismus der Tat gäbe, dessen Ziel natürlich in der Zukunft liegen müsse. [ …] Seitdem wurde mir immermehr Pädagogik und Politik ein fast identischer Begriff.61

Unter der Hand benennt Gurlitt hier, ohne auch nur einen Funken kritischer Metareflexion, die fundamentalistische Tendenz der Reformbewegung um 1900. Letzten Endes aber, so könnte man sagen, wollte Gurlitt die Verquickung von Schule und Bürokratie, die Verstaatlichung des Lernens, rückgängig machen.62 Die deutsche Nation, so seine Überzeugung, braucht „Männer“ als souveräne Persönlichkeiten: „Nicht Gelehrte, freilich auch nicht Künstler, sondern Männer soll uns die Schule heranbilden.“63 Genau das aber verhindert das staatliche Bildungssystem: „Warum wir also so wenige Männer haben? Weil bei uns Überzeugungen und Ideale verstaatlicht sind und weil die Leute am besten vorwärts kommen, die sich ihren Glauben und ihre politische Gesinnung von der Regierung beziehen.“64 Mithin nicht nur die Schule, auch der preußische Beamtenstaat muss umgekrempelt werden, wie Gurlitt kurz vor seiner Pensionierung in seinem Bestseller Erziehung zur Mannhaftigkeit (1906) schreibt: „Ich glaube, ohne unsere staatlichen höheren Schulen wären wir im selbständigen Streben und Handeln ein gut Stück weiter gekommen, ohne sie hätten wir mehr Menschen, die Selbstdenker, Selbsthandler, mithin eigenartige Persönlichkeiten wären, mehr Baumeister, weniger Handlanger.“65 Vor dem Hintergrund eines solchen Konzepts erscheint es nicht mehr so überraschend, wenn Gurlitt sich nach dem Tod Karl Mays mit seinem Pamphlet Gerechtigkeit für Karl May (1918 / 1919) für eine Rehabilitierung des abgeurteilten Jugendbuchautors einsetzt und mit zahlreichen 149

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Aufsätzen zwischen 1918 bis 1933 weiter für diese ‚eigenartige‘ Persönlichkeit kämpft, schließlich sogar Mitherausgeber des Karl-May-Jahrbuches wird. 66

Der Lehrer als Freund des Schülers Um Umfeld von Gurlitt taucht eine bemerkenswerte andere Persönlichkeit auf, die zeigt, auf welche Weise Unterricht, pädagogische Interessen und lebenslange Reformideen miteinander verwoben sind. Der freischwebende Kulturphilosoph Rudolf Pannwitz (1881–1969), ab 1898 Gurlitts Schüler in Steglitz, 1905/06 während seiner Studienzeit in Berlin Privatlehrer im Hause des Soziologen Georg Simmel und des Malerehepaars Lepsius, wandte sich 1907 mit seinem Buch über den Volksschullehrer und die deutsche Sprache an seinen früheren Lehrer. Ob Gurlitt nicht, etwa durch die Gewinnung prominenter Unterstützer in pädagogischen Blättern wie dem Hauslehrer – herausgegeben von Pannwitz’ Schwiegervater Berthold Otto – oder dem Heiligen Garten, Rezensenten gewinnen könne: „Würde es, von Ihnen gebeten, Herr von Hofmannsthal tun? Also ja nicht von mir aus. Wenn es überhaupt möglich ist, ist es allein durch Sie möglich. Geholfen wäre der Sache ja ungeheuer viel durch den berühmten Dichter-Namen.“67 Zehn Jahre später, Pannwitz’ Abhandlung über die Krisis der europäischen Kultur (1917) war für Hofmannsthal gerade zu einem Kultbuch geworden, erinnert Pannwitz den österreichischen Dichter an ihren über Gurlitt vermittelten früheren Kontakt und präsentiert sich mit einem Lebenslauf, in dem er auch auf seinen einstigen Lehrer zu sprechen kommt: 1904 habe ich mit Otto zur Linde […] eine neue welt machen wollen und jene zeitschrift Charon herausgegeben […].68 dann kam pädagogisches wirken […]. Ludwig Gurlitt auf der höhe seiner zeitstellung • mein frührer Lehrer • war mir innerhalb der pädagogischen und kulturbewegungen der durch den ich entscheidendes tiefres was ich wollte zu erreichen hoffte. es ging jahrlang gut aber es verflachte dann alles und wurde so dass ich mich ganz zurückzog.69

Auch wenn die Differenzen nicht verschwiegen werden, zeigt sich doch Gurlitts Bedeutung für den Schüler. Vielfach unterstützte der weiter seinen ehemaligen Lehrer und schrieb auch zu verschiedenen Anlässen über ihn.70 Im Unterricht hatten sich Lehrer und Schüler im Rahmen von Schultheateraktivitäten verbündet: „Später habe ich im Anschluß an meine Homerstunden meine Obersekundaner dazu gebracht, die […] Texte in Nachdichtungen wiederzugeben. Eine Probe davon habe ich mit meinem Schüler Rudolph Pannwitz unter dem Titel Der göttliche Sauhirt, im Verlag E. Kannengießer, Gelsenkirchen, erscheinen und dann von Wandervögeln aufführen lassen, die mir aber durch ihr schlechtes Spiel bewiesen, daß 150

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ihnen die tiefen Schönheiten der homerischen Welt nicht entfernt aufgegangen waren.“71 Die besondere Rolle seines ehemaligen Schülers als eigenständiger pädagogischer Autor hebt Gurlitt später wiederholt hervor, einmal heißt es: „Wer sich für die theoretischen Grundsätze dieses Erziehungsverfahrens interessiert, den verweise ich auf Berthold Ottos Schriften. Der steht mir von allen deutschen Erziehern am nächsten. Nächst ihm Rudolf Pannwitz, der unser beider Schüler ist, aber dabei als ein tapferer und selbständiger Denker doch auch seine eigenen Bahnen geht. Seine soeben erschienene Arbeit Der Volksschullehrer und die deutsche Sprache (Verlag der Hilfe, Berlin-Schöneberg) wird Aufsehen erregen. Da zeigt sich unsere Lehre schon in der Vertiefung und Verallgemeinerung der nächsten Generation.“72 Pannwitz las Gurlitts Der Deutsche und seine Schule Korrektur und hatte auch Anteil an seiner Erziehungslehre (Berlin 1909). Mit Pannwitz’ Hoffnung, dass diese Lehre „das maßgebliche Erziehungsbuch der Gegenwart werde“, machte der Verlag dann sogar Werbung.73 Dass der Lehrer seinem ehemaligen Schüler, dem „Freund und Berater Rudolf Pannwitz“, ganz öffentlich Dank ausspricht,74 ist ein durchaus seltenes Zeugnis für die Verkehrung eines einstigen Lehr-und-Lernpaktes. Ein regelrechtes „Bekenntnis“ zu dem einstigen Schüler legt Gurlitt dann kurz vor seinem Tod unter dem Titel Weshalb ich Rudolf Pannwitz verehre75 in der Festschrift zu dessen fünfzigstem Geburtstag ab. Zehn Jahre vorher hatte auch der Schüler den Lehrer in seiner Selbstdarstellung gewürdigt: Um die zeit meines abiturs war ich […] mit ludwig gurlitt eigentlich nah bekannt […]. Schon als schüler hatte ich mit ihm geistigen verkehr nahm teil an seinen genialen und lebendigen cicero-konjekturen und wurde von dem unruhigen und bedeutenden manne tausendfältig angeregt. einmal brachte er mir plötzlich ein konvolut vergilbte blätter mit […]: die briefe von hebbel an seinen vater. Er stand damals in der tiefsten innern wandlung kurz vor seiner ersten broschüre. Ich habe seine kämpfe und leiden miterlebt und bin sein treuester bundesgenosse gewesen76 so hat er auch fest zu mir gestanden und mich auf jede ihm mögliche weise gefördert […] ich fühlte mich nie so jung wie bei gurlitt wurde durch niemanden so verjüngt wie durch ihn, was stürmte da alles auf mich ein: antike und moderne künstler und augen welten / erlebte kulturgeschichte / hebbel / lagarde / langbehn / kunsterziehungstage / pädagogische reformbestrebungen / alle kulturbündeleien / demokratische politik / england und englische werte / [houston stewart] chamberlain / naumann / eine frau die österreicherin war / wundervolle kinder und ein wundervolles verhältnis zu ihnen / fortwährende stöße von briefen aus aller welt erzählungen von allen schichten menschen / unmittelbares leben zwischen geist und masse. dieses etwa ein jahrzehnt lang. Gurlitt ging auch weit mit mir mit. Er war in seiner persönlichsten person die mir das wichtigste war und blieb viel mehr eine bezaubernde maibowle als ein starker charakter und wie alle deutschen grobiane zag und zart.77

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Man ahnt die pädagogische Dynamik in Gurlitts Unterricht, insbesondere wenn das Gemisch des Mitgeteilten die Schüler zu animieren vermochte. Im anwachsenden schulpolitischen Streit im Vorfeld von Gurlitts Entlassung aus dem Schuldienst mischten sich entsprechend auch die Schüler ein, was zu eskalieren drohte, als einer von Gurlitts ehemaligen Schülern unter dem bald gelüfteten Pseudonym A. von Waldberg (d.i. Achim von Winterfeld) in einer kleinen Schrift Schulgedanken eines Gymnasialabiturienten von 1903 hart abrechnete mit der Schule.78 Gurlitt wurde Einflussnahme, zumindest aber Sympathisantentum mit Waldberg unterstellt (was beide abstritten). Hier ergriff Rudolf Pannwitz Partei für den Mitschüler und schrieb im Oktober 1905 eine engagierte Verteidigung, die er den Blättern für Deutsche Erziehung zum Druck schickte. Als der Herausgeber vorab dazu auch Gurlitt befragte, verhinderte dieser den Druck: Er kaufte dem Herausgeber Arthur Schulz kurzentschlossen den Bürstenabzug ab, um Schaden von der Schule abzuwenden. Nach seiner Entlassung 1907 aber packte er aus: Mit Zustimmung von Pannwitz veröffentlichte er dessen Text in seiner Streitschrift Mein Kampf um die Wahrheit, allerdings unter Tilgung von „Beleidigende[m], woraus einige Streichungen und Lücken zu erklären sind“.79 Pannwitz’ Aufsatz Der Fall A.v.Waldberg genauer vorzustellen, ist hier nicht der Ort, erwähnt werden soll aber doch, dass er im Sinne Gurlitts auf das Machtspiel der Schule abhebt. Es mache die Schüler sprachlos. „Der Schüler muß am ersten wissen, wie ihm die Schule bekommen ist. Aber die hohe Pädagogik verzichtet auf dieses Zeugnis. Sie weiß besser, was dem Menschen gut tut oder schlecht tut als der Betroffene selber.“80 In seiner Kampfschrift reagiert Gurlitt auch auf einen satirischen Angriff seines Kollegen Pohl, der die Gruppe um Gurlitt als Maulhelden verspotten wollte: „Ich bin fünfzehn und ein halbes Jahr alt, sehr begabt und von der Überzeugung schon heute durchdrungen, daß Meine [!] Brüder und Schwestern, die ebenfalls sehr begabt sind, mit Mir zusammen dereinst eine geradezu verblüffend begabte Familie bilden werden. (Damit sollen wir der Eitelkeit und des Familienstolzes geziehen werden. Mit der Familie Pohl können wir es, die von Winterfeld und die Gurlitt, allerdings noch aufnehmen.) – –“81 Auch im verkehrten Spiegel leuchtet noch der Bezugspunkt der Familie, die Schulfamilie, die Familie Gurlitt.

Der „Lehrer als Erziehungskünstler“ Der Artikel Schule in Fritz Mauthners Wörterbuch der Philosophie kann belegen, dass Gurlitt um 1910 als Wortführer der Reformpädagogik einen Namen hatte. Wortführer in der Tat, denn sein Arbeitsfeld war die Öffentlichkeit, auch wenn er von Schulsachen sprach und obwohl er nicht mehr im Amt war. „Alle großen Pädagogen (Comenius, Rousseau, Pestalozzi, Fichte)“, heißt es in dem Eintrag, „haben irgendwie verlangt, man solle Sachen und Worte nicht trennen, man solle den Kindern nicht bloß Worte beibringen. Die ganze Bewegung, die Realschulen 152

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an Stelle der Gymnasien setzen will (Ludwig Gurlitt ist in den letzten Jahren mit schöner Leidenschaftlichkeit besonders hervorgetreten), die Realien anstatt toter Sprachen verlangt, hängt damit zusammen.“82 Gurlitt kann man, so gesehen, als einen in einer Künstlerfamilie aufgewachsenen bildungsbürgerlichen Dissidenten bezeichnen, der statt des Wortwissens einem Beobachtungs- und Anschauungswissen im Unterricht Raum geben wollte. In einem leidenschaftlichen kleinen Aufsatz mit dem Titel Der Lehrer als Erziehungskünstler erzählt er von seinem alternativen Unterricht mit Schülern zwischen 6 und 14 Jahren „während einiger schöner Sommer- und Herbstmonate“ in Altaussee vor dem Ersten Weltkrieg: „Was hatten wir heute für Fächer gehabt? Religion? Moralunterricht? Tierkunde? Stillehre? Rechtschreibung? Ich weiß es selbst nicht: Das Leben und mein Gehirn sind nicht in Fächer geteilt, und das meiner Schüler soll es auch nicht werden. Aber wir haben gemeinsam viel Sinniges und Frohes erlebt dabei […].“83 Als Lehrer wollte Gurlitt Schülerversteher sein und etwas von seinen Beobachtungen, die der „Anregung des Augenblicks“ und im Grunde seinem künstlerischen Auge folgten, an die Kinder weitergeben.84 Als pädagogischer Autor wollte er in die Zukunft wirken, insbesondere nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg. Nicht nur die privilegierte Wald- oder Landschule, auch die Stadtschule sollte die alternativen Unterrichtsvorschläge umsetzen können, wenn man nur dem Lehrer die Chance gäbe, ein „Lehrmeister“ zu sein: Dann werden Künstler der Erziehung hier und dort erstehen und unter ihren Händen wird eine Jugend zu Vollmenschen aufblühen, die sich selbst und ihren Mitbrüdern zur Freude leben. Dann werden Dichter, Weise, Künstler und Propheten erwachsen, und aus dem verwüsteten Boden unserer traurigen Tage ein neues Glück erblühen. Die Frucht künstlerischer Erziehungsarbeit.85

Durch Gurlitts pädagogische Texte, die in weiten Teilen Ego-Dokumente sind,86 scheint durch, dass Elternhaus und Künstlervater den Grund zu seiner lebensphilosophischen Pädagogik gelegt haben. Der Lehrer traut, wie einst der Vater, den Künstlern in Schulsachen mehr zu als den Schulbeamten. Wegen ihrer besonderen Sensibilität für Sprache, wegen ihrer genauen Beobachtung, wegen ihrer welterschließenden Phantasie sind sie in der Nachkriegszeit mehr denn je vonnöten. „Mit Recht“, schreibt Gurlitt 1918, „suchen jetzt unter Führung von Hugo von Hofmannsthal, Richard Dehmel u. a. deutsche Dichter Einfluß auf den Geist der Schulen.“87 Und er selbst ist ja, wie seine zahlreichen Texte dokumentieren – eine vollständige Bibliographie fehlt bis heute  –, seinerseits ein beflügelter Scribent. Zum Sachbuchautor fühlt er sich berufen, hier zeigt sich sein Begehren nach Anerkennung, hier registriert er jedes lobende Wort, und hier entsteht aus dem Widerspruch auch der publizistische Furor. Während er mit seiner 153

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philologischen Arbeit zu Cicero nur ein paar Fachkollegen beeindruckte, fanden seine populären pädagogischen Sachtexte größere öffentliche Resonanz. „Hier erlebte ich […] zum ersten Male die Freuden der Schriftstellerei und einer gewissen Popularität […]. Ich erkannte, daß das etwas Berauschendes, Verwirrendes hat“.88 Man kann diese Sätze mit Fug und Recht als Schlusswort zu Ludwig Gurlitt setzen. So berauschend die Ideen der Reformpädagogik um 1900 sind, so verwirrend sind auch ihre Proklamationen im Namen des Lebens, der deutschen Nation und der Männlichkeit. Gurlitt, der Erziehungskünstler, zeigt uns offen und unfreiwillig beide Seiten der Medaille.

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Das Familienerbe im Künstlerleben. Ludwig Gurlitts Biographie seines Vaters Stefan Willer

Einleitung Louis Gurlitt. Ein Künstlerleben des XIX. Jahrhunderts: So lautet der Titel des Buches, das der Pädagoge Ludwig Gurlitt 1912 über seinen Vater, den Landschaftsmaler Louis Gurlitt, veröffentlichte – zu dessen hundertstem Geburtstag und fünfzehn Jahre nach dessen Tod. In der knapp fünfhundertseitigen Biographie wird das Prinzip der familiären Traditionsstiftung und -pflege, das die Gurlitts seit dem 19. Jahrhundert als Künstler- und Gelehrtendynastie verfolgten, in ein literarisches Format überführt. Ludwig Gurlitt, der Sohn, porträtiert hier nicht nur seinen Vater, sondern auch dessen Herkunft aus und Fortwirkung in der Familie. Die Funktion der Familie innerhalb des biographischen Narrativs ist doppelseitig. Zum einen wird sie als wichtiges, ja, entscheidendes Stadium innerhalb eines individuellen Lebenslaufes erkennbar, zum anderen wird das individuelle Leben für die Familie als überindividuellen Verbund funktionalisiert. Damit konturiert sich im Hinblick auf das Künstlerleben, das programmatisch im Titel des Buchs erscheint, eine bestimmte Vorstellung von familiärem Leben. Ludwig Gurlitt kennzeichnet dieses Leben  – gleichfalls programmatisch im Buchtitel  – als eine Angelegenheit des XIX. Jahrhunderts, die er seinerseits aus der Warte des beginnenden zwanzigsten perspektiviert. Im vorliegenden Beitrag soll in einem ersten Schritt die historische Konstellation von ‚Leben‘ und ‚Familie‘ für die Umbruchszeit um 1900 umrissen werden. Ein besonderer Stellenwert kommt dabei dem Begriff des Erbes zu, der auch in Gurlitts Biographie zentral ist. Zu skizzieren ist daher das mehrwertige und umstrittene Deutungsmuster der Vererbung, verstanden als kulturelle, ökonomische und biologische Übertragung, das den diskursiven Kontext der Biographie darstellt. In diesem Diskurs spielt die Weitergabe von künstlerischer Begabung eine wichtige Rolle; allerdings ist gerade dies Thema besonders umstritten, sowohl was die genealogische Erklärbarkeit als auch was die Fortzeugbarkeit von Begabung (oder gar ‚Genie‘) betrifft. – Vor dem so erstellten Hintergrund wird in einem zweiten Schritt Ludwig Gurlitts Buch als Künstler- und Familienbiographie untersucht. Der umfangreiche Text kann und muss hier nicht im Detail analysiert werden. Von Interesse sind vielmehr genau diejenigen 155

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Passagen, in denen das Familien- und Vererbungsargument besonders intensiv bemüht wird. Dabei handelt es sich um den Beginn, der die Herkunft des Protagonisten darstellt, um den Schluss, der dessen Nachkommenschaft sichtet, sowie um diejenigen der dazwischen liegenden Abschnitte, in denen die Gründung der Fortpflanzungsfamilie besprochen wird.

1 Biographie – Familie – Vererbung Die meisten Biographien befassen sich mehr oder weniger ausführlich mit den Voraussetzungen und Entstehungsbedingungen sowie mit der Nachgeschichte des jeweils beschriebenen Lebens. Dafür stellt die Familie ein besonders brauchbares Erzählmodell dar. Sie begründet Herkunft und Zukunft durch genealogische Abstammung und Fortzeugung, und sie verweist in dieser Struktur auf umfassendere generationelle Verhältnisse in der Gesellschaft. Genealogie im allgemeinen setzt, mit einer weitreichenden Formulierung Michel Foucaults, dort an, „wo sich Leib und Geschichte verschränken“, und zeigt so, „wie der Leib von der Geschichte durchdrungen ist und wie die Geschichte am Leib nagt.“1 Auch das moderne Konzept der Generation, wie es sich, als historisch spezifische Variante genealogischen Denkens, seit dem späten 18. Jahrhundert herausgebildet hat, bezeichnet ein solches Übergangsphänomen. Die heute zumeist vorherrschende Vorstellung der Generation als einer Erfahrungs- oder Erlebnisgemeinschaft speist sich epistemologisch und wissenschaftsgeschichtlich aus der Überschneidung von Zeugungs, Wachstums- und Vererbungstheorien, die immer auch an der Reproduktion in der Familie beobachtet wurden.2 In dieser Vielgestaltigkeit zwischen leiblicher Abstammung und Fortpflanzung einerseits, zeitlich-historischer Struktur andererseits, und hierin wiederum zwischen den wechselnden Bezügen auf Vergangenheit, auf aktuelle Zeitgenossenschaft und auf Fortschreibung in die Zukunft hinein, ist die Familie eine wichtige Schnittstelle, wenn es um den Wechselbezug von Geschichte und Leben geht. Somit erscheint sie besonders gut geeignet, um Lebensgeschichten zu plausibilisieren. Zugleich überschreitet das Denken in Familienstrukturen, in Genealogien und Generationen immer schon den Bezirk der einen biographischen Person, indem es ganz wesentlich auf deren Vorläufer, Zeitgenossen und Nachfolger ausgerichtet ist. Auf diese Weise lassen sich die Gattungsgrenzen der Personal- bzw. Individualbiographie erweitern, hin zur Familienbiographie und der Biographie einer sozialen Gruppe; es lassen sich aber auch die Spannungsverhältnisse des Einzelnen zu seiner Familie und zur umgebenden Gesellschaft besonders deutlich herausarbeiten. Die erste deutschsprachige Biographie, die explizit ein „wahres großes Kunst-Genie“ aus seiner Familienherkunft erläuterte, war zu Beginn des 19. Jahrhunderts Johann Nikolaus Forkels Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke.3 Schon der Buchtitel, einer der 156

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frühen Belege für die Formel ‚Leben und Werk‘, lässt sich als Kurzfassung einer KünstlerAnthropologie verstehen, die die Emphase des Lebens unmittelbar auf die Kunst überträgt. Zentraler Gesichtspunkt dieser Übertragung ist der Transfer in der Familie. Die Begabung Johann Sebastian Bachs erscheint in Forkels Darstellung also keineswegs voraussetzungslos, sondern geht notwendig aus seiner Abstammung hervor, wobei nicht nur vom innerfamiliären musikalischen Unterricht und von der intergenerationellen Weitergabe von Traditionen die Rede ist, sondern auch von einer darüber hinausgehenden Erblichkeit der „Anlage“: „Wenn es je eine Familie gegeben hat, in welcher eine ausgezeichnete Anlage zu einer und derselben Kunst gleichsam erblich zu seyn schien, so war es gewiß die Bachische“.4 Das Interesse an der Familienvererbung geht mit der Würdigung der Bachschen Musik als kulturelles Erbe einher: „Die Werke, die uns Joh. Seb. Bach hinterlassen hat, sind ein unschätzbares National-Erbgut, dem kein anderes Volk etwas ähnliches entgegen setzen kann.“5 Diese Parallele ist diskursgeschichtlich bedeutsam. Der moderne Begriff ‚Erbe‘ beruht einerseits auf der klaren Differenzierung unterschiedlicher Vererbungsvorgänge  – ökonomisch-juristische Eigentumsübertragung, biologische Weitergabe von Anlagen und kulturelle Traditionsbildung –, andererseits lassen sich begriffsgeschichtlich fortwährend Übergänge zwischen diesen Bereichen aufzeigen. Was dabei auffällt, ist, bei aller moderner Ausdifferenzierung, das beharrlich Un-, wenn nicht Antimoderne des Erbes, bei dem ja immer etwas bereits Bestehendes aus der Vergangenheit in die Zukunft transferiert oder tradiert wird. So gesehen lässt sich Vermögensvererbung als Übertragung sozialer Privilegierung kritisieren, biologische Vererbung steht in bedenklicher Nähe zum Determinismus, und kulturelles Erbe begünstigt ein restauratives Verhältnis zur Tradition.6 Die frühe Soziologie des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts war von dieser Beharrungskraft des Erbes fasziniert. Bei Émile Durkheim ist von einem „Erbfundus“ (fond héréditaire) die Rede, der sich zwar „unter den Zusätzen, die ihn bedecken, den Blicken immer mehr entzieht“, dessen „nachdrückliche Bedeutung“ aber nicht verkannt werden dürfe.7 Ganz ähnlich beschreibt Max Weber die soziale Wirkungsweise des Erbes in seinen nachgelassenen Überlegungen zu Wirtschaft und Gesellschaft. Dort findet sich für die „legitime ökonomische Lage“ des Einzelnen die Unterscheidung zwischen „Erbanfällen“ und „Kontrakten“, wobei die „Kontrakte“, also die Rechtsgeschäfte im Sinne vertraglich abgesicherter Vereinbarungen, eigentlich als die einzige Möglichkeit erscheinen, Individualität und Legitimität zu vereinbaren. Weber diagnostiziert allerdings keine stetig schwindende Bedeutung der älteren Legitimation durch das Erbe, sondern deren Weiterwirken bis in die Gegenwart herein. Über die „Erbanfälle“, die dem Individuum „kraft familienrechtlicher Beziehungen zufallen“, heißt es: Derjenige Rechtserwerb, welcher dem Erbrecht entstammt, bildet nun in der heutigen Gesellschaft das wichtigste Überlebsel jener Art von Besitzgrund legitimer Rechte, die

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einst – gerade auch in der ökonomischen Sphäre – ganz oder nahezu alleinherrschend war. Denn in der Sphäre des Erbrechts kamen und kommen, wenigstens dem Schwergewicht nach, für den einzelnen Tatbestände zur Geltung, auf welche sein eigenes Rechtshandeln, prinzipiell wenigstens, keinen Einfluß übt, die für jenes vielmehr in weitem Umfang die von vornherein gegebene Grundlage darstellen.8

Das Familienerbrecht ist also selbst ein Erbe: der Rest, das „Überlebsel“ einer früheren Kulturstufe. Seine Realität und Wirksamkeit ist allerdings unbestreitbar. Folglich richtet sich Webers Interesse auf die Möglichkeiten seiner Einbindung in die wechselseitige Erläuterung von Wirtschaftsordnungen, Vergesellschaftungsprozessen und Machtverhältnissen. Die Formulierung an der zitierten Stelle ist weitreichend: Als „gegebene Grundlage“ ist das Erbrecht nicht eigentlich Teil moderner Legitimität, sondern deren Voraussetzung. Es steht also außerhalb des modernen „Rechtshandelns“ – aber nicht, weil es nicht dazugehören würde, sondern weil es dessen Apriori darstellt, indem es die dafür notwendige Individualität überhaupt erst ermöglicht. In polemisch-kulturkritischer Wendung dieses Überlebsel-Arguments heißt es bei Max Nordau, dass in der „Sphäre des Unbewußten […] der urmenschliche Aberglaube kraft des Gesetzes der Vererbung“ fortwirke: „Die Vererbung ist ein Bann, dem wir uns nicht entziehen können.“9 Besonders problematisch erschien ein solches kulturelles ‚Gesetz der Vererbung‘ um 1900 dort, wo man sich anschickte, ohne Rekurs auf Kultur und auf rein biologischem Wege die Neuen Vererbungsgesetze zu bestimmen.10 In einem so betitelten Vortrag formulierte Carl Correns, das Wort ‚Vererbung‘ sei nur in Ermangelung eines besseren „aus dem Alltagsleben in die biologische Wissenschaft hinübergenommen worden“. In der Tat seien zwar auch in der Biologie „die genetischen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern im Spiele“, aber das wissenschaftlich Relevante an der Vererbung bestehe gerade nicht in einer solchen direkten Weitergabe von einer Generation zur nächsten.11 Der Botaniker Wilhelm Johannsen sprach geradezu von einer terminologischen „Schuld“ der Biologie. Sie bestehe darin, „das Wort Erblichkeit oder Vererbung aus dem täglichen Leben“ zu nehmen, nämlich aus dem Bereich des innerfamiliären Güter- und Wissenstransfers. In der biologischen Theoriebildung herrsche daher ein „Verwandtschaftsspuk recht bösartiger Natur“, da sich nach wie vor unklare Vorstellungen von Familienähnlichkeit in die Untersuchung genetischer Beziehungen mischten.12 Damit ist die heikle Frage angesprochen, wie viel Familiengeschichte überhaupt benötigt wird, um Vererbung beschreiben zu können. Intensiv diskutiert wurde sie um die Jahrhundertwende unter dem Titel der ‚Vererbung erworbener Eigenschaften‘. Für die biologische Genetik galt seit ihrer Anfangsphase im ausgehenden 19. Jahrhundert die Idee der unmittelbaren Einwirkung familialer und individuell erfahrener Einflüsse auf die Erbmasse als ebenso obsolet wie das als simplifizierend aufgefasste Konzept der ‚Eigenschaft‘. Die Lehrmeinung lautete statt dessen, dass 158

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Keim- und Körperzellen zwei grundsätzlich voneinander getrennte Systeme seien, zwischen denen keine Verbindung bestehe. Aufgrund dieser zuerst von dem Zoologen August Weismann theoretisch konstruierten materiellen Barriere konnte die Vererbung auf den Vorgang der Zellteilung im ‚Keimplasma‘ reduziert werden. Alles Somatische, erst recht alle Übung und Tätigkeit, war laut Weismann am Vererbungsgeschehen komplett unbeteiligt, weshalb er hinsichtlich der Vererbung erworbener Eigenschaften die „Überzeugung“ äußerte, dass sie „in der Tat nicht besteht.“13 Was dieser sich rasch etablierenden biologischen Lehrmeinung widersprach, wurde oft als ‚Lamarckismus‘ diskreditiert –mit Blick auf die von Jean-Baptiste de Lamarck in seiner Philosophie zoologique (1809) vorgebrachte These von der varietätenbildenden Wirkung des Gebrauchs oder Nichtgebrauchs einzelner Körperteile. Allerdings stand noch für Charles Darwin „unzweifelhaft“ fest, dass erworbene Modifikationen vererbt würden.14 Im Anschluss sowohl an Lamarck als auch an Darwin vertrat Ernst Haeckel einen doppelseitigen Vererbungsbegriff aus „Vererbung ererbter und erworbener Charaktere“, wobei letztere unter dem Begriff „progressiver Vererbung“ firmierte.15 Weiterhin wirksam blieb das Modell in diversen Ansätzen zu einer Psycho-Biologie, etwa bei Ewald Hering, der davon ausging, dass es „ein kleines Erbe“ gebe, „welches im individuellen Leben des mütterlichen Organismus erworben und hinzugelegt wurde zum großen Erbgute des ganzen Geschlechtes“, und zwar durch „materielle Vermittlung“ zwischen erworbenen Eigenschaften und Keimbildung.16 Eine solche integrative Vererbungswissenschaft wurde bis ins 20. Jahrhundert hinein weiter vertreten. Dabei stand die Vererbung erworbener Eigenschaften für ein kasuistisches, an der Merkwürdigkeit des Einzelfalls orientiertes Interesse – gegen das geschlossene, auf Folgerichtigkeit und Lückenlosigkeit gerichtete Theoriedesign der beginnenden Genetik.17 In der Überschneidung biologischen Wissens mit psychologischen und sozialen Deutungsmustern zeigt sich das Gemischte, disziplinär ‚Unreine‘ des Konzepts Familienerbe. Auf diese Weise entstanden um 1900 durchaus merkwürdige Beispiele interdisziplinärer Vererbungsforschung, etwa das Buch Familienforschung und Vererbungslehre, 1907 publiziert von dem Psychiater Robert Sommer. Er erläutert darin die Vererbungsgesetze im genetischen Verständnis und wirft die Frage auf, inwiefern sich diese überwiegend an botanischen Züchtungsversuchen ermittelten Regeln auch „auf die Untersuchung der menschlichen Familie“ anwenden ließen. Die Antwort lautet, es sei zumindest „nicht ausgeschlossen, daß sich auch für die Vererbung von menschlichen Merkmalen bestimmte Regeln und Gesetze ergeben werden.“ Zur eventuellen Ableitung solcher Gesetze bedürfe es gründlicher „Einzelbeobachtung an Familien“.18 Die von Sommer vorgeschlagenen Techniken der Familienforschung beschränken sich keineswegs auf das Methodenarsenal der Biologie, sondern stammen etwa aus der Genealogie  – hier im Sinne der historischen Hilfswissenschaft  –, aus der Psychiatrie und der Kulturgeschichte. Im „Hinblick auf das gemeinsame Ziel: Feststellung 159

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der Familienzusammengehörigkeit“19 empfiehlt Sommer so heterogene Verfahren wie die Sichtung kirchlicher Urkunden, das Studium von Familiennamen und Grabdenkmälern, die Wappenkunde, außerdem die physiognomische und psychologische Untersuchung von Körpern und individuellem Verhalten.20 Dieser Eklektizismus führt unter den einmal getroffenen Voraussetzungen der Zuschreibung genetischer Identität zu problematischen Überlagerungen der Objekte von Vererbungstheorien, von Individuen zu Familien, Populationen und Rassen. Sommer selbst äußert sich optimistisch, dass die „Rassenlehre, der mit Recht in der Gegenwart eine große Bedeutung beigemessen wird“, ihre Ergänzung „durch eine methodische Untersuchung bestimmter Generationsreihen“ finden könne, „deren Glied das einzelne Individuum darstellt. […] Dabei ist die familiengeschichtliche Methode besonders geeignet, die Frage nach der Rassenmischung ins klare zu bringen.“21 Im Abzielen auf den zwischen Biologie und Gesellschaft changierenden Rassebegriff zeigt sich, dass und wie das Konzept des Familienerbes auch in eugenischen Denkformen funktionieren konnte  – von wissenschaftlichen über sozialutopische bis hin zu totalitären Programmen.22 Bemerkenswerterweise flankiert Robert Sommer sein eigenes eugenisches Programm, das er „sozialaristokratisch“ nennt,23 auch mit den Degenerationserzählungen in den Familienromanen von Émile Zola und Thomas Mann.24 Im damit aufgerufenen Degenerationsdiskurs wird oft die künstlerische Hochbegabung zum Extrem- und zugleich Testfall des genealogischen Ansatzes. Von überaus großer Wirkung war die Formel ‚Genie und Wahnsinn‘, titelgebend etwa in Marie Jean Pierre Flourens’ Abhandlung De la raison, du génie et de la folie (1861) oder im Erfolgsbuch Genio e follia (1864) des Gerichtsmediziners Cesare Lombroso. In einer späteren deutschen Ausgabe von Lombrosos Studien mit dem Titel Entartung und Genie findet sich eine kurzgefasste Darstellung des erb­ lichen Zusammenhangs von Genie und Degeneration. Demnach bewirken „erworbene tie­ fergehende Krankheiten der Eltern eine vom normalen Typus abweichende Beschaffenheit der Kinder und weiterhin auch der Nachkommenschaft dieser“, wobei sich aber diese Abweichung „nicht bis ins Unendliche fortsetzt, sondern ihr Ende in dem Erlöschen der entarteten Generationsreihe, manchmal auch in einer letzten Regeneration findet.“ Diese „letzte Regeneration“ ist das Genie, „das letzte Aufflackern eines solchen Geschlechts, mit diesem Knalleffect erlischt es, und die häufige Sterilität des Genies charakterisirt es besonders als eine degenerative Erscheinung.“25 Die Faszination für den genealogischen ‚Verfall‘, so wie er titelgebend in Thomas Manns Buddenbrooks. Verfall einer Familie (1901) erscheint, zeigt sich nicht nur im Familienroman, sondern auch in Familienbiographien, die sich seit dem späten 19. Jahrhundert als Untergattung der Biographie zu etablieren begannen. Von initialer Bedeutung war die auf empirischen Untersuchungen fußende und sozialreformerisch inspirierte Studie The Jukes (1877) des amerikanischen Soziologen Richard L. Dugdale, der ein geradezu episches Bild 160

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der Degeneration zeichnete: Unter den siebenhundert Abkömmlingen eines einzigen kriminellen Stammvaters fand er über dreihundert Prostituierte und Bettler, Dutzende von Schwerverbrechern sowie etliche ‚Schwachsinnige‘.26 Gerade in Familienbiographien wurde allerdings von Anfang an mindestens ebenso oft das genau gegenläufige Narrativ des Aufstiegs verwendet. Dafür stehen erfolgsgeschichtlich-apologetische Biographien von Gelehrten- oder Unternehmerdynastien,27 aber auch von Künstlerfamilien, was sich, einmal mehr, exem­ plarisch an der „musicalisch-Bachischen Familie“ aufweisen lässt: Einige Jahrzehnte nach Nikolaus Forkel widmete Philipp Spitta in seiner monumentalen Biographie den Vorfahren J.S. Bachs bereits fast zweihundert Seiten.28 Wiederum knapp hundert Jahre später sollte Karl Geiringer eine Familienbiographie der Bachs mit dem programmatischen Untertitel Seven generations of creative genius verfassen.29

2 Gurlitt über Gurlitt: Künstler-, Vater- und Familienbiographie Im Kontext der knapp umrissenen Diskurse und Debatten über die moderne Problematik von Erbe, Erbschaft und Vererbung, speziell über die Funktion der Familie bei der erblichen Übertragung und Weitergabe, situiert sich Ludwig Gurlitts 1912 erschienene Biographie seines Vaters. Es ist wichtig zu betonen, dass es sich hier um ein synkretistisches Wissen handelt und dass Gurlitt nicht an einer terminologischen Klärung des Vererbungsbegriffs interessiert ist. So argumentiert er, wie zu sehen sein wird, ökonomisch, ja ökonomistisch, jedoch ohne die Sozioökonomie der Vererbung näher zu analysieren. Ebenso streift er kurz die moderne Biologie, rekurriert aber keinesfalls auf biologisches Fachwissen. Insgesamt ist sein Bild von Familie, Generationsverhältnissen, Weitergabe und Überlieferung deutlich auf Ausgleich und Harmonisierung ausgerichtet. Er steht zwar als Autor im historischen Kontext einer teils erheblichen Problematisierung künstlerischer Genealogien angesichts drohender Degeneration, ist aber umso mehr bestrebt, seinen Vater nicht als Genie im Sinne Lombrosos zu zeichnen, sondern als begabten Künstler mit ausgeprägter Verantwortung für seine Familie. Die Rede pro domo, die Thematisierung der Reproduktionsvorgänge in der eigenen Familie, führt zu der Tendenz, Konflikte im Zweifelsfall eher auszublenden als sie zu forcieren. All dies ist nicht zuletzt deshalb von Interesse, weil der Verfasser ein Reformpädagoge war. Er förderte die Wandervogelbewegung, sprach sich für ‚natürliche‘ Erziehung aus und wurde aufgrund solcher für seine Zeit radikalen Ansichten 1907 aus dem Schuldienst entlassen. Diese Entlassung und die Publikation seiner wichtigsten Schriften  – Pflege und Entwicklung der Persönlichkeit (1906), Schule und Gegenwartskunst (1907), Erziehungslehre (1909) – waren 161

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der Vater-Biographie nur wenige Jahre vorangegangen.30 Die Reformpädagogik steht mit ihrer Emphase der ‚bewegten‘ Jugend eher für ein generationelles Konfliktmodell. Sie sieht die von ihr unterstützte und vertretene junge Generation in einem prinzipiellen Gegensatz zur älteren, in einem Kampf um Freiheit und Wahrheit in Schule und Elternhaus, in Religion und Erotik – so der Untertitel des Buchs Die neue Jugend, das der Pädagoge Gustav Wyneken 1914 veröffentlichte. In Gurlitts Biografie seines Vaters ist allerdings von solchen Kämpfen zwischen den Generationen wenig zu bemerken. Statt dessen scheint es hier gerade um die bewusste Stiftung von Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu gehen, im Sinne der Formulierung, die Wilhelm Dilthey einige Jahrzehnte zuvor seiner Schleiermacher-Biographie vorangestellt hatte: Es gelte, den Zusammenhang der dargestellten „Lebensereignisse mit unseren heutigen Aufgaben herzustellen, dem bleibenden in ihnen eine erneute Wirkung in der Gegenwart zu schaffen. Die Kontinuität unserer geistigen Entwicklung hängt davon ab, in welchem Maße uns das gelingt.“31 Folgt man Gurlitts eigener Erläuterung im Vorwort der Biographie, so lenken ihn jedoch weder solche geistesgeschichtlichen Motivationen noch irgendwelche Familienrücksichten, sondern allein „der Gedanke, daß sich unseres Vater [sic] Leben selbst darstellen sollte.“32 Für die Machart der Biographie bedeutet das, dass Gurlitt an zahlreichen Stellen Briefe und andere Dokumente seines Vaters und anderer Zeitgenossen einfügt. Um so weniger sieht er sich berufen, „als Sohn über den Vater gleichsam zu Gericht zu sitzen und ihm Noten zu erteilen“ – was dann immerhin, wenn auch in der Negation, eine interessante Überlagerung der eigenen pädagogischen Kompetenz („Noten“) mit einer juristischen Zuständigkeit („Gericht“) andeutet. Dennoch soll es hier intergenerationell gar nichts auszufechten geben: „Es kann dem Leser auch wenig daran liegen, wie sich der Sohn zum Vater stellt“. Für das Leben des Vaters soll trotzdem der Konflikt das charakteristische Merkmal sein, der „Kampf, den deutsche Künstler im letzten Jahrhundert in und mit ihrem Vaterlande und im eigenen Hause für ihre Familien zu kämpfen hatten.“ Es handelt sich hier also um ein Vater-Buch in mehrfacher Hinsicht: Wenn der Künstler die Rolle des Haus- und Familienvaters ausfüllen muss, steht offenbar seine kulturelle Funktion für das Vaterland in besonderer Weise zur Debatte. Die Anfangspassagen des Buchs schreiten die biographisch-genealogischen Topoi mustergültig ab: „Name und Herkunft“, „Nähere Vorfahren“, „Vaters Großvater“, „Vaters Vater“, „Geburtshaus unseres Vaters“ – so lauten die als Marginalien gesetzten Zwischenüberschriften des ersten Kapitels, das insgesamt den Titel „Vorfahren“ trägt. Angesichts der teils dürftigen Aktenlage ist der Verfasser trotz seiner „eifrigen Nachforschungen“ (4) bei den weiter zurückliegenden Ahnen oft auf Vermutungen angewiesen. „Wir haben uns also damit zu bescheiden: Herkunft dunkel!“ (5) Diesem leicht ironischen Vorbehalt zum Trotz erwähnt Gurlitt mit gewissem Stolz das einstige Vorhandensein eines Familienwappens, spekuliert über die slawische Herkunft des Namens aus dem slawischen Wort gorel, ‚verbrannt‘ (das er weiter in Richtung auf 162

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„heftiges Verlangen“ etymologisiert, womit sich die Frage anschließt: „Wären wir Gurlitt also vielleicht dem Namen nach – ‚Begeisterte‘?“), und leitet die „glückliche Natur“ seines Vaters aus der „Mischung von slavischem und germanischem Blute“ her (6). Letzteres stamme von dessen Mutter, die „aus dem urdeutschen Buxtehude gebürtig“ war (ebd.). Ansonsten betrifft die weiter zurückreichende Genealogie nur die väterliche Seite, über die der Familienname tradiert wurde. Nach diesem gleichsam prähistorischen Vorspann kommt mit den näheren Vorfahren verstärkt die kulturelle Vererbung in den Blick: die berufliche Weitergabe von Kunstfertigkeiten, womit in Gurlitts Darstellung schon früh eine künstlerische Tradition in der Familie entstanden ist. Bereits der Urgroßvater des Biographierten, Christian Gurlitt, hat demnach als Schneidermeister „die Brücke zur künftigen künstlerischen Betätigung“ (7) geschlagen. Über dessen Sohn, „Vaters Großvater“ (11), der als Golddrahtzieher wirkte, heißt es, er habe durch seinen „Übergang zum Kunsthandwerk“ den „Schritt zur Kunst [vorbereitet], den seine Nachkommen machen sollten“ (10). In die Genealogie der Vorfahren werden also – retro­ spektiv – zukunftsweisende Entscheidungen, Übergänge, Passagen eingetragen. Indem sich der Protagonist des Buches, Louis Gurlitt, in seiner Existenz als Künstler auf diese Entscheidungen zurückbeziehen lässt, kann er ein „Erbe“ genannt werden: „Wir brauchen es auch zum Verständnis der Wesensart unseres Vaters, der sich in jeder Hinsicht als der reiche Erbe väterlicher Tüchtigkeit erwies“ (10) – dies im Sinne nicht nur des Vaters-Vaters, sondern der väterlichen Genealogie insgesamt. Die Seiten, die „Vaters Vater“ Wilhelm Gurlitt gewidmet sind, beginnen mit einer Bemerkung, die sich als biologisch ausweist: „Er war der Erstling aus junger Ehe. Das war ein Segen für das Kind. Es bekam damit die beste Kraft zweier gesunder Menschen mit ins Leben. Moderne Biologen wissen, was das bedeutet. Die Keimzelle, das ist alles!“ (12) Modern ist in der Tat der Ausdruck „Keimzelle“, mit dem avanciertes genetisches Wissen zitiert zu werden scheint. Indem hier aber gerade somatische und soziale Parameter – zwei gesunde Menschen, eine junge Ehe – und noch dazu der Begriff der (Lebens-)Kraft bemüht werden, geht der Verweis eher in Richtung auf einen Vitalismus älterer Prägung, letztlich auf ein biologisch gänzlich unausgewiesenes Erfahrungswissen, wonach sich Lebenskraft und Lebensfreude, folglich aber auch deren Mangel, direkt vererben. Genau dies ist für die Deutung der Familiengeschichte von einiger Bedeutung. Der Vater des Biographierten war „jederzeit zu Scherz aufgelegt, aber auch wieder zu Ernst und Schwermut umschlagend“, also, bei aller zuvor betonten Tüchtigkeit, „eine echte Künstlernatur“ (18), „durch und durch Künstler“ (24). Als solcher bringt er eine künstlerische Nachkommenschaft hervor, was namentlich drei Söhne unter seinen insgesamt 18 Kindern betrifft: „[u]nsern Vater, den Maler, Cornelius, den Musiker und den dichterisch und vor allem rednerisch stark veranlagten Emanuel späteren Bürgermeister von Husum.“ In diesen dreien habe der Vater „die Kunst geweckt“ (24). 163

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Louis Gurlitt stammte demnach aus einer Familie, die sich bereits deutlich zur Lebenswelt der Kunst hinüberneigte, ohne dass dort aber bereits Kunst als Beruf ausgeübt worden wäre. Der Biograph verschweigt nicht die prekären wirtschaftlichen Verhältnisse, die im Elternhaus seines Vaters geherrscht haben dürften: „Da es mit der Golddrahtzieherei durchaus nicht mehr gehen wollte, wurde es mit einer Art Drogerie versucht“, später auch „mit Fischhandel, ja selbst mit Schreibunterricht“ (23). Um so mehr werden Anstand, Ehre und Solidität jenes Haushalts gerühmt, vor allem der Umstand, dass Wilhelm Gurlitt seine Buchführung in Ordnung gehalten und niemandem etwas schuldig geblieben sei. Die Schuldenlosigkeit – deren Nähe zur Schuldlosigkeit hier offen zu Tage liegt – wird wiederum ausdrücklich als ein väterliches Erbteil und zugleich als Inbegriff der väterlichen Memoria bezeichnet, zu der sich der Biograph, als Fortsetzer dieser Genealogie und als Hüter des Familiengedächtnisses, mit einem geflügelten Wort aus Goethes Iphigenie bekennt: „Wohl dem, der seiner Väter gern gedenkt!“ Diese Gewissenhaftigkeit erbte auch sein Sohn Louis, der sich rühmen konnte, nie Schulden gehabt zu haben und daß auch an ihm kein Mensch je zu kurz gekommen sei. (26)

Gedenken und Erbe sind hier eng aneinander geknüpft, ohne dass das Erbe rein kulturalistisch auf die Praxis des Gedenkens reduziert würde. Auf welche Weise und auf welchem Wege Louis die Gewissenhaftigkeit seines Vaters geerbt hat, wird nicht näher expliziert und bleibt im offenen Bereich zwischen der Weitergabe eines Charakters qua Abstammung und Geburt einerseits und einer familiär institutionalisierten väterlichen Vorbildhaftigkeit, möglicherweise auch expliziten Tugendlehre andererseits. Daneben kann ‚Erbe‘ im Text dieser Biographie auch noch anderes heißen, zum Beispiel materielle Hinterlassenschaft. So wird über den Großvater des Vaters gesagt, er habe „uns als einziges Erbe einen kurzen Brief hinterlassen“ (11). Und es kann sich um körperliche oder charakterliche Merkmale handeln, wenn es über den Bruder von Louis’ Mutter, einen in der Familie „berühmten“ Onkel, heißt: „Ein Erbteil seines frischen Humors lebt in unserer Familie heute noch fort“ (16), oder wenn die „Kraft und Lebensfreude“ der Mutter daraus abgeleitet wird, dass ihre Vorfahren das Schmiedehandwerk ausgeübt hätten: „Kein Wunder, daß sie einen tüchtigen Körper und gesunde Nerven mit ins Leben bekommen hatte.“ (19) Ludwig Gurlitt nennt diese Frau – seine Großmutter – „eine rechte StammMutter“ (22). In der Beschreibung des Hausstandes der unmittelbaren Herkunftsfamilie Louis Gurlitts fällt die Bedeutung der Bilder auf. Der Biograph registriert – im wörtlichen Rückgriff auf die Erinnerungen eines seiner Onkel, des zuvor erwähnten Musikers Cornelius Gurlitt –, wo welche Bilder hingen, in wessen Besitz sie seither kamen und nun, zum Zeitpunkt der Biographie, sind. Das ist von besonderem Interesse, insofern Louis als Jugendlicher mehr und mehr den 164

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„Bilderschmuck“ des Elternhauses übernahm. Dort entstand also eine „zunehmende Zahl von Bildern seiner Hand“ (27), und daher ist jenes Haus sozusagen der ursprüngliche oikos der Kunstökonomie, um die es in dieser Biographie explizit und programmatisch geht. „[E]s wird viel, für saturierte Leser zu viel von Geldgeschäften und Verdienen in seiner Lebensbeschreibung die Rede sein“, und zwar aus Gründen der historisch angemessenen Deutung eines exemplarischen ‚Künstlerlebens‘: Man dürfe nicht verschweigen, „wie hart den Künstlern des vorigen Jahrhunderts das Leben in Deutschland wurde.“ (31) Zugleich geht es dem schreibenden Sohn auch darum, das väterliche Werk, „die Menge seiner Arbeiten und ihren Verbleib bekannt zu machen“ (32), also Kunstentstehung, Kunstökonomie und Provenienz in ihrem engen Nexus darzustellen. Ein weiteres Element des Gurlitt’schen Familienerbes ist der Name. Er ist zwar immateriell, hat aber Teil an den Ökonomien, von denen die Rede ist. So erweist sich der Familienname Gurlitt für Louis schon früh als internationaler Türöffner: „Als mein Vater, jung an Jahren, in Dänemark, Norwegen und Schweden reiste, schuf ihm der Name seines Großonkels [des Philologen Johannes Gurlitt] bei Pastoren und Gelehrten stets freundliche Aufnahme.“ (9) Innerhalb der Familie begegnet vor allem die Weitergabe der männlichen Vornamen. Louis Gurlitts erster Sohn wird Franz Friedrich Wilhelm genannt und erhält „vom Großvater den Rufnamen Wilhelm“ (173)  – den dieser bereits von seinem Vater Gottlieb Wilhelm (11) bekommen hatte. Der dritte Sohn erhält „nach seinem Paten und Onkel den Namen Cornelius“ (247), der Biograph selbst, Ludwig, und seine Zwillingsschwester Elisabeth (Else) „bekamen die Rufnamen der Eltern“ (296). In anderen Namen hingegen werden außerfamiliäre Einflüsse repräsentiert, etwa wenn der vierte Sohn Friedrich nach dem Taufpaten Friedrich Hebbel heißt (allerdings unter anderem auch den Vatersnamen Louis trägt, 288). Wieder andere entstehen kontingent, wie im Fall des ersten, 1844 in Rom geborenen Sohnes Wilhelm: „Die Amme, die ihn Guilelmo [sic] nennen sollte, kürzte das in Memo ab, und dieser Name blieb ihm in der Familie und bei Bekannten bis in sein Mannesalter, ja über sein Grab hinaus.“ (173) Eine Mischung aus Traditionsstiftung, Kontingenz und eigener Wahl begegnet beim Vornamen, den Vater und Sohn, Protagonist und Biograph, gemeinsam haben. Damit kommt der Verfasser mit ins Familienbild, in dem er allerdings nur eine Randstellung einnehmen will. Bei der Erwähnung seiner Geburt nennt er sich „meine Wenigkeit“ und kommentiert, dass gemäß der Familienchronik – aus der er viele seiner Informationen bezieht – „der Knabe besonders mager und schwächlich war“ (295). Dennoch ist er es, der den väterlichen Vornamen fortträgt, und zwar in seiner französisch-deutschen Doppelversion. Louis Gurlitt wird nach seiner Geburt 1812 in Altona zunächst auf den Namen Ludwig getauft, nach dem bereits erwähnten „berühmten“ Onkel mit dem „frischen Humor“ (16). Bald darauf endet in Norddeutschland die französische Besetzung, und genau dies ist der Zeitpunkt, an dem die Eltern, die „Napoleon 165

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doch dankbar“ sind und denen es „die Größe dieses Mannes angetan hat“, ihren Sohn familienintern umbenennen: „jetzt nannten sie ihn Louis, und er trug diesen französischen Namen durchs Leben“ (33). Wenn er später seinen 1855 geborenen Sohn nach sich benennt, dann in eben dieser Doppelung, die allerdings in einer späteren, politisch erneut signifikanten Situation auf die deutsche Version reduziert wird. Darin deutet sich sogar eine Art von Auflehnung des Sohnes gegen den Vater an: Ich erbte dann wieder von ihm den Namen Ludwig, wurde ebenfalls in der Kindheit Louis genannt, bis ich es, fünfzehnjährig, zur Zeit des französischen Krieges, durchsetzte, daß ich wieder meinen guten deutschen Namen zurückerhielt, der mich mit Onkel Eberstein verbindet. (Ebd.)

Nicht nur hier wird die von Gurlitt im Vorwort zur Biographie angekündigte ‚vaterländische‘ Geschichte des väterlichen Künstlerlebens im Hinblick auf internationale Verhältnisse, Beziehungen und damit auch Spannungen eingerichtet. Den dramatischen Höhe- und lebensgeschichtlichen Tiefpunkt stellt der Tod der zweiten Ehefrau (und Mutter des ersten Sohnes) in Rom dar. Bereits bei der Verlobung macht diese Verbindung Louis’ Eltern „keine Freude. Und die Ursache? Weil Julie katholisch war.“ (157) Der Konfessionsunterschied erweist sich in der Tat als verhängnisvoll, als in Rom ein deutscher Priester ans Sterbebett der Typhuskranken gerufen wird und ihr wegen des protestantischen Ehemanns die Absolution verweigert. Den daraus bei Louis resultierenden „Groll gegen die Kirche“ gibt er an seinen Sohn weiter, als dieser sich „46 Jahre nach diesem Trauerfall mit einer Katholikin verloben wollte“. Der Vater rät ihm „dringend, sie vor der Vermählung zum Protestantismus übertreten zu lassen“, offenbar erfolgreich: „ich bin ihm dafür wie für unzählig Anderes von Herzen dankbar“ (176) – womit der religiöse Konflikt mit der Verzögerung eines halben Jahrhunderts in einen familiären Ausgleich überführt wird. Der einleitend benannte ‚Kampf der deutschen Künstler für ihre Familien‘ geht prinzipiell nicht mit Familienstreitigkeiten einher. Vielmehr richtet er sich auf künstlerische Anerkennung und ökonomische Stabilität um der Familie willen. Gurlitts Biographie in ihrem überbordenden Reichtum an Briefen, Notizen und Berichten dokumentiert diese Anstrengung als nicht enden wollende Arbeit am Wohlergehen der Familie, unterstützt durch die Solidarität befreundeter Maler und anderer Kollegen. Zusammengefasst: „Sechs sehr laute Kinder und die Mutter guter Hoffnung mit dem siebenten, der Vater tagsüber vor der Staffelei und abends im Verkehr mit lieben und geistig hochstehenden Menschen, aber nie ohne Sorgen um die Zukunft seiner großen Familie.“ (318) Die „gesamte Kunstübung“ Gurlitts wird gleichsam zum Inbegriff dieser Bemühungen: „Wie er die harten Kontraste in Linie und Farbe mied, ebenso mied er die Leidenschaft in der Natur, das große Pathos.“ (475) In dieser Leidens- und 166

Ludwig Gurlitts Biographie seines Vaters

Leidenschaftsvermeidung erweist sich der Individualstil dieses Künstlers als tauglich für das Familienleben. Zum guten Schluss der Lebensgeschichte porträtiert der Biograph den Vater an seinem achtzigsten Geburtstag im Jahr 1892, als er wie ein „altbiblischer Patriarch […] inmitten seiner großen Familie“ sitzt, über der ein „wunderbares Glück“ gewaltet habe (470). War er als junger Mann kurz nacheinander zweimal verwitwet, so nähert er sich nun mit seiner dritten Frau bereits der Goldenen Hochzeit. Was hier gefeiert wird, ist daher das Leben der Familie als solches, das auch ein Triumph des gemeinsamen Überlebens ist: Wir addierten unsere Lebensjahre und kamen bis dicht an 500 heran. In fast 50 Jahren kein Toter unter 9 Menschen! Von 7 Kindern keines gestorben, keines verdorben, alle 6 Söhne verheiratet, mit Kindern gesegnet und in sicherer Lebensstellung: Wilhelm Universitätsprofessor in Graz, Otto selbständiger Wechselmakler in London, Cornelius Dozent der Kunstgeschichte in Charlottenburg, Fritz Gründer und Besitzer des Kunstsalons in Berlin, ich, Ludwig, Oberlehrer in Steglitz, Hans (Johannes) Kaufmann in Altona, Else, die treue Hüterin der greisen Eltern, auch in rüstiger Kraft dazu ein fröhliches Gewimmel von Enkelkindern. (470f.)

Dennoch liegt bereits „der Tod auf der Lauer“: Kurz nach dem Fest beginnt das „qualvolle[ ] Siechtum“ des vierten Sohnes Friedrich (471), der bereits als kleines Kind kränkelte und „seitdem bleich und nervös“ geblieben war (288). In diesem Krankheitsbild und im vorzeitigen Sterben des Sohnes vor den Eltern mag man einen Anflug von ‚Verfall der Familie‘ erblicken, so wie auch die erwähnte Selbstkennzeichnung des nachgeborenen Autors, des vorletzten Sohnes, als „meine Wenigkeit“ (295) an den Spätling und kindlichen Décadent Hanno Buddenbrook erinnern könnte. Damit ist allerdings mehr der kulturelle Kontext dieser Familienbiographie angesprochen als ihre Machart oder gar ihre Intention. Charakteristischer dafür ist Louis Gurlitts vollständig wiedergegebene Tischrede zur Goldenen Hochzeit. Hier ist von etwaigen Friktionen zwischen Familie und Vaterland vollends nichts mehr zu spüren, statt dessen wird beides miteinander verknüpft: „Laßt alle Eure Kinder gute, brave Deutsche werden!“ (474) In diesem „geistige[n] Testament“ (472) des Vaters sollen nationales, familiäres und individuelles Erbe letztlich bruchlos ineinander übergehen. Die Forcierung künstlerischer Individualität, die für Gurlitts ‚Künstlerleben‘ eine historische Option gewesen wäre, wird in der Biographie nicht ein einziges Mal als realisierbare Möglichkeit angedeutet, wohl auch deswegen nicht, weil damit die Fortexistenz der Familie zur Disposition gestanden hätte  – und in letzter Instanz auch die Produktion des biographischen Textes. Nicht von ungefähr schließt dieser mit einem erneuten Selbstverweis auf die Familienchronik: Als der Verfasser in jungen 167

Stefan Willer

Jahren einmal einen griechischen Sinnspruch über das Lob von Vater und Mutter in eigener Übersetzung „am Familientische“ vorträgt, fordert ihn die Mutter auf, das Epigramm „vorne in unsere Familienchronik“ einzutragen: „Ich tat es, und schreibe jetzt dasselbe Wort ans Ende dieses Werkes.“ (481)33

Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt. Ein Künstlerleben des XIX. Jahrhunderts, Berlin 1912, Titelblatt und Frontispiz.

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Porträt Else, um 1874, Privatbesitz ELISABETH Henriette Fanny Helene GURLITT, genannt ELSE, wird am 1. Juni 1855 als einzige Tochter des Landschaftsmalers Louis Gurlitt und dessen Ehefrau Elisabeth Gurlitt, geb. Lewald, in Wien geboren. Sie ist die Zwillingsschwester des Reformpädagogen Ludwig Gurlitt. Ab März 1860 wohnt die Familie in Schloss Mönchshof in Siebleben vor den Toren Gothas, wo Else im Kreise ihrer Geschwister frei, später heißt es „studentenhaft“, aufwächst. Nach der Schule macht sie ein Lehreinnenexamen, gibt Privatunterricht und kümmert sich um die Angelegenheiten der Familie. Sie hilft ihrem Bruder Fritz durch das Bemalen von TanagraFigürchen zum Verkauf in seiner Berliner Galerie, sie übersetzt für ihren Bruder Ludwig einen Text des amerikanischen Pädagogen John Dewey, sie unterstützt den Bruder Cornelius Gurlitt bei Recherchen. Immer wieder reist sie nach Wien, wo sie die Kontakte ihrer Familie zum österreichischen Adel pflegt und als Freundin und Gesellschafterin von Yella von Oppenheimer bekannt ist. Eine „Episode“ mit dem Rembrandtdeutschen Julius Langbehn verleiht ihr eine gewisse vorübergehende Prominenz. Im Wesentlichen ist sie aber als Tochter für die Betreuung ihrer Eltern zuständig. Am 24. Februar 1936 stirbt Else und wird wie ihr Zwillingsbruder auf dem Pragfriedhof in Stuttgart beigesetzt. 169

Else Gurlitt. Ein Leben zwischen sechs Brüdern Mit einer Brief-Dokumentation Elizabeth Baars*

1 Das familiäre Umfeld Elisabeth Henriette Fanny Helene Gurlitt, genannt Else, wurde im Jahre 1855 als einzige Tochter von Louis Gurlitt und dessen Ehefrau Elisabeth Gurlitt, geb. Lewald, und als Zwillingsschwester von Ludwig Gurlitt in Wien geboren. Als ihr Geburtsdatum werden der 31. Mai und der 1. Juni 1855 genannt. Die ungedruckten Lebenserinnerungen ihrer Stief-Nichte Mercedes Gurlitt, der Schwieger- und Stieftochter von Ludwig Gurlitt, nennen den 1. Juni. Sie schreibt: „Ludwig Gurlitt ist als fünfter Junge am 31.  Mai 1855 geboren, mitten in der Nacht. Seine Schwester bald danach, da war schon der 1. Juni. Dementsprechend sind die Zwillinge in verschiedenen Monaten registriert.“1 Sie bezieht sich dabei offensichtlich auf eine in ihrem Nachlass gefundene handschriftliche Notiz, in der sie eine Eintragung von Elses Mutter aus der leider verschollenen Familienchronik widergibt: „31. Mai 1855 nachts 11 Uhr wurde unser fünfter Sohn geboren. Den 1. Juni morgens 2 Uhr wurde unsere Tochter geboren. Die Mutter muß es doch wissen.“ Diese Darstellung wird auch von Ludwig Gurlitt in seiner Biografie des Vaters Louis Gurlitt übernommen.2 Else wächst zusammen mit 6 Brüdern auf. Das sind neben dem Zwillingsbruder Ludwig der erstgeborene Halbbruder Wilhelm, geb. 1844 in Rom und von der Familie Memo genannt;3

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Die Verfasserin ist Urenkelin von Louis und Elisabeth Gurlitt, und Enkelin von deren jüngstem Sohn Johann, genannt Hans. Sie initiierte im Jahre 1997 die Ausstellung Louis Gurlitt. Porträts europäischer Landschaften in Gemälden und Zeichnungen im Altonaer Museum und nachfolgend in anderen Museen. Aus diesem Anlass organisierte sie auch ein Treffen der Familie Gurlitt in Hamburg und pflegt seither den Stammbaum der Familie und ein mittlerweile umfangreiches privates Familienarchiv. Es umfasst zahlreiche Briefe zwischen dem Ehepaar Louis und Elisabeth Gurlitt mit dessen Kindern sowie Fotos und Dokumente zur Familiengeschichte, vornehmlich aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Für die Unterstützung bei der Abfassung dieses Beitrags dankt die Verf. Dr. Bodo A. Baars.

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Else Gurlitt

Otto, geb. 1848 in Berlin; Cornelius, geb. 1850 in Nischwitz bei Leipzig; Fritz, geb. 1853 in Wien;4 Hans, geb. 1857 in Wien. Ihre Mutter Elisabeth, geb. 1823, ebenfalls Else genannt, entstammte der jüdischen Familie Lewald in Königsberg. Ihre älteste Schwester war Fanny, verheiratete Stahr (1811–1889), die ihr Vater Louis bei einem seiner längeren Aufenthalte in Rom (1843–1846) in der deutsch-skandinavischen Künstlerkolonie kennengelernt hatte. Louis war dort 1844 nach dem Tod seiner zweiten Frau Julie Bürger, die kurz nach der Geburt des Sohnes Wilhelm an Typhus in Rom gestorben war, Witwer geworden. Sowohl Louis als auch Fanny Lewald gingen nach Beendigung ihrer jeweiligen Romaufenthalte nach Berlin, wo Fanny bereits vorher gewohnt hatte. Fanny arrangierte, dass ihre jüngere Schwester Elisabeth und Louis sich in Berlin begegneten. Louis war als Witwer durchaus an einer neuen Verbindung interessiert. Fanny entzog damit auch Gerüchten, die in Rom kursierten, dass sie selbst mit Louis Gurlitt eine Ehe eingehen wolle, die Grundlage. Beide, so scheint es jedenfalls aus heutiger Sicht, haben sich bei aller Freundschaft zu diesem Schritt nicht entschließen können.5 Louis und Elisabeth Lewald fanden Gefallen aneinander und heirateten 1847 in Berlin. Ihre Ehe war nach allen Quellen glücklich und stabil. Sie konnten 1897 noch ihre goldene Hochzeit in Naundorf (Sachsen) feiern; im selben Jahr verstarb Louis Gurlitt dort. Aus dieser Vorgeschichte erklärt sich nicht zuletzt die enge Beziehung, die zwischen der kinderlos gebliebenen Fanny Lewald und Else mit ihren Brüdern entstand. Dies zeigte sich bereits bei der wie üblich kurz nach der Geburt von Else vollzogenen Taufe, bei der neben ihrer Großmutter Helene, geb. Eberstein, zwei Schwestern ihrer Mutter Patinnen wurden, Fanny und Henriette Lewald.

2 Wien (1855–1859) Ihre ersten Lebensjahre verbrachte Else in Wien, wohin die Familie von Nischwitz (bei Leipzig) im August 1852 dem Vater Louis Gurlitt folgte, der dort bereits seit Oktober 1851 lebte, weil er in Wien für seine künstlerische Tätigkeit bessere Voraussetzungen erwartete, eine Überlegung, die sich in der Folgezeit bestätigte.6 Auch wenn Louis Gurlitt während der fast acht Jahre in Wien auf zahlreichen längeren Studienreisen unterwegs war, u.  a. in Hamburg und Schleswig-Holstein, Dänemark, Griechenland und vor allem in Italien, waren diese Jahre für die größer werdende Familie – 4 Kinder (Fritz, Ludwig und Else, Hans) wurden dort geboren – eine offenbar insgesamt glückliche und auch wirtschaftlich erfolgreiche Zeit. Von der 1855 geborenen Tochter Else sind aus der Wiener Zeit keine besonderen Ereignisse oder Erkenntnisse bekannt. Für ihr späteres Leben spielte jedoch der Umstand eine nicht 171

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unwesentliche Rolle, dass ihr Vater als anerkannter Künstler und zugleich guter Verkäufer seiner Werke zusammen mit seiner Frau ein gern gesehener Gast bei vielen bürgerlichen und adeligen Mitgliedern der Wiener Gesellschaft war. Daraus konnten sich teilweise langjährige persönliche Beziehungen entwickeln, die auch die Kinder, insbesondere Memo und Else, einbezogen. Derartige enge Beziehungen gab es insbesondere mit den Adelsfamilien Salm und Todesco. Für die Tochter Else entstanden dabei lebenslange Freundschaften mit diesen Familien, so mit Yella (Gabriele) Oppenheimer, geb. Freiin von Todesco, und mit Maria, genannt Minka, der Tochter des Fürsten Hugo Karl Eduard Salm-Reifferscheidt-Raitz, die ihr großer Halbbruder Memo seinerzeit in Wien unterrichtet hatte, was in Elses weiterem Leben zu vielen nachhaltigen Begegnungen führte.7

3 Gotha-Siebleben, Schloss Mönchshof, 1859–1872 Am 16.  August 1859 verließ die Familie Wien, um, nach kurzen Zwischenstationen in Bad Kösen und Gotha, schließlich am 6. März 1860 in das kleine Schloss Mönchshof in Siebleben vor den Toren der Stadt Gotha zu ziehen. Dieses etwa 1750 erbaute Schloss mit einem herrlichen Park und ausreichend Platz für die große Familie und ein Atelier für den Vater hatte Herzog Ernst  II. von Sachsen-Coburg-Gotha Louis Gurlitt zur freien Verfügung überlassen.8 Die von Louis Gurlitt als Alternative erwogene Übersiedlung nach Weimar war ausgeschieden, weil das vom dortigen Großherzog Carl Alexander zunächst offerierte Domizil nicht mehr zur Verfügung stand. In Schloss Mönchshof verlebten die Kinder eine glückliche Zeit, die später von Elses Zwillingsbruder Ludwig anschaulich beschrieben worden ist und die auch in Zeichnungen des Vaters zum Ausdruck kommt: Es wäre ein Buch für sich, wollte ich die Freuden dieses Aufenthaltes überzeugend darstellen. Ich nenne nur die Stichworte: Ziegenböcke im Gespann, Kaninchen, Eichhörnchen, Meerschweinchen, Hamster, Uhu, Turmfalke, Hühner, Enten, Voliere im Speisezimmer mit etwa 50 Singvögeln. Steter Freund und Gefährte der Dachshund „Waldmann“. Und nun die Spiele! Räuber und Gendarm, Indianer, Fischen, Schwimmen, Drachen-Steigenlassen, Schießen mit Armbrust und Blasrohr, Obsternte mit den Kindern der Bauern, auf dem Felde Ähren lesen („Stoppeln“), im Zimmer Theatermalerei und Papperei, Zeichnen, Tischlerei (eigene Hobelbank), Billiardspiel, Musizieren auf dem Klavier, Laubsägearbeit, Raupenzucht und was nicht sonst noch alles.9

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Else Gurlitt

Abb. 1: Louis Gurlitt, Schloßhof in Siebleben im Frühling 1861, Zeichnung, mit den Kindern Hans, Ludwig und Else, Privatbesitz Die Eltern achteten darauf, dass künstlerische und musikalische Aktivitäten gefördert wurden. Bruder Ludwig spricht sogar davon, dass an manchen Tagen das Haus zu einer „Kunsterziehungsanstalt ohne Erzieher“ wurde.10 Der Vater, wenn er anwesend war, beschränkte sich dabei auf kurze Bewertungen der Arbeitsergebnisse. Else, das Mädchen, war bei allen diesen Aktivitäten, so wie es scheint, immer mit dabei. Die Mutter hielt die Kinder schon in jungen Jahren an, ihren Tanten und den älteren, nicht mehr im Hause wohnenden Brüdern zu schreiben. Die 8-jährige Else beherzigte das mit einem Geburtstagsbrief an ihren ältesten Bruder Wilhelm: Lieber Memo. Ich gratuliere Dir zum Geburtstag und freue mich, das Du bald zu uns komst. Wir verkleiden uns zu Papas Geburtstag. Ich ziehe mich wie eine Vierländerin an. Fritz als Bauernjunge und Louis [d.i. Ludwig] auch. Und Hans als Fischerjunge. Ich kann Dir nicht[s] schenken. Nun denke An Deine Schwester. Else Gurlitt 

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6. März 1864.11

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In Siebleben ging Else mit ihren Brüdern Ludwig und Hans zunächst in die Dorfschule, später in die Bürgerschule in Gotha. Elses Mutter war mit den schulischen Leistungen ihrer Tochter zufrieden: Else hat sehr viel in der zweiten Classe zu thun, hauptsächlich arbeitet sie viel für Religion, da der Director diese Stunden giebt. Ich bin mit ihrem Unterricht sehr zufrieden u. wenn sie die ganze Schule durchgemacht haben wird, so wird ihr Wissen für das gewöhnliche Leben genügen. Sollte sie dann noch geistige Bestrebungen haben, so kann sie noch Privatstunden mit anderen Mädchen bekommen.12

Abb. 2: Else mit Bruder Hans in Gotha, ca.1866, Foto Familienarchiv

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Abb. 3: Else mit Mutter in Gotha ca.1868, Foto Familienarchiv Weil ein Schulbesuch für die Kinder im Winter bei der Kälte, der häufigen Schneeverwehungen und überhaupt des langen Schulwegs wegen nicht zumutbar war,13 zog die Familie erstmals Mitte Oktober 1866 für die Wintermonate in eine, wiederum von Herzog Ernst zur Verfügung gestellte geräumige Stadtwohnung in der „Schönen Allee“ in Gotha. Nach der Bürgerschule besuchten die Brüder – mit durchaus unterschiedlichem Erfolg – das (humanistische) Gymnasium Ernestinum. Für Mädchen war nach der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorherrschenden Tradition als weiterführende Schule nur eine sogenannte „höhere Töchterschule“ vorgesehen. Else besuchte eine solche und auch wieder mit gutem Erfolg, wie ihre Mutter zufrieden berichtet.14 Auch die Tanten Marie und Henriette Lewald nahmen in einem Brief an Else Anteil an der intellektuellen Entwicklung ihrer Nichte: Anbei noch ein schönes Geschenk, das ich dir besorgt habe. Ich war nämlich gestern Abend bei Tante Fanny und da kam die Rede von diesen schön gesammelten Volksliedern. Sofort dachte ich an Elschen, die Gedichte so liebt und eine kleine Wendung des Gespräches brachte mich auf Dich und Deine Vorliebe für Poesie, und siehe da! Ich erlangte diese

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herrliche Sammlung für Dich und bat Tante Fanny sogleich, Dir ihren Namen hineinzuschreiben, da Dir das gewiß besondere Freude machen wird.

Dennoch gehen sie uneingeschränkt vom Verständnis der dienenden Funktion der Töchter bzw. jungen Frauen aus: Sei doch nur recht aufmerksam gegen die Eltern deren Herzen jetzt von banger Sorge [wegen der Teilnahme von Otto und Cornelius am dt.-frz. Krieg] schwer erfüllt sind. Springe schnell auf, wenn Papa oder Mama was bedürfen und mache dich ihnen recht unentbehrlich, wie es die Pflicht einer einzigen Tochter ist.15

Der Verlust des rechten Auges Elses Leben wurde durch ein besonderes körperliches Schicksal beeinflusst, das aber im Briefverkehr innerhalb der Familie, abgesehen von der Zeit konkreter medizinischer Eingriffe, kein besonderes Thema war. Nur gelegentlich finden sich Hinweise: Unsere gute Else hat heute, seit langer Zeit durch ihr krankes Auge einen schlimmen Tag. Ich befürchte, daß sie ein Gerstenkorn davon bekommt, weil sie das Auge so schmerzt.16

Mercedes Gurlitt spricht in ihren Erinnerungen – ex post und ohne konkrete Jahreszahl – zwar davon, dass, als Else noch sehr klein war, „entdeckt wurde, dass ihr eines Auge nicht sehen konnte“.17 Wie und von wem, wird aber nicht gesagt, und in den vorliegenden Briefen finden sich für die ersten Lebensjahre keine Hinweise auf einen derartigen schwerwiegenden Befund. Auch später wird in Briefen nur gelegentlich und dann sehr allgemein ein krankes Auge erwähnt, das Else Probleme bereitet habe. Erst später wird das ganze Ausmaß der Krankheit thematisiert, auch von der damals 15-jährigen Else selbst: Mein geliebter Memo! Heute war Mama mit mir bei Herrn [Dr.] Meusel um ihn zu fragen ob man wohl jetzt schon eine Glasplatte auf mein Auge legen könnte, wir erfuhren aber zu unserem größten Schrecken, dass erst das ganze Auge getödtet werden müsse ehe man die Platte auflegen könne. Herr Doctor sagte also er wolle eine Salbe geben wodurch das Auge in acht Tagen ausschwären würde und die Muskeln zurückbleiben würden; auf eine Tödtung des Auges will sich Papa und Mama aber auf gar keinen Fall einlassen. Du würdest nun den Eltern u. mir einen großen Gefallen tun, wenn Du Doct. Brücke fragen wolltest ob es nicht möglich wäre eine Platte über das Auge zu legen ohne, daß es getödtet

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würde. Meusel zeigte uns die Augen, sie sind wunderbar schön gemacht, entsprechen aber nicht im Geringsten meiner Vorstellung.

Die Mutter bestätigt die Bedenken ihrer Tochter in einem Nachsatz: Mit Elsens Auge lassen wir nichts vornehmen ehe wir mehrere Tüchtige Ärzte consultiert haben. Das Auge tödten wie Dr. Meusel vorschlägt, soll keineswegs geschehen, Papa und ich wollen die Verantwortung nicht übernehmen.18

Zwei Jahre später entscheidet sich die Familie mit Else aber doch zu der offenbar unvermeidbaren Operation, über deren Verlauf ihr Bruder Ludwig erleichtert berichtet, daß Elsens krankes Auge vom Dr. Meusel glücklich operiert worden, und daß sie die Operation verhältnismässig gut überstanden hat. Zwar ist sie noch heute, 5 Tage nach der Operation, im Bette und in der Klinik, doch heilt das Auge zur größten Zufriedenheit des Arztes und verursacht ihr jetzt zum Glück nur noch geringe Schmerzen. […] Das künstliche Auge wird erst nach mehreren Wochen eingesetzt werden und Papa wird wahrscheinlich mit Else nach Coburg zu der Fabrik reisen und ein Passendes aussuchen.

Auch ihr Vater äußert sich in einem Nachsatz beruhigt und erleichtert über den Verlauf der Operation: Du wirst Dir denken können, mein guter Memo, welche aufregende Zeit wir durchlebt haben und theils noch durchleben. Gott sei Dank, daß das Schlimmste, die Operation, überstanden ist. Fritz wird Dir erzählt haben wie heldenmüthig unser gutes Elschen sie bestanden hat.19

In einem späteren Brief bewundert ihr Vater den Humor, mit dem Else ihre Situation gemeistert hat: Else trägt dies Alles mit bestem Humor, ihr wird alles zu einem Spaß. Neulich hat sie Meusel ein Buch […] geschenkt. Lulle [Ludwig] hat auf dem Titelblatt eine Hygaia gezeichnet und mit hübscher Schrift ‚Kronik der Klinik des Hr. Med. rath Dr. M.‘ hineingeschrieben; und Else hat das Motto, welches ich ihr gemacht habe; „Tritt ein und alles Bangen laß, hier krank zu sein, ist fast ein Spaß“ hineingeschrieben.20

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Der Umstand, dass sie sich in der Folgezeit stets nur im Profil von der linken Seite, ohne Sicht auf das rechte Auge, fotografieren ließ (Abb. 4, ca.1875), weist darauf, wie sehr sie sich zeitlebens des optischen Eindrucks nach der Operation bewusst war. Inwieweit ihr Glasauge sich negativ auf ihre Heiratsaussichten auswirken würde oder ausgewirkt hat, wurde, jedenfalls brieflich, nicht thematisiert. Außer in den Erinnerungen von Mercedes Gurlitt werden die Augenkrankheit und das eingesetzte Glasauge entsprechend in keiner Veröffentlichung erwähnt.

Abb. 4: Portrait Else, Dresden ca. 1875, Foto Familienarchiv

Weiterführende Ausbildung Die Belastungen durch die Augenkrankheit und schließlich das Entfernen des rechten Auges haben Else nicht davon abgehalten, weiter aktiv am gesellschaftlichen und kulturellen Leben in Gotha teilzunehmen. Mit sechzehn durfte sie die Tanzschule besuchen. Über ihre Vorbereitungen und auch die Unterstützung von Tante Fanny erzählt sie selbstbewusst und stolz ihrem Vater, der sich gerade in Düsseldorf aufhält: 178

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Tante Fan[n]y hat mir ein reizendes Ballkleid geschickt, wozu mir Mama die erste Rose gekauft, denke ich nun noch an ein weißes Concertkleid von Herrn Habermann, so ist es nicht die Schuld meines Kleides, wenn ich in diesem Jahre der Bevölkerung Gothas nicht die größte Bewunderung abzwinge. So bin ich fertig mit meiner Garderobe u. kann die Tanzstunde anfangen.21

In der Schule brachte Else weiterhin gute Leistungen und wurde wegen ihres eigenständigen Denkens gelobt. 1873 konnte sie die höhere Töchterschule in Gotha erfolgreich abschließen. Der Weg auf ein Gymnasium und eventuell auf eine Universität, der Jungen möglich war, blieb Mädchen aber zu der Zeit noch verwehrt. Die Eltern und auch ihre Tanten mütterlicherseits strebten jedoch für Else eine weiterführende Ausbildung an, wie die Mutter ihrem Sohn Memo erklärt: Papa wollte Else mit Astrid Seebach ein Jahr nach der Schweiz schicken, um sie zu fördern. Ich halte es aber für besser, wenn sie in Berlin ihr Lehrerinnen-Examen macht, dann habe ich keine Besorgnis für ihre Zukunft.22

Diese Absicht bekräftigt ihre Mutter 9 Monate später: Else soll, wenn sie ihr künstliches Auge bis dahin gut tragen kann, zum Herbst nach Berlin u. obgleich sie nicht bei den Tanten wohnen soll, so werden die doch in jeder Weise dort für sie sorgen. Else ist so heiter u. verlebt so glückliche Tage durch ihren frohen Sinn, daß sie dadurch allgemein gefällt, dazu kommt noch die allgemeine Bewunderung über ihren Muth. Meusel sagte mir, ich glaube jedes [I]hrer Kinder wäre so brav gewesen, das ist eben das Resultat der Erziehung, u. Muth hätten sie auch bewiesen so bald die Nothwendigkeit es erheischt.23

Die Familie entschied sich schließlich aber doch nicht für Berlin, sondern für das Gärtnerische Institut in Dresden.24 Die Gründe für diese Wahl lassen sich den Briefen nicht entnehmen. Da dieses Institut 1852 von einer Freimaurerloge in Dresden zunächst als „Lehr-und Erziehungsanstalt für Töchter gebildeter Stände“ gegründet wurde und ab 1859 um eine „Lehrerinnen-Bildungsanstalt“ erweitert wurde, ist zu vermuten, dass eine damit zu erwartende freigeistigere Ausrichtung den Ausschlag gab. Belege gibt es dafür aber nicht. Auch lässt sich den vorhandenen Dokumenten nicht entnehmen, ob Elses Patentante Fanny Lewald auf diese Entscheidung Einfluss genommen hat. Vielleicht hat der Umstand eine Rolle gespielt, dass es zu der Zeit nur wenige Lehrerbildungseinrichtungen für Frauen in den deutschen Ländern gab und Sachsen mit dem Institut in Dresden sich auch deswegen anbot. 179

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4 Dresden 1872–1888 Während die Familie vorerst noch in Gotha blieb, ging Else zunächst allein nach Dresden und bezog am 23.  Oktober 1872 zusammen mit ihrer zwei Jahre älteren Cousine Else Minden, der Tochter von Minna Minden, geb. Lewald, einer Schwester ihrer Mutter, eines der Pensionszimmer in dem angeschlossenen Internat des Gärtnerischen Instituts. Die Freude darüber hat ihre Cousine in einem Brief an ihren Vetter Memo zum Ausdruck gebracht25 und wurde auch von Else geteilt. Die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr 1872/73 verbrachte Else ohne Eltern und Geschwister mit ihrer Cousine im Institut, danach im Elternhaus in Dresden.26 Wegen ihres guten Abschlusszeugnisses der höheren Töchterschule in Gotha wurde Elses Studium von drei auf zwei Jahre verkürzt. Über den Lehrbetrieb berichtet Else von Beginn an nur positiv. Stolz ist sie auf die gute Beurteilung eines Aufsatzes durch den Lehrer: „[…] Diese Arbeit hat das Wesen der Freundschaft sehr richtig erfasst u. auch recht gut dargestellt.“ Er wurde vorgelesen und ich habe mich natürlich auch sehr über die Zensur gefreut u. bin, da mir kein Mensch auch nur ein Wörtchen dazu gesagt hat, mächtig stolz darauf. Überhaupt machen mir die Arbeiten, die mir zwar manchmal für kurze Zeit den Kopf ein bischen warm machen, nicht allzuviel Sorge, da ich wirklich gut vorbereitet hierher gekom[m]en bin.“27

Else beendet ihre Ausbildung 1875 erfolgreich mit einem Examen, dessen Verlauf sie ihrem Bruder Memo in einem ausführlichen Brief schildert und den sie ironisch-stolz als „geprüfte Lehrerin“ unterzeichnet.28 Allerdings war damit keinesfalls ein klarer und erfolgreicher Berufsweg eröffnet. Eine höhere Ausbildung oder gar eine qualifizierte Berufstätigkeit für Frauen war damals in aller Regel noch nachrangig gegenüber der als vorrangig angesehenen Rolle einer Ehefrau, Mutter und Hausfrau. Mit dieser Einschätzung wurde letztlich die Tatsache gerechtfertigt, dass eine aufwändige wissenschaftliche Lehramtsausbildung an Universitäten für Frauen kein gesellschaftspolitisches Ziel war. Diese Situation führte dazu, dass die damaligen rechtlichen Zugangsregelungen eine Lehramtstätigkeit für Frauen an öffentlichen Schulen nur eingeschränkt, in der Regel nur für Fremdsprachen und Hausarbeiten und dann auch nur zu schlechteren wirtschaftlichen Bedingungen, möglich machten. Diese Regelungen wurden noch durch eine „Zölibatsklausel“ verschärft, die 1880 unter Berufung auf ein angebliches preußisches Gewohnheitsrecht als Gesetz verabschiedet worden war und besagte, dass eine ohnehin nur als Ledige angestellte Lehrerin ihre Stelle verlor, wenn sie heiratete.29 Zu dieser Regelung hat sicherlich auch die Angst der männlichen Lehrerschaft vor dem möglichen Einfluss einer wachsenden Zahl qualifizierter 180

Else Gurlitt

Lehrerinnen beigetragen. Weit überwiegend boten sich deshalb für Absolventinnen der LehrerBildungsanstalten auch nur die Tätigkeit in privaten höheren Töchterschulen, in denen folglich auch fast nur Frauen unterrichteten, oder als Privatlehrerin für Kinder wohlhabender und einflussreicher Eltern an. Im April 1873, also vor dem Examen von Else, verließen auch die Eltern mit den noch bei ihnen wohnenden Söhnen Ludwig und Hans Gotha und folgten ihrer Tochter Else nach Dresden. Sie bezogen dort eine geräumige Wohnung, die in der Nähe des Gärtnerischen Instituts und des Gymnasiums lag, in dem Ludwig sein Abitur machen sollte.30 Aus dem umfangreichen Briefwechsel, soweit er im Privatarchiv Gurlitt (Hamburg) liegt, lässt sich nicht entnehmen, ob und wie in der Familie und mit Else über deren weiteren Lebensweg nach dem Abschluss ihrer Lehrerinnenausbildung gesprochen wurde. Es ist aber offensichtlich, dass mit der erweiterten Ausbildung für Else die Voraussetzungen für eine gewisse wirtschaftliche Unabhängigkeit geschaffen werden sollten. Während ihre Mutter einmal äußerte, dass sie für Else eine Anstellung als Lehrerin für erstrebenswert halte, wollte diese allerdings lieber ihren Unterhalt mit Privatunterricht verdienen. Nach ihrem Examen suchte Else jedenfalls keine feste Anstellung; sie selbst und ihre Mutter bemühten sich jedoch, Schüler/innen für Privatunterricht zu finden. Schon während ihres Lehrerinnenstudiums vertieften sich Elses Beziehungen zu Minka, einer Tochter aus der Fürstenfamilie Salm, und zu Yella Oppenheimer (1854–1943), die nach ihrer Scheidung von Baron Oppenheimer im Jahr 1883 mit ihrem Sohn Felix wieder im Wiener Palais Todesco, ihrem Elternhaus in der Kärntnerstr. 51, gegenüber der Wiener Hofoper, lebte und mit ihrer Mutter Sophie Todesco einen glänzenden Salon führte. Diese Beziehungen, über die Else in vielen Briefen berichtet,31 führten regelmäßig zu längeren Aufenthalten in deren größeren Anwesen – einerseits bei dem Fürsten Salm auf Schloss Blansco in Mähren, wo ihr Bruder Wilhelm (Memo) zeitweise als Hauslehrer arbeitete, oder in deren Villa Saria in Aussee, andererseits bei der Familie Oppenheimer in Wien oder auf deren Ramgut, einem herrlich gelegenen Hofgut auf der damals noch dünn besiedelten Anhöhe zwischen Alt-Aussee und Grundlsee.32 Mit ihren Eltern fuhr Else in den Jahren 1882 und 1885 auch zu ihrem in England lebenden Bruder Otto nach Winchmore Hill bei London. In ihrer Schilderung des Besuches von 1885 an ihre Geschwister verschweigt Else allerdings auch nicht, dass ihre Eltern für derartige Reisen inzwischen zu alt seien.33 Ein besonderes Ereignis für Else war ein mehrmonatiger Aufenthalt mit ihren Eltern in Rom, der vor allem wegen einer größeren Feier aus Anlass des 66. Geburtstags von Louis Gurlitt stattfand.34 Dort traf sie viele Freunde ihres Vaters  – Maler, Literaten, Mäzene  – und nahm an rauschenden Festen teil. Stolz und zufrieden äußert sich die Mutter gegenüber ihrem Sohn Otto:

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Else mag gar nicht von Rom fort, sie gefällt hier allgemein u. schon der Beweis, daß sie auf dem großen Künstlerfest als Braut zu der Bauern-Hochzeit aufgefordert wurde, hat Papa u. mich sehr erfreut. […] und auf dem Fest tanzte sie wohl am meisten, sie brachte 13 große Blumenbouquettes mit nach Hause, sodaß wir sie gar nicht forttragen konnten. Else behauptet, sie möchte ihren letzten Pfennig hingeben, um nächsten Winter hier wieder leben zu kön[n]en.35

Else genoss die Schönheiten und die Kultur Roms, für die sie sich sehr interessierte. In einem späteren Brief an Memo bekennt sie freimütig, wie ängstlich und unsicher sie zunächst war im Hinblick auf die Reise in eine so großartige Stadt: ich bin trotz all der Freude nach Rom zu kom[m]en, mit einem Gefühl der Angst hierher gegangen, weil ich fürchtete, von all dem Schönen zu wenig zu verstehen und es nicht ganz würdigen zu können. Davon ist nun gar keine Rede mehr, denn ich entdecke mit stiller Freude, daß ich im[m]er das wirklich Schöne von dem minder Guten heraus finde und daß es mir gefällt und mir Freude macht.36

In diesem Brief erzählt Else auch, dass sie in Rom Italienisch-Unterricht nimmt: Am Donnerstag will ich meine erste italienische Stunde hier nehmen, ich zahle sie durch eine deutsche, die ich der Lehrerin erteile. Ich denke das Erlernen der Sprache soll mir nicht gar zu viel Mühe machen, ich verstehe schon recht gut, wenn gesprochen wird, weiß aber selbst noch gar nichts zu sagen.

Innerhalb Deutschlands fuhr Else häufig nach Berlin zu ihren Brüdern Fritz, Cornelius und Ludwig sowie zu ihren Tanten Fanny, Henriette und Marie, den Schwestern ihrer Mutter. Ihre Treffen bei und mit Fanny hatten dabei besondere Bedeutung.37 Und umgekehrt war auch Fanny ihrer Nichte besonders zugetan: Else ist ein vortreffliches Kind klug, gut und liebenswürdig. Ich habe ihr gesagt. ‚Wenn sie dich zu Hause nicht gebrauchen können, komme immer nur nach Berlin zu mir!‘38

Wenngleich Else mit den Jahren zu Hause immer häufiger gebraucht wurde, reiste sie dennoch auch später oft und gerne zu ihrer Tante Fanny nach Berlin. Zu Hause waren sowohl Else als auch ihre Mutter ständig bemüht, Schüler/innen für Privatunterricht, vor allem in Englisch und Französisch, zu finden. Else wollte gegenüber der Fürstenfamilie Salm und deren Tochter Minka die Suche nach einer Einnahmequelle durch 182

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Privatunterricht allerdings verschweigen, obgleich ihr Bruder Memo auf Schloss Blansco zeitweise selbst als Hauslehrer tätig gewesen war. Ihr Privatunterricht führte allerdings nicht zu den erhofften regelmäßigen Einkünften, wobei der geforderte und auch gezahlte Stundensatz 10 Silbergroschen betrug.39 Aus der Korrespondenz wird deutlich, dass es für die Familie vorrangig darum ging, dass Else über eigene Einnahmen verfügte, mit denen sie ihren privaten Lebensunterhalt finanzieren konnte. Denn die Tochter wohnte – abgesehen von der Zeit in dem Gärtnerischen Institut – stets im Haushalt der Eltern, wo sie, mit zunehmendem Alter der Eltern, diese stärker entlasten und mehr Aufgaben in Haushalt übernehmen musste. Durchaus anspruchsvolle Tätigkeiten führte Else für ihre Brüder aus. Für Cornelius übersetzte sie einige seiner Aufsätze ins Englische, die dessen Bekanntheit im englischen Sprachraum beförderten. Für Ludwig übernahm sie die Übersetzung eines Textes des einflussreichen amerikanischen Reformpädagogen John Dewey, den Ludwig in die von ihm geführte Reformdiskussion in Deutschland bzw. Preußen einführen wollte.40 Für Fritz, der in Berlin seit 1880 eine renommierte „Hof-Kunsthandlung“ betrieb und über diese als „Festgeschenke“ u. a. Tanagrafiguren, Nachbildungen antiker Originale, verkaufte (Abb. 5, Werbung für Tanagra Figuren), übernahm Else nicht nur die Bemalung der Figuren, sondern auch die Vorbereitung zum Versand. Ihre Tante Fanny kommentierte Elses Tätigkeit so: Wohin Elses jetzige industrielle Kleinpraxis sie unter ihres Vaters u. Bruders Beirath führen kann, ist nicht voraus zu sehen. Derlei leitet oft auf ganz andre Wege; u. über oder nach künstlerisch freiem Schaffen, ist Erwerben das größte Vergnügen. […] Viele Grüße an den lieben Alten, an Cornelius und die neue Malerin. Avanti Elisabetta! u. mir, der alten Arbeiterin nach!41

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Abb. 5: Festgeschenke Tanagra Figuren, Reklameblatt

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Else unterstützte ihren Vater bei Gesprächen mit Kunstinteressierten und Kunstexperten, so mit dem damaligen Direktor der Hamburger Kunsthalle, Prof. Alfred Lichtwark, der ihn in Berlin aufsuchte und sich nach dessen Lehrzeit in Hamburg bei Siegfried Bendixen erkundigte. Else störte sich an der Art und Weise, wie Lichtwark ihren Vater befragte. Wie Else ihrem Bruder Memo später selbstbewusst berichtete, habe sie die Gesprächsrichtung aber fachkundig beeinflussen können: Papa hat ihm viel erzählt u. da ich die Art zu fragen sehr ungeschickt fand, mischte ich mich in das Gespräch – u. bald war Herr L. im eifrigsten, leidenschaftlichen notieren und nachschreiben.42

Neben diesen wechselnden Aufgaben übernahm Else auch Tätigkeiten im sozialen Bereich, wie ihr Vater noch kurz vor seinem Tod berichtet.43 Nach dem Tod des Vaters beschreibt die Mutter feinfühlig die Persönlichkeit ihrer Tochter: Die geliebte, arme Else leidet tief und ich erkenne stündlich ihren tiefen Schmerz. Sie grämt sich, nicht immer dem Vater gegenüber ihre Kinderpflicht erfüllt zu haben und doch ist sie theilweise unschuldig. Sie hat die Begabung des Schaffens vom Vater geerbt, ohne ein künstlerisches Talent zu besitzen. Sie arbeitet so gerne, so mit voller Energie ganz gleich wo und was es sein soll. Sie schneidet Fleisch zur Wurst, Stundenlang mit Hennie Lahsen, sie giebt 100 Kindern das Essen, was niemand während derselben Zeit thun kann und sie unterhält die Fürstin Salm, bis tief in die Nacht hinein, sie schafft sie muß arbeiten. Unsere 4 Wände sind ihr im Hause zu eng. Sie ist wie ein Vogel, den [!] man die Flügel geschnitten hat und sie hat meist zu arbeiten und zu leisten, wie es wenige Menschen haben. Sie kann was sie will.44

Die unverheiratete Frau Mercedes Gurlitt nennt in ihren ungedruckten „Begegnungen“ Else Gurlitt ein „Bindeglied der immer größer werdenden Familie“.45 Das wurde sie nicht zuletzt auch deshalb, weil sie unverheiratet blieb. In den Briefen der Familie gibt es dazu, wie bereits erwähnt, weder konkrete Aussagen noch Andeutungen, jedenfalls nicht zu erotischen Männerbeziehungen. Hinweise auf eine engere Freundschaft mit Julius Langbehn (1851–1905), den teils gefeierten, teils als Antisemit abgelehnten, in jedem Fall prominenten Autor von Rembrandt als Erzieher (1890) finden sich vor allem in den Darstellungen zum „Rembrandtdeutschen“. Die Behauptung in der Neuen Deutschen Biographie,46 Else sei mit ihm verheiratet gewesen, 185

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trifft allerdings nicht zu. Arne Kontze spricht davon, dass Else mit Langbehn nur kurz liiert war;47 zutreffender ist wohl die Darstellung von Mercedes Gurlitt, da sie auf persönlichen Gesprächen mit Else beruht. Langbehn verkehrte als Freund von Cornelius Gurlitt bereits seit 1873 im Hause Gurlitt in Dresden; dort lernte er Else kennen und wurde „wohl als Verlobter von Else“ wahrgenommen.48 Diese Einschätzung wurde allerdings nicht von ihrem Bruder Ludwig geteilt, der aber immerhin berichtet, dass Else Langbehn bei Spaziergängen Gesellschaft leistete und bei ihr ein willigeres Gehör für seine umstrittenen Thesen fand als bei ihrem Vater.49 Der Kontakt der Familie mit Julius Langbehn wurde schließlich wegen der offenbaren Meinungsunterschiede mit dem Vater und wohl auch wegen dessen unfreundlicher Art aufgegeben, was dann vermutlich auch die Beziehung mit Else beendete. Jedenfalls wird Langbehn in den der Verfasserin vorliegenden Quellen nach einem Brief von Mutter Else im März 1887 nicht mehr erwähnt. Weder in Ludwigs Biografie seines Vaters noch in den eingesehenen Briefwechseln der Familie gibt es einen Hinweis darauf, ob der mit einer Jüdin verheiratete Louis Gurlitt Langbehn auch wegen dessen antisemitischen Rassetheorien abgelehnt haben könnte. Mercedes Gurlitt berichtet noch von einer anderen Beziehung, auf die sich jedoch im GurlittArchiv keine weiteren Hinweise finden lassen. Else habe diese Beziehung durchaus selbstbewusst beendet, so Mercedes, da es ihr nicht um eine Ehe um jeden Preis gegangen sei: Ein anderes Mal war sie auch verlobt mit einem Mann, der lungenkrank war. Er bot auf seinem Totenbett an, noch mit ihr getraut zu werden, damit Else seinen Namen bekäme. Sie aber meinte, der Name Gurlitt sei ihr ebenso viel wert.50

Unter den vielen Bekanntschaften, die Else im gesellschaftlichen Umfeld von Yella Oppenheimer machte, war auch die mit dem österreichischen Dichter Hugo von Hofmannsthal (1874– 1929).51 Wie so viele genoss auch Hofmannsthal die großzügige Gastfreundschaft der Mutter seines ehemaligen Schulkameraden Felix. Das Anwesen der Familie in Aussee, das Ramgut, war, anders als der Wiener Salon, ein Zufluchtsort – manchmal auch über längere Zeiträume. Hofmannsthal war spätestens seit 1908 regelmäßiger Gast dort; aber Else ist ihm wahrscheinlich schon früher in Wien im Salon der Familie Oppenheimer/Todesco begegnet. Jedenfalls hat sie selbst in späteren Jahren ihrem Bruder Ludwig einige Erinnerungen daran diktiert, die dessen Stief/Schwiegertochter Mercedes dann später als Mein Vermächtnis an Hugo von Hoffmannsthal in Maschinenschrift übertragen hat.52 Das Verhältnis zwischen dem 19 Jahre jüngeren Hofmannsthal und Else war danach eine für beide Seiten geistig anregende Beziehung. Yella Oppenheimers Enkel Hermann hat das Ramgut einmal detailliert beschrieben.53 Bei aller Nüchternheit geht gut daraus hervor, wie einladend dieser Ort inmitten der wunderbaren österreichischen Landschaft gewesen sein muss: 186

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Das Haus liegt auf einem Hochplateau mit herrlicher Rundsicht, die nicht verbaut werden kann, zwischen Altaussee und Grundlsee. Das alte Herrenhaus aus dem 17. Jahrhundert wurde von einem Münchner Architekten, Prof. Gabriel Seidl, adaptiert und ausgebaut. Es hat im Parterre einen sehr grossen Speisesaal mit direktem Ausgang ins Freie, eine Bibliothek, 2 andere schöne Zimmer, 1 grosse und eine kleine Küche, eine grosse Office, sowie 2 Speisekammern. / Im ersten Stock liegen 5 schöne Schlafzimmer, 1 Bade- und Toilettenzimmer, 2 Wohnzimmer mit anstossendem Kabinett, ein grosser offener Balkon, eine gedeckte Veranda anschliessend an eine Loggia mit wundervoller Aussicht auf den Dachstein und das Tote Gebirge. Auch in diesem Stockwerk läuft der breite hallenartige Gang. / Im zweiten Stockwerk befinden sich 4 Zimmer und 3 Mansardenzimmer. In allen Zimmern sind Kachelöfen und zwar sehr schöne antike.

Während der gemeinsamen Stunden trug Hugo v. Hofmannsthal eigene oder französische Texte vor und animierte Else, Geschichten aus dem Erzgebirge zu erzählen, die sie in Naundorf (heute Dippoldiswalde im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge) gehört und erlebt hatte, wo sie mit ihren Eltern und Brüdern regelmäßig Ferien machte. Hofmannsthal und die Gastgeber drängten Else, diese von ihr vorgetragenen Geschichten aufzuschreiben und zu veröffentlichen, was aber nicht geschah. Dass Else in früheren Jahren gelegentlich publiziert hat, geht aber aus einem ihrer Briefe an Memos Frau Mary hervor: „Die illustrierte Frauenzeitung hat wieder einen Artikel von mir angenommen, das macht mir immer den allergrößten Spaß“.54

5 Berlin-Steglitz 1888–1917 Seit den 1880er Jahren ließ die Schaffenskraft von Louis Gurlitt deutlich nach. Er malte zunächst nur noch vormittags, bis er dann 1884 das Malen ganz aufgab.55 Nachdem alle Söhne Dresden verlassen hatten, zogen die Eltern mit ihrer Tochter Else am 9.  August 1888 nach Steglitz (bei Berlin), Elisenstr. 21, in die Nähe von Ludwig, der dort am Gymnasium unterrichtete.56 Im Leben der damals 33-jährigen Else verschoben sich nun die Schwerpunkte dadurch, dass ihre Eltern zunehmend ihrer Aufmerksamkeit und Betreuung bedurften. Auch für ihre in Berlin lebenden Brüder Fritz, Ludwig und – zeitweise – Cornelius übernahm sie neben den bisher schon geleisteten Arbeiten gelegentlich auch Aufgaben in deren Haushalten, z.  B. bei Geburten der Nichten und Neffen oder bei Krankheiten. Wie engagiert sich Else dabei ihren Aufgaben widmete, zeigt später ein ausführliches Schreiben an Memo und dessen Frau Mary zu Ostern 1896:

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Ich hätte Deinen Brief, bester Memo, schon früher beantwortet, wenn ich nicht geradezu rasend viel zu thun gehabt hätte vor meiner Dresdner Reise. Die BibliothekArbeit mußte für Ludwig fertig gemacht werden u. da morgen schon Revision ist, mußte ich sie schon vor der Dresdner-Fahrt bewältigt haben sollte[n] Ludwig keine Unannehmlichkeiten entstehen. Morgen gibt’s in andere[r] Weise viel zu thun. Die Bilder müssen nach Kiel gesandt werden und ich muß natürlich vor der Verpackung jedes einzelne gründlich säubern und mit lauen [!] Wasser waschen – das wird ein mühseliges Werk werden.57

Der Tod ihres Bruders Fritz Gurlitt am 8. Februar 1893 stellte Else, wie die ganze Familie, vor eine besondere Herausforderung. Denn man hatte schon frühzeitig beschlossen, dass die von Fritz gegründete und erfolgreiche „Hof-Kunsthandlung“ von der Familie fortgeführt werden solle. Else hatte sich sogar bereit erklärt, in die Firma zu investieren und sich mit einer Kapitaleinlage aus ihrem kleinen Vermögen zu beteiligen.58 Dies war aus Vermächtnissen ihres Onkels Otto Lewald, einem Bruder ihrer Mutter, und ihrer Patentante Fanny Lewald entstanden. Das Vorhaben scheiterte letztendlich am Widerstand von Fritz’ Witwe Annarella, die die Kunsthandlung zunächst übernahm und mit deren bisherigen Geschäftsführer Willi Waldecker fortführte. Erst im Jahre 1912 konnte die Kunsthandlung schließlich, wie Ludwig bemerkte, auch mit Hilfe des diplomatischen Geschicks von Bruder Cornelius, von Fritz’ Sohn Wolfgang, der dort nach seiner Ausbildung noch als Volontär und danach Angestellter gearbeitet hatte, übernommen und erfolgreich weiter betrieben werden. Else pflegte weiterhin engen Kontakt zu ihren Brüdern und deren Familien, die nicht mehr in Berlin lebten – zu Memo in Graz, zu Otto in Winchmore Hill bei London und nach dessen Umzug von Berlin nach Dresden 1893 zu Cornelius. Treu verbunden blieb sie der Familie ihrer Freundin Minka, die seit 1882 in zweiter Ehe mit Marco Graf Bombelles auf Schloß Opeka in Nordkroatien lebte – aber schon 1897, mit nur 38 Jahren, verstarb. Die Freundschaft zu Yella Oppenheimer war beständig und wurde durch oft ausgedehnte Besuche bei ihr gepflegt.59 Über einen Besuch, bereits während des Ersten Weltkriegs 1915 in Aussee, schreibt sie: So schön hatte ich die Gegend nicht in Erinnerung  – ich bin ganz hingerissen […] Es ist heute eine sehr schöne Beleuchtung schwere Wolken am Himmel – aber immer wieder bricht die Sonne durch. Jede 5 Minuten sieht alles anders aus. Pause! Yella kam zum Plaudern! Ob alles ist so wie ichs gewohnt bin!!! Nein, ganz anders, weil viel schöner und luxuriöser! Das Wirtschaften soll sehr schwierig sein: Fleisch u. Obst außer Erdbeeren – kaum zu beschaffen  – nur für mich wirds schon genügen; ich habe keine Angst. […] Oppenheimers haben keine Pferde in diesem Jahr, da sie nur ein Liter Hafer bekommen durften – kann sich der Baron nicht zu der Quälerei entschließen.

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Im Frühjahr 1895 hatte Else mit ihrem Bruder Ludwig ihren Bruder Hans in Hamburg besucht. Die Krönung war ein Besuch bei Bismarck in Friedrichsruh: Ludwig und ich sind erst Freitag von Hamburg zurück gekehrt! Wir haben sehr hübsche Tage dort verlebt. Einen Tag war auch Eleonore Schrotzberg mit uns dort. Die Huldigung bei Bismarck wird allen Beteiligten eine erhebende Erinnerung fürs Leben bleiben – schon diesen großen Mann gesehen zu haben ist ein Eindruck der sich nie verwischen kann u. wie herrlich hat er gesprochen!60

Bismarck hatte Louis Gurlitt zu dessen 80. Geburtstag am 8. März 1892 ein Glückwunschtele­ gramm geschickt, was den Künstler und die ganze Familie nachhaltig beeindruckte: „Nehmen Sie bei Vollendung achtzig erfolgreicher Jahre meinen warmen Glückwunsch entgegen. von Bismarck“.61 Ein zentrales Ereignis für die ganze Familie war der Tod von Elses Vater Louis am 19. September 1897 in Naundorf im östlichen Erzgebirge, kurz nach der Goldenen Hochzeit der Eltern. Nur sein Wunsch, dieses Fest mit Frau, Familie und Freunden zu erleben, habe ihn noch aufrecht erhalten, schreibt Ludwig über das Lebensende des Vaters.62 Die Betroffenheit über seinen Tod wird in den Briefen seiner Tochter Else und seiner Witwe an Memo überdeutlich.63 Louis Gurlitt wurde auf dem Friedhof in Schmiedeberg begraben, zwölf Jahre später auch seine Frau Elisabeth/Else.64 Sie starb am 28. Dezember 1909, schwerhörig und fast erblindet.65

6 München 1916–1926; Stuttgart / Esslingen 1926–1931 Wegen der schweren Erkrankung seiner Frau Helene zog Else 1916 nach München zu ihrem Zwillingsbruder Ludwig. Der Reformpädagoge war nach seiner Frühpensionierung als Gymnasiallehrer in Steglitz im Frühjahr 1907 mit seiner Frau und dem jüngsten Sohn Winfried nach München gezogen, wo auch der älteste Sohn Helmut lebte. Als Helene erkrankte, sprang Else ein und übernahm nach deren Tod 1917 die Führung des Haushalts in München (Milbertshofen, Riesenfeldstr. 40). Von München aus war die Entfernung nach Österreich deutlich kürzer. Else blieb Yella weiterhin verbunden und freundete sich bei ihren Besuchen in Wien und Altaussee auch mit der 19 Jahre jüngeren Ilse von Leembruggen (1873–1961) an, die eine geborene von Lieben war und zur Familie der Todescos gehörte. Als Else sich 1924 wieder einmal auf dem Ramgut aufhielt, traf sie nach langer Zeit auch Hofmannsthal wieder:

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Heute Mittag sind wir zu Hofmannsthals geladen – Das macht mir immer besonder[s] viel Vergnügen. Sie haben mir gestern einen Besuch gemacht u. wir haben verabredet recht viel zusammen zu kommen.66

Mit ihrer Schwägerin Mary, die nach dem Tode Memos im Jahre 1905 mit ihren drei Töchtern nach München-Nymphenburg gezogen war, gab es regelmäßige Zusammenkünfte in München. Auch nachdem Ludwig am 22. September 1922 die 23 Jahre jüngere, verwitwete Emilie Meyer, verw. Rogge, geb. Ludolf, heiratete, die zwei Töchter mit in die Ehe brachte, darunter als jüngste die hier mehrfach zitierte Mercedes,67 blieb Else im Haus ihres Bruders. Mercedes war sehr beeindruckt über ihre erste Begegnung mit Else und das Zusammenleben der mit der Heirat ihres Bruders größer gewordenen Familie. Auf der Treppe vor dem Eingang stand, gewichtig, die Zwillingsschwester von Gurlitt, Else, breitete die Arme aus und sagte mit tiefer Stimme: seid uns herzlich willkommen […]. Im unteren Stock regierte die Tante, sie hatte auch dort ihr Zimmer. Sie wurde der Cerberus genannt und ihre Region die ‚Unterwelt‘.68

Ludwigs neue Frau Emilie verfügte über ein größeres Haus, die Villa Rispoli, auf der Insel Capri, das sie bereits vor Jahren zusammen mit ihrem verstorbenen zweiten Mann, dem bekannten Astronomen Dr. Wilhelm Meyer, langfristig gemietet hatte. Zum Teil wohl aus wirtschaftlichen Gründen, bedingt durch die Inflation nach dem Ersten Weltkrieg, vermietete Ludwig sein Haus in München, hatte aber Else ein Wohnrecht darin eingeräumt, und zog mit seiner zweiten Frau sowie mit seinem Sohn Winfried und der Stieftochter Mercedes im Februar 1923 nach Capri. Dort arbeitete Ludwig weiter schriftstellerisch und betrieb mit seiner Frau eine „Kulturschule für Mädchen“.69 Else folgte ihrem Bruder und lebte einen Großteil der Zeit mit dessen Familie auf Capri.70 Dort feierten Else und Ludwig am 31. Mai / 1. Juni 1925 gemeinsam mit Ludwigs Kindern und Freunden ihren 70. Geburtstag. Als Überraschungsgast tauchte auch ihr Bruder Hans auf, der die lange Reise von Altona bis Capri auf sich genommen hatte, um seinen Geschwistern zu gratulieren. Er wurde Zeuge eines rauschenden Festes, das Mercedes in ihren „Begegnungen“ anschaulich beschreibt.71

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Abb. 6: Else und Ludwig am 70. Geburtstag, Villa Rispoli, Capri 1925, Foto Else Seifert, Familienarchiv 191

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Auch wenn Ludwig in einem Brief an seinen Bruder Hans den Aufenthalt auf Capri als „wahres Schlaraffenleben“ beschreibt, verschweigt er doch nicht seine wirtschaftlichen Probleme. Die Bitte an Hans um finanzielle Unterstützung begründet er auch mit der gemeinsamen Fürsorgepflicht für ihre Schwester Else.72 In der Folgezeit verschlechterte sich Ludwigs wirtschaftliche Situation weiter, wodurch auch die von Else kritischer wurde. In einem Brief an seinen Bruder Hans bittet Ludwig erneut um finanzielle Unterstützung und unterstreicht sein „großes Opfer“ durch das Wohnrecht für Else in seiner Münchner Villa.73 Letztlich zwang die prekäre Situation Ludwig und dessen Frau Emilie, Capri 1927 zu verlassen. Sie zogen nach Stuttgart, zum Sohn Helmut, der dort an einer Waldorfschule tätig war. Else, die schon länger unter stärkeren Herz-Kreislaufbeschwerden litt, hatte inzwischen ihre Wohnung in München aufgegeben (bei Aufenthalten dort pflegte sie sich nun in der Pension „Abbazia“ einzumieten, die einer entfernten Verwandten, Neste Silten-Gurlitt, gehörte). Sie wurde in der Pflegeeinrichtung des der Familie Helmut Gurlitt freundschaftlich verbundenen Mediziners Dr. Otto Palmer in Esslingen aufgenommen. Dieser betrieb seit 1921 in Stuttgart das Sanatorium „Ottilienhaus“ (die ehemalige Villa von Adelheid Wildermuth, der Tochter der Schriftstellerin Ottilie Wildermuth), das die anthroposophischen Heilmethoden von Rudolf Steiner anwandte, 1931 aber in Konkurs ging. Mit der Familie Palmer entwickelte sich ein fast freundschaftliches Verhältnis, wie Fotos zeigen.

Abb. 7: Else auf der Feier ihres 80. Geburtstags, u. a. mit Ehepaar Dr. Palmer und Ilse v. Leembruggen, Foto Familienarchiv 192

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Im Sommer 1928 verfasste Else ihr Testament. Darin äußert sie ihre Enttäuschung über den weitgehenden Verfall ihrer Vermögenswerte als Folge der Inflation und Weltwirtschaftskrise nach dem Ersten Weltkrieg und den sich daraus ergebenden geringen Wert ihrer Hinterlassenschaft, die sie für einige ihrer Nichten vorgesehen hatte. Sie dankt ihren verbliebenen Freundinnen und ihren Brüdern mit folgendem Vermächtnis: „Liebe Brüder sagt der Baronin Yella Oppenheimer u. Frau Ilse Leembruggen, dass ich ihnen bis zum letzten Atemzug danke für ihre Freundschaft und Güte. Ihr seid unendlich gütige Brüder für mich gewesen.“74 Ludwig starb am 12. Juli 1931 in einer Klinik in Freudenstatt im Beisein seiner Zwillingsschwester. Else überlebte ihren Bruder um 5 Jahre. Sie starb am 24. Februar 1936 in Stuttgart und wurde wie ihr Bruder auf dem Pragfriedhof in Stuttgart beigesetzt.

Abb. 8: Todesanzeige

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Anhang 1. Else an ihren Halbbruder Wilhelm (Memo) Gurlitt, 6. März 1864

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2. Else und Mutter an Memo, 10. Juni 1870 Dresden, 10. Juni 1870 Mein geliebter Memo! Heute war Mama mit mir bei Herrn [Dr.] Meusel um ihn zu fragen ob man wohl jetzt schon eine Glasplatte auf mein Auge legen könnte, wir erfuhren aber zu unserem größten Schrecken, daß erst das ganze Auge getödtet werden müsse ehe man die Platte auflegen könne. Herr Doctor sagte also er werde eine Salbe geben wodurch das Auge in acht Tagen aus schwären würde und die Muskeln zurückbleiben würden; auf eine Tödtung des Auges will sich Papa und Mama aber auf gar keinen Fall einlassen Du würdest nun den Eltern u. mir einen großen Gefallen tun, wenn Du Doct. Brücke fragen wolltest ob es nicht möglich wäre eine platte über das Auge zu legen ohne, legen ohne, daß es getödtet würde. Meusel zeigte uns die Augen, sie sind wunder schön gemacht, entsprechen aber nicht im geringsten meiner Vorstellung. Die Tanten werden in den nächsten Tagen hier nach Gotha kom[m]en u. von da aus nach Friedrichsroda gehen. Ich glaube auch wir werden in den grossen Ferien ihrem guten Beispiel folgen. Ich bin jetzt ganz verlassen indem Vogels nach Cassel gereist sind um dort sechs Wochen zu bleiben u. Clara Hickettner mit ihrer Cousine aufs Land gegangen. Deine kleine Schülerin gefällt mir nach Deinen Briefen sehr gut, hauptsächlich, da sie auch sagt: „das habe ich noch nicht gehabt“. Das ist bei uns in der Schule stehende Redensart, die Lehrer antworten zwar immer darauf: „das ist gleichgültig, ihr müßt es wissen, das thut aber nichts zur Sache“. Herr Schmatz hat sich mit unserem Director überworfen u. ist von der Schule entfernt worden, er uns sogar nicht in der Schule Adieu sagen dürfen. Wir werden nun Herrn Sillig als Ersatz Ersatz bekom[m]en, es ist zu unserem größten Erstaunen kein Geistlicher. Louis hat bei seiner ganzen Tour, – Mama hat gewiß schon davon geschrieben, – nur zwei Stunden Sonnenschein gehabt, sonst haben sie den ganzen Marsch im stärksten Regen gemacht. Am zweiten Tag hatten sie sich von einander getrennt in dem sie sich nicht über den Weg verständigen konnten. Louis war mit Herrmann u. Stimand u. Jahn zusammen, der andere Theil, bestehend aus Knauer, Bruns u. einem Cousin des letzteren. Gestern ist Hans nach Friedrichsroda gegangen u. mit einem Retourbillet, welches Louis am vorherigen Tage gefunden hatte, wieder zurück gekom[m]en. Noch mehr Neuigkeiten weiß ich Dir beim besten Willen nicht zu schreiben, denn es geschieht gar nichts Besonderes. Also Adieu, mein lieber Memo, ich verbleibe mit Gruß u. Schmatz Deine sehr viel an Dich denkende Else

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Vielen Dank für Deinen lieben Brief, welcher ganz zur rechten Zeit hier ankam. Mein Geburtstagstisch war sehr großartig indem ich einen Sonnenschirm, mit welchem ich aber gar nicht umzugehen weiß, einen Hut, Kleid, Fächer u. eine ganze Masse der schönsten Dinge erhielt. Mein guter Memo! Mit Elsens Auge lassen wir nichts vornehmen ehe wir mehrere tüchtige Ärzte consultiert haben. Das Auge tödten der Art wie Dr. Meusel vorschlägt soll keineswegs geschehen, Papa und ich wollen die Verantwortung nicht übernehmen. In Liebe deine Mama

3. Cousine Else Minden an Memo, 3. August 1872 Dresden, 3ten August 1872, Lüttichau-Straße Nro. 6 Mein lieber Memmo! Herzlichen Dank sage ich Dir nochmals für Euer Familienportrait, das ausgezeichnet gut geworden ist und mit dem du Mama sowohl wie mich sehr erfreut hast. Beiliegend sende ich Dir, unserer Verabredung gemäß, zwei meiner Photographien, von denen ich Dich bitte, die welche Dir besser gefällt zu behalten und die andere gelegentlich zurückzusenden. Noch sehr oft denke ich und erzähle auch Mama von den reizend verlebten Tagen in Deinem Elternhause, die mir ein reicher Ersatz für die letzte, bitterschwere Zeit in meinem lieben, guten Königsberg gewesen sind, wo mir der Abschied von meinen zahlreichen Freunden und Bekannten schrecklich traurig gewesen ist. Und, ich kann es ruhig aussprechen, da es ja nicht meine Verdienst war, ich den verschiedensten Kreisen großer Liebe genoß. Mit Dir, lieber Memmo, habe ich es absichtlich vermieden, dieses für mich so traurige Thema zu berühren, ein Mal auf dem schönen Spaziergange nach dem Seeberge fingst Du davon an, ich bat Dich aber abzubrechen, weil ich damals ohne bittere Thränen noch nicht an meine geliebte Heimath denken konnte. Wir haben hier bereits eine allerbeste gemüthliche Wohnung im Englischen Viertel, drei geräumige Zimmer nebst Cabinet und Eintritt in den Garten, die wir auch schon bewohnen. Die Meubles sind vorläufig gemiethet u. Papa scheint zu meinem Bedauern keine Lust zu haben, die unsrigen aus Königsberg kommen zu lassen, da er leider erfahren hat, daß man hier gelegentlich sehr billig u. gut kaufen kann. Ich lasse mir aber jedenFall, lasse es kosten was es wolle, meinen lieben kleinen Nähtisch nachkommen, der mir eine theure Erinnerung aus Mamas Mädchenzeit ist u. den ich zu meiner großen Freude zum 196

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achtzehnten Geburtstag empfing. Daß unsere kleine Else nicht nach Berlin, sondern nach Dresden in ein Seminar kommt, ist uns allen eine große Freude, ganz besonders mir, die ich hier kein junges Mädchen kenne u. große Unlust zu neuen Bekanntschaften habe, Mama hätte sie gerne ganz ins Haus genommen, doch ist unsere Wohnung zu beschränkt dazu. Else ist jedoch schon im Voraus als lieber Gast zu allen Sonn- u. Feiertagen eingeladen. Außerdem verspreche ich Dir, lieber Memmo, mich Elsens soweit ich kann anzunehmen, trotzdem ich nur zwei Jahre älter als sie bin, fühle ich mich doch ihr gegenüber stets sehr mütterlich. Vielleicht hast Du bereits durch Deine Mama von meinem Plan, ebenfalls das Seminar zu besuchen u. das Examen zu machen, gehört. Ich habe entschieden große Lust dazu, weil es jedem Mädchen im Leben einen gewissen Halt gewährt u. ich kann meiner Meinung nach die Zeit nicht besser nutzen. Trotzdem mir hier von vielen Seiten abgeredet wird u. gesagt: Ein junges blühendes Mädchen wie du kann mal etwas Besseres thun als sich ins Seminar zu setzten, so weiß ich nicht worin das Bessere besteht u. da man es im Leben unmöglich allen Menschen zu Dank machen kann, sind Mama u. ich ganz einig darin. So wie ich Dich, lieber Cousin, kenne, wirst Du auch meinen Entschluß billigen, bitte schreibe mir darüber. Doch nun will ich Dir noch einen allerliebsten Zug von unserer Else, der Dich gewiß erfreuen wird, erzählen: Als wir Beide den ersten Abend in Friedrichroda in unser gemeinschaftliches Schlafzimmer traten, warf sich Else in ihrer ungestümen Art mir in die Arme u. sagte: „Ach ich mag dich so schrecklich gern u. möchte dir gern etwas sagen, aber ich schäm mich so sehr.“ Nachdem ich sie herzlich bat, doch dieses Gefühl zu überwinden, äußerte sie folgendes: „Ich bin sehr eigensinnig u. kann mir außer von meinem geliebten Memo absolut nichts sagen lassen. Du hast eine so nette Art, dich tadeln zu lassen, also kurz u. gut, bitte sage mir jeden Abend so lange wir zusammen schlafen, in deiner liebevollen Art u. Weise, wie ich mich betragen habe. Bitte sage aber Niemanden etwas von unserer Verabredung“ u. mit einem herzlichen Kuß wurde unser Versprechen besiegelt. Else benahm sich in den folgenden Tagen, auch gegen die Tanten, so musterhaft, daß ich höchst selten etwas zu tadeln fand. Aber schreibe ihr nichts darüber. Ich bemühe mich auch sehr, weiter an mir fortzuarbeiten u. nehme mir unser gutes Barfüßele zum Muster, daß nie an sich u. stets an Andere denkt. Ich muß Dir gestehen, jetzt sehe ich Dich lächeln, daß mir das noch recht schwer wird. Doch nun, mein lieber gelehrter Cousin, sage ich Dir für heute Adieu, da Du gewiß Besseres zu thun hast, als Briefe einer sehr ungelernten Cousine zu lesen. Mit bestem Gruß für Dich u. Frl. Lederer verbleibe ich Deine Cousine Else 197

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4. Else an Memo, 30. Dezember 1872 Dresden, 30. Dezember 1872 Mein lieber Memo! Vielen Dank für Deinen lieben Weihnachtsbrief, ich fühle mich ganz beschämt, daß ich Dir nicht geschrieben, aber meine Correspondenz ist jetzt wirklich auch schon sehr ausgedehnt. – Eben habe ich einen Gratulationsbrief an Cornelius verfaßt, die Wünsche für`s neue Jahr, die ich ihm gesandt, hege ich eben so für Dich, mein lieber guter Memo! Wie unendlich mich die Nachricht gefreut, daß die Eltern u. Geschwister nach Dresden ziehen werden, kannst Du Dir wohl denken, die Wohnung ist sehr elegant u. liegt im höchsten Grade bequem, denn sowohl Louis Gymnasium als auch mein Institut ist mit Leichtigkeit zu erreichen. Das Weihnachtsfest haben wir hier ganz hübsch verlebt, von den 85 nicht so Pensionärinnen blieben nur 16 hier, so daß es uns in den weiten großen Räumen ganz einsam u. still vorkam, eine angenehme, sehr seltene Erscheinung. Wir bekamen alle zusammen in einem sehr großen Saal beschert, der durch einen fast zu reich geschmückten u. belichteten Baum aufs beste erhellt wurde. Die Eltern hatten mir eine große Schachtel geschickt, dessen Inhalt, in einem mächtigen Stritzel u. vielen reizenden Großig – u. Kleinigkeiten bestehend mein armes Institutsherz in freudige Bewegung setzte. Auf den Sylvesterabend hat mir Tante Minna ein Theaterbillet geschenkt, Cousine Else, die auch auf diese Art beglückt wurde, wird mit mir das „Aschenbrödel“ spielen sehen, ich freue mich besonders unendlich darauf, weil ich noch nie im Dresdener Theater war. Ist Nathalie Leisching auch zu Weihnachten nicht zu Hause gewesen u. was fehlt eigentlich der Schwester, daß man sie so schonen muß? Louisa v. Engel hatte gestern einen Brief von ihren Verwandten, Hölzels, in welchem mich dieselben grüßen ließen u. der Nichte schrieben, daß Du gestern bei ihnen […] würdest gewesen bist […] Solltest Du Hölzels wiedersehen, so bitte die Emma u. auch die Schwester, letztere zwar unbekannterweise, recht herzlich von mir zu grüßen. Es wäre wirklich ganz reizend wenn die Eltern nach Blansko kämen u. noch viel, viel reizender, wenn sie mich mitnehmen wollten, doch ich glaube kaum, daß es geschehen wird, denn Mama wird es wohl teuer genug an der Reise nach Dresden haben, besonders da bei derselben die Meubel keine angenehmen Begleiter sind, u. zweitens würden sie im angenommenen Falle es für richtiger finden wenn Elselein zu Hause bleibt u. das Haus bewacht. Vielleicht haben Dir die Eltern schon geschrieben, daß Herr von Dumreicher wünscht, Oskar auch mit nach Dresden zu schicken, u. da das Pensionsgeld eine ganz angenehme Zulage ist, so glaube ich wohl, daß die gute Mama noch fernerhin Oskar im Hause behalten wird. Ich bin schon, um ein Zimmer im 4ten Stock mehr zu miethen, bei unserem Hauswirth in spe gewesen, bin aber ganz erschrocken über die Mangelhaftigkeit der beiden schiefen, winkeligen Räume, so daß die Eltern, denen ich meine Ansicht darüber natürlich mittheilen mußte, 198

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sich wohl noch sehr überlegen werden, ob sie noch 36rth. mehr dafür zahlen wollen. – Bis jetzt haben wir ganz warmes, mildes Wetter gehabt, so daß von Schneefall oder gar Eis gar keine Ahnung ist, wir haben heute auch sehr den Sonnenschein benutzt u. sind weit weit spazieren gegangen u. zuletzt – so große Überraschung – durften wir zum ersten Mal in eine Conditorei gehen u. jeder eine Tasse Chokolade trinken, wir freuten uns nicht wenig darüber. Habe ich Dir schon erzählt, lieber Memo, daß meine Persönlichkeit schon eine Katechese gehalten; das war ein Evenement! Vor mir saßen eine Anzahl armer, unglücklicher Männer, hinter mir die gesamte strenge Selecta, aber die Sache ging besser ab als ich selbst erwartet hatte, denn ich blieb nicht stecken, hatte gut gefragt so daß ich auch gute Antworten bekam u. was mir selbst das überraschendste war: man lobte mich meiner Ruhe u. Bestimmtheit wegen. Doch nun Adieu, Gruß an Minka u. besonders an Dich, mein lieber Memo, von Deiner treuen Else Else u. Tante Minden senden Dir die freundlichsten Grüße.

5. Else an Memo, 21. November 1872 Dresden, 21. November 1872 Mein lieber, alter Memo! Tausend Dank für Deinen guten, lieben Brief, die Liebenswürdigkeit u. Länge desselben hat mich mit deinem langen Schweigen ausgesöhnt; über welches ich natürlich nicht sehr entzückt war. Vorerst will ich deine Frage beantworten: Es wird niemals ein Brief geöffnet, auch nie ein abzusendender gelesen, letzteres nur bei uns älteren Mädchen nicht, bei deinen Kindern geschiehts glaube ich jedesmal. Wir haben durch die Goldene Hochzeit des königlichen Paares eine lustige freie Woche gehabt, u. da die jetzige durch Hochzeit eines sehr beliebten Lehrers mit seiner früheren Schülerin u. durch den Bußtag wieder einige faule Tage hat, so blieb uns viel Zeit zum amüsieren, die wir dann auch bis auf die Neige ausgenutzt haben. Onkel Minden, die liebe gute Cousine Else u. ich, deine treue Schwester, haben von der Brühlschen Terrasse aus den deutschen Kaiser, die Kaiserin u. den Kronprinz, die vom König abgeholt über die Elbbrücke fuhren, gesehen, haben uns über das enthusiastische Hoch der des Kopf an Kopf gedrängten Volkes u. über daa liebenswürdige Grüßen der hohen Herrschaften gefreut. Folgenden Tages, an dem wir abermals das Kloster, was ich schon herzlich lieb gewonnen habe, verlassen durften, habe ich mir mit den Verwandten die Illumination u. den wirklich imposanten 199

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Fackel- oder richtiger Lampionzug angesehen. Dienstag fand nun die Trauung des guten Herrn Beckert statt u. da ich als Alt bei dem herrlichen Choral thätig angestellt war, so hatte ich auch das Vergnügen, seine wahrhaft zauberisch schöne Braut anzuschauen – bei mir war es schon mehr ein mit den Blicken verschlingen. Heute hat mich der sehr freundliche Herr Zacharias, Vater des jungen Freundes von unserem […] auf Sonntag Mittag eingeladen, da er mir eine große Ausfahrt in Aussicht gestellt, so bin ich in nicht geringer Aufregung, die dadurch daß mir Handschuhe so wie das Geld mir welche zu kaufen fehlen, noch vergrößert wird. Da wird wohl mal wieder gepumpt werden. Deine Aufforderung, mein gelehrter Herr Bruder, mich der Louise von Engel anzunehmen, leiste ich gerne Folge, besonders da sie mir trotz ihres etwas rauhen Wesens, zusagt, wir können aber leider nur sehr wenig beisammen sein da das lange Sprechen auf den Hausfluren verpönt ist u. das Besuchen an anderen Zimmern auch nicht gerade mit gnädigen Blicken angesehen wird; so besteht unsere Freundschaft eigentlich nur in einem kräftigen Händedruck u. vielen Küssen, die wir im Laufe des Tages einander appliziren. Du scheinst ja ein Leben, alle Tage feierlich u. in Freuden zu führen, u. mit Dir Minka, die ich herzlich grüßen lasse u. auf die ich wieder einmal gründlich eifersüchtig bin, da ich immer fürchte daß Du sie lieber hast als mich. Nicht wahr! Du mußt es selbst eingestehen. Heute wurde mir ein Aufsatz über die Freundschaft mit der Unterschrift: „Diese Arbeit hat das Wesen der Freundschaft sehr richtig erfasst u. auch recht gut dargestellt.“ Er wurde vorgelesen u. ich habe mich natürlich auch sehr über die Zensur gefreut u. bin, da mir kein Mensch auch nur ein Wörthchen dazu gesagt hat, mächtig stolz darauf. Überhaupt machen mir die Arbeiten, die mir zwar manchmal für kurze Zeit den Kopf ein bißchen warm machen, nicht allzuviel Sorge, da ich wirklich gut vorbereitet hierher gekommen bin. In der Geschichte nehmen wir jetzt die alten Deutschen durch, wir haben diesen Unterricht bei einem jungen, geistreichen Lehrer, der aber alles vorher von mir Gelernte umstößt, das meiste davon in das Reich der Sage weist od. es als falsch u. unrichtig bezeichnet; er hat an jedem Geschichtswerk etwas auszusetzen u. bezeichnet die meisten als oberflächlich u. wenig durchstudiert, mich macht das etwas unsicher u. unklar. In einer der vielen Literaturstunden lesen wir Uriel Acosta, ich bin ganz begeistert davon u. kann mich gar nicht trösten, wenn die Stunde geschlossen u. das schöne Buch wieder für acht Tage verschwindet. Als ich letzten Sonntag nicht ausging, benutzte ich die Zeit, den „Immensee“ von Theodor Storm zu lesen. Du würdest mir u. gewiß auch Dir, eine große Freude machen, wenn Du Dir, mein Momatsch, einmal dieses reizende Buch besorgen wolltest. Was Du über den Wohnungswechsel der Eltern u. von dem Wegziehen derselben nach Nischwitz schreibst, leuchtet mir ganz u. gar nicht ein, für unsere süße Alte wäre gewiß das Leben auf dem Dorf das wahre Gift u. auch Vating würde nach kurzer Zeit melancholisch werden. Mama versicherte mir noch vor kurz vor meinem Wegreisen, daß sie sich niemals 200

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dazu bestimmen lassen würde auf ein Dorf u. unter Bauern zu ziehen. Letzten Montag hatte ich liebe gute Briefe von Gotha, leider machen sie mich jedes mal für einige Stunden traurig u. unbrauchbar. An Mindens habe ich Deine Grüße ausgerichtet u. dafür wieder die herzlichsten, besonders von Else wirklich liebenswürdigsten für Dich eingeerntet. Dadurch, daß ich in meinen Zeilen das Wörthchen „ich“ so sehr in den Vordergrund gestellt habe, verstoße ich zwar gegen Höflichkeit, glaube aber, nicht gegen Deine Wünsche. Adieu mein liebster Bruder, vergiß nicht Deine treue Else. An Minka, Leischings u. Hölzels viele Grüße.

6. Else an Memo, 26. März 1875 Dresden, 26. März 1875 Geliebter Memo! Die Nachricht über mein glücklich bestandenes Examen ist das einzige Geschenk was ich Dir heute außer den herzlichsten Wünsche [!] überbringen kann. Ich bin natürlich ganz außer mir vor Freude endlich das lang erstrebte Ziel erreich zu haben, und doch waren die letzten Tage so entsetzlich angreifend, daß ich das Unangenehme derselben noch nicht recht verwinden kann. Da ich glaube, daß Du Dich, geliebter Memo für das Examen interessierst will ich Dir kurz schildern was man alles von uns verlangt hat. Als Thema zum Aufsatz hatten wir: „Das Gewissen ist das Bild einer guten Mutter in der Seele des Kindes“. In der franz. Klausur hatten wir eine Lafontänische Fabel auf menschliche Verhältnisse anzuwenden und zwei Billette zu schreiben, ich habe alles in alle 10 Seiten geschrieben in den 4 Stunden, welche man uns gönnte. In der Lehrprobe hatte ich über die „Wage“ zu sprechen, zunächst war ich ganz untröstlich über diese Aufgabe, fand aber dann, daß sie gar nicht so schrecklich war. Einer unserer Lehrer, der zugehört hatte, fand daß ich es „sehr schön“ gemacht habe. Nach der Lehrprobe war Rechenclausur die Aufgaben in folgenden Genre: Wenn 1 Eisenstab von 0,725 m durch die Wärme um 0,82mm ausgedehnt wird, wieviel [%] beträgt dann die Ausdehnung. Wir hatten 5 Aufgaben, von welchen ich 4 richtig löste, während keine von uns die 5. herausbekam. Gestern war nun der schrecklichste Tag. Um 3 Uhr fing die Quälerei an. Es werden 201

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immer nur sechs Mädchen auf einmal geprüft, und zwar von fremden Professoren, denen wir Tage vorher die Besuche machen müssen. Vor jeder Schülerin sitzt also ein solcher bebrillter Scharfrichter, und uns im Rücken ein großer Saal voll Zuhörer. Mit Religion wird begonnen. „Wir sprechen von den frühesten reformatorischen Bewegungen“. Die erste Frage, welche an mich gerichtet wurde war: „Frl. Gurlitt können Sie mir die Ansichten der Manichäer entwickeln. Vor meinen Augen tanzte Herr Professor Pohl einen lustigen Reigen und ich stieß zitternd heraus: „Nein, das kann ich nicht“, es war ein schrecklicher Moment, ich konnte mich kaum entsinnen, wer Manichäer war und soll nun gar über seine Ansichten sprechen. Es ging weiter, wir sprachen über Albigenser und deren Verfolgungen und kamen allmählig bis zur Reformation im 16. Jahrhundert. Jetzt kam Literatur an die Reihe, und zwar die alte deutsche, die Nibelungen, Gudrun, Rolandslied, Parzival etc., es ist dies ein Theil in unserer Literatur, den ich immer besonders gern traktiert habe; daher auch meine Schlagfertigkeit im Antworten, von der Literatur wurde auf Pädagogik übergegangen und zwar ganz speziell auf Rousseaus’ „Emil“, es war dies wirklich eine sehr interessante Stunde und wir bedauerten alle, daß wir nicht bei Emil bleiben durften, sondern daß er den Inhalt des Orbis pictus von uns wissen wollte. „Wir beginnen jetzt mit Geschichte, und zwar gehen wir von Chlodwig aus“., ich konnte es nicht unterlassen meine Nachbarin anzustossen, denn gerade diesen Theil in der Geschichte hatte ich noch vor dem Weggehen zum Examen Papa gegenüber als den bezeichnet, welcher mir der Klarste sei; wir sprachen weiter bis zu den Salischfränkischen Kaisern. In der Physik wurde die Wärme, u. die verschiedenen Barometer einer genauen Besprechung gewürdigt. Dann war eine 10 Minuten lange Pause, wir gingen in das Nebenzimmer und stärkten uns daselbst etwas. Nun kamen die Sprachen. Erst wurde also französisch gelesen und der Sinn des Gelesenen besprochen, dann wurden unregelmäßigen Zeitwörter stark tractiert, und nun die rechte Grammatik angefangen, über Adjektiv, über Modus Gott weiß was noch alles. Als die Reihe an mich kam war ich so consterniert, daß ich Professor Mayarde kaum verstand, ich antwortete in Folge dessen auch verkehrt worauf er höchst liebenswürdig sagte, natürlich französisch, denn er verstand kein Wort deutsch: Ich weiß wohl, daß Sie meine Frage beantworten können, Sie sind aber in diesem Moment zu befangen, ich komme später zu Ihnen zurück.“ Das that er denn auch sehr gewissenhaft, einige gute Antworten, in der franz. Literatur veranlaßten ihn gnädig mit dem Haupt zu nicken und sein „trés bien“ erschallen zu lassen. – Du weißt nun ganz genau wie es uns ergangen, Mama, die während des ganzen Examens zugehört hat fand es „gräßlich“ schwer, u. sagte daß sie nie wieder einem jungen Mädchen zureden würde, sich einer solchen Aufgabe zu unterziehen. 202

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Ich soll heute Abend ins Concert und muß noch allerlei dazu besorgen. Adieu mein lieber Memo! Deine Else Dresden 26ten März geprüfte Lehrerin

7. Else an Memo, 20. August 1878 Dresden d. 20. August 1878 Lieber Memo! Deine Warnung, mich nicht zwischen die zwei Leutchen zu hängen u. sie „mit einander auskommen zu lassen“ verstehe ich vollständigst, besonders da ich Dir über das Verhältniß so viele u. wahrscheinlich nicht immer besonders kaltblütige Berichte geschickt habe. – – An dem Tage als ich zu Salms fuhr, nahm ich mir im Waggon fest vor u. machte es mir zur ersten Freundespflicht gegen Minka, mich vollständig so passiv d. h. äußerlich passiv zu all dem zu verhalten, was mir möglicherweise an dem Bräutigam oder an dem ganzen Verhältniß nicht gefallen sollte u. auch jetzt, wo ich aus dem Kreise geschieden, sage ich mir, ich habe mein selbstgegebenes Versprechen gehalten u. durch meinen Besuch sind sich die zwei lieben Menschen nicht um eine Linie ferner, wahrscheinlich aber auch nicht näher gekommen – ich habe sie vollständig gewähren lassen! – Minka schüttete mir, wie ich Dir gewiß geschrieben, so oft wie nur irgend thunlich ihr übervolles Herz aus – es war ihr eine Freude, mit einem gleichaltrigen, wenigstens ungefähr gleichaltrigen Mädchen über das sprechen zu können was sie am lebhaftesten beschäftigte, – ich habe ihr, der Lieben, mit allem Interesse zugehört, habe mich mit ihr über jede geringe Freude gefreut, – kamen dann aber auch Augenblicke, wo sie mit dem Bräutigam nicht ganz einverstanden, so habe ich ihr, für mich bis zur Ermüdung, vorgesagt, wie gut u. lieb er sei u. wie sie das ja selbst ganz ebenso gut wisse wie ich u. wie solche Selbstquälerei ein recht herzlicher Unsinn sei. – Ich glaube ich sage nicht zu viel wenn ich es ausspreche, daß Minka nach solchen Gesprächen mit mir meist glücklicher war als vorher. Mit dem Bräutigam habe ich nie irgend etwas derartiges besprochen. – Dagegen einmal gründlich mit der Fürstin, die ich flehentlich gebeten, ihn nicht immer zu hänseln. – Der Fürstin gegenüber wäre ein fortwährendes Beschönigenwollen nicht am Platz gewesen, sie hätte doch im ersten Augenblick herausgefühlt, daß es nur aus Princip geschehe, – u. so habe ich mich ihr gegenüber nur darauf beschränken können u. wollen, die Sache nicht schlimmer zu machen als sie schon ist 203

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u. gar nichts zu hetzen. – Übrigens fängt auch zwischen den Beiden das Verhältniß an, immer erträglicher zu werden. – – – Nochmals: ich habe in der Angelegenheit ein ganz reines Gewissen u. weder Minka noch ich können mir darin irgend etwas vorwerfen. – Ich hätte die Sache nicht so glatt durchführen können, hätte ich Minka nicht so von ganzem Herzen lieb u. wäre mir auch von Kindheit an den Tanten so zuwider gewesen, wenn sie immer in die Angelegenheiten der verwandten Familien hineingefahren wären sind. Ich bin seit heute acht Tagen von Salms fort, mit schwerem Herzen. – – – Den nächsten Tag, Mittwoch, fuhr Minka mit dem Altgrafen nach Wien, um Donnerstag in Salzburg bei der Schwiegermutter zu sein – sie schreibt mir vorgestern von dorten: „Nur einige Worte um dir zu sagen, daß meine Schwiegermutter wirklich allerliebst ist, sie ist ganz ungemein herzlich u. liebevoll für mich u. ich fühle mich schon ganz heimisch mit ihr. Wir bleiben bis Sonntag hier, gehen dann direct nach Blansko u. wollen d. 24.ten in die Stadt ziehen. Adieu mein Schatz, ich muß fort, da wir bei Vitzhums essen. Deine alte Minka“ Mit Otto u. Louis war ich nur 4 Tage zusammen, es waren schöne Stunden die wir gemeinsam durchlebt. Nun wird es, wenn Fritz in einigen Tagen u. dann noch der geliebte Papa fortreisen, recht still u. öde bei uns werden. Ich bin in den letzten drei – 4 Tagen recht herzlich elend gewesen, habe mal wieder zum tausendfachen Male die entsetzlichsten Halsschmerzen gehabt, die Mandeln waren innen u. aussen so geschwollen u. voller Bläschen, daß jeder Schluck zur Qual wurde u. dabei Kopfschmerzen u. Mattigkeit – es war wirklich unerfreulich genug. Sobald die Geschwulste etwas abgenommen, will ich unsern Arzt zu überreden suchen, die Mandeln auszuschneiden, ich habe schon zu oft unter ihnen gelitten u. die Vertröstungen auf spätere Jahre wollen bei mir nicht mehr verfangen. Schreib mir bald mal – bis dahin aber lasse es Dir so gut gehen wie ich es Dir wünsche. Deine verschwollene Schwester. Schicke mir doch einmal von Graz die Briefe von Minka, die ich Dir nicht gesandt.

8. Else von ihrem Aufenthalt bei ihrem Bruder Otto in England, The Shrubbery, Winchmore Hill an ihre Geschwister, 28. Februar 1885 Liebe Geschwister! Es tut mir unendlich leid Euch mit meiner Schreibfaulheit in Sorge versetzt zu haben! Man kommt aber auf Reisen gar zu schwer zum Schreiben und so vergeht ein Tag nach 204

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dem anderen – ohne daß man seinen lieben Verpflichtungen nachkommt. Wir sind hier in alter schöner Häuslichkeit aufs Beste aufgehoben – und sind es uns peinlich bewußt mit welcher Freude und Liebe uns Alles geboten wird. Ihr werdet es bei Eurem Besuch hier in London empfinden welch zufriedenes Ehepaar Otto und Rose sind und wie es Ihnen eine große Freude bereitet, ihre Umgebung so vergnügt und behaglich zu machen – wie sie es selbst sind. Ich habe Rose außerordentlich lieb gewonnen – sie ist von einer unwiderstehlichen anmutigen Fröhlichkeit, die sich ganz natürlich dem ganzen Haus mitteilt. Der Besitz ist allerliebst und liegt in einer ganz reizenden Gegend – wir machen weite Spaziergänge und kommen immer wieder von Neuem entzückt über die Üppigkeit und Frische der Vegetation zurück. Im Garten ist eine ganze Menagerie und täglich wird die Geburt von neuen Hühnern, Kälbern, Schweinen als freudige Familienereignisse verkündet. Nach London fahre ich durchschnittlich jeden dritten Tag – ich tue es unendlich gern, doch ist es immer eine sehr zeitraubende und theure Geschichte – In der Nationalgalerie war ich zwei Mal und bin sehr begeistert von derselben. Gestern war Papa und Marie und mir 2 ½ Stunden dort. Papa war nicht fort zu bekommen, so sehr ich eine Übermüdung befürchtete und müde genug war der gute alte Mann nachher schließlich auch sehr. So glücklich ich bin, daß die Eltern diese große Reise unternommen – denn sie bringt ihnen die Gewißheit, daß Otto glücklich ist und in sehr angenehmen Verhältnissen lebt – so wenig würde ich je wieder zu einer derartigen Reise zureden. Die Eltern sind doch zu alt dazu und empfinden den Mangel an Kräften hier weit mehr und weit schmerzlicher als bei ihrer ruhigen, gleichmäßigen Lebensweise in Plauen oder in ihrem Eldorado Nauendorf ! Mama ist seit sie hier ist nicht recht mit ihren Nerven in Ordnung und obgleich das ja Gott sei dank absolut nicht gefährlich ist so hindert es die Arme doch ihr Leben so zu genießen als sie es gern möchte und als hier die beste Gelegenheit dazu geboten ist. Aber ich wiederhole nochmals diese Reise ist ein außerordentlich gelungenes Unternehmen und wird hoffentlich noch Jahre und jahrelang den Eltern eine beglückende Erinnerung bleiben. Die kleine Röschen ist ein unendlich liebes anschmiegsames Mädel. Elschen ist recht hübsch – ein wahres Ausstellungs-Baby – aber ungenießbar – sie ist wie ihr Vater einst war – ein entsetzlicher Schreihals! Also bügeln thust Du auch. – Mary? Mein lieber guter alter Schatz! Ich denke so oft und mit schwesterlichster Liebe Dein. Wann heirathet Sotti, hört ihr viel von Salms? In 14 Tagen sind wir wieder in Plauen, da dann unsere Retourbillettes abgelaufen sind. Das ganze Haus sendet Euch die allerherzlichsten Grüße. In liebe Eure getreue Else

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9. Else an Memo, 22. Januar 1878 Rom, 22. Januar 1878 Mein guter, lieber Memo! Einen „fidelen“ Brief willst Du von mir? Nichts leichter als das, wenn ich nicht gerade an Kornelius denke, und das tue ich nach Empfang Deines Briefes weit seltener, bin ich immer in rosigster Laune und freue mich jeden Tag, jede Stunde meines Lebens im herrlichen Rom. Ich weiß nicht, ob ich es Dir schon vor meiner Abreise schrieb oder ob ich es wohlweißlich bei mir behielt, ich bin trotz all der Freude nach Rom zu kommen, mit einem gewissen Gefühl der Angst hierher gegangen, weil ich fürchtete, von all dem Schönen zu wenig zu verstehen und es nicht ganz würdigen zu können. Davon ist nun aber gar keine Rede mehr, denn ich entdecke mit stiller Freude, daß ich immer das wirklich Schöne von den minder Guten heraus finde und daß es mir gefällt und mir Freude macht. Außerdem ist die Natur so herrlich, die Leute so nett, daß man den ganzen Tag über gar nicht aus dem molligsten Gefühl des Entzückens und Genießens herauskommt. Ich bin mein Lebtag kein Kopfhänger gewesen, so fortwährend glücklich wie jetzt habe ich mich aber auch noch nicht gefühlt. Dabei freuts mich, daß es anderen Leuten Vergnügen macht, mich in meinem Hübel zu sehen – besonders Tante Fanny macht es Spaß, den „lustigen Kerl“ von Rom sprechen zu hören. Dabei fällt mir ein, daß mir Tante aufgetragen hat, Dich zu fragen, was denn die Schuld wäre, daß der Druck des Buches nicht vorwärts schritte. – Papa ist hier in Rom kaum wiederzuerkennen. Er führt, wie er gestern sagte, ein „Luderleben“ und ist nur im Hause um zu schlafen oder Kaffee zu trinken. Dabei geht Papa Stunden ohne ermüdet zu sein und nimmt mit jugendlicher Frische all das Schöne auf, das sich ihm bietet. Die Feierlichkeiten bei Viktor Emanuels Tod war großartig schön. Wir sahen den Trauerzug von unseren Fenstern aus vorübergehen und konnten nicht müde werden, den Reichtum und die Pracht der verschiedenen Gewänder der Leidtragenden, und die mustergültige Ruhe des Publikums zu bewundern. Das Wetter war seit der letzten Woche wunderbar schön, die Nächte sehr kalt und auch am Tage im Schatten noch angenehm, dagegen wirkt die Sonne so stark, daß man im Sommer zu sein wähnte. Ich bin leider seit ich in Rom bin stark erkältet und kann trotz vieler Vorsicht einen langweiligen, wenn auch ganz gefahrlosen Husten, nicht loswerden – man verströstet mich immer auf wärmere Tage. Morgen Vormittag wollen Fräulein v. Dewitz und ich mit zwei jungen deutschen Künstlern auf den Trödelmarkt gehen um für wenig Geld schöne Antiken zu kaufen. In voriger Woche erhandelte einer der Herren um eine Lire ein recht hübsches hölzernes Kruzifix, was er heute seinen Eltern zum Geschenk schickte. Wir haben die erste Zeit viel in 206

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den Galerien gesteckt, jetzt ist aber das Wetter so schön und lockt gar zu sehr ins Freie. Ich mache mir täglich Gewissensbisse darüber, daß ich mir nicht mehr Kunstwerke anschaue, denke dann aber immer wieder, so leuchtender Sonnenschein wird nicht immer sein und genieße ihn nur in vollen Zügen. Am Donnerstag will ich meine erste italienische Stunde hier nehmen, ich zahle sie durch eine deutsche, die ich der Lehrerin erteile. Ich denke das Erlernen der Sprache soll mir nicht gar zu viel Mühe machen, ich verstehe schon recht gut, wenn gesprochen wird, weiß aber selbst noch gar nichts zu sagen. Ich erlebe hier so viel und muß eine solche Menge neuer Eindrücke aufnehmen, daß ich es kaum bewältigen und noch viel weniger zu Papier bringen kann. Ihr im grauen Norden werdet es Euch daher wohl gefallen lassen müssen, wenn ich selten und dann immer nur kurze Briefe schreibe. Es denkt deshalb doch mit gleicher Liebe an Dich, lieber Memo, Deine glückliche Else

10. Else an Geschwister, 12. Februar 1887 Bendlerstrasse 21, 12. Februar 1887 Liebste Geschwister! Ich glaube es sind fast 2 Monate vergangen seit ich Euch einen Gruß gesandt habe. Fast 5 Wochen bin ich nun schon in Berlin und fühle mich äußerst „schlau“ hier. Tante Fanny thut was sie mir von den Augen ablesen kann und bei Fritzens, zu denen ich täglich, wenn auch oft nur auf Minuten gehe, fühle ich mich auch von Mal zu Mal heimischer. Die Vormittage von 9–½ 2 Uhr wurde fleißig Tanagrafiguren gemalt – dann bis 4 ausgegangen und später von ½ 6–8 an Cornelius Manuskripte abgeschrieben – dann an’s Vergnügen – Kaffee wovon man hier glücklicher Weise die Hülle und Fülle hat. Ich bin viel mit Ludwig aus und wir amüsieren uns herrlich bei den Gelegenheiten. Fritz geht heute auf 3–4 Tage nach Oldenburg und Hamburg einer Ausstellung wegen. Die arme Annarella hat schrecklichen Ärger mit ihren Dienstleuten, es ist aber auch das denkbarst liederliche Gesindel! Dazu ist A. so viel außer Haus und immer auf so lange Stunden, daß sich die beiden Frauenzimmer ihr Leben wirklich einrichten können wie sie wollen. Baby, das heute 2 Jahre alt wird, hat sich in letzter Zeit sehr heraus gemacht – sie ist der reine Komiker und hat den Kopf voll Unsinn, es ist wirklich ein ganz reizend lebhaftes, anschmiegendes Geschöpfchen. Hier wird nur noch (vom) Krieg gesprochen und man ist in einer Weise aufgeregt in Bezug auf die Wahlen, daß ich nicht glaube, daß einer der Wahlberechtigten dieses Mal versäumt seine Pflicht zu thun. 207

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Ihr könnt Euch denken, liebe Geschwister, wie mir leid ist, daß uns Cornelius verlassen wird – ich kann mir mein Leben im Elternhaus ohne ihn gar nicht recht vorstellen, er war ein gar zu liebenswürdiger Kamerad – und doch bin ich sehr zufrieden daß er Dresden verläßt, er muß vor allen Dingen aus dem Vereinsleben heraus, das ihm viel zu viel Zeit genommen hat – muß unter Männer, die ihm ebenbürtig sind und besonders von Graff weg, dessen Dummheit ihn fortwährend zur Opposition reizte. Tante Fanny läßt Euch tausend Mal grüßen und läßt dir sagen, lieber Memo, du wärst ein Schlingel, daß du ihr nicht einmal zu Neujahr gratuliert habest. Bitte lieber Ältester – schreibe ihr doch bald – sie ist wirklich rührend gut zu mir und das muß doch anerkannt werden. Von Salms bin ich ewig lange ohne Nachricht. Durch den Dichter Richard Voß hörte ich gestern, daß die Baronin Todesko nach Italien reisen würde! Adieu Ihr Lieben, dir bestes Marylein noch einen Extrakuß Eure Else

11. Else und Mutter an Memo, 23. August 18[98] Lieber Memo! Besten Dank für Deinen Brief mit der sehr wichtigen Zusammenstellung der Daten aus des lieben Papas Leben. Ich finde nun, es ist das allerwichtigste, daß Du Dich mit H. Bettelheim besprichst – damit wir doch einen ungefähren Anhalt haben, wie viel Druckbogen für den Nekrolog bewilligt werden soll davon hängt es doch ganz ab wie man die Zusammenstellung machen kann – ob man sich nur auf Daten, die den Künstler angehen, beschränken muß, oder ob ein wirkliches Lebensbild gewünscht würde. Wollte man sich eine Ausarbeitung, der von Dir zusammengestellten Tabelle machen, lieber Memo, so würde das leicht ein Buch werden – jedenfalls eine vollkommene Biographie. Ich habe hier natürlich gar kein Material u. es ist auch so entsetzlich umständlich es nur durch Ludwig aus Steglitz beschaffen zu lassen – . Wenn man die Arbeit bis zu unserer Rückkehr nach Steglitz aufschieben könnte, wäre uns damit ein großer Dienst erwiesen. Auch darüber könntest Du so leicht in einer Besprechung mit Bettelheim Aufschluß erhalten. Ludwig fragt heute an ob ihm Mama gestatte in ihrer Wohnung an einer Stiftung von des lieben Papa Studie zu geben – ich habe sofort in bejahendem Sinn geantwortet – u. ihm besonders gerathen sich an die Skizzenbücher zu halten – die Ludwig auch zugänglich sind. Ein sehr reiches Material würden wir in Papas eigenhändigen Aufzeichnungen finden in dem schlichten Buch, das mir Papa geschenkt. All` das wäre so viel leichter für mich zu besorgen wenn ich erst in Steglitz bin. Du wirst selbst fühlen, lieber Memo, daß es nicht angenehm ist, wenn so viel in den Schränken herum gesucht werden muß – wenn 208

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wir nicht da sind. Der arme Ludwig wird schon seine Mühe haben, aus all` den verschlossenen Kästen u. Zimmern wieder alle möglichen Papiere herauszusuchen, die nun doch das Vormundschaftsgericht fordert, nachdem mir erst mitgetheilt wurde, daß sie nicht gebraucht würden. Ich muß Dich deshalb auch nochmals zu meinem Leidwesen bitten, lieber Memo, Dein Taufzeugniß nochmals umgehend an Ludwig zu senden, es ist auch meine Schuld, daß ich Dir die doppelte Mühe verursache. Ich war gestern bei den Corneliern, natürlich haben wir ausführlich über die Biographie des lieben Papas gesprochen u. Deine Briefe an uns ausgetauscht. Ich habe Cor. versprochen Deine Daten-Tabelle für ihn in druckmäßiger Form – d. h. auf einseitigem breitrandigem Papier abzuschreiben. Morgen werden sich voraussichtlich Cornelius u. Ludwig in Steglitz oder Berlin treffen u. gewiß auch weiter berathen. Was Cornelius im Manuskript seiner Kunst des 19ten Jahrhunderts über Papa u. seinen Einfluß auf die Kunstrichtung geschrieben, hat er mir gestern vorgelesen – es hat mir ganz außerordentlich gefallen – ich werde Cor. bitten, daß er mich den Abschnitt für Euch kopieren lasse. Als Prof. Lichtwark vor 3 Jahren bei Papa war, um von ihm Informationen über das Kunstwesen in Hamburg noch von Papas eigentlicher Lehrzeit bei S. Bendixen einzugehen, hatte ich den Eindruck, daß er sehr wenig Bescheid wußte. Papa hat ihm viel erzählt u. da ich die Art zu fragen sehr ungeschickt fand, mischte ich mich in das Gespräch – u. bald war Herr L. im eifrigsten, leidenschaftlichen notieren und nachschreiben. Cor. war nachträglich ärgerlich, daß P. ihm die Sache zu leicht u. bequem gemacht habe u. daß ich so dazu geholfen hatte. Nun mußt Du Dir nicht in Bettelheims Heften einen Nekrolog ansehen – z. B. den von Lessing? Um danach beurtheilen zu können wie viel Bogen uns ev. gestattet werden würden. Cor. sagte mir gestern noch, Eure eigentliche Biographie von Papa hatte ich mir eigentlich vorbehalten. Wenn ich morgen Deine Tabelle für Cor. abgeschrieben habe – sende ich Lud. das Original – auch Du sollst eine Kopie haben. Viel Correcturen kann ich ohne Papas Bücher nicht machen, wir haben mehr derart bei uns. Kommst Du lieber Memo, nicht noch in diesem Jahre zu Mama, es scheint mir das eigentlich so natürlich! u. wollen wir dann nicht gemeinsam die Arbeit machen? Onkel Cornelius hat uns heute eine sehr hübsche Photographie von seinem u. Papas Geburtshaus gesandt, er steht selbst gut erkennbar in der Thüre. Onkel schreibt zu unserer großen Freude, daß es ihm ganz gut geht. Ich habe sehr viel zu schreiben, die Correspondenz wächst in ganz erstaunlicher Weise – wenn ihr aber irgend etwas copirt haben wollt, so stehe ich Euch allen jederzeit mit Freuden zur Verfügung – ich kenne dazu keine Ermüdung. Mama fühlt sich leider von der exorbitanten Hitze etwas angegriffen, besonders ist der Magen nicht in Ordnung, doch hoffe ich zuversichtlich, daß das kühlere Wetter wieder alles in Ordnung bringt. 209

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(Sag den 3 Mäderl, daß ich schon fleißig für sie zu Weihnachten arbeite – oder besser Du sagst es nicht liebes Memolein – sagst es besser nicht einmal Deiner Mary, es verdirbt vielleicht Spaß). Seid herzlich gegrüßt von Mutting und Else

12. Else an Memo und Mary Gurlitt in Graz, 5. April 1896 5. April. 1896

Ostersonntag 96

Meine geliebten Grazer – Geschwister! Dein Brief, lieber Memo hat mich in seiner echt brüderlichen Liebe bis zu Thränen gerührt – ich danke Dir von ganzem Herzen für den selben – für Euren so lieben Wunsch, mich bei Euch haben zu wollen – mir ist so warm, so behaglich beim Lesen der Zeilen geworden, das sind Gefühle wie sie für mich zu den schönsten, unvergesslichsten meines Lebens gehören! Ob ich den Plan zur Wirklichkeit werden lasse, das kann ich mit dem besten Willen heute noch nicht sagen! Das hängt von zu Vielem ab – aber besonders in aller erster Linie von der Eltern Befinden. Der armen Mama unoperiertes Auge nimmt von Tag zu Tag ab – mit dem anderen geht es doch nur sehr langsam vorwärts. Die gute Mama kann jetzt rechts gut lesen – (für sie eine unbeschreibliche Wohlthat) aber sie sieht in der Ferne wirklich genauer wohl wenig – es ist meiner Meinung nach eine Frage von Wochen, daß man Mutting allein auf der Straße gehen lassen kann. Sie ist so entsetzlich unsicher und ungewiß und sieht auch mit der Brille so gar nicht klar und deutlich. Und da seht ihr wohl, liebste Geschwister, dann kann ich doch nicht daran denken auf längere Zeit die arme, geliebte Dulderin zu verlassen. Wir werden Mittwoch wieder zum Augenarzt fahren und versuchen ob er eine andere Brille ausfindig machen kann. Es ist ja nur eine Frage der Zeit, daß das zweite Auge auch operiert werden muß – u. wann es geschehen muß, so lassen wir die Operation in Dresden vornehmen, u. ich ziehe mit Papa in eine Pension ein paar Häuser von der Klinik entfernt, damit die Eltern sich sehen können u. ich nicht wieder so entsetzlich unruhige Zeiten durchmachen muß – war ich bei Papa – quälte mich die Sorge um Mama und war ich in der Klinik – bebte ich vor Unruhe was Papa zu Hause zustoßen könnte. Er ist ja auch wirklich eines Tages als Helene ihn gerade verlassen hatte, aufgestanden um ans Fenster zu gehen – hat sich in seine Decke verwickelt und ist mit dem Kopf an die Wand angeschlagen u. hat 10 Minuten lang auf der Erde gesessen ehe er sich allein aufrichten konnte. Das Mädchen hat P. nicht rufen wollen, weil es ihm peinlich war. Tante Mathilde kann mich nicht vertreten, sie ist wirklich zu alt und schwach dazu – und dann würde sie auch die Reise nach Naundorf nicht mehr unternehmen, das ist ihr zu – weit u. 210

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zu anstrengend. Ludwigs werden wohl nach Österreich gehen für die großen Ferien, Cornelius und Familie beabsichtigen, für einige Wochen in die Nähe Naundorfs zu kommen, aber wie kann mich denn Mariechen vertreten, sie hat doch wahrlich mit ihren drei Kindern und der ganzen Wirthschaft genug zu thun. Ihr seht liebe, beste Geschwister, es ist für mich unmöglich Pläne zu machen, die auch nur die geringste Wahrscheinlichkeit haben ausgeführt zu werden. Ich muß mich jetzt schon an die Reiseerinnerungen halten u. freue mich herzlich, daß ich die Zeiten wo mir der Gesundheitszustand der lieben Elster [Eltern?] ein Fernsein von ihnen ermöglichte, so gründlich und ausgiebig benutzt habe. Übrigens war ich am Donnerstag bis Sonnabend Abend auch verreist – und zwar in Dresden! Ich habe mich famos amüsiert. Die Veranlassung war folgende: meine liebe, interessante Freundin Frau Generalin Käner (ich habe gewiß viel von ihr erzählt) schiffte sich Freitag mit ihrer Familie in Hamburg ein, um endlich wieder mit ihrem Mann in Santiago vereint zu sein – sie beklagte durch die Geburten und die Erkrankung eines ihrer Kinder bei dem 2-jährigen europäischen Aufenthalt ausser Halle a. S. und Berlin – nichts kennen gelernt zu haben. Besonders sei ihr leid Dresden nicht besuchen zu können, da sie Niemanden kenne, der sie begleiten würde! So sind wir die drei Tage dort miteinander gewesen und sind aus dem Jubel und Entzücken gar nicht heraus gekommen. Leid war mir natürlich, daß Cornelius nicht in Dresden war! Dr. SchmidBlasius hat es sich zur Ehre gerechnet der schönen, lebenslustigen Frau die Honneurs von Dresden zu machen – ihm hat’s ebenso viel Freude bereitet – wie Geld gekostet. Der Glanzpunkt des Unternehmens war ein mehrstündiger Aufenthalt in Meißen – die kleine so echt deutsche Stadt hat der Generalin so außerordentlich gefallen und sie „über alle Maaßen“ wie Wixerl sagt „amüsiert“. Ich kam mir komisch genug vor als Fremde! In Dresden im Hotel etc. Was ihr mir über Dr. Lederer und Sepp Bombelles schreibt, hat mich sehr interessiert – höchst charakteristisch für des Doctor’s Engherzlichkeit, die ihn ausser Sepp nichts anderes sehen läßt – war sein Bericht über seinen Grazer Aufenthalt an mich. Er sagt – „auf meiner Reise nach Opeka mit Sepp – haben wir auf dem Grazer Bahnhof Mary und die beiden größeren Mäderln gesehen – Sepp wollte die Mäderln gar nicht fort lassen“. Wie er Mary, wie die Kinder gefunden davon kein Wort! Mich als Marys Schwägerin und der Kinder Tante, sollen nur interessieren was Sepp empfunden hat. Das kleinste von den Corneliern ist ein recht lebhaftes bewegliches Kerlchen, er setzt sich schon selbständig mit einem Ruck in seinem Wägelchen auf; was Hellmut noch nicht thut – dafür sieht letzterer aber viel rosiger und blühender aus. Der kleine Hildebrand ist etwas bleich und hat weiches Fleisch – er war aber, als ich ihn jetzt in Dresden sah, auch gar nicht in Ordnung mit seiner Verdauung. Mariechen meint, daß er schon sehr mit den Zähnen zu thun hat. Heute waren Ludwigs mit Erwinchen bei uns. Helene hat natürlich entsetzlich viel mit dem Umzug zu thun. Aber trotzdem macht die Liebe einen ruhigeren, weniger vergrämten Eindruck. Sie ist durch den Sinneswechsel doch etwas von ihrem Kummer abgezogen worden. 211

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Ich hätte Deinen lieben Brief bester Memo, schon früher beantwortet wenn ich nicht geradezu rasend viel zu thun gehabt hätte vor meiner Dresdener Reise. Die Bibliothek – Arbeit mußte für Ludwig fertig gemacht werden – u. da morgen schon Revision ist, mußte ich sie schon vor der Dresdener – Fahrt bewältigt haben – sollte Ludwig keine Unannehmlichkeit entstehen. Morgen giebts in anderer Weise viel zu thun. Die Bilder müssen jetzt nach Kiel gesandt werden und ich muß natürlich vor der Verpackung jedes einzelne gründlich säubern und mit lauem Wasser waschen – das wird ein mühseliges Werk werden. Die beiden Schrotzberger Mädeln waren auch heute bei uns – sie sind nun auch schon umgezogen, wohne[n] nur eine Treppe über der Wohnung, die bis jetzt Ludwigs inne hatten. Sie sind sehr entzückt von der Wohnung und glücklich bei der Schwester zu sein – ich bin gerne mit Helene und ihrer Schwester zusammen. Mir ist ihr Herziehen in jeder Hinsicht ein sehr frohes Ereignis. Cornelius ist seit einigen Tagen in Frankreich und zwar will er Nordfrankreich in derselben Weise bereisen, wie im vorigen Jahr Südfrankreich, diese zwei Ostertage wird er wohl mit Wallot zusammen in Paris verbringen. Eure drei lieben Kinderchen sind jetzt wohl schon viel in Ferien? – es ist wirklich zu schade – daß ich nicht einfach sagen kann, in zwei Monaten bin ich bei Euch in Graz! Ich möchte Euch alle 5 doch so herzlich gerne wieder sehen. Es ist ½ 10 Uhr Abends – Papa hat schon vor einer halben Stunde seine Karten weggelegt und sitzt jetzt mit Mama auf dem Sopha – ich will „Schicht“ machen – wie man in Gotha sagte, denn die Vergnügungen von Dresden wirken heute noch nach –ich fühle einen unwiderstehlichen Zug zu meinem Bett. Habt nochmals innigsten, wärmsten Dank für Eure Liebe – Ihr habt mich durch den Brief und die Einladung sehr glücklich gemacht! Die Eltern haben sich mit mir gefreut! In dankbarer Liebe Eure Else

13. Else an die Geschwister, 9. Juli 1889 Kösen Neue Gasse 10

9. July 1889

Geliebte Geschwister! Tausend Dank für Deinen lieben Brief, bester Memo, ich habe ihn mit größter Freude immer und immer wieder gelesen, und mein Wunsch Euch wieder zu sehen hat sich noch bedeutend 212

Else Gurlitt

an ihm gesteigert. Und doch muß ich auch für dieses Jahr darauf verzichten – ich weiß absolut nicht wie ich es machen sollte. Bis etwa zum 20ten oder 25ten wird mich die Kur hier festhalten, und am 9ten August wollen die Eltern an die See. Ich will sie nicht allein reisen lassen – was sie ohne Bedenken thuen wollten, ich finde es aber nicht richtig und kann mich nicht dazu entschließen. Wenn sie von Berlin nach Naundorf fahren, ist das eine andere Sache und selbst da war es mir unbehaglich. Kommen wir nun Ende August von der See zurück, so haben wir kein eingerichtetes Mädchen u. in Steglitz wo Ludwig bei uns ist u. fortwährender Besuch kommt, bin ich für Mama nicht zu entbehren. Ich hatte mir ursprünglich die Sache so gedacht – ich wollte meine Kur hier am 15ten d.M. vollenden – wollte auf 14 Tage nach Raitz fahren, dann die Eltern holen und mit ihnen weiterreisen. Nun schreibt mir Frau Fürstin, daß sie um die Zeit auch verreise und aus meinem Plan kann nichts werden – ich war ein paar Tage ganz zerschlagen darüber, denn ein Sommer ohne ein Stückel Österreich ist schon gar keiner mehr für mich! Ich grüble auch immer noch wie ich es machen soll der Fürstin Aufforderung nach ihrer und meiner Seereise zu ihr zu kommen, nach zu kommen und wäre ich erst in Raitz, dann käme ich auch zu Euch, Ihr Liebsten und sähe die Baronin Todesco in Wien oder Aussee. Selbst das Geld habe ich dazu nur an Zeit fehlt es mir. Jedenfalls freue ich mich an der Idee, daß Du zu uns kommen willst, liebster Memo, wir leben uns ja ganz auseinander. Hoffentlich werden bei dieser Kur nun endlich die Wucherungen im Halse ganz beseitig. Es ist genau die selbe Sache gegen die Dr. Sittmoser im letzten Herbst in Aussee ankämpfte, jetzt sind die Stellen alle Stellen ausgebrannt wurde, das scheint ja radikal genug zu sein, unangenehm genug war es jedenfalls. Fritz ist seit zwei Tagen wieder hier, vergnügt und harmlos wie man ihn in der Stadt gar nicht mehr kennt. Annarella und ich haben heute Johannisbeeren eingekocht und sind sehr stolz auf unsere Thätigkeit. Wie ist unserer Brigitta die Taufe bekommen? Was wiegt das kleine Persönchen? Der kleine Willibald war die letzte Zeit mit der Verdauung in Unordnung und hatte Fieber, jetzt geht es besser – er soll aber etwas spitz geworden sein, schreibt Cornelius heute. Ludwig wollte nach Helgoland und Sylt – in Helgl. wird er Minka und Hugo sehen, Fritz fährt Sonntag vielleicht auch hin – es geht ein extra Zug und er muß so wie so nach Hamburg. Von Hansens höre ich gar nichts mehr – daß Mariens rechte Mutter, Frau Workurka, neulich gestorben, hat Euch vielleicht Mama geschrieben. Ich habe den Eltern Deinen Brief, lieber Memo, übermittelt mit Auslassung der Bemerkung, daß Du sie in Steglitz besuchen wolltest; und amüsiere mich heute wie Mama in ihrem Schreiben ohne eine Bemerkung darüber hin geht. Tante Fanny ist seit gestern im Hotel Bellevue in Dresden, die Arme führt die ein Dasein. Das ist nun heute schon der 5. Brief, den ich schreibe – ich bin also müde und schließe. 213

Elizabeth Baars

Danke Euch aber erst noch tausendmal für Eure Einladung und treue Gesinnung. In alter Liebe Eure Else

14. Else und Mutter an Memo, 26. September 1897 Mein lieber, armer Memo! Der erste Brief den ich nach des geliebten theuren Papas Hinscheiden schreibe, geht an Dich seinen ganz besonderen Liebling. Ich habe nicht früher schreiben können so elend fühle ich mich körperlich und geistig! Die letzte Zeit war zu furchtbar in der doppelten, quälenden Sorge um den geliebten Heimgegangenen und um unsere Mama. Ich habe um ihr Leben ebenso gebebt wie um das von Papa, ich hielt es für unmöglich daß sie die Trennung ertragen würde, besonders da sie durch die schwere Krankheit des armen Papa schon so entsetzlich mitgenommen war. Aber Gott sei aus tiefstem Herzen gedankt – Mama scheint sich aufraffen zu können scheint das traurige, öde Lebe[n] noch weiter leben zu können. Heute vor 14 Tagen war Vormittags Mariechen mit Willibald 1½ Stunden hier – nachdem sie uns verlassen wurde der Zustand ernster – es war der erste Tag, daß der Arzt zum zweiten Mal kam. Und nun folgten die Tage und Nächte von gleicher Qual gleichem Jammer u. Klagen und gleicher Unruhe. Furchtbare Stunden. Die ich nie wieder vergessen werde in meinem Leben. Ich höre ihn ununterbrochen diesen Jammerlaut, u. keine Sekunde Ruhe, keinen Schlaf – kein Behagen – der arme, arme alte Körper in fortwährender Bewegung. Hunderte Male habe ich zu Gott gefleht: „Mach` doch dieser Qual ein Ende.“ Und kein Mittel schlug an, kein Umschlag, kein Thee – nichts schaffte Linderung. Ich glaube nicht, daß der geliebte Papa Todesgedanken gehabt hat, er war so von seinen Schmerzen erfüllt, daß ihn nur diese allein beschäftigt haben. Entsetzlich quälend war es für den Armen u. für uns Pflegenden, daß wir Papa so schwer verstehen konnten. Ich war die einzige die aus dem Lallen mit schwerer Zunge Worte bilden konnten und wie dankbar sahen uns die treuen lieben Augen an – wenn wir wirklich verstanden was der arme Kranke wünschte. Zuletzt waren es nur noch Zeichen die Papa machte – u. wenn ich einmal vom Bette fort mußte, so wurde ich immer wieder gerufen, weil P. ungeduldig wurde wenn die Schwester oder die Brüder ihn nicht verstanden. Glücklich und dankbar bin ich über das immer wieder gestammelte Else. Die arme, arme Mama hat durch ihre kranken Augen so wenig für Papa thun können, ich habe oft geglaubt es nicht ertragen zu können, wie der Kranke sich von Mama ab – und uns andern zuwandte, während Mama ihm doch in gesunden Tagen so unendlich, so unsagbar viel mehr geleistet hat und gewesen ist, wie wir und besonders ich. Wie herzerschütternd war ihre Klage: „Ich kann Papa nicht einmal mehr zu trinken geben, ich sehe 214

Else Gurlitt

ja den Mund gar nicht!“ Und wenn der arme Dulder vor Erschöpfung die Augen schloß so warf sich Mama förmlich über ihn um doch noch einmal die geliebten Züge zu sehen! Den letzten freudigen Moment den der geliebte Papa gehabt war als am Sonnabend […] Ludwig an sein Bett trat. Ich hatte den Kranken mit wenigen Worten vorbereitet als er Ludwig sah – streckte Papa beide Hände aus und sagte ganz deutlich: „Mein lieber Junge“ – ein Lächeln flog über das ganze Gesicht. Einige Minuten später hatte er wohl wieder Ludwigs Anwesenheit vergessen. Ich wachte mit Ludwig in dieser Nacht, der letzten bis um 2 Uhr, etwa um 8 Uhr fingen die Hände und Füße an sehr kalt zu werden – wir thaten erstere in heißes Wasser – es nutzte nicht – eine Wärmflasche brachte auch keine Wärme in die Füße. Mama saß die ganze Zeit in ihrem Bett u. rieth uns was zu thun, bis um 10 Uhr Nachts war der Kranke ruhiger als die übrigen Tage – ich fing trotz des Arztes schlimmer Nachricht vom 18. morgens des Mittags am 19. wieder etwas zu hoffen an. Dann begann die furchtbar Unruhe, der Todeskampf trat ein, zwei Mal mußten wir Papa aus dem Bett auf einen Lehnstuhl heben, keine Sekunde hatte er Ruhe – ein quälender Durst, ganz unstillbar – ließ ihn vor Ungeduld aufschreien, ein entsetzlicher Husten schüttelte des ganzen Körper. Gegen 2 Uhr Nachmittags d. 19. schien wieder mehr Ruhe ein zutreten, die Schwester und unsre Ida kamen zur Ablösung, ich wollte mich nur eine Stunde mit den Kleidern aufs Bett legen – um 6 Uhr schlief ich noch, so daß mich die Schwester wecken mußte. Der Doctor war um 7 Uhr da […] – wir beschworen ihn etwas zur Milderung der Schmerzen zu geben – er ging so schwer darauf ein – sagte aber, es sei jede Möglichkeit ausgeschlossen, daß das Leiden noch lange andauern könnte. Mama sprach ergreifend ruhig und gefaßt mit ihm. Um ½1 Uhr kam Cornelius, einige Minuten später der Arzt zum zweiten Mal – Stunden u. Stunden hatte Papa geschrien vor Schmerzen. – wieder hatte er verlangt aus dem Bett gehoben zu werden. Auf dem Lehnstuhl trat plötzlich eine solche Veränderung ein, daß ich Mama sagte, die neben Papa kniete – „Jetzt geht es zu Ende, Papa verändert sich so.“ Wir – Mama, Ludwig und ich flehten um die Erlösung! Doch plötzlich richtete sich Papa wieder auf und gab uns zu verstehen, daß er wieder zu Bett wolle. Auf Mamas und uns Kinder dringende Bitte machte der Arzt um 1 Uhr eine ganz geringe Morphiumeinspritzung, zehn Minuten später hörte das Klagen u. Jammern auf und wie im tiefen, friedlichen Schlummern lag der geliebte Papa – Etwas vor 6 Uhr, der Doctor war wieder anwesend, wurden die Athemzüge leiser u. regelmäßiger – um ¼ 7 Uhr kamen zwei schreckliche gurgelnde, röchelnde Laute wie ich nie etwas ähnliches gehört – noch zwei tiefe Athemzüge und das treueste, edelste Herz hatte aufgehört zu schlagen – wir hatten den besten Vater verloren. Die Schwester – mit deren Vater Papa als junger Maler in Italien gereist war und mit der ich in Dresden Künstlerfeste mitgemacht – ein Frl. Lichtenberg – hat in aufopferungswürdigster Weise ihren Liebesdienst versehen. Sie wusch die sterblichen Reste – Ludwig hatte 215

Elizabeth Baars

Papa die Augen zugedrückt – u. die Brüder trugen mit ihr Papa eine Stunde später in das kleine Zimmerchen dem unsern gegenüber. Dort hat er auf einem Bett unter weißen Tüchern gelegen, bis man ihn am Dienstag Nachmittag die Treppe hinunter in den Sarg und dann in das Todenhaus am Kirchhof getragen. Wunderbar schön und erhaben sah unser geliebter Vater im Tode aus, ein tiefer, schöner Ernst war über die ganz unveränderten Züge gebreitet – mächtig trat die schöne Stirne hervor; nie im Leben habe ich so den bedeutenden, großen Mann in den Zügen gesehen, als wie Papa in dieser furchtbaren Ruhe vor uns lag. Am Dienstag Nachmittag – schmückten Mariechen und ich sein Lager – Es war eine ergreifend feierliche Stunde als wir ganz allein bei Papa seien konnten und um seinen Körper all’ die Blumen legten – er war eingebettet in losen Blumen und in Kränzen. Über 50 Kränze sind dem Geliebten zugesandt worden. Der Geistliche aus Sadisdorf sprach einige unendlich ergreifenden Abschiedsworte an der Leiche, dann folgten Cornelius u. Ludwig dem Leichenwagen nach Schmiedeberg zum Kirchhof. Am Mittwoch kamen Otto, Hans u. Marie – die Cornelien, Herr Grieben, Theodor Gerlach, Paul Lewald u. Frau Dr. Schmid u. Martinsen […] hiesig[e] Bekannte – Helene war schon mit dem allerersten Zug mit gekommen. Wir alle gingen zu Fuß reich beladen mit den schönsten Kränzen, gefolgt vom Hauspersonal u. hiesigen Leuten zum Kirchhof. Weißt Du, liebster Memo, von der Laube von Bergers aus mußt Du doch den lieben, lieben Platz gesehen haben – nicht weit von der Stelle wo der Vogel stand – nach dem die Kinder beim Kinderfest schoßen. Dort hoch ab liegt unser geliebter Vater – die schönste Stelle am großen Friedhof hat Ludwig für ihn auserwählt. Dort sahen wir ihn in die kalte Erde betten – es ist furchtbar schwer solche Stunden durchleben zu müssen. Dann folgten wir dem Geistlichen in die Kirche wohin Mariechen Mama geleitet hatte, die mit ihr zu Wagen nach Schmiedeberg gefahren war. Mama wollte, daß ich bis zuletzt bei Papa bliebe. Sehr schön und voller Anerkennung u. Bewunderung sprach dort der Schmiedeberger Geistliche über den „edlen Patriarchen“ – der uns verlassen. Vor Jahren an einem schönen, sonnigen Sonntag hat Mama als sie einmal durch Schmiedeberg nach Kipsdorf fuhren zu Papa gesagt, „Sieh Louis, dort oben möchte ich beerdigt werden!“ Bis heute vormittag war Helene bei uns, ein wahrer Trost – eine wahre Herzerquickung für die arme Mama und mich. Mama ist bewunderungswürdig – sie trägt ihren fruchtbaren Kummer mit solcher Ergebung, in so schöner würdiger Weise, daß wir nur von ihr lernen können. Noch haben wir gar keine Pläne für die Zukunft gemacht – zunächst wollen wir ruhig hier bleiben um körperlich u. geistig wieder etwas ins’s Gleichgewicht zu kommen. Eleonore will uns die Freude machen zu uns zu kommen in unserer Einsamkeit! Sie wird mir auch helfen all` die Dankeskarten weg zusenden, die bis jetzt noch nicht bestellt sind. Dann gehen wir nach Steglitz – aber weiter haben wir noch gar keine Pläne.

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Else Gurlitt

Otto ist Freitag abgereist, der gute, liebe Kerl! In solchen Zeiten erfährt man erst wie gut die Race […] Gurlitt ist! Ich will schließen. Grüße Mary u. die Kinder herzinnigst. In treuester Liebe Else [Handschrift der Mutter] Im tiefen Schmerz u. in treuester Liebe, sende ich Dir, meinem guten besten Sohn, den herzlichsten Gruß. Die Alten, die Kinder, sie Alle haben geleistet, was ihre Liebe u. Kraft bieten konnte. Else war über alles denken würdig. Sie allein konnte Papa verstehen, sie verstand ihn, ohne daß er sprach, sie hat das Leben bis zum letzten Athemzug dem geliebten Vater erleichtert. Jetzt ist es still u. leer, aber die Ruhe thut uns wohl denn wir denken nur an ihn u. jede Stunde ist Ich kann nicht – –

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Wolfgang Gurlitt um 1914, Portrait aus dem Katalog „Wolfgang Gurlitt Zauberprinz. Kunsthändler – Sammler“, München 2019, S. 39, Privatbesitz. WOLFGANG (LUDWIG HEINRICH KARL) GURLITT, Kunsthändler, Verleger, Sammler. Geb. 15. Februar 1888 in Berlin. Enkel d. Landschaftsmalers Louis Gurlitt, Neffe d. Kunsthistorikers und Architekten Cornelius Gurlitt, Sohn d. Galeriegründers Fritz Gurlitt. 1907 Eintritt in dessen Kunsthandlung als Mitarbeiter, 1914 als offener Handelsgesellschafter. 1914 Gründung d. „Kunstverlag Gurlitt“. 1912 erste und einzige Ausstellung d. vollständigen Brücke-Gruppe in Deutschland mit Werken v. Cuno Amiet, Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Otto Mueller, Max Pechstein u. Karl Schmidt-Rottluff. 1915–1922 alleiniger Vertreter v. Max Pechstein. Ausstellungen mit Werken v. Lovis Corinth, Max Liebermann, Edvard Munch, Max Slevogt, mit Egon Schiele, Christian Schad u. Irma Stern. Hochzeit mit Julia Goob am 18. März 1918, Scheidung am 30.  Januar 1937. Hochzeit mit Käthe Lange 20.  Mai 1937. Spätestens 1936 Mitglied Reichskammer der bildenden Künste, Fachgruppe Kunstverleger und -händler. 1943 Übersiedelung nach Bad Aussee, Österreich, mit Julia (geb. Goob), Käthe (geb. Lange) u. Lilly Christiansen Agoston. 1946 Gründung, 1948 Eröffnung und 1956 künstlerische Leitung d. „Neuen Galerie der Stadt Linz  – Wolfgang-Gurlitt-Museum“. Ausstellungen zu Alfred Kubin, Oskar Kokoschka. 1950 Eröffnung d. „Kunstkabinett der Galerie Wolfgang Gurlitt“ in München. Gest. 26. März 1965 in München.

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Kunst leben. Wolfgang Gurlitts expressionistische Wohnräume zwischen Kunstförderung, Galerieerweiterung und extravagantem Lifestyle Sonja Feßel* Wolfgang Gurlitt, der Berliner Kunsthändler, raffiniertester Schlemmer im Künstlerischen, […] hat sich eine Wohnung hergerichtet, die in einem äußersten Sinne mondän und zugleich künstlerisch ist. Eine einzigartig vorurteilslose Wohnung. Sie hat ein Parfum, das vermutlich sogar für einen Huysmans noch Überraschung gewesen wäre. […] Hier war ein Mann, der seinem Luxus Stil zu geben wußte […]. Es ist in diesen Räumen das Besondere gewollt; eine Freude am Spielerisch-Künstlerischen, am Eigenen und Eigenartigen konnte und sollte sich auswirken. Das dürfte schon die Intention des Auftraggebers gewesen sein, der nicht so oder so ‚ausgestattet‘ werden, sondern ein paar Künstlern Gelegenheit geben wollte, Talent und Laune zu entfalten.1

Diese den jungen Berliner Kunsthändler Wolfgang (Ludwig Heinrich Karl) Gurlitt (1888–1965) preisenden Zeilen verfasste der Kunsthistoriker und Kritiker Paul Westheim 1921 für die von ihm herausgegebene Zeitschrift Das Kunstblatt. Die Begeisterung galt der Gestaltung der Wohnräume des Galeristen, die ab 1919 auf die vorangegangene Erneuerung der Galerieräumlichkeiten 1917/18 folgte. Unter der Leitung des Innenarchitekten Walter Würzbach, der sich kurz vorher mit seinen Entwürfen für das Wein- und Tanzlokal im Berliner Scala Palast einen Namen gemacht hatte, entstand ein eindrucksvolles expressionistisches Raumensemble, dessen im Deutschen Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte  – Bildarchiv Foto Marburg (DDK) erhaltenen fotografischen Aufnahmen insofern von besonderer Bedeutung sind, als dieses im Zweiten Weltkrieg nahezu vollständig zerstört wurde.2 Bei den Künstlern, denen Wolfgang

Ein Vorabdruck dieses Beitrags erschien im Katalog „Wolfgang Gurlitt Zauberprinz. Kunsthändler – Sammler“, Lentos Kunstmuseum Linz, Museum im Kulturspeicher Würzburg, hg. von Hemma Schmutz und Elisabeth Nowak-Thaller, München 2019, S. 83–94.

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Gurlitt „Gelegenheit geben wollte, Talent und Laune zu entfalten“, handelt es sich um niemand Geringeren als Max Pechstein, César Klein und Rudolf Belling. Der Kunstkritiker Max Osborn würdigte im gleichen Jahr wie Westheim das Engagement des Auftraggebers und die Leistung der Künstler, und dies in der Lifestyle-prägenden Zeitschrift Die Dame. Illustrierte Mode-Zeitschrift. Osborn zieht den Vergleich zum Vater, zu Fritz (Friedrich Louis Moritz Anton) Gurlitt (1853–1893), und attestiert Wolfgang Gurlitt, die Tradition des Hauses fortzusetzen, d. h. nicht nur ältere, etablierte Kunst zu verkaufen, sondern junge, unbekannte Talente zu entdecken und zu fördern: Fritz Gurlitt, der Vater, setzte sich für die Meister der achtziger Jahre ein, mit so leidenschaftlicher Zähigkeit, daß er sich in diesem Kampf aufrieb – ‚Arti inserviendo consumptus‘ setzten die Freunde auf sein frühes Grab. Sein Sohn Wolfgang biegt mit vollen Segeln in den Strom der Experimente von heute ein. Der Kreis moderner Begabungen, denen er sein altes Haus in die Hand drückte, zauberte Bilder von überraschender Einheit hinein.3

Anhand der Glasplattennegative, die seit 1937 sorgfältig verwahrt im Depot des DDK lagen und erst 2015 wiederentdeckt wurden, lassen sich in Verbindung mit den zeitgenössischen Quellen die Räumlichkeiten in bisher nicht gekanntem Maße nachvollziehen. Die Fotografien dieses expressionistischen Gesamtkunstwerkes bezeugen darüber hinaus die Kunstförder- und Galeristentätigkeit Wolfgang Gurlitts ebenso wie sein künstlerisches Netzwerk um 1920 – wohl eine Blütezeit der Kunsthandlung.

Zur Geschichte der Kunsthandlung Fritz Gurlitt Die Kunsthandlung Fritz Gurlitt wurde 1880 von Friedrich (Fritz) Gurlitt, dem Sohn des Landschaftsmalers Louis Gurlitt (1812–1897) aus dessen dritten Ehe (mit Elisabeth Lewald, 1823–1909) und Bruder des Architekten und Kunsthistorikers Cornelius Gurlitt (1850–1938), in Berlin eröffnet.4 Fritz Gurlitt, der zum Zeitpunkt der Firmengründung erst 26 Jahre alt war, zeigte neben Werken der älteren vor allem zeitgenössische Kunst. Seine Tätigkeit fand bereits früh die Beachtung der Kritiker. Fritz Gurlitts Interesse galt den neuen, erst wenig bekannten Kunstformen, für dessen Entstehung und Verbreitung er sich einsetzte. Er förderte Künstler wie Anselm Feuerbach oder Arnold Böcklin, dessen Werke er zu einer Zeit ankaufte, als dieser erst wenig Anerkennung erfuhr.5 Im Herbst 1883 präsentierte er mit der Privatsammlung von Carl und Felicie Bernstein sowie weiteren 23 Werken, die der Pariser Kunsthändler Paul Durand-Ruel beisteuerte, erstmalig in Deutschland eine Ausstellung französischer Impressionisten6  – „zu[m] allgemeine[n] 220

Wolfgang Gurlitts expressionistische Wohnräume

Entsetzen“7, wie die Redaktion der Zeitschrift Kunst und Künstler 1905 vermerkte. Vereint wurden Werke von Édouard Manet, Edgar Degas, Pierre-Auguste Renoir, Mary Cassatt, Camille Pissarro, Alfred Sisley oder auch Claude Monet. Ein Kritiker des Deutschen Kunstblatts konstatierte: Fassen wir unser Urteil über die Bilder zusammen, so können wir ihnen kaum mehr als ein pathologisches Interesse einräumen. Als Krankheitserscheinung, als ein warnendes Exempel, wohin die Kunst gerät, wenn sie sich von dem Ideale des Schönen lossagt, verdienen sie Beachtung.8

Aber auch die deutschen Freilichtmaler und Wegbereiter der Moderne stellte Fritz Gurlitt – trotz reichlich scharfer Kritik – wiederholt aus, darunter Werke von Wilhelm Leibl, Max Liebermann, Wilhelm Trübner, Fritz von Uhde oder Lesser Ury. 1918 wurde Fritz Gurlitt vom deutschen Kunsthistoriker Alfred Lichtwark rückblickend gar als „wichtigste Persönlichkeit“ der 1880er Jahre bezeichnet.9 Den großen Erfolg vieler, der von Gurlitt bereits früh geförderten Künstler, sollte dieser selbst jedoch nicht erleben. 1893 verstarb Fritz Gurlitt im Alter von nur 39 Jahren, sein Sohn Wolfgang war damals gerade erst 5 Jahre alt. Die Kunsthandlung wurde zunächst von der Witwe Annarella (geb. Imhof, 1858–1935) und dem vormaligen Sozius Fritz Gurlitts, Willi [Friedrich Wilhelm] Waldecker, zugleich Annarellas zweiter Ehemann, weitergeführt. Lesser Ury, Fritz von Uhde, Max Liebermann, Franz Stuck und Franz von Lenbach waren in Ausstellungen ebenso vertreten wie Max Slevogt. 1895 wurden zudem erstmals Arbeiten von Lovis Corinth gezeigt. 1899 ließ die Ausstellungstätigkeit jedoch nach, um zwischen 1902 und 1904 gänzlich zu erliegen.10 Als 1905 die Wiederaufnahme der Ausstellungstätigkeit – nun wohl unter der Federführung von Georg Caspari – erfolgte,11 geschah dies in der Potsdamerstraße 113 mit zahlreichen Werken von Hans Thoma, aber auch von Böcklin und Feuerbach.12 Wolfgang Gurlitt begann 1907, mit 19 Jahren, zunächst als Mitarbeiter in der Kunsthandlung zu arbeiten. Am 3. Dezember 1912 erhielt er, zusammen mit dem Kunsthändler Carl Nicolai, Prokura. 1914 trat Wolfgang Gurlitt als offener Handelsgesellschafter in die Firma ein und zeichnete fortan für die Geschäfte verantwortlich.13 Wie sein Vater interessierte sich auch Wolfgang Gurlitt für die zeitgenössische Kunst, stellte junge, noch wenig bekannte Künstler aus. Am 2. April 1912 eröffnete in der Kunsthandlung Fritz Gurlitt die erste und einzige Ausstellung der vollständigen Brücke-Gruppe in Deutschland mit Werken von Cuno Amiet, Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Otto Mueller, Max Pechstein und Karl Schmidt-Rottluff. Ab 1915 und bis zum Zerwürfnis 1922 war Gurlitt alleiniger Vertreter von Max Pechstein.14 Aber auch Lovis Corinth oder Edvard Munch wurden von Wolfgang Gurlitt in umfassenden Ausstellungen präsentiert, später auch Arbeiten von Egon Schiele, Oskar Kokoschka und anderen ‚Wiener‘ Künstlern.15 221

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„Nicht[s] weniger als ein Tempel der Kunst“16 – Zur Neugestaltung der Kunsthandlung Fritz Gurlitt 1917/18 Bereits 1905 bezog die Kunsthandlung Fritz Gurlitt ihre Räumlichkeiten in der sogenannten ‚Villa II‘ der Potsdamerstraße 113 in Berlin, die Wolfgang Gurlitt dann ab 1917 aufwendig renovieren lies.17 Seit spätestens 1913 wird neben der ‚Villa II‘ auch die daneben liegende ‚Villa I‘ als Adresse der Kunsthandlung genannt.18 Es handelte sich um zwei nebeneinander liegende Häuser, die von verschiedenen Parteien – Privatpersonen wie auch Unternehmen – bewohnt wurden. Auch Annarella und Willi Waldecker lebten hier. Wiederholt wird in der jüngeren Literatur von einem „Neubau seiner Villa“ gesprochen.19 Einen solchen hat es jedoch nicht gegeben. Birgit Gropp verweist auf den Erwerb des „benachbarte[n] Haus[es] hinter der Potsdamerstraße“.20 Von den beiden Gebäuden, der Villa I und II, haben sich im Glasplattenbestand der Kunsthandlung Fritz Gurlitt am DDK Fotografien erhalten, die nicht nur die Lage von Kunsthandlung und Durchfahrt verifizieren, sondern auch das Aussehen der im Krieg zerstörten Gebäude überliefern (Abb. 1 und 2).21 Auf dem Schild am Pfosten der links liegenden Villa II lässt sich im hoch aufgelösten Scan des Glasnegativs das Firmenemblem der „Hofkunsthandlung Fritz Gurlitt“ erkennen.

Abb. 1: Hofkunsthandlung Fritz Gurlitt, Villa II, Potsdamerstraße 113, Aufnahme von um 1920, Glasnegativ, 18 x 24 cm (Bildarchiv Foto Marburg, Aufn.-Nr. 146.211).

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Wolfgang Gurlitts expressionistische Wohnräume

Abb. 2: Villa I, Potsdamerstraße 113, rechts der Zugang zur Durchfahrt, Aufnahme von um 1920, Glasnegativ, 18 x 24 cm (Bildarchiv Foto Marburg, Aufn.-Nr. 146.212). Die Wiedereröffnung der Kunsthandlung nach der Neugestaltung erfolgte im Juni 1918 – also noch während des Ersten Weltkriegs  – mit einer umfassenden zweiteiligen Werkschau von Max Pechstein.22 Die Aufmerksamkeit zogen nicht allein die Gemälde Pechsteins auf sich, sondern der Kunsthistoriker Georg Biermann feierte geradezu die neuen Räumlichkeiten, für die Pechstein, aber auch César Klein und Rudolf Belling Werke beisteuerten: […] es [ist] ein bedeutsames Zeichen der Zeit, wenn im vierten Kriegsjahr in Berlin der altbewährte Salon von Fritz Gurlitt unter der glücklichen Initiative seines jungen Inhabers der werdenden Kunst ein neues Haus eröffnete, das dazu berufen scheint, deutsche Kunstgeschichte zu machen. Ein Haus, so festlich und schön, so bis ins letzte von künstlerischem Geschmack getragen, daß in solchem Rahmen von selbst die Kunstwerke ein neues eigenes Leben empfangen müssen. Unten der langgestreckte Oberlichtsaal in heiteren, lichten Tönen und daneben, durch eine kurze Treppe verbunden, die zu einem, von Pechsteins köstlichen Mosaiken geschmückten Durchgang hinaufführt, der in klassischem Rot gehaltene Vorraum. Und darüber im ersten Stock eine kleine Flucht von Gemächern, die  – kurz gesagt  – etwa das Milieu eines vornehmen Sammlers in sich begreifen. Eine Wohnung mit Eß- und Wohnzimmer, mit einem Schlafzimmer und Baderaum, in die Pechsteins bunte Glasfenster mystischen Glanz hineintragen.  – Das Ganze nicht mehr

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und nicht weniger als ein Tempel der Kunst […]. Das ist mit einem Worte lebendigste Kunstkultur, ein Etwas, an dem sich Geschmack und Glauben an die wirkenden Kräfte dieser Zeit aufrichten, künstlerisches Unternehmertum, das in seiner vornehmen Diskretion einfach vorbildlich wirkt. – Solche Tat verdient Anerkennung. Sie ist in schwerer Zeit mit jenem kühnen, selbstvertrauenden Optimismus durchgeführt worden, der schließlich doch aller Schwierigkeiten Herr geworden ist.23

Als Wolfgang Gurlitt ab 1917 die Künstler César Klein, Rudolf Belling und Max Pechstein mit der Gestaltung von Werken für seine Kunsthandlung beauftragte, standen diese teilweise noch am Anfang ihrer Künstlerkarrieren, machten jedoch zunehmend durch Arbeiten auf sich aufmerksam, die die Trennung von Kunst und Architektur sowie Kunst und Handwerk zu überwinden suchten. Für alle drei ist die Phase um 1918 eine wichtige in ihrer künstlerischen Entwicklung. Dass Wolfgang Gurlitt ihre Werke nicht nur in Ausstellungen zeigte, sondern auch in gedruckter Form verbreitete – sei es in eigenen Publikationen oder durch die Distribution fotografischer Reproduktionen an Zeitschriften und Verlage –, dürfte nicht unerheblich zur rasch wachsenden Bekanntheit beigetragen haben.24 Der gebürtig aus Hamburg stammende Maler, Grafiker und Bühnengestalter César Klein wurde mit dem Entwurf von Wandgemälden und Glasfenstern für eine Durchfahrt in der Villa I beauftragt.25 Als zentraler Zugang zu den neuen Räumlichkeiten sollte diese repräsentativ gestaltet werden.26 César Klein, der 1910 Mitbegründer der ,Neuen Secession‘ in Berlin war und 1913 Glas- und Wandgemälde – gemeinsam mit Max Pechstein – in expressiver Form im Marmorhaus-Theater, einem vom Architekten Hugo Pàl gebauten Kino am Kurfürstendamm, ausgeführt hatte,27 entwarf hierfür Glasarbeiten in den Türen sowie vier Wandmalereien mit Landschaften der Jahreszeiten (Abb. 3). Skizzen der vier Wandbilder publizierte Wolfgang Gurlitt 1918 in seinem Almanach auf das Jahr 1919 zusammen mit einem Text des Architekten und Architekturpublizisten Adolf Behne.28 Dieser beschreibt eindrücklich die von Klein gewählte und in den Marburger Platten gänzlich fehlende Farbigkeit: Durch das tiefe Sammetschwarz der schmalen Tonnenwölbung, das durch stumpf-lilafarbene, zackiggoldgerahmte Felder und aufgelegte Ornamente aus Gold, Blau und Rot intensiv gesteigert wird, durch das leuchtende klingende Grün der Wände des sich in die Tonne einschneidenden dunkelgoldenen Kreuzjoches und das gleichmäßige hellflammende Rot der Nische ist eine festliche Stimmung geschaffen, eine Stimmung besonderer und anspruchsvoller Erwartung, die dazu beitragen wird, das Publikum durchschnittlichen Vortragsleistungen gegenüber sehr kritisch zu machen. Es gehört schon etwas dazu, um sich nach dem Prangen dieses Vorraums zu halten.29

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Wolfgang Gurlitts expressionistische Wohnräume

Abb. 3: Durchfahrt, Villa I, Potsdamerstraße 113, Blick in Richtung Innenhof, Wandmalerei und Glasarbeiten von César Klein, 1918, Aufnahme um 1920, Glasnegativ, 24 x 18 cm (Bildarchiv Foto Marburg, Aufn.-Nr. 146.213). 225

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Abb. 4: Rudolf Belling, „Große Gruppe Natur“, 1918, Blick von der Treppe aus in die Durchfahrt, Aufnahme um 1920, Glasnegativ, 24 x 18 cm (Bildarchiv Foto Marburg, Aufn.-Nr. 146.215).

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Die in einer einem Treppenaufgang gegenüberliegenden Nische stehende Skulptur Große Gruppe Natur (1918), die ebenfalls im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, stammte vom Berliner Bildhauer Rudolf Belling (Abb. 4).30 Belling, der zunächst als Autodidakt im Bereich der Bühnenbildnerei tätig war und dort die neuen Tendenzen expressionistischer Kunst und Literatur kennenlernte, bevor er 1911 von Peter Breuer als Meisterschüler an die Kunstakademie Berlin-Charlottenburg angenommen wurde, gehörte – wie Klein und Pechstein – zur 1918 in Berlin gegründeten ‚Novembergruppe‘, einer sich selbst als „radikal“ und „revolutionär“ bezeichnenden Künstlervereinigung, die 1933 nach der Machtübernahme Hitlers ihre Arbeit einstellen musste.31 Belling arbeitete auch am Umbau des Berliner Scala Tanzcasinos mit Walter Würzbach zusammen, der später für die expressionistische Raumgestaltung der Wohnung Wolfgang Gurlitts verantwortlich zeichnete.32 Max Pechstein, der als ausgebildeter Dekorationsmaler begann, an der Dresdner Kunst­ gewerbeschule und an der Kunstakademie studierte, trieb ab 1906 auch als Mitglied der Künstlergruppe ‚Brücke‘ die Verbindung von Architektur und Innendekoration voran und dies mit dem Ziel, alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens künstlerisch zu durchdringen.33 Mit der Auflösung der Disziplinen stand bereits die Brücke-Gruppe, deren künstlerische Werke 1912 in der Kunsthandlung Fritz Gurlitt umfangreich präsentiert wurden, trotz gänzlich neuem Formen- und Farbenkanon in ihren programmatischen Grundzügen in der Tradition der Reformbewegungen um die Jahrhundertwende.34 Pechstein hatte in seiner Dresdner Zeit zahlreiche Glas- und Wandmalereien realisiert, wenn auch überwiegend als Auftragsarbeiten für kunstgewerblich tätige Firmen wie Villeroy & Boch.35 Aber auch das Speisezimmer der Villa des Berliner Sammlers, Rechtsanwalts und Kunsthändlers Hugo Perls in Zehlendorf schmückte Pechstein 1912 mit einem kunstvollen, sich über mehrere Wände erstreckenden Wandgemälde.36 Bereits 1913 stellte die Hofkunsthandlung Fritz Gurlitt neben Gemälden auch Glasarbeiten von Max Pechstein aus.37 Im Rahmen der Neugestaltung der Kunsthandlung Fritz Gurlitt schuf Pechstein die von Biermann als „köstlich“ bezeichneten Wandmosaiken für einen Durchgang sowie Glasfenster für ein Treppenhaus und ein Badezimmer. Die beiden sich gegenüberliegenden, je dreiteilig komponierten Mosaiken zeigten biblische Szenen aus dem Alten beziehungsweise Neuen Testament, die „wie ein glitzerndes Wunder“  – so Max Osborn 1922 in seiner PechsteinMonografie – „den erstaunten Besucher begrüß[ten]“.38 Ersteres zeigte die Vertreibung aus dem Paradies, gerahmt vom vorausgehenden Sündenfall und der daraus folgenden Konsequenz in Form von Adam und Eva bei der Arbeit auf Erden. Das zweite Mosaik gab die Anbetung der Heiligen Drei Könige, links und rechts flankiert von Mariae Empfängnis und den Hirten auf dem Felde, wieder (Abb. 5).

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Abb. 5: Mosaik „Verkündungsengel aus der Anbetung der Könige“ nach einem Entwurf von Max Pechstein, 1917/1918, ausgeführt von den Vereinigten Werkstätten für Mosaiken und Glasmalerei Puhl & Wagner, Gottfried Heinersdorff, Berlin, Aufnahme von 1919, Glasnegativ, 18 x 24 cm (Bildarchiv Foto Marburg, Aufn.-Nr. 146.081). Osborn erläuterte dazu: Da es sich um einen Durchgang handelte, dessen Tonnengewölbe bei Tage nicht viel Licht erhält, mußten die Flächen möglichst hell gehalten werden. Man half sich damit, daß man ihnen einen lichtgrauen Putz gab. In diesen Putz wurden die Steinchen ganz frei, nicht nach einem starren System lückenloser Füllung, sondern so, daß der Grund vielfach durchschimmerte, oft in größeren Zwischenräumen sichtbar wurde, eingedrückt.39

Die Aufnahmen aus dem Marburger Bestand zeigen nicht die im Gurlitt’schen Galerieraum verlegten Mosaiken, sondern Details noch unverlegter Mosaiken nach denselben Entwürfen, die von den Vereinigten Werkstätten für Mosaik und Glasmalerei Puhl & Wagner, Gottfried 228

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Heinersdorff, Berlin, vertrieben wurden.40 Erhalten hat sich von diesen Werken einzig ein Entwurfskarton, der sich heute in den Staatlichen Museen zu Berlin befindet, der aber die auch bei Max Osborn beschriebene „schillernde Buntheit“ des „farbigen Gefunkel[s]“41 nur bedingt überliefert. Zudem ist Behnes Text im Gurlitt’schen Almanach auf das Jahr 1919 (1918) mit einer Aufnahme bebildert (Abb. 6), die eines der Mosaike – wenn auch stark angeschnitten – zeigt. Diese Aufnahme ließ Gurlitt zusammen mit weiteren auch als Postkarten drucken, mit denen er seine Kunsthandlung bewarb.

Abb. 6: Almanach auf das Jahr 1919, hrsg. v. Verlag Fritz Gurlitt, Berlin, 1918; rechts: „Blick in den neuen Ausstellungsraum der Kunsthandlung Fritz Gurlitt. Mosaiken von Max Pechstein“.

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Abb. 7: Max Pechstein, Glasfester „Madonna“ im Treppenhaus der Hofkunsthandlung Gurlitt, 1917, ausgeführt von den Vereinigten Werkstätten für Mosaiken und Glasmalerei Puhl & Wagner, Gottfried Heinersdorff, Berlin, Glasnegativ, 24 x 18 cm (Bildarchiv Foto Marburg, Aufn.-Nr. 145.410). 230

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Für das Treppenhaus der Kunsthandlung entwarf Max Pechstein ein Glasfenster mit einer „Fruchtbarkeit“-Darstellung, die auch als „Madonna mit Kind“ gedeutet wurde (Abb. 7). Theodor Heuss bemerkte dazu: Madonnen wollen eigentlich nicht in Treppenhäusern verehrt werden. Aber man muß heute zufrieden sein, wenn das Glasgemälde, das nicht zum Element einer großen Architektur werden kann, in Haustüren und Hoftoren, in Treppengängen, Schlaf- und Badezimmern die Möglichkeit erhält, sich zu eigenwilligem Leben zu entfalten.42

Hatte Georg Biermann in seiner Rezension neben den Ausstellungssälen bereits von „Gemächern“, von einer Wohnung mit Ess- und Wohnzimmer, einem Schlafzimmer und Baderaum gesprochen, vom „Milieu eines vornehmen Sammlers“43, so haben sich von diesen Räumen nur teilweise Fotografien erhalten. 44 Von den Badezimmern gibt es zwar keine Raumansichten, jedoch mehrere Einzel- und Detailaufnahmen der Glasfenster.45 Pechstein schmückte diese Räume mit Darstellungen wie Das Jungbad, Susanna im Bade, Das Urteil des Paris und einem Frühlingsreigen (Abb. 8).

Abb. 8: Max Pechstein, Glasfester „Frühlingsreigen“ im „Hause der Hofkunsthandlung Fritz Gurlitt“, 1917, ausgeführt von den Vereinigten Werkstätten für Mosaiken und Glasmalerei Puhl & Wagner, Gottfried Heinersdorff, Berlin, Glasnegativ, 24 x 18 cm (Bildarchiv Foto Marburg, Aufn.-Nr. 145.418). 231

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Max Osborn schwärmt 1921: Meisterlich, wie der Maler hier, ebenso im Badezimmer nebenan und im Treppenhaus die strotzende Sinnlichkeit seiner Farbflächen auf die Sprache des transluciden Materials umstellt, die Verbleiungen als ausdrucksreiche Konturen verwendet.46

Auch weitere Räume – das „Gelbe Zimmer“, das „Rote Zimmer“ mit Oskar Kokoschkas Porträt der Else Kupfer (1911) im Hintergrund (Abb. 9), Wolfgang Gurlitts Büro in Grün47 sowie der „Graue Salon“ – sind wie der Ausstellungsraum mit Pechsteins Mosaiken als Postkarten erschienen.48 Vom „Gelben Zimmer“ (Abb. 10), vom Büro Wolfgang Gurlitts sowie etlichen weiteren, nicht als Postkarten veröffentlichten Räumen haben sich im Marburger Bestand Aufnahmen erhalten: so auch das Foto eines Schlafzimmers, das mit religiösen Objekten, Madonnen, Heiligenfiguren, einem ans Kreuz genagelten Christus, Gebetsbüchern, einem Rosenkranz, gar einem über das Bettende hängenden liturgischen Gewand übervoll ist (Abb. 11). Wem dieses Schlafzimmer gehörte, ist nicht überliefert, obschon es eine Wolfgang Gurlitt nahestehende Person gewesen sein muss – steht doch auf dem Nachttisch ein Foto des Hausherrn.

Abb. 9. „Haus Wolfgang Gurlitt – Rotes Zimmer“, Postkarte, Kupferdruck O. Felsing, Charlottenburg, 1918 (Privatbesitz, Berlin). 232

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Abb. 10: „Gelbes Zimmer“, Hofkunsthandlung Fritz Gurlitt, Potsdamerstraße 113, Aufnahme um 1918, Glasnegativ, 30 x 24 cm (Bildarchiv Foto Marburg, Aufn.-Nr. 83.420). 233

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Abb. 11: Schlafzimmer im Wohnhaus Wolfgang Gurlitt, Aufnahme um 1920, Glasnegativ, 24 x 18 cm (Bildarchiv Foto Marburg, Aufn.-Nr. 146.229). 234

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Wenngleich sich bereits bei der Neugestaltung der Kunsthandlung Tendenzen zur Ausweitung der Modernisierungsmaßnahmen auch auf privat genutzte Bereiche beobachten lassen, bleibt das Gros der Räume weitestgehend ihrer Funktion als Präsentationsorte für Kunst verhaftet. Ob Rot, Grau, Gelb oder Grün, die Neugestaltung dieser auch zu repräsentativen Zwecken genutzten Räumlichkeiten erfolgte im Hinblick auf eine moderne – und wechselnde – Präsentation von überwiegend zweidimensionalen Kunstwerken.49 In den zeitgenössischen Besprechungen der Wiedereröffnung der Ausstellungsräumlich­ keiten wird wiederholt auf die Verbindung von Kunst und Handwerk sowie die notwendige „Einheit der Künste“50 im Bauwerk verwiesen, deren Erstreben die Kritiker in dieser Zeit bei jungen Künstlern wie Pechstein beobachteten. Pechsteins Mosaiken und Glasmalereien werden als „Glied der Baukunst“51 begriffen, als „erster Versuch, die alte hohe Kunst von Ravenna im Sinne der Moderne neu zu beleben“.52 Dabei steht hier die Kunst nicht im Dienst des Handwerks beziehungsweise der Architektur, wie dies im Rahmen der Raumkunstbewegung weitestgehend der Fall war, sondern das handwerkliche Geschick bildet die Basis für originäre künstlerische Werke. Dieses „Monumentalität“53 verheißende Zusammenspiel von Kunst und Architektur zu ermöglichen, wird in den schwierigen Nachkriegsjahren besonders gewürdigt: […] Gurlitt ließ sich in seiner Wohnung, mitten in Berlin, die Toreinfahrt von César Klein ausmalen, und gab Pechstein den Auftrag, wo immer es mühelos ging, einige Glasfenster einzufügen. So allein, mit dieser Entschlossenheit, einer jungen Kunst das Leben zu ermöglichen, können die Ergebnisse gerettet werden, zu denen die Entwicklung geführt hatte, und die durch das Kriegsende schlechterdings in Frage gestellt sind, wenn nicht williges Mäzenatentum seine Aufgabe begreift. Vom halbbankrotten Staat und den betrübten Stadtkämmerern für die nächsten Jahre viel zu erwarten, wäre Illusion.54

Neben Theodor Heuss und Paul Westheim erkennt und betont auch Adolf Behne die Bedeutung des Kunsthändlers für die Weiterentwicklung der Kunst, die ihn diesen gar als „neuen Typ“ beschreiben lässt, „der nicht mehr so sehr Händler als Förderer ist“.55 Solche positiven Besprechungen der Kritiker mögen Wolfgang Gurlitt darin bestärkt haben, seine 1917 begonnenen räumlichen Neugestaltungen in seinen privaten Wohnräumen nahezu nahtlos und in gesteigerter Form fortzusetzen.56

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Wohnen in der Kunst – Ein „Neuschwanstein des Expressionismus“ Waren der Gestaltung der Galerieräume aufgrund ihrer Kunst-präsentierenden Funktion Grenzen gesetzt und die explizit für diese Räumlichkeiten geschaffenen Kunstwerke  – Wandmalereien, Mosaiken und Glasfenster – in die Neben- und Durchgangsbereiche verbannt, so konnten sich Walter Würzbach, César Klein und Rudolf Belling in der Wohnung Wolfgang Gurlitts sehr viel freier und raumergreifender betätigen. Das Resultat war nichts weniger als ein expressionistisches Gesamtkunstwerk, das eine unmittelbare Resonanz in so unterschiedlichen Zeitschriften wie dem Kunstblatt, Wasmuths Monatshefte für Baukunst, Wieland. Zeitschrift für Kunst und Dichtung oder Die Dame. Illustrierte Mode-Zeitschrift fand.57 Daneben wurden die Werke in monografischen Publikationen der Künstler besprochen.58 Die Beiträge sind in der Regel mit einer kleinen Auswahl an Abbildungen illustriert.59 Im Marburger Bestand finden sich jedoch darüber hinaus gänzlich unpublizierte Aufnahmen,60 die auch drei weitere, bisher unbekannte Räume dokumentieren und somit für die Architekturforschung von besonderer Bedeutung sind, nicht zuletzt, da über das Werk von Walter Würzbach, der hier federführend tätig war, heute nur noch wenig bekannt ist. Die meisten der von ihm entworfenen Architekturen, so auch das in Zusammenarbeit mit Rudolf Belling mit sternförmigem Grundriss und von der Decke freiplastisch herabhängenden Kristallzacken gestaltete Tanz- und Weinrestaurant im Berliner Scala Palast,61 sind dem Zweiten Weltkrieg zu Opfer gefallen.

Abb. 12: Wohnhaus Wolfgang Gurlitt, „kleines“ Schlafzimmer, 1920/21, Aufnahme um 1920, Glasnegativ, 24 x 30 cm (Bildarchiv Foto Marburg, Aufn.-Nr. 83.429). 236

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Das am prominentesten besprochene Zimmer ist das „kleine Schlafzimmer“, für dessen malerische Wandgestaltung César Klein 1919 den Auftrag erhielt (Abb. 12).62 Auf „Gold- und Silberzonen auf Glättputz“63 verwirklichte er  – fast zeitgleich zur Kulisse und den Kostümen des 1920 gedrehten expressionistischen Films Genuine 64 – das wandumfassende Gemälde, das er selbst als „die Träume des Lebens“65 bezeichnete. Die Deckengestaltung mit sternenförmigen, in die Decke eingelassenen Lampen und das Mobiliar entwarf Walter Würzbach, das Relief am Fußende des Betts – eine geschnitzte Danae mit strahlenartigem Goldregen – stammt von Rudolf Belling.66 In einer Ausgabe von Wasmuths Monatsheften für Baukunst von 1921/22 findet sich ein – wenn auch winziger und nur skizzenhafter – Grundriss des Zimmers.67 Walter Würzbach hatte dieses mit abgerundeten Ecken angelegt. Es ist der einzige für das Haus in der Potsdamerstraße erhaltene Grundriss. Nicht nur das Haus selbst, sondern auch sämtliche Bauakten wurden im Krieg zerstört. Kleins Wandgemälde zieht sich über die gesamte Wand (Abb. 13). Paul Westheim bezeichnet es als „eine Runddekoration, ohne Anfang und Ende, eine Traumvision, in der Bild aus Bild sich entwickelt“.68 Und Max Osborn schreibt in freudiger Erregung: Ein ovaler Einbau mit schwingender Kurve gibt ihm Gestalt, aus Gips gefertigt, poliert, mit matten Gold- und Silberlagen bedeckt und darüber mit lasierten Farben, wie ein Hauch, eine durchgeführte Malerei – die Ahnung eines phantastischen Reiches aus fernen, unwirklichen Welten. Darüber liegt ein gutmütiger Akkord aus Rot und Blau. Die Decke blaues Gipsmassiv mit sternartigen Goldausschnitten für die Beleuchtung. Die Möbel von dem jungen Architekten Würzbach gefertigt, in rotem Holz und dunkelblauen Bezügen.69

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Abb. 13: Wohnhaus Wolfgang Gurlitt, „kleines“ Schlafzimmer, um 1920/21, Aufnahme um 1920, Glasnegativ, 30 x 24 cm (Bildarchiv Foto Marburg, Aufn.-Nr. 83.430). 238

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Paul Westheim liefert zu Würzbachs farbigen Möbeln zudem die Angabe, in „Schleiflack mit Vergoldungen“70 ausgeführt. Da sich die Stühle und Tische in verschiedenen Räumen wiederfinden, kann man davon ausgehen, dass Rot und Blau zwei für die Gesamtgestaltung entscheidende Farben waren. Der sich links vom Bett befindende Frisiertisch mit den kleinen gläsernen Flacons scheint auf eine Bewohnerin des Schlafzimmers zu deuten. Welche Dame jedoch in diesem „phantastischen Reich aus fernen, unwirklichen Welten“ träumen durfte, ist nicht überliefert.71 Von besonderem Wert sind Aufnahmen im Marburger Bestand, die den vor dem Schlafzimmer liegenden, durch eine breite, mit einem schweren Vorhang bestückte Türe abgetrennten Raum zeigen (Abb. 14).72 Dieser ist mit einer auffälligen Sternentapete geschmückt. In ihm stehen teils runde, teils rechteckige Tischchen – letztere mit auffällig massiven, mit Zacken dekorierten Füßen – sowie markante runde, gepolsterte Stühle und Sessel. An den Wänden hängen kleine Gemälde. Auf den Tischen sowie in scheinbar in die Wände eingelassenen, ebenfalls mit großen Zacken gestalteten Regalen stehen reichlich Objekte aus Glas und Porzellan, eine Tischuhr, kleine Figürchen, Karaffen, Schatullen – allerlei „Bric-à-brac“, das Paul Westheim in Verzückung geraten ließ.73

Abb. 14: Wohnhaus Wolfgang Gurlitt, Vorraum zum „kleinen“ Schlafzimmer, um 1920/21, Aufnahme um 1920, Glasnegativ, 24 x 30 cm (Foto Marburg, Aufn.-Nr. 83.426). 239

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Abb. 15: Wohnhaus Wolfgang Gurlitt, Vorraum zum „kleinen“ Schlafzimmer, um 1920/21, Aufnahme um 1920, Glasnegativ, 24 x 30 cm (Bildarchiv Foto Marburg, Aufn.-Nr. 83.427). Eine Ansicht aus entgegengesetzter Perspektive gibt den Blick auf einen in eine Art Schrank eingebauten marmornen Waschtisch frei (Abb. 15). Rechts davon befindet sich ein in die Wand eingelassener Schrank, daran anschließend der Durchgang zu einem weiteren Zimmer. In diesem, auf dem Foto dunklen Durchgang befindet sich noch ein in die Wand eingelassenes Regal mit kleinen Figürchen und nicht weiter erkennbaren Objekten. Bemerkenswert ist, dass dieses Regal aus sich heraus hell erstrahlt, also elektrisch beleuchtet ist. Rechts davon hängen weitere Bilder. Auffallend ist zudem die große von der Decke herabhängende – ebenfalls elektrische – Lampe, welche die Zickzack-Formen der Möbel aufgreift. Die Aufnahmen dieses eleganten, sicherlich als Waschraum und Ankleide genutzten Zimmers sind gänzlich unpubliziert. Die Marburger Glasplatten sind die letzten visuellen Zeugnisse dieses von Würzbach gestalteten Raumensembles. Wiederholt abgebildet und enthusiastisch umschrieben findet sich hingegen das mit Spiegeln und – bemerkenswerterweise gleichfalls künstlich beleuchteten – Wandpanelen von César Klein ausgestattete „Teezimmer“74 oder „Spiegelkabinett“75 (Abb. 16 und 17).76 Die „geduckt-zierlichen 240

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Möbel in rotem Lackschliff “,77 es sind die gleichen wie im Vorraum des „kleinen Schlafzimmers“, stammen erneut von Würzbach, der sicherlich auch die abgehängte Decke mit dem Zackenfries und dem mittig platzierten, ebenfalls durch ein Zackenornament eingefassten Oberlicht gestaltete.

Abb. 16: Wohnhaus Wolfgang Gurlitt, Spiegelkabinett/Teezimmer, um 1920/21, Aufnahme um 1920, Glasnegativ, 30 x 24 cm (Bildarchiv Foto Marburg, Aufn.-Nr. 83.422). 241

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Abb. 17: Wohnhaus Wolfgang Gurlitt, Spiegelkabinett/Teezimmer mit Glasfenstern von César Klein, um 1920/21, Aufnahme um 1920, Glasnegativ, 30 x 24 cm (Bildarchiv Foto Marburg, Aufn.-Nr. 83.424). Westheim schreibt zu diesem Zimmer eindrücklich: Auch das Spiegelkabinett ist durch solche Zusammenarbeit des Malers und des Architekten zur phantastischen Szenerie geworden. Mit Glas: Spiegel- und Buntglas ist da ein launiges Spiel getrieben worden, nicht scheerbartisch kosmisch, sondern ein übermütiges, harmlos frohes Kaleidoskopspiel, wie es auch der Barock und zuletzt das Empire liebte. […] wenn in dem dunkeln Raum diese elektrisch durchleuchteten Glasfenster zu strahlen anfangen, wenn sie sich spiegeln und wiederspiegeln, wenn dieses Farbenleuchten in mannigfachsten Brechungen und scheinbar endlosen Wiederholungen aufflammt, dann ist es, als ob auch hier ein Stück Traum- und Märchenspiel Wirklichkeit angenommen hätte.78

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Und auch Max Osborn verleiht seiner Begeisterung Ausdruck: Der ganze erregende Raum scheint zu flimmern, zu tänzeln, zu kokettieren. Oben an der Decke eine Art luftiger Balkenmalerei, den Blick auf einen Goldausschnitt mit verstecktem Licht freilassend, dessen milder Glanz dem exzentrischen Gewoge gravitätische Ruhe gebietet. Rokokostimmung, in moderne Nervosität übertragen.79

Die schillernde Farbigkeit lässt sich heute nur fragmentarisch rekonstruieren. Zumindest in Ansätzen nachvollziehbar wird sie anhand der Glaspaneelen selbst, die sich glücklicherweise erhalten haben und sich heute im Berliner Kunstgewerbemuseum befinden (Abb. 18).80

Abb. 18: César Klein: Glaspanelen aus dem Spiegelkabinett/Teezimmer des Wohnhauses Wolfgang Gurlitt, 1919, ausgeführt von den Vereinigten Werkstätten für Mosaiken und Glasmalerei Puhl & Wagner, Gottfried Heinersdorff, Berlin, 1919 (Kunstgewerbemuseum, Berlin, Staatliche Museen zu Berlin). Abbildung aus: Catharina Berents, Art Deco in Deutschland: das moderne Ornament, Frankfurt am Main 1998, S. 160. 243

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Abb. 19: Wohnhaus Wolfgang Gurlitt, Schlafzimmer, um 1920/21, Aufnahme um 1920, Glasnegativ, 30 x 24 cm (Bildarchiv Foto Marburg, Aufn.-Nr. 83.432). Der Forschung bisher ebenfalls unbekannt war ein weiteres Schlafzimmer mit einem großen Bett mit Baldachin (Abb. 19).81 Den Übergang von der Decke zur markanten Tapete mit geometrischem Muster bildet auch hier ein Zackenfries, diesmal aus Textil. Gespiegelt wird dieser von dem Baldachin, der oben gleichfalls mit einem – sogar mehrlagigen – Zackenfries abschließt. Das Bett sowie das sich daneben befindende Tischchen stehen auf großen Füßen, die aus geometrischen Elementen – aus Scheiben, flachen Vierkantpyramiden und großen Kugeln – aufgebaut sind. Über einem erneut mit reichlich Flacons und Glasfläschchen bestückten Regal 244

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hängt Max Pechsteins Gemälde Drohendes Wetter von 1919, das sich heute in der Sammlung des Städtischen Museums Mönchengladbach befindet. Hinter dem Bett ist ein ovales Sofa zu sehen, zu dem sich passende Polsterstühle und Hocker in einem weiteren Zimmer finden, welches möglicherweise als Ankleide in direkter Verbindung zu diesem Schlafzimmer stand (Abb. 20).82 Hier kamen die gleiche Tapete, der gleiche textile Zackenfries zur Decke hin sowie schwere, an den Baldachin erinnernde Vorhänge zum Einsatz. Auch die große, markante Lampe, die sich im Vorzimmer zum „kleinen Schlafzimmer“ befand, wiederholt sich hier. Es ist anzunehmen, dass sich das farbliche Konzept von Rot und Blau auch auf diese Räume erstreckte.

Abb. 20: Wohnhaus Wolfgang Gurlitt, Ankleidezimmer, um 1920/21, Aufnahme um 1920, Glasnegativ, 30 x 24 cm (Bildarchiv Foto Marburg, Aufn.-Nr. 83.434). 245

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Abb. 21: Wohnhaus Wolfgang Gurlitt, Ankleidezimmer, um 1920/21, Aufnahme um 1920, Glasnegativ, 30 x 24 cm (Bildarchiv Foto Marburg, Aufn.-Nr. 83.435). Interessanterweise taucht eine Detailansicht des Raumes auch noch in einem weiteren Marburger Bestand auf (Abb. 21): im Archiv des Lichtbildverlages Dr. Franz Stoedtner.83 Der Kunsthistoriker Franz Stoedtner gründete 1895 in Berlin das Institut für wissenschaftliche Projection und damit einen der ersten kommerziellen Lichtbildvertriebe. Für diesen fertigte er einerseits eigene Aufnahmen, bediente sich jedoch andererseits an publizierten Aufnahmen, die 246

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er für seinen Verlag reproduzierte. Im Verkaufskatalog „Moderne Möbel“ finden sich einige der Gurlitt’schen Aufnahmen abgebildet (Abb. 22).84 Die Stoedtner-Aufnahme 136292, die identisch mit der Detailansicht aus dem Bestand der Kunsthandlung Fritz Gurlitt ist, wird im Katalog mit „W. Würzbach, Ankleidezimmer der Baronin v. B.“ bezeichnet. Wie Franz Stoedtner zu der Annahme kam, dass das Zimmer von einer „Baronin v. B.“ bewohnt wurde, und wer diese war, konnte bisher nicht rekonstruiert werden, auch nicht, von welcher Vorlage er die Aufnahme reproduzierte. Über den Glasplatten-Bestand der Kunsthandlung Fritz Gurlitt kann jedoch die Zugehörigkeit dieses Raumes zur Gurlitt’schen Wohnung eindeutig nachgewiesen werden.

Abb. 22: Verkaufskatalog „Moderne Möbel“ des Lichtbildverlages Dr. Franz Stoedtner (Bildarchiv Foto Marburg). 247

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Vor dem breiten Spiegelschrank, der das Hauptelement der Ankleide bildet, steht ein elektrischer Ventilator. Und auch in dem Schlafzimmer mit Baldachin-Bett befindet sich ein interessantes technisches Detail: Vor dem Bett liegt auf dem Boden ein großes Kissen, auf dem eine Katze zu schlafen scheint.85 Unter dem Kissen spitzt eine Platte hervor, von der gedrehte Kabel wegführen – selbst das Kissen für die Haustiere war elektrisch beheizt. Die überaus moderne elektrische Ausstattung der Gurlitt’schen Wohnräume, die sich auch in den wohl erstmalig überhaupt elektrisch hinterleuchteten Glasarbeiten zeigte, ist im Berlin der 1920er Jahre alles andere als selbstverständlich. Nicht überall traf Wolfgang Gurlitts exzentrisches Wohnungsprojekt auf Zustimmung: Nicht nur schmeichelhaft wurde es auch als „Neuschwanstein des Expressionismus“86 bezeichnet. Paul Westheim kommt in seiner begeisterten Besprechung der Wohnung Wolfgang Gurlitts zum Fazit: „Bürger wohnen nicht so, zugegeben; aber Bürger wollen ja auch nicht künstlerischen Wegsuchern: Würzbach, Klein, Belling […], Experimentiergelegenheiten bieten.“87 Die vollumfänglich künstlerisch durchgestaltete oder ‚durchgestylte‘ Wohnung mit ihrer überaus modernen technischen Ausstattung ist Ausdruck einer Extravaganz, die ihresgleichen sucht.88 Ein Grund für diese außergewöhnlich prunkvolle Gestaltung mag in der von Wolfgang Gurlitt sicherlich angestrebten und kalkulierten ‚Erweiterung‘ des Galerieraumes gelegen haben. Dafür sprechen auch die zahlreichen Besprechungen der Wohnung in den zeitgenössischen Zeitschriften, für die Gurlitt das notwendige Bildmaterial zur Verfügung stellte. Besonders interessant ist jedoch der Beitrag von Max Osborn in der Zeitschrift Die Dame. Illustrierte ModeZeitschrift, welche ab 1912 im Ullstein Verlag erschien, der 1937 von den Nationalsozialisten enteignet und arisiert wurde.89 Als Äquivalent zu den im Ausland erscheinenden Luxuszeitschriften wie der Vogue in Frankreich und den USA richtete sich Die Dame explizit an eine Leserschaft der gehobenen Gesellschaft. Neben Mode- und Reiseberichten, Porträts von Schauspielerinnen, Sängerinnen und Tänzerinnen erschienen seit Anbeginn der Zeitschrift mit Fotografien illustrierte Beiträge zu Wohnungen und Häusern nicht nur Berliner Persönlichkeiten und Berühmtheiten. Die in der Dame publizierten Interieurs gehörten u. a. der Bühnenkünstlerin Tilly Waldegg,90 der Filmschauspielerin Henny Porten,91 dem Künstler Max Pechstein,92 dem Illustrator und Bühnenausstatter Prof. Hans Meid,93 dem Archäologen und Museumsdirektor Dr. Theodor Wiegand,94 aber auch Verlegern, Textilfabrikanten und Großkaufmännern sowie „Kolonialpolitikern“95. Ganz offensichtlich wollte sich Wolfgang Gurlitt in diese Reihe der Berliner Prominenz, die zugleich als potenzielle Galerieklientel betrachtet werden muss, eingeschrieben sehen. Es ist ein weiteres Heft der Dame, welches das Bild des extravaganten Kunsthändlers und Förderers, das durch die Besprechungen der künstlerischen Neugestaltungen von Galerie und Wohnung gezeichnet wird, komplettiert: Eine Fotografie des bekannten Berliner Gesellschaftsfotografen Karl Schenker zeigt im Heft 9, erschienen Mitte Februar  – also 248

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anlässlich des Faschings  – 1922, den Galeristen als „Maharadscha“ im Maskenkostüm (Abb. 23).96 Schenkers Bildnis lässt Wolfgang Gurlitt eher als Dandy und Lebemann erscheinen, denn als konservativen Kunstkenner und Geschäftsmann, wie er von Künstlern wie Edvard Munch oder Lovis Corinth dargestellt wurde.97 Ein weiteres Foto, das sich heute in Berliner Privatbesitz befindet, zeigt Wolfgang Gurlitt mit seiner damaligen Ehefrau Julia (geb. Goob) 98  – beide in ihren orientalischen Kostümen. Es ist anzunehmen, dass ein solches Foto von Karl Schenker Oskar Kokoschka als Vorlage diente, als dieser den Kunsthändler als „Zauberprinz“, der „nie werde […] sterben müssen“, porträtierte (Abb. 24) – oder aber Kokoschka nahm selbst an den Faschingsfestivitäten teil.99

Abb. 23: „Wolfgang Gurlitt in einem Maskenkostüm als Maharadscha (Foto: Karl Schenker)“, aus: Die Dame, 49. Jg, Heft 9, Mitte Februar 1922, S. 2. 249

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Abb. 24: Oskar Kokoschka, „Wolfgang Gurlitt als Zauberprinz“, 1922, Lithografie, 70 x 55,5 cm (Museum im Kulturspeicher Würzburg): „Wolfgang | Ich war als Kind | ein Zauberprinz | nie werde ich sterben | können | Oskar“. Kat. „Wolfgang Gurlitt Zauberprinz. Kunsthändler – Sammler“ (2019), S. 81. Die Jahre 1917 bis 1919 sind auch jene, in denen die fotografische Dokumentation der Kunstwerke einen letzten Höhepunkt erreichte.100 Alsbald ließ diese Praxis deutlich nach, 250

Wolfgang Gurlitts expressionistische Wohnräume

um Ende der 1920er Jahre gänzlich abzureißen, möglicherweise aus finanziellen Gründen. Auch die Hofkunsthandlung Fritz Gurlitt bekam in den 1920er Jahren zunehmend die Inflation zu spüren und geriet in den Folgejahren wiederholt in finanzielle Nöte.101 1922 gingen Wolfgang Gurlitt und Max Pechstein im Streit auseinander. Finanzielle Uneinigkeiten mussten gerichtlich geklärt werden.102 Kredite wurden nicht zurückbezahlt, Steuerschulden liefen auf, Firmen wurden geschlossen und in ähnlicher Form wieder neu gegründet.103 Ruth Dalinghaus schreibt in ihrer Dissertation über César Klein, dass Wolfgang Gurlitt das Haus in der Potsdamerstraße 1927 verkauft habe.104 Aus diesem Jahr ist ein Schreiben an die Firma Puhl und Wagner erhalten, in dem Gurlitt darum bittet, die Glasfenster des Badezimmers von Max Pechstein und die Glaspaneelen von César Klein aus dem Teesalon bis auf weiteres unterstellen zu dürfen.105 Anderen Korrespondenzen lässt sich jedoch entnehmen, dass Gurlitt zumindest bis einschließlich 1930 die Adresse in der Potsdamerstraße nutzte. In einem Schreiben der Industrie- und Handelskammer zu Berlin vom 20. Oktober 1930, das auf eine Anfrage eines Justizrates zur Zahlungsfähigkeit von Wolfgang Gurlitt verfasst wurde, heißt es: Wolfgang Gurlitt, der Inhaber der eingetragenen Firma ‚Fritz Gurlitt‘ betreibt seine Firma von seinem eigenen Hause aus, in dessen Parterreräumen sich die Geschäftsräume der Firma befinden. […] Gurlitt befindet sich in Zahlungsschwierigkeiten […]. Das Haus des Gurlitt ist bereits unter Zwangsverwaltung gestellt worden.106

1931 wird im Handelsregister der Kunsthandlung Fritz Gurlitt der Geschäftssitz in der Matthaikirchstraße 27 vermerkt.107 Ab 1936 findet sich die Angabe „Matthaikirchstraße 7“ als Adresse der Kunsthandlung Fritz Gurlitt, ab 1938 die Kurfürstenstraße 78. Die Galerie ist offensichtlich in den 1930er Jahren mehrfach umgezogen. Dass sich die Angaben scheinbar widersprüchlich lesen, mag darauf zurückzuführen sein, dass es sich um zwei Häuser  – Villa I und II  – und um (mindestens) zwei Wohneinheiten gehandelt hat. In den Akten wird diese Unterscheidung meist nicht vollzogen. Dass Wolfgang Gurlitt 1927 die Glasfenster von Pechstein und Klein in der Werkstatt von Puhl und Wagner unterstellte, rettete zumindest letztere vor der Zerstörung. Das Schicksal der expressionistischen Raumkunst wurde spätestens mit den Bombenangriffen auf Berlin 1943–1945 besiegelt.108

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Abb. 1: Lucie Lipman-Wulf, Porträtkopf Manfred Gurlitt, Aufnahme vor 1919, Glasnegativ, 24 x 18 cm (Bildarchiv Foto Marburg, Aufn.-Nr. 146.181).

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Lucie Lipman-Wulfs Büste von Manfred Gurlitt. Zu einem Fund aus dem FotoBestand Wolfgang Gurlitt Sonja Feßel 1937 schenkte Wolfgang Gurlitt dem Bildarchiv Foto Marburg (heute: Deutsches Doku­ mentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg) nahezu 1500 Glasnegative in drei unterschiedlichen Formaten. 14 Aufnahmen zeigen die expressionistische Wohnung, die sich der Kunsthändler unter der Leitung des Innenarchitekten Walter Würzbach von Max Pechstein, César Klein und Rudolf Belling im Sinne eines expressionistischen Gesamtkunstwerks ausstatten ließ (vgl. dazu S. 218–251). Das Gros der Fotografien zeigt jedoch Kunstwerke – ältere wie auch zeitgenössische –, die von Wolfgang Gurlitt in Ausstellungen präsentiert, teilweise auch verkauft wurden oder für deren Erschaffer er sich besonders interessierte. Einige Aufnahmen entstanden direkt in den Ausstellungs- und Galerieräumlichkeiten, andere noch in den Ateliers der Künstler. Etwa 725 Motive  – Gemälde, Skulpturen, Mosaiken, Glasfenster, Zeichnungen, Tapetenentwürfe usw. – wurden in den Jahren 1939 bis 1941 am Bildarchiv Foto Marburg erschlossen und in die analogen Findbücher, die sogenannten Bildbände aufgenommen  – darunter große Konvolute zu Max Pechstein, Lovis Corinth und Edvard Munch. Die restlichen etwa 775  Fotografien, die aufgrund mangelnder Informationen zu den abgebildeten Werken und ihren Künstlerinnen und Künstlern nicht unmittelbar katalogisiert werden konnten, schlummerten bis 2015 im klimatisierten Depot, wo sie im Rahmen der Recherchen zum Bestand der Kunsthandlung Fritz Gurlitt im Vorfeld der Tagung zur Familie Gurlitt am Deutschen Literaturarchiv Marbach wiederentdeckt wurden. Unter den nicht erschlossenen Platten fanden sich viele Aufnahmen von Skulpturen, deren Signaturen – im Gegensatz zu jenen an Gemälden – in der Regel auf Fotos nicht lesbar sind. Die Negative zeigen zudem Werke von jungen Berliner Künstlerinnen und Künstlern der 1910er und 1920er Jahre, welche den Marburger Erfassern nicht bekannt waren, aber auch Objekte aus Westafrika und Ozeanien. In der Zwischenzeit konnten sämtliche Aufnahmen beziehungsweise abgebildeten Werke en détail erschlossen und über die Datenbank Bildindex der Kunst und Architektur (www.bildindex.de) online zugänglich gemacht werden. Aus den Aufnahmen lassen sich zahlreiche neue Erkenntnisse gewinnen – zur Signierpraxis einzelner Künstler, zu zeitgenössischen Zuständen, Überarbeitungen und späteren 253

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Werksvollendungen, zu Provenienzen, für die Œuvres von Künstlerinnen und Künstlern, aber auch zur Galeristentätigkeit und zum Netzwerk von Wolfgang Gurlitt. Die Kunstreproduktionen führten zu vielen Neuentdeckungen, von denen hier eine exemplarisch vorgestellt werden soll. Die Büste des Komponisten Manfred Gurlitt, Wolfgangs Halbbruder, wurde vor 1919 von der Berliner Künstlerin Lucie Lipman-Wulf geschaffen, die in den 1910er und 1920er Jahren vielfach ausstellte, über die heute jedoch nur noch wenig bekannt ist, auch weil ihr Leben 1941 auf furchtbare Weise endete. Lucie Lipman-Wulf wurde am 29. April 1878 als Tochter von Elise und David Sinzheimer geboren. Im August 1900 heiratete sie den Juristen Friedrich Wilhelm [genannt Fritz] Lipman-Wulf, mit dem sie zwei Kinder – Hans [Siegmund] und den späteren Bildhauer [Heinz] Peter – hatte. Im mosaischen Glauben aufgewachsen, ließen sich die Eheleute bereits 1901 evangelisch taufen. Peter Lipman-Wulf beschrieb seinen Vater rückblickend als „assimiliert“ („Mein Leben ist wie ein Drei-Schichten-Kuchen“, 1984, S. 205–251). Ihre künstlerische Ausbildung erhielt Lucie Lipman-Wulf zunächst bei Conrad [Heinrich Franz] Fehr und Max Liebermann – einem weiteren vielfach von Wolfgang Gurlitt ausgestellten Künstler –, dann bei Arthur Lewin-Funcke. Sie selbst versorgte die Redaktion mit Angaben für ihren Eintrag in das Allgemeine Lexikon der bildenden Künstler, von der Antike bis zur Gegenwart (Thieme und Becker 1929). Bekannt wurde sie vor allem für ihre Porträts, unter anderem des Schauspielers Jacob Texière (Aufn.-Nr. 146.166–146.168), des Verlegers Hermann Ullstein oder der Tänzerin Tatjana Barbakoff, für eine Maske des Tänzers Joachim von Seewitz und insbesondere für ihre Kinderbildnisse (u. a. Aufn.-Nr. 146.123, 146.128). Karl Fischer schwärmt 1928 in Ullsteins Blatt der Hausfrau (Jg. 43, H. 20, S. 5): „Es gibt von ihr köstliche Wachsbüsten, die allen Zauber der Kinderzeit besitzen, die holde Anmut der weichen Züge und den berückenden Ernst ganz junger Menschen.“ Ein Wachsmodell für ein kleinformatiges Bildnis des jungen Prinzen Friedrich von Preußen diente 1915 der Volkstedter Porzellanmanufaktur zum Guss. Die Büsten wurden über die Kunsthandlung Fritz Gurlitt vertrieben und der Erlös an die „Cecilienhilfe“, eine Wohltätigkeitsorganisation der preußischen Kronprinzessin und Mutter des Porträtierten, abgeführt. 1914 stellte Lucie Lipman-Wulf zusammen mit Karl Schmidt-Rottluff, Alexander Kanoldt und Friedrich August Weinzheimer im Gurlitt’schen Salon aus. Wolfgang Gurlitt verlegte auch das Mappenwerk Aus der Marsch (vor 1923) mit acht Lithografien nach Radierungen sowie weitere druckgrafische Arbeiten der Künstlerin. Zwischen 1915 und 1932 war sie mindestens siebenmal mit Werken bei der Großen Berliner Kunstausstellung vertreten. Und auch in der Juryfreien Kunstschau und den Frühjahrsausstellungen der Akademie der Künste zu Berlin wurden ihre Werke gezeigt. Der Kunstkritiker Max Osborn, der 1919 in der Zeitschrift Deutsche Kunst und Dekoration Lucie Lipman-Wulf einen Text widmete, bescheinigt ihr „Arbeiten von ausgezeichneter Haltung“ (Jg. XXII, H. 9, S. 134–138). In Bezug auf die Büste des „Kapellmeisters Manfred

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Lucie Lipman-Wulfs Büste von Manfred Gurlitt

Gurlitt“ bemerkt er, es sei „interessant, wie hier aus Jugend und Energie ein moderner Typus gemischt“ sei. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten geriet die Familie zunehmend in existenzielle Not. Die Söhne emigrierten bereits 1933 zunächst nach Frankreich; Peter ging von dort 1942 in die Schweiz und 1947 nach New York. 1938 verlor Fritz Lipman-Wulf seine Arbeitserlaubnis. Obgleich das Ehepaar wiederholt die Söhne im Ausland besuchte und diese auf eine Emigration ihrer Eltern drängten, versäumten sie die rechtzeitige Ausreise. Im Oktober 1941 erhielten sie den Hinweis auf eine bevorstehende Deportation. In der Nacht vom 25. auf den 26. Oktober 1941 nahmen sich Lucie und Friedrich Lipman-Wulf das Leben. Mit ihrem Tod verschwand Lucie Lipman-Wulf auch aus dem Blick der Kunstgeschichte. Ihre plastischen Werke wurden wohl weitestgehend im Zweiten Weltkrieg zerstört. Im Glasplattenbestand der Kunsthandlung Fritz Gurlitt hat sich jedoch mit etwa 30 Aufnahmen das größte Konvolut an Zeugnissen zu den Werken der Bildhauerin erhalten. Die Forschung zu Lucie Lipman-Wulf hat gerade erst begonnen.

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Manfred Gurlitt. Rundfunk-Rundschau Jg. 3, Nr. 9, 26. Februar 1928, S. 163 MANFRED GURLITT, geb. 1890 in Berlin, als Kind des Ehepaars Fritz und Annarella Gurlitt, erhielt schon als Kind Klavierunterricht und beschloss als Neunjähriger nach einem Besuch von Mozarts Zauberflöte, Operndirigent und Komponist zu werden. Studium an der Berliner Musikhochschule. 1908–10 Korrepetitor an der Berliner Lindenoper, 1911 2. Kapellmeister und Chordirigent in Essen, 1912 in Augsburg, 1914 1. Kapellmeister in Bremen, 1924 hier Generalmusikdirektor. Gleichzeitig Erfolge als Opernkomponist: 1919 Die Heilige, 1926 Wozzeck, 1930 Die Soldaten. 1927–33 freiberuflicher Dirigent und Kammermusiker in Berlin. Nach 1933 trotz Beitritt zur NSDAP zunehmende berufliche Schwierigkeiten, weil er wegen seiner Großmutter Elisabeth Lewald als „Vierteljude“ galt. 1939 Emigration nach Japan. Engagements als Dirigent, u. a. eines privaten Opernensembles, und Lehrer an der Musikakademie Tokyo. Nach 1945 vergebliche Suche nach einer beruflichen Position im Westen. 1952 Gründung eines eigenen Opernunternehmens in Tokyo. 1955 erster, 1958 zweiter Besuch in der Bundesrepublik; Uraufführung seiner Oper Nana in Dortmund. Trotz hoher Auszeichnungen keine weiteren Einladungen in die alte Heimat, auch kaum weitere Aufführungen seiner Werke. Gurlitt war viermal verheiratet, zuletzt mit der japanischen Sängerin Hisako Hidoka, und hatte je einen Sohn aus erster und vierter Ehe, Gerd (1916–73), und Amadeus, geb. 1953. Er starb 1972 in Tokyo. 256

Manfred Gurlitt. Ein Künstler zwischen den Stühlen Hans-Joachim Bieber Heute nur noch relativ wenig bekannt ist der Komponist und Dirigent Manfred Ludwig Hugo Andreas Gurlitt, der am 6. September 1890 in Berlin zur Welt kam. Seine Geburtsurkunde nennt als seinen Vater den „Hofkunsthändler“ Friedrich Ludwig (Fritz) Gurlitt, als seine Mutter dessen Frau Maria Anna, genannt Annarella (1856–1935), eine Tochter des Schweizer Bildhauers Max Imhof.1 Manfred Gurlitt hatte drei ältere Geschwister: Angelina, geb. 1882, Margarete, geb. 1885, und Wolfgang, geb. 1888. Fritz Gurlitt, Jg. 1853, starb bereits 1893, als Manfred gerade drei Jahre alt war. Die Mutter heiratete wenig später Fritz Gurlitts jungen Sozius Willy Waldecker. Mit ihm führte sie die Kunsthandlung unter dem alten Namen weiter, bis Manfreds Bruder Wolfgang sie 1912 übernahm.2 Ihr Verhältnis zu den Brüdern ihres ersten Mannes war denkbar schlecht. Schon zu dessen Lebzeiten galt sie als „Spatzengehirn, […] eine Ibsen’sche Nora“3, mit der „merkwürdige[n] Begabung, sich und Fritz zu vereinzeln“, statt sich in den Schoß der Familie zu fügen.4 Erst recht wurde ihr verübelt, dass sie während der langen Krankheit Fritz Gurlitts ein Verhältnis mit Willy Waldecker begann und sich heimlich sogar mit ihm verlobte. Als Cornelius Gurlitt (1850–1938), Kunsthistoriker an der TU Dresden, Fritz’ drittältester Bruder, sie einen Tag vor dessen Beerdigung hierauf ansprach und sie stillschweigend alles zugab, nannte er sie eine „Hure“ und warf sie aus dem Haus. Auf sein Betreiben wurde Fritz’ zweitjüngster Bruder, der Reformpädagoge Ludwig Gurlitt (1855–1931), zum Vormund ihrer Kinder berufen, um ihr Erbe zu sichern.5 Ob er sich auch in ihre Erziehung einmischte, ist fraglich6, zumal Fritz’ Brüder den Kontakt mit Annarella seither auf ein Minimum beschränkten.7 Willy Waldecker aber versprach schon beim Begräbnis von Fritz Gurlitt, dessen Kindern „ein guter Vater“ zu sein.8 Tatsächlich entwickelte er namentlich zu Manfred Gurlitt ein so enges Verhältnis, dass dieser ihn bald als neuen Vater empfand. Belege sprechen dafür, dass er wahrscheinlich auch Manfreds leiblicher Vater war,9 was der Sohn erst spät erfuhr. Über den Einfluss seines Vaters und seines Stiefvaters auf die Entwicklung Manfred Gurlitts haben sich anscheinend kaum Quellen erhalten, auch nicht über dessen Verhältnis zu seinen Geschwistern und anderen Angehörigen der ausgedehnten Gurlitt-Familie.10 In Manfred Gurlitts Nachlass in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg finden sich lediglich Aufzeichnungen aus den 1950er Jahren über den Einfluss der Mutter auf seinen musikalischen 257

Hans-Joachim Bieber

Werdegang. Maria Anna Karoline Imhof wurde 1858 in Rom geboren und wuchs dort auf. Zu ihren frühesten Erinnerungen zählten Besuche Franz Liszts, der das kleine Mädchen „klavierspielend auf seinem Schoß sitzen ließ“, bei ihren Eltern.11 In einem undatierten Lebenslauf schrieb Manfred Gurlitt, dass mit sechs Jahren sein Klavierunterricht begann – „(Neigung, nicht Zwang)“  – und dass er täglich mit seiner Mutter, die eine vorzügliche Pianistin gewesen sei, vierhändig spielte. „Mit 9 Jahren“, heißt es weiter, „fiel die Entscheidung meines Lebens“. Im Winter 1899 habe seine Mutter ihn zum ersten Mal in die Berliner Hofoper Unter den Linden mitgenommen, in eine Aufführung von Mozarts Zauberflöte unter Leitung Karl Mucks. Sie habe auf ihn einen so „überwältigenden“ Eindruck gemacht, dass er am nächsten Morgen nach fast schlafloser Nacht seiner Mutter erklärt habe, er würde „Operndirigent und Opernkomponist werden“. „Ich kann stolz bekennen“, kommentierte Gurlitt seinen Bericht, „dass ich niemals von diesem Ziel gewichen bin. Ich nahm mein Klavierspielen doppelt ernst, begann mit TheorieUnterricht, die ersten Kompositionen entstanden  – daneben begann ich […] die gesamte Opernliteratur zu studieren.“ „Als ich als 18jähriger das Gymnasium absolviert hatte“, heißt es weiter in jenem Lebenslauf, „hatte ich gleichzeitig mein gesamtes Musikstudium beendet, im letzten Jahr als Meisterschüler Humperdingks[!]“. 12 Tatsächlich ging Gurlitt nach dem Besuch des Kgl. Wilhem-Gymnasiums zu Berlin – Abitur scheint er nicht gemacht zu haben – nicht an eine Musikhochschule, sondern „nach ausgiebiger Prüfung“ gleich in die Praxis,13 und zwar an die Lindenoper in Berlin, an der ihn als Kind die Aufführung der Zauberflöte so beeindruckt hatte. 1908–10 arbeitete er hier als Korrepetitor u. a. mit Richard Strauss, Karl Muck und Leo Blech zusammen. 1911 assistierte er Muck auch bei den Bayreuther Festspielen. Im Herbst desselben Jahres wurde er 2. Kapellmeister und Chordirektor in Essen, 1912 wechselte er in gleicher Funktion nach Augsburg; 1914, gerade 24-jährig, wurde er leitender Dirigent in Bremen. Im selben Jahr heiratete er die Sopranistin Maria Therese Kilby. 1916 kam ihr Sohn Gerd zur Welt. 1924 wurde die Ehe geschieden, und Gurlitt heiratete die Sopranistin Maria Hartow.14 Im selben Jahr wurde Gurlitt in Bremen zum Generalmusikdirektor ernannt, dem damals jüngsten in Deutschland.15 Als solcher setzte er sich nachdrücklich für zeitgenössische Komponisten ein und brachte gegen manche Widerstände Opern von d’Albert, Busoni, Janáček und Schreker auf die Bremer Bühne, auch von dem populäreren Richard Strauss. In einer Konzertreihe der von ihm gegründeten Neuen Musikgesellschaft Bremen führte er „selten oder nie gehörte klassische Musik und die extreme Moderne“ auf, zu welcher er Bártok und Bloch, Hindemith, Schönberg und Strawinsky gezählt haben dürfte.16 Gurlitt machte sich auch als Komponist einen Namen – mit Liedern und Kammermusikwerken, vor allem aber mit Opern: Die Heilige, nach einem Text Carl Hauptmanns, eines Bruders von Gerhart Hauptmann (UA Bremen 1919), und Wozzeck, nach Georg Büchner (UA Bremen 1926). Seit 1925 wurden seine Werke von der Universal Edition Wien verlegt. Darüber hinaus war Gurlitt 258

Manfred Gurlitt

als Pianist gefragt, vor allem als Liedbegleiter und Kammermusiker. Zu seinen Partnern zählten berühmte Solisten wie der Geiger Georg Kulenkampff und der Cellist Emanuel Feuermann sowie namhafte Ensembles wie das Hindemith-Quartett und das Wiener Rosé-Quartett.17 Gurlitts Opern, alle mit sozialkritischem Inhalt, wurden positiv aufgenommen. Der Uraufführung des Wozzeck z. B. war einer Kritik zufolge „großer begeisterter Erfolg“ beschieden.18 Sie fand vier Monate nach der Uraufführung von Alban Bergs Vertonung desselben Stoffes statt, von der Gurlitt nichts wusste, als er an dieser Oper arbeitete.19 Beide Komponisten hatten ihr Libretto auf der Grundlage von Büchners Dramenfragment selbst geschrieben. Berg gliederte den Stoff in drei Akte mit jeweils 5 Szenen, Gurlitt in 18 Szenen ohne Akteinteilung und fügte ihnen einen Orchesterepilog hinzu. Die Rollenverteilung ist in beiden Fassungen die gleiche, im Handlungsverlauf gibt es Unterschiede. Denn Berg ging es vor allem darum, ein Psychogramm Wozzecks zu zeichnen und die sozialen Bedingungen seines Verhaltens darzustellen, während es Gurlitt mehr um das Leiden einer geschundenen Kreatur ging, das Allgemein-Menschliche ihres Schicksals, weniger um die Ursachen ihres Verhaltens. In seiner Version fehlt daher die Szene, die Wozzeck als gequältes Opfer medizinischer Versuche des Doktors zeigt und bei Berg eine Schlüsselszene ist. Dafür spielt bei Gurlitt die märchenartige Erzählung der alten Frau, die die Kernaussage der Oper – Wozzecks Leid als Leid der Menschheit – in komprimierter Form noch einmal zum Ausdruck bringt, eine zentrale Rolle, während sie bei Berg fehlt. Gurlitts Version ist sprachlich knapper, der Text der einzelnen Szenen lakonischer. Die größten Unterschiede zwischen beiden Fassungen sind musikalischer Art. In der Tradition der durchkomponierten sinfonisch-dramatischen Opern Richard Wagners arbeitet Berg die einzelnen Szenen zu „durchkomponierten, in der Form vollendeten symphonischen Sätzen“20 aus und verbindet sie durch Orchesterzwischenspiele. Auch benutzt er Leitmotive, die sich durch die ganze Partitur ziehen und so „Ordnung aus Büchners Chaos“21 schaffen. Auf diese Weise versucht Berg, den Text in eine „abgerundete und von raffinierten Symmetrien geklärte Façon“ zu bringen.22 Gurlitt entfernt sich denkbar weit vom Vorbild Wagners und hält sich an den fragmentarischen Charakter der Vorlage, indem er die einzelnen Szenen, die bisweilen abrupt abbrechen, schroff nebeneinander stellt, jeweils in einer mehr oder weniger streng gehaltenen klassischen Form wie Chaconne oder Fuge, Marsch oder Wiegenlied, aber ohne kommentierende und verbindende instrumentale Zwischenspiele. Auch auf Leitmotive und andere wiederkehrende Themen verzichtet er. Während Berg dem Orchester eigenständige musikalische Bedeutung zuweist, dient es bei Gurlitt vornehmlich zur Verstärkung der Textaussage. Und während Berg einen Orchesterapparat „von postwagnerischem Ausmaß“23 einsetzt und die einzelnen Szenen farbenreich instrumentiert, begnügt Gurlitt sich meist mit kammermusikalischen, oft solistischen Besetzungen, die von Szene zu Szene wechseln und hierdurch deren Einzelcharakter unterstreichen, und verzichtet auf musikalischen Farbenreichtum. Beim Marsch des Tambourmajors z. B., der in der dritten Szene beider Versionen vorkommt, 259

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setzt Berg eine vollbesetzte Militärkapelle mit insgesamt neunzehn Bläsern und Schlagzeugern als Bühnenmusik ein, Gurlitt nur je eine Piccoloflöte, Trompete, Posaune und Militärtrommel. Seine Musik ist asketisch, bisweilen fahl. Ihre Kargheit ermöglicht die Dominanz der Sänger und eine gute Wortverständlichkeit, während die Klangfülle des Berg’schen Orchestersatzes die Sänger bisweilen in den Hintergrund drängt. Berg verlangt von ihnen oft hochexpressives Pathos; Gurlitt hingegen leitet die Singstimmen melodisch wie rhythmisch vom Sprachduktus her und behandelt sie nüchterner, gleichsam „neusachlich“.24 Arien und Duette im herkömmlichen Sinne gibt es in seiner Oper nicht. Eine Besonderheit sind anonyme Chor- und Solostimmen im Orchestergraben, die das zentrale Motto – „Wir arme Leut‘“ – verstärken, aber auch mit Vokalisen, nur auf Vokalen gesungene ‚Lieder ohne Worte‘, als zusätzliche Klangfarben eingesetzt werden. Bergs musikalische Sprache bedient sich freier Atonalität; diejenige Gurlitts wird gelegentlich als „erweiterte Tonalität“ charakterisiert.25 Sie nutzt alle Stilmittel, die Anfang der 1920er Jahre verfügbar waren, ist aber insgesamt harmonischer als diejenige Bergs; an Ausdrucksstärke steht sie ihr kaum nach. Nach der Uraufführung empfand der Kritiker der Deutschen Allgemeinen Zeitung Gurlitts Version der Berg’schen als gleichrangig; spätere Kritiker urteilten ähnlich.26 1927 löste Gurlitt seinen Vertrag in Bremen – möglicherweise nicht ganz freiwillig27 – und ging nach Berlin zurück. Als Gast dirigierte er an der Kroll-Oper und an der Lindenoper, wo er „das große Glücksgefühl“ hatte, nunmehr selbst am Pult der großen Meister und seiner Vorbilder tätig zu sein.28 Am Deutschen Theater Max Reinhardts leitete er 120 Aufführungen von Hoffmanns Erzählungen. Auch in anderen Städten dirigierte er Opern und Konzerte, nicht selten mit zeitgenössischen Werken, auch eigenen. Weiterhin tätig war er auch als Liedbegleiter und Kammermusiker. Zusätzliche Einnahmen verschafften ihm ein „sehr günstiger“ Vertrag mit der Deutschen Grammophon Gesellschaft und Verpflichtungen bei diversen Rundfunksendern.29 Außerdem komponierte er viel, u.  a. ein Klavierkonzert, das 1927 mit Walter Gieseking als Solist uraufgeführt wurde, und eine neue Oper, Soldaten, nach einem Drama von Jakob Michael Reinhold Lenz. Das Libretto hatte er wiederum selbst geschrieben. Die Uraufführung 1930 in Düsseldorf war so erfolgreich, dass weitere Aufführungen in Breslau, Prag, Hamburg, Coburg und Erfurt folgten. Die zeitgenössische Kritik nahm die Oper uneinheitlich und widersprüchlich auf.30 Über Kontakte Gurlitts zu Familienangehörigen in dieser Zeit findet sich in seinem Hamburger Nachlass nur wenig. Erhalten hat sich immerhin ein Brief, aus dem hervorgeht, dass sein Bruder Wolfgang den Klavierauszug der Oper Die Heilige in seinem Verlag herausbrachte, weil Manfred noch keinen Verleger gefunden hatte.31 Einem anderen Briefwechsel ist zu entnehmen, dass Manfred 1930 ein Engagement bei der Norddeutschen Rundfunk AG (NORAG) in Hamburg dazu nutzte, eine Tante kennenzulernen, von der ihm seine Mutter viel erzählt hatte, Susanna Gurlitt, die verwitwete zweite Ehefrau von Johann (Hans) Gurlitt, dem jüngsten Sohn von Louis 260

Manfred Gurlitt

Gurlitt. Sie besaß ein großes Haus an der vornehmen Palmaille in Altona und beherbergte ihren Neffen während dessen Aufenthalt an der Elbe. Er scheint sich bei ihr und ihrer Familie wohl gefühlt zu haben, nahm aber den Kontakt anscheinend erst wieder auf, als er 1938 erneut ein Konzert für den Hamburger Sender dirigierte.32 Nachdem die Nationalsozialisten an die Macht gekommen waren, bekam Gurlitt Schwierigkeiten. Die Uraufführung einer neuen Oper, Nana, mit einem Libretto von Max Brod nach Émile Zolas gleichnamigem Roman, die für April 1933 in Mannheim vorgesehen war und nach einer späteren Aufzeichnung Gurlitts „der Anfang einer mit Sicherheit erwarteten internationalen Karriere“ werden sollte,33 wurde im März 1933 abgesetzt – wegen ihres sozialkritischen Inhalts, vielleicht auch wegen Gurlitts musikalischer Sprache, wegen des jüdischen Librettisten und aus Furcht vor Störungen durch nationalsozialistische Schreier.34 Angebahnt hatte sich die Absetzung bereits seit Ende 1932, und Gurlitt scheint vermutet zu haben, dass dabei auch seine Abstammung eine Rolle spielen könnte. Denn die Mutter seines Vaters, Elisabeth, geb. Lewald, entstammte einer jüdischen Familie, so dass Manfred Gurlitt nach den rassebiologischen Vorstellungen der Nationalsozialisten als „Vierteljude“ galt.35 Im Februar 1933 scheint er sich bei seiner Mutter nach seiner jüdischen Großmutter erkundigt zu haben. Seine Mutter beruhigte ihn: „Großmutter Lewald […] war evangelisch und außerdem aus einer politisch ganz einwandsfreien Königsberger Familie.“ Wahrscheinlich seien bereits ihre Eltern getauft gewesen, denn ihr Vater sei Stadtrat gewesen und habe den Befreiungskrieg mitgemacht. Indessen brauche Manfred dies alles „nicht zu kümmern“, schrieb die Mutter weiter und verriet ihrem Sohn ein Geheimnis: Sein „richtiger Vater“ sei gar nicht Fritz Gurlitt, sondern sein Stiefvater Willy Waldecker. Manfred werde gemerkt haben, wie sehr dieser an ihm gehangen habe; auch habe er ihn als Alleinerben eingesetzt. Die Mutter bat Manfred um das Versprechen, dieses Geheimnis an niemanden weiterzugeben, auch nicht an seine Geschwister, und nur dann von ihm Gebrauch zu machen, wenn man seine „arische Herkunft“ bezweifeln sollte. Diesen Brief solle er bei einem Anwalt deponieren oder vernichten, falls er nicht gebraucht werden sollte.36 Er wirkt glaubhaft und nicht so, als habe die Mutter den Inhalt erfunden – gar auf Betreiben ihres Sohnes –, um diesen vor Nachteilen wegen seiner Abstammung zu bewahren. Völlig auszuschließen ist diese Möglichkeit freilich nicht; denn das Verhältnis zwischen beiden scheint eng gewesen zu sein, und zumindest Manfred Gurlitt nahm es mit der Wahrheit nicht immer genau, wie etliche Briefe und autobiographische Aufzeichnungen in seinem Nachlass zeigen. Nachprüfen ließen sich die Angaben seiner Mutter damals nicht. Wenn sie zutreffend waren, fragt sich, warum sie ihren Sohn über seine biologische Abstammung erst aufklärte, als er schon über vierzig Jahre alt war. Ein Grund könnte gewesen sein, dass sie ihn und sich selbst vom Makel einer unehelichen Geburt bewahren, vielleicht auch ihrem Sohn erbrechtliche Nachteile ersparen wollte. Wenn herausgekommen wäre, dass er nicht ein Sohn Fritz Gurlitts war, hätte er eventuell sein Erbteil zurückgeben müssen.37 Denkbar ist auch, dass die Mutter die Fiktion der 261

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Zugehörigkeit ihres Sohnes zur Gurlitt-Familie aufrechterhalten wollte, weil diese berühmter war als die ihres zweiten Mannes. Schließlich mag sie die Anfrage ihres Sohnes, für den erst die nationalsozialistischen Rassegesetze die Zugehörigkeit zu dieser Familie zu einem Nachteil machten, genutzt haben, eine „Schuld“ zu offenbaren, unter der sie möglicherweise jahrzehntelang gelitten hatte und die sie nicht mit ins Grab nehmen wollte; immerhin war sie 77 Jahre alt, als sie diesen Brief schrieb.38 Manfred Gurlitt scheint das Versprechen, das seine Mutter von ihm forderte, weitgehend eingehalten zu haben. Als er wenig später die Aufnahme in die NSDAP beantragte – wohl weniger aus Überzeugung als zur Vermeidung von Nachteilen –, nannte er im Aufnahmeantrag Fritz Gurlitt als seinen Vater und Elisabeth Lewald als eine seiner evangelisch getauften Großmütter. Zum 1.  Mai 1933 wurde er aufgenommen.39 Doch anscheinend kamen bald Zweifel an der Richtigkeit seiner Angaben auf. Möglicherweise hatte der Kampfbund für deutsche Kultur, der kulturpolitische Stoßtrupp der NSDAP, herausgefunden, dass der Stammbaum der Familie Gurlitt eine Frau jüdischer Herkunft aufwies.40 Gurlitts Werke wurden zwar nicht verboten, aber nicht mehr aufgeführt, er selbst wurde als Dirigent und Kammermusiker nicht mehr engagiert.41 Im August 1933 suchte er deshalb den „Sachverständigen für Rasseforschung“ beim Reichsministerium des Innern auf und überreichte zwei eidesstattliche Versicherungen und einige Urkunden, mit denen er „die bei ihm vermutete nichtarische Abstammung bestreiten“ wollte.42 Welcher Art diese Papiere waren, lässt sich den erhaltenen Akten nicht entnehmen; nur, dass der „Sachverständige für Rasseforschung“ bat, die „Behinderungen“ Gurlitts aufgrund der Annahme seiner „nichtarischen Abstammung“ bis zum Ergebnis einer eingehenden Nachprüfung auszusetzen.43 Dies scheint jedoch nicht geschehen zu sein. Statt Einkünften in einer erwarteten Höhe von – „vorsichtig gerechnet“ – 40 000 RM hatte Gurlitt 1933 „nur Aufregungen, Sorgen und keinen Verdienst“.44 Mit Privatunterricht und Gastdirigaten im Ausland, u. a. in Spanien, hielt er sich über Wasser. Doch trotz „ungeheurer Sparsamkeit und restlos strenger Einschränkung“ seiner Ausgaben musste er bei seinem Bruder Wolfgang einen Kredit von 4000 RM aufnehmen – zu „enormen Zinsen“, wie er seiner Mutter gegenüber klagte. Seine Briefe an sie sind großenteils verloren; aber viele, vielleicht alle ihrer Briefe und Karten an ihn von Februar 1933 bis April 1935 haben sich erhalten. Die Mutter schrieb ihm oft, manchmal im Abstand weniger Tage, häufig mit der Anrede „Mein geliebter Manfred“. Einmal ließ sie ihn wissen: „Ich liebe Dich unendlich“,45 ein andermal: „Ich bin in Gedanken immer bei Dir.“46 Manfred seinerseits bestätigte ihr: „Unser Verhältnis war immer ein selten schönes und ungetrübt. Ich habe Dir glaube ich nie absichtlich weh getan und leider ach so oft Heftigkeiten meiner Geschwister mildern u. wieder gut machen müssen“. Er versicherte seiner Mutter, „wie lieb ich Dich habe und dass mir ausser meiner Frau nur Du ein fester unantastbarer Pol bist. […] Wenn sich ein Mensch auf Liebe und Anhänglichkeit verlassen kann, dann bist Du es wenn Du an mich 262

Manfred Gurlitt

denkst.“47 Den Briefen der Mutter ist zu entnehmen, dass Manfred sie häufiger in München besuchte und sie sich jedes Mal sehr darüber freute. Er selbst schrieb von einem „heißen Kampf, um wieder in den Arbeitserwerb hereinzukommen“, und klagte, niemand in der Familie scheine sich klar zu machen, wie schwer er „innerlich und äußerlich“ leide, und niemand könne verstehen, „wie schrecklich“ ihm „das alles“ sei. Woher er weiter die Kraft nehmen solle durchzuhalten, wisse er nicht. Es gebe „definitive Zusammenbrüche, bei denen dem äußeren der innere folgt“.48 Doch hier scheint er übertrieben oder eine nur temporäre Depression ausgedrückt zu haben. Denn trotz aller Schwierigkeiten arbeitete er an neuen Werken.49 An der Entstehung einer neuen Oper ließ er seine Mutter Anteil nehmen. Sie trug den Titel Warum? und handelte von einem misslungenen spanischen Aufstand gegen die Herrschaft Napoleons Anfang des 19. Jahrhunderts. Auf den Stoff war Gurlitt 1933/34 während seines Aufenthalts als Gastdirigent in Spanien gestoßen. Das Libretto hatte er selbst geschrieben und schickte es seiner Mutter, die es sich vorlesen ließ.50 „Ich finde Dein Werk fabelhaft, eine ganz große Sache“, antwortete sie. Einblick in die Partitur scheint sie nicht genommen zu haben, denn die war unvollendet. Trotzdem nahm die Mutter an, die Musik sei „gewiss auf der Höhe“. Denn die Zeit, die Manfred habe durchmachen müssen und noch durchmache, habe ihn „gewiß zum ersten Künstler gemacht“.51 Auch bemerkte sie, „wie gut der Name ‚Warum‘ auf unsere Situation passt“52. Manfred wollte ihr die Oper widmen, und das erfüllte sie mit Stolz. „Möchte es Dir Glück bringen“, bedankte sie sich.53 Ihr sehnlichster Wunsch war es zu erleben, „dass anerkannt u. […] gewürdigt wird, was Du als Künstler bist“. Er blieb unerfüllt. Die Mutter starb am 30. Juni 1935, und Gurlitt vollendete die Oper erst Jahre später.54 Viel ist in den Briefen der Mutter auch von finanziellen Sorgen die Rede. An ihnen war Manfred nicht unschuldig, was seine Mutter freilich lange nicht wusste. Willy Waldecker hatte ihr ein Haus in Berlin hinterlassen, dessen Verkaufserlös an Manfred und später an dessen Sohn Gerd gehen sollte, die Zinsen aber an seine Witwe zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts. Diese verfügte im Juli 1934, dass das Testament ihres verstorbenen Mannes bestehen bleiben sollte.55 Möglicherweise tat sie dies auf Drängen Manfreds. Dessen Geschwister nämlich wollten nach dem Tod Willy Waldeckers „von Testamenten nicht sprechen, nicht daran denken“, wie Wolfgang Gurlitt seiner Mutter im Februar 1935 schrieb; allein Manfred habe „nur an sich“ gedacht.56 Offenbar gehe es ihm darum, sich und seinem Sohn das Vermögen Waldeckers zu sichern und vor Ansprüchen Dritter, womöglich auch seiner Geschwister, zu schützen. Wohl ohne diese zu informieren, gewann Manfred seine Mutter für eine Regelung, nach welcher das Geld aus dem Verkauf jenes Hauses nicht auf ihren Namen, sondern auf den von Manfreds Frau angelegt wurde. Auf diese Weise sollten, Manfred zufolge, mögliche Forderungen seiner ersten Frau, Maria Therese Kilby, und deren Familie abgewehrt werden. Tatsächlich jedoch machte diese Regelung, die möglicherweise auf den Bruder von Manfreds zweiter Frau Maria Hartow, einen Anwalt, zurückging, Annarella Waldecker finanziell völlig von ihrer Schwiegertochter abhängig; denn 263

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bei dieser lag das Verfügungsrecht über Kapital und Zinsen aus dem Hausverkauf. Und sie war Wolfgang Gurlitt zufolge als „absolut unzuverlässig“ bekannt. Außerdem war, als diese Regelung vereinbart wurde, auch die Ehe Manfred Gurlitts mit Maria Hartow schon zerrüttet. Ende 1933 war er mit einer anderen Frau zu seinen Gastdirigaten nach Spanien gereist, und als seine Ehefrau hiervon erfuhr, „legte sie grossen Wert darauf, dass es möglichst jeder wissen sollte“, dass auch sie ihren Mann betrog und sie sich „unbedingt […] scheiden lassen“ wolle. Das Geld aus dem Verkauf von Waldeckers Haus betrachtete sie offenbar als „ihr berechtigtes Eigentum“, nämlich als Zurückzahlung von 50 oder 60.000 Mark, die sie von ihrem Vater geerbt und angeblich für Manfred ausgegeben hatte. Anfang 1935 stellte sie die Zinszahlungen an dessen Mutter ein.57 Als Wolfgang Gurlitt hiervon erfuhr, machte er seinem Bruder schwere Vorwürfe und hielt es „als ältester Sohn unserer Familie“ für seine „Pflicht“, seiner Mutter „auf das eindringlichste“ klarzumachen, welch‘ Fehler es gewesen war, sich in dieser Angelegenheit allein auf ihren Lieblingssohn zu verlassen. „Nicht ein Pfennig des Geldes“ sei ihr verblieben. Auffällig ist, dass Wolfgang Gurlitt mit keinem Wort davon sprach, dass Willy Waldecker Manfreds Vater war, Manfred also nur sein Halbbruder. Offenbar war er zu diesem Zeitpunkt weder von diesem noch von seiner Mutter hierüber informiert worden. Ob die Zinszahlungen an die Mutter wieder aufgenommen wurden, lässt sich den Papieren im Nachlass Manfred Gurlitts nicht entnehmen, auch nicht, ob es diesem gelang, das Erbe seines Stiefvaters zurückzubekommen, das ihm als Alterssicherung dienen und dann an seinen Sohn Gerd weitervererbt werden sollte.58 Auf jeden Fall aber dürften die schweren Vorwürfe, die Wolfgang Gurlitt gegenüber Manfred in diesem Zusammenhang erhob, das Verhältnis zwischen beiden nachhaltig belastet haben. Nach dem Tod seiner Mutter setzte Manfred „alle Hebel in Bewegung“, um im Rahmen des Auftragskontingents, das die Reichskulturkammer (RKK) für Künstler reserviert hatte, die als „Vierteljuden“ galten, wenigstens „als Komponist im Tonfilm anzukommen“.59 Die Filmgesellschaft Terra erteilte ihm auch Aufträge für die Vertonung von Kulturfilmen. Doch die Kontingentstelle der RKK lehnte schon den ersten dieser Filme wegen seiner Mitwirkung ab. Daraufhin wandte Gurlitt sich Anfang 1936 auf Anraten des Präsidenten der Reichsmusikkammer (RMK), Peter Raabe, an den Präsidenten der RKK, Hans Hinkel, und machte Gebrauch von dem, was seine Mutter ihm über seine Abstammung eröffnet hatte. Er legte eine eidesstaatliche Erklärung vor – möglicherweise dieselbe, die er schon im August 1933 vorgelegt hatte –, der zufolge nicht Fritz Gurlitt sein leiblicher Vater war, sondern Willy Waldecker, er selbst also „keinerlei Blutsverwandtschaft mit der Familie Lewald“ habe. Obwohl er die Zugehörigkeit zur Gurlitt-Familie bestritt, scheint er stolz darauf gewesen zu sein, ihr zugerechnet zu werden, und sich ihr weiterhin verbunden gefühlt zu haben. Denn er merkte an, „dass alle Angehörigen der grossen Familie Gurlitt, die diese protestantische, aber nichtarische Grossmutter Lewald haben, unbeschadet in öffentlichen Aemtern arbeiten, dass der jüdische Urgrosselternteil Lewald 264

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vor 1800 geboren ist, und deren direkter Nachkomme der Präsident der Olympiade Exzellenz [Theodor] Lewald ist“.60 Doch Hinkel konnte oder wollte nichts für Gurlitt tun, sondern wartete die Stellungnahme der Reichsstelle für Sippenforschung ab. Die aber ließ sich von Gurlitts eidesstattlichen Erklärungen nicht beeindrucken und stufte ihn als „Vierteljude“ ein.61 Daraufhin schloss die RMK ihn 1937 aus, was einem totalen Arbeitsverbot gleichkam. Einem Parteiausschluss entging er nur, weil ihm nicht nachgewiesen werden konnte, dass er in seinem Aufnahmeantrag seine „mosaische Abkunft“ bewusst verschwiegen hatte. Doch seine Mitgliedschaft in der NSDAP wurde für nichtig erklärt, ebenfalls diejenige seiner Frau.62 1938 schien sich seine Lage zu verbessern. Die RMK kündigte an, Aufführungen seiner Werke nach vorheriger Prüfung wieder zuzulassen. Denn Gurlitt bemühte sich, so zu komponieren, dass er bei den nationalsozialistischen Machthabern Anklang fand. Er vermied die Schroffheit und Sprödigkeit seiner früheren Werke zugunsten einer harmonischeren, kantableren und wieder stärker tonalen Kompositionsweise.63 Ein Violinkonzert, das er alsbald vorlegte, erregte daher keine Bedenken.64 Die Opernhäuser von Düsseldorf und Braunschweig planten die Uraufführung einer neuen Oper von ihm, Seguidilla Bolero. Die Wiener Staatsoper engagierte ihn als Gastdirigent.65 Materiell ging es Gurlitt so gut, dass er einen langen Sommerurlaub auf Hiddensee verbringen konnte. Auch arbeitete er „intensivst an grossen neuen Werken“, wie er seiner Tante Susanna in Altona schrieb.66 Besonders gern scheint er mit deren Tochter Else, seiner Cousine – gleichen Namens mit Elisabeth / Else Gurlitt, der Frau von Louis Gurlitt und auch dessen Tochter Else – korrespondiert zu haben.67 Auch in den hier zitierten Briefen finden sich keine Anzeichen dafür, dass andere Angehörige der Gurlitt-Familie davon Kenntnis hatten, dass Manfred ein unehelicher Sohn Willy Waldeckers war.68 Wie selbstverständlich wurde er weiterhin als Familienmitglied angesehen und scheint sich auch selbst als solches empfunden zu haben. Er wird deshalb auch hier in dieser Rolle weiter so benannt. Ende September 1938 wurde Gurlitt wieder in die RMK aufgenommen, die Prüfung seiner Werke aufgehoben.69 Trotzdem verschlechterte sich seine Situation unerwartet. In Düsseldorf und Braunschweig wurde seine neue Oper mit fadenscheinigen Begründungen abgesetzt. Das Stadttheater Zürich lehnte eine Aufführung ab, weil es sich wegen finanzieller Schwierigkeiten keine Experimente leisten mochte.70 Gurlitts finanzielle Lage wurde so prekär, dass er Skulpturen seines Schweizer Großvaters Max Imhof dessen Heimatgemeinde zum Kauf anbot, doch anscheinend erfolglos.71 Jetzt sah er keine Perspektive mehr in Deutschland. Auf Anraten des japanischen Dirigenten Hidemaro Konoe, der das Sinfonieorchester des japanischen Rundfunks aufgebaut hatte, aber seit 1937 in Berlin lebte, bemühte er sich um ein Engagement im japanischen Rundfunk.72 Nachdem die Professur für Komposition und Dirigieren an der Musikakademie Tokyo, eine Schlüsselposition des japanischen Musiklebens, die traditionell ein Deutscher innehatte, mit 265

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einem jungen Nationalsozialisten besetzt worden war, hatte die RMK keine Einwände gegen eine „Informationsreise“ Gurlitts nach Japan.73 Ein Direktor des Norddeutschen Lloyd, den er aus seiner Bremer Zeit kannte, verschaffte ihm eine Passage auf einem Handelsschiff. Anfang April 1939 verließ Gurlitt mit seiner dritten Frau Wiltrud Hahn Berlin, wo er seine gesamte Habe zurückließ – „umfassende Bibliothek, Einrichtung, Kunstwerte, Gemälde, Skulpturen erster Meister, Silber, Krystal, Konzertflügel etc.“74 Auch sein Sohn Gerd blieb zurück, vermutlich bei Gurlitts erster Frau Maria Therese Kilby. Ende Mai kam Gurlitt in Yokohama an, „vertrag- und mittellos“, aber mit der Hoffnung, als Operndirigent sein Auskommen zu finden.75 Tatsächlich verpflichtete das Orchester des japanischen Rundfunks ihn nach einigen Probedirigaten als ständigen Dirigenten. Außerdem wurde ihm die Leitung eines Orchesters anvertraut, das als Blaskapelle in Nagoya entstanden war, dann als Unterhaltungsorchester fungiert hatte und dank Subventionen zweier Schallplattenfirmen und eines großen Energieversorgungsunternehmens ab 1936 zu einem Sinfonieorchester umgebildet worden war, das Chūō Kōkyō Gakudan (Central Symphonic Orchestra). 1940 siedelte es nach Tokyo über und begann, regelmäßig anspruchsvolle Konzerte zu geben.76 Überdies berief die Musikakademie Tokyo, die damals noch einzige staatliche Musikhochschule Japans, Gurlitt als Professor für Klavier und Kammermusik. Von der deutschen Botschaft in Tokyo wurde er „weder besonders gefördert noch bekämpft“.77 1940, kurz nach seinem 50. Geburtstag, berichtete sogar eine deutsche Zeitung über seine Wirksamkeit in Japan, nicht ohne Stolz auf die „rege Anteilnahme“, die man dort der deutschen Musik entgegenbrachte, aber offenbar ohne Kenntnis der Gründe, aus denen Gurlitt Deutschland verlassen hatte.78 Nachdem er in Tokyo halbwegs Fuß gefasst hatte, schrieb Gurlitt Briefe an Angehörige und Freunde in Deutschland und schilderte darin seine Situation in Japan in leuchtenden Farben. Seiner Cousine Else z.  B. berichtete er, er habe beruflich „grösste Erfolge“ und privat „einen grossen Kreis sehr netter Menschen“ gefunden, „zumeist Japaner; Universitätsprofessoren, Akademiekollegen, leitende Männer vom Rundfunk“ und einer Schallplattenfirma; kurz, er und seine Frau fühlten sich „ganz zuhause“.79 Manche Briefe in die Heimat illustrierte er mit Fotos, u. a. vom Rundfunkhaus in Tokyo, einer seiner neuen Wirkungsstätten, und von seiner Frau, die Reitstunden nahm, zu Pferde. Als er nach Ausbruch des Krieges in Europa im September 1939 längere Zeit von Angehörigen und Freunden in der Heimat nichts hörte, war er in „grösste[r] Sorge“ und bat seine Cousine: „Setz Dich bitte gleich hin und berichte. Schliesslich sind wir ja nah’st verwandt.“80 Nicht nur über ihre Angehörigen wollte er etwas erfahren, sondern auch über seine Vettern und über seinen Sohn Gerd. Seine Sorgen verflogen, als sich der Postverkehr wieder normalisierte. Jetzt schickte er etlichen Verwandten in Deutschland außer Briefen und Postkarten Tee – „gerade das […], was ich am meisten entbehrt habe“, bedankte sich eine Tante.81 Denn Luxuswaren wie Tee wurden in Deutschland nach Kriegsausbruch knapp. In den Antwortbriefen finden sich 266

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außer Dank für seine Teesendungen – und gelegentlichen Bitten um weitere – Glückwünsche für seine „großen Erfolge“ in dem fernen Land,82 bisweilen auch Anflüge von Neid. Seine Schwester Angelina renommierte nach Mitteilung einer Münchener Verwandten sogar mit ihrem Bruder  – „mit wem Du verkehrst und wo Du eingeladen bist“83  – und spielte dem Vernehmen nach mit dem Gedanken, ihn in Japan zu besuchen – jetzt, wo er „wieder ‚jemand‘ wäre“.84 Manfreds jüngere Schwester Margarete, die mit einem Fabrikanten verheiratet war und in der Eifel lebte, teilte ihrem Bruder mit, sein Sohn Gerd sei eingezogen worden und habe sich verlobt, „und zwar mit einer Adligen, einer österreichischen Offizierstochter, die er in München kennen gelernt hat“; sie sei „ein sehr nettes Ding, mit blauen Augen und hellblonden Haaren“.85 Manfreds Vetter Hildebrand, der Kunsthändler in Hamburg, dessen Mutter Marie, geb. Gerlach, ebenfalls wiederholt mit Tee bedacht worden war, bedankte sich in ihrem Namen. „Du ahnst gar nicht (oder vielleicht ahnst Du es doch), wieviel Freude Du damit bereitest“, schrieb er nach Tokyo und ließ durchblicken, dass er sich selbst auch über Tee freuen würde. Von einem befreundeten Japaner, berichtete er, habe er eine Ansprache bekommen, die Manfred im November 1940 zur Uraufführung der Japanischen Festmusik, komponiert von Richard Strauss zum 2600-jährigen Bestehen des japanischen Kaiserhauses, im japanischen Rundfunk gehalten hatte.86 Er freue sich, dass es dem Vetter „so gut“ gehe, schrieb Hildebrand, der selbst gute Geschäfte mit dem Verkauf „entarteter Kunst“ machte, die die Nationalsozialisten beschlagnahmt hatten und zu Geld machen wollten.87 Dann berichtete er von zahlreichen Familienangehörigen: Seine Frau und seine Kinder seien bei ihrer Großmutter in Dresden, und dem Vernehmen nach verstehe sich die ganze Familie dort „glänzend […] und friedlich“ und sei „guter Dinge“ zusammen. Sein Bruder Wilibald, ein Musikwissenschaftler, den die Universität Freiburg 1937 entlassen hatte, weil seine Frau Gertrud, geb. Darmstädter, jüdischer Abstammung war und er selbst eine jüdische Großmutter hatte, habe „allerlei neue Bücher-Aufträge“ und lebe „fern aller aktuellen Ereignisse ganz seiner Wissenschaft“. Einer seiner Söhne sei Soldat, der andere stehe kurz vor der Promotion in Geographie. Gegen Manfreds Bruder Wolfgang habe er, Hildebrand, kürzlich einen Prozess um ein Bild gewonnen. Es habe ihm sehr leid getan, dass er den Prozess habe führen müssen; er habe immer wieder Vergleichsvorschläge gemacht, aber vergeblich, so dass der Prozess in die zweite Instanz gegangen sei. Nun müsse der arme Wolfgang allein 5000 RM Prozesskosten bezahlen und alles, was er, Hildebrand, früher von ihm verlangt habe. Im Übrigen aber solle es Wolfgang geschäftlich gut gehen. Er habe sich ein Haus in Altaussee gekauft, „wo Onkel Ludwig und die Baronin Oppenheim immer wohnten“,88 und solle dort den ganzen Sommer verbracht haben. Von der Palmaille, fuhr Hildebrand fort, also von Susanna Gurlitt und ihrer Familie, höre er nichts, habe „auch keine große Sehnsucht, die guten Leutchen wiederzusehen“, die beiderseitigen Interessen lägen „auf zu verschiedenen Gebieten“. Es bestehe kein Zweifel, schrieb Hildebrand am Ende dieses Briefes voller „Familientratsch“ an seinen 267

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Vetter, dass die Verantwortung für den Namen Gurlitt „gänzlich auf Dir, Willibald und mir liegt und auf Erwin, der als tüchtiger Architekt in Bayreuth arbeitet“.89 Ähnlich wie seine Verwandten scheint Gurlitt auch Freunde und Bekannte in Deutschland mit Tee-Sendungen bedacht und ihnen ebenfalls sein neues Leben in Japan in rosigen Farben geschildert und manchmal besorgt gefragt zu haben, wie es ihnen unter den Kriegsbedingungen ginge, die mittlerweile in Deutschland herrschten. Gurlitts alter Freund Wolfgang von Schwind (1879–1949), Sänger, Schauspieler und Schriftsteller, bedankte sich überschwänglich für Teepäckchen. Es seien „die lichten Momente“ seines Lebens, „wenn etwas aus Nippon kommt“.90 Andere freuten sich über Gurlitts Erfolge, sein „Glück“ in Japan und zeigten wie manche Verwandten Gurlitts bisweilen Anflüge von Neid. Eine Berliner Bekannte meinte gar, Gurlitt lebe mit seiner Frau im „reinsten Schlaraffenland“.91 Manche wären Gurlitt gern nach Japan gefolgt.92 Professionelle Bläser, die er von früher kannte und von denen er wusste, dass sie sich seit kurzem im Ruhestand befanden, scheint er selbst zu einer Übersiedlung nach Japan animiert zu haben; denn gute Bläser waren in Japan noch immer selten, vermutlich auch in seinem Orchester.93 Doch hieraus wurde nichts. Mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Juni 1941 brach der Personen- und Güterverkehr zwischen Japan und Deutschland ab, der seit Ausbruch des Krieges in Europa im Wesentlichen über die Transsibirische Eisenbahn gelaufen war. In minimalem Umfang wurde er nur noch von U-Booten und Hilfskreuzern aufrechterhalten. Auch die Postverbindung brach zusammen. Bis Kriegsende hatte Gurlitt deshalb keinerlei Verbindung mit Familienangehörigen, Freunden und Bekannten in Deutschland mehr.94 Seine Situation veränderte sich zunächst kaum. Mit dem Chūō-Orchester, das seit Juni 1941 als Tokyo Symphony Orchestra firmierte, gab er regelmäßig Konzerte in der Hibiya Hall, einem der größten Konzertsäle Tokyos, und veranstaltete zusammen mit der Operntruppe des Tenors Yoshie Fujiwara, der vor dem Krieg auch in Deutschland aufgetreten war, konzertante Opernaufführungen. Im Dezember 1941 führte er mit Fujiwaras Truppe zum ersten Mal in Japan eine Oper Richard Wagners in japanischer Sprache auf, Lohengrin. Bis dahin galten WagnerOpern japanischen Musikliebhabern als zu bombastisch und theatralisch. Die Aufführung war so erfolgreich, dass sie ein Jahr später wiederholt wurde.95 Auch im Rundfunk war Gurlitt oft zu hören, und wie früher in Deutschland trat er als Liedbegleiter auf.96 1942 wurden Konzerte unter seiner Leitung seltener, seine Dienste an der Musikakademie nicht mehr benötigt. Kurz vor Beginn des neuen Studienjahres teilte die Leitung ihm in einem knappen, japanisch verfassten Schreiben seine Entlassung mit.97 So trat Gurlitt 1943 nur noch gelegentlich als Pianist auf.98 In weitere Bedrängnis geriet er, als in Japan mit zunehmender Dauer des Krieges, der hier Jahre eher begonnen hatte als in Deutschland, Chauvinismus und Ausländerfeindlichkeit zunahmen, Aufführungen westlicher Opern verboten wurden und der Rundfunk an seiner Stelle einen japanischen Dirigenten verpflichtete, Kosaku Yamada. Seit 268

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Ende 1943 zahlte die deutsche Botschaft in Tokyo Gurlitt wie anderen in Japan festsitzenden Deutschen eine monatliche Unterstützung; Botschafter Stahmer lud ihn sogar gelegentlich in die Botschaft ein.99 Die japanische Regierung dachte trotz Drängens ihres deutschen Verbündeten lange nicht an Maßnahmen gegen die wenigen Juden in Japan und seinem ostasiatischen Machtbereich. Doch 1944 rang sie sich zu dem Standpunkt durch, „daß die in Ostasien ansässigen Juden auf das schärfste zu bekämpfen seien“, und fragte bei der deutschen Botschaft an, ob Gurlitt, „der wenigstens zu einem Viertel jüdischen Blutsanteil hat, […] als deutscher Musiker gefördert werden […] oder, wie alle anderen Juden, eine verschärfte Sonderbehandlung erfahren“ solle. Nach einer Aufzeichnung des RSHA sprach sich das Auswärtige Amt in Berlin dafür aus, Gurlitt „nunmehr klar als Deutschen zu erklären“, weil andernfalls die Einstufung deutsch-jüdischer Mischlinge in Japan grundsätzlich geklärt werden müsste.100 Offensichtlich wurde die Botschaft in Tokyo in diesem Sinne instruiert. Denn sie übergab dem japanischen Außenministerium eine Liste der in Japan tätigen deutschen Musiker, unterteilt in 1. „deutsche Musiker“, 2. solche, die früher die deutsche Staatsangehörigkeit besessen hatten, aber ausgebürgert worden waren, und 3. „Musiker deutscher Staatsangehörigkeit“, an deren Berufsausübung die Botschaft kein Interesse hatte. Gurlitt wurde in die erste Gruppe eingeordnet. Um ihm zu mehr Auftritten zu verhelfen, verwies die Botschaft auf die ausgedehnte Konzerttätigkeit Konoes und anderer japanischer Musiker in Deutschland.101 Nennenswerte Folgen scheint ihre Demarche nicht mehr gehabt zu haben. Denn die zunehmende Zerstörung japanischer Städte durch amerikanische Bombenangriffe und wachsende Versorgungsprobleme brachten das Musikleben mehr und mehr zum Erliegen. Und im Juli 1944 wurden die Deutschen aus Tokyo und Yokohama einschließlich der Diplomaten auf Anordnung der japanischen Regierung evakuiert. Gurlitt ging wie viele andere nach Karuizawa, ihre traditionelle Sommerfrische. Ihm gefiel es hier so gut, dass er daran dachte, dauerhaft zu bleiben und hier Bauer zu werden.102 Doch im Winter wurde das Leben in Karuizawa unangenehm. Denn die Ferienhäuser waren leicht gebaut und kaum isoliert, so dass sie kaum zu heizen waren und Wasserleitungen einfroren. Zudem wurden Lebensmittel so knapp, dass manche Deutschen hungerten.103 Im Mai 1945 war der Krieg in Europa zu Ende, im August in Ostasien. Im September wurde Japan von US-Truppen besetzt. Doch bis der Postverkehr nach Deutschland wieder in Gang kam, dauerte es längere Zeit, und noch länger, bis wieder Reisemöglichkeiten ins Ausland bestanden. Gurlitt begann deshalb 1946 erneut mit Opernaufführungen. Zugleich schrieb er Briefe an berühmte Kollegen und namhafte Musikkritiker im Ausland, um durch ihre Vermittlung eine Betätigungsmöglichkeit in seinem angestammten Kulturkreis zu finden, vor allem Aufführungsmöglichkeiten für seine Werke, für die Japan, wie er fand, „weder Musik-technisch noch dem Verständnis nach reif “ war.104 Doch seine Hoffnung, nach „qualvoll langer Zeit“ 269

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erzwungener Ausschaltung „in spätestens 1 bis 1½ Jahren wieder in Deutschland zu sein“,105 erfüllte sich nicht. Offenbar bemühte er sich auch um Kontakte zu Angehörigen und Freunden in der Heimat. Zu seinem Sohn Gerd aus erster Ehe, der Bauingenieur geworden war und in Frankfurt lebte, hatte er anscheinend 1946 oder 1947 wieder Verbindung. Ihn scheint er auch um Auskunft über andere Angehörige gebeten zu haben. Aber die „mühsam gekämpfte [sic!] Verbindung“ funktionierte nur unregelmäßig; manche Briefe und andere Sendungen scheinen unterwegs verloren gegangen zu sein. Anfang September 1948 schrieb ihm sein Sohn, man lebe „in einer schweren Zeit“. „Wir haben inzwischen unsere Währungsreform durchgemacht, die uns einerseits den praktischen Verlust aller Ersparnisse einbrachte, andererseits ein beachtliches Warenangebot auf den Markt“ gebracht habe, „allerdings noch mit horrenden Preisen“, so dass man sich „praktisch doch wieder kaum etwas von dem dringend Notwendigen anschaffen“ könne.106 Sorgen mache er sich vor allem um seine Mutter, Manfred Gurlitts erste Frau, „da das Vermögen dezimiert wurde und eine Belastung des Häuschens noch bevorsteht“. Er selbst habe seine Stellung behalten; seine Firma sei glücklicherweise liquid geblieben, und er hoffe, weiterhin mit „gleichbleibendem Gehalt“ rechnen zu können. Manfreds Bruder Wolfgang habe sich von Aussee aus in Linz „mit einer permanenten Ausstellung etabliert“, und als naturalisiertem Österreicher gehe es ihm wohl „wieder ganz gut“.107 Vetter Wilibald habe eine Gastprofessur in Bern, kehre aber im nächsten Semester nach Freiburg zurück. Von vielen anderen Verwandten, nach denen Manfred Gurlitt sich erkundigt habe, seien „keine Nachrichten zu erhalten“. Mit den Verwandten in Altona hatte Gurlitt anscheinend erst seit 1952 wieder Kontakt, mit seiner Schwester Angelina, die in Oberbayern eine Weberei und ein Hotel betrieb, seit 1953. 1952 trennte Manfred Gurlitt sich von seiner dritten Frau, mit der er sich schon lange nicht mehr verstand, und heiratete in vierter Ehe eine japanische Sängerin, Hisako Hidoka, die vierzig Jahre jünger als er war.108 1953 wurde ihr gemeinsamer Sohn Amadeus geboren. 1952 trennte Gurlitt sich auch von Fujiwara und gründete ein eigenes Opernunternehmen, mit dem er Tourneen innerhalb Japans und in Nachbarländer unternahm. Zudem komponierte er wieder, wobei er an seine Musiksprache der 20er Jahre anknüpfte,109 und lud deutsche Sänger und Sängerinnen nach Japan ein, mit denen er Liederabende gab, deutsche Regisseure für die Inszenierung von Opern und Instrumentalsolisten zur Aufführung auch eigener Werke, z. B. Ludwig Hoelscher für sein Cello-Konzert.110 Seine Schwester Angelina interessierte sich besonders für den zweiten Sohn ihres Bruders im fernen Tokyo. „Bekommt der Kleine auch beim Bubentag […] seinen Fisch an Euer Haus gehängt“, fragte sie im Oktober 1953, und auch, ob er getauft sei.111 Im Übrigen berichtete sie von ihren Töchtern und Enkelinnen und von anderen Verwandten. Hildebrand sei Direktor der Kunsthalle Düsseldorf, Manfreds Vetter Helmut, der zweitälteste Sohn des Reformpädagogen Ludwig Gurlitt, geb. 1895, Lehrer an einer anthroposophischen Schule für Minderbegabte bei 270

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Reichenhall, Hildebrands Cousine Gitta, Tochter des Archäologen Wilhelm Gurlitt (1844– 1905), Restauratorin von alten Bildern. Manfreds ältesten Sohn Gerd treffe sie  – Angelina  – regelmäßig anlässlich der Frankfurter Messe.112 1954 erinnerte sie an den 100. Geburtstag ihres Vaters Fritz, zu dem Wolfgang Gurlitt vielleicht eine Ausstellung organisieren könne, 1959 an den 100. Geburtstag ihrer Mutter.113 Gelegentlich schimpfte sie auf Konrad Adenauer, den sie für „mittelstes Mittelmaß“ hielt; selbst im Radio wirke er „leer und hohl und nicht intelligent“.114 1955 fuhr Gurlitt zum ersten Mal seit seiner Emigration wieder für drei Monate in die Bundesrepublik, in die DDR und die Tschechoslowakei. Er hoffte, da „wieder anknüpfen zu können, wo mich 1933 gewissenlose Verbrecher – leider meine eigenen Landsleute – zerschlagen haben“, wie er vor seiner Abreise äußerte,115 und sein „fast überreiches, in freiwilligem Exil entstandenes Werk in die Heimat und den ihm entsprechenden Kulturkreis zu bringen“.116 Erreichen wollte er vor allem die Wiederaufführung seiner Opern, die nach 1933 nirgends mehr gespielt worden waren und für die sich auch die Universal Edition in Wien kaum mehr einsetzte, außerdem eine Wiedergutmachung in Höhe von 400 000 DM.117 Zeitungsberichten zufolge bestand großes Interesse an Aufführungen seiner Opern.118 Doch während seines Aufenthalts war an sie nicht zu denken, weil sie einen langen Vorlauf benötigten. So trat Gurlitt nur als Dirigent von Puccinis Butterfly in Erscheinung, mit seiner Frau Hisako Hidoka in der Titelrolle, u. a. in Bremen, wo seine Wirksamkeit als GMD in den 20er Jahren unvergessen war, und in Leipzig, wo es einem Zeitungsbericht zufolge 26 Vorhänge gab.119 Auch luden einige Rundfunkanstalten Gurlitt zur Einspielung eigener Klavierwerke und Lieder ein, gesungen von seiner Frau. Mehreren Bühnen verpflichteten sie schon jetzt für die folgenden Jahre als Butterfly.120 Während seines Aufenthaltes in Düsseldorf wohnte Gurlitt mit seiner Frau bei seinem Vetter Hildebrand; auch mit ihm dürfte er also vorher in Verbindung gestanden haben.121 Er traf auch seine Schwester Angelina, wie aus deren Briefen an ihn hervorgeht, vermutlich auch seinen Bruder Wolfgang; ob weitere Verwandte, ließ sich nicht klären.122 Dass er selbst kein geborener Gurlitt war, scheint er nicht mehr erwähnt zu haben. In einem in den 50er Jahren verfassten Lebenslauf nannte er mit der ihm eigenen Neigung zu Übertreibungen Fritz Gurlitt, den „Gründer der bedeutendsten Berliner Kunsthandlung“, als seinen Vater, und den „berühmten Landschaftsmaler“ Louis Gurlitt, „dessen Werke in den großen internationalen Galerien gesammelt sind“, als seinen Großvater.123 Nachteile brauchte er deswegen nicht mehr zu befürchten. Möglicherweise war ihm seine uneheliche Abkunft mittlerweile auch gleichgültig; immerhin war er inzwischen Mitte 50 und erfreute sich als „Manfred Gurlitt“ in Japan einiger Bekanntheit und wollte sie auch in Deutschland (wieder)gewinnen. Und offenbar fühlte er sich anderen Trägern dieses Namens verbunden, mochte er im biologischen Sinne mit ihnen verwandt sein oder nicht. 1958 reiste er zum zweiten Mal in die alte Heimat, diesmal für vier Monate. Jetzt endlich fand in Dortmund die Uraufführung seiner Oper Nana statt, die 1933 in Mannheim nicht 271

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zustande gekommen war, mit einem Bühnenbild des renommierten Alfred Siercke und inszeniert von Arno Assmann. Dirigieren wollte Gurlitt selbst. Doch kurz vor der Premiere erfuhr er, dass der Intendant der Kölner Oper, Herbert Maisch, der 1933 als Intendant in Mannheim die Nana zur Uraufführung angenommen hatte, soeben einen jüngeren Komponisten, Bernd Alois Zimmermann, beauftragt hatte, Jakob Michael Reinhold Lenz’ Soldaten neu zu vertonen, statt Gurlitts gleichnamige Oper aufzuführen. Gurlitt erlitt einen Herzanfall, musste die Leitung der Premiere dem Chefdirigenten der Städtischen Bühnen Gelsenkirchen, Ljubomir Romansky, überlassen, wohnte ihr aber, „sichtlich gebrochen“, bei.124 „Ein anerkannt NEUE Wege gehendes Werk wie meine ‚Soldaten‘ durch Kompositionsbestellung bei einem ‚jungen modernen Komponisten‘ ad acta zu legen, statt mir bei meiner so dringlich ersehnten Rückkehr in die Heimat behilflich zu sein, ist eine Härte, die mich schwerer trifft, als das seinerzeit von den Nazis gegen mich verhängte […] Verbot meiner Werke“, schrieb er später.125 Immerhin war die Dortmunder Premiere der Nana ein Erfolg. Intendanten und Orchesterleiter zahlreicher deutscher Bühnen wohnten ihr bei, das Fernsehen übertrug die letzten beiden Akte, als erste deutsche Live-Übertragung einer Oper überhaupt, und am Ende gab es „lang anhaltende[n] und sehr herzliche[n] Beifall“. „Es hat sich gelohnt!“, hieß es in einer Kritik. „Man hat hier ein Werk wieder ans Licht gezogen, das ein ungerechtes Geschick unter dem Schlagwort ‚kulturschädlich‘ 25 Jahre in die Dunkelheit des Vergessens verbannte.“ Den Städtischen Bühnen Dortmund wurde es „hoch angerechnet“, mit der Aufführung eine „kollektive Dankesschuld abgetragen“ zu haben.126 Gurlitt selbst hoffte, die Uraufführung der Nana bedeute eine Art „Wiedergutmachung“ und den Wiederbeginn von Aufführungen seines umfassenden Schaffens „in der nie vergessenen oder gar verleugneten Heimat“.127 Doch eine in Linz geplante weitere Aufführung wurde aus Furcht vor einem unvertretbaren Defizit abgesagt.128 Nach der Premiere fuhr Gurlitt nach Bremen, wo er mit seiner Frau Lieder und Arien vortrug,129 nach Hamburg, Berlin und wahrscheinlich in andere Städte, um weitere Aufführungen seiner Werke auf den Weg zu bringen. Offenbar stieß er auf positive Resonanz. Denn vor dem Rückflug nach Japan kündigte er an, 1960, zu seinem 70. Geburtstag, zusammen mit seiner Frau erneut nach Europa zu kommen.130 Ob er wie drei Jahre zuvor Familienangehörige traf, lässt sich den in seinem Nachlass überlieferten Dokumenten nicht entnehmen, ist aber wahrscheinlich. Denn eigener Aussage zufolge war er nach wie vor „sehr stolz“ darauf, „einer seit drei oder vier Generationen im Kunstleben stehenden deutschen Familie zu entstammen“.131 Dass die Kölner Oper eine Neuvertonung der Soldaten vergab, statt Gurlitts Oper aufzuführen, löste in der Bundesrepublik eine öffentliche Debatte über den Umgang mit Künstlern aus, die vor dem Nationalsozialismus ins Ausland geflüchtet waren. Gurlitt nutzte sie nach seiner Rückkehr nach Tokyo zu einem offenen Brief, in dem er verbittert konstatierte: „ICH BIN VERGESSEN“. An die Heimat, „der ich trotz allem, was über mich hereinbrach, treu geblieben bin“, appellierte er: „HELFT MIR – helft mir wiederzukommen. Ein Schaffender gehört in seine 272

Manfred Gurlitt

Heimat“.132 Die ehrte ihn einstweilen mit äußeren Zeichen der Anerkennung. Schon 1957 hatte der Botschafter der Bundesrepublik Gurlitt in Tokyo mit dem Verdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnet. 1959 verlieh die Salzburger Stiftung Mozarteum ihm die Mozart-Medaille in Bronze; 1960 wurde er Ehrenmitglied der Internationalen Richard-Strauss-Gesellschaft.133 Doch eine Dirigentenstelle oder eine Professur wurden ihm nirgends angeboten. Sein Sohn Gerd beglückwünschte ihn zur Salzburger Ehrung und berichtete im Übrigen von interessanten beruflichen Aufgaben, von seinen zwei Söhnen, mittlerweile 16 und 12 Jahre alt, von gesundheitlichen Problemen seiner Frau und vom überraschenden Tod Erwin Gurlitts in Bayreuth.134 Doch Manfred Gurlitt scheint die Korrespondenz mit seinem ältesten Sohn längere Zeit unterbrochen zu haben, möglicherweise wegen Erbstreitigkeiten mit seiner ersten Frau. Seine Schwester Angelina, die offenbar engen Kontakt mit Gerd hielt, für den sie „wie eine zweite Mutter“ war, scheint dies bekümmert zu haben. Gerd sei „wirklich ein sehr, sehr erfreulicher und liebenswerter Mann geworden – sehr tüchtig in seiner Arbeit, ein reizender Ehemann und Vater“, schrieb sie ihrem Bruder. Manfred könne „sehr stolz auf ihn sein“ und sollte ihn nicht vernachlässigen. „Er kann doch, weiß Gott, nichts dafür mit wem Du ihn auf die Welt riefest“.135 Ein Sohn seiner jüngeren Schwester Marga berichtete ihm über deren Familie und hoffte, seine ihm noch unbekannte japanische Tante im Fernsehen zu erleben.136 Manfreds Cousine Else in Altona schrieb seltener, nicht aus Mangel an Interesse, sondern „an wichtigen Ereignissen, die wert sind um die halbe Welt zu reisen“; aber sie freute sich „auf das angekündigte Wiedersehen im nächsten Jahr“.137 Doch daraus wurde nichts. 1960, als Gurlitt 70 wurde, gratulierte ihm die Botschaft der Bundesrepublik in Tokyo, und in der deutschen Presse erschienen einige Würdigungen,138 aber Einladungen zu einem neuerlichen Besuch in Deutschland blieben aus. Auch Gurlitts Bemühungen um Wiedergutmachung waren erfolglos. In den folgenden Jahren zerschlug sich ebenfalls der Plan einer europäischen Butterfly-Produktion mit seiner Frau in der Titelrolle und ihm als Dirigenten.139 Gurlitt scheint hierüber tief enttäuscht gewesen zu sein. „Der Nazi-Sieg über mich ist vollständig; ich bin mit allen meinen früheren Erfolgen ‚vergessen‘“, klagte er in einer privaten Aufzeichnung.140 Seiner Schwester Angelina scheint er Ähnliches geschrieben und dabei auch Sorgen über seine finanzielle Alterssicherung geäußert zu haben; denn außer seinen Wiedergutmachungsansprüchen waren auch Rentenansprüche aus seinen Anstellungen als Korrepetitor und Dirigent abgelehnt worden.141 Seitdem war Angelina in Gedanken „oft etwas sorgenvoll“ bei ihm und wünschte ihm „vor allem bessere Stimmung“. „Ich hoffe herzlichst“, schrieb sie ihm, „daß […] Du das viele Erfreuliche wieder mehr siehst, das Dir Dein berufliches Leben brachte und bringt!!!“ Er werde auch im hohen Alter „erfolgreich weiter arbeiten können – sicher!!! –“ und brauche sich „wirklich kaum Sorgen um den sog. Lebensabend“ zu machen.142 Angelina scheint auch ihren Bruder Wolfgang über Manfreds düstere Stimmung informiert zu haben. Der direkte Kontakt zwischen den beiden Brüdern war anscheinend nur locker, 273

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vielleicht, weil die Vorwürfe, die Wolfgang 1935 gegenüber Manfred wegen des Erbes Willy Waldeckers erhoben hatte, sie einander entfremdet hatten, vielleicht, weil Wolfgang eine Galerie in München eröffnet hatte, zu der auch eine Buchhandlung gehörte, und mit ihr so viel zu tun hatte, dass er kaum zum Schreiben kam. Einen Geburtstagsbrief Manfreds z. B. beantwortete er erst nach einem Jahr.143 Auf die Mitteilung Angelinas reagierte er rascher. Er habe von ihr „mit Bedauern“ erfahren, schrieb er im September 1961 seinem Bruder nach Tokyo, dass dieser mit seinen Erfolgen nicht zufrieden sei. Wirkliches Verständnis für dessen Klagen hatte er freilich nicht. „Ich bin der Ansicht“, schrieb er weiter, „dass man, wenn es einem gelingt, sich ein kleines ‚Reich‘ aufzubauen, schon zufrieden sein kann“. Und dann brüstete er sich mit eigenen Erfolgen. „Viel Ärger und viele Feinde u. Neider“ habe er auch, aber er sehe immer wieder, „dass mein Name und das was ich geleistet habe sich hält und dass ich doch so eine Art ‚Begriff ‘ geworden bin“. In München habe er sich „ganz durchgesetzt“, seine Galerie gehöre „zu denen, die an erster Stelle stehen“. Auch in anderen deutschen Städten und sogar im Ausland habe er „viel Erfolg“.144 Dass er seinen Posten am Linzer Museum verloren hatte wegen zweifelhafter Herkunft vieler Bilder, die er dem Museum vermacht hatte, und wohl auch, weil er seine Funktionen als Museumsdirektor und Händler nicht sauber voneinander getrennt hatte, verschwieg er.145 Weiteren Briefen Wolfgangs an Manfred Gurlitt in dessen Nachlass ist zu entnehmen, dass Wolfgang seinem Bruder helfen wollte, „daß man sich auf Dich und Dein Werk so besinnt, wie Du es verdienst“.146 Er selbst habe zwar keine Verbindung zu Theaterleuten, bei denen er sich für ihn einsetzen könnte.147 Aber er denke darüber nach, in dem Verlag, um den er seine Galerie erweitern wolle, Werke seines Bruders herauszubringen; immerhin habe er schon vor Jahren den Klavierauszug von dessen erster Oper verlegt. Er bat Manfred um eine Liste seiner Werke und um Fotos von ein oder zwei Seiten seiner Notenhandschrift. Denn er überlegte, zu den einzelnen Werken seines Bruders jeweils eine „interessante Graphik“ aus der jeweiligen Notenhandschrift zu schaffen und so „einmal etwas ganz Neuartiges auf diesem Gebiete herauszubringen“.148 Ein Jahr später kam er noch einmal auf dieses Vorhaben zu sprechen.149 Doch er hatte gesundheitliche Probleme und starb ein Dreivierteljahr später im Frühjahr 1965. So scheint das Projekt hinfällig geworden zu sein. In Briefen seiner Witwe an Manfred Gurlitt ist hiervon nicht mehr die Rede. Zu seinen Vettern hatte Manfred „gar keine Verbindung“ mehr.150 Hildebrand, dem er sich freundschaftlich verbunden fühlte, war 1956 bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und sein Kontakt zu dessen Familie scheint danach abgerissen zu sein. Sein Vetter Wilibald, seit 1945 wieder Ordinarius für Musikwissenschaft in Freiburg, war der einzige Angehörige der Gurlitt-Familie, der sich wie Manfred mit Musik beschäftigte. In der ersten Auflage der Musik in Geschichte und Gegenwart schrieb er Artikel über seinen Vater, den Kunsthistoriker Cornelius Gurlitt (1820–90), über sich selbst und über Manfred Gurlitt. Einen Sonderdruck schickte er jedoch nicht diesem, sondern Manfreds Schwester Angelina mit herzlichen Grüßen zu.151 Sie 274

Manfred Gurlitt

scheint ihn an ihren Bruder weitergeleitet zu haben. Für weitere Kontakte zwischen Wilibald und Manfred Gurlitt findet sich in dessen Nachlass kein Beleg. Zu Manfreds Freude nahm Hildebrands Tochter Benita wieder Verbindung zu ihm auf, nachdem sie mit ihrer Mutter nach München umgezogen war. 1962 bat sie eine japanische Kommilitonin, ihrem Onkel in Tokyo mündlich einen „herzlichen Gruß“ sowie einen handgeschriebenen Brief zu überbringen. Sie und ihre Mutter würden sich sehr freuen, schrieb sie darin, mal wieder etwas von ihm und seiner Familie zu hören, und noch mehr, sie wiederzusehen.152 Offenbar freute sie sich aufrichtig, als Manfred Gurlitt antwortete. Denn „ein ‚Onkel in Amerika‘ (früher der Inbegriff des absoluten Weltwunders)“ sei „für einen bundesbürgerlichen Untertan der Westmächte ja gar nichts gegen einen Onkel in Japan – noch dazu so einen, wie der, auf den wir stolz sein dürfen!“ Sie habe, schrieb sie in einem weiteren Brief, seinen Besuch und den seiner „allerliebsten Frau“ 1955 in Düsseldorf in „bester Erinnerung“ und von ihrer japanischen Kommilitonin „allerhand von Deiner und Deinem so reichen, lebhaften und unerschöpflichen musikalischen Taten Ruhm in Tokyo“ erfahren, wovon sie und ihre Mutter „bisher keine Ahnung hatten – leider!“153 Ihre Mutter fühle sich „als neu gebackene Münchenerin strahlend wohl, sie selbst studiere „(noch immer nicht fertig!! – mir mangelts an Ehrgeiz) mit ungetrübtem Vergnügen Kunstgeschichte“ – „eines der Gurlittschen Familienlaster“154 – und schreibe an einer Doktorarbeit. Mit der Familie von Manfreds Bruder Wolfgang hätten sie und ihre Mutter „aus einer unklar überlieferten Familientradition heraus gar keinen Kontakt“, und auch mit Manfreds Schwester Angelina sei der Verkehr „nicht sehr rege“. Benitas Bruder Cornelius, der Sohn Hildebrands und somit in der Familienvorstellung Manfreds Neffe 2. Grades, lebe „als völlig einsiedelnder Maler ganz allein und sehr glücklich zufrieden in Salzburg“. Offenbar reagierte Manfred Gurlitt auf diesen Brief mit „warmherzigem Gedenken“ an Benitas Vater. Benita und ihre Mutter bedankten sich hierfür, weil es „nur wenige Menschen (und noch weniger Verwandte) aus dem großen Freundeskreis“ Hildebrand Gurlitts gebe, die sich „in Gedanken mit uns seines Geburtstages erinnern“. Außerdem sei Manfred Gurlitt, ließ seine Nichte ihn wissen, der einzige Mensch, den sie kenne, der sie „durch eine noch mehr innerliche als äußere Ähnlichkeit“ oft verblüffend an ihren Vater erinnere.155 Von sich aus scheint sich Manfred Gurlitt darum bemüht zu haben, die Korrespondenz mit seiner Cousine Else, für die er schon in den 30er Jahren besonderes Interesse gezeigt hatte, aufrechtzuerhalten. Sie hatte mehrere Jahre in den USA verbracht, lebte aber seit Ende der 50er Jahre mit einer kleinen Tochter, Elizabeth, wieder in Altona. Nachdem er längere Zeit nichts von ihr gehört hatte, schrieb er ihr 1961, er würde sich „herzlich freuen, wenn wir uns wieder naeher kaemen“. Er sei „voller Interesse“ an ihr und ihrer Familie und bat um Fotos, die er auch von seiner kleinen Familie zu schicken versprach. Mit besonderem Stolz berichtete er von seinem mittlerweile 8½-jährigen Sohn Amadeus; er besuche die Deutsche Schule in Tokyo und sei „ein ausserordentlich für Alles interessiertes Kind“.156 Doch das Interesse seiner Nichte an der 275

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Korrespondenz scheint wie früher schwächer als das ihres Onkels gewesen zu sein. Der beklagte sich wiederholt über ausbleibende Antworten, und manchmal fand er sich „in unserer grossen Familie […] nicht zurecht“.157 „Ich bin durch meine so junge Familie ganz mit den Generationen durcheinander“, schrieb er Else 1962. „Deine Mutter ist doch meine Cousine, und ich bin dein Onkel? (oder irre ich?). Dann waerest Du eine Cousine meines Amadeus, und er ein Onkel Deiner Elisabeth?“158 Einmal hatte er auch Elses „Ehe-Namen“ vergessen und adressierte seinen Brief deshalb „mit unserem guten Gurlitt-Namen!!“159 Im Laufe der 1960er Jahre wurden Manfred Gurlitts Kontakte zu Familienangehörigen in Deutschland dünner. Seine Schwester Angelina, zu der er den engsten Kontakt gehabt zu haben scheint, starb 1962, sein Vetter Wilibald 1963, sein Bruder Wolfgang 1965. Briefen, die Manfred Gurlitt mit anderen Verwandten wechselte, ist zu entnehmen, dass er bis Mitte der 60er Jahre hoffte, ein weiteres Mal nach Deutschland reisen und sie treffen zu können. Seine Nichte Benita wollte zusammen mit ihrer Mutter sogar „Onkel und Tante in Salzburg in der Butterfly als stolze Verwandte bewundern“.160Tatsächlich zeigten einzelne Opernintendanten Interesse an Gurlitts Werken, und in der deutschen Öffentlichkeit gab es hier und da Aufrufe zur Wiederaufführung seiner Werke.161 Doch 1965, als Gurlitt seinen 75. Geburtstag beging, wurde nur seine Frau erneut in die Bundesrepublik eingeladen, er selbst nicht. Seine Hoffnung auf ein Wiedersehen mit seinen Verwandten blieb deshalb unerfüllt. Nur einige deutsche Zeitungen erinnerten an ihn.162 Der Bremer Bildungssenator gratulierte und überwies 1000 DM aus dem Etat der Bremer Künstlerförderung. Die Botschaft der Bundesrepublik in Tokyo ehrte Gurlitt mit einem Empfang, bei dem ihm ein Geldgeschenk des Bundespräsidenten überreicht wurde. Der Generalkonsul in Kobe-Osaka schrieb in einem Glückwunschtelegramm, Gurlitt nehme im japanischen Musikleben „einen festen und ehrenvollen Platz“ ein und sei aus der Geschichte der Musik in Japan, insbesondere aus der Geschichte der Oper, „nicht wegzudenken“.163 Indirekt, wenn auch gewiss unbeabsichtigt, bestätigte er hiermit, dass Gurlitt im deutschen Musikleben kaum noch eine Rolle spielte. „Vielleicht erinnert man sich meiner nach meinem Tode“, äußerte dieser resigniert in einem Interview.164 Bis dahin belebte sich das Interesse an seinen Werken nicht wieder.165 Ein Grund hierfür lag sicher darin, dass Gurlitt seit 1939 in Japan lebte und in der westdeutschen und westeuropäischen Szene, in welcher Netzwerke wichtiger geworden waren als vor 1945, nicht persönlich präsent war.166 Ein anderer war, dass sein früherer Verlag, die Universal Edition in Wien, sich nicht mehr für ihn einsetzte. „Ich habe keinen Verleger mehr, sitze mit meinem Lebenswerk, mit meinen Manuskripten ohne die geringste Möglichkeit, dieses Schaffen zu propagieren und zu publizieren“, schrieb er 1958 in dem schon zitierten offenen Brief. Seit 25 Jahren habe sich „niemand mehr darum gekümmert […], was ich schuf “, niemand auch nur Einblick genommen.167 Hieran änderte sich auch in den 60er Jahren nichts.168 Wichtiger für Gurlitts Nichtbeachtung dürfte indessen gewesen sein, dass seine Musiksprache nicht 276

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mehr zeitgemäß war. Einer seiner Fürsprecher bezeichnete Gurlitt als „Komponisten von betont moderner Haltung“ und attestierte ihm einen „aus gesunder Tradition aufbauenden, doch scharf akzentuierten Avantgardismus eigener Prägung“, dazu Eigenständigkeit, Meisterschaft in der Beherrschung des Handwerklichen wie im musikalischen Einfallsreichtum, „mitreißende Rhythmik und gesundes Melos, […] bei aller Modernität sangbare Melodien“ und brillante Instrumentationstechnik. Sein Schaffen sei weder unmodern noch überholt, vermöge vielmehr „vollauf zu bestehen, selbst neben den extremsten ‚Richtungen‘, die sich in der neueren Musik breitgemacht haben“. Die Wiedergewinnung seines Werkes wäre „in mehr als einer Hinsicht ein wesentlicher, ja gar bedeutender Gewinn für die Spielpläne deutscher Opernhäuser und Symphonieorchester“.169 Aber an diesem Punkt schieden sich die Geister. Eine Kritik des WDR hatte 1958 der Nana das zweifelhafte Kompliment gemacht, 25 Jahre zuvor hätte die Oper „sehr wohl gut neben einem Richard Strauß bestehen können“, jetzt nicht mehr.170 Andere Rezensenten warfen Gurlitt Seitenblicke auf Strauß und Puccini vor, wieder andere fühlten sich an Debussy und Mahler erinnert. Manche wollten seine Musik überhaupt „nicht gelten lassen“171; denn sie bewegte sich in der Nähe zum „Tonalen“172. In der zeitgenössischen Musik der Bundesrepublik der 1950er und 60er Jahre aber dominierte die serielle Musik, und ihr galt Tonalität als überholt, die Nähe zu ihr in zeitgenössischen Kompositionen als rückwärtsgewandt, wenn nicht gar reaktionär. Hier stießen zwei unvereinbare Konzepte von Modernität aufeinander. In Gurlitts Nachlass hat sich das Veranstaltungsprogramm der Darmstädter Internationalen Ferienkurse für Neue Musik von 1961 erhalten.173 Es nennt Aufführungen von Berio, Boulez, Cage, Kagel, Nono, Stockhausen, Penderecki, Isan Yun und anderen zeitgenössischen Komponisten und als Repräsentanten der „Neuen Musik vor 50 Jahren“ Berg, Schönberg, Skriabin und Webern; Gurlitt aber kommt nicht vor. Ob diesem das Programm als Beispiel für die zeitgenössische westdeutsche und westeuropäische Musik zugeschickt worden war, ließ sich nicht klären. Sicher ist nur, dass diese Musik ihm fremd und er selbst, eigener Aussage zufolge, „nie einer ‚Gruppe‘ oder ‚Gefolgschaft‘ angehört“ hatte, sondern „immer bewusst ‚eigene‘ Wege gegangen war“, im zeitgenössischen Musikleben ein Fremdling war.174 „Ungluecklicherweise sind alle meine Generation-Kollegen, die frueher meine Opern dirigiert hatten gestorben, und die neue Generation hat neue Interessen“, schrieb er seiner Cousine Else.175 Wie Gurlitt ging es auch anderen Komponisten, die in den 1920er Jahren zur Avantgarde gezählt, sich aber nicht der Zwölftonmusik verschrieben hatten, etwa Janáček, Korngold, Schreker und Zemlinsky. Auch sie hatten in den 1950er und 60er Jahren kaum Chancen auf Wiederentdeckung. Ein Kommentator, der von „mindestens drei Dutzend“ ähnlichen Fällen wusste, gewann aus ihrer Verbannung aus dem damaligen Musikleben den Eindruck, „gewisse deutsche Kulturbosse“ seien dem „dutzendjährigen Reich“ insgeheim dankbar, „denn so habe man sich ein gut Stück Arbeit gespart“.176 277

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Mit welchen Verwandten in Deutschland Gurlitt im Alter noch Kontakt hatte, lässt sich nicht zuverlässig beantworten, denn die Briefe, die sich in seinem Nachlass erhalten haben, sind offensichtlich unvollständig. Sein Vetter Helmut, der mittlerweile in Wien eine Rudolf-Steiner-Schule aufgebaut und mit ihm früher eine „kleine Korrespondenz“ geführt hatte, schrieb ihm 1967, „leider fast ‚unbekannterweise‘“, von einer Zufallsbegegnung mit einem Japaner, der ihm berichtet habe, „daß Du drüben in Japan sehr bekannt seiest, daß Dein Name ‚ganz groß geschrieben‘ würde, daß Du beim ‚emperor‘ Zutritt habest oder sogar ‚aus und eingingest‘, so daß ich sehr stolz auf meinen Herrn Vetter wurde“.177 In der Tat erfreute sich Gurlitt in Japan anhaltend hohen Ansehens.178 Schon 1955 zeichnete ihn das japanische Kaiserhaus mit dem „Orden des Heiligen Schatzes“ aus; 1959 folgte der „Orden der aufgehenden Sonne“.179 In den 60er Jahren scheint Gurlitt gehofft zu haben, in Japan außer als Dirigent auch als Komponist anerkannt zu werden.180 Denn als solcher verstand er sich in erster Linie, und zwar noch immer als „deutscher Musiker“, überzeugt davon, dass die deutsche „heilige Musik immer führend in der Welt war und trotz aller bitteren Erfahrungen der NaziRegierungszeit führend bleiben wird“.181 Nach wie vor sprach er kein Japanisch (mit seiner japanischen Frau verständigte er sich auf Englisch). Doch wie die Hoffnung auf Wiederaufführung seiner Opern in Deutschland blieb auch die auf eine Aufführung in Japan zu seinen Lebzeiten unerfüllt. Bis etwa 1968/69 war er als Dirigent tätig. 1969, mit 79 Jahren, wurde er noch Professor an der Showa-Akademie für Musik in Tokyo.182 Doch in der zweiten Hälfte der 60er Jahre begann seine Sehkraft nachzulassen, so dass er schließlich nicht mehr als Dirigent und Pianist tätig sein konnte. Der japanische Rundfunk überwies ihm jetzt sogenannte Forschungskosten. Ab 1967 gewährte ihm auch der Bundespräsident aus Mitteln der Deutschen Künstlerhilfe eine Beihilfe in Höhe von 2400 DM im Jahr.183 Ob diese Zuwendungen und sonstige Einkünfte ausreichten, ihm einen Lebensabend ohne materielle Sorgen zu ermöglichen, lässt sich aus den in seinem Nachlass erhaltenen Briefen nicht entnehmen. 1972 starb Gurlitt in der japanischen Metropole und wurde hier nach shintoistischem Ritus begraben. In Deutschland blieb sein Tod weithin unbeachtet.184 Erst Jahre später, als die Dominanz der seriellen in der zeitgenössischen Musik sich abschwächte und Komponisten wieder entdeckt wurden, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts andere Wege eingeschlagen hatten als die Zweite Wiener Schule, begannen zaghafte Versuche, Gurlitts Werke dem Vergessen zu entreißen. Sein Wozzeck wurde 1982 in Köln am Klavier vorgestellt, 1985 in Wien konzertant aufgeführt und 1987 in Bremen auf die Bühne gebracht. 1993 war die Oper Gegenstand des Ferenc-Fricsay-Dirigierkurses in Berlin; der Bayerische Rundfunk übertrug die Abschluss-Aufführung. 1995 wurde die Oper unter Leitung von Gerd Albrecht als CD eingespielt, 1997 kam sie in Rouen und Gießen auf die Bühne, 1998 in Florenz und Long Beach, 2000 in Turin, 2007 in Madrid, 2009 beim Luzern-Festival, 2013 278

Manfred Gurlitt

in Darmstadt, 2016 in Bremerhaven. Gurlitts Nordische Ballade, komponiert 1934/44, wurde 2003 in Trier gespielt, Nana 2010 in Erfurt; die Drei politischen Reden waren 2014 in Nürnberg zu hören, die Soldaten 1998 in Trier zu sehen, 2002 in Nantes und 2015 in Osnabrück.185 Wozzeck wurde in Bremen als „beachtliche künstlerische Entdeckung“ und vor allem für kleinere Bühnen als „lohnende Alternative“ zu Alban Bergs Version gefeiert,186 in Darmstadt gar als „Meilenstein des modernen Musiktheaters“.187 Nach der Aufführung der Soldaten in Osnabrück war von einer „Wiederentdeckung“ die Rede und davon, wie „fantastisch“ die Musik sei.188 Doch ob Manfred Gurlitts Wiederentdeckung anhält, ob auch seine Opern Seguidilla Bolero (1934/36) und Warum, später umbenannt in Feliza (1934–45), die noch nirgends aufgeführt wurden, und seine Lieder, Kammermusikkompositionen und Instrumentalkonzerte wieder entdeckt werden oder ob die genannten Wiederaufführungen nur ein Strohfeuer waren, bleibt abzuwarten. Dass die Aufmerksamkeit, die seinen im Kunsthandel tätigen Verwandten zuteil wurde, dazu beiträgt, dass seine Werke wieder mehr Aufmerksamkeit finden, scheint unwahrscheinlich.

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Foto: Bildarchiv Austria WILIBALD GURLITT, Musikwissenschaftler. Geboren 1889 in Dresden als erster Sohn von Cornelius Gurlitt und Marie, geb. Gerlach. 1908 Abitur am Annengymnasium Dresden. 1908– 1914 Studium der Musikwissenschaft, Geschichte und Philosophie in Heidelberg und Leipzig. 1914 Promotion in Leipzig. 1914–1918 Soldat im Weltkrieg, von Herbst 1914 bis Kriegsende nach Verwundung in französischer Kriegsgefangenschaft. 1918 Musiklehrer in Basel. 1918 Heirat mit Gertrud, geb. Darmstädter, vier Kinder. Ab 1919 erst Lektor, dann ao., später o. Professor für Musikwissenschaft in Freiburg. 1937 amtsenthoben aufgrund der NS-Rassengesetze. 1945 Rückkehr auf den Lehrstuhl in Freiburg. 1948–1949 Gastprofessor in Bern. 1959 emeritiert. 1963 gestorben in Freiburg.

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Der Musikwissenschaftler Wilibald Gurlitt Rainer Bayreuther Die Selbstwahrnehmung eines Menschen von seiner Geschichtlichkeit fällt kaum je mit der externen Historikersicht auf dieses menschliche Leben zusammen. Zweifellos ist es eine Historikerunterscheidung, den Werdegang des Musikwissenschaftlers Wilibald Gurlitt in fünf Phasen einzuteilen: die Jahre von Kindheit und Studium 1889 bis 1919, die Jahre als Professor in Freiburg 1919 bis 1933, die ersten Jahre im Nationalsozialismus 1933 bis 1937, die Jahre nach der Amtsenthebung 1937 bis 1945, die Jahre der Rehabilitierung und Emeritierung 1945 bis 1963. Als Abgrenzungskriterium für die Phasen werden also schlichte äußere Umstände gewählt. Manche der Phasenübergänge sind zugleich Zeitpunkte der tektonischen Verschiebungen in Gurlitts Wissenschaft der Musik. Die biographische Phase der Jahre 1919 bis 1933 ist die aus Historikersicht interessanteste. In diesen und nur in diesen Jahren verfolgte Gurlitt den Ansatz, musikalisches Handeln als unmittelbaren Ausdruck und Vollzug von Lebensdynamiken zu begreifen. Historisch ist diese Auffassung deshalb bemerkenswert, weil sie von einem Historiker, der Gurlitt selber einer war, eine besondere Haltung abverlangt. Der Gegenstand der historischen Betrachtung kann dann nur verstanden werden, indem man ihn im eigenen Handeln nachvollzieht. Mit Wissenschaftlertugenden wie Distanz und Skepsis wäre ihm nicht beizukommen. Gurlitt selbst sah in seinem musikgeschichtlichen Denken überhaupt keine Veränderung. Er hätte den Gedanken abgelehnt, dass die schwerwiegenden und existenziellen Veränderungen, die er durchlitt, auf seine Wissenschaft der Musik durchschlügen. Aus der Sicht einer gängigen heutigen Geschichtsschreibung der Disziplin Musikwissenschaft scheint darin ideologische Verblendung zu liegen. Hat sich Gurlitt nicht 1933 den Nazis an den Hals geworfen? Hat er sich nicht geläutert und umgedacht, als er 1937 selbst zum NS-Opfer wurde? Meine Argumentation wird an diesen Stellen Kontinuität herausarbeiten, wo die äußeren Umstände Brüche nahelegen; und sie wird dort Verschiebungen entdecken, wo Gurlitt eher Kontinuität gesehen hätte. Die Inkongruenzen rühren an das Wesen von Gurlitts Musikwissenschaft. Gemäß der besagten Maxime Gurlitts ist Erforschung der Musik musikalisches Handeln und müsste die Lebensdynamiken  – sowohl diejenigen, die in einem Stück alter Musik geschichtlich 281

Rainer Bayreuther

eingeschlossen sind, als auch die gegenwärtigen – in sich einbegreifen. Diese Kontinuität des Dynamischen kann Gurlitt aber nicht durchhalten, teils weil die Dynamik der realen Umstände zu stark ist, teils weil er sein eigenes Konzept nicht radikal genug durchführt.

1889 bis 1919 Als der 30-jährige Wilibald Gurlitt nach dem Weltkrieg 1919 Lektor für Musikwissenschaft an der Universität Freiburg wird, hat er eine klare Vorstellung von seiner Disziplin im Kopf und auf dem Papier. Er gründet ein musikwissenschaftliches Seminar – das heißt, er fasst sein Fach als eine historische Geisteswissenschaft auf, die einen ordentlichen Platz in der Philosophischen Fakultät beanspruchen darf. Dieser Anspruch ist neu. Bis dato war Musikwissenschaft volkspädagogische Flankierung des universitären Musiklebens. Gurlitt beginnt unverzüglich mit dem Bau einer Orgel nach einer historischen Beschreibung des 17. Jahrhunderts. Die Orgel begreift er als Erfahrungsmedium musikgeschichtlicher Sachverhalte; das Hören wird nun die Schlüsselmethodik des musikwissenschaftlichen Arbeitens. (Bis dato war das der Tonsatz: Harmonielehre, Kontrapunkt, Formanalyse.) Er ruft 1920 ein Collegium musicum ins Leben und realisiert damit einen Gedanken, den zeitgleich der Kulturpolitiker Leo Kestenberg noch im Konjunktiv formuliert: „Die Einheit von Wissenschaft und Kunst müßte sich auch an der Universität in Übungen und Seminaren, in studentischen Vereinigungen nach Art der alten Collegia musica und in Studentenchören dokumentieren“.1 Woher der junge und akademisch unerfahrene Gurlitt diese Sicherheit in seinem musikwissenschaftlichen Handeln nimmt, bleibt dunkel. Wir sehen nur die fertige Gestalt. Zweifellos ist der familiäre Hintergrund bedeutsam: Vieles aus der Gedankenwelt der Gurlitt-Familie findet sich auch bei Wilibald. Aber Gurlitt findet zu seiner Grundhaltung nicht, weil sie mit den familiären Überzeugungen koinzidiert, sondern weil er sie seinen historischen Gegenständen für angemessen hält. Einige Familienmitglieder tragen nicht unerheblich bei zur Entstehung der Jugendbewegung, insbesondere die Zwillingsgeschwister von Gurlitts Vater Cornelius, Tante Else (1855–1936) und Onkel Ludwig (1855–1931). Ludwig Gurlitt unterrichtet um die Jahrhundertwende an jener Steglitzer Schule, an der der Gymnasiast Karl Fischer den Wandervogel e.V. gründet. Der aufkommenden Jugendbewegung gibt Ludwig Gurlitt mit seinen provozierenden reformpädagogischen Schriften wichtige Stichworte. Er nimmt jene Pädagogik aufs Korn, mit der die Schullehrer und Kunstprofessoren den Schülern historische Gegenstände eintrichtern: schematisch, schulmeisternd, zum abstrakten Bildungsstück vergegenständlicht, ohne Lebendigkeit – und das heißt, ohne die Lebensdynamik des Gegenstands im eigenen Leben nachzuvollziehen. Diese Pädagogik hält Ludwig Gurlitt nicht nur den Bildungsgegenständen für angemessen, er 282

Wilibald Gurlitt

hält sie auch für deutsch. Deutschtum ist, wie er es in Anlehnung an Paul de Lagarde fasst, nicht ein Bildungsgegenstand neben anderen, es ist in den anderen verborgen. Aus einer anderen Ecke der Familie kommen Vorschläge, welche Art von musikwissenschaftlichen Sätzen daraus folgen könnten. Der Kulturkritiker und Archäologe Julius Langbehn lebt nach Wanderjahren ab 1885 in Dresden, wo er mit der Familie Gurlitt verkehrt und eine Zeitlang mit Ludwig Gurlitts Schwester Else liiert ist. In dieser Phase wendet er sich von der akademischen Gelehrsamkeit ab und öffnet sich völkischen, antiliberalen Gedanken. 1890 bringt er anonym das Buch Rembrandt als Erzieher heraus, das schon nach zwei Jahren in 40. Auflage gedruckt wird.2 „Musik und Ehrlichkeit, Barbarei und Frömmigkeit, Kindersinn und Selbstständigkeit sind hervorragendste Züge des deutschen Charakters“.3 Mit zahlreichen derartigen Behauptungen konstruiert Langbehn eine äußerst wirkmächtige These: Zwischen Musik und Deutschtum bestehe ein ins Wesentliche hinabreichender Zusammenhang. Deutsch sein ist musikalisch sein, musikalisch sein ist deutsch sein. Im Wintersemester 1908/09 nimmt Wilibald Gurlitt das Studium in Heidelberg auf. Bei Hermann Oncken hört er Geschichte. Bei Philipp Wolfrum und Karl Hasse studiert er jene Art von Musikwissenschaft, die bis zum Ersten Weltkrieg an den deutschen Universitäten üblich ist: Der Universitätsmusikdirektor, der den Professorentitel nur ehrenhalber trägt, und sein Assistent Hasse sind gelernte Organisten. Sie sind für das akademische Musikleben zuständig und geben hauptsächlich Orgel- und Musiktheorieunterricht, flankiert von punktuellen historischen Vertiefungen. Philologisch ist diese Art von Musikwissenschaft durchaus auf dem Niveau der sprachlichen Philologien. Sie bearbeitete im 19. Jahrhundert aber ein schmales Gebiet: die Hymnologie. Traditionell diente sie dazu, der kirchlichen Liturgie einen textkritisch zuverlässigen Materialfundus zur Verfügung zu stellen. Wolfrums Stelle an der Universität ist typischerweise bei der Theologischen Fakultät angesiedelt. Über die Vorstellung einer ecclesia aeterna ist der Gedanke einer großen kulturellen Kontinuität über historische Epochengrenzen hinweg in der Musikwissenschaft seit dem frühen 19. Jahrhundert präsent, bisher aber eben beschränkt auf die Hymnologie. Gurlitts stärkster akademischer Eindruck in Heidelberg ist der Philosoph Wilhelm Windelband. Nach nur einem Semester in Heidelberg muss Gurlitt zum 1. April 1909 seinen Militärdienst antreten. Er ist im heimischen Dresden stationiert und nutzt die Gelegenheit, um im Wintersemester 1909/10 an der Technischen Universität zu hören. Er verfolgt eine Serie von Abendvorträgen seines Vaters Cornelius Gurlitt und setzt sich in die Vorlesung des Literaturwissenschaftlers Oskar Walzel, dessen „geisteswissenschaftliche Methode“ Gurlitt in der Vita seiner Doktorarbeit ausdrücklich erwähnt.4 Zum 31.  März 1910 scheidet Gurlitt aus dem Militärdienst aus und setzt im Sommersemester 1910 das Studium in Leipzig fort. Seine akademischen Lehrer sind Hugo Riemann (Musikwissenschaft), Eduard Spranger (Philosophie), Wilhelm Wundt (Physiologie, empirische Psychologie, Philosophie) und Karl Lamprecht (Geschichte). 283

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Wie bringt Wilibald Gurlitt in Leipzig diesen Strom an kulturwissenschaftlichem Denken, der sich aus den Zuflüssen mehrerer akademischer Lehrer aus unterschiedlichen Fächern speist, mit der Musik in Verbindung? Hier kommt die Orgel ins Spiel. Sie beschäftigt den gelernten Geiger Gurlitt nun auch in Leipzig maßgeblich. Gurlitt kommt in Kontakt mit dem Thomasorganisten Karl Straube, einem der führenden Orgelvirtuosen der Zeit. Straube gibt 1904 die Anthologie Alte Meister des Orgelspiels heraus. Die Sammlung deutscher Orgelmusik vor Bach ist ein Dokument der konsequent zeitgenössischen Aufführungspraxis von Barockmusik um 1900. Sie rechnet mit einer großen romantischen Orgel, wie der riesigen Sauer-Orgel in der Thomaskirche von 1889, die 1908 nochmals erweitert wird. Ihre Referenz ist die unendlich abgestufte Dynamik und Agogik der spätromantischen Orchestermusik. Von da her richtet Straube die alten Stücke ein. Im Vorwort der Anthologie sagt Straube denn auch, alte Musik sei nur von der Gegenwart und ihren Ausdrucksmitteln zu fassen. Ausgerechnet diese Edition und ihren Vertreter wird Gurlitt 1943, als die Nazis ihn über den Arierparagraphen aus der Universität vertrieben haben und auch Straube nach anfänglicher Mitläuferschaft auf Distanz zum Regime geht, als den Ausgangspunkt der Orgelbewegung und ihrer Wiederentdeckung eines vorbachischen und spezifisch deutschen Klangbildes bezeichnen: „Wie immer ist die Auslegung und Wiedergabe alter Musik […] an die musikalische Lage der Gegenwart und an deren Ausdrucksmittel gebunden, im ganzen auf diejenige Musik-Wirklichkeit bezogen, die als wahr, lebendig, gültig erfahren wird.“5 Die kulturelle „Geltung“ von Musik muss so freilich in einem doppelten und dialektischen Sinn aufgefasst werden. Werte gelten in ihrer jeweiligen Gegenwart. Dennoch setzt Gurlitt offenkundig eine übergreifende kulturelle Kontinuität voraus, die Menschen in die Lage versetzt, Werte in einer je neuen Gegenwart zu aktualisieren. Das ruft nach einer Geschichtsphilosophie, die eine produktive Spannung von Historie und Gegenwart denkt. Gurlitt erscheint die Orgelbewegung als dialektischer Umschlag innerhalb ein und derselben gegenwärtigen Wirklichkeit, der nur von den Protagonisten in Gang gesetzt werden kann, die an den nervösen Überreizungen und Übertreibungen der Orgelmusik bis zum Ersten Weltkrieg selbst beteiligt waren. Das sind namentlich Straube und Max Reger als Künstler und Gurlitt selbst als wissenschaftlicher Beobachter. Umschlagpunkt ist der Krieg. Aus ihm, so Gurlitt, sind Orgel- und Singbewegung verändert hervorgegangen. Als Theoretiker dieser transformierten Bewegungen benennt Gurlitt die Göttinger Philosophen Herman Nohl und Wilhelm Kamlah.6 Sie seien ein „entschlossener Anlauf zur Wiederherstellung der Rang- und Stufenordnung der musikalischen Werte“.7 Unter dem Eindruck der Praetorius-Orgel in Freiburg und weiterer rekonstruierter Barockorgeln revidiert Straube seine Auffassung der vorbachischen Musik: Sie sei stilistisch und klangstilistisch eigenständig, nicht bloß Übergangsstadium zu Bach hin; ihre gegenwärtige Geltung dürfe nicht durch den dynamischen und agogischen Geschmack der Spätromantik herbeigezaubert werden, sondern müsse sich anderweitig zeigen. Mit diesem Tenor leitet 284

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er seine neue Edition der Alten Meister des Orgelspiels von 1929 ein, unter ausdrücklichem Verweis auf Gurlitts Orgelforschung. Im März 1914 reicht Gurlitt seine Dissertation über Michael Praetorius in Leipzig ein. Sein Doktorvater ist Hugo Riemann; er bewertet die Arbeit mit magna cum laude. Riemann hatte als Erster einen neuen Typus von Musikwissenschaftler beschrieben. Dieser Wissenschaftler ist weder der Musikphilologe noch der ausübende Musiker mit volkspädagogischer Neigung aus dem 19. Jahrhundert, sondern vereint alle diese Aspekte in sich zu einem Geisteswissenschaftler windelbandscher und diltheyscher Art.8 Von vornherein plant Gurlitt, der biographischen Arbeit zu Praetorius eine Fortsetzung zur Stilgeschichte seiner Musik folgen zu lassen. Die als Habilitationsschrift vorgesehene Arbeit wird durch den Krieg vereitelt. Gurlitt meldet sich freiwillig und kämpft an der Marne, wo er bereits am 9. September 1914 am Knie verwundet wird und in französische Kriegsgefangenschaft gerät. Im Juni 1918 wird er in die Schweiz ausgetauscht, wo er im Juli seine Freundin aus Leipziger Studientagen, Gertrud Darmstädter, mit der er sich bereits 1916 verlobt hatte,9 heiratet und in Basel eine Stelle als Musiklehrer an einem Lehrerseminar für kriegsgefangene deutsche Lehrer antritt. Aus der Ehe gehen die vier Kinder Dietrich (1919), Friedemann (1920), Gabriele (1922) und Uta (1928) hervor. Während der Gefangenschaft hat Gurlitt nicht nur an einer Neuauflage von Riemanns MusikLexikon mitgearbeitet, er hat in mehreren Versuchen auch sein Selbstverständnis als geisteswissenschaftlicher Musikforscher schriftlich fixiert. Die Typoskripte bleiben unveröffentlicht,10 aber zeitlebens zehrt Gurlitt von diesen Überlegungen in seinen Vorlesungen zum Stand der Musikwissenschaft, die er in recht kurzen Abständen wiederholt.11 In ihrem Zentrum steht der Begriff des Stils. Hugo Riemann (Kleines Handbuch der Musikgeschichte, 1907) und Guido Adler (Der Stil in der Musik, 1911) haben den Begriff in die Musikwissenschaft eingeführt, nachdem er in der Literaturwissenschaft schon länger verwendet und im Historismus des 19. Jahrhunderts zum Stil eines Volkes (Wilhelm von Humboldt), einer Epoche (Hegel) oder einer Rasse (Nietzsche) verallgemeinert wurde. Diese Arbeiten zum Begriff des Stils, vor allem aber Heinrich Wölfflins Kunstgeschichtliche Grundbegriffe. Das Problem der Stilentwicklung in der neueren Kunst (1915) und Herman Nohls Typische Kunststile in Dichtung und Musik (1915) sind für Gurlitt der Bezugspunkt, als er in der Freiburger Zeit den Begriff des Klangstils entwickelt, den vielleicht zentralen Begriff seines musikalischen Denkens. Vor allem verbindet Gurlitt den Stilbegriff mit dem des Werts, der deutlich Windelbands Wertphilosophie entlehnt ist. Der musikalische Epochenstil ist klanglicher Ausdruck der Werte, die einer jeweiligen kulturgeschichtlichen Epoche zugrunde liegen. Damit ist der sachliche Kern einer geisteswissenschaftlichen Musikforschung fixiert. Er dient der Freiburger Philosophischen Fakultät als Alternative gegen eine Musikwissenschaft alten Typs, als sie 1919 beschließt, ein musikwissenschaftliches Extraordinariat einzurichten.12 Mehrere 285

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Kandidaten werden diskutiert, neben Gurlitt unter anderem der Organist und habilitierte Theologe sowie Doktor der Medizin Albert Schweitzer, aktuell Pfarrvikar in Straßburg und Assistenzarzt am dortigen Krankenhaus, in der Musikwelt bekannt als Orgelvirtuose und Verfasser der populären Bach-Monographie J. S.  Bach, le musicien poète (1905, deutsch J. S.  Bach, 1908). Auch Fritz Stein steht zur Diskussion. Stein kann eine Promotion zum Doktor phil. mit einer musikgeschichtlichen Arbeit vorweisen, ist damals Extraordinarius in Kiel, hat aber daneben ein musikpraktisches Standbein als Organist und wenig später als Generalmusikdirektor der Stadt Kiel. Die dreifache Option lautet damit: Musikalischer Volkspädagoge mit internationaler Orientierung (Schweitzer), praktischer Musiker mit Intendantengestus und historischer Expertise (Stein), reiner Geisteswissenschaftler mit völkischem Fokus und ohne musikpraktische Ambitionen (Gurlitt). Stein zu bekommen macht man sich keine Hoffnung: er werde eine herausgehobene Position im städtischen Musikleben fordern, die man ihm nicht bieten könne. Abgestimmt wird in der Fakultät damit zwischen Gurlitt und Schweitzer. In einem Gutachten für die Fakultät stellt Hugo Riemann die ahistorische, tonmalerisch-symbolische Deutung von Bachs Musik bei Schweitzer der geisteswissenschaftlichen Musikgeschichtsforschung Gurlitts in scharfem Kontrast gegenüber.13 Eine knappe Mehrheit in der Fakultät votiert für Schweitzer. Der sagt nach einer informellen Voranfrage ab. Gurlitt erhält interimistisch ein Lektorat, beginnend zum Wintersemester 1919/20 und auf ein Jahr befristet. Die Fakultät sieht zwei Möglichkeiten, wie es danach weitergehen könnte. Entweder steht dann ein Kandidat vom Typus Schweitzer oder Stein zur Verfügung. Oder Gurlitt nutzt die Zeit, um sich zu habilitieren und auf diesem Weg professorabel zu werden. Gurlitt habilitiert sich und bekommt im Juni 1920 das Extraordinariat. Dekan Ernst Fabricius schreibt am 4. Juni 1920 an den Senat, ihm sei vertraulich Mitteilung gemacht worden, Gurlitt habe einen Ruf auf ein Extraordinariat in Heidelberg erhalten. Er habe sich hier aber bewährt und die Stelle „in der Art einer echten Geisteswissenschaft“ ausgefüllt.14 Daraufhin wird dem mittlerweile habilitierten Gurlitt das Freiburger Extraordinariat übertragen.

1919 bis 1933 Der Erfolg, den Gurlitt in der Philosophischen Fakultät wie auch in der Ausstrahlung auf die gesamte deutsche Musikwissenschaft mit seiner Ausrichtung hat, erklärt sich zum einen damit, dass in Freiburg auch in den Nachbardisziplinen das Konzept der Geisteswissenschaft Einzug gehalten hat: in der Philosophie durch die Prägung Windelbands und Rickerts, in der Kunstgeschichte, in den Philologien. Rasch wird Gurlitt in der Fakultät als gleichrangiger Kollege wahrgenommen. Zum anderen münzt er sein disziplinäres Konzept in eine Reihe von konkreten Projekten um, mit denen er rasch Reputation erlangt. Er gründet gleich nach der Ernennung zum Extraordinarius 1920 das Musikwissenschaftliche Seminar; es erhält eigene Räume neben dem Institut für 286

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Kunstgeschichte und Archäologie. Er baut eine Sammlung historischer Musikinstrumente auf, die bald Arbeitsmaterial im musikwissenschaftlichen Lehrbetrieb werden. Er akquiriert den Nachbau einer historischen Orgel in den Institutsräumen, die sogenannte Praetorius-Orgel. Er gründet ein Collegium musicum, das zur weiter bestehenden Universitätsmusik hinzutritt; es bespielt die alten Instrumente in den Lehrveranstaltungen und macht öffentliche Aufführungen, die aber nicht dem Darbietungscharakter eines Konzerts, sondern dem Versammlungscharakter einer jugendbewegten Singstunde nachgebildet sind. Mit diesen Projekten wird Freiburg binnen kurzer Zeit zur tonangebenden musikwissenschaftlichen Forschungsstätte in Deutschland. Von den Bekanntschaften, die Gurlitt schließt, sei die zu Martin Heidegger herausgehoben. Der Privatdozent Heidegger bekleidet ab 1919 eine Assistentenstelle am Lehrstuhl von Edmund Husserl. Dem gleichaltrigen Professor Gurlitt begegnet er persönlich mit Respekt, fachlich auf Augenhöhe. Für das Wintersemester 1920/21 planen Heidegger und Gurlitt gemeinsam das Kolloquium „Übungen zur phänomenologischen Grundlegung der Musikwissenschaft“.15 Aus bisher nicht bekannten Gründen kommt es nicht zustande und wird auf das kommende Sommersemester verschoben,16 wo es abermals unrealisiert bleibt. Lieber Herr Doktor! Darf ich Ihnen einen Vorschlag machen: unser geplantes gemeinsames Kolloquium für das nächste Semester im Vorlesungsverzeichnis noch unterzubringen etwa in der Form Übungen zur phänomenologischen Grundlegung der GeschiMusikwissenschaft; privatissime, in noch zu bestimmender Zeit. Dr. Gurlitt gemeinsam mit H.[eidegger] Falls Sie damit einverstanden sind, würde ich entsprechend unter „Philos. Seminar“ ankündigen. Ich glaube, wir kämen einem brennenden Wunsch der Studenten entgegen, würden ein Exempel geben für konkrete Zusammenarbeit und – würden selbst wohl am meisten jeder für sich lernen.

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Abb.: Brief von Martin Heidegger an Wilibald Gurlitt, 1. Juli 1920 (DLA Marbach) 288

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Es müßte die Sache allerdings sehr [bald] entschieden werden, da eben die Korrektur des Vorls.verzch. [Vorlesungsverzeichnisses] eingeht. Vielleicht geben Sie mir kurz Nachricht, wenn Sie einverstanden sind; falls Sie die Korrektur erst bekommen, könnten Sie es auch für mich an der entsprechenden Stelle (nach den Seminarankündigungen Husserls, nicht direkt unter mein Descartes Seminar) einordnen. Mit freundlichem Gruß Ihr sehr ergebener Martin Heidegger. 1. Juli 20. Lerchenstr. 8. Herzlichen Glückwunsch zu Ihrem Jungen!17

Weil das fachliche Aufeinandertreffen ausfällt, bleibt auch Heidegger im Unklaren über Gurlitts Position, die seinem radikalen Programm einer Destruktion der Wert- und Kulturphilosophie nicht folgt. Genau beobachtet er Gurlitts Gründung eines Collegium musicum im Januar 1920. Gurlitt kennt das Veranstaltungsformat aus Riemanns Leipziger Institut, wo er es teilweise selber mitbetreut hat. Dort hatte es noch weitgehend den Charakter eines gewöhnlichen Studentenchores. Nun steht Gurlitt die Aufgabe eines Collegium musicum viel klarer vor Augen: Es ist das Mittel, das die Studenten in die innere Lebendigkeit von Musik involviert. Das geschieht dadurch, dass man Musik selber macht, anstatt sie nur passiv zu hören. So veranstaltet das Freiburger Collegium zwar immer wieder öffentliche Aufführungen. Die Form gewöhnlicher Konzerte vermeidet man aber. Analog zur Musizierpraxis in der Jugendbewegung soll nicht zwischen aktiven Musikern und passivem Publikum getrennt werden. Gurlitt meidet denn auch das Repertoire, das in den jugendbewegten Musikkreisen nach dem Weltkrieg abschätzig „Konzertsaalmusik“18 oder – entsprechend dem südeuropäischen „Darbietungsmenschen“ in der späteren Rassenkunde19 – „Darbietungsmusik“20 genannt wird. Stattdessen wählt er das Repertoire des 13. bis 17. Jahrhunderts, das sich auszeichnet durch „strengste Bindung und Einordnung jeder Lebenserscheinung in einen sinnvollen Zusammenhang“, wie sein Doktorand Heinrich Besseler anlässlich einer Aufführung in Karlsruhe das Kriterium der intrinsischen Lebendigkeit erläutert.21 Nie bleibt das für Gurlitt eine bloß soziale Funktionsbestimmung der Musik, stets muss es sich in ihrem Klangstil niederschlagen: Am Klangstil entscheidet sich, ob der Hörer „sich seiner bloßen Zuhörerrolle […] begeben und die Kluft zwischen ‚mitsingender‘ und ‚zuhörender‘ Haltung vermittels eines Bei-sich-selbst-Singens […] überbrücken“ kann, wie Gurlitt die deutsche Orgelmusik des 17. Jahrhunderts charakterisiert.22 Für Heidegger ist diese Konzeption des Collegium musicum überaus attraktiv. Aus einer Postkarte an Gurlitt vom Herbst 1920 geht hervor, dass Heidegger an den Collegia immer wieder 289

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selbst teilnimmt, die darin gemachten Erfahrungen und Erkenntnisse gern gemeinsam mit Gurlitt diskutieren möchte und es bedauert, dass Gurlitt anschließend „immer nur kurz zu haben“ sei.23 Nicht nur weil das, „was an der Univ. Farbe hat,“ sich im Collegium trifft,24 ist Gurlitt in dieser Zeit für Heidegger ein gesuchter Gesprächspartner, sondern auch wegen Gurlitts Kontakt zu dem Dilthey-Schüler Herman Nohl (1879–1960). Der Göttinger Extraordinarius übernimmt zum Wintersemester 1922/23 eine neu geschaffene Professur für Philosophie. Sein Kollege Georg Misch, auch er Dilthey-Schüler, zudem Dilthey-Herausgeber und Diltheys Schwiegersohn, hätte gern Heidegger als Nachfolger auf dem Extraordinariat und wendet sich in dieser Angelegenheit im Sommersemester 1922 an Husserl.25 Husserl soll Heidegger das Interesse aus Göttingen übermitteln und Heidegger, der bisher so gut wie nichts publiziert hat, zu einem schriftlichen Exposé seiner phänomenologischen Forschung bewegen. Das bringt Heidegger in Verlegenheit. In kurzer Zeit kompiliert er aus seinen Manuskripten den Text „Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles (Anzeige der hermeneutischen Situation)“, der als sog. Natorp-Bericht Berühmtheit erlangen wird.26 Es ist nicht bekannt, ob der Text nach Göttingen geschickt wurde, Heidegger hoffte jedenfalls auf Gurlitts Fürsprache. Wir wissen bislang auch nicht, wie die persönliche Beziehung zwischen Gurlitt und Nohl zustande gekommen ist. Möglicherweise wurde sie vermittelt durch Ludwig Gurlitt, mit dem Nohl bekannt ist und den er häufig zitiert. Belegt ist, dass Gurlitt sich mit Nohls Überlegungen in der Kriegsgefangenschaft auseinandersetzt und mit ihm ab 1919 einen regen Briefwechsel führt.27 Leider wird die in Rede stehende Berufung Heideggers nach Göttingen in den erhaltenen Briefen so gut wie nicht thematisiert.28 Wir wissen auch nicht, ob sich Gurlitt tatsächlich für Heidegger verwendet. Jedenfalls wird Heidegger nicht nach Göttingen berufen, sondern 1923 nach Marburg. Heidegger erfährt, wenn nicht aus Gurlitts eigenem Mund, so doch aus der Fakultät, von Gurlitts Absichten, im Musikwissenschaftlichen Seminar eine Forschungsorgel nach den Angaben in Michael Praetorius’ De organographia (1619) zu errichten. Vor dem Hintergrund der konfessionsgebundenen Kirchenmusikforschung des 19. Jahrhunderts29 ist es ein spektakulärer geisteswissenschaftlicher Neuansatz, die geistliche Musik des 16. und 17. Jahrhunderts auf ihre „Klangstile“ hin zu untersuchen und in den „Klangtypen“ von Instrumenten, typischen Besetzungen und Satztechniken die kulturellen Fundamente zu rekonstruieren, von denen religiöse Praktiken und Theologien nur eine von vielen möglichen Ausdrucksformen sind. „Klangstil“ und „Klangtypus“ sind die Begriffe, die Gurlitt in seinem Vortrag auf der Freiburger Orgeltagung 1926 vor der mehr oder weniger vollständig versammelten deutschen Musikwissenschaft und hunderten von Kirchenmusikern exponiert. Sie charakterisieren Gurlitts Auffassung von Musikwissenschaft auf ’s Genaueste. Vom „Standpunkte einer geistesgeschichtlich orientierten Musikwissenschaft“ soll eine „Erfassung der historischen Klangstile, die als Ausdruck individuell, zeitlich und national

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begrenzten geschichtlichen Lebens zu verstehen“ sind, erfolgen, auch „Klangtypen“ genannt.30 Konkret sieht das so aus: Dieses höchst eigentliche Klangreich des barocken Bläserinstrumentariums, jener barocken Posaunen und Trompeten, Block- und Querflöten, Zinken, Pommern, Schalmeien, Krummhörnern, Dulziane, Sordunen, Rauschpfeifen, Rankette und wie sie alle heißen, ist ursprünglich als restlos angemessener und in jeder Hinsicht vollkommen durchgestalteter Ausdruck dessen zu betrachten, was jene Zeit musikalisch-klanglich wollte. […] Um nur ein Beispiel zu nennen, sei auf jene für die musikalische Klanganschauung und den bautechnischen Erfindungsgeist äußerst charakteristischen und in ihrer Zweckbestimmung so sinnreichen Anblasevorrichtungen der Blasinstrumente hingewiesen, auf die Lippenstütze der Schalmei (später Oboe), den Verschlußkern der Blockflöte, die Windkapsel des Krummhorns  – Vorrichtungen, die sämtlich im Sinne des Windbalgs der Sackpfeife (Dudelsack) bewirken, das Instrument ohne Atemunterbrechung mit Wind zu speisen, seinen ‚dudelnden‘ Ton ohne unmittelbares Zutun des Bläsers in gleichmäßig strömende Bewegung zu versetzen, ihm jede Artikulationsmöglichkeit und dynamische Färbung fernzuhalten. Dem Barockbläser kam es darauf an, das Klangwesen seines Instruments der Trieb, Begierde- und Affektbeeinflussung, jeder gesangsmäßigen Beseelungs- und Einfühlungsmöglichkeit zu entziehen, es auf den Weg vom Menschen weg zu bringen, es von jeder Art ichbezogener Lebensverflechtung zu reinigen, es gleichsam zu entpersönlichen.31

Als Gurlitt 1926 seine geisteswissenschaftliche Reformulierung dessen vorstellt, was bis dato Kirchenmusikforschung war, ist Heidegger in Marburg. Als Heidegger 1928 nach Freiburg zurückberufen wird, ist das öffentliche Interesse an der Praetorius-Orgel erlahmt. Dennoch behält Gurlitt seine Positionen bei. Ab 1933 wird er lediglich einen Punkt etwas akzentuieren, der im Konzept der transzendentalen Geisteswissenschaften schon immer angelegt war: den des Volks. Heidegger ist es nun, der in Freiburg mit Sein und Zeit (1927) das Interesse auf sich zieht.

1933 bis 1937 Zwischen April 1933 und September 1937 findet der große äußere Umbruch im Werdegang Gurlitts statt. Am 30. Januar 1933 ernennt Hindenburg Adolf Hitler zum deutschen Reichskanzler. In Freiburg verfolgt Heidegger, der wenige Monate später quasi über Nacht eine wichtige Figur im NS-Staat werden wird, die Dinge interessiert von den Schwarzwaldhöhen herab. Er hat im Winter 1932/33 Freisemester, das er weitgehend auf seiner Hütte in Todtnauberg verbringt. 291

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Als die Philosophische Fakultät der Universität Freiburg am 20. Dezember 1932 Wilibald Gurlitt zum Dekan wählt, kommt er eigens in die Stadt herunter und nimmt an der Sitzung teil.32 Gurlitt tritt sein Amt sofort an. Kurz zuvor war der Mediziner Wilhelm von Moellendorff (1887–1944), politisch ein Sozialdemokrat, zum neuen Rektor gewählt worden. Sein Amt soll er zum Sommersemester 1933 antreten. Als das Sommersemester beginnt, wird im Reich Ernst gemacht mit Rassenpolitik und Führerprinzip. Der badische Reichskommissar Robert Wagner (1895–1946) gibt am 5.  April 1933 mündlich die Verordnung A 7642 heraus, nach der alle nichtarischen Beamten zu beurlauben sind. Die Verordnung ist vorauseilender Gehorsam gegenüber dem reichsweit erst zwei Tage später erlassenen Gesetz zur sogenannten Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Es hebelt das Berufsbeamtentum durch einen vorgeschalteten Arierparagraphen aus. Das Gesetz wird an der Universität Freiburg zunächst nicht richtig ernst genommen. Viele glauben, die Umsetzung könne hinausgezögert werden. Gurlitt gerät in zweifacher Hinsicht ins Visier der rassistischen Säuberungen. Zum einen ist er ‚jüdisch versippt‘, weil verheiratet mit der (als Kind getauften) Volljüdin Gertrud, geborene Darmstädter. Zum anderen ist sein Arierstatus fragil. Seine Großmutter väterlicherseits, Elisabeth Lewald, die Frau des Landschaftsmalers Louis Gurlitt, ist Jüdin. Er gilt damit als „Mischling 2. Grades“ oder „Vierteljude“. (Eine spätere Erklärung Gurlitts zu seiner Abstammung vom 31. Januar 1936 versucht das zu verschleiern.33) Als „Vierteljude“ fällt er unter den Beamtenerlass. Zunächst scheint er darauf zu hoffen, dass seine jüdische Abstammung nicht bemerkt wird. Im Laufe des Sommersemesters dringen entsprechende Gerüchte zum badischen Kultusministerium. Dort erkundigt man sich beim Reichsinnenministerium, das den „Vierteljuden“-Status bestätigt, aber auf Gurlitts Frontkämpferprivileg hinweist, das er in der Schlacht an der Marne erworben hat.34 Damit ist ein Ausnahmetatbestand im Beamtenerlass erfüllt und eine Entlassung Gurlitts vorläufig vom Tisch. Wie sicher sich Gurlitt in dieser Zeit fühlt, ist schwer zu sagen. Der Druck der rechten Studentenschaft auf jüdische Professoren oder auf diejenigen, die sich einem Eintritt in die Partei verweigern  – was Gurlitt aufgrund seiner jüdischen Ehefrau nicht möglich wäre  –, ist jedenfalls beträchtlich. Seiner Sympathie für das neue Regime und insgesamt für die völkische Bewegung tut das ebensowenig Abbruch wie dem Wohlwollen, das sein „halbjüdischer“ Vater Hitler entgegenbringt. Die Gleichschaltung an der Universität vollzieht sich schneller als gedacht. Der Altphilologe Wolfgang Schadewaldt (1900–1974) und der frisch berufene Kunsthistoriker Kurt Bauch (1897–1975) intervenieren beim badischen Kultusminister Otto Wacker und beim bald aus dem Amt scheidenden Rektor Josef Sauer, Moellendorff an der Spitze der Universität durch Heidegger zu ersetzen. Moellendorff tritt das Rektorenamt wie geplant am Samstag, den 15. April 1933 an. Am Donnerstag 20.  April 1933 bereits hält er dem öffentlichen Druck, der durch Zeitungsartikel entstanden ist, wie auch dem internen aus der Universität, besonders 292

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durch Schadewaldt und Bauch aus der Philosophischen Fakultät, nicht mehr stand und tritt zurück.35 Zwischen diesen beiden Daten geht Heidegger von seinem Haus im Rötebuckweg hinüber in die Burgunderstraße und läutet bei Gurlitt. Die Familien kennen sich gut, man lädt sich oft privat gegenseitig ein, die Frauen halten Kaffeekränzchen. Diesmal geht es ums Ganze. Heidegger versucht, Gurlitt zum Rücktritt vom Dekansamt zu bewegen. Den genauen Tag wissen wir nicht. Er kann aber nicht vor dem Zeitpunkt liegen, an dem sich klar abzeichnet, dass Moellendorff zurücktritt und Heidegger sich zur Wahl stellt. Das ist Dienstag, der 18. April 1933. Gurlitt ist empört und lehnt ab.36 Heidegger weiß über Gurlitts Wohlwollen gegenüber der völkischen Bewegung Bescheid. Warum dann dieses Ansinnen? Heidegger kann sich keineswegs sicher sein, damit durchzukommen. Dass die Rektoren nach dem Führerprinzip Dekane ein- und absetzen können, wird erst mit der revidierten Badischen Hochschulverfassung vom 21.  August 1933 möglich, die mindestens Heideggers große Sympathie hat.37 Ihm muss klar sein, dass er die Freundschaft mit Gurlitt aufs Spiel setzt und Teile der Fakultät, die zu Gurlitt loyal sind, gegen sich aufbringt. Heidegger opfert offenkundig den Gefolgsmann, der Gurlitt für seine Vision einer Universität nach den Maßstäben der Rektoratsrede sein könnte, für andere Zwecke. Er kann sich sicher sein, dass der glühende Antisemit Robert Wagner auf dem Dekansstuhl nicht gern einen Juden sieht, der nur durch eine Ausnahmeregelung den Säuberungen entkam. Aber der Erlass vom 6. April bezieht sich ausdrücklich nur auf den Senat. Die Fakultäten schlagen Fakultätssenatoren vor, die sich zur Wahl stellen, und das ist üblicherweise nicht der Dekan. Gurlitt ist also kein Senatsmitglied und würde es gerade im Dekansamt bei einer Neuwahl des Senats auch nicht werden. Und dennoch drängt Heidegger auf Rücktritt. Am 20. April 1933, einem Donnerstag, beruft der Senat der Universität eine außerordentliche Sitzung ein. Moellendorff tritt vom Rektorat zurück. Direkt danach schickt er eine eilige Einladung an die Professorenschaft für den nächsten Tag heraus.38 In einer Plenarversammlung sollen Rektor und Senat neu gewählt werden. Der Termin kommt äußerst kurzfristig. Einige schriftliche Absagen gehen im Rektorat ein, einige Professoren fehlen unentschuldigt. 13 entlassene jüdische Professoren sind gar nicht mehr eingeladen worden. Insgesamt 56 Professoren sind anwesend, darunter Gurlitt; die Zahl erreicht gerade noch das Zweidrittelquorum zur Wahlfähigkeit. Moellendorff eröffnet die Sitzung um 17.15  Uhr und schlägt Heidegger als einzigen Kandidaten für das Rektorenamt vor. Als Senator aus der Philosophischen Fakultät wird Schadewaldt aufgestellt. Daraufhin unterbricht Moellendorff die Sitzung zur Beratung in den Fakultäten. Im Protokollbuch der Philosophischen Fakultät ist diese Zusammenkunft als ordentliche Sitzung des Fakultätsrats vermerkt, Beginn 17.45  Uhr. Alle Professoren der Fakultät sind anwesend – außer Gurlitt, der gerade eben noch auf der Plenarversammlung war. Der Abwesende „stellt der Fakultät unter dem Hinweis auf die Gleichschaltung sein Amt zur Verfügung und bittet um Neuwahl, die auf die nächste Sitzung vertagt wird“.39 Kommissarischer 293

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Sprecher der Fakultät wird Schadewaldt. Wer den Rücktritt Gurlitts mitteilt und ob die Mitteilung zu diesem Zeitpunkt von Gurlitt überhaupt autorisiert ist, bleibt offen. Die Genehmigung des Sitzungsprotokolls von Gurlitts Hand muss von einem späteren Zeitpunkt datieren. Eine Aussprache über die Wahl von Rektor und Senat findet, folgt man dem Protokoll, gar nicht statt. Um 18.25 Uhr wird die Plenarversammlung fortgesetzt – und nun ist Gurlitt wieder dabei. Heidegger wird geheim mit 52 Stimmen gewählt. Dem stehen 3 leere Wahlzettel und eine Stimme für Moellendorff gegenüber. Am Samstag, den 27.  Mai 1933, wird Heidegger feierlich ins Rektorenamt eingeführt. Ein Jahr zuvor bereits hatte Gurlitt bei der Amtseinführung von Rektor Joseph Sauer das Musikprogramm geleitet und mit dem Städtischen Orchester die Suite (im alten Styl) op. 93 von Max Reger gespielt. Nun wird er wieder angefragt und studiert mit dem Orchester, bei dem er sich eine größere Besetzung zu höheren Kosten ausbedingt, Johannes Brahms’ Akademische Fest-Ouvertüre op. 80 und Richard Wagners Huldigungsmarsch ein.40 Die beiden Stücke erklingen am Anfang bzw. am Ende der großen Veranstaltung in der Aula, bei der politische und wissenschaftliche Prominenz anwesend ist und die gesamte Studentenschaft mobilisiert wird, die dem Geschehen per Lautsprecherübertragung teilweise in einem benachbarten Hörsaal folgt. Wie denkt Gurlitt 1933 Musikgeschichte? Programmatisch ist der kurze Aufsatz „Vom Deutschtum in der Musik“. Gurlitt lässt ihn im Herbst 1933 in drei verschiedenen Zeitschriften gleichzeitig erscheinen.41 (Siehe den vollständigen Aufsatz im Anhang.) Was der Führer von den Volksgenossen fordere, „Selbsterziehung zum Deutschtum“, sei auch von den Musikschaffenden verlangt. Die deutsche Musik könne nicht unabhängig von Volk und Staat gedacht werden. Besonders die Geschichte der deutschen Musik in ihren Meisterwerken, aber auch in ihrem Entwicklungsgang sei mit der Geschichte des deutschen Volkes verknüpft. Die Beziehung will Gurlitt aber wechselseitig verstanden wissen: Volkliches und staatliches Handeln ist auch von musikalischen Gründen bzw. Intentionen bestimmt. Diese Verflechtung setzt er einer „liberalistischen“ Musikauffassung entgegen. Liberalistisch wäre ein musikalisches Handeln, das rein individuellen oder rein ästhetischen Gründen folgte; es wäre „frei“ von der Verpflichtung auf Belange des Gemeinwohls. Das steht im Einklang mit der nationalsozialistischen Bewegung, aber auch der Sing- und Kirchenmusikbewegung schon weit vor 1933. In dieser Bewegung ist Gurlitts Auffassung letztlich biographisch fundiert. So wie der regimefreundliche „Deutschtum“-Aufsatz keine Umorientierung in Gurlitts musikwissenschaftlichem Handeln darstellt, so führt auch der Verlust des Dekansamts zu keiner Umorientierung. Im weiteren Verlauf des Wagnerjahres 1933 hält Gurlitt mehrere enthusiastische Reden bei Wagnerfeiern und lässt sie anschließend in der Lokalpresse erscheinen.42 Seine Vorlesungsthemen aus den 1920er Jahren wiederholt er mit minimalen Veränderungen im Titel alle paar Semester: Neben den erwähnten Vorlesungen zur Musikwissenschaft als 294

Wilibald Gurlitt

Geisteswissenschaft behandelt er das deutsche Lied vom 14. bis zum frühen 16. Jahrhundert, die Musik der Reformationszeit, die Themen Orgelmusik und Bach. Regelmäßig wird er für das Studium Generale angefragt. Welches Profil diese Vorlesungsreihe für Hörer aller Fakultäten hat, sei exemplarisch am Sommersemester 1936 gezeigt. Gurlitt geht, entgegen seiner Gewohnheit, ein neues Thema an, das so auch danach nicht mehr auftauchen wird: „Richard Wagner und Johannes Brahms“.43 In seinem „Antrag auf Wiedergutmachung“ von 1950 wird Gurlitt behaupten, seitens der Partei sei ihm „Rede- und Schriftverbot“ auferlegt worden.44 Tatsache ist, dass Gurlitt im Jahr 1936 einige Anträge auf Reisen zu musikwissenschaftlichen Kongressen in Barcelona, Basel und Zürich abgelehnt werden.45 1937 wird ihm eine Forschungsreise nach Dänemark verwehrt, wobei das Ministerium bemerkt, der bereits amtsenthobene Gurlitt sei gar nicht berechtigt, einen solchen Antrag zu stellen. Auftrittsverbote in Deutschland oder Einschränkungen beim Publizieren konnten bisher nicht nachgewiesen werden. Gurlitt kann an durchaus prominenten Stellen veröffentlichen und fühlt sich sogar berufen, im Aufsatz „Der gegenwärtige Stand der deutschen Musikwissenschaft. Zu ihrem Schrifttum der letzten 10 Jahre“ das Fazit über die deutsche Musikforschung der 1930er Jahre zu ziehen. Der Aufsatz erscheint 1939 unter der Herausgeberschaft von Paul Kluckhohn und Erich Rothacker in der Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte.46

1937 bis 194547 Gurlitt ist durch den § 3 Abs. 2 des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, das sogenannten Frontkämpferprivileg, nur für kurze Zeit aus der Schusslinie der rassistischen Säuberungen. Zwischen 1934 und 1937 erzwingt das Badische Kultusministerium alle paar Monate eine erneute Überprüfung der beamteten Universitätsmitglieder, und jedesmal werden die Bedingungen verschärft.48 Für die bereits bestehenden Beamtenverhältnisse spielt die jüdische Versippung zunächst keine Rolle, für neue Verbeamtungen ist sie bereits 1934 ein Ausschlusskriterium: Der jüdisch verheiratete Gurlitt wäre 1934 allein deshalb nicht mehr berufen worden. Im Oktober 1935 fordert das Kultusministerium die Universität auf, alle Beamten sofort zu entlassen, die von mindestens drei jüdischen Großeltern abstammen: Gurlitt hat ein jüdisches Großelternteil. Im Dezember 1935 fordert das Kultusminsterium von der Universität eine genaue Aufstellung aller nichtbeamteten Angestellten, die ein jüdisches Großelternteil haben. Gurlitt verfasst am 31. Januar 1936 eine weitschweifige Erklärung,49 wie urdeutsch seine gesamten Vorfahren gedacht hätten, ja, dass sogar „der bedeutende Antisemit seiner Zeit“, Friedrich Hebbel, seinem Großvater Louis Gurlitt zur Eheschließung mit Elisabeth, geb. Lewald, 1847 gratuliert habe. Das ist Louis Gurlitts dritte Ehe. Elisabeths jüdischen Vater David Lewald 295

Rainer Bayreuther

gibt Gurlitt an. Über ihre jüdische Mutter schweigen sich Gurlitts Angaben aus. Gurlitt versucht offenkundig zu verschleiern, dass seine Großmutter Elisabeth eine „Volljüdin“ und er selbst damit „Vierteljude“ ist. Im Mai 1936 jedenfalls zeigt das Rektorat den Behörden durch einen ausgefüllten Fragebogen Gurlitts jüdische Großmutter väterlicherseits unmissverständlich an. Im Januar 1937 listet das Rektorat für seine eigenen Personalakten detailliert die „deutschblütige Abstammung der Ehefrauen der Beamten“ auf; Gurlitt steht nicht auf der Liste. Am 5. Mai 1937, als das Berufsbeamtengesetz um das Kriterium der jüdischen Versippung verschärft worden ist, verlangt Regierungsrat Bauer im Reichserziehungsministerium vom amtierenden Rektor Friedrich Metz (1936–1938) eine Stellungnahme zu den betreffenden Professoren. Es sind nur noch sehr wenige, unter anderem Gurlitt. Metz rechtfertigt den Verbleib des Biologen Friedrich Oehlkers, ebenfalls jüdisch verheiratet. Im Fall Gurlitt sagt Metz, auch er halte Gurlitt „für Freiburg auf die Dauer nicht tragbar“. Die Argumentation ist bemerkenswert, denn sie geht auf das im Raum stehende Thema ‚Jüdische Versippung‘ gar nicht ein. Metz führt nämlich an, er habe schon vor einiger Zeit einen Antrag gestellt, Gurlitt an die Universität Jena und damit in eine protestantische Umgebung zu versetzen, wo er als Fachmann für evangelische Kirchenmusik und Orgelbau besser hinpasse. Er hält „die Möglichkeit einer weiteren Betätigung außerhalb Freiburgs“ „für wünschenswert“. Viel besser für die Grenzlanduniversität Freiburg geeignet sei „durch seine Abstammung und Fachrichtung“ Josef Müller-Blattau (1895–1976). Der in Colmar geborener Elsässer hat mittlerweile eine Professur in Frankfurt a. M. inne. Damit, dass Gurlitt hier wie dort nicht mehr dem Beamtengesetz entspricht, hat Metz offenkundig kein Problem, selbst gegenüber dem Ministerium nicht  – anders übrigens als Müller-Blattau, der im Oktober 1936, als er mit Metz die Möglichkeiten einer Berufung nach Freiburg sondierte, von Versetzungen Gurlitts auf eine andere Professur abgeraten und vorgeschlagen hat, Gurlitt zum Ausgleich einen freien Forschungsauftrag für evangelische Kirchenmusik zu verschaffen.50 Metz fährt fort, ihm sei das öffentliche Auftreten Gurlitts, das erst kürzlich bei der Einweihung der neuen Universitätsorgel unumgänglich gewesen sei, unangenehm; „so wie die Dinge liegen, kann Professor Gurlitt bei allen offiziellen Veranstaltungen der Universität und auch der Stadt Freiburg nicht herausgestellt werden“. Da sein Vorschlag der Versetzung nicht aufgegriffen wird, sieht er keine andere Möglichkeit als die Entlassung. Gurlitt wird mit Beginn des Wintersemesters 1937/38 beurlaubt. Er erhält 75 % seines ruhe­ standsfähigen Gehalts, knapp über 500 Reichsmark.51 Weitere finanzielle Einbußen sind die entfallenden Kolleggelder und Prüfungsgebühren.52 Im Kaiserreich betrug dieser von den Studierendenzahlen abhängige Einkommensbestandteil bis zu 50  % des Professorengehalts, danach sinkt er kontinuierlich bis auf marginale einstellige Prozentpunkte. Gurlitt versucht in zahlreichen Eingaben53 vergeblich, unter Hinweis auf seine Kinder in Ausbildung, die Summe aufzubessern. Gurlitts Tochter Uta Werner erinnert sich an diesen Schwund im Familienbudget folgendermaßen: „Mein Vater musste seine kostbare Sammlung musikwissenschaftlicher 296

Wilibald Gurlitt

Bücher verkaufen, weil die Nazis ihn aus der Universität geworfen hatten und er seine Familie nicht mehr versorgen konnte. Ich wurde die letzten Kriegsmonate vor der Gestapo versteckt, weil meine Mutter Jüdin war.“54 Die Kriegsjahre verbringt Gurlitt zurückgezogen in Freiburg. Die Burgunderstraße im Stadtteil Herdern, wo er weiterhin ein Haus bewohnt, das Eigentum der Universität ist, bleibt von dem verheerenden alliierten Bombenangriff auf die Stadt am 27. November 1944 verschont. Welche konkreten Ereignisse hinter der Aussage stecken, Gurlitt werde von der Gestapo überwacht, seinen Kindern der Schulbesuch verweigert55 und Tochter Uta vor der Gestapo versteckt gehalten,56 ist noch nicht erforscht. Gurlitt gibt 1945 gegenüber dem badischen Kultusministerium an, seine Kinder seien „dauernd von der Gestapo überwacht, bedroht und verfolgt“ und „seine jüngere Tochter [Uta] aus der Schule ausgestoßen worden“.57 Fakt ist, auch nach der Amtsenthebung Gurlitts studiert sein Sohn Dietrich, Jahrgang 1919, unbehelligt an der Freiburger Universität. Auf Anraten des Vaters hört er bei Heidegger. Dem ein Jahr jüngeren Sohn Friedemann hingegen wird die Immatrikulation verweigert. Nach seiner Amtsenthebung eröffnen sich Gurlitt neue Kreise. 1933 sprach sich Gurlitt mit seiner Unterschrift unter die „Erklärung“ führender evangelischer Kirchenmusiker und Kirchenmusikforscher noch für eine völkische Ausrichtung der evangelischen Theologie aus, die der Jungreformatorischen Bewegung nahesteht, sich also im Kirchenkampf gegen die Partei der Bekennenden Kirche absetzte.58 Bis 1937 und darüber hinaus revidiert er diese Position in seinen Schriften nicht. Und dennoch findet er jetzt den Weg in die Christusgemeinde im Stadtteil Wiehre, dem Zentrum der Bekennenden Kirche in Freiburg. Gurlitt steht allerdings eher am Rand des kleinen, konspirativen Zirkels um Gerhard Ritter und die Wirtschaftswissenschaftler Walter Eucken, Adolf Lampe und Constantin von Dietze, inspiriert und geführt von dem Theologen Dietrich Bonhoeffer aus Berlin  – jenes Kreises, der ab 1942 geheime Papiere zu einer deutschen Sozialstaatlichkeit nach Hitler erarbeitet und teilweise auch in die Umsturzpläne des 20. Juli 1944 eingeweiht ist.59 Während Ritter und von Dietze von der Gestapo verhaftet werden und nur knapp mit dem Leben davonkommen, bleibt Gurlitt unbehelligt.

1945 bis 1963 Müller-Blattau nimmt bereits 1941 einen Ruf nach Straßburg an. Bis Kriegsende ist der Freiburger Lehrstuhl nur kurzzeitig regulär besetzt und wird ansonsten vertreten oder ist vakant. Die französische Besatzungsregierung holt Gurlitt gleich zum Wintersemester 1945/46 auf den Lehrstuhl zurück. Mit einer Lücke im Sommersemester 1948 und Wintersemester 1948/49, als er eine Gastprofessur in Bern wahrnimmt, lehrt er durchgehend bis zu seiner Emeritierung 297

Rainer Bayreuther

1959 am Musikwissenschaftlichen Seminar. Sein Grundgehalt von jährlich 11 100 RM zuzüglich 1500 RM Unterrichtsgeld kann er durch Rufe nach Marburg, Leipzig, Frankfurt a. M. und Göttingen hochverhandeln. 1953 verleiht ihm die Universität Leipzig, die den musikwissenschaftlichen Lehrstuhl mittlerweile mit seinem Schüler Heinrich Besseler (1900–1969) besetzt hat, eine theologische Ehrendoktorwürde. Was allerdings bei der Bombardierung Freiburgs am 27. November 1944 zerstört wird, sind die Seminarräume in der Alten Universität  – und mit ihnen die Praetoriusorgel. Nach dem Krieg findet das Seminar im wiederaufgebauten Kollegiengebäude I einen neuen Ort, Wand an Wand mit der Aula. In der Aula wird die Praetorius-Orgel 1954–55, wiederum ausgeführt von der Orgelbaufirma Walcker, in modifizierter Form wiedererrichtet. In Gurlitts Musikforschung nach dem Zweiten Weltkrieg finden kaum merkliche tektonische Verschiebungen statt. Blickt man auf die Lehrveranstaltungen, zeigt sich Kontinuität. Orgelthemen sowie das 15. bis frühe 16. Jahrhundert dominieren das Themenspektrum. Damit bleibt Gurlitt bei denjenigen musikgeschichtlichen Epochen, von denen er glaubt, dass dort Musik noch direkt im transzendentalen Urgrund der Kultur wurzelte und ihren Lebendigkeitstypus ausprägte. Fragen der Klanglichkeit und des Hörens von Musik beschäftigen Gurlitt auch nach 1945. Was nun aber fehlt, ist der Gedanke der kulturellen Kontinuität bis in die Gegenwart. Die Idee „Deutschtum“ wird von Gurlitt nach 1945 verabschiedet. Die wiederaufgebaute Praetorius-Orgel kann nicht mehr die Bedeutung erlangen, die die erste in den 1920er Jahren hatte. Das Collegium musicum wird nach Gurlitts Emeritierung in ein gewöhnliches Universitätsorchester überführt. Gurlitts großes Projekt einer Musikwissenschaft, die musikalisches Handeln als einzigartige Anzeige der intrinsischen Lebendigkeit einer spezifischen Kultur in ihrer longue durée erforscht, ist durch einen verhärteten und vergegenständlichten Kulturbegriff immer poröser geworden. Ein essenzialistischer, tendenziell völkischer Kulturbegriff war von Anfang an in ihr angelegt. Mit dem Begriff des Klangstils hatte ihn Gurlitt immer mit im Gepäck. Auch unter der nationalsozialistischen Herrschaft unter dem Vorzeichen eines völkischen Essenzialismus, den er am eigenen Leib erleidet, kann ihn Gurlitt nicht abschütteln. Nach 1945 bleibt vom ambitionierten Projekt einer kulturgeschichtlichen Musikwissenschaft, deren wohl bedeutendster Vertreter in Deutschland zwischen den Weltkriegen Wilibald Gurlitt war, nur noch ein blutleerer Geschichtspositivismus übrig.

Anhang Wilibald Gurlitt: Vom Deutschtum in der Musik Was von jedem Volksgenossen gefordert und geleistet werden muß, der sich zu dem großen Geschehen und Grundgedanken der deutschen Erhebung unter unserem Volkskanzler 298

Wilibald Gurlitt

Adolf Hitler bekennt, nämlich: Selbsterziehung zum Deutschtum, gilt notwendig auch für den Musiker, den Kenner und Liebhaber der Musik. Auch ihn, der sich gern hinter die liberalistische Rede verschanzt, daß Musik mit Politik nichts zu tun habe, trifft der Vorwurf des Führers zur Neubesinnung auf deutsches Wesen und zu bewußter, verantwortlicher Mitarbeit am Neubau unseres nationalen und sozialen Lebens. […] Unsere Sprache kennt die Bezeichnung eines Menschen als „musikalisch“, spricht davon, daß er „musikalisch sei“. Der Versuch, diese Bezeichnung des „Musikalisch-Seins“ in eine fremde Sprache zu übersetzen, bringt sofort ihre ganz besondere deutsche Art zum Bewußtsein, denn sie ist ebenso unübersetzbar wie etwa unsere Bezeichnung „Lied“. Gegenüber dem romanischen Sprachgebrauch, z. B. dem französischen „aimer la musique“ oder dem italienischen „saper la musica“, der einen Erlebnis- und Urteilswert bezeichnet, weist das deutsche „Musikalisch-Sein“ auf einen Seinswert, eine Teilhabe des Menschen am Dasein des Musikalischen, ein inneres Bestimmtsein durch Musik hin. […] Auch wem es immer schon im Blute gelegen hat, deutsche Musik und deutsche Musikpflege zu wollen, muß doch erst [S. 12] wissen, was deutsche Musik ist. Dabei freilich handelt es sich nicht um ein abgezogenes Wissen, um bloße Kenntnis gewisser ästhetischer, stilistischer und formaler Eigentümlichkeiten des Wesens deutscher Musik, das sich etwa in einem formulierten Wort oder Satz niederlegen ließe. Selbst wenn ein solches Wissen in zureichender Klarheit und Deutlichkeit zur Verfügung stände (seine Erarbeitung gehört zu den größten Aufgaben der Musikwissenschaft), würde es doch nur wenig fruchten, ja sogar schaden können, sofern es nicht von einer ganz ursprünglichen, lebendigen, breiten Anschauung dieses Wesens getragen wäre. Die jeden Musiker und Musikfreund heute so lebhaft bewegende Frage, wo er deutschgeartete Musik und deutschbewußte Musikpflege finde und wie er tiefer in ihr Wesen eindringe, kann deshalb eine vorläufige Antwort nur finden in dem schlichten Hinweis auf die Fülle deutscher Musikerscheinungen und in dem Aufruf, Deutliches daran kennen, erleben, verstehen zu lernen und darin zu suchen, wo immer es sich finden mag. […] Echte Selbsterziehung zum Deutschtum in der Musik ist nicht anderswo möglich als auf der Grundlage einer denkbar umfassenden wirklichen Kenntnis und breitesten, lebendigsten Anschauung deutscher Musik, ihrer Meisterwerke und Musizierformen in jeder bedeutsamen Richtung ihrer Gegenwart und Geschichte. Wie nämlich jeder sich selbst besser kennen lernt, wenn er das Bild seines Lebens in der Erinnerung zu sammeln und seinen und seiner Vorfahren Lebensweg im Gedächtnis nochmals zu durchwandern sucht, so erschließt sich auch in der Geschichte der deutschen Musik als dem Gedächtnis unserer Kunst ein besseres Verständnis und vertieftes Erleben ihrer nationalen Werte. […] Dieses Erbgut ruht wesentlich in jenem umfassenden, einheitlichen Traditionsverlauf, der als „deutsche Bewegung in der Musik“ durch das [S.  13] 19., 18. und 17. Jahrhundert über Beethoven, Mozart, Haydn und die Söhne Seb. Bachs hinter Bach und Händel, Heinrich Schütz u. a. m. in die Musik der Reformationszeit zurückreicht […] Dabei wird auch von jüngsten rassenkundlichen Gesichtspunkten her die Kunst vor Bach, also 299

Rainer Bayreuther

diejenige des 16. und 17. Jahrhunderts, deren Erforschung und Wiederbelebung heute im Mittelpunkt der musikwissenschaftlichen Bestrebungen an unseren Universitäten steht, in den Vordergrund gerückt. Richard Eichenauer schreibt in seinem Buch: „Musik und Rasse“, München 11932, S. 156: Es gibt heute ernste Musiker, die in der Vorliebe für vorbachsche deutsche Tonkunst nicht viel mehr als eine vorübergehende Laune unserer jüngeren Zeitgenossen sehen wollen. Dieser Meinung kann man sich kaum anschließen. So vielfältig auch die Triebkräfte sind, die zu dem Versuch einer Wiederbelebung alter Musik drängen, so ist doch eine dieser Kräfte zweifellos das echte Sehnen nach einer unseren Besten artgemäßen Tonkunst. Soll diese einmal erstehen, so werden wir meiner Ueberzeugung nach noch viel stärker, als es bisher tatsächlich geschehen ist, bei der großen germanisch-nordischen Tonkunst vor Bach anknüpfen müssen, d. h. im wesentlichen bei der Polyphonie des 16. Jahrhunderts und bei der Musik der Schützzeit.

Deutschtum in der Musik kann aber nicht nur hier, sondern an jeder Stelle dieses großen, in Reger, Pfitzner, Strauß, Hindemith, Kaminski u.  a.  m. an die Gegenwart heranführenden Traditionszusammenhanges der „deutschen Bewegung in der Musik“ gleichermaßen und in gleicher Stärke erlebt werden. […] An dieses Erlebnis hat jede [S.  14] Selbsterziehung zum Deutschtum in der Musik anzuknüpfen. Von ihm aus findet der Musiker und Musikfreund den Willen und Weg, sich an seiner Stelle in den Dienst an der Volksgemeinschaft einzugliedern und sie die Größe und Herrlichkeit ihres Besitzes an wurzelhaft heimischer deutscher Musik, ihren Meisterwerken und nicht zuletzt dem stillen Heldentum des deutschen Musikers erleben zu lassen.60

300

Cornelia Gurlitt. Ein Biogramm in Bildern Hubert Portz

Cornelia Gurlitt, 1915, Foto: Hugo Erfurth, Dresden. Privatbesitz 301

Hubert Portz

1890

Am 25. Juni 1890 wird Gurlitt Cornelia als Tochter des Architekturhistorikers Cornelius Gurlitt und seiner Frau Marie, geb. Gerlach, in Berlin geboren. Ihre Geschwister sind Wilibald (geb. 1889) und Hildebrand (geb. 1895).

1893

Die Familie zieht nach Dresden in die Franklinstr. 4/II und

1896

in eine Villa mit kleinem Garten in die Kaitzerstr. 26.

um 1905

erster Malunterricht

1906

Konfirmation bei einem Pfarrer, für den sie sich entschieden hatte.

1909

Abschluss der Höheren Töchterschule in Dresden

1908–1913

Nähere biographische Details dieser Zeit sind noch nicht ermittelt. Jedenfalls ist Cornelia monatelang mit ihren auf Selbstständigkeit bedachten Malerfreundinnen Rose Scheumann (1891–1974), Lotte Wahle (1884–1952) und Ilse Hustig (1885–1962) unterwegs, auf dem Land oder im Malunterricht bei dem Landschaftsmaler Hans Nadler (1879–1958) in dessen Atelier (seit 1906) und Wohnhaus in Gröden, Landkreis Liebenwerda, Provinz Sachsen. Zuweilen ist ihre Cousine Gitta [Brigitta] Gurlitt (1889–1956), eine Tochter ihres 1905 verstorbenen Onkels, des klassischen Archäologen Wilhelm Gurlitt in Graz, mit von der Partie. Zu ihr hatte Cornelia eine enge Beziehung.

1912

Am 2. April eröffnete die erste und einzige Ausstellung der gesamten BrückeKünstler in Deutschland (Cuno Amiet, Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Otto Mueller, Max Pechstein, Karl Schmidt-Rottluff) in der Galerie Fritz Gurlitt in Berlin, kuratiert von ihrem Cousin Wolfgang Gurlitt. Sie sorgt für große „mediale Aufmerksamkeit“.1

1913

Ausstellung ihrer Bilder im Rahmen der Präsentation von Arbeiten der Malklasse von Hans Nadler im Kunstsalon Emil Richters an der Prager Straße, Dresden. Richter war neben der Galerie Arnold in Dresden maßgeblich an der Durchsetzung moderner Kunstströmungen beteiligt. 1907–1909 waren dort bereits Arbeiten der Brücke-Künstler ausgestellt.

1913/14

Paris. Freundschaft mit dem österreichischen Maler Anton Kolig (1886–1950), der zusammen mit Oskar Kokoschka, Anton Faistauer, Sebastian Isepp und Franz Wiegele 1911 im Wiener Hagenbund erstmals öffentlich ausgestellt hatte. Eine Art Cartellino in Koligs Ölgemälde „Klage“ von 1920 (Österreichische Galerie Belvedere, Wien) mit der Aufschrift „Cornelia“ lässt sich als memoria auf ihren Freitod 1919 lesen (s. Abb.).

302

Cornelia Gurlitt

1914

Ausstellung mit Ilse Hurtig in der „Kunsthütte zu Chemnitz“, dem 1860 von Chemnitzer Künstlern und Kunstfreunden gegründeten Kunstverein (heute Kunstsammlungen Chemnitz). Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges zwingt sie zur Rückkehr nach Dresden.

1914

Cornelias Freund Rolf Donandt – „Rallo“ – fällt im September 1914 an der Marne. Freundschaft mit Hanns Niedecken-Gebhard (1889–1954), einem Freund ihres Bruders Wilibald. Sie lässt sich in Dresden zur Krankenschwester ausbilden und dient zunächst in Dresden, während ihre Freundin Lotte im elterlichen Hause Verletzte versorgt. In dieser Zeit dürfte sie Ludwig Meidner begegnet sein.

1915

Cornelia Gurlitt entscheidet sich für den Dienst an der Front; im September 1915 kommt sie in Wilna / Vilnius an.

1915–18

Krankenschwester im Kriegslazarett Antokol in Wilna In Wilna begegnet die Malerin dem ostjüdischen Leben, „interessiert sich ungeheuer“ für Religion und Tradition der Ostjuden.

1916

lernt sie Paul Fechter in der Presseabteilung Ober-Ost in Wilna kennen; er wird eine große Liebe. In seinem Erinnerungsbuch „An der Wende der Zeit“ (1949) wird er eine Hommage an sie als Künstlerin schreiben.

1916/17

Cornelia setzt sich für den Maler Peter August Boeckstiegel (1889–1951) – liiert mit Hanna Müller, der Schwester von Conrad Felix Müller (später Felixmüller) – ein, um ihm eine Ausstellung in Wilna zu ermöglichen.

1917

Im Frühjahr 1917 porträtiert Felixmüller (1897–1977) sie in Dresden; die Zeichnung trägt den Titel „Schwester Cornelia Gurlitt“ (Bleistift auf Papier, 1917). Mit dessen Freundin Lotte Wahle ist Cornelia bereits seit 1909/10 befreundet. Im Mai lernt sie Herbert Eulenberg in Wilna kennen. Er besucht sie wiederholt in Antokol. Ein häufiger Gast ist auch Wilhelm Thiele (1873–1945), Professor, Architekt und Mitbegründer des Deutschen Werkbundes. Ab November ist ihr jüngerer Bruder Hildebrand der Presseabteilung Wilna zugeteilt. Auch er ist mit Felix Müller befreundet. Im Dezember kommt der Sohn von Wahle und Felixmüller, Justus Matthias, zur Welt. Hildebrand wird Pate.

1918

Im Sommer kehrt Cornelia nach Dresden zurück, arbeitet zeitweise als Pflegerin in Leipzig. Sie zieht nach Berlin, wo sie als Malerin Fuß zu fassen sucht.

303

Hubert Portz

1919

Cornelia bezieht am 1. August 1919 in Berlin eine eigene Wohnung mit Atelier. Tod am 5. August nach einem Suizidversuch am 3. August. Es wird erzählt, dass sie einen Zettel mit dem Namen Paul Fechters bei sich trug. Beisetzung am 11. August. Das Vorhaben Hildebrands, dem Oeuvre seiner verstorbenen Schwester ein Denkmal zu setzen, erfüllt dieser nicht.

Ausgestellte Arbeiten von Cornelia Gurlitt 1913

„Arbeiten früherer Schülerinnen von Hans Nadler“, Susanne Druschky, Cornelia Gurlitt, Hilde Hamburger, Betty Herwig, Rose Scheumann und Lotte Wahle, Ausstellung Galerie Richter, Dresden 1913. In der Broschüre2 zur Ausstellung sind von Cornelia Gurlitt erwähnt: Apfelbaum, Öl Landschaft, Öl Landschaft, Öl Weiden, Öl Kartoffelfeuer, Öl Stillleben mit Äpfel, Öl Stillleben mit Schüssel, Öl Stillleben mit Birnen, Öl Resedastöckchen, Öl Bildnis K. K., Öl Bildnis H. G., Öl (H.[ildebrand] G.[urlitt]) Stehender Junge, Öl Frau, Öl Sandgrube, Öl Gärten im Winter, Öl

1914

Kunsthütte Chemnitz. Gemeinschaftsausstellung mit Ilse Hustig (Dresden) 1914 (o. Katalog)

1918

Neue Religiöse Kunst. Malerei, Graphik, Zeichnung. Ausstellung Februar–März Städtische Kunsthalle Mannheim; April–Mai 1918, Galerie Arnold, Dresden3 22 a. Composition. Steindruck 22 b. Composition. Steindruck

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Cornelia Gurlitt

2012

Frauenkunst – Kunst von Frauen. Galerie und Kunstantiquariat Joseph Fach, Frankfurt a. M. Katalog: Frauenkunst: Kunst von Frauen. 353 Aquarelle, Zeichnungen und Graphiken von Künstlerinnen aus 4 Jahrhunderten. Hg. von Joseph Fach. Mit einer Einführung von Edith Valdivieso. Henrich [Frankfurt a. M.] 2012 (12 Arbeiten, davon eine Bleistiftzeichnung, zwei Tuscheskizzen und neun Lithografien)

2014

Zimmer frei für Cornelia Gurlitt, Lotte Wahle und Conrad Felixmüller. Kunsthaus Désirée Hochstadt/Pfalz. Katalog hg. von Hubert Portz. KnechtVerlag. Landau/Pfalz 2014. 24 Arbeiten, darunter die Ölgemälde von Hildebrand und ihr Selbstporträt

2015

Cornelia Gurlitt: sirdies kelione – Reise des Herzens – The Journey of the Heart. Staatliches Jüdisches Gaon-von-Vilnius-Museum, Vilnius, Litauen Katalog im KnechtVerlag. Landau/Pfalz (22 Arbeiten)

2016

Nationales M. K. Ciurlionis Kunstmuseum, Kaunas, Litauen

2016

20. Thomas Mann Festival in Nida, Litauen

2017

Sammlung Vilna Jewish State Museum, Vilnius. documenta 14, Kassel

2017

Yael Davids: A Reading That Loves – A Physical Act (Präsentiert auf der documenta 14, Kassel, mit Bezug zu Arbeiten u. a. von Cornelia Gurlitt und Else Lasker-Schüler)

2018

Yael Davids: Dying is a Solo. Museo Tamayo, Mexiko City

2018

Künstlerinnen um den Nötscher Kreis. Museum des Nötscher Kreises, Nötsch im Gailtal (Österreich)

2018

Kunst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sammlung Vilna Jewish State Museum. Litauische Nationalgalerie Vilnius

2018

Bestandsaufnahme Gurlitt. Ausst. Kunsthalle Bern („‚Entartete Kunst‘ – Beschlagnahmt und verkauft“); Bundeskunsthalle Bonn („Der NS Kunstraub und die Folgen“). Katalog: Bestandsaufnahme Gurlitt. Hg. vom Kunstmuseum Bern. Konzept Agnieszka Lulinska. München: Hirmer 2017

2018

Bestandsaufnahme Gurlitt, Max-Gropius-Bau Berlin

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Hubert Portz

Anton Kolig: Die Klage, 1920, Öl/Leinwand, 126 x 164 cm, Österreichische Galerie Belvedere, Wien

Cornelia Gurlitt, um 1907, Foto Nachlass Cornelius Gurlitt (NCG), TU Dresden FS 176 306

Cornelia Gurlitt

Gitta Gurlitt (links) und Cornelia und Ludwiga Gurlitt (rechts), 1911 NCG, TU Dresden FS 181

Cornelia Gurlitt: Selbstporträt, o. J., Öl, Privatbesitz 307

Hubert Portz

Otto Gerlach: Humor in der Liebe (Bücher der Liebe). Mit Beiträgen von J. P. Hebel, Felix Dahn, O. J. Bierbaum, A. Chamisso, P. Rosegger u. a. Einbandillustration von Cornelia Gurlitt Farblithographie, Schimmel Verlag Breslau 1914, Privatbesitz4

Cornelia Gurlitt: o. T., o. J, Öl, Privatbesitz 308

Cornelia Gurlitt

Cornelia Gurlitt: Ex Libris Hildebrand Gurlitt. Sign.: CG, Privatbesitz

Hildebrand, Vater Cornelius, Cornelia Gurlitt, um 1915/16, NCG, TU Dresden, FS 167 309

Hubert Portz

Cornelia und Bruder Hildebrand Gurlitt, um 1916/17, NCG, TU Dresden, FS 177 310

Cornelia Gurlitt

Cornelia Gurlitt: Portrait Hildebrand, o. J. [um1916?], Öl, Privatbesitz

311

Hubert Portz

Cornelia Gurlitt: Mutter Marie, Öl [a. Lw?], verschollen. Legat Cornelius Gurlitt 2014 Ich besinne mich noch genau auf ein Bild Deiner Großmutter [Marie Gurlitt, Cornelias Mutter]. Wir mussten zwar zugeben, dass es ähnlich wäre, aber meinten, daß Deine Großmutter vielleicht 20 oder 30 Jahre später einmal so aussehen könnte, was dann auch wirklich der Fall war. Cornelia hatte mit harter Hand das Wesentliche Deiner Grossmutter herausgefunden. Dieses Bild wurde auch oft bewundert.5

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Cornelia Gurlitt

Mutter Marie, o. J., NCG, TU Dresden FS 162

Cornelia (rechts) im Kreis ihrer Mitschwestern, Wilna, Oktober 1916. NCG, TU Dresden, FS 182 313

Hubert Portz

Hildebrand und Cornelia Gurlitt, 1916, Foto Privatbesitz 314

Cornelia Gurlitt

Cornelia Gurlitt: Rachmonis [Barmherzigkeit], o. J., Handzeichnung, Privatbesitz

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Hubert Portz

Cornelia Gurlitt: o. T. [Die Nachtwache], 1917 Lithographie, Gaon State Jewish Museum, Vilna

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Cornelia Gurlitt

Cornelia Gurlitt: Für Emma Fechter-Vockeradt, August 17 Lithographie, Gaon State Jewish Museum, Vilna

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Hubert Portz

Cornelia Gurlitt: o. T., o. J., Kreidelithographie Gaon State Jewish Museum, Vilna

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Cornelia Gurlitt

Cornelia Gurlitt, o. T., o. J., Lithographie Gaon State Jewish Museum, Vilna

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Hubert Portz

Conrad Felixmüller: Schwester Cornelia Gurlitt, 1917 Handzeichnung Privatbesitz

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Cornelia Gurlitt

Literatur Laima Laučkaité: The Heritage of Vilnius in the Eyes of German Art Historians during World War I. In: Apologeten der Vernichtung oder „Kunstschützer“? Kunsthistoriker der Mittelmächte im Weltkrieg. (Visuelle Geschichtskultur Bd. 16) Hg. von Robert Born und Beate Störtkuhl. Köln 2017, S. 141–158 Giedré Jankevičiūté, Laima Laučkaitė-Surgailiené: The Realities of Occupation. Posters in Lithuania during World War I and World War II. [Ausstellungskatalog]. VŠĮ Vilniaus grafikos meno centras. Vilnius 2014 Laima Laučkaité: Our Alien Legacy. German Art during World War I in Vilnius. In: Kunstiteaduslikke ­Uurimusi. Studies on Art and Architecture. Studien für Kunstwissenschaft 27, 2018, S. 153–173. Laima Laučkaité: Vilniaus dailė Didžiojo karo metais. Vilinius 2018 [engl. Zusammenfassung: http://www.lkti.lt/public/Knygynas/VilniausdaileDidziojokarometuSummary.pdf] Giedré Jankevičiūté, Laima Laučkaitė: Expressionism in Lithuania. From German Artistic Import to ­National Art. In: The Routledge Companion to Expressionism in a Transnational Context. Hg. von Isabel Wünsche. New York, London 2019, S. 135–157 Hubert Portz: Cornelia Gurlitt. Begegnung. Eine Hommage zum 130. Geburtstag. / An encounter. A homage for her 130th birthday. Landau 2020

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Das kurze Leben einer deutschen Expressionistin. Ein Radio-Feature zum 100. Todestag von Cornelia Gurlitt Frank Odenthal1 ERZÄHLER

Ortstermin im Kunstmuseum Bern. Darauf hat Hubert Portz lange gewartet. 140 Arbeiten von Cornelia Gurlitt lagern in den Katakomben des Museums, werden verzeichnet, zugeordnet, analysiert, manche müssen restauriert werden. Er ist aufgeregt. Im Museumscafé sitzt er bei einem Cappuccino und hofft, ins Archiv des Museums vorgelassen zu werden. Hubert Portz wird einer der ersten sein, der die Werke Cornelias nach so langer Zeit wieder zu sehen bekommt.

ATMO/O-TON

Rascheln. Portz: „Ist wohl aus der Vilnius-Zeit … Den Puls fühlend, da gibt’s ein schönes Aquarell, das war auch hier, glaub ich, ausgestellt, bei Ihnen … Das dürfte vielleicht Else sein? … Else Gurlitt?“ Rascheln. Portz, leise: „Das ist Else Gurlitt …“ Rascheln. Portz: „Dieses ist bekannt. Das gehört für mich zu ‚nem Zyklus, der ganz eindeutig noch mit der … eben hatten wir schon die Liegende, die todtraurige Frau. Da gibt es dann ’ne Variante, hier hat sie noch die Hand offen … man sieht den Blumenstrauß. Die andere Frau im Hintergrund, die Hand offen, und da gibt’s dann noch ’ne Variante, wo sie die Hand … den Kopf umgedreht hat und die beiden Hände …“

ERZÄHLER

Ihm ist es zu verdanken, dass der Name Cornelia Gurlitt heute zumindest unter Experten bekannt ist.

322

Radio-Feature zum 100. Todestag von Cornelia Gurlitt

O-TON Portz

Das war etwa 2006, 2007, ich hatte mich mit Konrad Felixmüller und seiner Beziehung zu damals noch LW, Lotte Wahle, beschäftigt. Weil Lotte Wahle in dem Werk von Felixmüller sicherlich in 50 oder 60 Arbeiten auftaucht, aber in seiner Biografie lediglich einmal mit LW. Und ich ging der Geschichte nach. Ja, und dann stellte sich heraus, dass Lotte Wahle und Felixmüller ein uneheliches Kind hatten. Und über diesen Zusammenhang tauchte schon öfters auf, dass Cornelia Gurlitt eine Malfreundin war von ihr und die beiden in gewissen Malschulen bei einem Hans Nadler in Dresden und Gröden waren, und dann haben sich auch die Wege geteilt. Aber über diesen Zusammenhang als Malfreundin stieß ich auf Cornelia. Und in diesem Kontext war für mich dann interessant einfach, wer war das und was haben die gemacht und warum tauchen diese Frauen eigentlich nie auf. Und das war dann ein Anliegen: nachzuschauen, was gibt es noch an Arbeiten von ihnen.

ERZÄHLER

Cornelia Gurlitts Bilder waren Teil der berühmten „Sammlung Gurlitt“, die ihr Bruder, der Kunsthändler Hildebrand Gurlitt, während der Nazizeit angehäuft hatte. Sein Sohn Cornelius hatte sie kurz vor seinem Tod im Jahr 2014 dem Kunstmuseum Bern vermacht. Über 1200 Kunstwerke, die 2012 in München als „Schwabinger Kunstfund“ unter spektakulären Umständen beschlagnahmt wurden. Es bestand der Verdacht, darunter könne sich Raubkunst der Nazis befinden. Wie viele der Werke tatsächlich geraubt oder ihren Besitzern enteignet wurden, ist bis heute unklar. Von Cornelia befinden sich Aquarelle, Lithografien, aber auch Skizzen, Studien und einige Briefe in der Sammlung.

O-TON Portz

An die ersten Arbeiten von Cornelia, ich hatte ja nie ’ne Arbeit zu Gesicht bekommen, die erste Arbeit, die ich zu Gesicht bekommen hab, war 2012. Ich habe an alle Museen geschrieben, wo evtl. hätten Arbeiten von Cornelia sein können. Und 2012 fand ich zufällig in der Galerie in Frankfurt, in der Galerie Fach … wurden Arbeiten, die hatten ’ne Ausstellung zu Frauen, und da wurden Arbeiten von Cornelia angeboten, und da hab ich dann gleich … nicht alle, aber fast alle gekauft. Dreizehn oder vierzehn Arbeiten, die ich da gekauft hab.

323

Frank Odenthal

ERZÄHLER

Portz ist gelernter Arzt und Psychologe. Doch er ist eben auch Kunstliebhaber. In seinem Wohnort Hochstadt in der Pfalz betreibt er das Kunsthaus Desiree. 2014 stellte er hier Arbeiten von Cornelia Gurlitt aus. Vom gesamten Werk Cornelias hat er bis heute nur wenig gesehen. Jetzt liegt es vor ihm, verpackt in drei unscheinbare, flache Boxen.

ATMO/O-TON

Portz, leise: „Das Pferd … Da sieht es aber aus … Das ist … Ist das ein Rücken, der uns da anguckt? Oder ist das Landschaft? Könnte ja auch ein Arm sein und der Kopf fehlt … Auf jeden Fall haben wir da wohl ein… einen Bettler oder einen Hilfesuchenden, der – wie Lazarus – auf der Erde kniet, während in der Landschaft da auch noch angedeutet, irgendein Gesicht …“ Rascheln. Nuscheln. Portz: „Das sind Arbeiten von 1917 … Das weiß ich jetzt nicht; das könnte vielleicht auch etwas früher noch sein, zu Dresdner Zeiten oder als sie in Berlin war … Weil der Strich ist ja nicht ganz so fahrig wie der spätere …“ Rascheln Portz: „Ist das ’ne Tasse? … Sieht so aus … als hätte sie da ’ne Tasse in der Hand …“ Portz, leise: „Aber ein ganz anderes Gesicht als in den anderen Blättern …“

O-TON Portz

Was mich eigentlich begeistert ist ihre Art, wie sie zeichnet und was sie ins Bild bringt, die Geschichten. Ich würde es jetzt mal beschreiben als produktive Irritation oder Unruhe, die einen … es sind Bildgeschichten, die konkret mit der Situation der Menschen zu tun haben, die einem eigentlich den Kontext ihrer Zeit und ihrer Geschichte vor Augen führen.

ERZÄHLER

Cornelia kommt 1890 in Dresden zur Welt. Ihr Vater ist der berühmte Kunsthistoriker und Architekt Cornelius Gurlitt. Der wiederum ist Sohn des Malers Louis Gurlitt.

O-TON Renner

Es gibt einen Leuchtturm in der Familie, das ist eben der Louis Gurlitt, dieser Landschaftsmaler, auf den sie enorm stolz sind und von dem sie ganz viele Werte, Erziehungsvorstellungen, diese persönliche Freiheit, den Vorbehalt gegen alles Akademische u. ä. übernehmen. Der ist eigentlich eine Art Gründerfigur.

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Radio-Feature zum 100. Todestag von Cornelia Gurlitt

ERZÄHLER

Ursula Renner-Henke ist Professorin für Kulturwissenschaft. Bis zu ihrem Ruhestand lehrte sie an der Universität Duisburg-Essen. Jetzt bereitet sie ein Buch zur Familiengeschichte der Gurlitts vor. In ihrer Wohnung in Freiburg im Breisgau hat sie einen Stammbaum der Familie ausgebreitet. Es ist eine Familie voller Künstler und Freigeister.

O-TON Renner

Also, auf der Ebene hier Louis Gurlitts Kinder, Fritz, der Galerist, der 1893 an Syphilis stirbt, dann Else Gurlitt und Ludwig, die beiden hier, das sind Zwillinge. Er wird ein bedeutender Reformpädagoge, der die Wandervogelbewegung mit, wenn man so will, vorantreibt. Er ist nicht der eigentliche Begründer, aber in Steglitz, durch ehemalige Schüler von seinem Gymnasium, wird sie sozusagen mit seiner Unterstützung geboren … und hier Wilhelm, der Archäologe, Hans, Otto. Das ist eine Riege von doch sehr starken Männerfiguren … Und dann ist jetzt hier die nächste Generation, die Kinder von Cornelius und Marie Gurlitt: Wilibald, der Musikwissenschaftler, Cornelia, die Malerin, und dann Hildebrand, der Kunsthändler. Während Vater Cornelius sich sehr darum kümmert, dass aus Hildebrand was wird, und der vor allem stolz auf Wilibald ist, der Musikwissenschaftler und Professor in Freiburg wird, also ’ne absolute Instanz … ist Cornelia im Grunde genommen jemand, der so ein bisschen zwischen die Maschen fällt. Der Vater ist so dominant … und hat ja auch, wenn man seine Biografie sich anguckt, der hat ja auch ’ne sehr interessante Lebensgeschichte, ist zu der Zeit, wo Cornelia ihren Vater erlebt, doch schon ziemlich prominent in Deutschland, ein großer Macher eigentlich.

ERZÄHLER

Cornelius Gurlitt war Geheimrat und sogar mit dem sächsischen König bekannt. Er gilt als Begründer der sächsischen Denkmalpflege. Sämtliche Denkmäler Sachsens hat er erfasst – damals noch per Hand und mit Skizzenblock. Helene Franz, eine Nichte, erinnert sich in einem Brief:

VORLESERIN

Von Cornelias Malereien bekamen wir zunächst nichts mit. Aber wenn wir – meist durch Zufall – etwas sahen, lehnten wir es ab, das war uns zu modern. Cornelia gab sich auch keine Mühe, uns vielleicht etwas zu erklären. Sie sagte höchstens: Davon versteht ihr nichts! – Und damit hatte sie vollständig Recht.2

Helene F.

ERZÄHLER

Sie zeichnet Porträts ihrer Familie, auch ihrer Mutter Marie.

325

Frank Odenthal

VORLESERIN Helene F.

Wir mussten zwar zugeben, dass es ihr ähnlich sähe, aber meinten, dass sie vielleicht zwanzig oder dreißig Jahre später einmal so aussehen könnte – was dann auch wirklich der Fall war.

ERZÄHLER

Als Cornelia 1909 das Abitur macht, schwebt dem Vater eine Ausbildung zur Volksschullehrerin vor. Cornelia hat andere Pläne. Sie will Malerin werden. Allerdings ist Frauen der Zugang zu den staatlichen Akademien verwehrt. Sie meldet sich bei privaten Malschulen an, unter anderem bei Nadler in Dresden. Hier lernt sie Künstlerkolleginnen kennen, wie Rose Scheumann und Lotte Wahle – Frauen, die bereits ein eigenständiges Leben führen.

O-TON Renner

Ihr Vater hat durchaus eine Vorstellung, was sie machen könnte. So sagt er über seine Nichten und eigene Tochter, dass, wenn sie sich zusammentun, „so können sie ein Institut gründen, das Hand und Füße hat. Lieber freilich wäre mir, alle drei gründeten je ein kleines Institut für eigene Kinder mit zugehörigem Hausdirektor. Aber auch wenn’s dazu nicht kommen sollte, findet sich ein Weg! Der Mut zum Leben muss uns nicht gebrochen werden!“3 Das heißt, wir haben das Thema, wie bringt man Töchter unter, oder junge Mädchen, wenn sie womöglich nicht heiraten.

ERZÄHLER

Ende 1913 geht Cornelia nach Paris

O-TON Renner

Wir haben zum Beginn des 20. Jahrhunderts einen enormen künstlerischen Aufbruch: da ist natürlich der überragende Picasso, gibt es in Frankreich den Fauvismus und entsprechend in Deutschland den Expressionismus, die Künstler des Blauen Reiters und der Brücke … Allesamt antiakademisch eingestellt. Der 1903 gestorbene Gauguin ging in die außereuropäischen Kulturen, um so etwas wie eine Ursprünglichkeit wiederzufinden, oder man geht, wie Kandinsky, in die russische Volkskunst, oder interessiert sich für das ‚Primitivistische‘ der Dilettanten, wie etwa den Zöllner Rousseau, den Picasso so bewundert hat, also die Naiven. 1912–14 entwickeln Picasso und Braque den Synthetischen Kubismus – wir sprechen ja von einem Analytischen und einem Synthetischen Kubismus, und das ‚Synthetische‘ bedeutet, dass die Collage, also die Opsis des Schneidens und Montierens, ins Bild gebracht wird. Als Cornelia nach Paris geht, experimentiert zudem Delaunay mit der Farbmalerei, seinem „Orphismus“.

326

Radio-Feature zum 100. Todestag von Cornelia Gurlitt

ERZÄHLER

Für Cornelia steht Paris für Freiheit, für einen Ausbruch aus den Zwängen und den Erwartungen der Familie; zugleich ist die Stadt ein Versprechen: die Aussicht auf ein Leben mit der Kunst und von der Kunst. Kein Ort auf der Welt, an dem sie näher am Puls der Zeit der Kunstwelt sein könnte. In Paris kann sie den großen Erneuerern über die Schultern schauen, in den Ausstellungen, den Galerien, den Salons

O-TON

Man sagt ja, oder es gibt Hinweise, dass sie angeblich mit Chagall in Paris Kontakt hatte. Weil Chagall war ja zu der Zeit auch in Paris gewesen. Wobei ich nicht weiß, ob das nur ein Bezug ist, den Hildebrand so hergestellt hat, um ihre Kunst bekannt zu machen, oder wo der wirklich herrührt.

Portz

ERZÄHLER

Beweisen lässt sich das nicht. Sicher ist, dass sie sich mit dem österreichischen Expressionisten Anton Kolig anfreundet. Mit ihm kann sie sich austauschen; mit ihm hält sie auch später noch Kontakt, als sie bereits im Kriegslazarett im Osten Dienst tut und er längst nach Österreich zurückgekehrt ist. Als der Erste Weltkrieg ausbricht, fährt sie nach Dresden zurück und meldet sich wenig später freiwillig als Krankenschwester zum Dienst an der Front.

VORLESERIN

[Ich habe] eine eigne Station zu leiten und einen verantwortungsvollen Posten; nur zweimal je für drei Stunden hatte ich frei, bei 14–15-stündiger Arbeitszeit. Vielleicht erringe ich mir hier langsam die Würde und den guten Ruf, dessen man bedarf, um an die Grenze oder gar ins Etappengebiet versetzt zu werden.4

Cornelia

ERZÄHLER

Über kurze Aufenthalte in Warschau und im ostpreußischen Metsch landet sie im Herbst 1915 im Lazarett Antokol in Wilna, dem heutigen Vilnius, der Hauptstadt Litauens. Seit September 1915 ist Vilnius von den deutschen Streitkräften besetzt. Die russische Armee hatte sich kampflos zurückgezogen, und so war die Stadt ohne größere Zerstörung geblieben. Vilnius ist eine der wichtigsten Städte in Ober Ost, wie die Deutschen das Besatzungsgebiet nennen. Es umfasst Teile des heutigen Lettlands, Litauens und Weißrusslands.

327

Frank Odenthal

O-TON Laučkaité

Die Einwohner bekamen dieses Regime sofort zu spüren. Die deutschen Befehle waren noch drastischer als die des zaristischen Russlands. Die Militärregierung herrschte während der gesamten Besatzungszeit. Und jeden Tag wurden den Bürgern neue Anweisungen gegeben, neue Befehle und neue Strafen.

ERZÄHLER

Die Kunsthistorikerin Laima Lauckaite arbeitet beim Litauischen Kulturforschungsinstitut in Vilnius. Sie ist eine Expertin für die Kunstszene Litauens zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

O-TON Laučkaité

Besonders schlimm für die Einwohner von Vilnius waren die Beschlagnahmungen. Es war vielleicht das Schrecklichste, denn die Behörden von Ober Ost nutzten sie zur Versorgung der Armee. Und alles, was von der Armee verwendet werden konnte, wurde enteignet. Alle Vorräte an Lebensmitteln und Pelzen wurden weggenommen. Und sehr bald wurden Nahrungsrationierungen eingeführt. 1917 waren beispielsweise nur 100 Gramm Brot pro Tag erlaubt. In der Stadt herrschte Armut und Hunger, die Straßen waren voll mit Bettlern. Der Winter 1917 war besonders kalt, und die Menschen starben einfach auf den Straßen. Die Sterblichkeit stieg rasant an und Krankheiten breiteten sich aus, insbesondere die Typhus-Epidemie von 1917 war schrecklich. Die Situation der Bevölkerung in Vilnius und in Litauen war also während des Ersten Weltkriegs ziemlich dramatisch.

ERZÄHLER

In Vilnius kommt Cornelia erstmals mit dem Ostjudentum in Kontakt. Eine Erfahrung, die ihr Leben und ihr weiteres Werk nachhaltig beeinflussen wird.

O-TON

Die Altstadt von Vilnius sah sehr, sehr abstoßend aus. Es sah auch abstoßend für die Deutschen aus, die zu dieser Zeit in Vilnius wohnten. Auch Deutsche jüdischer Herkunft, die in der Kaiserarmee in Ober Ost dienten, insbesondere Intellektuelle, waren vom Leid im Ghetto von Vilnius schockiert. Aber gleichzeitig waren sie überrascht von der moralischen Stärke der Juden, ihrer Treue zur Religion und zu den Traditionen der Vorfahren. Einige deutsche Künstler jüdischer Herkunft mochten die jüdischen Viertel von Vilnius sehr, dieser exotischen mittelalterlichen Stadt mit den pittoresken Straßen, sie mochten die große Synagoge und den alten Friedhof. Sie waren entzückt von den traditionellen religiösen Praktiken der Juden. Das war die andere Seite, dieser Eindruck, den die deutsche Armee von Vilnius hatte.

Laučkaité

328

Radio-Feature zum 100. Todestag von Cornelia Gurlitt

ERZÄHLER

Vilnius zu Beginn des 20. Jahrhunderts, das ist ein buntes Gemisch von Kulturen: Polen, Juden, Litauer, Letten, Weißrussen. Unter den Deutschen befanden sich auch einige Künstler und Intellektuelle, wie die Maler Hermann Struck, Walter Buhe, Alfred Holler, Magnus Zeller und der „Brücke“-Maler Karl Schmidt-Rottluff sowie die Schriftsteller Arnold Zweig und Richard Dehmel. Schmidt-Rottluff berichtet, er habe sich das Sehen abgewöhnen müssen und sei gezwungen, seinen Blick nur aufs Äußere, auf Tressen und Achselstücke, zu richten.5 Andere, wie der Schriftsteller Oskar Wöhrle, wenden den Blick nicht ab und erkennen eine „Stadt des Elends“, in der ‚Bordelle wie Pilze aus dem Boden schießen‘ und „rote Laternen … zur Nacht aus manchem Dutzend wilnaischer Häuser“ wachsen.6 Für Richard Dehmel ist Vilnius die „Stadt der hundert Kirchen und tausend Bordelle“.7 Der Journalist Arthur Feiler schreibt 1917 in der Frankfurter Zeitung über die Juden von Vilnius:

VORLESER

Da hocken sie zusammen in dunklen Kellerzimmern, in überfüllten Höfen, in undefinierbare Fetzen gekleidet, schmutzig und elend.8

Feiler O-TON Laučkaité

Die Mehrheit der deutschen Künstler, die in Vilnius lebten, waren Soldaten. Sie wurden bei den Zeitungen eingesetzt, um Beilagen zu illustrieren, die dann in der „Wilnaer Zeitung“ und der „Zeitung der Zehnten Armee“ veröffentlicht wurden. Darunter waren Künstler wie Fred Hendejock, Andreas Karl Weber, Karl Schmoll von Eisenwerth und andere. Was sie lieferten, war Propaganda, militärische Propaganda im Kolonialstil: auf den Titelblättern, oder mit den Bilder von Soldaten, Oberbefehlshabern, die sich in den besetzten Ländern in Szene setzten. Das Leben der Künstler in Vilnius war recht gut, sie hatten sogar ein kulturelles Leben, mit Ausstellungen deutscher Künstler, die in Vilnius organisiert wurden. Darunter waren auch Expressionisten wie Cornelia Gurlitt.

ERZÄHLER

Cornelia sieht es, wie auch ihre beiden Brüder, als ihre patriotische Pflicht an, ihrem Land im Krieg zu dienen. Und lässt sich dennoch nicht davon abbringen, Künstlerin sein zu wollen.

VORLESERIN

Meine Tage sind ausgefüllt mit Dienst im Operationssaal: viel stumpfsinnige Händearbeit, viel Grausiges und dazwischen einige Minuten, in denen man glücklich den Nutzen der Tätigkeit fühlt. Die Nacht gehört mir und ich fülle sie aus mit lesen und zeichnen, so viel als mir die Müdigkeit Zeit lässt.9

Cornelia

329

Frank Odenthal

ERZÄHLER

Doch natürlich zehrt der Krieg und ihre Arbeit im Lazarett an ihren Kräften. Umso wichtiger ist es ihr, Kontakt zu ihren Freunden und Angehörigen zu halten. Besonders wichtig scheint ihr der Briefwechsel mit ihren Brüdern Wilibald und Hildebrand.

O-TON

Der Bruder Wilibald und der Hildebrand, das ist die spannendere Konstellation. Wilibald, vorm Kriegsausbruch, dient schon, beim sächsischen Regiment, glaub ich – also eine Elitetruppe, bei der er war. Da ist auch immer ein Stückweit Entfremdung dahingehend drin, dass Wilibald im Grunde eine Karriere ohne jeden Bruch hinlegte: er studierte Musikwissenschaft und ging dann sehr schnell in eine akademische Laufbahn, ähnlich wie der Vater, ging nach Freiburg und blieb dann in Freiburg, wurde irgendwann Professor. Aber sehr viel enger vielleicht und gradliniger als sein autodidaktischer Vater und auch als Hildebrand.

Remy

ERZÄHLER

Maurice-Philip Remy hat viele Jahre mit Guido Knop in der Redaktion Zeitgeschichte beim ZDF zusammengearbeitet. In seinem Buch „Der Fall Gurlitt“ hat er den „Schwabinger Kunstfund“ aufgearbeitet.

O-TON

Hildebrand stand im Schatten dieser zwei, des wirklich berühmten Vaters, der wirklich eine deutsche Koryphäe war. Zumindest in Sachsen war er’s; er hatte ja, ich weiß nicht, 30 Orden und Erhebungen und Geheimrat und dies und jenes … also, der war schon ’ne echte Nummer. Und der Bruder wurde auch ’ne Nummer. Und Hildebrand wurde lange Zeit keine Nummer. Der Hildebrand war das Nesthäkchen, der kam ja fünf Jahre später. Und der bleibt auch das Nesthäkchen. Also, das Kind sozusagen, das kleine Kind, kränklich, angeschwächelt, Träumer, ein klassischer Nachgeborener. Und in dem Ganzen ist es erstaunlich, dass dann die Achse zwischen Hildebrand und Cornelia sehr viel enger ist als die Achse zwischen Cornelia und Wilibald. Das heißt, Cornelia in ihrer künstlerischen Art, in ihrer auch schwermütigen, ihrer wankelmütigen Art war Hildebrand viel näher als Wilibald. Wilibald war dann auch aus dem Haus, der hatte geheiratet, der hatte ’ne Frau, auch sie aus wilhelminischer erfolgreicher Familie, gleichwohl jüdische Konvertiten, aber immerhin … sie waren also sozusagen auch vom Establishment, wohlhabend, alles war sehr gesettelt in dieser Ecke, und da war eben diese Schwester, die Künstlerin werden wollte – das ist schon so’n bisschen anrüchig … es war nix … nix Anständiges in der Gesellschaft.

Remy

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Radio-Feature zum 100. Todestag von Cornelia Gurlitt

Die Achse war immer Hildebrand und Cornelia, das waren … er, der die Kunst liebte; sie, die Künstlerin werden wollte; beide, die die moderne Kunst, die deutschen Künstler kraft ihrer Herkunft aus Dresden, kraft der persönlichen Bekanntschaft, die sie gemacht hatten, überhöhten. Das wurde für die zur raison d’être, also weit jenseits von allem anderen, von Politik und diesen Dingen. Entscheidend war, Gurlitt und seine Schwester definierten sich über Kunst. VORLESERIN Cornelia

Mein Dasein ist von einem seltsamen Leben durchdrungen, oft ist’s bewegt wie bei Shakespeare. Und da der Dienst eine erschreckend große Menge von Zeit in Anspruch nimmt, ist das Leben auf wenige Stunden konzentriert und hat dadurch einen ganz gewaltig starken Duft. […] Aber diese Stadt hier – das ist unergründlich – die Armen und vor allem die Kinder, das ist wie wenn die Frucht des Lebens aufgebrochen wäre und Du siehst schaudernd in das Innere – unerhörte Not und so unendlich viel sehr Merkwürdiges. Überschüttet von Bildern und Eindrücken komme ich jedes Mal heim. Und hier draußen dann der Wald, den ich jetzt anders und neu liebe, der mir immer wieder wie das Orchester ist zum Lied in meinem Innern.10

ERZÄHLER

Als Hildebrand 1917 auch nach Litauen versetzt wird und seine Schwester regelmäßig sehen kann, vertieft sich ihr Verhältnis. Die Beziehung zu ihrem älteren Bruder Wilibald, der gleich zu Kriegsbeginn in Gefangenschaft gerät, bleibt kompliziert.

VORLESERIN

Mein lieber großer Bruder. Von Herzen danke ich Dir für Deinen langen und freundlichen Brief, in dem Du mir auf Deine seltsame Art so herzlich sagst, dass Du [Dir] doch noch bewusst bist, eine Schwester zu besitzen. […] Du, wenn Du mal Zeit hast, so z. B. am Morgen nach einer recht feinen Aufführung, noch im Bette, dann musst Du mal so versuchen, Dir vorzustellen, wie so jemand lebt, der im Glauben nur für zwei Monate von Paris fortzugehen und dann seine Bilder zu malen – auf einmal Schwester ist – erst Wochen, dann Monate, nun Jahre. Und der im Herzen noch so treu wie je an seine Bilder denkt und doch sehr demütig und sehr stumm unter so vielen von nah gesehnen Leiden geworden ist. Du musst das nicht mit einem behäbigen „mater dolorosa“ abtun […]. Und da Du Dir Deine Leute dort kaum ansiehst, wär’s schon gut, Du hörst mal auf uns und wenn’s auch nur früh im Bette ist, länger brauchst Du das ja gar nicht.11

Cornelia

331

Frank Odenthal

ERZÄHLER

Der Briefwechsel Cornelias ist leider nur in Teilen erhalten geblieben. Es sind Dokumente der Verzweiflung, aber auch Zeugnisse der Lebenskraft dieser jungen Frau.

VORLESERIN

Ich kann fast nicht mehr malen, weil ich nie Zeit habe, aber nachts zeichne ich oft, Sachen die Du nicht verstündest – aber ich weiß, dass ich im Kriege trotz allem gewachsen bin – freilich fühlt jeder, dass der Boden nicht so fest ist, wie früher als das Malen mich bis in den Schlaf begleitete.12

Cornelia

ERZÄHLER

In der zweiten Jahreshälfte 1917 deutet sich an der Ostfront eine Entlastung für die kämpfenden deutschen Truppen an, noch verstärkt durch die Oktoberrevolution in Russland.

VORLESERIN

[E]s herrscht doch eine sehr hoffnungsvolle Stimmung, dass es nun bei uns sehr still wird.13 […] Ich habe weniger Dienst und male und zeichne viel und gehe oft stundenlang im Zimmer auf und ab und tue nichts. […] Eine Frau ohne Mann und Kind und mit einer großen, großen Menge von tot geschossenen lieben Freunden, ist wie ein Krüppel – was soll man davon reden? Manchmal male ich plötzlich ein wirklich gutes Bild, aber dann sage ich mir wieder, was geht es mich an. Freud’ habe ich keine dran, aber ich muss es malen, sonst reißt mich die Unruhe hin und her.14

Cornelia

ERZÄHLER

Als der Krieg im Osten zu Ende geht, hat Cornelia viel Schlimmes gesehen. Tote, Verwundete, Verstümmelte. Doch für ihre Entwicklung als Künstlerin war es eine sehr wichtige Zeit. Hier fand sie ihre Motive, hier fand sie auch ihren eigenen Stil. Und sie hat neben dem Horror im Lazarett auch Schönes erlebt. Sie hat sich trotz allem wohl gefühlt in Litauen.

VORLESERIN

Lieber Ebb [d.i. Wilibald]. Deine Karte kam heute. Vielen Dank. […] Ich selbst lebe hier ein sehr viel schöneres Leben als früher, habe einen Raum für mich, der sehr schön ist und habe auch Menschen, die mir freundlich gesonnen sind und gegen die es sich ohne Rückhalt sprechen lässt – ein lang entbehrter Genuss. Darunter ist ein „Journalist“, ein Mann, der auch Philosophie studiert hat, also ebenso gelehrt ist wie ihr, und der das ohne weiteres versteht, was ich denke und meine, wenn ich von Kunst spreche. Vielleicht wird dieser liebe Mann später einmal vermittelnd seinen [Mund] für mich auftun und in eurer weisen Redeart sagen, was ich so viel einfacher und kindlicher zu ihm sage.15

Cornelia

332

Radio-Feature zum 100. Todestag von Cornelia Gurlitt

Der Sommer war sehr schwer, mit malen wollen und immer wieder nicht können und aus einem Grunde war der Sommer auch sehr, sehr herrlich – doch später vielleicht sag’ ich Dir viel […].16 ERZÄHLER

Von wem spricht Cornelia hier? Hatte sie einen Liebhaber? – Hubert Portz hat eine bestimmte Person im Auge: den Journalisten und Kunstkritiker Paul Fechter.

O-TON

Fechter hat ’14 geheiratet und hatte auch schon eine Tochter, als er in Wilna war. Und das muss Cornelia bekannt gewesen sein, weil nämlich genau diese Arbeit, ihr Bild hier, trägt die Widmung „an Emma FechterVockeradt“. Das war seine Frau.

Portz

ERZÄHLER

Auf einer Lithografie, die Cornelia 1917 in Vilnius anfertigt, ist diese Widmung zu erkennen.

O-TON

Fechter beschreibt, dass man sich 1916 kennengelernt hat, und zwar durch eine Frau Schlösser, das war auch eine Lazarettschwester, die damals schon ein und aus ging in der Redaktion der Zeitung. Es gibt auch einen Hinweis in einem Brief, wo ihre Mutter Marie schreibt, Fechter habe Cornelia glücklich und unglücklich zugleich gemacht.

Portz

ERZÄHLER

Paul Fechter war 1916 nach Litauen versetzt worden, in die Presseabteilung der Militärverwaltung Ober Ost. Er war für die Kunstszene schon zu jener Zeit kein Unbekannter.

O-TON

Sie haben doch mit Fechter auch einen, der diesen Expressionismus sprachlich überhaupt erst in Worte und Buchstaben gegossen hatte, der eine Publizität ermöglicht hatte. Fechter hatte … war ja der erste mit dem großen Buch über den Expressionismus vorm Ersten Weltkrieg, der diese Kunst beschrieben hatte, diese, im Grunde genommen, Partisanen der Kulturszene … Das waren ja wilde Vögel, das war ja nicht wie heute, wenn Sie hören, Nolde oder Schmidt-Rottluff oder Kokoschka … Und wenn jetzt jemand wie der Fechter, ein arrivierter Autor aus der Kulturszene, denen ein Buch widmet, sie also sozusagen herauslupft aus der regionalen Geschichte und sagt, da ist was … Expressionismus, da ist ’ne Kunstform, die müssen wir ernst nehmen, dann ist das für die ganze Entwicklung schon ein epochaler Markstein gewesen – gerade dieser Fechter, der, wenn Sie so wollen, Guru des Expressionismus, der wirklich ’ne Bedeutung hatte, die wir heute gar nicht mehr nachvollziehen können, weil es einfach vorbei ist.

Remy

333

Frank Odenthal

ERZÄHLER

Tatsächlich galt Paul Fechter seit dem Erscheinen seines Buches „Der Expressionismus“ im Jahr 1914 als „Expressionismus-Papst“; als derjenige, der die neue Stilrichtung salonfähig gemacht hat. Und von eben diesem Fechter – dieses Gerücht kursiert im Familienkreis – soll Cornelia schwanger gewesen sein. Es gibt Hinweise in den Briefen der Angehörigen und auch im Werk Cornelias selbst. Aber hieb- und stichfeste Beweise sind das weder für eine Liebesbeziehung, noch für eine Schwangerschaft. So bleibt ein Schleier über Cornelias Leben, ein Kokon aus Gerüchten, Vermutungen und Interpretationen. Familiengossip, sozusagen.

O-TON

Wenn man jetzt kunsthistorisch streng wäre, würde man sagen, bevor diese Übertragungen passieren – das ist der und das ist dort, selbst mit Fragen, ist das wohl, weil? – braucht man eigentlich erstmal eine sorgfältige, seriöse Beschreibung der Bilder. Also sozusagen das Handwerkszeug jedes Kunsthistorikers oder jeder Kunsthistorikerin. Es würde darin bestehen, eine dichte Beschreibung dessen zu liefern, was wir sehen, damit wir uns einigen können: Sehen wir das eigentlich alle so? Oder fragen: Was macht die Künstlerin da und wie macht sie das? Und dann wäre die Frage an sich als Interpret: Was will man tun? Will man das Beschriebene weiterführen in einen autobiografischen bzw. biografischen Kontext? Dann muss man natürlich ganz viel mit Spekulationen arbeiten, Hypothesen bilden usw. Oder aber man bleibt stehen und sagt, hier ist eine Grenze, die wir bisher noch nicht überschreiten können, weil uns eben der genaue Kontext dazu fehlt, oder hier können wir nur spekulieren, dann müssen wir es wirklich richtig ausweisen als eine Spekulation. Also, diese Art über Bilder zu sprechen, gerade, denke ich, je weiter wir in die Gegenwartskunst kommen, also 20. Jahrhundert … die muss eigentlich sehr genau und sehr sorgfältig sein, was die Mittel, und sehr bescheiden sein, was die Deutung angeht.

Renner

ERZÄHLER

Renner-Henkes Wohnung ist so, wie man sich die Wohnung einer Kunsthistorikerin vorstellt: Ein Altbau, in jedem Zimmer Bücherregale, die bis unter die Decke reichen, und auch auf jedem Tisch und auf jeder Kommode liegen Bücher und finden sich kleine Kunstgegenstände.

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Radio-Feature zum 100. Todestag von Cornelia Gurlitt

O-TON Renner

Bei Cornelia Gurlitt ist es ja so, sie geht nicht in die Abstraktion dahingehend, dass die Bilder ungegenständlich werden, aber sie hat natürlich diese Brechungen und Gebärden; sie gehört in dieses Feld der expressionistischen Künstler und Künstlerinnen. In ihrem Umgang mit den Figuren ist das gut zu erkennen. Aber was genau ist eigentlich die Geschichte, die sie erzählt, oder erzählt sie überhaupt eine Geschichte, oder ist das ’ne Situation, ist das ’ne Szene, ein Teil einer Geschichte? Das ist die Herausforderung, denke ich, für Kunsthistoriker.

ATMO/O-TON

Portz, leise: „… auch noch mal im Hintergrund … da ist noch ’ne Studie … da scheint wohl ein Kind seiner Mutter … Weint sie? Eine Träne? … Da ist noch ein Gesicht dahinter, das scheint aber auf der Rückseite zu sein … sieht ja eher aus wie ’ne Gliederpuppe. Das Kind, die Augen, sind das hervorstechendste …“

ERZÄHLER

Zurück im Kunstmuseum Bern. Hubert Portz ist vertieft in Cornelias Arbeiten. Einige sind ihm bekannt, andere sieht er heute zum ersten Mal. Und findet Überraschendes, aber auch Vertrautes.

ATMO/O-TON

Portz, leise vorlesend: „Zum fünfzehnten September, für Hildebrand, von Eitel, aha … Diese Arbeit, die kenne ich auch … Oh, da … hatte ich, hab ich mich immer gefragt, was ist das, hat sie da was in der Hand? Da, in der linken Hand …“ Rascheln. Portz: „’ne Frau mit Kind, sicherlich ’ne Bettlerin, man sieht die Krücke … Oder, ist das ’ne Krücke? Die überdeutliche … Das könnte gut sein … Man sieht da ’ne Person, die sich abwendet. Man sieht da, und das ist ja auch wieder ganz typisch für sie, so steht sie auch im ‚Lazarett‘: die hilflose, offene Hand … Also, das erinnert mich ganz eindeutig an das Bild ‚Lazarett‘, wo sie da im Hintergrund … auf den Betten liegen die Soldaten, wir haben vorne den kleinen Tisch, es steht nur das Kerzchen drauf, es brennt das Licht, und hinten sieht man die verzerrten Gesichter. Sie steht da, auf der Brust hat sie ’ne … sieht so aus, als hätte sie’n Tier, einen Wolf … deutlich, wie der Krieg alle auffrisst, sie steht da und hat nichts, nicht mal was zu essen …“

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Frank Odenthal

O-TON Remy

Der Urknall der deutschen Kunst im 20. Jahrhundert: „Die Brücke“. Ausgesprochen nah am Haus Gurlitt, weil die Buben alle an der TU Architektur studieren, zum Teil beim Vater von Cornelia, weil die Familie die erste Ausstellung der „Brücke“ in der Lampenfabrik auch noch nachweislich aufgesucht hat. Also, sie kriegt das alles mit. Pechstein verkehrte im Hause. Später dann … die DresdenKünstler, eben, wie Wahle oder Felixmüller, die sich da in der nächsten Generation aufmachten, dürften sie auch beeinflusst haben oder geprägt haben.

ERZÄHLER

Bei dem Aquarell „Laufender Mann“ fällt durch die finstere, schwarz umhüllte Figur eines orthodoxen Juden im Vordergrund sofort der Bezug zu Chagall ins Auge. Gleichzeitig lassen die Farben, vor allem das kräftige Rot im Hintergrund an Matisse und sein „Le bonheur de vivre“ [„Lebensfreude“, 1905/06] denken, mit dem der französische Expressionismus, der Fauvismus, begründet wurde.

O-TON

Chagall zeigte in der Regel die Szenen aus Friedenszeiten, vor allem der Vorkriegszeit. Seine Erinnerungen hatten eigentlich nicht viel mit dem Krieg und seinen Leiden zu tun. Aber Cornelia mochte Chagall sehr, denke ich, und sie war beeindruckt von seinen Arbeiten. Allerdings war ihr Stil grober, sozusagen härter, weil eben auch ihr Thema ein anderes war.

Laučkaité

ERZÄHLER

Viele von Cornelias gezeichneten Porträts erinnern an die leidenden Gesichter bei Käthe Kollwitz. Und die rautenförmigen Gesichter in den Lithografien an den „Brücke“-Maler Ernst Ludwig Kirchner. In manchen Bildern wirken sie waagerecht verdreht, als wolle sich jemand eine Maske abziehen. Da liegt der Vergleich mit den kubistischen Porträts Picassos nahe. Viele Details, die eigene kleine Geschichten erzählen und die wie Vignetten über das Bild verteilt sind. Die Trennung in Vordergrund und Hintergrund scheint aufgehoben – auch das Merkmale der neuen expressionistischen Strömung jener Zeit.

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Radio-Feature zum 100. Todestag von Cornelia Gurlitt

O-TON Renner

Es ist fast ein Markenzeichen übrigens bei den Expressionisten. Wir haben natürlich Linien, hier runde Linien, fließende, aber ein Merkmal von deren Linienführung ist eigentlich, dass es ganz oft gebrochene Linien sind, kantige Linien. Aber nun muss man sagen, das ist natürlich vergleichsweise spät, also das heißt, wir haben ja längst den Expressionismus, also die „Fauves“ und die „Brücke“Künstler ab 1905, dann den Kubismus ab 1907 als ganz wichtiges Schlüsseldatum, die „Demoiselle d’Avignon“ von Picasso, also das Kultbild des Kubismus. Was macht der Kubismus? Der hat diese Brechung, diese Multiperspektivität, das Aufgeben einer zentralen Darstellungsperspektive. Das gehört nicht mehr in das klassische zentralperspektivische Paradigma. Und das paart sich dann mit dem Expressionismus, dieser Ausdruckskunst, der Folgezeit.

ERZÄHLER

Cornelias Bilder sind übersät mit Motiven, die immer wiederkehren. Als würden sie darauf warten, endlich interpretiert zu werden. Die Bettler. Die Kranken in den Betten. Die jüdischen Grabsteine: Hinweise auf ihre Ängste und Befürchtungen? Der ausgestreckte Zeigefinger: Anklage oder Fingerzeig auf Kommendes? Die Lichtquellen mit ihren markanten, kräftigen Strahlen: Hoffnung auf einen Ausweg, auf Erlösung, auf Erleuchtung? Der Rautenzweig: in der litauischen Tradition ein Zeichen für Keuschheit, aber auch für Verzweiflung. Die geöffneten, flehenden, abwehrenden Hände: ein Hilferuf? Das Apfelpaar, dem sich in späteren Bildern ein dritter, kleinerer Apfel hinzugesellt: Hinweise auf eine Schwangerschaft?

ATMO/O-TON

Rascheln. Portz, leise: „’Ne schöne Studie hier … – Das sind sicher die im Werkverzeichnis … Aktstudien, oder … Auch da, die zwei … nackt.“ Rascheln. Portz: „Das dürfte auch Vilnius sein, eindeutig für mich. Was wir oft finden, ist auch das Licht … Ist das …? Ja, das ist wahrscheinlich ’ne Backstube … und, oder … die Teller leer. Oder? Die Teller stehen leer alle im Regal … Und wieder steht sie da … lieber Gott … Da sehen wir die Betten. Genau, das ist im Lazarett … Da sehen wir die Betten … Ich denke, das ist ganz eindeutig Vilnius, Lazarett … was wir ja oft von hier auch aus den Berichten der Zeit hören, es mangelt an Essen und man kann noch nicht mal Menschen entsprechend versorgen … Das einzige, da hat man die Kerzen, das Licht brennt noch, alle heben die Hände.“

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Frank Odenthal

ERZÄHLER

Als der Krieg zu Ende geht, kehrt Cornelia zunächst nach Dresden zurück, zieht dann aber weiter nach Berlin, wo der Vater ihr ein Atelier einrichten lässt. Ihr Wille, auf eigenen zu Beinen stehen, eigenes Geld zu verdienen, ist ungebrochen. Sie spricht davon, Illustrationen einer Novelle von Gustave Flaubert zu malen. Doch worum es sich dabei konkret handelt, geht aus ihren Briefen nicht hervor. Das Land, in das sie zurückkehrt, ist nicht mehr das Deutschland, das sie kannte. Und auch sie selbst ist nicht mehr die optimistische, lebenshungrige Frau, die sie einmal war.

VORLESERIN

Ich habe noch nicht das richtige Leben hier in Berlin, es zerrt in einem fort hin und her. Ich male, aber nicht gut – ich hätte in Wilna bleiben sollen – aber das ging nicht.17 Was wir malten, dachten, fühlten (vor dem Kriege) war Anarchismus, an den wir innig und fromm glaubten – nun wir ihn in politischem Gewande sehen, ist er auch uns verhasst, aber wer könnte so schamlos sein, einfach lächelnd alles zu leugnen, was er vordem hochhielt.18

Cornelia

ERZÄHLER

Sie findet sich nicht mehr zurecht. Viele enge Freunde sind im Krieg gefallen. Die Freundinnen von einst sind ihr fremd geworden.

VORLESERIN

[…] mich überkommt ein namenloses Grauen vor den Weibern hier, die keine Frauen, sondern Mannweiber werden bei der Arbeit. So taste ich scheu und immer schweigsam herum, versuche zu malen, mache Bekanntschaft mit dem Teufel und in großen Ängsten auch mit Gott und verliere alle Lust zu den Menschen.19

Cornelia

ERZÄHLER

In Litauen hatte sie einen Bezugsrahmen: eine Aufgabe, die ihr die Anerkennung brachte, etwas Sinnvolles zu tun. Dieser Rahmen fehlt ihr jetzt. Und sie trauert wohl auch Fechter und ihrer gemeinsamen Zeit in Vilnius nach.

VORLESERIN

Mein lieber Vater. […] Du hast uns Schweigen gelehrt über das, was im Herzen vorgeht, und das war immer Wohltat und Ruhe, die von Dir kam. Wir alle haben Zeiten, in denen wir göttlich sind – und was man da erkennt, kann man nie mehr vergessen und merkt es – wieder Mensch geworden – sein ganzes Leben lang und wird alle Schrecken auf sich nehmen, um es zu merken – und wohl nie zu finden.20

Cornelia

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Radio-Feature zum 100. Todestag von Cornelia Gurlitt

O-TON Laučkaité

Ich nehme an, es war wichtig für sie, weil sie in Vilnius zur Künstlerin gereift ist. Weil sie sehr jung hierhergekommen ist und dann ihren Stil in Vilnius geformt hat. Sie fand hier ihre Themen, ihre Motive, ihre Art des Zeichnens und Malens. Und andererseits denke ich, dass diese Zeit auch für sie persönlich wichtig war, für ihre Entwicklung als Mensch. Als Expressionistin wollte sie das Leben in all seinen Ausdrucksformen erleben, Liebe, Trauer, alles hören und alles spüren. Ich habe in ihren Briefen gelesen, dass sie die Welt um sie herum erleben will – am Tag und in der Nacht. Und hier in Vilnius waren diese Erfahrungen, meiner Meinung nach, sehr tiefgreifend für sie.

ERZÄHLER

Sie lässt nur noch ihren jüngeren Bruder Hildebrand an sich heran. Der versucht zu helfen, will sie ins Elternhaus nach Dresden locken, wie er in einem Brief an den älteren Bruder Wilibald schreibt.

VORLESER

Ich glaube […] nicht, dass sie zu euch kommen wird, weil sie sich zu sehr schämt. Ich habe sie schon früher oft gebeten, hierher zu kommen, heraus aus dem wahnsinnigen Berlin […]. [Ihr] Zustand ist schwerer als man denken kann, aber man kann nicht helfen, weil sie ja ganz allein seit [langem] ihr Leben in der Hand hatte, das Äußerste, Höchste wollte und nicht resignieren will.21

Hildebrand

ERZÄHLER

Was Hildebrand im Frühjahr 1919 an die Familie meldet, lässt nichts Gutes erahnen.

VORLESER

Eitl [d. i. Cornelia] hockt in Berlin und weint einer glücklichen Zeit in Wilna (ehe ich hinkam) nach, in der für sie alles vollendet gewesen sei und deren Schönheit alle Hoffnung auf Kommendes vernichtet. […] Helfen kann niemand, denn was kann man einem Menschen helfen, der behauptet, er sei im Himmel gewesen [ …].22 Eitl ist, ja schreiben kann man es nicht – tot, ist vielleicht das treffendste Wort.23

Hildebrand

ERZÄHLER

Im Sommer 1919 verschlechtert sich ihr Zustand innerhalb weniger Wochen dramatisch. Am 1. August richtet sie noch ihr neues Atelier in Berlin ein, am 3. August ihre neue Wohnung. Über den 4. August wird Hildebrand später in einem Brief an Paul Fechter berichten:

VORLESER

Sie ging gegen 10 Uhr früh in eine Bäckerei, um zu frühstücken. Dort schlief sie ein, erwachte nicht mehr.24

Hildebrand

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Frank Odenthal

ERZÄHLER

Zu den Umständen ihres Todes, vor allem zu den Motiven, gibt es unterschiedliche Meinungen. Als sicher gilt, dass sie in Berlin am 4. August Gift nimmt und kurz darauf in einer Bäckerei kollabiert und ins Krankenhaus gebracht wird. In ihrer Hand soll sich ein Zettel befunden haben mit der Aufschrift „Paul Fechter“. Am Morgen des 5. August 1919 stirbt Cornelia im Krankenhaus.

ERZÄHLER

Ihr Vater schreibt Jahre später, seine Tochter habe „die körperlichen und seelischen Anstrengungen des Schwesterndienstes an der Front“ nicht verwinden können.25 Andere Familienangehörige sollen immer wieder die unglückliche Liebesbeziehung zu Paul Fechter und eine mögliche Schwangerschaft als Grund für den Selbstmord angegeben haben. Beweise hierfür fehlen. Und ob sie wirklich einen Zettel mit dem Namen Paul Fechters in der Hand hielt? – Welchen Rang Cornelia Gurlitt als Künstlerin einmal einnehmen wird, darüber werden die Kunsthistoriker entscheiden, die ihr Werk nun in Augenschein nehmen und zu entschlüsseln versuchen.

ATMO/O-TON

Doll: „Haben Sie sich mal mit den Beschriftungen dieser Blätter beschäftigt? Also, wenn man sich jetzt hier diese beiden Beschriftungen ansieht, die Signatur …“, Portz: „Das ist … sieht es …“, Doll: „Und die Beischrift …“, Portz: „Das scheint mir später, nachträglich …“, Doll: „Ja, sind zwei unterschiedliche Schriften, ja.“, Portz: „Das scheint mir später … Also, ich glaube auch nicht, dass sie zu diesem … Also, wenn ich das hier vergleiche mit dem anderen, weiß ich auch nicht, ob das ihre Schrift ist bzw. ob sie so akkurat … weil das erscheint mir nicht stimmig mit den anderen Unterschriften, die ich kenne.“, Doll: „Hier so mit dem Schriftvergleich hätte ich eben gemutmaßt, dass es die Schrift von Hildebrand ist.“, Portz: „Das sehe ich, das würde ich auch sagen. Das ist die Schrift von Hildebrand … Was auch stimmig wäre, weil, Hildebrand hat ja nach ihrem Tod – war ja verantwortlich für ihren Nachlass … das ist eindeutig …“

ERZÄHLER

Dr. Nikola Doll ist Leiterin der Abteilung Provenienzforschung. Sie ist verantwortlich für die Erforschung der Gurlitt-Sammlung und somit auch der Arbeiten Cornelias.

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Radio-Feature zum 100. Todestag von Cornelia Gurlitt

O-TON Doll

Die Werke sind seit ungefähr zwei Monaten im Haus. Das heißt, wir vom Kunstmuseum Bern werden jetzt erstmal diese Werke aufnehmen, wir werden sie von unserer Restauratorin Frau Dorothea Spitzer untersuchen lassen, und dann müssen wir einfach sehen, wie wir mit dem Werk in den nächsten Jahren umgehen werden, ob wir’s bearbeiten werden – ganz sicher werden wir es bearbeiten. Aber da sind wir ja jetzt erst am Anfang.

ERZÄHLER

Und wie schätzt sie den Rang der Künstlerin Cornelia Gurlitt ein?

O-TON

Es ist die Entdeckung eines doch relativ konsistenten Werkbestandes von einer Künstlerin, die noch am Anfang ihrer künstlerischen Entwicklung steht und bei der man sehen kann, wie sie ausprobiert, wie sie auch in den ersten Jahren so einen eigenen Stil entwickelt, womit sie sich anfängt auseinanderzusetzen. Man kann ahnen, an wem sie sich orientiert hat. Herr Portz hatte den Namen Chagall schon erwähnt. Es sind auf jeden Fall Künstler des deutschen Expressionismus auch darunter, der Blaue Reiter in der Farbgebung, oder zum Beispiel auch die Gruppe der Pathetiker, würde ich sagen, also um Ludwig Meidner, Janthur und Steinhardt. Jakob Steinhardt, also, von der Motivik her, von der Art, wie sie die Figuren entwickelt, zum Teil auch bis zum Strich hinein, würde ich sehen. Und dann natürlich auch diese Auseinandersetzung mit dem jüdischen Leben, mit der jüdischen Symbolik, die natürlich auch das Thema von den Pathetikern gewesen ist.

Doll

ATMO/O-TON

Doll: „Es fällt ja auch so’n bisschen raus. Also, wenn man jetzt …“, Portz: „Es fällt ’n bisschen raus, so das Anmutige …“, Doll: „wenn man das vergleicht mit den Blättern, die wir gesehen haben …“, Portz: „Auch diese gewisse Heiterkeit, die die Frau da … oder Freundlichkeit, die sie noch ausstrahlt … trotz der Farbe … Hab ich keine Idee … Das hier kenne ich auch … Ah, jetzt weiß ich auch, wann das entstanden ist … Wilna, Sonnabend, 4. Mai 18, für Hildebrand.“ Portz, leise: „Das seh’ ich auch eindeutig aus der Zeit von Vilnius, vom Strich und … würd’ ich das schon … auch wieder … haben ja dann Zuschauer … im Hintergrund … Sind das jetzt Frau und Mann? Und jemand schaut dazu …“, Doll: „Na, das scheint durch. Das ist auch noch mal so ’ne Kopfstudie, die auf der Rückseite des Blattes aufgetragen ist.“ Portz: „Ach so, auf der Rückseite … aufgebracht …“

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Frank Odenthal

ERZÄHLER

Hubert Portz stöbert weiter in den Drucken und Zeichnungen Cornelias. Mit einer Pinzette blättert er die transparenten Schutzfolien um, die die Bilder voneinander trennen. Kaum ein Bild scheint ihn wirklich zu überraschen; er erkennt Motive, einzelne Bildelemente, und meist fällt ihm auch die Jahreszahl ein, in der das Bild entstand. Und dann, nach über einer Stunde, macht er doch noch eine Entdeckung, auf die er insgeheim gehofft hatte.

ATMO/O-TON

Rascheln. Portz: „Aaaah … Super! … Dieses Blatt … das ist zu Flauberts ‚St. Julien‘. Jetzt geht mir ein Licht auf … Und zwar, das beschreibt sie auch. Als sie in Berlin ist kurz vor ihrem Tod, schreibt sie – oder war es Ende 1918, Anfang 1919? – schreibt sie an ihren Vater, ich bin dabei, einige Arbeiten zu Flaubert zu machen … Ich hab’ immer versucht herauszufinden, für mich auch, welche Geschichte von Flaubert würde ich jetzt Cornelia zutrauen. Und ich bin schon oft gefragt worden, gibt es dazu irgendwelche Arbeiten? – Das ist eine Arbeit dazu.“ – Doll: „Wie würden Sie das zuordnen?“ – Portz: „Das ist ja entstanden 1919, da sagt sie auch dazu, ich glaube, dass die Arbeiten gut werden, und berichtet dann auch in einem Brief, da ist es aber uneindeutig, dass sie schon einige Arbeiten verkauft habe. Das ist ja schon ein ganz anderes Bild, wir haben es ja hier eigentlich nur mit Tieren … Das ist ein Schwein, das ist ein Hirsch, es sind da noch ganz viele Tiere, da eine Eule, da ein Reh, hier scheint sowas wie ’ne Schlange zu laufen … Wieder typisch die Blumenfelder, die oft auftauchen in ihren Bildern, schon in den Arbeiten aus Vilnius … Aber es sieht ja aus, als wären die alle von Pfeilen getroffen … Wenn ich hier dieses Tier … Ich weiß nicht, wächst da was raus? Oder ist das ein Pfeil von so ’nem Bogen getroffen, diese beiden?“

ERZÄHLER

Wann die Arbeiten Cornelias, die im Kunstmuseum Bern lagern, zu besichtigen sein werden, ist noch nicht klar. Im Staatlichen Jüdischen Gaon-Museum in Vilnius hängen sechzehn ihrer Bilder, die Hubert Portz 2014 gleich nach der Ausstellung in seiner Pfälzer Galerie gestiftet hat. Er plant auch, einen Werkkatalog herauszugeben. Doch wann der erscheinen wird, ist noch offen.

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Radio-Feature zum 100. Todestag von Cornelia Gurlitt

VORLESER Fechter

[…] diese Frau, deren Namen und Leistung nur dem kleinen Kreis der Menschen bekannt wurden, die ihr im Leben begegneten, war vielleicht die genialste Begabung der jüngeren expressionistischen Generation […]: was sie zu jener Zeit an Zeichnungen, Lithographien, Gemälden schuf, gehörte zum stärksten Ausdruck in der Kunst jener Jahre, hatte vor allem im Umkreis der weiblichen Leistungen kaum seinesgleichen.26

ERZÄHLER

Das schrieb Paul Fechter, ihr Freund und wohl auch Liebhaber, viele Jahre nach Cornelias Tod. Hildebrand versprach, ihr Andenken zu bewahren. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs machte er sich als Kunsthändler einen Namen. Besonders hatten es ihm die französischen und deutschen Expressionisten angetan. Doch die wurden von den Nationalsozialisten in den 30er-Jahren als „entartet“ bezeichnet und aus den Museen entfernt. Die neuen Machthaber enteigneten die rechtmäßigen Besitzer der Kunstwerke, sofern sie Juden waren, und beauftragten Kunsthändler, die erbeuteten Werke im Ausland zu verkaufen. Hildebrand Gurlitt gehörte zu den bedeutendsten von ihnen. Auch Cornelias Bilder wären von den Nationalsozialisten wohl als entartet eingestuft worden, doch sie befanden sich im Besitz der Familie und waren geschützt. Erst jetzt sind sie wieder aufgetaucht: beim „Schwabinger Kunstfund“, zusammen mit Werken von Monet und Matisse, Picasso, Beckmann, Nolde, Kirchner …

O-TON Remy

Ich kenn’ die Gurlitt-Sammlung besser als jeder andere im Augenblick, immer noch, ja. Und das ganze Gelaber von Wiederentdeckung und Auftauchen und so, ist alles ein furchtbarer Schmarrn. Das einzige, was wirklich eine echte Wiederentdeckung ist, wissen Sie, im Sinne von kunsthistorischer Überraschung, von Bedeutung, das ist das Werk von Cornelia Gurlitt. Dass da aus dem Dunkel der Geschichte in Umrissen nochmal so 140 Werke einer wirklich begnadeten expressionistischen Künstlerin – und die Betonung ist auf KünstlerIN – ans Tageslicht gekommen sind, das ist echt irre.

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Anmerkungen Einleitung 1

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Das wäre zumindest eine bemerkenswerte öffentliche Anerkennung; im Vorjahr hatte er feierlich in der Aula der Universität seine Antrittsvorlesung zum Thema „Das Problem der Periodisierung in der Musikgeschichte“ (27.  Mai 1921) gehalten, wo er seit dem 1. Oktober 1920 als planmäßiger außerordentlicher Professor wirkte. S. dazu die Unterlagen im Universitätsarchiv Freiburg; B34/296 und B 24/1127. Aus Dresden am 21. April 1922; zit. nach Cornelius Gurlitt (1850 bis 1938). Sechs Jahrzehnte Zeit- und Familiengeschichte in Briefen, hg. von Matthias Lienert unter Mitarbeit von Oliver Gülck, Claudia Nowak und Ursula Spitzner, Dresden 2008, S. 127. [Hofrath Gurlitt als Jubilar.] In: Neue Freie Presse, Morgenblatt, Nr. 11800, Wien, Mittwoch, 30. Juni 1897, S. 1. Vgl. dazu Meike Hoffmann / Nicola Kuhn, Hitlers Kunsthändler Hildebrand Gurlitt 1895–1956. Die Biographie, München 2016, S. 236f.; zur Rekonstruktion der komplexen politischen Geschichte um die Verhaftung von Cornelius Gurlitt (III) s. Maurice Philip Remy, Der Fall Gurlitt. Die wahre Geschichte über Deutschlands größten Kunstskandal, Berlin u. a. 2017. „Tatsächlich […] wurden in diese Bataillone nicht ‚Vierteljuden‘ wie er gezwungen, sondern ‚Halb­ juden‘ und ‚Versippte‘.“ Hoffmann/Kuhn, Hitlers Kunsthändler (wie Anm. 4), S. 237. Hoffmann / Kuhn: Hitlers Kunsthändler (wie Anm. 4), S. 236. Remy, Der Fall Gurlitt (wie Anm. 4), S. 330f. und S. 396. Vgl. Oliver Meier, Michael Feller, Stefanie Christ, Der Gurlitt-Komplex. Bern und die Raubkunst, ­Zürich 2017, und die Rezension von Lea Haller, „Der Gurlitt-Komplex“, H-Net, Clio online, Jan 2018. Vgl. dazu den Katalog Bestandsaufnahme Gurlitt, hg. von der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland und dem Kunstmuseum Bern, München 2017, und jetzt auch Wolfgang ­Gurlitt Zauberprinz. Kunsthändler – Sammler, Kunstmuseum Linz und Museum im Kulturspeicher Würzburg, München 2019. S. dazu das Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorie, hg. von Christian Klein, Stuttgart/ Weimar 2009. Vgl. auch Thomas Etzenmüller, Biographien. Lesen – erforschen – erzählen, Frankfurt a. M./New York 2012. Exemplarisch seien hier genannt André Burguière / Christine Klapisch-Zuber u.  a.: Geschichte der Familie. 4 Bde. (1996–1998); Albrecht Koschorke, Die Heilige Familie und ihre Folgen (2000); ­Albrecht Koschorke u.  a., Vor der Familie. Grenzbedingungen einer modernen Institution (2010), Elisabeth Roudinesco, Die Familie ist tot  – Es lebe die Familie (frz. 2002; dt. 2008); Claudia Brinker-von der Heyde / Helmut Scheuer (Hg.), Familienmuster – Musterfamilien. Zur Konstruktion von Familie in der Literatur (2004); Sarah Blaffer Hrdy, Mütter und andere. Wie die Evolution uns zu sozialen Wesen gemacht hat (2009). Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik, 1851–1869. Bd. 3: Die Familie, Stuttgart, Augsburg 1855. Vgl. zur Vorgeschichte auch Friederike Kuster: Rousseau  – Die Konstitution des Privaten. Zur Genese der bürgerlichen Familie, Berlin 2005. Vgl. dazu die Einleitung in: Albrecht Koschorke, Nacim Ghanbari u. a., Vor der Familie. Grenzbedingungen einer modernen Institution, Konstanz 2010, S. 7–70.

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Anmerkungen 14

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Ludwig Gurlitt, in: Die Pädagogik der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hg. von Erich Hahn, Leipzig 1927, S. 29. Vgl. Elisabeth Timm, Von wem man ist. Ontologien von Familie und Verwandtschaft zwischen Wissenschaft und Alltag, in: Recherche 1, 2012, S. 12f. Vgl. Ohad Parnes / Ulrike Vedder / Stefan Willer, Das Konzept der Generation. Eine Wissenschaftsund Kulturgeschichte, Frankfurt a. M. 2008. Karl August Varnhagen von Ense, Denkwürdigkeiten des eigenen Lebens [1837–42]. 1. Bd. (1785– 1810), hg. von Konrad Feilchenfeldt, Frankfurt a. M. 1987 (Werke in fünf Bänden), S. 9f. Zu den vielfältigen terminologischen Unterscheidungen, insbesondere in der Ethnologie, s. das Glossar in: Geschichte der Familie, hg. von André Burguière u. a. Bd. 1: Altertum, Darmstadt 1996, S. 295–305. Brief aus Dresden vom 31. Mai 1933, in: Lienert (Hg.), Cornelius Gurlitt (wie Anm. 2), S. 239f. Der Theologe Martinus Gorlitius (auch: Gorolitius) / Martin Görlitz war Prediger in Torgau, 1528–1543 Superintendent in Braunschweig, 1543 Prediger und theolog. Lektor ebd., 1545 bis zu seinem Tod 1549 Superintendent und Professor in Jena. Vgl. Jürgen Diestelmann, [Artikel] Martin Görlitz, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, https://www.bbkl.de/public/index.php/frontend/lexicon/G/ Go/goerlitz-martin-57089.

Warum die Gurlitts nicht die Buddenbrocks sind. Familien-Narrativ und Generationen-Diskurs 1 2

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Thomas Mann, Tagebücher 1953–1955, hg. v. Inge Jens, Frankfurt a. M. 2003, S. 268. Hans Pleschinski, Königsallee. Roman, München 2013, S. 304f. Roman und Tagebucheinträge widersprechen sich hier in den Zeitangaben. Den nachmittäglichen Besuch Pleschinskis datiert Thomas Mann nach der Rückkehr in die Schweiz im Tagebuch auf „vormittags“ (Mann, Tagebücher, S. 267), allerdings damit auch vor der Abfahrt von Köln nach Düsseldorf. Vgl. Catherine Hickley, The Munich Art Hoard. Hitler’s dealer and his secret legacy, London 2015, S. 126 und 213. Vgl. dazu auch den Beitrag von Andreas Rossmann, Das zweite Leben des Hildebrand Gurlitt. Keine Fahne am Mast, nur Fähnchen im Wind?, in: FAZ, 11.11.2013; www.faz.net/ aktuell/feuilleton/kunst/der-fall-gurlitt/das-zweite-leben-des-hildebrand-gurlitt-keine-fahne-ammast-nur-faehnchen-im-wind-12657418.html (Stand 24.04.2017). Vgl. Gottfried Benn, Das Genieproblem, in: Marguerite Schlüter (Hg.), Gottfried Benn. Essays, Reden, Vorträge. Das Hauptwerk. 2. Bd., Wiesbaden u. München 1980, S. 29–44. Walter Benjamin, Einbahnstraße, in: Ders., Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen. (Gesammelte Schriften, IV.1), Frankfurt a. M. 1980, S. 83–148, hier S. 104–105. Dass auch bei der Darstellung von Stammbäumen Selektions- und Bewertungsprozesse stattfinden, die wiederum eine ganz eigene Deutungsgeschichte erzählen, hat zuletzt Astrit Schmidt-Burkhardt mit einem Blick auf ‚Kunststammbäume‘ gezeigt. Dies., Stammbäume der Kunst. Zur Genealogie der Avantgarde, Berlin 2005. Ohad Parnes, Ulrike Vedder, Sigrid Weigel, Stefan Willer (Hg.), Generation. Zur Genealogie des Konzepts – Konzepte von Genealogie, München 2005, S. 9. Vom ‚Fall Gurlitt‘ ist nicht nur in der Presse die Rede  – vgl. exemplarisch die unter dem Rubrum ‚Fall Gurlitt‘ gesammelte Berichterstattung der Süddeutschen Zeitung und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: www.sueddeutsche.de/thema/Fall_Gurlitt-4 (Stand 24.04.2017); www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/der-fall-gurlitt/ (Stand 24.04.2017) –, sondern auch in den danach erschienenen monographischen Darstellungen. Vgl. etwa Johannes Heil u. Annette Weber (Hg.), Ersessene Kunst. Der Fall

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Gurlitt, Berlin 2015; Stefan Koldehoff, Ralf Oehmke, Raimund Stecker, Der Fall Gurlitt. Ein Gespräch, Berlin 2014; Stefan Koldehoff, Die Bilder sind unter uns. Das Geschäft mit der NS-Raubkunst und der Fall Gurlitt, Berlin 2014. Vgl. dazu die Kapitel „Das Problem ‚Verfall‘“ und „Die Figuren und ihre Stellung im ‚Verfall‘‘‘, in: Ken Moulden, Gero von Wilpert (Hg.), Buddenbrooks-Handbuch, Stuttgart 1988, S. 157–200 sowie aktueller etwa Claudia Bahnsen: ‚Verfall‘ als Folge zunehmender Identitäts- und Existenzunsicherheit. Eine Studie zu Thomas Manns ‚Buddenbrooks‘, Marburg 2003; Walter Erhart, Thomas Manns ‚­Buddenbrooks‘ und der Mythos zerfallender Familien, Frankfurt a. M. 2004; Heide Lutosch, Ende der Familie – Ende der Geschichte. Zum Familienroman bei Thomas Mann, Gabriel García Márquez und Michel Houellebecq, Bielefeld 2007; Friedhelm Marx, Thomas Manns ‚Buddenbrooks‘ und die Familienromane der Gegenwartsliteratur, Bonn 2012; Johannes Roskothen, Firma? Ruiniert. Häuser? Verkauft. Familie? Ausgestorben. Figurationen des Abstiegs in Thomas Manns erstem Roman ‚­Buddenbrooks. Verfall einer Familie‘, in: Düsseldorfer Beiträge zur Thomas-Mann-Forschung 1 (2011), S. 3–14. Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie. Roman. Hg. u. textkritisch durchgesehen v. Eckard Heftrich (Große kommentierte Frankfurter Ausgabe), Frankfurt a. M. 2002. Stammbaum der Familie Buddenbrook, in: Moulden, Wilpert (Hg.), Buddenbrooks-Handbuch (wie Anm. 9), S. 28. Vgl. zum Folgenden Anna Kinder, Geldströme. Ökonomie im Romanwerk Thomas Manns, Berlin u. Boston 2013, S. 25–55. Thomas Mann, Buddenbrooks (wie Anm. 10), S. 318. Ebd., S. 160. Ebd., S. 475. Ebd., S. 576. Vgl. etwa Ohad Parnes, u. a., Generation (wie Anm. 7); Sigrid Weigel, Genea-Logik. Generation, Tradition und Evolution zwischen Kultur- und Naturwissenschaft, München 2006; Ohad Parnes, Ulrike Vedder, Stefan Willer, Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Frankfurt a. M. 2008. Vgl. Simone Costagli, Matteo Galli (Hg.), Deutsche Familienromane. Literarische Genealogien und internationaler Kontext, München u. Paderborn 2010; Friederike Eigler, Gedächtnis und Geschichte in Generationenromanen seit der Wende, Berlin 2005; Julian Reidy, Rekonstruktion und Entheroisierung. Paradigmen des ‚Generationenromans‘ in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Bielefeld 2013; Björn Bohnenkamp, Till Manning, Eva Maria Silies (Hg.), Generation als Erzählung. Neue Perspektiven auf ein kulturelles Deutungsmuster, Göttingen 2009. Vgl. Harald Welzer, Schön unscharf. Über die Konjunktur der Familien– und Generationenromane, in: Mittelweg 36 (2004), S. 53–64; Fabrizio Cambi (Hg.), Gedächtnis und Identität. Die deutsche Literatur nach der Vereinigung, Würzburg 2008; Friederike Eigler, Gedächtnis und Geschichte (wie Anm.18). Sigrid Weigel, Genea-Logik (wie Anm. 17), S. 91. Vgl. Harald Welzer, Schön unscharf (wie Anm. 19). Das Denken in Generationen und die Verbindung bestimmter Kohorten mit bestimmten Eigenschaften, Mentalitäten und Lebensweisen – von Helmut Schelskys skeptischer Generation bis hin zu den Generationen X oder Golf – bestimmte auch die Soziologie der Nachkriegszeit. Thomas Macho, Deutsche Dynastien. Die wahre Heldin ist die Zeit, in: Cicero. Magazin für Politische Kultur, 7.07.2009; www.cicero.de/salon/die-wahre-heldin-ist-die-zeit /43661 (Stand 24.04.2017). Vgl. etwa Viviane Chilese, Die Macht der Familie. Ökonomische Diskurse in Familienromanen, in: Costagli, Galli (Hg.), Deutsche Familienromane (wie Anm. 18), S. 121–130. Eine exemplarische Auswahl: Heinrich Breloer u. Horst Königstein, Die Manns. Ein Jahrhundertroman, Frankfurt a.  M. 2001; Jonathan Carr, Der Wagner–Clan. Geschichte einer deutschen Familie, Hamburg 2008; Uwe–Karsten Heye, Die Benjamins. Eine deutsche Familie, Berlin 2014; Rüdiger Jung-

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bluth, Die Oetkers. Geschäfte und Geheimnisse der bekanntesten Wirtschaftsdynastie der Deutschen, Frankfurt a. M. 2004; Peter Köpf, Die Mommsens von 1848 bis heute. Die Geschichte einer Familie ist die Geschichte der Deutschen, Hamburg 2004; Thomas Lackmann, Das Glück der Mendelssohns. Geschichte einer deutschen Familie, Berlin 2005; Tilmann Lahme, Die Manns. Geschichte einer Familie. Frankfurt a. M. 2015; Erik Lindner, Die Reemtsmas. Geschichte einer deutschen Unternehmerfamilie, Hamburg 2007; Frederic Morton, Die Rothschilds. Porträt einer Dynastie, Wien 2004; Astrid von Pufendorf, Die Plancks. Eine Familie zwischen Patriotismus und Widerstand, Berlin 2006; Thomas Range, Die Flicks. Eine deutsche Familiengeschichte über Geld, Macht und Politik, Frankfurt a. M. 2004; Julius H. Schoeps, Das Erbe der Mendelssohns. Biografie einer Familie, Frankfurt a. M. 2009; Heike Specht, Die Feuchtwangers. Familie, Tradition und jüdisches Selbstverständnis, Göttingen 2007; Eberhard Straub, Die Furtwänglers. Geschichte einer deutschen Familie, München 2007; Ulrich Völklein, Die Weizsäckers. Macht und Moral – Porträt einer deutschen Familie, München 2004; Alexander Waugh, Das Haus Wittgenstein. Geschichte einer ungewöhnlichen Familie, Frankfurt a. M. 2009; Eva Weissweiler, Die Freuds. Biografie einer Familie, Köln 2006. Denkt man an Thomas Mann und seine Äußerungen um die Zeit des Ersten Weltkriegs, an den von ihm stark gemachten Gegensatz von deutscher Kultur und westlicher Zivilisation, so werden die Problematik und das Abgrenzungspotential solcher Zuschreibungen schnell deutlich. Es gibt im 20. Jahrhundert wohl kaum einen Autor, dessen Familienkonstellation so viel Interesse auf sich gezogen hat, wie Thomas Mann. Vgl. jüngst Tilmann Lahme, Die Manns (wie Anm. 25); Tilmann Lahme, Holger Pils u. Kerstin Klein (Hg.), Die Briefe der Manns. Ein Familienporträt, Frankfurt a. M. 2016. Vgl. etwa Matthias Lienert (Hg.), Cornelius Gurlitt (1850 bis 1938). Sechs Jahrzehnte Zeit- und Familiengeschichte in Briefen, Dresden 2008 (Bausteine aus dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde 10); Arne Kontze, Der Reformpädagoge Prof. Dr. Ludwig Gurlitt (1855–1931). Bedeutender Schulreformer oder ‚Erziehungsanarchist‘? Ein Lebensbild als Beitrag zur Historiographie der Reformpädagogik, Göttingen 2001; Jürgen Paul, Cornelius Gurlitt. Ein Leben für Architektur, Kunstgeschichte, Denkmalpflege und Städtebau, Dresden 2003. Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Gurlitt_(Familie) (Stand 24.04.2017). Ebd. Hilde Herrmann, Große Familien VII. Die Gurlitts, in: Neue Deutsche Hefte Januar (1955), S. 770–783. Ebd., S. 770. Ebd., S. 783. Die deutsche Übersetzung ist 2016 erschienen: Catherine Hickley, Gurlitts Schatz. Hitlers Kunsthändler und sein geheimes Erbe. Aus dem Engl. von Karin Fleischanderl, Wien 2016. Vgl. Susan Ronald, Hitler’s Art Thief. Hildebrand Gurlitt, the Nazis and the Looting of Europe’s Treasures, New York 2015, Abbildung zwischen S. 114 und 115; Hickley, The Munich Art Hoard (wie Anm. 3), S. 244–245; Meike Hoffmann u. Nicola Kuhn, Hitlers Kunsthändler. Hildebrand Gurlitt 1895–1956, München 2016, S. 25. Hier handelt es sich immer um Cornelius („den III“; 1932–2014). Hickley, The Munich Art Hoard (wie Anm. 3), S. 27. Ronald, Hitler’s Art Thief (wie Anm. 35), S. 15. Ebd., S. 16. Vgl. dazu insgesamt Andreas Hüneke, Fund Gurlitt – Fall Kunstkritik. Der Nazi Schatz. Analyse einer Berichterstattung. Mit einem Nachwort v. Walter Vitt, Deiningen 2015, der vor allem die Frage nach dem Verhältnis von Öffentlichkeit und Persönlichkeitsschutz in den Mittelpunkt rückt. Julia Voss, Spektakulärer Kunstfund. Marc, Matisse, Picasso, Dürer, in: FAZ, 4.11.2013; www.faz.net/­ aktuell/feuilleton/kunst/der-fall-gurlitt/spektakulaerer-kunstfund-marc-matisse-picasso-duerer12648192.html (Stand 24.04.2017).

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Andreas Rossmann, Das zweite Leben des Hildebrand Gurlitt (wie Anm. 3). Vgl. Julia Voss, Spektakulärer Kunstfund (wie Anm. 41), die feststellt: „Das eigentlich Erschreckende an Gurlitts Fall ist seine Normalität.“ Vgl. ebenso Dies., Die besondere Rolle der Herren Gurlitt, in: FAZ, 6.11.2013, www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/der-fall-gurlitt/muenchener-kunstfund-die-besondere-rolle-der-herren-gurlitt-12651727.html (Stand 24.4.2017). Julia Voss, Die Lügen des Vaters waren die Lügen der Bundesrepublik, in: FAZ, 11.11.2013; www.faz. net/aktuell/feuilleton/kunst/der-fall-gurlitt/der-fall-gurlitt-und-die-politik-die-luegen-des-vaterswaren-die-luegen-der-bundesrepublik-12658999.html (Stand 24.4.2017). Koldehoff, Oehmke, Stecker, Der Fall Gurlitt (wie Anm. 8), S. 3f. Ebd., S. 12. Johannes Heil, Annette Weber, Ersessene Kunst, Der Fall Gurlitt. Zur Einführung, in: Dies. (Hg.), Ersessene Kunst (wie Anm. 8), S. 7–17, hier S. 13. Joachim H. Knoll, Bürgerliche Lebenswelt im Spiegel ‚deutscher Familien‘, in: Zeitschrift für Religions– und Geistesgeschichte 58 (2006), S. 357–364, hier S. 359. Bernd Roeck, Die Warburgs, in: Volker Reinhardt (Hg.), Deutsche Familien. Historische Portraits von Bismarck bis Weizsäcker, München 2005, S. 275–306, hier S. 279. Zu erwähnen ist hier auch Wolfgang Gurlitt, der Cousin Hildebrand Gurlitts, der ebenfalls in den Verkauf von NS-Raubkunst ins Ausland verwickelt war. Vgl. Peter Dittmar, Die Gurlitts. Ein deutscher Kunsthändler-Clan, in: Welt, 4.11.2013; www.welt.de/kultur/kunst-und-architektur/article121531991/ Die-Gurlitts-ein-deutscher-Kunsthaendler-Clan.html (Stand 24.04.2017).

Geschichte und Familiengeschichte. Johann Gottfried Gurlitt und Johann August Wilhelm Gurlitt 1

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Deutsches Geschlechterbuch. Genealogisches Handbuch Bürgerlicher Familien, hg. von Bernhard ­Koerner, Bd. XXII, Görlitz 1912: Familie Gurlitt S. 101–126, hier S. 102. (Hiernach auch die genealogischen Angaben im Folgenden.) Zugrunde liegen Familienaufzeichnungen sowie Daten kirchlicher und anderer Institutionen. Dies allerdings nur für den Zweig, der den Aufschwung genommen hat – die Daheim- und Zurückgebliebenen sind nicht dokumentiert. Auszug aus dem Taufregister der Thomaskirche: Carl Christian, getauft 21.  Juni 1746 (das Datum 1748 im genealogischen Handbuch ist entsprechend zu korrigieren); Ernst August, getauft 2.  März 1748; Gottlob Wilhelm, getauft 9. August 1751. Die Mutter heißt Maria Dorothea, geb. Illig. (Freundliche Mitteilung des Kirchlichen Archivs Leipzig). Nach der Familienüberlieferung war auch Christian Schneidermeister, doch das dürfte einer Angleichung an Johann Georg Gurlitt geschuldet sein. Im Handwerksbuch der Schneiderinnung (seit 1773) wird Christian Gurlitt jedenfalls nicht erwähnt. Einheirat ist eine typische Form des sozialen Aufstiegs. Vgl. Friedrich Fürstenberg, Das Aufstiegsproblem in der modernen Gesellschaft, 2. Aufl. Stuttgart 1969, S. 74f. Die Liste der geadelten Künstler bis 1800 bei Martin Warnke, Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers, Köln 1985, S. 217ff. In der Lebensgeschichte von Anton Reiser (Karl Philipp Moritz) ist nachzulesen, wie der Held sich allein durch die Matrikel der Universität Erfurt sozial erhoben fühlt: „Er stand nun wieder in Reihe und Glied, war ein Mitbürger einer Menschenklasse, die sich durch einen höhern Grad von Bildung vor allen übrigen auszuzeichnen strebt. Durch seine Matrikel war seine Existenz bestimmt: kurz er betrachtete sich, als er wieder vom Petersberge hinunterstieg, wie ein anderes Wesen“. Karl Philipp Moritz, Anton Reiser. Ein psychologischer Roman [1785–1790], hg. von Wolfgang Martens, Stuttgart

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2001, S. 444. Vgl. auch Heinrich Bosse, Gelehrte und Gebildete – die Kinder des 1. Standes, in: ders., Bildungsrevolution 1770–1830, hg. mit einem Gespräch von Nacim Ghanbari, Heidelberg 2012, S. 327350. Zum Begriff der sozialen Macht vgl. Fürstenberg, Aufstiegsproblem (wie Anm. 3), bes. S. 46f. Die Liste der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten, die das Time Magazine seit 1999 jährlich veröffentlicht, bezieht auch Medien und Meinungen mit ein; viele andere Listen dieser Art, von den 100 spirituell Einflussreichsten bis zu den 100 einflussreichsten Personen des Kunstmarkts, multiplizieren die Spielarten sozialer Macht. Louis Gurlitt, Jugenderinnerungen des Altonaer Malers Prof. Louis Gurlitt, in: Heimatliches Buxtehude. Im Auftrage des Heimatvereins hg. von Helmut Roscher und Karl E. Fick, Stade-Buxtehude 1965, S. 176–198. Gustav Cornelius Gurlitt, Aufzeichnungen aus meinem und der Meinigen Leben; für meine Kinder bestimmt. Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg: Signatur 424-88/22/1 Fam. Gurlitt. Für die Vermittlung einer Kopie danke ich Frau Elizabeth Baars (Hamburg). Ernst Philipp Ludwig Calmberg, Geschichte des Johanneums zu Hamburg. Aus dem Lateinischen übersetzt, Hamburg 1829. Darin Gurlitts Lebensabriss (übersetzt) bis zum Jahr 1797 anlässlich seiner Antrittsrede als Professor am Akademischen Gymnasium (1803), S. 268–280. Hiernach auch die Zitate im Text. Christian Victor Kindervater, Ueber Johann Friedrich Fischer, gewesenen Rektor der Thomasschule zu Leipzig, als Schulmann, Leipzig 1801, S. 44ff. Fischer (1726–1799), ein Studienfreund Lessings, wurde 1762 außerordentlicher Professor der alten Literatur an der Universität und amtierte von 1766 bis zu seinem Tod als Rektor. Explanatio Brevis Hymni XXXXIII Davidis. Proposita Tum Quum E Disciplina Scholae Thomanae Discederet. Ab Johanne Godofredo Gurlito Lipsiensi, Halle 1773. Am 16. März 1778 bittet Johann Georg Gurlitt um Verlängerung des Stipendiums für seinen Sohn bis Michaelis. Handwerksbuch der Schneiderinnung Leipzig Bl.74 (Freundliche Mitteilung von Frau Carla Calov, Leipzig). Friedrich Gabriel Resewitz, Die Erziehung des Bürgers zum Gebrauch des gesunden Verstandes und zur gemeinnützigen Geschäfftigkeit, Kopenhagen 1773 (2. Aufl. 1776). Ders,: Nachricht von der gegenwärtigen Einrichtung in Unterricht, Lehrart und Erziehung auf dem Paedagogio zu Kloster Bergen, Magdeburg 1776, S. 16. Heinrich Stephani: Authentische Beschreibung des jezzigen Zustandes des Pädagogiums zu Kloster Berge, in: Archiv für die ausübende Erziehungskunst I (1791), S. 150–180, hier S. 167. Die Zahl der Schüler, die in den früheren, streng pietistischen Zeiten bis zu 150 betragen hatte, sank unter Resewitz bis auf 27 im Jahr 1793 (im Alter zwischen 10 und 20 Jahren). Hugo Holstein, Geschichte der ehemaligen Schule zu Kloster Berge, Leipzig 1886, S. 86. – Was die Währungsangaben betrifft, so kann man zum Vergleich davon ausgehen, dass ein Student gegen Ende des 18. Jahrhunderts im Jahr etwa 250 bis 300 Rth benötigte (heute ca. 10 000 €). Vgl. Heinrich Bosse, Studien- und Lebenshaltungskosten Hallischer Studenten, in: Universitäten und Aufklärung, hg. von Notker Hammerstein, Göttingen 1995, S. 137–158. Johann Gurlitt, Schulschriften, Bd. I, Magdeburg 1801, 4. Schulrede, S. 40. Stephan Schütze, Lebensgeschichte, Neuhaldensleben 1834. Teil I, S. 183. Stephan Schütze (1771–1839) besuchte die Schule Kloster Berge von 1789 bis 1794 und lebte schließlich als freiberuflicher Publizist in Weimar. Friedrich von Matthissons Selbstbiographie, Wien 1818, S. 21f. Der Dichter Friedrich (von) Matthisson war 1774–1778 Schüler in Kloster Berge, also vor Gurlitts Zeit. Schütze, Lebensgeschichte (wie Anm. 16), S. 143ff; vgl. a. Litteratur- und Theater-Zeitung auf das Jahr 1784: Aus Magdeburg den 14ten April 1784, S. 71f.

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Ebd., S. 174. Die offizielle Schulrevision des Jahres 1794 bestätigt Schützes Erinnerungen. Vgl. Paul Schwartz, Die Gelehrtenschulen Preußens unter dem Oberschulkollegium (1787–1806) und das Abiturientenexamen, Bd. III (Monumenta Germaniae Paedagogica 50), Berlin 1912, S.108–113. Gurlitts Lebensabriss (wie Anm. 9), S. 270f. Auch ein anderer Lehrer war Mitglied in der Magdeburger Loge, dazu ausnahmsweise ein Schüler. Matthisson, Selbstbiographie (wie Anm. 17), S. 23. [Johann Gottfried Gurlitt], Zwey Maurerreden in der Loge Ferdinand zur Glückseligkeit gehalten vom Bruder J. G. Magdeburg 1785, hier S. 17. Holstein, Kloster Berge (wie Anm. 14), S. 99f. Johann Gottfried Gurlitt: Allgemeine Einleitung in das Studium der schönen Kunst des Alterthums (1799), in: J. Gurlitt’s archäologische Schriften, hg. von Cornelius Müller, Altona 1831, S. 53. Gurlitts Schüler Müller gab die kunstgeschichtlichen Schulprogramme nach Gurlitts Tod aufgrund der interessierten Nachfrage heraus. Schulschriften I (wie Anm. 15), S. XVI. Ein zweiter Band, offenbar für Kloster Berge bereits geplant, erschien erst nach Gurlitts Tod 1829 mit einigen Hamburger Schulreden. Holstein, Kloster Berge (wie Anm. 14), S. 101f. In den Bleibeverhandlungen, die Gurlitt mit der preußischen Regierung führte, werden auch Familienwohnung und Witwenrente genannt – offensichtlich wollte sich Gurlitt den Weg zu einer Eheschließung offenhalten. Gurlitt, Schulschriften I (wie Anm. 15), S. 176. Heinrich Bosse, Die Verstaatlichung des Lernens, in: Bildungsrevolution 1770–1830 (wie Anm. 5), S. 351–380. Schütze, Lebensgeschichte (wie Anm. 16), S. 183ff. Johann Gottfried Gurlitt, Einladung zum Maturitäts-Examen März 1804, S. 16; auch in: Schulschriften II die Hamburgischen Schulschriften enthaltend, hg. von Cornelius Müller, Magdeburg 1829, S. 366– 384, hier S. 367. Frank Bornitz, Zur Vorgeschichte der Abiturprüfung in Hamburg, in: 450 Jahre Gelehrtenschule des Johanneums zu Hamburg, Hamburg 1979, S. 48–78, hier S. 60. Als 20-jähriger Autor (1805) besuchte Varnhagen von Ense mit seinem Freund die unterste griechische Klasse, andererseits das Gymnasium: „Wir hatten Übungen im Lateinschreiben, hörten Vorträge über Cicero vom Redner, über den Livius, dann über Homer’s Ilias, über den Herodotos, und bald auch über den Pindar, die Satyren des Horaz und den Plutos des Aristophanes. Wir waren solchergestalt auf einmal mitten in das Wogengedränge des Altertums versetzt und mußten wacker arbeiten, um schwimmend im Strom zu bleiben. Gurlitt hatte seine Freude daran, und half uns wohlwollend und einsichtsvoll mit Rat und Tat.“ Karl August Varnhagen von Ense, Denkwürdigkeiten des eignen Lebens, hg. von Konrad Feilchenfeldt, Bd. I (1787–1810), Frankfurt a. M. 1987, S. 315f, S. 324ff. Franklin Kopitzsch, Grundzüge einer Sozialgeschichte der Aufklärung in Hamburg und Altona, Hamburg 1982, S. 671. Hans Kurig, Johannes Gurlitt und das Akademische Gymnasium in Hamburg, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 68 (1928), S. 23–58; zum Gehalt, S. 38, zur Zahl der Studenten S. 35. Zit. nach Edmund Kelter, Hamburg und sein Johanneum im Wandel der Jahrhunderte 1529–1929, Ein Beitrag zur Geschichte unserer Vaterstadt, Hamburg 1928, S. 105. Unter ihnen ist die Privatschule des Dr. Runge, Oberküsters an St. Nikolai, dem Namen nach bekannt, weil Arthur Schopenhauer sie vier Jahre (1788–1792) besuchte. Bildungshistorisch sind die Privatschulen des Ancien Régime bisher nicht untersucht worden. Kelter, Johanneum (wie Anm. 35), S.117. Karin Reich, Mathematikunterricht und Mathematiker am Akademischen Gymnasium und am Johanneum, in: Das Akademische Gymnasium. Bildung und Wissenschaft in Hamburg 1613–1883, Hg. von

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Dirk Brietzke / Franklich Kopitzsch /Rainer Nicolaysen, Berlin und Hamburg 2013, S. 165–193, hier S. 178ff. Peter Freimark, Juden auf dem Johanneum, in: 450 Jahre Gelehrtenschule (wie Anm. 31), S. 123–129, hier S. 124. Die Daten zur Franzosenzeit nach Helmut Stubbe da Luz, „Franzosenzeit“ in Norddeutschland (1803– 1814), Napoleons Hanseatische Departements, Bremen 2003. Zur Gleichstellung der Juden und anderer Minderheiten vgl. S. 185ff. Calmberg, Johanneum (wie Anm. 9), S. 286; Kelter, Johanneum (wie Anm. 35), S. 125ff. Stubbe da Luz, „Franzosenzeit“ (wie Anm. 40), S. 228ff. Man richtete Notlager und Notküchen ein, die die von Lord Rumford erfundene Armensuppe austeilten. Hajo Brandenburg, Die Sozialstruktur der Stadt Altona um 1800. Rostock 2000, S. 65ff. Auch die Altonaer Gurlitts nahmen ein vertriebenes Kind auf. Gustav Cornelius Gurlitt, Aufzeichnungen (wie Anm. 8), S. 32f. Bei Amtsantritt sollte er, wie üblich, seine Rechtgläubigkeit durch Unterschrift bekräftigen, was er jedoch ablehnte. Kelter, Johanneum (wie Anm. 35), S.  112. Handschriftlich notierte Gurlitt um 1818 folgende Verse: „Ich weiß – die Welt hat es erfahren – / daß selbst der Glaub’ in eines Priesters Hand / mehr Böses tat in 1800 Jahren / als in 6000 der Verstand.“ Kurig, Akademisches Gymnasium (wie Anm. 34), S. 30f. Zit. n. Kelter, Johanneum (wie Anm. 35), S. 134. Die erste Gewerbeschule wurde in Hamburg 1767 als Zeichenschule für angehende Handwerker von der Patriotischen Gesellschaft gegründet, 1864 vom Staat übernommen, 1896 Landeskunstschule, 1970 staatliche Hochschule für Bildende Künste. Gustav Cornelius Gurlitt traf einen der mehrjährigen Hausgenossen, den dermaligen dänischen Oberpräsidenten von Altona, bei Gelegenheit des 100-jährigen Geburtstags von Johann Gottfried Gurlitt, der 1854 feierlich begangen wurde. Gustav Cornelius Gurlitt, Aufzeichnungen (wie Anm. 8), S. 15f. Beylage zu Nr. 116 des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten vom 21. Juli 1827: „[…] wie in dessen [Johannes Gottfried Gurlitt] beygebrachtem Testament de dato 14. Junii dieses Jahrs neben einigen Legaten und unter Bestätigung einer bey Lebzeiten wegen eines Stipendii getroffenen Verfügung, zu Erben seines Nachlasses eingesetzt worden – die Kinder seines verstorbenen Bruders Carl Gurlitt, und die Ehefrauen Dingler und Hammer in Zotpen, so wie die Kinder seiner verstorbenen Schwestern, die Ehefrauen Bauer und Hallberg und der Bürger Wunterling in Leipzig, sammt deren respect. Kindern, und desgleichen die Kinder des Ferdinand Krüger in Breslau, so, daß der Nachlaß unter diese zu Sieben gleichen Theilen zu vertheilen, wobey noch anderweitige Bestimmungen wegen des den Eltern reservirten Zinsgenusses getroffen seyen.“ Ein Bruder Carl ist nicht nachweisbar. Es muß sich um die Nachfahren von Carl Christian Gurlitt (1748–1812), des Constablers, handeln, zumal dessen Enkel (Johann Friedrich Karl Gurlitt [1802– 1864]) bis 1822 das Johanneum besuchte, bevor er Pastor in Hamburg-Billwerder wurde. Vgl. Genealogisches Handbuch XXII (wie Anm. 1), S. 104f. Gustav Cornelius Gurlitt, Aufzeichnungen (wie Anm. 8), S. 15. Es ist daher auch unwahrscheinlich, dass es zum Kontakt (sei es auch nur durch Schriften) zwischen Johann Gottfried Gurlitt und dem jungen Maler Louis Gurlitt gekommen ist, wie Hoffmann / Kuhn suggerieren. Vgl. Meike Hoffmann / Nicola Kuhn, Hitlers Kunsthändler. Hildebrand Gurlitt 1895–1956, München 2016, S. 23f. Hans Kurig: Johannes Gurlitt – Restitutor Johannei, in: Symposion. Festschrift zum 475-jährigen Jubiläum des Johanneums, hg. von Christine von Müller / Uwe Petersen / Uwe Reimer, Hamburg 2004, S. 37–47. Gustav Cornelius Gurlitt, Aufzeichnungen (wie Anm. 8), S. 15. In seine Familienchronik wird der betreffende Artikel des Lexikons hamburgischer Schriftsteller bis zur Gegenwart (Bd. III, 1857) komplett eingetragen, S. 16–19. Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt. Ein Künstlerleben des XIX. Jahrhunderts. Dargestellt von seinem Sohne Ludwig Gurlitt, Berlin 1912, S. 9.

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Ebd., S.  7. Ludwig Gurlitt benutzte die Aufzeichnungen des Komponisten Gustav Cornelius Gurlitt unter dem Titel Familienchronik. Aufzeichnungen aus meinem und der Meinigen Leben, für meine Kinder bestimmt (um 1870), sowie Familienbriefe. Ebd., S. 10. Vgl. Heinrich Bosse, Musensohn und Philister. Zur Geschichte einer Unterscheidung, in: Philister. Problemgeschichte einer Sozialfigur der neueren deutschen Literatur, hg. von Remigius Bunia / Till Dembeck / Georg Stanitzek, Berlin 2011, S. 55–100. Ludwig Gurlitt 1912 (wie Anm. 51), S. 12, S. 18; eine Abbildung von Johann August Wilhelm Gurlitt ebd., S. 18. Ebd., S. 23. Genealogisches Handbuch XXII (wie Anm. 1), S. 109f. Ludwig Gurlitt weiß von drei gestorbenen Mädchen (wie Anm. 51), S. 12. Ludwig Gurlitt 1912 (wie Anm. 51), S. 13. Gustav Cornelius Gurlitt, Aufzeichnungen (wie Anm. 8), S. 4. Geboren 1803, 1808, 1811. Vgl. Fritz Bürger, Die Gensler, drei Hamburger Malerbrüder des 19. Jahrhunderts, Straßburg 1916. Über das Drahtziehen des Goldes schreibt die Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, (hg. von Ersch / Gruber), Sektion I, Bd. 73. Leipzig 1861, S. 183: „Es wird sehr wenig Draht aus reinem Golde verfertigt und was man echten Golddraht nennt, ist gewöhnlich weiter Nichts als vergoldeter Silberdraht. […] Der Draht wird beim Ziehen aus den Goldstangen mit Wachs geschmiert und muß oft geglüht werden, weil das legirte Gold sehr schnell hart und spröde wird. Zur Darstellung des sonstigen Golddrahtes wird eine starke, unter Walzwerken gefertigte, Kupfer oder Silberbarre mit Goldblech umlegt, durch kanellirte Walzen heiß durchgelassen, durch welches Verfahren sich beide Metalle mit einander verbinden. Die Stäbe werden dann auf den Drahtzug gebracht, zu Draht gezogen und mittels Handleiern in den feinsten Draht verwandelt, zwischen polirten, gehärteten, schmalen Stahlwalzen zu Goldlahn platt gewalzt, welcher, wie überhaupt die feinen Drähtchen, mit Seide zusammen gesponnen und gewirkt wird, um daraus Tressen, Epauletten und sonstige Decorationen zu fertigen. Das zur Verwendung kommende Gold ist das sogenannte Fabrikgold und das Verfahren ist weiter nichts als eine Goldplattirung.“ Moden-Neuigkeiten. Berlin, 10. April 1796, in: Journal des Luxus und der Moden 11 (1796), S. 272. Brandenburg, Altona (wie Anm. 42), S. 200. Es handelt sich mit Sicherheit um den jungen Gurlitt. Ebd., S. 254ff. Gustav Cornelius Gurlitt, Aufzeichnungen (wie Anm. 8), S. 28–30. Louis Gurlitt spricht von 400 Mark Ersparnissen, die für die Einrichtung des Haushalts verwendet wurden, also nicht verloren gingen. Ludwig Gurlitt spricht von 600 Mark, nicht aber von der Kompensation durch den Gewürzladen. Louis Gurlitt (wie Anm. 7), S. 178; Ludwig Gurlitt 1912 (wie Anm. 49), S. 21. Louis Gurlitt 1965 (wie Anm. 7), S.  178. Gustav Cornelius Gurlitt schätzt die Schuld auf 100 bis 200 Mark (wie Anm. 8), S. 37, und betont, wie wichtig es dem Vater war, keine Schulden zu haben. Ludwig Gurlitt 1912 (wie Anm. 51), S. 21. Anders die Version von Louis Gurlitt selber in seinen Jugenderinnerungen, Louis Gurlitt 1965 (wie Anm. 7), S. 178: „Bei der Wiederverheiratung meines Vaters lebte er in den beschränktesten Verhältnissen, so daß die 400 M, die meine Mutter sich im Dienst erworben hatte, ganz darauf gingen, um die notwendigsten Anschaffungen an Wäsche und Hausgerät zu machen.“ „Her Otto Stranberg zahlte für zu translatiren die Anzeige der würklich echten Gurlittschen wunderbaren Essentia, aus dem Deutschen ins Englische bestehend in einem Bogenvoll recht beschrieben, die Summa von Zehn Schilling und sechszehn Sterling. London den 23ten April 1796.“ Die Kenntnis hiervon, von den weiteren Geschäftsbriefen wie auch von dem Bürgereid verdanke ich dem Einblick in das Familienarchiv, den mir Frau Elizabeth Baars (Hamburg) freundlicherweise gewährte.

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Louis Gurlitt 1965 (wie Anm. 7), S. 178, S. 194. Sein Sohn Ludwig Gurlitt erzählt die Geschichte fast mittelalterlich: ein Apotheker habe seinem Großvater das Geheimnis einer Wunder-Essenz verraten. Gustav Cornelius spricht von gangbaren Essenzen und Pflastern, deren Kenntnis der Vater teils von einem Apotheker, teils aus Büchern erlangt habe (wie Anm. 8, S. 37) und benennt im Einzelnen „die ‚essentia miraculosa, zu deutsch Kron-Wunder-Essenz, (der Hauptartikel), Lebensbalsam, Lebensoel, Hoffmannstropfen, Köllnisches Wasser (Eau de Cologne), Narbenoel, außerdem wurden 2 Arten Pflaster an[ge]fertigt“ (S. 39f). Gustav Cornelius Gurlitt (wie Anm. 8), S. 40f.; zur Mithilfe bei der Arbeit S. 52. Ludwig Gurlitt 1912 (wie Anm. 51), S. 38. Gustav Cornelius Gurlitt (wie Anm. 8), S. 51; vgl. a. Ludwig Gurlitt 1912 (wie Anm. 51), S. 23. Karl Gottfried Hagen, Lehrbuch der Apothekerkunst, Königsberg und Leipzig 1778 (8. Aufl. 1829); vgl. auch Eberhard Stecher, Pharmazeutische Technik. Beiträge zu ihrer Entwicklung als pharmazeutische Disziplin (vom ausgehenden 18. bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts). Marburg 1972. Im Familienarchiv von Frau Elizabeth Baars haben sich auch einige der komplizierten Rezepte erhalten. Fürstenberg, Aufstiegsproblem (wie Anm. 3), S. 78: „Aus der Situationsbezogenheit der Begabung ergibt sich zugleich ihre soziologische Relevanz. Die Begabung liegt in der Fähigkeit, in bestimmten Situationen gestellte Aufgaben optimal zu lösen.“ Zur Bedeutung eines ausgedehnten Netzes von Sozialkontakten vgl. ebd., S. 87: „Diese Faktoren sind in erheblichem Maße aufstiegsrelevant, vor allem durch Vermittlung der zur Lösung von Anpassungsproblemen erforderlichen ‚social skill‘, die zugleich auch zur Vergrößerung der Beweglichkeit im sozialen Feld führt.“ Heinz Funck, Beiträge zur Altonaer Musikgeschichte. Von den Anfängen des öffentlichen Konzertlebens bis zum musikalischen Biedermeier bei Cornelius Gurlitt, in: Altonaische Zeitschrift für Geschichte und Heimatkunde VI (1937), S. 55. Louis Gurlitt 1965 (wie Anm. 7), S. 187. Ebd., S. 181. Ludwig Gurlitt 1912 (wie Anm. 51), S. 38. Nicht in Louis Gurlitts Erinnerungen (wie Anm. 7). Rufnamen, wenn sie ermittelt oder bekannt sind, kursiv.

Die „liebende Tante Fanny Lewald Stahr“ 1

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Ein Leben auf dem Papier. Fanny Lewald und Adolf Stahr. Der Briefwechsel 1846 bis 1852, hg. von Gabriele Schneider / Renate Sternagel. Bd. 2: 1848/49, Bielefeld 2015, S. 480. – Ich stütze mich in diesem Aufsatz auf Familienbriefe aus den 40er und frühen 50er Jahren sowie aus den Jahren ab 1870. Ich habe sie im Rahmen der vor kurzem abgeschlossenen Briefedition bearbeitet oder sie wurden mir von Mercedes Gurlitt bzw. Elizabeth Baars zur Verfügung gestellt. Weitere Familienbriefe befinden sich im Besitz von Andreas Abele, einem Urenkel von Mercedes Gurlitt, der beabsichtigt, die Briefe der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin zu schenken, wo sich bereits der größte Teil des Nachlasses Lewald / Stahr befindet. Sie hatte sich mit der „Rheingräfin“, der Kölner Archäologin und Numismatikerin Sibylle MertensSchaaffhausen, und Baronin Emma von Schwanenfeld angefreundet. Fanny Lewald, Römisches Tagebuch 1845 /46, hg von Heinrich Spiero, Leipzig 1927, S. 75f. – Louis Gurlitts zweite Frau, Julie Bürger, starb allerdings nicht im Wochenbett, sondern vier Monate nach Memmos Geburt an Typhus. Ebd., S. 76. Ebd. Ebd. S. 78.

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Ebd. S. 76. Vgl. Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt – Ein Künstlerleben. Dargestellt von seinem Sohn Ludwig Gurlitt, Berlin 1912, S. 207. Vgl. Schneider / Sternagel (Hg.), Ein Leben auf dem Papier (wie Anm. 1), Bd. 1: 1846/47, Bielefeld 2014, S. 161. Vgl. ebd., S. 241. Zu einem späteren Zeitpunkt, während der Revolution in Berlin, die er für unnötig hält, wird sie ihn als der „rasende Roland Louis“ bezeichnen. Ein Leben auf dem Papier (wie Anm. 1), Bd. 2, Brief 289, S. 307. Ein Leben auf dem Papier, Bd. 1 (wie Anm. 9). Lewalds Brief 129 vom 12. März 1847, S. 260. Ebd., Lewalds Brief 140, S. 300. Adolf Stahr hält sich zu diesem Zeitpunkt in Berlin auf und wohnt offenbar bei Louis Gurlitt. Ebd., Brief Lewalds 141 vom 17. Mai 1847, S. 305. Ebd., S. 306. Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt (wie Anm. 8), S. 212f. Wie Fanny Lewald an Adolf Stahr schreibt, hat Gurlitt zusammen mit einem Auftrag des dänischen Königs Bestellungen für ca. 1600 Taler. Vgl. Ein Leben auf dem Papier, Bd. 1 (wie Anm. 9), S. 383, Brief 155 vom 7. Juli 1847. Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt (wie Anm. 8), S. 216. Ein Leben auf dem Papier, Bd. 1 (wie Anm. 9), S. 382f. Ebd., vgl. S. 585. Schneider / Sternagel, Ein Leben auf dem Papier (wie Anm. 1), Bd. 3: 1850–1852, Bielefeld 2017, Brief Lewalds Nr. 442 vom 7. April 1851, S. 539f. Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt (wie Anm. 8), S. 175. – Bei der Schreibweise des Namens „Memmo“ folge ich Fanny Lewald, die in ihren Briefen ein überstrichenes „m“ als Markierung der Verdoppelung verwendet. Er ist zu diesem Zeitpunkt erst vier Jahre alt. Ein Leben auf dem Papier, Bd. 2 (wie Anm. 1), Lewalds Brief 294 vom 24. November 1848, S. 325. Ebd., Lewalds Brief 313 vom 9. Januar 1849, S. 439. Sie sieht die Abreise des Neffen nach Nischwitz mit gemischten Gefühlen. Ebd., Lewalds Brief 317 vom 6. Februar 1849, S. 480. Ebd., Lewalds Brief 350 vom 27. September 1849, S. 646. Die in Klammern stehenden Bemerkungen stammen von Fanny Lewald. Ebd., Lewalds Brief 308 vom 13. Dezember 1848, S. 382. Ebd., Lewalds Brief 309 vom 19. Dezember 1848, S. 390f. Ein Leben auf dem Papier, Bd. 3 (wie Anm. 20), Lewalds Brief 368 vom 29. Dezember 1849. Ebd. Lewalds Brief 442 vom 7. April 1851, S. 539. Ebd., S. 542. Ebd. Ich danke Elizabeth Baars, Hamburg, für die Erlaubnis, aus den Briefen an Else Gurlitt zu zitieren. Vgl. Lewalds Brief an Else Gurlitt vom 27.7.1874 (ehemals im Besitz von Elizabeth Baars; jetzt Heine-Institut Düsseldorf) kurz nach dem Tod von Otto Lewald: „Seinen Kindern bewahre ich lebhafte Theilnahme u. es würde mich freuen, sie ihnen beweisen zu können.“ Vgl. Ein Leben auf dem Papier, Bd. 3 (wie Anm. 20), Lewalds Brief 513 vom 28. März 1852, S. 704f. Vgl. Gabriele Schneider, Fanny Lewald, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 123. (Wie Anm. 34), Brief an Else Gurlitt vom 27. Juli 1874. Ebd.

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Gabriele Schneider, „Meine Mutter paßt auf, daß mir Keiner was thut“ – Fanny Lewald privat. Familienbriefe Fanny Lewalds aus Privatbesitz im Heinrich-Heine-Institut (Stiftung Gurlitt), in: Heine-Jahrbuch 1998, S. 264. Vgl. Fanny Lewalds Brief an Else Gurlitt vom 4.4.1888 (ehemals im Besitz von Elizabeth Baars): „Dank für ­Elsens Briefe.“ Vgl. Schneider, Meine Mutter passt auf (wie Anm. 39), S. 265. Vgl. ebd., S. 252–271. Ebd., S. 253f., Brief an Memmo Gurlitt vom 31.10.1876. Ebd., S. 259, Brief an Memmo Gurlitt vom 25.11.1876. Ebd., S. 260, Brief an Memmo Gurlitt vom 22.11.1877 aus Rom. Ehemals im Besitz von Elizabeth Baars. Nicht zu entzifferndes Wort. Adolf Stahrs ältester Sohn Alwin (1836–1892) und seine Frau Marie, geb. Gerson. Nicht zu entzifferndes Wort, etwa „Unsitte“. Nicht zu entzifferndes Wort, etwa „zwängen“ oder „pressen“. Der Verleger Eduard von Hallberger (1822–1880) war der Herausgeber erfolgreicher Zeitschriften, der Illustrirten Welt (seit 1853) und Über Land und Meer (seit 1858). 1866 hatte Fanny Lewald dort die Erzählung Die Dilettanten veröffentlicht, 1879 erscheint Zum Zeitvertreib. Rudolf Lindau (1829  – 1910) hatte 1875 die Novelle „Schiffbruch“ und 1877 den Roman „Robert ­Ashton“ veröffentlicht, die Fanny Lewald beide kannte. „Gute Gesellschaft“ erschien zuerst in der Zeitschrift „Nord und Süd“, Jg. 1879, Bd. 8, S. 145ff. und S. 277ff. Fanny Lewald an Else Gurlitt vom 18.9.1888, ehemals im Besitz von Elizabeth Baars. Fanny Lewald vom 23.10.1888, ehemals im Besitz von Elizabeth Baars. Fanny Lewald an Else Gurlitt, 29.10.1888, im Besitz von Elizabeth Baars. Fanny Lewald an Else Gurlitt, 18.9.1888 (wie Anm. 53). Fanny Lewald an Else Gurlitt, 9.4.1889, ehemals im Besitz von Elizabeth Baars. Fanny Lewald an Else Gurlitt, 27.7.1874 (wie Anm. 34). Seit der Rückkehr der Familie Gurlitt nach Berlin-Steglitz. Brief Else Gurlitts an Memmo Gurlitt vom 5. September 1889, ehemals im Besitz von Elizabeth Baars. Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt (wie Anm. 8), S. 468f.

„Einfalt des Empfindens“ – „Natur an sich“. Louis Gurlitts Landschaften und ihre familiale Überlieferung 1 2

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Fanny Lewald, Römisches Tagebuch 1845/46, hg. von Heinrich Spiero, Leipzig 1927, S. 76. Lewald hatte selbst über eine Ehe mit dem verwitweten Gurlitt, mit dem sie zahlreiche Reisen, u. a. auch nach Neapel, unternahm, nachgedacht. An Ottilie von Goethe schrieb sie am 9. August 1846: „Die Vesuvbesteigung bleibt bis zu Gurlitts Rückkehr, wenn’s nicht mehr so heiß ist. Er wird mir Ende August schreiben, wann er fertig zu sein denkt, damit ich, fall’s ich es will, danach meine Reise einrichten kann.“ Goethe-Schiller-Archiv Weimar (GSA), Sign. GSA 40/X, 2,5. Vgl. dazu auch: Gurlitt und die Frauen. Hörbuchproduktion zur Ausstellung Louis Gurlitt. Ein Künstlerleben im Jenisch-Haus 2012. Auswahl der Texte Elizabeth Baars und Nicole Tiedemann-Bischop. Vgl. zu Gurlitts Aufenthalt in Italien den kenntnis- und materialreichen Beitrag von Ulrich SchulteWülwer, Louis Gurlitt – Leben und Werk, in: Ders. und Bärbel Hedinger (Hg.), Louis Gurlitt (1812– 1897). Porträts europäischer Landschaften in Gemälden und Zeichnungen. Katalog zur gleichnamigen

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Ausstellung im Altonaer Museum Hamburg, München 1997, S. 27–145, hier S. 67ff. Vgl. auch Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt – Ein Künstlerleben des XIX. Jahrhunderts. Dargestellt von seinem Sohne, Berlin 1912, S. 163–211. Julie Gurlitt starb im Alter von nur 21 Jahren in Rom. An Ottilie von Goethe schrieb Fanny Lewald: „Meine Schwestern leben glücklich mit Ihren Männern; für Gurlitts richte ich jetzt die Wohnung ein, was von Charlottenburg aus beschwerlich ist. Ich vermuthe Sie jetzt in Basel  – sie hatten zuletzt vom Comersee geschrieben  – und denke, daß Sie anfangs Oktober hier sein sollen. Zum 15tn September hat sich Elisabeth einen Ueberrock und Briefe zu Ritzen­burgs nach Nischwitz bestellt, wo sie ein paar Wochen bleiben wollen.“ GSA Weimar, Sign. GSA 40/X, 2,5. Zeitweilig kam es auch zu Konflikten und Entfremdungen zwischen den Gurlitts und dem Ehepaar Lewald-Stahr. So schrieb Else Gurlitt an ihren Stiefsohn Wilhelm: „Dass Du mit oder für Onkel Stahr arbeitest, dessen Namen in der Gelehrtenwelt nicht viel bedeutet, ist uns nicht besonders lieb. Es wird Dir Zeit rauben und Dir wenig von Nutzen sein.“ Penig, 4. Februar 1875. Zitiert nach: Nachlass C ­ ornelius Gurlitt, Universitätsarchiv der Technischen Universität Dresden, Link: http:// gurlitt.­tu-dresden.­de/inhalt_brief.php?briefid=44, abgerufen am 15.9.2016. Vgl. dazu auch Hilde Herrmann, Die Gurlitts, in: Neue Deutsche Hefte. Beiträge zur europäischen Gegenwart, 1955, S. 770–784, hier S. 772f. Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt, S. 182. Einladungskarte zur Ausstellung, Privatbesitz Elizabeth Baars. Für die Möglichkeit der Sichtung des umfangreichen Familiennachlasses sowie für die Bereitstellung von Originalbriefen, Transkriptionen, Gemälden und Fotografien Louis Gurlitts und seiner Familie danke ich Elizabeth Baars, Hamburg, sehr herzlich; ebenso für ihre zahlreichen Anregungen und Hinweise. Vgl. dazu auch Meike Hoffmann und Nicola Kuhn, Hitlers Kunsthändler. Hildebrand Gurlitt (1895– 1956). Die Biographie, München 2016, S. 22: „Die Bilder des Landschaftsmalers werden den Enkel sein ganzes Leben lang begleiten. Für den jungen Hildebrand ist Louis Gurlitt zunächst die überragende Figur in dem großen Familienpanorama.“ Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitts Frühkunst, in: Kunst und Künstler: illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe. Heft 9, 1911, S. 147–152, hier S. 147. Andreas Kreul, Arkadien Ltd. Deutsche Landschaftsmalerei im 19. Jahrhundert, in: Hubertus Kohle (Hg.), Geschichte der Bildenden Kunst in Deutschland, Bd. 7: Vom Biedermeier zum Impressionismus, München 2008, S. 347–381, hier S. 348; vgl. auch Wilhelm Waetzold, Das klassische Land. Wandlungen der Italiensehnsucht, Leipzig 1927. Gurlitt ist darin mit dem Gemälde „Blick auf Rom“ vertreten (S. 93). Else Gurlitt an Wilhelm Gurlitt, 20. April 1884, Familiennachlass Gurlitt. Bernd Bornemann, Anmerkungen zur Landschaftsmalerei Louis Gurlitts, in: Schulte-Wülwer, ­Hedinger (Hg.), Louis Gurlitt, S. 161–169, hier S. 161. Stahr, Lewald und Gurlitt unternahmen auch zahlreiche Ausflüge in die Umgebung von Rom. Vgl. dazu die während eines Ausfluges entstandene Skizze von Cornelius Gurlitt, die erstmals abgedruckt wurde in Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt, S. 205. Neben der Universitätsbibliothek Leipzig verfügen u.  a. das Staatsarchiv Hamburg-Wandsbeck, die Universitätsbibliothek Hamburg, das Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf und das Universitätsarchiv Graz über einen umfangreicheren Louis-Gurlitt-Briefbestand. Louis Gurlitt an Adolph Vogell, Berlin, 26. Januar 1849, Universitätsbibliothek Leipzig, Sign. I/C/I/393/ Nr. 3 [Herv. J.K.]. Else Gurlitt an Wilhelm Gurlitt, Gotha, 24. November 1864, Familiennachlass Gurlitt. Louis Gurlitt an Else Gurlitt, Husum, Altona, 18. Mai 1869, Familiennachlass Gurlitt. Ludwig Gurlitt an Wilhelm Gurlitt, Berlin, 19. Januar 1896, Familiennachlass Gurlitt. Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitts Frühkunst, S. 152.

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Hans Rosenhagen, Van Gogh, Louis Gurlitt und Albert von Keller, in: Deutsche Montagszeitung, 1. Jg. Berlin, 21. November 1910. Dazu gehört auch die bereits erwähnte, von Hildebrand Gurlitt organisierte Ausstellung mit Werken seines Großvaters in Hamburg. Hoffmann und Kuhn verweisen darauf, dass Hildebrand Gurlitt im „Dritten Reich“ mit den Landschaften seines Großvaters handelte und diese auch als „Entschädigung für zuvor als entartet beschlagnahmte Werke“ Museen überließ. (Hoffmann und Kuhn, Gurlitt, S. 24). Zu den Bewunderern von Louis Gurlitts Landschaften gehörte Albert Speer. Vgl. dazu Catherine ­Hickley, Gurlitts Schatz. Hitlers Kunsthändler und sein geheimes Erbe, Wien 2016, S. 65. Das Bild gelangte 1978 zu einer späten und zugleich traurigen Popularität, weil es neben 21 anderen Gemälden aus der Hamburger Kunsthalle gestohlen, allerdings zunächst nicht vermisst worden war. Vgl. den Artikel „Keiner vermißte das Bild von Gurlitt“, in: Die Welt, 7.8.1978. Cornelius Gurlitt, Die deutsche Kunst des 19. Jahrhunderts. Ihre Ziele und Taten, 2. Aufl., Berlin 1900, S. 376. Wilhelm Weingärtner, Studien zur Geschichte der Bildenden Künste im neunzehnten Jahrhundert, in: Die Dioskuren. Deutsche Kunst-Zeitung, 17. März 1861, Jg. 6, Nr. 11, S. 91f. In Franz Kuglers Geschichte der Kunst (immer wieder neu bearbeitet und ergänzt) fehlt Gurlitt, obwohl er mit dem Kunstkritiker in Berlin Kontakt pflegte. In Vischers „Ästhetik“ taucht Gurlitt ebenfalls nicht auf. Vischer setzte sich mit Gurlitts Zeitgenossen, den Landschaftsmalern Schirmer, Blechen, den Achenbach-Brüdern und Rottmann auseinander. Adolf Stahr hingegen vertrat die Meinung, dass gerade Gurlitt Vischers ästhetische Ideen vollkommen einlöse. Zu Gurlitts populären Bekannten zählten neben Hebbel und Alexander v. Humboldt die Schriftsteller Berthold Auerbach, Heinrich Laube, Otto Ludwig, Hermann Hettner und der Historiker Theodor Mommsen. Hermann Arthur Lier, Gurlitt, Louis, in: Allgemeine Deutsche Biographie 49 (1904), S. 642–644. Die auf das Jahr 1858 datierte und wohl als Briefbeilage übersandte Notiz befindet sich im Familiennachlass Gurlitt. Vgl. Anton Springer, Geschichte der bildenden Künste im 19. Jahrhundert, Leipzig 1858, S. 176: „Nur erwähnt seien die großartigen Schilderungen Gurlitts aus dem Italienischen Gebirgsleben welche den höchsten Reiz mit einem glücklichen plastischen Gefühle verbinden und die italienische Natur von einer neuen Seite uns preisen.“ Friedrich Precht, Geschichte der Münchener Kunst im 19. Jahrhundert, München 1858, S. 166. Adolf Stahr, Die moderne Landschaftsmalerei und ihre Vertreter in Rom, in: Jahrbücher der Gegenwart, Tübingen 1846, S. 420–432, hier S. 421. Louis Gurlitt an Wilhelm Gurlitt, 22. Dezember 1871, Familiennachlass Gurlitt. Christian Scholl, Revisionen der Romantik – Zur Rezeption der „neudeutschen Malerei“ 1817–1906, Berlin u. a. 2012, S. 453. Alexander von Humboldt, Kosmos: Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, Stuttgart 1847, Bd. 2, S.  77: „Die Trennung zweier Gattungen, der Geschichts- und Landschaftsmalerei, ist so, den allgemeinen Fortschritt der Kunst auf verschiedenen Bildungsstufen begünstigend, allmälig vorbereitet worden; und man hat mit Recht bemerkt, daß, wenn überhaupt bei den Alten die Malerei der Plastik untergeordnet blieb, insbesondere das Gefühl für die landschaftliche Schönheit, welche der Pinsel wiedergeben soll, kein antikes, sondern ein modernes Gefühl ist.“ Stahr, Moderne Landschaftsmalerei, S. 421. Vgl. zur Verbindung von Genealogie und Biographie Stefan Willer, Biographie – Genealogie – Generation, in: Christian Klein (Hg.), Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart 2009, S. 87–94, hier S. 87. Stahr, Moderne Landschaftsmalerei, S. 428.

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Vgl. die von Elizabeth Baars erstellte Grafik der Reisen Louis Gurlitts in: Schulte-Wülwer, Louis Gurlitt, 1998, S. 176–177. Freytag wird auch in dem Briefwechsel zwischen Louis Gurlitt und Wilhelm Gurlitt häufiger erwähnt. So berichtet Wilhelm Gurlitt seinem Vater am 10. April 1861: „Herr Freytag ist heute mit seinen Gästen auf den Inselberg gegangen“ (Familiennachlass Gurlitt). In Gotha-Siebleben, wo die Familie Gurlitt 12 Jahre lebte, wuchsen auch die Kinder Gurlitts auf. Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg-Gotha förderte Gurlitt und war ihm sehr gewogen. Vgl. Else Gurlitt an Wilhelm Gurlitt, 1. Dezember 1863, Familiennachlass Gurlitt: „Papa war bei dem neuen Herzog, er hat ihm einen angenehmen, milden Eindruck gemacht, er war voller Zuversicht für seine Sache, er sagte zu Papa, es geht ja alles gut, ja, Sie kenne ich als Holsteiner, meine Schwestern haben mir oft von ihnen erzählt.“ Schulte-Wülwer, Gurlitt, S. 57. Ludwig Gurlitt veröffentlichte auch einen Beitrag über seinen Vater in dänischer Sprache: Louis Gurlitt og Wilhelm Marstrand. Et Stykke Dansk Kunsthistorie. In: Saertryk af Gads danske Magasin, o.J., S. 303–311. Louis Gurlitt an Wilhelm Gurlitt, Gotha, 8. Dezember 1863, Familiennachlass Gurlitt. Else Gurlitt an Wilhelm Gurlitt, Gotha, 22. November 1863, Familiennachlass Gurlitt. Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt, S. 141. Gurlitts Vorliebe korrespondierte mit den Sehgewohnheiten und Vorlieben des zeitgenössischen Publikums für Panoramen und „touristische Landschaftsausblicke von oben herab.“ Vgl. dazu: Bärbel Hedinger, Die große Holstein-Landschaft. Über Louis Gurlitts „Blick von Stöfs über den Großen Binnensee auf die Hohwachter Bucht“, in: Dies., Schulte-Wülwer, Gurlitt, S. 145–160, hier S. 149. Alexander von Humboldt, Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung, Stuttgart 1847, Bd. 2, S. 93. Louis Gurlitt an Friedrich Hebbel, 27. Dezember 1847, hier zitiert nach Schulte-Wülwer, Gurlitt, S. 88. Hedinger, Holstein-Landschaft, S. 147. Louis Gurlitt an Adolph Vogell, Berlin, 26. Januar 1849, Universitätsbibliothek Leipzig, Sign. I/C/I/393/ Nr. 3. Schulte-Wülwer, Gurlitt, S. 134. Gurlitt an Adolph Vogell, 30. März 1849, Universitätsbibliothek Leipzig, Sign.: I/C/I/393/Nr. 4. Gurlitt an Wilhelm Gurlitt, Dresden, 8. Januar 1874, Familiennachlass Gurlitt. Die Sammlung war nach dem Tod Wageners in den Besitz des preußischen Königs übergegangen und bildete den Grundstock der Berliner Alten Nationalgalerie. Vgl. Gurlitts Brief an Adolph Vogell: „Von Prof. Waagen in Berlin ließ ich mich, durch die glänzende Schilderung eines Unternehmens: der von einer Gesellschaft Franzosen in London veranstalteten Gemälde Ausstellung von Werken aller Nationen, verleiten, 2 große u 3 kleine Bilder dorthin zu senden, aber erst nachdem man mir durch Prof. Waagen Hin u Rücktransport, wie auch Zollfreiheit zugesichert hatte. Die Ausstellung fand aber nicht die Aufnahme, die man sich davon versprochen hatte, so, daß die Unternehmer schwerlich ihrer Verpflichtungen werden nachkommen können u: man froh sein darf wenn man überhaupt seine Bilder nur wiederbekommt.“ (3. Dezember 1851, Universitätsbibliothek Leipzig, Sign.: I/C/I/393/Nr. 3) Gustav Waagen, Verzeichnis der Wagenerschen Gemäldesammlung, Berlin 1861, S. 33. Ludwig Gurlitt, Gurlitts Frühkunst, S. 149. Hedinger, Holstein-Landschaft, S. 148. Louis Gurlitt an Else Gurlitt, 6. Juni 1864, Familiennachlass Gurlitt. U. a. Fanny Lewald hatte Turner in einem Brief an Adolf Stahr aus England 1850 als „Tollhäusler“ und seine Bilder als „vollkommen wahnsinnig“ bezeichnet. Vgl. Fanny Lewald an Adolf Stahr, London, 30. Mai 1850, Nachlass Lewald-Stahr, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz.

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Noel [Theodor Fontane], Zwanzig Turnersche Landschaften in Marlborough House, in: Deutsches Kunstblatt, hg. von Friedrich Eggers, Nr. 3 vom 15. Januar 1857, S. 25f. Cornelius Gurlitt, Die Anfänge der englischen Landschaftsmalerei, in: Westermanns lllustrierte deutsche Monatshefte, Jg. 1896, S. 198ff. Schulte-Wülwer, Gurlitt, S. 49. Cornelius Gurlitt in einem Brief an seine Eltern in Rom, 5. Februar 1878, Familiennachlass Gurlitt. Stahr, Moderne Landschaftsmalerei, S. 424. Friedrich Theodor Vischer: „Die Landschaftmalerei idealisirt eine gegebene Einheit von Erscheinungen der unorganischen und vegetabilischen Natur zum Ausdruck einer geahnten Seelenstimmung. Ihr allgemeiner Charakter ist daher ein musikalischer oder lyrischer. Thierisches und menschliches Leben nebst Wohnungen des Menschen, das diesem Ganzen als sog. Staffage beigegeben wird, darf für sich kein selbständiges Interesse in Anspruch nehmen, wenn nicht eine unklare Vermischung entstehen soll.“ Friedrich Theodor Vischer, Ästhetik oder Wissenschaften des Schönen, Stuttgart 1854, Dritter Theil: Die Kunstlehre. Zweiter Abschnitt: Die Künste. Drittes Heft: Die Malerei, S. 648, § 698. Else Gurlitt an Wilhelm Gurlitt, o.O., 22. Februar 1872, Familiennachlass Gurlitt. Kreul, Arkadien, S. 348. Stahr, Moderne Landschaftsmalerei, S. 431. Ebd. Wie in weiten Teilen der zeitgenössischen deutschen Landschaftsmalerei kommen auch bei Gurlitt die Themen Urbanisierung und Industrialisierung kaum vor. Bis auf einige Veduten und Ansichten von Rom hat er keine Städte gemalt. In Sorrent hatte sich Gurlitt einst mit Fanny Lewald und deren Vetter, dem Maler Julius Helfft, aufgehalten. Lewald schrieb im August 1846 an die befreundete Ottilie von Goethe: „Die Tage waren so sehr warm, daß man nur morgens und abends heraus konnte. Trotzdem habe ich prächtige Stunden in Sorrent und abends in Capri verlebt und Gurlitt und mein Cousin haben in liebenswürdigster Weise für mich gesorgt. Indeß bin ich doch immer in einer der Stimmungen, in denen alles von der Oberfläche abgleitet und eigentlich Nichts in die Seele dringt.“ 9. August 1846, GSA Weimar, Sign. GSA 40/X, 2,5. Bornemann, Anmerkungen zur Landschaftsmalerei Gurlitts, S. 161. Ebd. S. 168. Fontane begeisterte sich eher für Böcklin. In Fritz Gurlitts Berliner Galerie in der Behrenstraße 29 sah er 1884 Böcklins „Toteninsel“. Vgl. Roland Berbig, Theodor Fontane Chronik, Berlin/New York 2010, Bd. 4, S. 2639. Theodor Fontane, Die diesjährige Kunstausstellung, in: Neue Preußische (Kreuz)Zeitung, Nr. 240, 14. Oktober 1866. Hier zitiert nach: Theodor Fontane, Aufsätze zur Bildenden Kunst, hg. von Rainer ­Bachmann, Edgar Gross, München 1970, S. 361. Louis Gurlitt an Wilhelm Gurlitt, Düsseldorf, 22. Dezember 1871, Familiennachlass Gurlitt. Else Gurlitt an Otto Gurlitt, Gotha, 2. Dezember 1864, Familiennachlass Gurlitt. Else Gurlitt und Louis Gurlitt an Wilhelm Gurlitt, Gotha, 26. April 1863, Familiennachlass Gurlitt. Louis Gurlitt an Wilhelm Gurlitt, Gotha, 16. Juni 1868, Familiennachlass Gurlitt. Gurlitt berichtet hier seinem Sohn von seinen Reisen durch Portugal und Spanien. Gemeint ist Bussaco in Portugal. Tochter Else Gurlitt an Wilhelm Gurlitt, o. O., 26. November 1878, Familiennachlass Gurlitt. Louis Gurlitt an Else Gurlitt, o. O., November 1864, Familiennachlass Gurlitt. Louis Gurlitt an Else Gurlitt, Kolding, 22. Juni 1864, Familiennachlass Gurlitt. Else Gurlitt an Wilhelm Gurlitt, Gotha, 19. Mai 1864, Familiennachlass Gurlitt. Louis Gurlitt an Wilhelm Gurlitt, Gotha, o. O., 11. Juli 1864, Familiennachlass Gurlitt. Louis Gurlitt an Wilhelm Gurlitt, o. O., 9. November 1864, Familiennachlass Gurlitt.

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„Papa malt ein Bild von Rosenau, hoffend, daß es die Königin von England kaufen wird, wozu der Herzog Papa viel Hoffnungen gemacht hat.“ Else an Wilhelm Gurlitt, Gotha, 17. Juni 1865, Familiennachlass Gurlitt. Else Gurlitt an Wilhelm Gurlitt, Gotha, 25. Juli 1867, Familiennachlass Gurlitt: „Papa war einen Tag in Reinhardtsbrunn u. hat dort eine Studie zu einem Bilde gemacht, das er, wie auch ein Bild von Kellerberg u. von Rosenau nach Portugal mitnehmen will, um es dort dem König zu zeigen, an den Papa durch den hiesigen Herzog eine Empfehlung bekommt.“ Bornemann, Anmerkungen zur Landschaftsmalerei Gurlitts, S. 168. Else Gurlitt an Wilhelm Gurlitt, Gotha, 21. Januar 1868, Familiennachlass Gurlitt. Guido Hammer (1821–1898) war ein populärer Tiermaler, der u. a. zahlreiche Illustrationen für „Die Gartenlaube“ lieferte. Else Gurlitt an Wilhelm Gurlitt, Dresden, 15. Januar 1867, Familiennachlass Gurlitt. Else Gurlitt an Wilhelm Gurlitt, o.O., 1. Februar 1865, Familiennachlass Gurlitt. Louis Gurlitt an Wilhelm Gurlitt, Leipzig, 26. März 1871, Familiennachlass Gurlitt. Louis Gurlitt nahm auch auf Fritz Gurlitts Tätigkeit als Kunsthändler erheblichen Einfluss. Unter anderem besuchte er mit ihm gemeinsam Auktionen. Vgl. Else Gurlitt an Wilhelm Gurlitt, Rom, 20. April 1878: „Die Reise nach Neapel wurde bestimmt durch die guten gemeinsamen Einkäufe von Papa u. Fritz auf einer Auktion. Sie kauften einen Overbeck, 7 große Zeichnungen von Führich, ein großes Bild von Steinle, zu geringem Preis. Bei Overbeck ist kaum der reich geschnitzte Holzrahmen bezahlt. Den nächsten Tagen wurde Fritz 1000 Lira mehr geboten als er bezahlt hatte.“ Fritz an Else Gurlitt, Gotha, 30. August 1871, Familiennachlass Gurlitt. Cornelius Gurlitt an Louis und Else Gurlitt, Genua, 12. Dezember 1884. Nachlass Cornelius Gurlitt, Universitätsarchiv der Technischen Universität Dresden, Brief-Nr. 028/015, http://gurlitt.tu-dresden. de/inhalt_brief.php?briefid=52, abgerufen am 25.9.2016. Vgl. dazu Cornelius an Johannes (Hans) Gurlitt über die Regelung des Erbes, Dresden, 11. Februar 1897: „Ich möchte nicht, daß zwischen uns Mißverständnisse einreißen. Papa möchte selbst die Angelegenheit regeln. […] Nur hinsichtlich der Auswahl von Bildern und dergl. wünscht Papa, daß ich [ihn] vertreten solle“. Familiennachlass Gurlitt. Gurlitt, Hebbel und Gurlitt, Westermanns Monatshefte, S. 675. Gurlitt, Louis Gurlitt, S. IX. Ebd. S. X. Ebd. S. IX. Willer, Biographie – Genealogie – Generation, S. 87. Ebd. Karin Hellwig, Die großen Künstlerbiographien 1860–1900, in: Klein, Handbuch Biographie, S. 352– 353. Gurlitt, Louis Gurlitt, S. X. Ebd. S. XI.

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Brief vom 22. Dezember 1871, für die Ausstellung zu Louis Gurlitts 100. Todestag 1997 in Hamburg-­ Altona transkribiert von www.suetterlinstube-hamburg.de/gurlitt_pic.php (Stand 22.8.2016). Im Neuen Pauly, Supplement 6, Geschichte der Altertumswissenschaften (2012), 27 wird hingegen Wilhelms Bruder Cornelius als akademischer Lehrer 1894–1898 von Walter Andrä (1875–1956) genannt, dem späteren Ausgräber von Assur und Direktor der Vorderasiatischen Abteilung des ­Pergamon-Museums 1928–1950. Bei Reinhard Lullies/Wolfgang Schiering (Hg.), Archäologenbildnisse, Mainz 1988, 208 taucht Cornelius Gurlitt auf als Lehrer von Oscar Reuther (1880–1954), Bauforscher u. a. auf der Babylon-Grabung 1905–1912. Exemplarisch Jochen Bleicken, Die Herausbildung der Alten Geschichte in Göttingen. Von [­Christian Gottlob] Heyne [1729–1812] bis [Georg] Busolt [1850–1920], in: Carl Joachim Classen (Hg.), Die Klassische Altertumswissenschaft an der Georg-August-Universität Göttingen, Göttingen 1989, ­98–127 (auch in: Bleicken. Gesammelte Schriften, Bd. 2, Stuttgart 1998, 1004–1033). Klaus Fittschen, Von [Friedrich] Wieseler [1811–1892] bis [Hermann] Thiersch [1874–1939] (1839–1939). Hundert Jahre Klassische Archäologie in Göttingen, ebd. 78–97. Zur Geschichte der Archäologie, in: Ulrich Hausmann (Hg.), Grundlagen der Archäologie (Handbuch der Archäologie Bd. 1), München 1969, 11–161, hier 92. Johann Joachim Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums, Dresden 1764. Als Band (später Abteilung) VI des seit 1885 erscheinenden Handbuchs der Klassischen [‚Klassischen‘ fehlt seit 1922] Altertumswissenschaft erschien in drei Teilen+Atlas 1893–1897 die Archäologie der Kunst nebst einem Anhang über die antike Numismatik; daraus emanzipierte sich seit 1969 das Handbuch der Archäologie. Justus Cobet, Die Wissenschaft vom Spaten: Was lehrt uns die Frage nach dem Gründerheros?, in: Mitteilungen aus dem Heinrich-Schliemann-Museum 7, Ankershagen 2001, 9–18. Hellmut Sichtermanns ambitionierte Kulturgeschichte der klassischen Archäologie (München 1996) gliedert den Gegenstand in Schatzsuche, Abenteuer und Wissenschaft; Schliemann wird „von den Laien als Prototyp des Archäologen, von den Gelehrten jedoch als Dilettant angesehen“ (248). Als gemeinsamer Bezug der Wissenschaft bleibe angesichts der unterschiedlichen Auslegungen immer noch nur Winckelmann (18). Ironischer Weise setzt sich nun mit den neuen Instituten „für archäologische Wissenschaften“ der Spaten durch als kleinster gemeinsamer Nenner eines sehr weiten Spektrums von Disziplinen, die durch Ausgrabungen ihr Material für methodisch wie inhaltlich höchst unterschiedliche Wissenswelten gewinnen. Brief 32/24 im „Nachlass [Cornelius] Gurlitt“ der TU Dresden (Zugriff 20.8. 2016 u.ö.); ich zitiere im Folgenden nach der Dresdner Sigle. Dort wurden mehrere „Korrespondenzen aus dem großen Familienverband um Cornelius Gurlitt“ übernommen: Matthias Lienert (Hg.), Cornelius Gurlitt (1850–1938). Sechs Jahrzehnte Zeit- und Familiengeschichte in [ausgewählten] Briefen, Dresden 2008, 8. Über den und aus dem Teilnachlass Wilhelm Gurlitts im Universitätsarchiv Graz berichtet Iris Koch, Wilhelm Gurlitts Weg von der klassischen Archäologie zur Landesarchäologie, in: Forum Archaeologiae 75/ VI/2015 (Stand 22.8. 2016). Es handelt sich um Briefe an Gurlitt zwischen 1867 und 1905; dabei fehlen solche von Familienangehörigen, für die Koch auf Dresden verweist. Brief vom 25.1.1874 im Nachlass Rudolf Eitelberger von Edelberg, Wienbibliothek AUT H.I.N. 20.886 (ich danke Elisabeth Köhler für die scans), im Folgenden zitiert als Vita. Vgl. weiter bei Anm. 40 u.ö. Ludwig Gurlitt, Wilhelm Gurlitt, in: Biographisches Jahrbuch für Altertumskunde (Nekrologe), Bd. 36, Leipzig 1914, 63–89, hier 64. In der Vita seines Promotionsgesuchs formulierte Gurlitt, den frühen Tod seiner Mutter hätte er nie verschmerzt, hätte Gott ihm nicht eine zweite gegeben, die leicht schon

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alleine das Gerede über Stiefmütter Lügen strafen könnte (quae vel sola de novercis fabulas inanes esse demonstrare possit). Ich danke Angelika Handschuck für Scans aus den Promotionsakten im Universitätsarchiv Göttingen. 27.2.1892 (56/21). Ein solcher Stammbaum ist offenbar nicht zustande gekommen. Louis Gurlitt 1847 an seine Eltern: „Der Beruf muß dem Manne immer die Hauptsache bleiben. Die Frau muß den Mann im Berufe fördern, darf ihn aber darin nicht hindern“ (zitiert in: Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt. Ein Künstlerleben des XIX. Jahrhunderts, Berlin 1912, 213). Ludwig über Wilhelm (Anm. 9), 64 leitet den Spitznamen von der römischen Amme des kleinen ­Guilelmo ab. Marquardt und Schneider waren Schüler von August Boeckh (1785–1867). Marquardt verfaßte im Handbuch der Römischen Alterthümer, wo auch Theodor Mommsens Römisches Staatsrecht erschien: Römische Staatsverwaltung, 3 Bde., Leipzig 1873–1878; Das Privatleben der Römer, 2 Bde., Leipzig 1879–1882 (beide Werke als reprographischer Nachdruck in späterer Auflage mit Vorwort von Kai Brodersen, Darmstadt 2016/2017); Schneider, Schüler auch von Karl Lachmann (1793–1851), edierte u. a. Kallimachos (Callimachea, 2 Bde. Leipzig 1870/1873); Dr. Friedrich Berger/Theodor Habich, Elementargrammatik der lateinischen Sprache, Hamburg/Gotha 1842. Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt (Anm.11), 382. Johann Jacoby am 8.10.1860 an Fanny Lewald und Adolf Stahr, einen gemeinsamen Besuch bei den Gurlitts erinnernd, in: Johann Jacoby. Briefwechsel 1850–1877, hg. von Edmund Silberner, Bonn 1978, 115. Das Gemälde, die Akropolis von Westen, der Eingangsseite, befindet sich heute im Kunstmuseum Ribe in Dänemark. „Akropolis II“ in der Liste des Central Collecting Point Wiesbaden der amerikanischen Besatzungsbehörde von 1950 (Nr. 2004/11) wird identisch sein mit der „Akropolis“ im Kunstmuseum Bern, Legat Cornelius Gurlitt 2014; es zeigt – weniger spektakulär – die Akropolis von Osten. Wrede (s. u. Anm. 19), 138: Ludwig Gurlitt, Erinnerungen an Ernst Curtius (s. u. Anm. 51), 116–118. An der Festschrift zu Sauppes 70. Geburtstag beteiligte sich Gurlitt mit dem Aufsatz De foris A ­ thenarum: Satura philologica Hermanno Sauppio obtulit amicorum conlegarum decas, Berlin 1879, 148–166. ­Sauppe war Schüler Gottfried Hermanns (1772–1848), eines Meisters der Textkritik; er edierte mit Johann Georg Baiter zusammen z. B. die attischen Redner (Oratores Attici, 2 Bde. Zürich 1839–1850). Auch Ritschl stand in der Tradition Hermanns; z. B. edierte er Komödien des Plautus (T. Macci Plauti Comoediae, Bonn 1848–1854). Ritschl verdanke Wilhelm eine nicht auf das rein Sprachliche fixierte Philologie mit kulturgeschichtlich weitem Blick, so Ludwig Gurlitt (Anm. 9), 68f. Zitiert bei Erwin Pochmarski, Von der Gründung der Archäologischen Sammlung an der Karl-Franzens-Universität im Jahre 1865 bis zur Professur für klassische Archäologie ab dem Jahre 1877, in: 150 Jahre Archäologie und Geschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz. Gedanken zur steirischen Geschichte und deren Erforschung, hg. von Elisabeth Trinkl, Wien 2016, 11–19, hier 17 (Universitätsarchiv Graz phil. Fak. Zl 468 ex 1876/77). Otto Jahn, Begründer der Winckelmann-Feiern, hatte anlässlich seiner Berufung nach Bonn ausgesprochen, eine besondere Freude sei ihm gewesen, als Philologe und Archäologe berufen zu werden, „weil ich überzeugt bin […], daß es keine Soloarchäologie giebt, und wer sich ausschließlich mit der alten Kunst beschäftigt, zum Dilettantismus herunterkommen wird“ (Brief an Johannes Schulze vom 23.11.1854, in: Eugen Petersen [Hg.], Otto Jahn in seinen Briefen, Leipzig 1913, 93). Von Wilhelm zu mehreren Bänden gebunden sind die Mitschriften nach dem Tod der Tochter Helma 1976 an Henning Wrede und das Archäologische Institut der Humboldt-Universität in Berlin gelangt. Vgl. Sepp-Gustav Gröschel/Henning Wrede (Hg.), Ernst Curtius’ Vorlesung „Griechische Kunst­ geschichte“. Nach der Mitschrift Wilhelm Gurlitts im Winter 1864/65 (Transformationen der Antike Bd. 20), Berlin 2010, 137–148. Vgl. Curt Wachsmuth, Die Stadt Athen im Alterthum, 2 Bde. Leipzig 1874/1890; Einleitung in das Studium der Alten Geschichte, Leipzig 1895.

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Vgl. Anm. 71. Ludwig Gurlitt gab die Arbeit postum zum Druck: De hiatu in Dionysii Halicarnassensis de antiquitatibus Romanis libris obvio, in: Philologus 72, 1913, 392–402. Ebd., Anm. 1: „Die Ergebnisse dieser fleißigen Studie durfte ich nicht dem Untergang verfallen lassen, obgleich die Ausarbeitung noch allerlei Mängel enthält, die ein wohlwollender Leser gerne übersehen wird.“ Ludwig Gurlitt veröffentlichte in demselben Band Plautinische Studien. Wrede bei Gröschel/Wrede (Anm. 19), 145. De tetrapoli Attica, Göttingen 1867. Deshalb vom Gutachter zwar gerügt, aber sogleich wieder entschuldigt (Quelle wie Anm. 9; vgl. Anm. 58). De tetrapoli Attica. 51: Quominus de Ionibus quoque huic dissertationi nonnulla adderem, iter Hispanicum me prohibuit, ex quo redux factus hanc quoque materiam accuratius pertractare maxime cupio – was er nicht einlöste. In der ersten Sitzung nach Gurlitts Tod formulierte der Dekan der Fakultät eingangs der Biographie: „Auf den Abschluß der Göttinger Studienzeit drängten Künstlerfahrten des Vaters, deren Begleiter er war.“ Bernhard Seuffert, Nachruf Wilhelm Gurlitt, in: Biographisches Jahrbuch und deutscher Nekrolog 11, 1906, 286–290. Louis Gurlitt finanzierte seine Reise durch Bilderverkäufe unterwegs: Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt (Anm. 11), 437–451. Die in das CIL II, Inscriptiones Hispaniae Latinae ed. A. Hübner 1869, dem zweiten Band des von Theodor Mommsen begründeten Corpus der lateinischen Inschriften, aufgenommenen Inschriften bei Gröschel/Wrede (Anm. 19), 437, Nr. 53. Auch berichtete Gurlitt in einer wissenschaftlichen Zeitschrift über ein römisches Militärlager und eine private Antikensammlung (ebd. Nr. 5f.). Iris Koch, Wilhelm Gurlitts Wanderjahre. Archäologie in den Mittelmeerländern um 1870 im Spiegel der Briefe [an W. G.] aus dem Nachlass Gurlitt [Universitätsarchiv Graz], in: Gabriele Koiner/ Ute Lohner-Urban (Hg.), „Ich bin dann mal weg“. Festschrift für einen Reisenden. Thuri Lorenz zum 85. Geburtstag, Wien 2016, 93–100. Koch, ebd. 94. Koch, Wilhelm Gurlitts Weg (Anm. 7), 1. Im Schriftenverzeichnis Gurlitts bei Gröschel/Wrede (Anm. 19), 435–437 die Nummern 7, 8, 54, 55; spätere Früchte des Athenaufenthalts ebd. Nr. 3 und 9. Hubert Szemethy, Wilhelm Gurlitt und Otto Benndorf. Ein Briefwechsel als Quelle für die Grazer Universitätsgeschichte, in: Peter Mauritsch/Christoph Ulf (Hg.), Kultur(en). Festschrift Ingomar Weiler, Graz 2013, 873–900, hier 876. Ludwig Gurlitt, Wilhelm Gurlitt (Anm. 9), 73. Nach dem Kriegsausbruch im Juli 1870 wiesen ihn verschiedene Garnisonen, anders als seine Brüder Otto und Cornelius, als untauglich ab. „Ein echter Philologentypus, wegen Kurzsichtigkeit und zu schmaler Brust dauernd dienstuntauglich“, so Ludwig Gurlitt, ebd. 64. Ludwig Gurlitt, ebd. 73. Als Wilhelms Bruder Cornelius 1868/69 im Architekturatelier von Emil ­Förster in Wien arbeitete, hatte er im Haus Salm-Reifferscheidt gewohnt. „Aus Familienbesitz erhielt das Archiv des Germanischen Nationalmuseums den umfangreichen schriftlichen Nachlaß von Mary Gurlitt (1857–1940), der rund 1000 an sie gerichtete Briefe“ und andere Dokumente umfasst. Daraus berichtet Irmtraud Freifrau von Andrian-Werburg: Familiengeschichten. Der Nachlaß der Mary Gurlitt, in: Monatsanzeiger des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg Nr. 219, 6/99, 4f. Cornelius an Wilhelm 32/06 (28.10.1871); 32/07 (19.1.1872) „um Paukkurs beim Fechtmeister zu nehmen“; 32/12 (3.2.1874) wegen „Weibergeschichten“. Ludwig Gurlitt, Wilhelm Gurlitt (Anm. 9), 73.

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Attische Bauwerke I. Das „Theseion“ [mit Bauaufnahmen und Mitteilungen Ernst Zillers], in: Lützows Zeitschrift für Bildende Kunst 8, 1873, 86–91. Das curriculum vitae vom Januar 1874 endet an diesem Punkt; es folgen noch höfliche Sätze an den Adressaten des Briefs. Karl R. Krierer, Die Conze-Medaille. Ausgewählte Schriftstücke aus dem Nachlass von Wilhelm Gurlitt im Universitätsarchiv der Karl-Franzens-Universität Graz, in: Mauritsch u. a. (Hg.), Kultur(en) (Anm. 31), 901–918, berichtet aus den rund 60 erhaltenen Briefen und Karten Conzes an Gurlitt zwischen Januar 1874 und Anfang 1878. Die Formulierungen des Briefes vom 25. 1. 1874 (s.o. Anm. 8) legen nahe, dass der Kontakt im Hause Salm zustande gekommen war und Gurlitt seine auch kunstgeschichtliche Expertise erkennen lassen wollte. In Athen bewarb er sich im Frühjahr 1874 bei der gerade dort gegründeten Abteilung des Deutschen Archäologischen Instituts um die Sekretärstelle; sie ging im Juni an einen anderen Bewerber (Koch, Wanderjahre [Anm. 28], 98). Das Theseion und das Hephaisteion in Athen, in: Nachrichten von der Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften und der Georg-August-Universität zu Göttingen 1874, Nr. 2, 17–52. Lolling erhielt 1876 den Auftrag für den ersten Baedeker-Reiseführer Griechenland. Die nur als Ms. gedruckte, viel zu umfangreiche (Teil)Urfassung von 1878 als ND: H.G. Lolling, Reisenotizen aus Griechenland. 1876 und 1877. Bearbeitet von Bert Heinrich, hg. vom Deutschen Archäologischen Institut Athen und der Carl Haller von Hallersteingesellschaft München, 834 S., Berlin 1989. bei Krierer, Conze-Medaille (Anm. 39), 903. Conze an Gurlitt, ebd. 904. Ebd. 903. Am 25. April 1874 wurde in Athen der Vertrag für die deutschen Ausgrabungen in Olympia unterzeichnet; sie dauerten von Oktober 1875 bis Frühjahr 1881: Ernst Curtius (Hg.), Die Ausgrabungen zu Olympia, 5 Bde., Berlin 1876–1881; ders./Friedrich Adler (Hg.), Olympia. Die Ergebnisse der vom Deutschen Reich veranstalteten Ausgrabung, 5 Bde., Berlin 1890–1897. Im Kampf um die Finanzierung durch Berlin waren Argument die Profilierung des Reiches als Kulturnation, die Ebenbürtigkeit der Altertumskunde mit den Naturwissenschaften und die Ebenbürtigkeit mit den Forschungen zur eigenen d. h. deutschen Geschichte. Vgl. Ulrich Sinn, Olympia, in: Der Neue Pauly Bd. 15/1, Stuttgart 2001, 1169–1174. bei Krierer (Anm. 39), 904, Anm. 22. Koch, Wanderjahre (Anm. 28), 95; vgl. ebd. 98. Matz hatte wie Gurlitt seit 1863 in Bonn bei Otto Jahn und Friedrich Ritschl studiert, dort wurde er 1867 promoviert. Das Deutsche Archäologische Institut vertraute ihm 1870 die Aufgabe an, das Corpus der römischen Sarkophage zu bearbeiten. In demselben Jahr wurde er Privatdozent in Göttingen, erhielt 1873 eine außerordentliche Professur in Halle und 1874 den Ruf nach Berlin. Vgl. Gustav Leithäuser, ADB 20, 1884, 682f. (übernommen in Lullies/ Schierings „Archäologenbildnissen“ [Anm 2], 85); Daniel Graepler im Artikel über Friedrich Matz den Jüngeren, in: Der Neue Pauly Suppl. 6 [Anm. 2], 798. De M. Tulli Ciceronis epistulis earumque pristina collectione, Freiberg 1879. Ludwig Gurlitt, Wilhelm Gurlitt (Anm. 9), 75f.: „Den ersten Teil der Reise hatten wir Arthur M ­ ilchhöfer [1852–1903] zum kundigen, lieben Reisegenossen. Die Hauptstationen waren Korinth, […] Karnesi (wo ich das Kriegerrelief zeichnete: [Ein Kriegerrelief aus Kleitor, in:] Mitt. d. deutsch. arch. Inst. in Athen VI, 1881, S. 154–166, mein Bruder eine große Inschrift kopierte)“ usw. Die Briefe Cicero’s an M. Brutus. In Bezug auf ihre Echtheit geprüft, in: Philologus Suppl. 4, 1884, 551–630+736. Vgl. die Wissenschaftliche Beilage zum Programm des Progymnasiums zu Steglitz 1888: „Nonius Marcellus [Grammatiker des 3. Jahrhunderts, der auch uns nicht überlieferte Cicero-Briefe zitiert] und die Cicerobriefe“. Die 36-seitige Untersuchung wird zustimmend zitiert im Standardwerk von R.Y. Tyrrell/L.C. Purser, The Correspondence of M. Tullius Cicero Bd. 1, Dublin/London 1904, 67. Das Kapitel „Compilations of letters in Cicero’s correspondence“ in: Hans-Joseph Klauck, Religion und

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Gesellschaft im frühen Christentum, Tübingen 2003 nimmt 320 Anm. 21 Ludwig Gurlitts These zum „Archetypus der Brutusbriefe“ auf (Jahrbücher für classische Philologie 31, 1885, 561–576). In der Reihe Klassiker des Altertums bei Propyläen in Berlin 1923 Petronius, Satiren; ebd. Plautus in 4 Bdn. 1920–1922. Ludwig Gurlitt polemisierte in seiner Einleitung gegen die Prüderie anderer Philologen. Vgl. Katja Lubitz in: Josefine Kitzbichler/Katja Lubitz/Nina Mindt, Theorien der Übersetzung antiker Literatur in Deutschland seit 1800 (Transformationen der Antike), Berlin 2009, 126f. Ludwig Gurlitt, Bemalte Marmorplatten in Athen [„3 Bildwerke bester griechischer Zeit, die schon fast erloschen sind“], in: Historische und philologische Aufsätze. Ernst Curtius zu seinem siebenzigsten Geburtstage am zweiten September 1884 gewidmet, Berlin 1884, 151–166. Ebd. 259–284 Wilhelm Gurlitt, Paionios und der Ostgiebel des Zeustempels in Olympia. Ludwig Gurlitt veröffentlichte 1901 „Erinnerungen an Ernst Curtius“ (†1896) in: Jahresberichte über die Fortschritte der classischen Altertumswissenschaft 111, 1901 (Biographisches Jahrbuch), 113–138. 95 S., erschienen Wien 1875. Den Schüler der Leipziger Thomasschule hatte der Rektor, Johann Friedrich Fischer, für das Studium „der classischen und biblischen Philologie“, so das Hebräische und Arabische, begeistert: Vgl. Heinrich Bosse in diesem Band. Ebd. zu Johann Gurlitts Allgemeiner Einleitung in das Studium der schönen Kunst des Alterthums von 1799. Friedrich August Wolf, Darstellung der Alterthums-Wissenschaft nach Begriff, Umfang, Zweck und Werth, Berlin 1807, Zitat 124f. Eduard Meyer (1855–1930), Zeitgenosse Wilhelms, überführte mit den wachsenden Bänden und Neubearbeitungen seiner Geschichte des Altertums (1884–1925) die alte universalhistorische Tradition in die durch Ausgrabungen und Entzifferungen zum Alten Orient erweiterte und zugleich historisierte biblische Welt, eine Tradition von ‚Alter Geschichte‘, die nie ganz aufgegeben wurde. Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften [aus dem Nachlass nach stets ergänzter Vorlage der von 1809 bis 1865 26 mal gehaltenen Vorlesung], hg. von Ernst Bratuscheck, Leipzig 1877. Grundriss der Archäologie. Für Vorlesungen nach [Carl Ottfried] Müllers Handbuch [der Archäologie der Kunst (31848)], Berlin 1853, 39 (Vortrag von 1850 „Ueber das Verhältnis der Archäologie zur Philologie und zur Kunst“ als Beilage). Die knappe Hälfte des Grundrisses gilt der Geschichte der (vor allem griechischen) Kunst; als „Parallelen“ werden u. a. ägyptische, indische, assyrische Kunst, als Sonstige die des „rohen Kunsttriebes“ d. h. Mexikos und Nordeuropas, schließlich die „starre Civilisation“ der Chinesen und „die Kunst der christlichen Welt“ behandelt. Der längere „praktische Theil“ traktiert „Gattungen“ wie Bauwerke, Skulptur, Münzen, ganz ausführlich Inschriften, als „Inhalt“ vor allem Gottheiten und Heroensage. Über das Wesen und die wichtigsten Aufgaben der archäologischen Studien, in: Berichte über die Verhandlungen der sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften 1848, 209–226, hier 213. Vgl. bei Anm. 18. Das Gutachten schrieb Hoeck (Promotionsakte wie Anm. 9; vgl. Anm. 25). Seine Lehraufgaben waren „griechische Alterthümer und Geschichte, griechisches und römisches Staatsleben, klassische Literaturgeschichte, alte Länder- und Völkerkunde nebst einer […] selbst zu bemessenden Ausdehnung auf die Exegetica“ (Gröschel/Wrede, Curtius’ Vorlesung [Anm. 19], 58). Vgl. Bleicken, Herausbildung der Alten Geschichte (Anm. 3), 106 und 116 Anm. 43. Fittschen, Von Wieseler bis Thiersch (Anm. 3), 84. Wrede bei Gröschel/Wrede, ebd. 58. Zur Tradition dieses Vorlesungsgegenstandes vgl. Wrede, ebd. 43f.; 96–128. In Gurlitts Mitschrift S. 59, in der Edition von Gröschel/Wrede, ebd. 280. Wrede, ebd. 3; 99; 104–106 u. ö. Die Wende zur Stilbetrachtung erkennt Wrede seit Mitte des Jahrhunderts; seine Belege sind Namen wie Otto Jahn, Johannes Overbeck (1826–1895), Heinrich Brunn (1822–1894).

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In Curtius’ Vorlesung hatte Gurlitt noch gelernt, der Tempel stamme aus der Zeit unmittelbar vor Phidias, dem Meister der Parthenonskulpturen (in Gurlitts Mitschrift 65f., bei Gröschel/Wrede, ebd. 295–297). „Der Bau […] wurde etwa gleichzeitig mit dem Parthenon begonnen, doch war er, dem Stil der Met­ open nach zu urteilen, erst [etwas später] vollendet“, so Peter C. Bol in Reclams „Griechenland. Ein Führer zu den antiken Stätten“, Stuttgart 1998, 125. Die beiden Jüngeren dann deutlich „für die Fächer Philologie und Archäologie“ (meine Hervorhebung): Fittschen, Von Wieseler bis Thiersch (Anm. 3), 87. Die Dissertation Conzes hatte bildliche Darstellungen der Psyche, die Bonner Dissertation Benndorfs 1862 die sich auf die bildende Kunst beziehenden Epigramme der Anthologia Graeca behandelt (De Anthologiae Graecae epigrammatis quae ad artes spectant, Leipzig 1862). erschienen Wien 1869 (hiernach die bloßen Seitenangaben in den folgenden Passagen) und in: Zeitschrift für die Österreichischen Gymnasien 20, 1869, 335–347 (wieder abgedruckt mit Kommentar von Karl Reinhard Krierer in: Thomas Assinger u. a. Hg., Die Antrittsvorlesung. Wiener Universitätsreden der Philosophischen Fakultät, Göttingen 2019, 17-36). Conze hatte 1859 mit Adolf Michaelis (18351910; unersetzlich sein Buch: Die archäologischen Entdeckungen des neunzehnten Jahrhunderts, Leipzig 1906; als „Ein Jahrhundert Kunstarchäologischer Entdeckungen“ 21908) als erster das „Reichsstipendium“ des ab demselben Jahr „Preußischen Instituts für archaeologische Correspondenz“, dem späteren Deutschen Archäologischen Institut, erhalten (Luise M. Errington, Die Berichte der ersten Reisestipendiaten des DAI – Zwei Funde im Preussischen Staatsarchiv, in: Jahrbuch des Deutschen Archäologischen Instituts 130, 2015, 241-258; darin 243 aus den Akten paraphrasiert: Förderung junger Doktoren der Philologie im Sinne der sich entwickelnden Archäologie). Die erste rein archäologische Professur erhielt Heinrich Brunn 1865 in München. Zwei Jahre zuvor formulierte Michaelis im Nachruf auf Gerhard, in: Die Grenzboten 26,2, 1867, 445463, hier 445: Der bedeutende Aufschwung der geschichtlichen und philologischen Erforschung des klassischen Altertums in den letzten Jahrzehnten „ist freilich allen Zweigen der Alterthumswissenschaft zu Gute gekommen […]. Zu denjenigen Disciplinen, welche von dieser neuen frischen Entwicklung am meisten Gunst erfahren haben, gehört die sogenannte Archäologie, die Wissenschaft von der alten Kunst“. [Adolf Michaelis], Die Anschauung und die Alterthumswissenschaft, in: Die Grenzboten 26,1, 1867, 45-59, hier 57: „Wo nur irgendein Gedanke eine Darstellung im Raume erheischte […], die bildende Kunst der Griechen hat sich dessen bemächtigt, von den zum täglichen Gebrauch bestimmten Gerä­ then […] bis zu dem unvergleichlichen Organismus des hellenischen Tempels.“ 1885 wurde Otto Hirschfeld in Berlin Nachfolger von Theodor Mommsen (1817–1903). Conze, Die Bedeutung der Archäologie (Anm. 67), 16. Um dem erstarrten Frontalunterricht der Vorlesungen etwas entgegen zu setzen, wurden nach Heynes Vorbild von 1763 in Göttingen durch Wolf in Halle 1787, schließlich seit 1848 überall „Philologische Seminare“ eingerichtet. Vgl. Martin ­Holtermann, Philologisches Seminar, in: Der Neue Pauly 15/2, 2002, 328–331. Carlos Spoerhase/MarkGeorg Dehrmann, Die Idee der Universität. Friedrich August Wolf und die Praxis des Seminars, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 5/1, 2011, 105–117. In der Bibliographie Gurlitts bei Gröschel/Wrede, Curtius’ Vorlesung (Anm. 19), 435, Nr. 11–18. Vgl. Karl Reinhard Krierer, Die Archaeologisch-Epigraphischen Mittheilungen aus Oesterreich ­(1877–1897). Spezialisierung, Organisation, Praxis, Göttingen 2015, 239–258. Vorderseite: Conzes Büste, ALEXANDER·CONZE·1869 1877; Rückseite: Athena Parthenos des ­Phidias, MNHMHΣ XAΡIN. Vgl. Krierer, Conze-Medaille (Anm. 39), Abb. 3. Ebd. 912, Brief vom 4. August 1877. Ebd. 907.

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Zum Berufungsvorgang Pochmarski, Archäologische Sammlung (Anm. 18), 15f. Iris Koch, Wilhelm Gurlitt. Der erste Professor für Archäologie an der Universität Graz als ‚Universalarchäologe‘, in: 150  Jahre (Anm. 18), 21–29, hier 22f. Dies., Wilhelm Gurlitts Weg (Anm. 7), 2. Die 1200 Gulden ­Gurlitts entsprechen etwa 2600 Mark. Zur Orientierung hier die aus der Forschung kompilierten Größenordnungen von Jahreseinkommen deutscher Universitätsprofessoren für die Zeit um 1885 bei Fritz K. Ringer, Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine 1890–1933, Stuttgart 1983, 43f.: Privatdozenten wie Volksschullehrer 1500 Mark, außerordentliche Professoren wie Gymnasiallehrer 5000 Mark, ordentliche Professoren 6–12 000 Mark. Ludwig Gurlitt, Wilhelm Gurlitt (Anm. 9), 76. Ebd. 82. Vgl. im Nachlass Dresden 56/27 (Wilhelm an Cornelius 30. Juli 1892) die einfühlsame Beobachtung von Individualitäten der noch kleinen beiden ersten Töchter. Nachlass Dresden 110/01 Wilhelm Gurlitt an seine Schwester Else am 27. August 1892. Szemethy, Gurlitt und Benndorf (Anm. 31), das Zitat 877. Szemethy wertete den Bestand von 158 Briefen Benndorfs im Nachlass Gurlitts des Universitätsarchivs Graz und 113 Briefe Gurlitts im Nachlass Benndorf der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien aus. Die vielen Ratschläge, die Wilhelm nach dem Zeugnis ihres Briefwechsels seinem Bruder Cornelius auf dessen akademischem Karriereweg zu geben wusste (z. B. 56/04), bekunden eine hervorragende Kenntnis der einschlägigen Kommunikationsformen und Wissenschaftlernetze. Walter Höflechner in: 100 Jahre Kunstgeschichte an der Universität Graz, hg. von dems. und Götz Pochat, Graz 1992, 72 mit Anm. 282. Pochmarski, Archäologische Sammlung (Anm. 18), 15f. Nach der Wegberufung des Klassischen Philologen Karl Schenkl 1875, der auch über griechische Plastik und die Akropolis von Athen gelesen hatte, beantragte die Fakultät eine „Lehrkanzel der klassischen Kunstarchäologie“. Nissen erscheint dafür wenig einschlägig. Egon Schallmayer in: Der Neue Pauly Suppl. 6 (Anm. 2), 893f.: „N[issen] lehrte ausschließlich Alte Geschichte, die er als selbständige Disziplin mit universalhistor. Anspruch betrachtete, und versuchte, sie aus der Abhängigkeit der Klass. Philologie zu lösen.“ Standardwerk wurde seine Italische Landeskunde, 2 Bde., Berlin 1883/1902. Szemethy, Gurlitt und Benndorf (Anm. 31), 880. Als Ordinarien der Klassischen Philologie wirkten 1867–1904 Max Theodor von Karajan, 1871–1891 Wilhelm Kergel, 1875–1881 Otto Keller, 1882–1908 Alois Goldbacher und 1896–1917 Heinrich Schenkl. Ebd. 878f. Ebd. 879 Brief Gurlitts an Benndorf vom 25.7.1878. Daniel Modl, Steirische Archäologen im Spannungsfeld zwischen Universität und Joanneum – Schlaglichter aus über 150 Jahren gemeinsamer Geschichte, in: 150 Jahre Archäologie (Anm. 18), 45–58. Szemethy, Gurlitt und Benndorf (Anm. 31), 877 Brief an Benndorf vom 3.8.1885. Ebd. 877f. Brief an Benndorf vom 18.2.1890. Ebd. 885f. Höflechner, Kunstgeschichte (Anm. 82), 72f. Wien hatte zunächst Innsbruck in der Bewilligung einer ordentlichen Professur für Archäologie gegen Gurlitts entschiedenen Protest den Vorzug gegeben. Szemethy ebd. 881–884; das Zitat 884. Zur Geschichte des ‚Archäologischen Cabinets‘, das der Klassische Philologe Karl Schenkl seit 1865 aufgebaut hatte, vgl. Pochmarski, Archäologische Sammlung (Anm. 18); Modl, Steirische Archäologen (Anm. 86), 47f. Manfred Lehner, Zur Originalsammlung des Archäologischen Museums der Universität Graz, in: Komos. Festschrift Thuri Lorenz, Wien 1997, 279–285; als Prunkstück des Museums nennt er „die Vasensammlung mit Schwerpunkt auf attisch Rotfigurigem, die bis auf wenige Stücke schon 1875 bestand“ (84). Koch, Gurlitts Weg (Anm. 7), 3. Szemethy, Gurlitt und Benndorf (Anm. 31), 890. 1877 gab es in Graz bereits das Philologische (seit 1864), das Historische (1865) und das Seminar für Deutsche Philologie (1873).

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Ebd. 890 Gurlitt an Benndorf am 9.6.1894; vgl. ebd. 892 an Benndorf am 13.8.1896. Friedrich Pichler (1834–1911) hatte sich in Graz 1866 für „Numismatik, Heraldik und Sphragistik“ und ergänzend 1868 für lateinische Epigraphik habilitiert. Seit 1869 bekleidete er eine außerordentliche Professur. Gleichzeitig leitete er die epigraphisch-numismatische Abteilung des archäologischen Cabinets. In Gurlitts zweitem Grazer Semester z. B. las er über „Römische Archäologie“. Zu Reserven gegenüber Pichler vgl. Koch, Wilhelm Gurlitt (Anm. 76), 24, Anm. 24; Hubert D. Szemethy, Wissenschaftliche Korrespondenzen Otto Benndorfs mit Grazer Universitätsangehörigen, in: 150 Jahre Archäologie in Graz (Anm. 76), 33f., 36, 38f. Modl, Steirische Archäologen (Anm. 86), 49f. Walter Höflechner, Geschichte der KarlFranzens-Universität Graz. Von den Anfängen bis in das Jahr 2008, 2. Aufl., Graz 2009, 63. Szemethy, Gurlitt und Benndorf (Anm. 31), 889–892. Dieser hatte bei Hirschfeld, Benndorf und Mommsen studiert. Seit 1888 war er Privatdozent in Wien. Als Custos baute er die kaiserliche Münzsammlung aus und lehrte an der Wiener Universität Numismatik. Szemethy, Gurlitt und Benndorf (Anm. 31), 895, Brief Gurlitts an Benndorf vom 6.2.1897. Otto Cuntz hatte sich als Althistoriker 1894 in Strasburg habilitiert und wurde in Graz 1898 zunächst außerordentlicher, 1904 ordentlicher Professor für Römische Altertumskunde und lateinische Epigraphik; seit 1905 war er Mitglied des Österreichischen Archäologischen Instituts. Szemethy, Gurlitt und Benndorf (Anm. 31), 891f. und 894f. Ebd. 879 Brief an Benndorf vom 19.10.1877. Zum Sommersemester 1879 nennt das Grazer Vorlesungsverzeichnis als „Philosophen“ 152 immatrikulierte und außerordentliche Studenten. Für die Scans aus den Grazer Vorlesungsverzeichnissen 1877/78 bis 1904/05 bedanke ich mich bei dem Universitätsarchiv, namentlich Prof. Dr. Alois Kernbauer und Sabine Krammer. In der Tradition Winckelmanns, der auch Curtius’ Griechische Kunstgeschichte folgte, gehört Alexanders Herrschaft als die Zeit des späten „Schönen Stils“ noch zur Klassik, während mit Johann Gustav Droysens Geschichte des Hellenismus (Bd. 1,1877 in erster Aufl. 1833 als Geschichte Alexanders des Großen) für Historiker dieser mit Alexander beginnt. Zuletzt erschienen: Tiryns. Der prähistorische Palast der Könige von Tiryns (1886); Troja. Ergebnisse meiner neuesten Ausgrabungen auf der Baustelle von Troja (1884); Mykenae. Bericht über meine Forschungen und Entdeckungen (1878). Conze war im April 1873 auf dem Weg zu Ausgrabungen auf Samothrake Gast in Troia gewesen; im November hielt er in Wien einen Vortrag „Ueber Dr. Schliemanns trojanische Ausgrabungen“: Karl Reinhard Krierer, Alexander Conze und Heinrich Schliemann, in: Archäologie und Archäologen im 19. Jahrhundert (Mitteilungen aus dem Heinrich-Schliemann-­ Museum 10/11), hg. von Reinhard Witte, Ankershagen 2016, 259–275. Auch Benndorf beteiligte sich an der Diskussion: Hubert D. Szemethy, Otto Benndorf, der „Schliemann von Ephesos“, und seine Beziehungen zu Heinrich Schliemann, ebd. 277–307, hier 281. Im Februar 1878 hielt er einen Vortrag über die Schachtgräberfunde in Mykene. In den Tagen davor korrespondierte er darüber mit Gurlitt (ebd. 291f.). Der sprach davon, dass die „Thongefäße mit dem wirren Geschlinge“ orientalische Einflüsse hervortreten ließen und jedenfalls Conzes Aufstellung über den ältesten, [d. h. geometrischen] Vasenstil (Zur Geschichte der Anfänge griechischer Kunst, Wien 1870) einer Revision bedürften. Dabei wird es sich um das zweistündige Kolleg im Wintersemester 1889/90 „Grundzüge der Anthropologie“ handeln. Ludwig Gurlitt, Wilhelm Gurlitt (Anm. 9), 78: „im Anschluß an Dr. Johannes Rankes ‚Der Mensch‘“, das sind Bd. 1: Entwicklung, Bau und Leben des menschlichen Körpers, Leipzig 1886; Bd. 2: Die heutigen und die vorgeschichtlichen Menschenrassen, Leipzig 1887. Gurlitt war 1878 Mitbegründer eines allerdings nur bis 1883 bestehenden Anthropologischen Vereins in Graz; Vorbild war vermutlich die von Rudolf Virchow 1869 gegründete Berliner Anthropologische Gesellschaft. Ein Dokument der Fakultät spricht für 1893 von gegenwärtig 12 Teilnehmern als Beleg für eine gute Nachfrage: Höflechner, Kunstgeschichte (Anm. 82), 83.

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Nach dem Vorbild Heinrich Brunns in München (vgl. Anm. 67) als Teil des archäologischen Apparats begründet von Conze (1869–1876 in acht Serien à 12 Tafeln) und fortgeführt von Benndorf: Karl Reinhard Krierer/Ina Friedmann, Alexander Conze in Wien (1869–1877), in: G. Grabherr/B. Kainrath (Hg.), Akten des 15. Österreichischen Archäologentages 2014, Ikarus 9, Innsbruck 2016, 141–152, hier 144–146; Szemethy, Gurlitt und Benndorf (Anm. 31), 880. Kurz zuvor war erschienen: Arthur Kirchhoff (Hg.), Die akademische Frau. Gutachten hervorragender Universitätsprofessoren, Frauenlehrer und Schriftsteller über die Befähigung der Frau zum wissenschaftlichen Studium und Berufe, Berlin 1897. Wenn, so z.  B. der Historiker Hans Delbrück ­(1848–1929), ganze Scharen von Damen in die Hörsäle strömen, „wie es jetzt den Anschein hat“, werde „der wissenschaftliche und soziale Charakter unserer Universitäten Veränderungen erleiden“, die er wenn irgend möglich verhüten wolle (187). „Die Zahl der entschiedenen Gegner (ist) bereits in bedeutender Minorität“ (X). Ludwig Gurlitts Erinnerungen an den Bruder (Anm. 9) beginnen mit einer Nietzsche-Lektüre: „Was ich da las, das klang mich alles an wie ein Stück aus dem Leben meines Bruders Wilhelm.“ Ludwig nennt Elisabeth Förster-Nietzsches Biographie des jungen Nietzsche (1912) und dessen „Philologica“, die Bde. XVII (Gedrucktes und Ungedrucktes aus den Jahren 1866–1877, hg. von Ernst Holzer, 1910) und XVIII (Unveröffentlichtes zur Literaturgeschichte, Rhetorik und Rhythmik, hg. von Otto Crusius, 1912) der Gesamtausgabe bei Kröner. Biographisches Jahrbuch (Anm. 27), 287. Brief vom 27.2.1892, bei Szemethy, Gurlitt und Benndorf (Anm. 31), 880f. Cornelius rät ihm zu und gibt Ratschläge: Brief vom 29.8.1882 (32/41). Über Pausanias. Untersuchungen, Graz 1890, 520 S. Christian Habicht, Pausanias und seine „Beschreibung Griechenlands“, München 1985, 169–180. Ebd. 172 mit Anm. 21. Die sieben Thore Thebens, in: Hermes 26, 1891, 191–242, Zitat 228 Anm. 2. Wilhelm Gurlitt an den Bruder Cornelius (56/29): „Als Nachzügler ist noch eine Rezension meines Pausanias von einem Wilamowitzianer erschienen: äußerst lobend, ‚schöne Untersuchungen‘, ‚vernünftige Methode‘, ‚geschmackvolle Mäßigung‘ mit dem Schlusseffekt, dass es ‚das Beste ist, was bisher über Pausanias geschrieben worden ist‘.“ was Habicht, Pausanias (Anm. 112), 173–177 in Verbindung bringt mit Wilamowitz’ bekanntem Spott für Schliemanns „Schatz des Priamos“ in Troia 1873 und 1876 die angeblichen Gräber der Troia-Heimkehrer Agamemnon und seiner Gefährten in Mykene (hier stützte sich Schliemann auf Pausanias). Habicht rekonstruiert aus Wilamowitz’ Schriften eine tief empfundene Kränkung, die er im April 1873 erfahren hatte: Er führte eine adlige Gesellschaft mit dem Pausanias in der Hand über das Gelände von Olympia, hatte den antiken Autor aber missverstanden und eine schlechte Figur abgegeben. Damit erklärt Habicht Wilamowitz’ Auftritt vor der Weihnachtsgesellschaft des Deutschen Archäologischen Instituts in Rom desselben Jahres, wo er mit beißenden Versen den Dilettanten Schliemann für das blinde Vertrauen in Pausanias und die antike Überlieferung verspottete (Ulrich von Wilamowitz-­ Moellendorff, Erinnerungen 1848–1914, Leipzig 1928, 148; ders. Brief an die Eltern vom 31.12.1873 bei William M. Calder III, Wilamowitz on Schliemann, in: Philologus 124, 1980, 146–151, hier 147). Zeitschrift für Bildende Kunst 12, 1877, 197–204; 293–305. Ebd. 242–244; 450–452; 481–483; 514–516; 579f. (Hiernach die reinen Seitenangaben in den folgenden Passagen). The antiquities of Athens, measured and delineated by James Stuart & Nicholas Revett painters and architects, 4 Bde., London 1762–1816. Jacob Rothenberg, ‚Descensus Ad Terram‘. The Acquisition and Reception of the Elgin Marbles, New York/London 1977.

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Im zweiten Teil von Winckelmanns Geschichte der Kunst (Anm. 5), „nach äußeren Umständen der Zeit unter den Griechen betrachtet“, ist die Rede vom „Verlust der Freiheit von Athen und zugleich, wie es scheint, mit großem Nachteile der Kunst“ (329ff., Zitat 340). óchlos agoraîos aus Aristoteles’ Politik 6,4: in der Edition von Gröschel/Wrede (Anm. 19) 333f. Vgl. Wrede, ebd. 106, 114–118. d. h. die Realität des Troianischen Kriegs bezeugten. Das Zitat: Heinrich Schliemann, Trojanische Alterthümer, Leipzig 1874, 175. Ludwig Gurlitt, Wilhelm Gurlitt (Anm. 9), 75f. Am 3.2.1880, bei Szemethy, Gurlitt und Benndorf (Anm. 31), 875 mit Anm. 14. Historische und philologische Aufsätze (Anm. 51), 259–284, Zitat 261. Bei Gröschel/Wrede, Curtius’ Griechische Kunstgeschichte (Anm. 19), 140. Ludwig Gurlitt, Wilhelm Gurlitt (Anm. 9), 69. Koch, Wilhelm Gurlitt (Anm. 76), 23f. In der Bibliographie bei Gröschel/Wrede, Curtius’ Griechische Kunstgeschichte (Anm. 19), 436f. die Nummern 21ff. Die von Gurlitt beigesteuerten Inschriften zum Supplementum Inscriptionum Orientis et Illyrici Latinarum, ed. Theodor Mommsen/Otto Hirschfeld/Alfred von Domaszewski, Berlin 1902, ebd. Nr. 53. Biographisches Jahrbuch (Anm. 27), 287. Ueber die Aufgaben und Ziele des culturhistorischen Museums (1892), in: Jahresbericht Landesmuseum Joanneum 80, 1991, 8–16. Ebd. 13. Conze hatte sich in seiner Wiener Antrittsvorlesung 1969 (Anm. 67) am Ende an die Studenten gerichtet: „Dann aber kann ich mir nicht versagen endlich auch noch daran zu denken, dass Sie von dieser Hauptstadt hinausgehen werden in alle Theile eines großen Reiches, welches […] größtentheils auf Römerboden erwachsen ist […]. Es ist eine Ehrensache der heutigen Bewohner eines solchen Landes, es ist ihre Pflicht gegen die Menschheit […], diese Ueberreste […] mit Verständnis zu bewahren.“ Koch, Wilhelm Gurlitt (Anm. 76), 24–26. Gurlitts Berichte bei Gröschel/Wrede, Curtius’ Griechische Kunstgeschichte (Anm. 19), 436f. die Nummern 27 und 42–51, darunter in den als Nachfolge der Archäologisch-epigraphischen Mitteilungen aus Österreich-Ungarn, an deren Anfängen er mitgearbeitet hatte, gerade begründeten Jahresheften des Österreichischen Archäologischen Instituts, 1899, Beiblatt, 87–102. Vgl. den Artikel Poetovio in Pauly-Wissowas Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft 21,1, 1951, 1167–1184 (B. Saria), hier 1183f. Brief vom 10.11.1895 bei Koch, Wilhelm Gurlitt (Anm. 76), 25. Am 14.10.1900 (32/142). Vgl. 32/192 und 32/138. Anzeige in der Marburger Zeitung vom 23.2.1899, 8. Im Vortrag über das Frauenstudium Ende desselben Jahres bedauerte Gurlitt, dass man erst nach England und Amerika „die Sache und nach unserer üblen Gewohnheit auch den Namen ‚university extension‘ bei uns eingeführt, während wir das Recht hätten, die Anreger und die ersten zu sein.“ Vgl. Martin Keilhacker, Das Universitäts-Ausdehnungs-Problem in Deutschland und Deutsch-Oesterreich, Stuttgart 1929. Die Wiener Statistik der Teilnehmer in den 1890er Jahre weist knapp 50 % Arbeiter aus, drei Viertel davon organisiert. Vgl. Paul Röhrig, Die volkstümlichen Hochschulkurse, in: Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte IV (1870–1918), hg. von Christa Berg, München 1991, 456–460. Die Bewegung war über Wien nach Deutschland gelangt, in Wien vorangetrieben von dem Dozenten für römische und mittelalterliche Geschichte und Schüler Theodor Mommsens, Ludo Moritz Hartmann (1865–1924). Röhrig zitiert den Klassischen Philologen Hermann Diels (1848–1922), damals Rektor der Berliner Universität, auf dem zweiten deutschen Volkshochschultag 1906 an der TH Charlottenburg. Er sah die Hauptaufgabe der Hochschullehrer darin, „in dem Arbeiter an irgendeinem Punkte die geistige Selbständigkeit zu wecken […]. Denn das Sehnen der unteren Volkskreise geht dahin, frei zu werden

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von den Autoritäten […], sie fühlten, daß ihnen das gelinge, wenn sie erst einen Zipfel der gesamten Wissenschaft erfaßt hätten“ (ebd. 459). Probleme der ‚Universitätsausdehnung‘ waren am Ende – sie brach in den 1920er Jahren ein – das Medium Vortrag und die typischen Universitätsthemen. 56/01 (Wilhelm), 32/54 (Cornelius), 56/02 (Wilhelm), 32/55 (Cornelius). Vgl. die Texte im Anhang. Als „Gesamtbetrachtung schönheitlichen Schaffens“ verstand Cornelius Gurlitt seine „Geschichte der Kunst“; Bd. 1 (1902) reicht vom Alten Orient über die Antike bis zum späten Mittelalter (Zitat ebd. IV). Vgl. Anm. 82. Adolf Michaelis, Rede über die Entwickelung der Archäologie in unserem Jahrhundert, in: Der Rectoratswechsel an der Kaiser-Wilhelm-Universität Strassburg, 1881, 28–55, hier 46 und 49: „Winckelmanns Kunstgeschichte ist das erste Buch auf dem Gebiete antiker Kulturgeschichte. […] Die Geschichte der alten, insbesondere der klassischen Kunst ist aber nicht bloss ein Theil der antiken Kulturgeschichte, sondern auch ein Theil der allgemeinen Kunstgeschichte. Somit hat sich die Archäologie auch mit der modernen Kunstforschung auseinander zu setzen. Diese ist als Wissenschaft noch ganz jung.“ Höflechner, Kunstgeschichte (Anm. 82), 72–78; 102. Strzygowski hatte in Berlin u. a. bei Curtius, dem Klassischen Archäologen Adolf Furtwängler (1853–1907) und dem philologischen Archäologen Carl Robert (1850–1922) gehört. 1883 studierte er in London „die griechischen Originale“, nach der Promotion 1885 mit Anschluss an das Deutsche Archäologische Institut die altchristliche und byzantinische Kunst in Rom und Italien. Nach der Habilitation 1887 fand er Anschluss an das Deutsche Archäologische Institut in Athen und bereiste für die byzantinischen Denkmäler Griechenland, Konstantinopel, Kleinasien und Armenien. 1901 studierte er im Museum in Kairo die koptische Kunst. In demselben Jahr erschien „Orient oder Rom? Beiträge zur Geschichte der spätantiken und frühchristlichen Kunst“. Höflechner, ebd. 81–83. Ebd. 85f. Als Kompensation gewährte das Ministerium die Einrichtung eines archäologischen Instituts. Szemethy, Gurlitt und Benndorf (Anm. 31), 888. Ebd. 893; Höflechner; Kunstgeschichte (Anm. 82), 86f. Strzygowski gründete 1896 für „die breite Masse der anregungsbedürftigen Laien“ und, um Erwerbsmittel für das Kunsthistorische Museum der Universität zu aquirieren, die Kunsthistorische Gesellschaft. Vgl. Höflechner, ebd. 100f. und 367–373 Heidetraut Ocherbauer, Die Kunsthistorische Gesellschaft. Höflechner, ebd. 91–95; 100; „Schwesterfächer“ ebd. 80 Anm. 318. Szemethy, Gurlitt und Benndorf (Anm. 31), 892–894. Höflechner, ebd. 79f. Zehn Tage nach Gurlitts Tod hatte Strzygowski beantragt, selbst die Lücke zu füllen – unter Hinweis auf Gurlitts langen Ausfall wegen Krankheit, was sich als Mangel an Kenntnissen der Studierenden auf dem Gebiet der antiken Kunst deutlich bemerkbar gemacht habe (ebd. Anm. 318). Gudrun Danzer, Aufbruch in die Moderne? Paul Schad-Rossa und die Kunst in Graz, im gleichnamigen Katalog der Ausstellung in Graz 2014/2015, 26–67, hier 33. Ulrike Troppers ungedruckte Grazer Dissertation von 1994, Das kreative Milieu von Graz um 1900, 24f. Zum Sozialprofil der sich urbanisierenden ‚Submetropole‘ ebd. 1–37; Danzer, Aufbruch, 29–31. Danzer, ebd. 31; Tropper, Kreatives Milieu, 40f. Ausführlicher Bericht im Grazer Tagblatt vom 9. Dezember 1900, 21f. Diese Zeitung war 1891 als das „Organ der Deutschen Volkspartei für die Alpenländer“ gegründet worden. Die Geister hatten sich an der „Specialausstellung der Neu-Dachauer Gruppe, der ‚Scholle‘ [und der] ,Jugend‘ in München, verbunden mit Werken der Nutzkunst“ (Grazer Tagblatt), geschieden. Die Jugend – Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben (1896ff.) hatte bekanntlich dem Jugendstil ihren Namen gegeben. Tropper, Kreatives Milieu (Anm. 149). Eva Klein, Vergessene steirische Moderne. Paul Schad-Rossa und das kreative Milieu um 1900, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 42, 2012, 593–616.

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Paul Schad-Rossa (1862–1916). Die Wiederentdeckung eines Symbolisten, Katalog der von Velten ­Wagner kuratierten Ausstellung des städtischen Museums Engen 2014. Im Kunsthandel war ein Konvolut von Graphiken und kleineren malerischen Arbeiten aufgetaucht. Im November 2014 folgte die Grazer Ausstellung (Anm. 149); ebd. 26–29 stellt die Grazer Kuratorin Gudrun Danzer den Zusammenhang her mit dem aktuellen Interesse für die „andere Moderne“ (Ausstellungen Konstanz 2013; Bielefeld 2013) seit der Wiener Ausstellung von 1985, Traum und Wirklichkeit. Wien um 1900. – 13 Briefe Schads an Gurlitt zwischen Juli 1900 und Dezember 1902 im Universitätsarchiv Graz finden sich im Anhang der Grazer Dissertation 2011 von Eva Klein, Das Plakat in der Moderne. Der Beginn des Grafikdesigns in der Steiermark, 275–290 (nicht in der gedruckten Fassung: Plakate. Aufbruch in die Moderne, Graz 2014). Danzer, Aufbruch (Anm. 149), 48–54; Zitat im ebd. 49 abgebildeten Katalogtext von 1901, 9f. Die Belege bei Danzer, ebd. 52. Zitiert bei Klein, Vergessene steirische Moderne (Anm. 153), 594. Der Katalog „Aufbruch“ (Anm. 149) bildet die ersten Seiten, Vorwort und Beispielseiten im Original ab. Klein, Vergessene Moderne (Anm. 150), 608–611; Danzer, Aufbruch (Anm. 149), 61–67. Josef Strzygowski, Die bildende Kunst der Gegenwart, Leipzig 1907, stellte Böcklin in den Mittelpunkt; Schad erwähnt er nicht. Brief Schads vom 23.10.1901, bei Klein, Das Plakat (Anm. 154), 281. Bei Gelegenheit hatte Schad ­Gurlitt für den „Verein Arbeiterbühne“ um verbilligten Eintritt in eine Ausstellung des Kunstvereins gebeten. „Mit Freuden würden es, wie ich deutlich merkte, die Leute begrüßen, wenn Sie selbst die Führung übernehmen wollten.“ Klein, ebd. 281 und 283. Brief vom 19.8.1898, bei Szemethy, Gurlitt und Benndorf (Anm. 31), 895f. Ludwig Gurlitt, Wilhelm Gurlitt (Anm. 9), 80. Ebd. 81. Ludwig Gurlitt, ebd. 82. Grazer Tagblatt vom 14.2.1905. Ludwig Gurlitt, Wilhelm Gurlitt (Anm. 9), 81. Vater Louis Gurlitt sah nach dem Sieg Preußens über Österreich 1866 „Deutschland seinem großen geschichtlichen Ruhm entgegenschreiten.“ Das lasse ihn persönliche Opfer leicht tragen, „so auch meinen ältesten Sohn Memo, der im Mai [1866] einen Antrag als Erzieher des Grafen [Hugo *1858?] Mensdorff in Wien mit glänzender Besoldung und lebenslänglicher Pension ablehnte und seinen Brief an uns, in dem er seine Ablehnung zu entschuldigen sucht, damit schloß: ‚schließlich ist es mir unmöglich, meinen Lebensnachen an ein untergehendes Wrack zu knüpfen.‘ Das war im Mai. Der Juli [Königgrätz] bestätigte seine Prophezeihung“ (Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt [Anm. 11], 436f.). Ludwig Gurlitt, Wilhelm Gurlitt (Anm. 9), 82–89. Ebd. 87. Als Abschluß eines Studiums der Klassischen Archäologie kam nur die Promotion in Frage. 1881 promovierte Gurlitt Johann Gutscher über ‚Die Compositions-Principien der griechischen Schalenmaler‘; zweiter Gutachter war der Klassische Philologe Max von Karajan (Anm. 83) – 1905 Anton Reichel ‚Über den Ursprung der künstlerischen Qualitäten in der mykenischen Kunst‘; die Gutachten übernahmen nach Gurlitts Tod Adolf Bauer (1855–1919, seit 1891 erster Inhaber eines althistorischen Lehrstuhls in Graz) und Josef Strzygowski. Vgl. Susanne Lamm, Archäologische Abschlußarbeiten im Überblick. Die Absolventinnen und Absolventen der Archäologie an der Karl-Franzens-Universität Graz 1881–2014, in: 150 Jahre Archäologie und Geschichte (Anm. 18), 111–122, hier 113. Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke, Kritische Ausgabe Bd. 33, Reden und Aufsätze 1902-1909, Frankfurt a. M. 2009, 164. Grazer Tagblatt 14.2.1905. Zur Geschichte der Archäologie (Anm. 4), 92; 160f.

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Er wurde 1885 über Plautus promoviert und veröffentlichte über „attische Vasen und ihr Verhältnis zur Kunst“, 1892 zum Apoll vom Belvedere; 1903 erschien sein Typenkatalog zum Corpus antiker Terrakotten. 1907 ging er nach Straßburg. Ihm folgte, wieder aus Innsbruck, Hans Schrader (1869-1948), der 1896-1898 mit Theodor Wiegand (1864–1936) in Priene gegraben hatte; 1910 ging er nach Wien. Bis 1934 blieb Rudolf Heberdey (1864–1936); auch er kam aus Innsbruck. 1898-1913 leitete er die Ausgrabungen in Ephesos. 1887 war er von Benndorf über Die Reisen des Pausanias (Wien 1894) promoviert worden; dabei trug er den von Gurlitts Pausaniasbuch 1890 eingeleiteten Meinungsumschwung mit (Habicht, Pausanias, [Anm. 112], 177). Die folgenden fünf Briefe von November bis Dezember 1887, drei von Cornelius, zwei von Wilhelm Gurlitt, sind, soweit sie das angegebene Thema betreffen, vollständig widergegeben; Auslassungen betreffen andere Themen. Ich danke Matthias Lienert, Direktor des Universitätsarchivs der TU Dresden, für die Druckerlaubnis. Die Briefe im „Nachlass [Cornelius] Gurlitt“ stehen als Facsimile und transkribiert im Netz zur Verfügung: . Ich habe die Transkripte an den Facsimiles überprüft. Adolf Göller [1846–1902], Zur Aesthetik der Architektur. Vorträge und Studien, Stuttgart 1887. Vgl. insbes. „I. Was ist die Ursache der immerwährenden Stilveränderung in der Architektur?“ und „II. Wie entsteht die Schönheit der Maassverhältnisse und das Stilgefühl?“ Ästhetik, nach der zweiten Ausgabe Heinrich Gustav Hothos (1842) redigiert von Friedrich Bassenge, Berlin/Weimar 1955, 14: „Die Kunstschönheit ist die aus dem Geiste geborene und wiedergeborene Schönheit, und um soviel der Geist und seine Produktionen höher steht als die Natur und ihre Erscheinungen, um soviel auch ist das Kunstschöne höher als die Schönheit der Natur.“ Adolf Stahr, Torso. Kunst, Künstler und Kunstwerke der Alten, 2 Bde., Braunschweig 1854/1855; eine zweite, vermehrte und verbesserte Ausgabe letzter Hand (Torso. Kunst, Künstler und Kunstwerke des griechischen und römischen Altertums) gab Wilhelm Gurlitt 1878 heraus. Fanny Lewald (1811–1889), emanzipierte Schriftstellerin und ältere Schwester von Louis Gurlitts dritter Ehefrau Else, war seit 1855 mit Adolf Stahr (1805–1876) verheiratet. „Die Schönheit ist nichts anderes, als das Mittel von zwei extremis. Wie eine Mittelstraße in allen Dingen das Beste ist, so ist sie auch das Schönste“ (Gedanken über Kunstwerke, in: Sämtliche Werke, hg. von Joseph Eiselein, Bd. 12, Donaueschingen 1829, XLIII). „Es kann aber leichter […] von der Schönheit gesaget werden, was sie nicht ist, als was sie ist“ (Geschichte der Kunst des Alterthums, Dresden 1764, 142). „Durch die Einheit und Einfalt wird alle Schönheit erhaben. […] Aus der Einheit folget eine andere Eigenschaft der hohen Schönheit, die Unbezeichnung derselben […]; folglich eine Gestalt, die weder dieser oder jener bestimmten Person eigen sey, noch irgend einen Zustand des Gemüths oder eine Empfindung der Leidenschaft ausdrücke, als welche fremde Züge in die Schönheit mischen, und die Einheit unterbrechen. Nach diesem Begriff soll die Schönheit seyn, wie das vollkommenste Wasser aus dem Schooße der Quelle geschöpfet, welches je weniger Geschmack es hat, desto gesunder geachtet wird, weil es von allen fremden Theilen geläutert ist“ (ebd. 150f.). Karl Friedrich Rosenkranz, Ästhetik des Häßlichen [als der Kehrseite des Schönen], Königsberg 1853 (ich danke Bernhard Braun für diesen Hinweis). Vgl. zu Hegel Anm. 176. Göller, Zur Aesthetik, 19f.; 72. Zum Gedächtnisbild ebd. 16ff; 56ff. Vgl. dens., Die Entstehung der architektonischen Stilformen. Eine Geschichte der Baukunst nach dem Werden und Wandern der Formgedanken, 1888. Friedrich Theodor Vischer [1807–1887], Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Zum Gebrauche für Vorlesungen, Reutlingen/Stuttgart 1846–1857. Max Schasler [1819–1903], Ästhetik. Grundzüge der Wissenschaft des Schönen und der Kunst. Erster Teil: Die Welt des Schönen, Leipzig/Prag 1886. Nicolas Boileau Despréaux [1636–1711]: L’art poetique, 1674. Les satires, 1701. – Cornelius Gurlitt, Im Bürgerhause. Plaudereien über Kunst, Kunstgewerbe und Wohnungs-Ausstattung, Dresden 1888, 10f.:

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„Die Gesetze, welche Boileau in den alten Werken beobachtet zu sehen vermeinte, und die er der neuen Dichtung wieder zugeben sich bemühte, waren in Corneille und Racine lebendig.“ Göller’s ästhetische Lehre, in: Deutsche Bauzeitung 21, 1887, 602–606 [17.12.1887]. S. o. Anm. 183.

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Reported in the New York Times (April 22, 1925), S. 16, that Gurlitt was speaking at the conference though his name does not appear in the lengthy report on the conference, Planning problems of town, city, and region: papers and discussions at the International City and Regional Planning Conference (Baltimore: International City and Regional Planning Conference, 1925). The plan for the trip, which took him to New York and ten other states, is described in Cornelius’s letter to Mary Gurlitt, 13 March 1925. Nachlass Gurlitt, 031/018. Jürgen Paul, Cornelius Gurlitt. Ein Leben für Architektur, Kunstgeschichte, Denkmalpflege und Städtebau, Dresden 2003. Cornelius Gurlitt, Geschichte des Barockstiles in Italien, Stuttgart 1887; idem, Geschichte des Barockstiles des Rococo und des Klassicismus in Belgien, Holland, Frankreich, England, Stuttgart 1888; idem, Geschichte des Barockstiles und des Rococo in Deutschland, Stuttgart 1889. Evonne Levy, Baroque and the Political Language of Formalism (1845–1945): Burckhardt, Wölfflin, Gurlitt, Brinckmann, Sedlmayr, Basel 2015; Evonne Levy, Cornelius Gurlitt als Barockmann, in: ­Cornelius Gurlitt (1850 bis 1938). Sechs Jahrzehnte Zeit- und Familiengeschichte, hg. von Matthias Lienert, Dresden 2008, S. 45–53. Levy, Baroque and the Political Language of Formalism (as in note 4), S. 174. Alois Riegl, Die Entstehung der Barockkunst in Rom, hg. von Arthur Burda und Max Dvořák (Wien, Schroll, 1908), S. 11–12; Heinrich Wölfflin, Renaissance und Barock. Eine Untersuchung über Wesen und Entstehung des Barockstils in Italien, München 1888, S. 13; Levy, Baroque and the Political Language of Formalism (as in note 4), S. 229–231. Riegl, whose lectures were published posthumously, was lecturing on the baroque at the University of Vienna in the 1890s. „Was Du, lieber Memo, über mein Buch schreibst, ist ganz richtig – bis darauf, dass ich mich im Voraus gegen die Fachleute gewehrt habe. Mein ‚Ästhetiker‘ ist der Mann, der in der Gesellschaft und in der Zeitung das große Wort führt. Mit den großen Leuten habe ich hier nichts zu tun. Ich schreibe für Frau Buchholzen. Das steht in der Vorrede. Der Fehler ist wohl nur, dass es im ersten Abschnitt manchmal nicht ganz flach genug hergeht. So werden die ‚ernsten‘ Leute vielleicht die Nase rümpfen, die ‚braven‘ Leute aber das Buch kaufen.“ Cornelius Gurlitt to Wilhelm and Mary Gurlitt, early 1888. Nachlass Gurlitt, 032/058. Julius Stinde, The Buchholz Family. Sketches of Berlin Life, New York 1886, S. 111. Stinde, The Buchholz Family (as in note 8), S. 12–13. Julius Stinde, The Buchholz family. Second Part: Sketches of Berlin Life, trans. by L. Dora Schmitz, New York 1887, S. 151–52. On Stinde’s implicit support for the Second Reich in the Buchholz books and ­Bismarck’s esteem of them, see Katherine Roper, German Encounters with Modernity. Novels of Imperial Berlin, Atlantic Highlands, N.J. 1991, S. 75–76. Stinde, The Buchholz Family (as in note 10), S. 98. For a more extensive analysis, see Levy, Baroque and the Political Language of Formalism (as in note 4), chapter 3.

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„Wo im Staats- oder Gesellschaftsleben der Zug nach logischer Klärung, nach festen Formen, nach gesetzlicher Regelung der Verhältnisse vorwaltet, wo die Verstandesthätigkeit überwiegt, da wird man überall die Geistesart Palladios vorherrschend finden. So in Rom, so lange der Gedanke der Reform wirksam war, so vorzugsweise in England und Holland, in Frankreich seit unter Louis XIV. die Gesellschaft eine skeptisch-philosophirende wurde, so in Deutschland und Italien seit Beginn des französischen Einflusses und der ihm folgenden klassischen Bewegung.“ Gurlitt, Geschichte des Barockstiles in Italien (as in note 3), S. 6. „[…] das Streben in gesetzliche Bahnen einzulenken, die Verhältnisse ausserhalb des Wirkungskreises der rohen Gewalt zu ordnen, aus der Militärherrschaft in einen Rechtstaat überzugehen. Dieser innere Zug nach Gesetzmässigkeit, diese strengere Auffassung der Pflichten gegen die Allgemeinheit, die Einordnung des Einzelnen unter das Ganze, diese mehr der Gesamtheit als dem Theile, mehr der Gruppe als der Individualität sich zuwendende Auffassung der Dinge ist es denn auch, die, wie wir sehen werden, die Baukunst jener Zeit beherrscht.“ Gurlitt, Geschichte des Barockstiles in Italien (as in note 3), S. 16. See further Levy, Baroque and the Political Language of Formalism (as in note 4), chapter 2. For a broader and deeper contextualization of the German attraction to and claim of Michelangelo as a German soul, see Joseph Imorde, Michelangelo Deutsch!, Berlin 2009, esp. chapter 4. Gurlitt, Geschichte des Barockstiles des Rococo und des Klassicismus in Belgien, Holland, Frankreich, England (as in note 3), S. 14–17. Gurlitt, Geschichte des Barockstiles des Rococo und des Klassicismus in Belgien, Holland, Frankreich, England (as in note 3), S. 186–187. Gurlitt, Geschichte des Barockstiles in Italien (as in note 3), S. 336–343. Gurlitt, Geschichte des Barockstiles und des Rococo in Deutschland (as in note 3), S. 83–88. Gurlitt, Geschichte des Barockstiles und des Rococo in Deutschland (as in note 3), S. 380. Helmut Walser Smith, German Nationalism and Religious Conflict. Culture, Ideology, Politics. ­1870–1914, Princeton 1995, S. 50–51. Heinrich Gotthard von Treitschke, Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert, 5 Bde., Leipzig 1879–94. Kevin Cramer, The Thirty Years’ War and German Memory in the Nineteenth Century, Lincoln 2007. Heinrich von Treitschke, Luther und die deutsche Nation. Vortrag gehalten in Darmstadt am 7. November 1883, Berlin 1883. Heinrich Gotthard von Treitschke, History of Germany in the Nineteenth Century, trans. by Eden and Cedar Paul, with an introduction by William Harbutt Dawson, New York 1915, Bd. 1, S. 31. Andreas Dorpalen, Heinrich von Treitschke, New Haven 1957, S. 223 (emphasis mine). Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt: Ein Künstlerleben des XIX. Jahrhunderts, Berlin 1912, S. 477. Wilhelm Lübke, Geschichte der deutschen Renaissance, Stuttgart 1872, Bd. 1, S.vi–vii. For the connection to Gurlitt, see Levy, Baroque and the Political Language of Formalism (as in note 4), S. 175–176. See further Levy, Baroque and the Political Language of Formalism (as in note 4), S.  177–186. For Louis Gurlitt’s life, see Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt (as in note 28); Ulrich Schulte-Wülwer und B ­ ärbei ­Hedinger (Hg.), Louis Gurlitt, 1812–1897. Porträits europäischer Landschaften in Gemälden und Zeichnungen, München 1997. Fritz Stern, The Politics of Cultural Despair. A study in the rise of the Germanic ideology, Berkeley 1974. See further Paul, Cornelius Gurlitt (as in note 2); Levy, Baroque and the Political Language of Formal­ ism (as in note 4), chap 3. See the letters from the period 1933–1935, when the Nuremberg laws were made public, in: Matthias Lienert (Hg.), Cornelius Gurlitt (1850–1938) (as in note 4), nos. 127, 135, 136.

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Ergänzend zum vorliegenden Beitrag s. a. Ursula Renner, Eine deutsch-österreichische Bildungsoffensive. Ludwig Gurlitt und Hugo von Hofmannsthal im Kontext. Mit Materialien und Dokumenten, in: Hofmannsthal Jahrbuch zur europäischen Moderne 27, 2019, S. 43–129; einige Passagen wurden, ohne ausdrückliche Kennzeichnung, hier wieder aufgegriffen. Vgl. z. B. Wolfgang Scheibe, Die reformpädagogische Bewegung 1900–1932. Eine einführende Darstellung. 10. erw. Aufl., Weinheim / Basel 1994; Jürgen Oelkers, Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte, 4. Aufl., Weinheim / München 2005; Dietrich Benner / Herwart Kemper, Theorie und Geschichte der Reformbewegung. Teil 2: Die Pädagogische Bewegung von der Jahrhundertwende bis zum Ende der Weimarer Republik, Weinheim 2003; Wolfgang Keim / Ulrich Schwerdt, Schule, in: Handbuch der Reformpädagogik in Deutschland (1890–1933). Teil 1: Gesellschaftliche Kontexte, Leitideen und Diskurse, hg. von Wolfgang Keim und Ulrich Schwerdt, Frankfurt a. M. 2013, S. 657–686. Vgl. Heinrich Bosse / Ursula Renner, Generationsdifferenz im Erziehungsdrama. J.M.R. Lenzens „Hofmeister“ (1774) und Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“ (1891), in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 85, 2011, S. 47–84. Vgl. u.  a. Claudia Solzbacher, Literarische Schulkritik des frühen 20. Jahrhunderts. Ihre Beziehung zur zeitgenössischen Philosophie und Pädagogik (Erziehungsphilosophie Bd. 11), Frankfurt a. M. u. a. 1993. Ludwig Gurlitt, Der Deutsche und seine Schule. Erinnerungen, Beobachtungen und Wünsche eines Lehrers, Berlin 1905, S. 7. Gurlitt, Der Deutsche und seine Schule (wie Anm. 5), S. 197. Auf welche frühen Schülerromane von Frauen sich Gurlitt hier bezieht, müsste untersucht werden, die „Pädagogischen Dichtungen“, die er gelesen hat, listet er auf (ebd.). Zu den Dramen hat er selbst auch einen Beitrag geliefert: Ders., SchülerSchauspiele, in: Bühne und Welt IX, 1. Halbjahr Okt. 1906–März 1907, S. 410–415 und S. 453–456. Gurlitt, Der Deutsche und seine Schule (wie Anm. 5), S. 1. Einen materialreichen, wenngleich nur bedingt geglückten Überblick hat Arne Kontze mit seiner Marburger Dissertation vorgelegt: Ders., Der Reformpädagoge Prof. Dr. Ludwig Gurlitt (1855–1931) – bedeutender Schulreformer oder ‚Erziehungsanarchist‘? Ein Lebensbild als Beitrag zur Historiographie der Reformpädagogik, Göttingen 2001. Zu Gurlitts Daten s. a. sein Personalblatt in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung, . Am 23. September 1850, in: Briefe an Friedrich Hebbel, hg. von Moriz Enzinger in Zus.arb. mit ­Elisabeth Bruck. 1. Teil 1840–1860, Wien 1973, S. 250. Zu biographischen Details s. den Katalog Louis Gurlitt. Porträts europäischer Landschaften in Gemälden und Zeichnungen, hg. von Ulrich Schulte-­ Wülwer und Bärbel Hedinger, München 1997, hier S. 94–98. Zu den näheren Umständen s. die Lebensbeschreibung, die Ludwig Gurlitt von seinem Vater übernimmt und weiter ausführt: „Weshalb aber die mühevolle und kostspielige Übersiedlung von Wien nach Gotha?“ mit der dann noch einmal revidierten späteren Einsicht: „Seine Abgeschiedenheit von der Kunst und den Kaufzentren erwies sich als Fehler. Der Künstler darf nicht im Verborgenen leben; er gehört ins große öffentliche Getriebe, damit er, den Pulsschlag der Zeit lebhaft mitempfindend, ihr Interpret werden kann.“ Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt. Ein Künstlerleben des XIX. Jahrhunderts. Dargestellt von seinem Sohne, Berlin 1912, S. 405 und S. 416. Ludwig Gurlitt, Der Deutsche und seine Schule (wie Anm. 5), S. 48. Ludwig Gurlitt, Erziehung zur Mannhaftigkeit [1906], 2. Aufl., Berlin 1906, S. 148. Ludwig Gurlitt, Wilhelm Gurlitt, in: Biographisches Jahrbuch für Altertumskunde (Nekrologe), Bd. 36, Leipzig 1914, S. 63–89, hier S. 73. Zu seinen Schulerfahrungen s.a. Ludwig Gurlitt, in: Die Pädagogik

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der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hg. von Erich Hahn, Leipzig 1927, S.  27–67, hier S.  31f. (ich folge der Seitenzählung des gesamten Bandes). Die Stationen seines Lebenslaufes bis 1909 zählt Gurlitt auf in: Ders., Die Pflege des Heimatsinns, Berlin 1909, S. 7. Vgl. auch Kontze, Der Reformpädagoge Gurlitt (wie Anm. 8), S. 28f. – Gurlitts Bruder datiert Ludwigs Magen-Darm-Probleme schon auf die frühe Schulzeit: „Ich erinnere mich noch lebhaft, wie er in Siebleben zumeist breitbeinig und heulend aus der Dorfschule heimkam.“ Cornelius Gurlitt an Mutter und Schwester am 17. Dez. 1904, in: Cornelius Gurlitt (1850–1938). Sechs Jahrzehnte Zeit und Familiengeschichte in Briefen, hg. von Matthias ­Lienert, Dresden 2008, S. 90. Ludwig Gurlitt, in: Die Pädagogik der Gegenwart (wie Anm. 13), S. 32–34. Gurlitt, Der Deutsche und seine Schule (wie Anm. 5), S. 41. Gurlitt, Der Deutsche und seine Schule (wie Anm. 5), S. 62. – Zum künstlerischen Arbeitsethos des Vaters s.a. ebd, S. 163–167. Ludwig Gurlitt, Wilhelm Gurlitt (wie Anm. 13), S. 69 und S. 85. „Möchten doch, dachte ich oft, meine verehrten Herren Kollegen altklassischer Richtung alle so viel Idealismus haben, wie mein Vater hatte, der nie eine Seite Lateinisch oder Griechisch hat lesen können!“ Gurlitt, Der Deutsche und seine Schule (wie Anm. 5), S. 68. Gurlitt, Louis Gurlitt (wie Anm. 10), S. 477. Gurlitt, Der Deutsche und seine Schule (wie Anm. 5), S. 34f. Ludwig Gurlitt, in: Die Pädagogik der Gegenwart (wie Anm.13), S. 29. Gurlitt, Der Deutsche und seine Schule (wie Anm. 5), S. 37f. Ebd. S. 42. Ebd. S. 42f. Ebd. S. 44. Gurlitt, Louis Gurlitt (wie Anm.10), S. 470f. Ganz ähnlich auch Gurlitt, Der Deutsche und seine Schule (wie Anm. 5), S. 13, allerdings mit dem Hinweis auf die [Syphilis-]Erkrankung des Bruders und seinen frühen Tod 1893 in der Anmerkung. Ludwig Gurlitt, in: Die Pädagogik der Gegenwart (wie Anm.13), S. 30. Die wichtige familieninterne Rolle Elses wird umrisshaft in den Familienbriefen im Nachlass von Cornelius Gurlitt, TU Dresden erkennbar; S. jetzt auch der Beitrag von Elizabeth Baars im vorliegenden Band. Gurlitt, Erziehung zur Mannhaftigkeit (wie Anm. 12), S. 192f. (Kap. „Moderne Pädagogik“). John Dewey, Die Schule und das öffentliche Leben. Übersetzt von Else Gurlitt. Mit einem Vorwort von Ludwig Gurlitt, Berlin 1905 (zuerst in: Zeitschrift für Pädagogische Psychologie Jg. 5 und 6, 1903 und 1904). Auf Elses Übersetzung weist Gurlitt auch in seinem Artikel Tote Sprachen – lebendige Erziehung hin, in: Die Zeit, 4. Jg., Nr. 985, Morgenblatt, Wien, 24. Juni 1905, S.1f. Gabriele (Yella) Freifrau von Oppenheimer (1854–1943) stammte aus der Familie Todesco. Sie war die Mutter von Hofmannsthals Jugendfreund Felix von Oppenheimer. Nach der Trennung von ihrem Mann 1883 kehrte sie mit ihrem Sohn in das Familienpalais an der Ringstraße zurück. Auch mit ihrer Schwester Franziska de Worms stand Else Gurlitt in freundschaftlichem Kontakt. Zu den familiären Verbindungen der Gurlitts in den österreichischen Adel s. a. Renner: Eine deutsch-österreichische Bildungsoffensive (wie Anm. 1). Ludwig Gurlitt, De M. Tulli Ciceronis epistulis carumque pristina collectione. Inaugural-Diss. Gottingae, Peppmueller 1879, 47 S. die Druckfassung dann u. d. T.: Die Briefe Cicero’s an M. Brutus in Bezug auf ihre Echtheit geprüft, Göttingen 1883 (Philologus. Supplementbd. 4/5, S. 554–630, 736). Gurlitt publizierte auch später noch zu seinem Forschungsthema. Vgl. zum Folgenden Gurlitts Selbstdarstellung (wie Anm. 13) und seine Biographie des Bruders ­Wilhelm Gurlitt (wie Anm. 13), S. 68. Vgl. Ludwig Gurlitt, Erinnerungen an Ernst Curtius [1901], Berlin 1902.

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Ludwig Gurlitt, in: Die Pädagogik der Gegenwart (wie Anm.13), S.  22. Ludwig Gurlitt, Schülerselbstmorde, Berlin 1908. Vgl. dazu auch die Debatte, die Franz Pfemfert (1879–1954) in der Aktion losgetreten hatte mit seinem Aufmacher Im Zeichen der Schülerselbstmorde. Er meint, man dürfe vom „Polizeiregime, unter dem wir ächzen, nicht erwarten, daß es etwa den Worten unseres wundervollen Professor Gurlitt Gehör schenken wird.“ (Die Aktion 1911, Sp. 253f.). S. dazu auch Hermann Korte, Expressionismus und Jugendbewegung, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 13, 1988, S. 70–106, hier bes. S. 84f. Ludwig Gurlitt, in: Die Pädagogik der Gegenwart (wie Anm. 13), S.  59. Vgl. auch Ludwig Gurlitt, Wandervogel, in: Monatsschrift für höhere Schulen 2, Heft 2, 1903, S. 545–548, und ders., Den Wandervögeln zum Gruß, in: Wandervogel. Monatsschrift für deutsches Jugendwandern 5, 1911, S. 6ff. Zu Gurlitts Rolle in Steglitz anschaulich Hans Blüher, Wandervogel. Geschichte einer Jugendbewegung. 1. Teil: Heimat und Aufgang, 3. Aufl., Berlin-Tempelhof 1916, S. 21–45, bes. S. 34–45. Wie eine Selbstbeschreibung mutet an, wenn er schreibt: „Alle großen Lehrer waren Eigenbrodler. Geist läßt sich nicht uniformieren […]. Auch hier gilt das stolze Wort: ‚Selbst ist der Mann!‘ / Man wird auch beobachten, daß die zur Vertretung ihrer Standesinteressen vereinigten Berufsarten den einzelnen Mann, der eigene Gedanken und Ziele verfolgt, nicht schützen, sondern lieber als Sonderling fallen lassen oder gar verfolgen.“ Gurlitt, Erziehung zur Mannhaftigkeit (wie Anm. 12), S. 146 (Kap.: Der Gebildete). Ludwig Gurlitt, Mein Kampf um die Wahrheit [1907], 2. Aufl., Berlin 1907; Dr. Robert Lück, Das Steglitzer Gymnasium und Herr Prof. Dr. Ludwig Gurlitt. Mit einem Anhang: Erklärungen aus dem Kreise des Lehrerkollegiums, Heidelberg 1907. Vgl. dazu auch Kontze, Der Reformpädagoge Gurlitt (wie Anm. 8). Dr. Ernst Wachler, in: Der Tag, 10. April 1907. Zit. nach der Anzeige des Verlags Wiegandt & Grieben, in: Ludwig Gurlitt, Erziehungslehre, Berlin 1909, S. [354]. Ludwig Gurlitt, Jugenderholungsheime, in: Der Monismus. Zeitschrift für einheitliche Weltanschauung und Kulturpolitik 61, 1911, S.  307–309, hier S.  308. Sein Ziel hat er stichwortartig zusammengefasst; es ist das Credo eines idealen kindgerechten Unterrichts: „Schöne Landschaft, ländliche Ruhe, geschmack- und stimmungsvolle Häuslichkeit, behagliche Geselligkeit, sorgsame Diät, Ausnutzung der Naturkräfte, (Licht, Luft, Wasser), Unterricht im Freien, Gartenarbeit, Handfertigungsunterricht (Tischlerei, Buchbinderei), fleißiges Wandern, maßvoller Sport, Abstinenz von Alkohol und Nikotin, Körpergymnastik, Spiel und künstlerische Abendunterhaltung, ein den persönlichen Fähigkeiten und Bedürfnissen angepaßter Unterricht, Pflege gesitteten Wesens und guter gesellschaftlicher Form. Geistiges Wettrennen ausgeschlossen. Die Kinder sollen sich erholen, und vor allem einmal die Angst vor dem Lehrer, den Schulansprüchen, den Prüfungen und Versetzungen ablegen. […] Steht uns doch auch im Leben später eine gesunde volle Persönlichkeit höher, als ein mit allen möglichen Berechtigungsscheinen ausgestatteter Schwächling.“ (Ebd., S. 308f.) Ähnlich hatte Hermann Lietz in Emlohstobba. Roman oder Wirklichkeit? Bilder aus dem Schulleben der Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft (Berlin 1897) sein Programm formuliert. Vgl. auch ders., Ein deutsches Emlohstobba, in: Die deutsche Volksstimme 9, 1898, S. 134–137, und dann vor allem ders., Land-Erziehungsheime, in: Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik, hg. von W.[ilhelm] Rein, 2. Aufl., 5. Bd., Langensalza 1906, S. 290–299. Rogge stirbt 1929; ihre Tochter Mercedes wurde Gurlitts Schwiegertochter. Cornelius Gurlitt an Wilhelm Gurlitt, 18. Oktober 1903, Nachlass C. Gurlitt, TU Dresden (wie Anm. 26), Inv. 032/168. Gurlitt war bei dem 2. Kunsterziehungstag in Weimar (9.–11.  Oktober 1903) gewesen. Über seinen verunglückten Auftritt dort berichtet Rudolf Pannwitz; vgl. Renner, Eine deutsch-­ österreichische Bildungsoffensive (wie Anm. 1), S. 93f. Gurlitt, Der Deutsche und seine Schule (wie Anm. 5), S. 36. Die Hervorhebung im Zitat aus Friedrich Schillers Der Spaziergang stammt von Gurlitt.

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Ludwig Gurlitt, Friedrich Nietzsche als Erzieher, in: Das freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens 14, 1914/15, S. 130–136, hier S. 133 und 132. 1914 erkennt Gurlitt allerdings bereits eine neue Generation, die durch den Geist Nietzsches beeinflusst ist: „Der moderne Geist, der sich auf allen Gebieten des Lebens hervordrängt und als fruchtbar erweist, hat eben seine stärkste Quelle in Friedrich Nietzsche. Die ungeheure Intensität seiner Persönlichkeit, die Kraft seines Willens und die Wahrhaftigkeit seiner Entwicklung setzen sich siegreich auf allen Wegen fort.“ (Ebd.) Sein Bekenntnis zu Nietzsche und dessen Schul- und Philologiekritik formuliert er dann noch einmal 1920 in dem Beitrag Die Erkenntnis des klassischen Altertums aus dem Geiste Friedrich Nietzsches, in: Den Manen Friedrich Nietzsches. Weimarer Weihgeschenke zum 75. Geburtstag der Frau Elisabeth Förster-Nietzsche, hg. von Max Oehler, München o.J., S. 58–80. Gurlitt, Erziehung zur Mannhaftigkeit (wie Anm. 12), Kap. X („Fragen ans Gewissen“), S. 147–159. Ebd., S. 142. S. ebd., S. 147, 150, 154 u.ö. Herv. U.R. Anspielung auf das Bühnenstück Flachsmann als Erzieher (1900) von Otto Ernst [U.R.]. Hugo von Hofmannsthal, Ludwig Gurlitt. (Gelegentlich seines heute stattfindenden Vortrages im Verein für Schulreform.), in: Die Zeit (Wien) Nr. 1852, 19. November 1907, S. 1; hier zit. nach Ders., Reden und Aufsätze 2, hg. von Konrad Heumann und Ellen Ritter (Sämtliche Werke Bd. XXXIII), Frankfurt a. M. 2009, S. 163f.; die Erläuterungen S. 606f. 1927 schreibt Hofmannsthal an Yella von Oppenheimer: „Ich erhielt einen Brief von Ludwig Gurlitt – über Pannwitz. Das[s] ein Mensch mit 72 so dumm und eitel daherschwätzt sollte von Gott verboten sein“. Zit. nach Renner, Eine deutsch-österreichische Bildungsoffensive (wie Anm. 1), S. 70. Vgl. Ludwig Gurlitt, Friedrich Hebbels Beziehungen zu dem Landschaftsmaler Louis Gurlitt, in: ­Westermanns Monatshefte 103, 1908, S. 672–681, hier S. 675. Ludwig Gurlitt, in: Die Pädagogik der Gegenwart (wie Anm.13), S. 52. Tagesbericht: Die Mittelschulfrage, in: Neues Wiener Tagblatt Nr. 319, 20. November 1907, S. 9–11, hier S. 11 (Herv. U.R.). Ludwig Gurlitt, in: Die Pädagogik der Gegenwart (wie Anm.13), S. 57. Einen kleinen Pressespiegel von Der Deutsche und sein Vaterland und Der Deutsche und seine Schule gibt Ludwig Gurlitt selbst in: Ders., Erziehung zur Mannhaftigkeit (wie Anm. 12), S. 150–153. – Die Betonung des Nationalen hatte Kaiser Wilhelm proklamiert mit dem Anliegen, dass Deutschland nicht Griechen und Römer, sondern Deutsche erziehen müsse. Über die Wahl der Mittel gingen die Meinungen zwischen den Konservativen und Reformern weit auseinander. Vgl. Ludwig Gurlitt, Erinnerungen an Ernst Curtius (wie Anm. 33), S. 15ff. Ludwig Gurlitt, in: Die Pädagogik der Gegenwart (wie Anm.13), S. 60. Unter anderem mit dem Argument: „Auch vor dem Abiturientenexamen stand Deutschland in dem Rufe, der Sitz aller Musen zu sein. Lessing, Herder, Goethe, Schiller, Hebbel e tutti quanti sind nicht durchs Abiturexamen gegangen. […] Schulen haben gar nicht die Aufgabe, Wissenschaftler heranzubilden. Dazu sind die Hochschulen da […].“ Gurlitt, Erziehung zur Mannhaftigkeit (wie Anm. 12), S. 202. Vgl. Gurlitt, Der Deutsche und seine Schule (wie Anm. 5), S. 64f. Gurlitt, Der Deutsche und seine Schule (wie Anm. 5), S. 195. Zu Lagarde, der zumeist als radikaler Antisemit und Vorreiter des Nationalsozialismus rezipiert wird, s. die differenzierte Darstellung von Ulrich Sieg, Der Prophet nationaler Religion. Paul de Lagarde und die völkische Bewegung, in: Intellektuellen-Götter. Das religiöse Laboratorium der klassischen Moderne, hg. von Friedrich Wilhelm Graf unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner, München 2009, S.1–20. Ludwig Gurlitt, Die Schule, Frankfurt a. M. 1907, S. 24. Gurlitt, Der Deutsche und seine Schule (wie Anm. 5), S. 65. Vgl. dazu Paul de Lagarde, Ueber die Klage, daß der deutschen Jugend der Idealismus fehle (1885), in: ders., Deutsche Schriften [zuerst 1878].

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Gesammtausgabe letzter Hand. Göttingen 1886, S. 478–491: „Ich glaube an diese Jugend, ich glaube an die Zukunft unseres Vaterlandes. Aber ich glaube nicht an die Befugtheit des jetzt herrschenden Systemes, nicht an die Berufenheit der Männer, welche der Sehnsucht und den Bedürfnissen ihrer Söhne und Enkel mit dem Trödel genügen wollen, der als Rest des Besitzes früherer Tage in ihrer, der Alten, Hände geblieben ist.“ (Ebd. S. 491) S. a. Gurlitt, Schule und Gegenwartskunst, Berlin-Schöneberg 1907, S. 53–55. Vgl. dazu Heinrich Bosse, Bildungsrevolution 1730–1780, hg. mit einem Gespräch von Nacim ­Ghanbari, Heidelberg 2013, S. 351–380. Gurlitt, Erziehung zur Mannhaftigkeit (wie Anm. 12), S. 137 (Kap.: Der Gebildete). Ebd., S. 182. Ebd., S. 137 (Kap.: Der Gebildete). Zur Gründungsfigur des Selbstdenkens s. Heinrich Bosse, Der geschärfte Befehl zum Selbstdenken. Ein Erlaß des Ministers v. Fürst an die preußischen Universitäten im Mai 1770, in: Diskursanalysen 2. Institution Universität, hg. von Friedrich A. Kittler u. a., Opladen 1990, S. 31–62. Hans-Jürgen Düsing Im Vorwort seines Pamphlets Gerechtigkeit für Karl May (Radebeul bei Dresden 1919) begründet Gurlitt sein Engagement so: „Kurz vor seinem Tode [1912] wandte sich der Schriftsteller Karl May an mich mit der Bitte, mich seiner seit Jahren hart verfolgten Ehre anzunehmen. Seitdem habe ich mich immer wieder mit dieser jedenfalls sehr eigenartigen Persönlichkeit beschäftigt und mir ihr Wesen und Wirken zu erklären versucht.“ [Ebd. S. 7] Den wegen der Parteinahme eines kleinkriminellen „Schundautors“ mit sexuellen Auffälligkeiten und hochstaplerischen Selbstinszenierungen ausgelösten Familienstreit mit dem Bruder Cornelius fasst Michael Feller in einem Artikel in der Berner Zeitung zusammen: Wie Ludwig Gurlitt Karl May zu Hilfe eilte. Heute vor 175 Jahren kam Karl May zur Welt (25.2.2017). Brief an Gurlitt vom 7. Oktober 1907, Nachlass Pannwitz, DLA Marbach, zit. nach: Hugo von Hofmannsthal – Rudolf Pannwitz, Briefwechsel 1907–1926, in Verb. mit dem Deutschen Literaturarchiv hg. von Gerhard Schuster. Mit e. Essay von Erwin Jäckle, Frankfurt a. M. 1993, S. 710. Aus der Zeitschrift Charon zitiert Gurlitt ausführlich in Der Deutsche und seine Schule (wie Anm. 5), S. 198–200. Brief vom 3. September 1917, Hofmannsthal-Pannwitz, Briefwechsel (wie Anm. 67), S.  60–68, hier S. 63f. So veröffentlichte Pannwitz einen Aufsatz über seinen Lehrer im Türmer 8, Bd. 2, 1906, S. 29–37 (vollständig wiederabgedruckt in Renner, Eine deutsch-österreichische Bildungsoffensive [wie Anm. 1]), und in Pannwitz’ Selbstdarstellung von 1927 heißt es: „Ich habe über meine Beziehung zu ihm [Gurlitt] mehrfach geschrieben und hier nur zu erinnern, daß ich bis dahin, abgesehen von meiner Verehrung für Einzelne, der Modernität fernstand, Gurlitt aber gegen 1900 in deren äußerste Krise geraten war und mich in diesen Übergang mit hineinzog.“ Rudolf Pannwitz, in: Die Pädagogik der Gegenwart (wie Anm. 13), S. 101–160, hier S. 106. – Bei Gurlitts Trauerfeier auf dem Pragfriedhof in Stuttgart wird, einem Bericht im Familienarchiv Gurlitt zufolge, ein ergreifender Nachruf von Pannwitz verlesen. Ludwig Gurlitt, in: Die Pädagogik der Gegenwart (wie Anm. 13), S. 54. Ludwig Gurlitt, Der Verkehr mit meinen Kindern. Illustriert, 3. Aufl., Berlin o.J. [1907], S. 49. Wieder abgedruckt in: Bausteine der neuen Schule 3, 1918, o. S. (Titelblatt Rückseite). Beide Pädagogen veröffentlichten auch in der bedeutenden, von Martin Buber betreuten Reihe Die Gesellschaft. Sammlung sozialpsychologischer Monographien bei Rütten & Loening: Ludwig Gurlitt 1907 Die Schule (Bd. 16) und Rudolf Pannwitz 1909 Die Erziehung (Bd. 32). Ebd., S. 158; s. dort auch die Danksagung S. VIf. Hg. von Hans Carl, München-Feldafing [1931], S. 26–30.

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So hatte er sich hinter Gurlitt gestellt, als er aus dem Schuldienst entlassen wurde: Rudolf Pannwitz, Ludwig Gurlitt aus dem Amte gedrängt, in: Das Blaubuch. Wochenschrift für öffentliches Leben, Literatur und Kunst, Nr. 20 (Mai) 1907 (dasselbe Heft brachte von Ludwig Gurlitt einen Aufsatz zur „Möbelkultur“). Rudolf Pannwitz, Grundriß einer Geschichte meiner Kultur, Regensburg 1921, S. 23f. und 25f. Vgl. hierzu und zur Vorgeschichte seines Konfliktes mit den Kollegen und der Direktion des Steglitzer Gymnasiums Gurlitt, Mein Kampf um die Wahrheit (wie Anm. 38), zu Waldberg bes. S. 42–54. Gurlitt, Mein Kampf um die Wahrheit (wie Anm. 38), S. 45–48, Zitat S. 45. Rudolf Pannwitz: Der Fall A. v. Waldberg. In: Gurlitt: Mein Kampf um die Wahrheit (wie Anm. 38), S. 45. Pannwitz listet die Broschüren auf, die er zwar für unzulänglich, deren Tatsachen er aber für „wahr“, deren „Stimmung“ für „typisch“ hält (ebd. S. 45): Schulgedanken eines Gymnasialabiturienten von 1903 (Dresden, Pierson 1904), Schlaglichter aus der Sphäre des Gymnasiums (Dresden, Pierson 1905) und „eine Broschüre über den Horazunterricht, deren Titel mir nicht gegenwärtig ist [d.i. A. v. Waldberg, Horaz. Eine kritisch-satirische Betrachtung, Dresden, Pierson 1905. U.R.]“; ferner bei Dietrich in Leipzig Gesunde Jugenderziehung, Schulreform und Herder als ihr Vorkämpfer (1906) und im selben Jahr Heinrich Heine. Sein Leben und seine Werke, wieder bei Pierson. Vgl. auch Gurlitt, Mein Kampf um Wahrheit (wie Anm. 38), S. 50, Anm. 1. Gurlitt, Mein Kampf um Wahrheit (wie Anm. 38), S. 53. Fritz Mauthner, [Artikel] Schule, in: Ders., Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache, Bd. 2, München / Leipzig 1910, S. 392. Ludwig Gurlitt, Der Lehrer als Erziehungskünstler (Bausteine zur neuen Schule V), München 1919, S. 6. Ebd., S. 12. Ebd., S. 14. Es sei „vor allem ein Ich-Buch“, sagt ein Rezensent von Der Deutsche und seine Schule; s. Gurlitt, Erziehung zur Mannhaftigkeit (wie Anm. 12), S. 152. Ludwig Gurlitt, Muttersprache (Bausteine zur neuen Schule III), München 1918, S. 18. Gurlitt, Der Deutsche und seine Schule (wie Anm. 5), S. VIII.

Das Familienerbe im Künstlerleben. Ludwig Gurlitts Biographie seines Vaters . 1

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Michel Foucault, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: ders., Von der Subversion des Wissens, übers. von Walter Seitter, Frankfurt a. M. 1978, S. 83–109, hier S. 91f. Vgl. Ohad Parnes/Ulrike Vedder/Stefan Willer, Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Frankfurt a. M. 2008. Johann Nikolaus Forkel, Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Für patriotische Verehrer echter musikalischer Kunst (1802), Berlin 2000, S. 131. Ebd., S. 28. Ebd., S. 21f. Dazu und zur folgenden Übersicht vgl. ausführlich Stefan Willer, Erbfälle. Theorie und Praxis kultureller Übertragung in der Moderne, Paderborn 2014, besonders S. 25–158 („Theoriegeschichtlicher Teil: Moderne Konzepte kultureller Vererbung“).

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Émile Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften (1893), übers. von Ludwig Schmidts und Michael Schmid, Frankfurt a. M. 1992, S. 385. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie (1922), 5. Aufl., hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1972, S. 399. Max Nordau, Die conventionellen Lügen der Kulturmenschheit, 15. Aufl., Leizipg 1893, S. 49. Vgl. Hans-Jörg Rheinberger/Staffan Müller-Wille, Vererbung. Geschichte und Kultur eines biologischen Konzepts, Frankfurt a. M. 2009; Ohad Parnes, Biologisches Erbe. Epigenetik und das Konzept der Vererbung im 20. und 21. Jahrhundert, in: Stefan Willer/Sigrid Weigel/Bernhard Jussen (Hg.), Erbe. Übertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur, Berlin 2013, S. 202–242. Carl Correns, Die neuen Vererbungsgesetze, Berlin 1912, S. 2f. Wilhelm Johannsen, Experimentelle Grundlagen der Deszendenzlehre; Variabilität, Vererbung, Kreuzung, Mutation, in: Carl Chun/Wilhelm Johannsen (Hg.), Allgemeine Biologie, Leipzig 1915, S. 597– 660, hier S. 645f. August Weismann, Das Keimplasma. Eine Theorie der Vererbung, Jena 1892, S. XI. Charles Darwin, Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, übers. von Carl W. Neumann, Stuttgart 1963, S. 191. Im Original von 1859 heißt es: „I think there can be little doubt […] that such modifications are inherited“, in der Auflage von 1876 sogar: „there can be no doubt“ (The Works of Charles Darwin, hg. von Paul H. Barrett und R.B. Freeman, London 1988, Bd. 15, S. 97 und Bd. 16, S. 114). Ernst Haeckel, Generelle Morphologie der Organismen, Bd. 2, Berlin 1866, S. 176. Ewald Hering, Über das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organisierten Materie (1870), Leipzig 1905, S. 13. Vgl. etwa Adolf Wagner, Geschichte des Lamarckismus. Als Einführung in die psycho-biologische Bewegung der Gegenwart, Stuttgart 1908; Richard Semon, Das Problem der Vererbung „erworbener Eigenschaften“, Leipzig 1912. Robert Sommer, Familienforschung und Vererbungslehre, Leipzig 1907, S. 77. Ebd., S. 79. Vgl. ebd., S. 78–107, passim. Ebd., S. 9. Vgl. Peter Weingart/Jürgen Kroll/Kurt Bayertz, Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a. M. 1992. Sommer, Familienforschung und Vererbungslehre (wie Anm. 18), S. 224. Ebd., S. 211. Cesare Lombroso, Entartung und Genie. Neue Studien, übers. von Hans Kurella, Leipzig 1894, S. 91. Vgl. Richard L. Dugdale, The Jukes. A Study in Crime, Pauperism, Disease and Heredity, New York 1877. – Dugdales Interpretation seines Materials richtete sich auf die Bedeutung des sozialen Milieus, doch setzten sich die intensiven Diskussionen über die Jukes zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch in Richtung Erbbiologie und Rassenhygiene fort, etwa bei Havelock Ellis, The Task of Social Hygiene, London 1912. Vgl. dazu William Greenslade, Degeneration, Culture and the Novel 1880–1940, Cambridge 1994, S. 24. Vgl. Charles Rabany, Les Schweighaeuser. Biographie d’une famille de savants alsaciens d’après leur correspondance inédite, Paris 1884; [Anonym], Die Krupps. Lebensabriss von Friedrich Krupp, Alfred Krupp und Friedrich Alfred Krupp, Essen 1912. Philipp Spitta, Johann Sebastian Bach, 2 Bde., Leipzig 1873–1880. Karl Geiringer, The Bach Family. Seven Generations of Creative Genius, London 1954. Vgl. den Beitrag von Renner zu Ludwig Gurlitt im vorliegenden Band. Wilhelm Dilthey, Leben Schleiermachers (1870), Bd.  1, Erster Halbband, 3. Aufl., hg. von Martin ­Redeker, Berlin 1970, S. XXXV.

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Anmerkungen 32

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Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt. Ein Künstlerleben des XIX. Jahrhunderts, Berlin 1912; dieses und die folgenden Zitate S. IX–XI. Weitere Nachweise stehen mit Nennung der Seitenzahl direkt im Text. Das Zitat stammt aus den Theognidea und lautet in Gurlitts Übersetzung: „Köstlicher nichts auf Erden, als Vater und Mutter zu haben,/ Welche dem heiligen Recht immer die Treue bewahrt“ (481).

Else Gurlitt. Ein Leben zwischen sechs Brüdern 1

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Mercedes Gurlitt, Begegnungen (unveröff. Manuskript). Die Niederschrift wurde 1991 begonnen und nach ihrem Tod 2007 von ihren Töchtern maschinenschriftlich übertragen und für die Familie vervielfältigt. Mercedes Gurlitt war die Tochter von Ludwig Gurlitts zweiter Ehefrau Emilie, geb. Ludolf. Nachdem seine Stieftochter Mercedes seinen jüngsten Sohn Winfried geheiratet hatte, wurde sie auch Ludwig Gurlitts Schwiegertochter. Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt. Ein Künstlerleben des XIX. Jahrhunderts, Berlin 1912, S. 295. Das bei Arne Kontze, Der Reformpädagoge Prof. Dr. Ludwig Gurlitt (1855–1931) – bedeutender Schulreformer oder „Erziehungsanarchist“?, Göttingen 2001, S. 26, genannte Geburtsdatum des 31. Mai ist somit für Else auf den 1. Juni 1855 zu korrigieren; es wird nicht, wie behauptet, durch amtliche Urkunden bestätigt. Der Rufname des in Rom geborenen Wilhelm erklärt sich aus der Kurzfassung von Guglielmo, der italienischen Übersetzung seines Vornamens. Das von Ludwig Gurlitt in der Biografie seines Vaters (wie Anm. 2, S. 288) genannte und in der Literatur unreflektiert übernommene Geburtsjahr 1854 für Fritz (z. B. von Kontze, Der Reformpädagoge [wie Anm. 2], S. 24) ist offensichtlich ein Druckfehler. Dass allein 1853 richtig ist, ergibt sich schon daraus, dass zwischen einer Geburt im Oktober 1854 und der nächsten Geburt im Mai/Juni 1855 nur 7 Monate gelegen hätten und dass die Eltern sich in der fraglichen Zeit in Norddeutschland (Hamburg und Helgoland) aufhielten (Gurlitt, Ein Künstlerleben [wie Anm. 2], S.  289). Dies wird schließlich durch die beglaubigte Abschrift des Sicherheitskommissionärs der Stadt Bad Aussee vom 14. Dezember 1945 bestätigt, die am 7.  September 1933 als Auszug aus dem Taufbuch der evang. Gemeinde Wien-Innere Stadt die Geburt von Friedrich Ludwig Anton Moritz Gurlitt (späterer Rufname: Fritz) am 3. Oktober 1853 in Wien bescheinigt. Fritz starb am 8. Februar 1893, also im Alter von 39 Jahren. Fanny Lewald äußert sich dazu ausführlich in ihrem Römischen Tagebuch 1845 (Leipzig 1927, S. 78f und 121–123). Ulrich Schulte-Wülwer, Louis Gurlitt – Leben und Werk, in: Louis Gurlitt. Portraits europäischer Landschaften in Gemälden und Zeichnungen, Ausstellungskat., hg. von U. Sch.-W. und Bärbel H ­ edinger, München 1997, S. 27–144, hier S. 92–98. Zu Atmosphäre und Umfeld dieses aristokratischen Milieus vgl. Hugo von Hofmannsthal – Yella, Felix und Mysa Oppenheimer, Briefwechsel, hg. von Nicoletta Giacon. Teil I: 1891–1905, in: HofmannsthalJahrbuch zur europäischen Moderne 7, 1999, S. 7–99, und Teil II: 1906–1929, in: Hofmannsthal-Jahrbuch zur europäischen Moderne 8, 2000, S. 7–155. Dort heißt es: „Zu den ständigen Gästen [auf dem Ramgut, dem Feriendomizil der Oppenheimers in Bad Aussee], die Yella in persönlicher Freundschaft verbunden waren, zählten vor allem Frauen wie Elsa Bruckmann-Cantacuzène oder Else Gurlitt, die im Gegensatz zu gelegentlichen Gästen oft auch monatelang blieben.“ Hofmannsthal, Briefwechsel mit Yella, Felix und Mysa Oppenheimer, Teil I, S. 9. Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt (wie Anm. 2), S. 408–410, und Schulte-Wülwer, Louis Gurlitt (wie Anm. 6), S. 108f. Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt (wie Anm. 2), S. 413f, Ludwig Gurlitt, Der Deutsche und seine Schule, Berlin 1905, S. 10–14.

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Ludwig Gurlitt, Der Deutsche und seine Schule (wie Anm. 9), S. 13f. Else an Memo Gurlitt, 6. März 1864 (s. Anhang 1). Mit „Louis“ meint Else ihren Zwillingsbruder ­Ludwig, der in der Familie auch Lulle genannt wurde. 22. September 1868 an Memo, der Brief betrifft den Besuch der Bürgerschule. Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt (wie Anm. 2), S. 414; Brief von Mutter Else (Elisabeth) an Memo vom 6. Oktober 1866. Mutter Else am 3. Dezember 1869 an ihren Ehemann Louis. Brief der Tanten Marie und Henriette Lewald an ihre Nichte Else vom 23. Dezember 1870. Mutter Else an Memo, 22. September 1868. Mercedes Gurlitt, Begegnungen (wie Anm. 1), S. 118f. Briefe von Else an Memo, 10. Juni 1870 (s. Anhang 2), und 18. Mai 1872. – Höchstwahrscheinlich handelt es sich hier um Prof. Ernst Wilhelm (seit 1873: Ritter von) Brücke (1819–1892), von dem ­Ludwig Gurlitt schreibt: „Ärztlicher Berater war in unserem Hause damals [1859 in Wien] mein Pate, der bedeutende Physiologe Ernst Brücke. […] Brücke hatte in ärztlichen Fragen auf unseren Vater großen Einfluß, und wenn es zu Streitfragen kam, so meinte Vater mit einem Ausspruch Brückes alle Zweifel niederschlagen zu können.“ Gurlitt: Louis Gurlitt (wie Anm. 2), S. 401. Ludwig an Memo, 8. April 1872. Vater und Mutter an Memo 6.  Mai 1872.  – Ludwigs Motto spielt mit Dantes berühmten Worten: „­Lasciate ogni speranza, voi ch’ entrate!“ aus der Göttlichen Komödie (Hölle III / 9). Else an Vater Louis, 25. Dezember 1871. Mutter Else an Memo, 8. August 1871. Mutter Else an Memo, 6. Mai 1872. Ludwig an Memo, 23. August 1872. Das Institut war nach dem Namen des damaligen Direktors Dr. C.F. Gärtner benannt. Dazu und zum Folgenden s.  index.php/Freimaurerinstitut_für_Töchter>. Else Minden an Memo, 3. August 1872 (Anhang 3). Else an Memo, 30. Dezember 1872 (Anhang 4). Else an Memo, 21. November 1872 (Anhang 5). Else an Memo, 26. März 1875 (Anhang 6). S.  dazu Dania A. Dittgen, West-Berliner Lehrerinnen zwischen Kontinuität und Neuanfang, Berlin 2016, S. 21–28, mit weiteren Nachweisen. Else an Memo, 30. Dezember 1872 (Anhang 4). So in ihrem Brief an Memo vom 20. August 1878 (Anhang 7). Dieser Brief verdeutlicht, wie eng und persönlich Elses Beziehungen waren. Vgl. dazu Nicoletta Giacon in ihrer Einleitung zum Briefwechsel Hugo von Hofmannsthal – Yella, Felix und Mysa Oppenheimer, Teil 1 (wie Anm. 7), S. 7–11. Else an ihre Geschwister, 28. Februar 1885 (Anhang 8). S. ausführlich dazu Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt (wie Anm. 2), S. 465–468. Mutter Else an Otto Gurlitt, 11. März 1878. Else an Memo, 22. Januar 1878 (Anhang 9). Else an Geschwister, 12. Februar 1887 (Anhang 10). Fanny Lewald an Memo, 6. März 1878. Else, 28. Oktober 1875, und Mutter, 4. Dezember1875, an Memo. Kontze, Der Reformpädagoge (wie Anm. 2), S. 178 und Anm. 253. Fanny an Mutter Else, 14. Dezember 1882. Else an Memo, 23. August.18[98] (Anhang 11). S.  dazu auch die Schilderung von Schulte-Wülwer, Louis Gurlitt – Leben und Werk (wie Anm. 6), S. 144.

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Louis Gurlitt an Memo, 22. Februar 1897. Das wird auch von Mercedes Gurlitt berichtet, in: Dies., Begegnungen (wie Anm.1), S. 119. Mutter Else an Memo, 6. Oktober 1897. Mercedes Gurlitt, Begegnungen (wie Anm. 1), S. 120. NDB, Bd. 7, 1966, S. 330. Kontze, Der Reformpädagoge (wie Anm. 2), S. 26 und Anm. 15. Mercedes Gurlitt, Begegnungen (wie Anm. 1), S.  119. S.  auch den Brief von Mutter Else an Memo, 5. März 1887. Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt (wie Anm. 2), S. 461. Ludwig berichtet dort auch, dass Else sogar den noch nicht gedruckten Text von Langbehns Buch gelesen hatte, was Bismarck veranlasst habe, Else um Mitteilung von Langbehns Daten zu bitten. Mercedes Gurlitt, Begegnungen (wie Anm. 1), S. 119. Ebd., S. 120. Nachlass Mercedes Gurlitt; ohne konkrete weitere Angaben dort.  – Ursula Renner hat auf der ­Gurlitt-Tagung in Marbach 2014 über Ludwig Gurlitts Wiener Kontakte gesprochen, auch über die Bekanntschaft Hofmannsthals mit Else. Else Gurlitts Vermächtnis an Hugo von Hoffmannsthal jetzt in: Ursula Renner, Eine deutsch-österreichische Bildungsoffensive. Ludwig Gurlitt und Hugo von ­Hofmannsthal im Kontext. Mit Materialien und Dokumenten, in: Hofmannsthal Jahrbuch zur europäischen Moderne 27, 2019, S. 43–129, hier S. 125–129. Zu Hofmannsthal und Ludwig Gurlitt s.a. den Beitrag von Renner in diesem Band. Hermann Oppenheimer, zit. nach Hofmannsthal – Oppenheimer, Briefwechsel, Teil 1 (wie Anm. 7), S. 7. Else an ihre Schwägerin Mary Labatt, 28. Juni 1889. Leider hat sich der Artikel bisher nicht nachweisen lassen; wohl aber ein Artikel von E[lse] Gurlitt, Sonderbare Erwerbsquellen, in: Illustrierte FrauenZeitung 15, Nr. 52, 1888, S. 220, den Renner (wie Anm. 52) ermittelt hat. Möglicherweise hat sie auch anonym oder pseudonym publiziert. Schulte-Wülwer, Louis Gurlitt – Leben und Werk (wie Anm. 6), S. 141f. Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt (wie Anm. 2), S. 469. Else an Memo und Mary, Ostersonntag, 5. April 1896 (Anhang 12). Else an Memo, 10. Januar 1878, s. auch die Briefe Ludwigs an Memo vom 4. Januar und 17. Oktober 1892, und Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt (wie Anm. 2), S. 470. S. die Briefe von Else an die Geschwister, 9. Juli 1889 (Anhang 13), an Mary, 30. Juli 1893, und an die Geschwister vom 31. Juli 1915. Postkarte von Else an die Geschwister, 15. April 1895. Eleonore Schrotzberg war die Schwester von Ludwig Gurlitts Ehefrau Helene, geb. Schrotzberg. Abgedruckt in: Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt (wie Anm. 2), S. 471. Die Verbindung von Bismarck zur Familie Gurlitt zeigt sich auch an seiner Nachfrage bei Else, s. o. Anm. 49. Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt (wie Anm. 2), S. 480. Else am 26. September 1897 (Anhang 14) und Witwe Else am 6. Oktober 1897. Die Gräber waren aufgegeben und die Grabsteine nicht mehr auffindbar, als die Verf. 1996 danach suchte. Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt (wie Anm. 2), S. 480f. Else an Mary, 3. Oktober 1924. Mercedes heiratete später Ludwigs jüngsten Sohn Winfried und wurde so auch Ludwigs Schwiegertochter. Mercedes Gurlitt, Begegnungen (wie Anm. 1), S. 73ff. Von Else selbst liegen dazu keine Briefe vor. Kontze, Der Reformpädagoge (wie Anm. 2), S. 141f. Die Münchener Wohnung gab sie aber erst später auf; s.u.

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Mercedes Gurlitt, Begegnungen (wie Anm. 1), S. 105ff. Ludwig an Hans, 28. Mai 1924. Ludwig an Hans, 8. Februar 1927. Testament vom 10. August 1928. Über die im Testament bedachte Freundin Ilse v. Leembruggen aus Elses späteren Jahren finden sich in den Briefwechseln im Nachlass keine näheren Auskünfte.

Kunst leben. Wolfgang Gurlitts expressionistische Wohnräume zwischen Kunstförderung, Galerieerweiterung und extravagantem Lifestyle 1

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Paul Westheim, Wohnung Wolfgang Gurlitt, in: Das Kunstblatt V, Nr. 12, Dezember 1921, S. 373–378 (Reprint: Kraus Nendeln 1978). Zum Glasplattenkonvolut der Kunsthandlung Fritz Gurlitt vgl. Sonja Feßel, Fotografie zwischen Kunstmarkt und Wissenschaft. Zum Glasplattenbestand der Kunsthandlung Fritz Gurlitt, Berlin, im Deutschen Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg, in: Rundbrief Fotografie 23, Nr. 3, N. F. 91, 2016, S. 8-22. Max Osborn, Wohnung Wolfgang Gurlitt in Berlin. Expressionistische Innenarchitektur, in: Die Dame 48, Nr. 19, 1921, S. 7, 8, 24, 26, hier S. 7. Zur Geschichte der Kunsthandlung Fritz Gurlitt vgl. insbesondere Birgit Gropp, Studien zur Kunsthandlung Fritz Gurlitt in Berlin 1880–1943, Diss. phil. TU Berlin, Berlin 2000 (publiziert auf Mikrofiche). Die hier kurz skizzierte Geschichte der Kunsthandlung Fritz Gurlitt erschien in ähnlicher Ausführung erstmalig im Artikel Sonja Feßel, Fotografie zwischen Kunstmarkt und Wissenschaft (wie Anm. 2), S. 8ff. Gurlitt stellte ab 1880 regelmäßig Werke von Arnold Böcklin aus. 1889 kam es jedoch zum Bruch zwischen Gurlitt und Böcklin. Vgl. Gropp, Studien zur Kunsthandlung Fritz Gurlitt (wie Anm. 4), S. 55–73. Vgl. hierzu Nicolaas Teeuwisse, Vom Salon zur Secession. Berliner Kunstleben zwischen Tradition und Aufbruch zur Moderne 1871–1900, Berlin 1986, insbes. S. 106–109. Anmerkung der Redaktion der Zeitschrift Kunst und Künstler zum posthum veröffentlichten Beitrag von Jules Laforgue zum Impressionismus. Jules Laforgue, Impressionismus, in: Kunst und Künstler. Illustrierte Monatsschrift für bildende Kunst und Kunstgewerbe 3, 1905, S. 501–506, Anm. auf S. 502. L. G.: Die französischen Impressionisten, in: Deutsches Kunstblatt 3, Nr. 4, 15. November 1883, S. 30. Alfred Lichtwark, Der junge Künstler und die Wirklichkeit, in: Kunst und Künstler 16, Nr. 3, 1918, S. 91–107, hier S. 100. Die Unterbrechung lässt sich möglicherweise durch personelle Veränderungen erklären. 1905 wurde Georg Caspari als offener Gesellschafter ins Handelsregister eingetragen, schied jedoch 1912 wieder aus. Vgl. Gropp, Studien zur Kunsthandlung Fritz Gurlitt (wie Anm. 4), S. 116. Ebd., S. 115. Chronik, in: Kunst und Künstler 4, 1905–06, S. 48–50, hier S. 48. Ab diesem Moment unterzeichnete Wolfgang Gurlitt – wie auch bereits zuvor Willi Waldecker – als Rechtsnachfolger von Fritz Gurlitt mit „Fritz Gurlitt“ ohne weiteren Namenszusatz. Gropp, Studien zur Kunsthandlung Fritz Gurlitt (wie Anm. 4), S. 116f. Ebd., S. 123. Im Dezember 1922 reichte Max Pechstein Klage zwecks „Herausgabe meiner Arbeiten“ ein (Brief von Max Pechstein an Dr. W. Minnich, 23.12.1922, Privatbesitz, Berlin). Zur Verbindung der Kunsthandlung Fritz Gurlitt zu Egon Schiele und anderen Wiener Künstlern vgl. Michael Wladika, Leopold Museum-Privatstiftung, LM Inv. Nr. 653: Egon Schiele, Selbstbildnis mit

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hochgezogener nackter Schulter, Dossier „LM INv. Nr. 653“, Provenienzforschung mb:ukk  – LMP, 16.  Januar 2012, online unter docplayer.org/17152565-Leopold-museum-privatstiftung-lm-inv-nr653-egon-schiele-selbstbildnis-mit-hochgezogener-nackter-schulter-dossier-lm-inv-nr.html   (zuletzt eingesehen am 24.06.2020). Georg Biermann, Der neue Salon von Gurlitt und die Pechstein-Ausstellung, in: Der Cicerone X, Nr. 13/14, Juli 1918, S. 215. Die Gestaltung von Galerieräumen durch Künstler lässt sich in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einige Male beobachten. Insbesondere Henry van de Velde wurde wiederholt zu solchen auf die Erschaffung von Gesamtkunstwerken ausgerichteten Erneuerungen eingeladen. Bereits 1898 eröffneten Bruno und Paul Cassirer ihren von van de Velde gestalteten Salon. 1902 entwarf derselbe das Folkwang-Museum und 1906 das Privathaus von Karl Ernst Osthaus in Hagen; 1907 das Graphische Kabinett sowie weitere Räumlichkeiten der Galerie Ernst Arnold in Dresden. So in einem Katalog des „Kunstsalons Fritz Gurlitt“ 1913. Es ist heute nicht mehr im Detail nachvollziehbar, wann die Familie Gurlitt in welcher Villa Wohn- und/oder Geschäftssitze hatte. Es ist aber anzunehmen, dass dies teilweise gleichzeitig in beiden, teilweise aber auch nur in dem einen oder anderen Haus der Fall war. So bspw. von Winfried Nerdinger, Rudolf Belling und die Kunstströmungen in Berlin 1918–1923 mit einem Katalog der plastischen Werke, Berlin 1981, S. 39. So Birgit Gropp mit Verweis auf eine Notiz im Kunstblatt, ohne Quellenangabe. Dies., Studien zur Kunsthandlung Fritz Gurlitt (wie Anm. 4), S. 127. Die beiden nebeneinander stehenden Villen I und II in der Potsdamerstraße 113 befanden sich der damaligen St. Matthias Kirche (ab 1928 St. Ludgerus) gegenüber. Heute entspräche dies in etwa in der Höhe den Grundstücken Potsdamerstraße 79/81, gegenüber der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien St. Jakob, Berlin-Tiergarten. Karl Scheffler, in: Kunst und Künstler 16, Nr. 10, 1918, S. 405. Vgl. auch den kleinformatigen Katalog: Max Pechstein, Hof-Kunsthandlung Fritz Gurlitt, Potsdamer Straße 113, Villa II, Berlin 1919. Der erste Teil der Ausstellung – Bildnisse, Landschaften, Stilleben – fand vom 1. Juni bis 15. Juli 1918 statt, der zweite – mit Bildern aus Palau – vom 16. Juli bis 1. September 1918. Im Durchgangsraum wurden zudem die Mosaike Vertreibung und Anbetung von Max Pechstein gezeigt. Biermann, Der neue Salon (wie Anm. 16), S. 215. Spätestens seit 1914 betrieb Wolfgang Gurlitt  – anfänglich zusammen mit seiner Mutter Annarella sowie Willi Waldecker – parallel zur Kunsthandlung den „Kunstverlag Gurlitt“ (Landesarchiv Berlin, A Rep. 342–02, 16245, Königliches Amtsgericht, Unterlagen „Kunstverlag Gurlitt“, Gesellschaftervertrag vom 5.3.1914). César Klein vermerkt im November 1917 in seinem Tagebuch: „Gurlitt will Fenster im Eingang machen lassen“, und im Dezember: „Montag bei Gurlitt wegen Fenster und Torweg“. Die Ausführung erfolgte erst im Frühsommer 1918. Ruth Irmgard Dalinghaus, Cesar Klein (1876–1954). Angewandte Kunst – Werkmonographie mit Katalog, Diss. phil. FU Berlin, Mikrofiche-Publikation 1990, S. 99–106, hier S. 99. Die Einfahrt ist Teil des rechts liegenden Hauses, also der Villa I. Theodor Däubler bezeichnet die Durchfahrt als „Eingangshalle zum Haus von Herrn Wolfgang Gurlitt“. Adolf Behne beschreibt den Raum genauer als Durchfahrt zu einem Wirtschaftshof, der jedoch an Abenden, an denen Vorträge stattfanden, als Eingang diente. Theodor Däubler, César Klein, Leipzig 1919, S. 11; Adolf Behne, Experimente, in: Almanach Fritz Gurlitt auf das Jahr 1919, Berlin 1918, S. 73–85. Zu den Wandmalereien und Verglasungen von César Klein vgl. zudem Dalinghaus, Cesar Klein (wie Anm. 25), S. 99–106. Grundrisse und Bilder zum Marmorhaus-Theater finden sich in: Hans Schliepmann, Lichtspieltheater. Eine Sammlung ausgeführter Kinohäuser in Groß-Berlin, Berlin 1914, S. 27, S. 29 und S. 77–82.

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Georg Biermann schreibt 1918, dass Max Pechstein an den Wandgemälden mitgewirkt habe. Georg ­Biermann, Max Pechstein, in: Der Cicerone 10, Nr. 17/18, 1918, S. 263–270, hier S. 266f. Erhalten haben sich im Marburger Bestand zwei Aufnahmen der Wandgemälde mit jeweils angeschnittenen Glastüren (Aufn.-Nr. 146.213 und 146.214). In einer kurzen, von Wolfgang Gurlitt 1921 in Das graphische Jahr veröffentlichten Biografie heißt es über Klein: „Selbst eine Malerlehre mit Karrenschieben und Fußbodenstreichen wie auch der ganz vorzügliche Unterricht an Malschulen Akademien haben ihn nicht bessern können. Deshalb gefällt er auch so wenig allen guten Bürgern, obgleich er sehr solide lebt.“ Das graphische Jahr, Berlin 1921, o. S. Behne, Experimente (wie Anm. 26), S.  73–85, zitiert nach Dalinghaus, Cesar Klein (wie Anm. 25), S. 102. Carl Einstein publizierte die Skulptur 1926 unter dem Titel Göttin. Ders., Die Kunst des 20. Jahrhunderts, Berlin 1926, S. 555. Zur Skulptur von Rudolf Belling vgl. auch Nerdinger, Rudolf Belling und die Kunstströmungen in Berlin (wie Anm. 19), S. 39–44 sowie Kat.-Nr. 18, S. 228. Als Material und Technik gibt Nerdinger „Hartguß (vergoldet, bemalt und mit farbigen Steinen geschmückt von C. Klein)“ an. Letzteres, die Fassung der Skulptur in Farbe, hält Dalinghaus jedoch für unwahrscheinlich. Dalinghaus, Cesar Klein (wie Anm. 25), S. 100, Anm. 5. Von der Skulptur haben sich im Marburger Bestand vier Aufnahmen erhalten. Die konstituierende Sitzung fand am 3. Dezember 1918 statt. Max Pechstein und César Klein gehörten zu den Initiatoren der Gruppe. Vgl. Nerdinger, Rudolf Belling und die Kunstströmungen in Berlin (wie Anm. 19), S. 44–58. Nerdinger datiert die expressionistischen Räume des Wohnhauses Gurlitt früher als den Scala Palast, da er beide Gurlitt’schen Umbauten ins Jahr 1918 datiert. Die Neugestaltung der Wohnung Gurlitt erfolgte jedoch erst um 1919/1920, also zu einem Zeitpunkt, als die Planung für den Scala-Umbau und das berühmte Scala-Restaurant abgeschlossen und selbst die Ausführung wohl weitestgehend erfolgt war. Paul Westheim schreibt entsprechend 1921: „[…] er [Wolfgang Gurlitt] hatte einen verständnisvollen Helfer, einen, der sowohl Stil wie Einfälle hatte, in dem Architekten Würzbach, der in dem Scala-Kasino bereits eine talentierte Sicherheit erweisen konnte und jetzt dem Photographen-Atelier von Riess wiederum eine eigene Note zu geben wußte […]“. Westheim, Wohnung Wolfgang Gurlitt (wie Anm. 1), S. 373–378, hier S. 373 und S. 375. Vgl. dazu Aya Soika, Malerei im Dienste der Architektur. Die Brücke-Künstler und die Dresdner Raumkunst, in: Birgit Dalbajewa und Ulrich Bischoff (Hg.), Die Brücke in Dresden. 1905–1911, Ausst. Kat. Galerie Neue Meister, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Köln 2001, S. 272–277. Ebd. Vgl. Soika, Malerei im Dienste der Architektur (wie Anm. 33), S. 276, sowie Günter Krüger, Glasmalereien der „Brücke“, in: Brücke-Archiv 1, 1967, S. 19–40. Letzterer Beitrag ist mit Vorsicht zu betrachten, da zahlreiche Datierungen und Zuschreibungen von der Forschung mittlerweile überholt wurden. Vgl. dazu Aya Soika, Im Kreis von Freunden. Max Pechstein und die Förderer seiner Kunst, in: Andreas Gabelmann, Hermann Gerlinger und Katja Schneider (Hg.), Gemeinsames Ziel und eigene Wege. Die „Brücke“ und ihr Nachwirken. Almanach der Brücke 1, München 2010, S. 78–89, hier S. 81, online verfügbar unter http://www.pechstein.de/german/Soika-Pechstein_Publikationen/Soika-Foerderer_ Max_Pechsteins_Kunst_2010.pdf (zuletzt eingesehen am 24.06.2020). Krüger, Glasmalereien der „Brücke“ (wie Anm. 35), S. 29. Max Osborn, Max Pechstein, Berlin 1922, S. 177–190, hier S. 189. Ebd. S. 186. Die Vereinigten Werkstätten für Mosaik und Glasmalerei Puhl & Wagner, Gottfried Heinersdorff, Berlin, arbeiteten ab 1906 wiederholt mit Max Pechstein zusammen. Sie stellten 1919 zudem von ihnen gefertigte Werke in der Hofkunsthandlung Fritz Gurlitt aus. In diesem Rahmen entstanden die Fotografien der Mosaiken.

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Osborn, Max Pechstein (wie Anm. 38), S. 188. Theodor Heuss, Pechsteins Glasgemälde, in: Wieland. Zeitschrift für Kunst und Dichtung 5, Nr. 7, 1919/20, S. 2–4, hier S. 3. Biermann, Der neue Salon (wie Anm. 16), S. 215. Die exakte Zuordnung der Räume zur Galerie beziehungsweise der privaten Wohnung ist heute schwierig. Hausenstein berichtet jedoch bereits 1918 über Werke Pechsteins „im neuen Kunstsalon Gurlitt oder im Gurlittschen Privathause an der Potsdamerstraße“. Wilh. Hausenstein, Max Pechstein, in: Deutsche Kunst und Dekoration, Bd. XLII, August. 1918–September 1919, S. 204–236, hier S. 228. Erhalten haben sich im Marburger Bestand acht Aufnahmen der Mosaiken (Aufn.-Nr. 146.080– 146.084, 146.086–146.087, 146.090) sowie zehn Negative der Glasfenster von Max Pechstein (Aufn.Nr. 145.410–145.419). Osborn, Wohnung Wolfgang Gurlitt in Berlin (wie Anm. 3), S. 24. Max Osborn beschreibt das Büro mit einer „grüngestrichenen Tapete mit einer erlesenen kleinen Galerie Pechsteins“. Ebd., S. 24. Postkarten der neugestalteten Gurlitt’schen Kunsthandlung befinden sich in Berliner Privatbesitz. Das Wechseln der Präsentationen lässt sich gut an zwei Aufnahmen des Büros von Wolfgang G ­ urlitt beobachten, die aus zwei unterschiedlichen Beständen des Marburger Bildarchivs stammen: vgl. die Aufnahmen 83.418 (Bestand der Kunsthandlung Fritz Gurlitt, Berlin) und 1.136.287 (Dr. Franz ­Stoedtner-Archiv). Die Aufnahmen zeigen das Büro mit unterschiedlichen Präsentationen von Gemälden Max Pechsteins. Heuss, Pechsteins Glasgemälde (wie Anm. 42), S. 2. Ebd. Biermann, Max Pechstein (wie Anm. 27), S. 269. Ebd. Heuss, Pechsteins Glasgemälde (wie Anm. 42), S. 3. Behne, Experimente (wie Anm. 26), S. 77f. Dass sich das private Umfeld sowie auch die Ateliers besonders für das Verwirklichen eines konsequenten raumbezogenen Gestaltungswillens eigneten, beobachtete auch Aya Soika in Bezug auf Max Pechstein. Vgl. Soika, Malerei im Dienste der Architektur (wie Anm. 33), S. 273. Vgl. im Kunstblatt: Paul Westheim, Wohnung Wolfgang Gurlitt (wie Anm.1), S.  373–378; in Die Dame: Max Osborn, Wohnung Wolfgang Gurlitt in Berlin (wie Anm. 3), S. 7, 8, 24, 26, hier S. 7; Ernst ­Wasmuth, Innenräume, in: Wasmuths Monatshefte für Baukunst 5, Nr. 7/8, 1920/21, Abb. S. 233–236; sowie Heuss, Pechsteins Glasgemälde (wie Anm. 42), S. 2–4. Vgl. z. B. Hausenstein, Max Pechstein (wie Anm. 44), S. 205–236, oder Däubler, César Klein (wie Anm. 26). Der Beitrag von Max Osborn in Die Dame ist mit Aufnahmen der prominenten Berliner Gesellschaftsfotografin Frieda Riess bebildert, die jedoch nicht mit den Marburger Fotografien identisch sind. D. h., dass die Gurlitt’sche Wohnung mindestens von zwei Fotografinnen/Fotografen aufgenommen worden sein muss. Der Fotograf der Marburger Platten konnte bisher nicht ermittelt werden. Vgl. dazu Feßel, Fotografie zwischen Kunstmarkt und Wissenschaft (wie Anm. 2), insbes. S. 15. Vgl. Feßel, Fotografie zwischen Kunstmarkt und Wissenschaft (wie Anm.2), S. 8–22. Siehe dazu Nerdinger, Rudolf Belling und die Kunstströmungen in Berlin (wie Anm. 19), S. 44–58. Nerdinger verweist auf eine ähnliche Schlafzimmergestaltung von Konrad Wittmann, in: Moderne Bauformen 23, Nr. 2, Feb. 1924, S. 52. Nerdinger, Rudolf Belling und die Kunstströmungen in Berlin (wie Anm. 19), S. 39–44. Wasmuth, Innenräume (wie Anm. 57), S. 235. Robert Wienes Stummfilm Genuine wurde im Juli 1920 gedreht. Klein gestaltete hierfür die Bühnendekoration und die Kostüme. Vgl. dazu Claudia Dillmann, Sie hatten das Kino … Die Netzwerke im

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expressionistischen Film der frühen Weimarer Republik, in: Ralf Beil und dies. (Hg.), Gesamtkunstwerk Expressionismus: Kunst, Film, Literatur, Theater, Tanz und Architektur 1905 bis 1925, Ausst.-Kat. Institut Mathildenhöhe Darmstadt, Ostfildern 2010, S.  276–285, sowie insbes. die Abbildungen auf S. 280 und 291. So in einer Liste aller angewandten Arbeiten für August Wagner vom 24. September 1929. Zitiert nach Dalinghaus, Cesar Klein (wie Anm. 25), S. 102, Anm. 11. Eine als „Kalenderblatt“ bezeichnete Lithografie von Alfred Kubin in der Sammlung Kulturspeicher, Würzburg (Schenkung Wolfgang Gurlitt, Inv. Nr. S 6427), zeigt eine skizzenhafte Zeichnung des Schlafzimmers mit einer am Bett sitzenden, das Wandgemälde betrachtenden und sich im Spiegel eines Würzbach’schen Möbels spiegelnden Figur. Die Zeichnung ist mit AK signiert. Wasmuth, Innenräume (wie Anm. 57), S. 235. Westheim, Wohnung Wolfgang Gurlitt (wie Anm. 1), S. 377. Osborn, Wohnung Wolfgang Gurlitt in Berlin (wie Anm. 3), S. 24. Wasmuth, Innenräume (wie Anm. 57), S. 235. Max Osborn benennt neben diesem „kleinen Schlafzimmer“ explizit ein „Herrenschlafzimmer“, das in seinem Beitrag in der Dame abgebildet, im Marburger Bestand jedoch nicht überliefert ist. Dies stützt die These, dass es sich bei dem von César Klein ausgemalten Raum um ein Schlafzimmer für eine Dame handelte. Osborn, Wohnung Wolfgang Gurlitt in Berlin (wie Anm. 3), S. 7 und 24. Zu diesem Zimmer gibt es in Marburg vier Ansichten (Aufn.-Nr. 83.426, 83.427, 83.428 und 83.425). Westheim, Wohnung Wolfgang Gurlitt (wie Anm. 1), S. 373. Wasmuth, Innenräume (wie Anm. 57), S. 234. Westheim, Wohnung Wolfgang Gurlitt (wie Anm. 1), S. 373ff. Im Marburger Bestand sind drei Ansichten des Spiegelzimmers erhalten (Aufn.-Nr. 83.422–83.424). Osborn, Wohnung Wolfgang Gurlitt in Berlin (Anm. 3), S. 26. Westheim, Wohnung Wolfgang Gurlitt (wie Anm. 1), S. 377. Osborn, Wohnung Wolfgang Gurlitt in Berlin (wie Anm. 3), S. 26. Die Glaspaneelen werden im Kunstgewerbemuseum in Berlin fälschlicherweise als zwei zusammengehörige Flügel einer Glastüre – und das in verkehrter Anordnung – ausgestellt. Vgl. Catharina Berents, Art Deco in Deutschland. Das moderne Ornament, Frankfurt a. M. 1998, S. 164 sowie die farbige Abbildung auf S. 160. Vgl. dazu Feßel, Fotografie zwischen Kunstmarkt und Wissenschaft (wie Anm. 2), S. 15. Erhalten haben sich im Marburger Bestand zwei Ansichten (Aufn.-Nr. 83.432 und 83.433). Auch zu diesem Raum haben sich im Marburger Bestand zwei Aufnahmen erhalten (Aufn.-Nr. 83.434 und 83.435). Zum Bestand Dr. Franz Stoedtner im Deutschen Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte – Bildarchiv Foto Marburg vgl. https://www.uni-marburg.de/de/fotomarburg/bestaende/uebernahmen/­ stoedtner (zuletzt eingesehen am 24.06.2020). Ebenfalls angeboten werden dort eine Detailaufnahme, die das von Walter Würzbach gestaltete „Atelier [Frieda] Riess mit Blechmöbeln. Berlin“ zeigt (Stoedtner-Nr. 136293), und Fotografien des von Würzbach und Belling gestalteten „Scala, Restaurant. Berlin“ (Stoedtner-Nr. 135525 und 135526). Bei der abgelichteten Katze handelt es sich um eine Porzellan- oder Keramikkatze, die stellvertretend für die Aufnahme auf dem Kissen platziert wurde. Sie findet sich in einer anderen Fotografie ein zweites Mal auf einem Kissen abgebildet (Aufn.-Nr. 146.220). Auf anderen Aufnahmen der Gurlitt’schen Wohnung liegen (echte) Hunde auf solchen Kissen (bspw. Aufn.-Nr. 146.221). Vgl. dazu Soika, Im Kreis von Freunden (wie Anm. 36), S. 82, leider ohne Quellenangabe. Westheim, Wohnung Wolfgang Gurlitt (wie Anm. 1), S. 378. Vergleichbares ist von Ernst Ludwig Kirchner bekannt, der „Totalinstallationen des eigenen Lebensraums im Geiste des Gesamtkunstwerks“ entwarf: dies zunächst in seinen Wohnateliers in Dresden,

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Berlin-Wilmersdorf und ab Ende 1913 in Berlin-Friedenau, später in seinen Privathäusern in Davos, aber auch im 1927/28 für das Folkwang Museum geplanten Festsaal. Vgl. Ralf Beil, „Ein anderes ‚Kunstwerk‘ gibt es für mich nicht“ – Utopie und Praxis des Gesamtkunstwerks im Expressionismus, in: Beil und Dillmann (Hg.), Gesamtkunstwerk Expressionismus, S. 31, sowie Tobias Burg, Abgebrochene Moderne. Wandbildprojekte von Oskar Schlemmer und Ernst Ludwig Kirchner, in: „Das schönste Museum der Welt“ – Museum Folkwang bis 1933, Ausst.-Kat. Museum Folkwang, Essen, Göttingen 2010, S. 119–128. Zur Zeitschrift Die Dame. Illustrierte Mode-Zeitschrift und den darin publizierten Interieurs vgl. Enno Kaufhold, Berliner Interieurs. Fotografien von Waldemar Titzenthaler, Berlin 2013 (Erstausgabe 1999). Die Dame, Heft 13, 1911/1912. Die Dame, Heft 14, 1921/1922. Die Dame, Heft 23, 1914/1915. Die Dame, Heft 16, 1919/1920. Die Dame, Heft 22, 1914/1915. Geheimrat Dr. Bernhard Dernburg, in: Die Dame, Heft 3, 1912/1913. Das Titelblatt des Heftes war zudem mit einem Foto von Wolfgang Gurlitts Ehefrau „Julyet“ (Julia) Gurlitt geschmückt. Bspw. Edvard Munch: Porträt Wolfgang Gurlitt, 1912, Lithografie, 57 x 73,5 cm (Museum im Kulturspeicher Würzburg, Inv. Nr. S 6431, Schenkung Wolfgang Gurlitt 1957) oder das Gemälde von Lovis Corinth, Porträt Wolfgang Gurlitt, 1917, Öl auf Leinwand, 113 x 90,5 cm (Lentos Kunstmuseum Linz, WV Nr. 701). Wolfgang Gurlitt heiratete die Elsässerin Julia Goob am 18. März 1918. In ihrer Wohnung in der ­Kaiserin-Augusta-Straße 33 wohnte das Ehepaar, bis die neugestaltete Wohnung in der Potsdamerstraße 1920 bezugsbereit war. Vgl. Alexandra Cedrino-Nahrstedt, Die schöne Leidenschaft des Suchens und Findens: Der Kunsthändler Wolfgang Gurlitt (unveröff. Manuskript). Lithografien von Kokoschkas Porträt befinden sich heute u. a. in der Albertina in Wien und im Museum im Kulturspeicher Würzburg. Vgl. dazu Feßel, Fotografie zwischen Kunstmarkt und Wissenschaft (wie Anm. 2), S. 16ff. Zu den finanziellen Schwierigkeiten Gurlitts und den oft als „verworren“ beschriebenen Geschäftsverhältnissen der späten 1920er bis 1940er Jahre vgl. Gropp, Studien zur Kunsthandlung Fritz Gurlitt (wie Anm. 4), S. 141–145, sowie Wladika, Leopold Museum-Privatstiftung (wie Anm.15), insbes. S. 14–16. Gropp, Studien zur Kunsthandlung Fritz Gurlitt (wie Anm. 4), S. 136f. Ebd. Dalinghaus, Cesar Klein (wie Anm. 25), S. 106. Ebd., S. 106, Anm. 22. „Königliches Amtsgericht I Berlin (Blattsammlung zum Handelsregister A betreffend die Firma: Fritz Gurlitt); Hand.reg.nr. 11681“, Landesarchiv Berlin, A Rep. 342-02, N. 46810. „Amtsgericht Charlottenburg, Generalakten, Handelsregister Kunsthandlung Fritz Gurlitt“, Landesarchiv Berlin, A Rep. 342-02, Nr. 57581. Zudem lässt sich Ausstellungsbesprechungen entnehmen, dass Gurlitt Mitte der 1920er Jahre zusätzliche Galerieräume in Berlin bespielte – so bspw. ab 1924 in der Budapester Straße. Vgl. Der Cicerone 16, Nr. 2, 1924, S. 826. In einem Brief zur „Beschreibung der Zerbombung“, verfasst am 15.  Dezember 1943 an Herrn [­Theodor?] Brodersen, beschreibt Wolfgang Gurlitt den Verlust „alles […], was [er] in Berlin besass“. Während er seinen Laden und Lagerräume in der Keithstrasse sowie zwei Häuser am Lützowplatz und in der Lützowstrasse benennt, wird die Potsdamerstrasse nicht erwähnt (Brief in Privatbesitz, Berlin). Es ist anzunehmen, dass sich diese  – und damit auch die expressionistischen Räumlichkeiten  – zu diesem Zeitpunkt nicht mehr in seinem Besitz befand.

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Die Geburtsurkunde befindet sich in der SUB Hamburg, Gurlitt-Nachlass [GN], C 1. S. Birgit Gropp: Studien zur Kunsthandlung Fritz Gurlitt zu Berlin, 1850–1943, Diss. phil. FU Berlin 2000, S. 111f.; Meike Hoffmann / Nicola Kuhn: Hitlers Kunsthändler. Hildebrand Gurlitt 1895–1956, München 2016, S. 30. Cornelius an Wilhelm Gurlitt, 5.2.1893; UB Dresden, Nl. Cornelius Gurlitt, Brief 032/089. Cornelius an Wilhelm und Mary Gurlitt, Dez. 1887; ebd., Brief 032/055. S. Helma Götz: Manfred Gurlitt. Leben und Werk, Frankfurt a. M. 1996, S. 24. „Man kann […] die Erziehung von Fritzens Kindern nicht beeinflussen gegen die Mutter. Das heißt, sie erst recht zerstören. Mit kleinen Maßnahmen ist da nichts zu machen, und solange nicht unsere pekuniäre Hilfe in Anspruch genommen wird, überhaupt gar nichts. Wir würden den Gedanken auch nicht lieben, dass wenn wir unsere Frauen hinterließen, sie unter Aufsicht der Brüder gestellt würden, wenn sie diese nicht selbst heranziehen wollen.“ Cornelius an Wilhelm Gurlitt, 4.1.1896; UB Dresden, Nl. Cornelius Gurlitt, Brief 032/108. Mit der Ehe zwischen Annarella und Willy Waldecker sei die „Episode A. für das Haus Gurlitt für alle Zeiten vorbei“, so Cornelius an Wilhelm Gurlitt, 13.3.1893; ebd., Brief 032/090. Ebd. So seine Mutter in einem Brief vom 20.2.1933 an Manfred Gurlitt; SUB Hamburg, GN, B 39:13. S.a. unten Anm. 36. Sollte Manfred Gurlitt Briefe und sonstige Papiere aus seiner Kindheit und Jugend gesammelt haben, sind sie wahrscheinlich während des Zweiten Weltkrieges oder in den Nachkriegswirren in Berlin verloren gegangen. Manfred Gurlitt, Die Opern Mozarts in meinem Leben (1955); SUB Hamburg, GN, A 100, Bl. 1. Undatierter Lebenslauf Gurlitts; ebd., A 83; auszugsweise abgedr. bei Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 23f. – Engelbert Humperdinck (1854–1921) war seit 1900 Professor für Komposition an der Berliner Musikhochschule. – In einer anderen Aufzeichnung schrieb Gurlitt: „Schlagartig begann ich mit intensivem Studium der Opernliteratur, schwänzte für Wochen die Schule, komponierte Opernfragmente, durchsang mit hübscher Sopranstimme die Liedliteratur und legte so und in nie ermüdendem Fleiß die feste Grundlage meiner alle Gebiete der Musikliteratur umfassenden Kenntnis. Jeden Abend spielte ich mit meiner Mutter die klassischen Sinfonien vierhändig, die mir in solch schöner Weise Grundlage meines Werkwissens wurden.“ Seine Musikbegeisterung habe ihm sogar fast einen „Herausschmiss aus der Schule“, dem Berliner Wilhelm-Gymnasium, eingebracht, als er am Geburtstag des Kaisers erklärt habe, er wolle zu Hause Mozarts Geburtstag feiern, der auf denselben Tag fiel. Manfred Gurlitt, Die Opern Mozarts in meinem Leben (wie Anm. 11), Bl. 2. Ebd.; zu seinem fehlenden Schulabschluss s. Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 23; zu seinen musikalischen Lehrern ebd. S. 25ff. Ihr eigentlicher Nachname war Schmidt. Gurlitts erste Frau zog sich verbittert in das Haus ihres Vaters zurück, trat nicht mehr als Sängerin auf und hielt ihren Sohn, der bei ihr lebte, von jeglicher musikalischer Ausbildung fern; sie starb 1971; s. Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 66f. S. ebd., S. 35ff. So Gurlitt in einem undatierten Lebenslauf, SUB Hamburg, GN, A 83. Zu seiner Karriere und seiner Wirksamkeit in Bremen s. auch „Gurlitts Weg von Bremen nach Tokio“, in: Weser-Kurier, 18.5.1955; Ausschnitt ebd. D 18:1, sowie Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 36ff. und 82ff. Mehr zu Gurlitts Werken, seiner musikalischen Sprache und seiner Position innerhalb der Komponistenszene der 1920er Jahre ebd., S. 53ff. und 163ff.

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Kritik der Bremer Uraufführung in: Anbruch 8, Heft 5, Mai 1926; Abschrift in SUB Hamburg, GN, D 18:1. Das Folgende nach Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 187ff., und dem Kommentar von Katrin Winkler im Begleitheft zur Aufnahme des Wozzeck unter Leitung Gerd Albrechts bei Capriccio/Crystal Classics von 1995/2011, S. 7f.; zu Gurlitts Unkenntnis des Wozzeck Alban Bergs s. Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 59. Claus H. Henneberg / Antony Beaumont, Gurlitt und Berg. Zwei ‚Woyzeck‘-Vertonungen, in: Programmheft des Theaters Bremen zur Aufführung von Gurlitts Wozzeck, Januar 1987, S. 11. Ebd. So Hans-Klaus Jungheinrich in der Frankfurter Rundschau, 13.1.1987. Henneberg/Beaumont, Gurlitt und Berg (wie Anm. 20), S. 12. So Jungheinrich (wie Anm. 22). Ebd. S. Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 191. Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 90ff., nennt als Gründe außer wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Bremer Theaters, die Gurlitt nötigten, Operetten auf den Spielplan zu setzen, die er nicht schätzte, Enttäuschungen mit der Neuen Musikgesellschaft sowie „Gerüchte und Hetzkampagnen gegen das Ehepaar Gurlitt“. Nach Informationen seines Bruders verlor Gurlitt seine Stellung wegen seiner Frau, die „dem Alkohol und Rauschgiften ergeben“ und so verrufen gewesen sei, dass aus Angst vor ihr kein anderes deutsches Theater ihn habe engagieren wollen; sie habe ihm also „die ganze Karriere verdorben“. (Wolfgang Gurlitt an seine Mutter, 28.1.1935; SUB Hamburg, GN, B 26:18.) Undatierter Lebenslauf Gurlitts (wie Anm. 16), A 83. Handschriftliche Notizen Gurlitts zu seiner Biographie, o.D.; ebd. A 84; s. auch Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 93ff. S. ebd. S. 97ff. Dass Gurlitt auch Professor für Dirigieren und Partiturspiel an der Berliner Musikhochschule gewesen sei, wie er später angab, entspricht nicht den Tatsachen; s. ebd. S. 108f. S. Wolfgang an Manfred Gurlitt, 4.7.1963; SUB Hamburg, GN, B 9:62; s. auch Götz, Manfred ­Gurlitt (wie Anm. 5), S.  57; mehr zum Kunstverlag Fritz Gurlitt bei Gropp (wie Anm. 2), S.  137ff., und ­Hoffmann/Kuhn, Hildebrand Gurlitt (wie Anm. 2), S. 30f. S. Manfred an Susanna Gurlitt, 1. und 19.12.1930 und 7. und 26.4.1938; SUB Hamburg, GN, E 18:1–5. Undatierter Lebenslauf Gurlitts (wie Anm. 16) A 83. S. Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 113ff. S. Hoffmann/Kuhn, Hildebrand Gurlitt (wie Anm. 2), S. 26f. Elisabeths Schwester Fanny (1811–89) machte sich als Schriftstellerin und Vorkämpferin der Frauenemanzipation einen Namen. Annarella Waldecker an Manfred Gurlitt, 20.2.1933; SUB Hamburg, GN, B 39:13; teilweise abgedr. bei Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 116f. – Willy Waldecker starb Ende 1921 (Mitt. von Elizabeth Baars vom 19.12.2017). Anscheinend hatte Manfred von Fritz Gurlitt ein Porträt seiner Mutter von Franz Lenbach und eine Zeichnung Fritz Gurlitts von Max Liebermann geerbt; s. Wolfgang Gurlitt an seine Mutter, 28.1.1935; SUB Hamburg, GN, B 26:18f. Ausführlich diskutiert werden diese Hypothesen bei Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 117. S. seine Mitgliedskarte in BArchB, R 9361 II/336783, Bl. 1320. Die Angabe bei Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 117, er habe im Aufnahmeantrag Willy Waldecker als Vater angegeben, ist unrichtig. – Gurlitt selbst stritt später vehement ab, je einen Aufnahmeantrag gestellt zu haben; s. seine Aufzeichnung von Juni 1963; SUB Hamburg, GN, A 76, und Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 151f. In der 31. Aufl. von Theodor Fritsch, Handbuch der Judenfrage, Leipzig 1932, kommt der Name Gurlitt noch nicht vor. Erst ab der 32. Aufl. von 1933 wird Manfreds Vetter Wilibald Gurlitt, seit 1920 Professor

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für Musikwissenschaft an der Universität Freiburg, als „Judenstämmling“ aufgeführt (S. 331), aber kein weiterer Angehöriger der Familie Gurlitt. Diese Angaben nach einer Aufzeichnung Gurlitts vom Juni 1963 (wie Anm. 39). Der Sachverständige für Rasseforschung beim RdI, Dr. Gercke, an den Kampfbund für Deutsche Kultur, Ortsgruppe Berlin, 17.8.1933; BArchB, R 9361 V/79465, Bl. 2950. Ebd. Manfred Gurlitt an seine Mutter, 9.8.1934; SUB Hamburg, GN, B 25:33f.; auch zum Folgenden. Annarella Waldecker an Manfred Gurlitt, 19.1.1935, ebd. B 9:19. Annarella Waldecker an Manfred Gurlitt, Postkarte o.D., ebd. B 9:26. Manfred Gurlitt an seine Mutter, 9.8.1934; ebd. B 25:35. Manfred Gurlitt an seine Mutter, o.D.; ebd. B 25:28ff.; zit. bei Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 123. S. ebd. S. 123f. S. ihren Brief vom 5.1.1935; SUB Hamburg, GN, B 9:15. Annarella Waldecker an Manfred Gurlitt, o. D., ebd. B 9:23. Annarella Waldecker an Manfred Gurlitt, 31.4.1935; ebd. B 9:29. Annarella Waldecker an Manfred Gurlitt, o. D., ebd. B 9:23. S. Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 21; mehr zu dieser Oper, deren Titel Gurlitt später in Feliza änderte, ebd. S. 231ff. SUB Hamburg, GN, C 13. Wolfgang Gurlitt an seine Mutter, 28.1.1935; ebd. B 26:18f.; auch zum Folgenden. S. ihren Brief an Manfred Gurlitt vom 11.1.1935; ebd. B 9:16. Um ihre finanzielle Lage zu verbessern, versuchte die Mutter, zwei Bilder aus dem Erbe Willy Waldeckers zu verkaufen; „aber niemand will etwas zahlen“, klagte sie (Brief an Manfred Gurlitt, o.D., ebd. B 9:23). Die Ehe mit seiner Frau Maria wurde 1937 geschieden. In einer schriftlichen Vereinbarung (ebd. C 2) verpflichtete sich Maria, 10 000 RM an ihren Ex-Mann zu zahlen, womit dessen sämtliche Ansprüche an sie abgegolten sein sollten. – In dritter Ehe heiratete Gurlitt 1937 Wiltrud Hahn, wie seine ersten beiden Frauen eine Sängerin, nach der Erinnerung seiner Cousine Else allerdings Tänzerin; s. Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 137. Gurlitt an Hinkel, 3.1.1936; BArchB, R 9361 V/79465, Bl. 2938; s. auch Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 122. Gurlitt an Hinkel, 3.1.1936; auszugsweise abgedr. ebd. S. 118. – Mit „Exzellenz Lewald“ war Theodor Lewald (1860–1947) gemeint, 1917–19 Unterstaatssekretär, 1919–21 Staatssekretär im Reichsministerium des Innern, 1919 bis 1933 Präsident des Deutschen Reichsausschusses für Leibesübungen und seit 1933 Vorsitzender des Organisationskomitees der Olympischen Spiele 1936. S. den handschriftlichen Vermerk auf der Eingabe Gurlitts an Hinkel v. 3.1.1936 und die Notiz über einen Bericht des Reichsstelle für Sippenforschung, BArchB, R 9361 V/79465, Bl. 2930. S. die Beschlüsse der NSDAP, Gau Berlin, Kreis-Gericht I, v. 14. und 15.7.1937; BArchB, R 9361 II/336783, Bl. 1312 und 1326; teilweise abgedr. bei Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 118. Götz attestiert Gurlitts Kompositionen dieser Jahre sogar „vordergründigen Populismus“ bis hin zur Trivialität; s. ebd., S. 291ff. S. ebd., S. 126 und das Schreiben des Präsidenten der RKM an Gurlitt vom 11.7.1938; SUB Hamburg, GN, B 6:16. S. Manfred an Else Gurlitt, 7.12.1938; ebd. E 19:2. S. Manfred an Susanna Gurlitt, 13.7.1938; ebd. E 18:6. S. Manfred an Susanna Gurlitt, 13.7.1938; a.a.O., und an Else Gurlitt, 7.12.1938; a.a.O.

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Einer späteren Angehörigen der Gurlitt-Familie zufolge erfuhren Manfreds Geschwister aber, dass dieser Fritz Gurlitt als seinen Vater verleugnet hatte, was „zu großem Streit zwischen den Geschwistern“ geführt habe. (Mitt. von Alexandra Cedrino-Nahrstedt, Berlin, v. 7.12.2017.) S. den entsprechenden Vermerk in BArchB, R 9361 V/79465, Bl. 2930. S. Hans Stocker (?) an Gurlitt, 19.2.1938; SUB Hamburg, GN, B 19; Hubert Franz an Gurlitt, 13.12.1938; ebd. B 8, und Gurlitts Aufzeichnungen vom Februar 1954 und Juni 1963, ebd. A 88 und A 76. S. den Auszug aus dem Sitzungsprotokoll des Regierungsrats des Kantons Uri vom 3.12.1938 über ein entsprechendes Angebot Gurlitts; ebd. B 21:35. Schon 1937 hatte die Musikakademie Tokyo, möglicherweise durch Vermittlung Konoes, Gurlitt einen 3-jährigen Vertrag für eine Professur für Klavier, Kammmusik und Komposition zu sehr günstigen Bedingungen angeboten. Doch der Vertragsabschluss war am Einspruch der deutschen Regierung gescheitert, die gefordert hatte, einen „einwandfreien Nationalsozialisten“ zu berufen; s. Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 125. Zu Konoes Werdegang und seinem Wechsel nach Berlin Hans-Joachim Bieber, SS und Samurai. Deutsch-japanische Kulturbeziehungen 1933–1945, München 2014, S. 456. S. Auslandsstelle der RMK an Gurlitt, 31.3.1939; SUB Hamburg, GN, B 13:23. Die Professur für Komposition und Dirigieren an der Musikakademie Tokyo hatte bis 1936 Klaus Pringsheim inne, der Schwager Thomas Manns. 1938 wurde sie mit Helmut Fellmer besetzt, der vorher Kapellmeister in Altenburg gewesen war und der NSDAP angehörte. Mehr zu ihm bei Bieber, SS und Samurai (wie Anm. 72), S. 500f. So Gurlitt in einer Aufzeichnung vom Februar 1954; SUB Hamburg, GN, A 88. Aufzeichnung Gurlitts vom Juni 1963; ebd. A 76. S. Victor Talking Machine Comp. of Japan an Gurlitt, 20.6. und 11.8.1939; ebd. B 22:17ff.; Irene Suchy, Deutschsprachige Musiker in Japan, Diss. phil. Wien 1992 (Masch.), S. 196; Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 130ff. SS-Hauptsturmführer Leo an das Sonderreferat VI Kult des RSHA, 25.8.1944; zit. bei Bieber, SS und Samurai (wie Anm. 72), S. 1040. Hamburger Fremdenblatt, 29.9.1940; Ausschnitt in SUB Hamburg, GN, D 18:1. „Würden nicht die Kriegsverhältnisse Beschränkung auferlegen“, hieß es am Ende des Artikels, hätte man aus Anlass von Gurlitts 50. Geburtstag an deutschen Bühnen „gewiß“ dessen „nach wie vor beachtenswerten“ Opern gedacht. S. hierzu auch Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 132ff. Manfred an Else Gurlitt, 6.10.1939; SUB Hamburg, GN E 19:3. Ebd. Mary an Manfred Gurlitt, 20.5.1940; ebd. B 9:54. In einer Art Tagebuch (ebd. C 36) notierte Gurlitt, wem er wann schrieb. – Mary Labatt (1857–1940) war die Ehefrau von Memo (Wilhelm) Gurlitt, dem ältesten Sohn Louis Gurlitts. Mary an Manfred Gurlitt, 20.5.1940; ähnlich Else Gurlitt in einem Brief vom 3.11.1939; ebd. B 21:17. Neste Silten-Gurlitt an Manfred Gurlitt, 21.5.1940; ebd. B 19:24. – Agnes Luise (gen. Neste) Silten, geb. Gurlitt (1871–1946), entstammte einem anderen Zweig der Gurlitt-Familie als Manfred und seine Geschwister; sie betrieb eine Pension in München. Ich danke Frau Elizabeth Baars für diese Information. Tilly Silten an Gurlitt, 6.10.1939; ebd. B 19:20. Marga Simon an Manfred Gurlitt, 28.9.1940; ebd. B 9: 52. Neste Silten-Gurlitt ergänzte, das Mädchen komme aus „sehr gutem Haus“, und Gerd, der „bildhübsch“ sein solle, verkehre schon in ihrer Familie. (Neste Silten-Gurlitt an Manfred Gurlitt, 21.5.1940; a.a.O.). Die Hochzeit musste dreimal verschoben werden, fand aber wohl irgendwann 1941 statt, s. Marga Simon an Manfred Gurlitt, 25.5.1941; ebd. B ­9­: 53. Manfred Gurlitt selbst scheint seinem Sohn zu dessen Enttäuschung in dieser Zeit nicht geschrieben zu haben. Hildebrand an Manfred Gurlitt; 3.3.1941; ebd. B 9:45. In seiner Ansprache hatte Gurlitt im Namen aller japanischen Musiker Strauss für dieses Werk gedankt und ihn als „größten lebenden deutschen

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Komponisten“ und „berufensten Vertreter deutscher Musik“ gefeiert. Das Manuskript der Ansprache, die nach Gurlitts Aufzeichnung am 6.11.1940 gesendet und nach Deutschland übertragen wurde, ebd. A 106. Mehr zu Strauss’ Japanischer Festmusik bei Bieber, SS und Samurai (wie Anm. 72), S. 772ff. Zur Tätigkeit Hildebrand Gurlitts während der NS-Zeit s. Hoffmann/Kuhn, Hildebrand Gurlitt (wie Anm. 2), bes. Kap. 10 und 11, und Catherine Hickley, Gurlitts Schatz. Hitlers Kunsthändler und sein geheimes Erbe, Wien 2016. Gemeint sind der Reformpädagoge Ludwig Gurlitt (1855–1931) und Gabriela, gen. Yella Todesco (1854–1943), die mit Ludwig John Freiherr von Oppenheimer (1843–1909) verheiratet gewesen war; die Ehe wurde jedoch schon 1883 geschieden. Erwin Gurlitt, geb. 1893 als ältester Sohn des Reformpädagogen Ludwig Gurlitt, war Regierungsbaudirektor des Regierungspräsidiums Oberfranken und lebte in Bayreuth. (Auskunft des Stadtarchivs Bayreuth vom 29.9.2016) Wolfgang von Schwind an Gurlitt, o.D., SUB Hamburg, GN. B 19:15. Tilly Silten an Gurlitt, 6.10.1939; ebd. B 19:20; s. auch Adolf Köhler an Gurlitt, 28.5.1941; ebd. B 12:6. Wolfgang von Schwind scheint gehofft zu haben, Gurlitt könne ihn in Japan „als Professor […] anbringen“, war aber nicht überrascht, dass hieraus nichts wurde – „das wäre zu schön gewesen“ (Wolfgang v. Schwind an Gurlitt, 10.6.1940; ebd. B 19:4). Eine Bekannte fragte, ob Gurlitt „nicht bald eine Portierfamilie gebrauchen“ könne. (Tilly Silten an Gurlitt, 6.10.1939; a.a.O.) S. die Antwort Fritz Grubes auf eine entsprechende Anfrage v. 25.4.1941; ebd. B 9:7. Zum Mangel an guten Bläsern in japanischen Orchesters Bieber, SS und Samurai (wie Anm. 72), S. 127f. Nach dem Krieg schrieb Gurlitt in Briefen an Musiker, die in den USA lebten, er habe bis 1941 gehofft, von Japan in die USA weiterziehen zu können. (SUB Hamburg, GN, B 25:16ff.). In seinem Nachlass findet sich kein Beleg für eine derartige Hoffnung. S. Japan Times, 20.12.1941 und 5.11.1942; OAR 24, 1943, S. 22; zur geringen Beliebtheit Wagners in Japan Helmut Fellmer, Butterfly daheim, in: musica 1, 1947, S. 154. S. Luciana Galliano, Manfred Gurlitt and the Japanese Operatic Scene, 1939–1972, in: Japan Review 18, 2006, S. 227f.; Bieber, SS und Samurai (wie Anm. 72), S. 815f. S. seine undatierte Aufzeichnung (vermutlich 1946 oder 1947), SUB Hamburg, GN A 83, und seine Aufzeichnung vom 14.10.1957; ebd. A 76; ferner Beate Sirota Gordon, The Only Woman In The Room, Tokyo/New York 1997, S. 86. S. Nippon Times, 29.9. und 22.12.1943; Galliano, Manfred Gurlitt (wie Anm. 96), S. 221. S. Erwin Wickert, Mut und Übermut. Geschichten aus meinem Leben, Stuttgart 1991, S. 331; Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 134f. Leo an Sonderreferat VI Kult des RSHA, 25.8.1944, zit. bei Bieber, SS und Samurai (wie Anm. 72), S. 1049. Die Liste ist im Faksimile wiedergegeben bei Detlev Schauwecker, Musik und Politik: Tōkyō 1934– 1944, in: Gerhard Krebs/Bernd Martin (Hg.), Formierung und Fall der Achse Berlin–Tokio, München 1994, S. 248; s. auch Suchy, Deutschsprachige Musiker in Japan (wie Anm. 76), S. 240 u. ö. S. die Tagebuch-Notizen Eta Harich-Schneiders v. 16.–18.7.1944, StB Berlin, Nl. Harich-Schneider, A 68; ferner das Interview Susanna Zacherts in Franziska Ehmcke/Peter Pantzer (Hg.), Gelebte Zeitgeschichte. Alltag von Deutschen in Japan 1923–47, München 2000, S. 243. S. Edith Fellmer, Die Kiste der Erinnerung, Norderstedt 1981, S. 194f.; Sirota Gordon, The Only Woman (wie Anm. 97), S. 19. Gurlitt an Alfred Einstein, Mai 1946; SUB Hamburg, GN, B 25:14. Ähnliche Schreiben an Toscanini, George Szell u. a. vom Mai 1946 ebd. B 25:16ff.; zu seiner Tätigkeit nach dem Krieg im übrigen Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 136ff.; Galliano, Manfred Gurlitt (wie Anm. 96), S. 228ff. Gurlitt an Rudolph Ganz, Mai 1946, SUB Hamburg, GN, B 25:16. Gerd an Manfred Gurlitt, 1.9.1948; ebd. B 9:34; auch zum Folgenden.

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Wolfgang Gurlitt war nach dem Krieg in Österreich geblieben und betätigte sich in Linz, Wien und München als Kunsthändler. Der Stadt Linz überließ er als Leihgabe Teile seiner Sammlung als Grundstock für ein Museum für moderne Kunst, dessen ehrenamtlicher Direktor er zunächst war. 1962 musste er diese Funktion niederlegen, weil er in diesem Museum auch verkäufliche Werke gezeigt, es also als erweiterten Verkaufsraum benutzt hatte; s. Gropp, Kunsthandlung Fritz Gurlitt (wie Anm. 2), S. 148; Hoffmann/Kuhn, Hildebrand Gurlitt (wie Anm. 2), S. 31f. s. jetzt auch den Katalog Wolfgang Gurlitt Zauberprinz. Kunsthändler  – Sammler, Lentos Kunstmuseum Linz, Museum Kunstspeicher Würzburg, hg. von Hemma Schmutz und Elisabeth Nowak-Thaller, München 2019. Manfreds Schwester Angelina hatte schon 1940 gewusst, dass es in der Ehe „nicht stimmt“. (Marga an Manfred Gurlitt, 28.9.1940; SUB Hamburg, GN, B 9:52.)  – Dem Scheidungsurteil des Landgerichts Tokyo zufolge (ebd. C 5) verhielt sich seine Frau seit 1941 „ohne besonderen Grund lieblos“, wechselte mit ihm kein Wort, lehnte es ab, „mit ihm in einem Zimmer zusammenzuleben“, und verweigerte den Geschlechtsverkehr. Als er sich 1949 einer schweren Operation hatte unterziehen müssen, habe sie mit Gewaltakten gedroht, wie z. B., „dass sie ihren Hund töten oder ihr Haus in Brand setzen oder Selbstmord begehen wolle“, und sich so aggressiv verhalten, dass er sich 1950 von ihr getrennt und eine eigene Wohnung genommen habe. S. Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 294. S. ebd. S. 138ff. S. Angelina von Weech an Manfred Gurlitt, 9.10.1953; SUB Hamburg, GN, B 23:7. Bis 1948 wurde in Japan jedes Jahr am 5. Mai der „Geburtstag“ der japanischen Jungen begangen, oft mit bunten Flugdrachen aus Papier in Gestalt eines Karpfens. Der Karpfen gilt als Symbol von Mut und Kraft, weil er stromauf schwimmen kann und Stromschnellen überwindet. Wie er sollten auch japanische Jungen allen Hindernissen Trotz bieten. Seit 1948 wird der 5. Mai als „Tag der Kinder“ begangen; er schließt jetzt auch Mädchen ein und ist offizieller Feiertag. S. Angelina von Weech an Manfred Gurlitt, 4.8.1954; SUB Hamburg, GN, B 23:12; zu Gitta Gurlitt Hoffmann/Kuhn, Hildebrand Gurlitt (wie Anm. 2), S. 28; zur Karriere Hildebrand Gurlitts nach 1945 ebd., Kap. 13–15. Die Internationale Frankfurter Messe fand seit 1948 im Hebst statt und war wie vor dem Zweiten Weltkrieg eine Universalmesse; s. Wolf von Wolzogen: Soziale und kulturelle Voraussetzungen zum Neubeginn der Frankfurter Messe 1948, in: Rainer Koch (Hg.): Brücke zwischen den Völkern. Zur Geschichte der Frankfurter Messe, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1991, S. 424 ff. S. Angelina von Weech an Manfred Gurlitt, 29.9.1954 und 23.12.1959, SUB Hamburg, GN. B 23:13 bzw. B 23:25. Tatsächlich war das Geburtsjahr der Mutter 1858. Angelina von Weech an Manfred Gurlitt, 29.9.1954; ebd. B 23:14. Manfred Gurlitt, Über mein produktives Schaffen (31.7.1953); ebd. A 111. Gurlitt in einem Lebenslauf vom Februar 1954, ebd. A 88. Zu seiner Wiedergutmachungsforderung s. seine Aufzeichnung über „Nazi-Schädigungen“ vom Juni 1963; ebd. A 76; abgedruckt bei Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 327ff. S. National-Zeitung (Berlin/DDR), 15.6.1955; Ausschnitt in SUB Hamburg, GN, D 18:1. Zur Erinnerung an Gurlitts Bremer Zeit als GMD s. Ludwig Roselius, Die Dirigentenfrage in Bremen, in: Weser-Kurier, 22.12.1954; Ausschnitt ebd. D 18:1; zu seinem Auftritt in Bremen: „Gurlitts Weg von Bremen nach Tokio“, in: Weser-Kurier, 18.5.1955; zu Leipzig: „Vermittler deutscher Kultur in Japan. NZ-Gespräch mit Prof. Manfred Gurlitt in Leipzig“, in: National-Zeitung (Berlin/DDR), 15.6.1955; Ausschnitte ebd. Zu Gurlitts Deutschland-Reise s. auch Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 146ff. 1957 sang sie die Rolle in einer Hamburger Fernsehproduktion, die später als beste Fernsehopernproduktion des Jahres ausgezeichnet wurde; s. Asahi Evening News, 25.12.1958; Ausschnitt in SUB Hamburg, GN, D 18:1. S. „Gurlitt kam aus Japan“, in: Neue Ruhr-Zeitung, 23.6.1955; Ausschnitt ebd.

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Dass er in München war, geht aus einem Bericht der Abendzeitung vom 13.4.1955 hervor; Ausschnitt ebd. Undatierter Lebenslauf (wie Anm. 16) A 83. S. Bernhard Doerdelmann, „Auch künstlerische Aufträge erfordern Takt“, in: Die Silberdistel, Juli 1958, S. 1; Ausschnitt ebd. D 18:1. Der Intendant der Kölner Oper, Herbert Maisch, wies in einer Entgegnung darauf hin, dass Zimmermann sich schon länger mit dem Stoff beschäftige und selbst entschieden habe, das Drama von Lenz als Vorlage zu nehmen. S. „Herbert Maisch antwortet“, in: Die Silberdistel, August 1958, S. 1; Ausschnitt ebd.; s. auch die Stellungnahme Maischs in der Silberdistel vom Dezember 1958; Ausschnitt ebd. „Professor Gurlitt nimmt Stellung“, in: Die Silberdistel, September 1958; Ausschnitt ebd. Einem Pressebericht zufolge hatten allerdings auch Differenzen zwischen Gurlitt und dem Regisseur, Streit mit dem Intendanten und dem Orchester dazu beigetragen, dass Gurlitt die Leitung der Uraufführung abgab; s. Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 148, Anm. 352. Hier auch mehr zur Uraufführung. Westfälische Rundschau,18.4.1958; Ausschnitt in SUB Hamburg, GN, D 18:1; weitere Kritiken bei Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 228ff. Gurlitt an die Kulturabt. des Auswärtigen Amtes, 21.7.1957; ebd. B 25:12. Einer der namhaftesten Kunstförderer Bremens schrieb, es sei an der Zeit, Gurlitt in der „Stadt seines langen ehrenvollen Wirkens“ mit der Wiederaufführung einer seiner Opern zu würdigen. Ludwig Roselius, Dirigent Manfred Gurlitt wird 70 Jahre alt, in: Bremer Courier, 1.9.1960; Ausschnitt ebd. D 18:2. S. Universal-Edition an Gurlitt, 27.4.1959; SUB Hamburg, GN, B 21:29; zu Gurlitts Leben in der Nachkriegszeit auch Galliano, Manfred Gurlitt (wie Anm. 96), S. 228ff. S. Bremer Tageszeitung, 12.5.1958; Ausschnitt in SUB Hamburg, GN, D 18:1. S. Bremer Nachrichten, 22.5.1958; Ausschnitt ebd. Gurlitt in einem Interview mit dem Weser-Kurier, 6.9.1965; Ausschnitt ebd. D 18:2. Der Brief Gurlitts vom 3.8.1958 ist abgedruckt in: Die Silberdistel, September 1958; Ausschnitt ebd. D 18:1 S. Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 140 und 149. Gerd an Manfred Gurlitt, 8.9.1959; SUB Hamburg, GN, B 9:38ff. Angelina von Weech an Manfred Gurlitt, 23.12.1959; ebd. B 23:25. S. Manfred Simon an Manfred Gurlitt, 13.6.1958; ebd. B 19:26. Susanna an Manfred Gurlitt, o.D., ebd. B 21:6. S. das Schreiben der Botschaft an Gurlitt vom 5.9.1960, ebd. B 26:8, sowie die Zeitungsausschnitte ebd. D 18:2. S. die Briefe von Direktor Gruder-Guntram, Wien, an Gurlitt von 1962, ebd. B 8:8ff., und Manfred an Else Gurlitt, 25.3. und 10.7.1962; ebd. E 19:6 und 19:8. S. Gurlitts Aufzeichnung vom Juni 1963 (wie Anm. 39). S. Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 157. Angelina von Weech an Manfred Gurlitt, 22.8.1961; SUB Hamburg, GN B 23:29. S. Wolfgang an Manfred Gurlitt, 15.2.1961; ebd. B 9:55. Wolfgang an Manfred Gurlitt, 2.9.1961; ebd. B 9:56. S. dazu oben Anm. 107. Wolfgang an Manfred Gurlitt, 23.2.1965; SUB Hamburg, GN, B 9:67. Wolfgang an Manfred Gurlitt, 9.7.1964; ebd. B 9:65. Wolfgang an Manfred Gurlitt, 4.7.1963; ebd. B 9:62. S. Wolfgang an Manfred Gurlitt, 9.7.1964. S. Manfred an Else Gurlitt, 25.9.1962; ebd. E 19:9. S. Wilibald Gurlitt an Angelina von Weech, o.D., ebd. D 18:2. Die Beiträge Wilibald Gurlitts in Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG), Bd. 5 (1956) S. 1127ff. Der Beitrag über Manfred Gurlitt beruht

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vermutlich auf dessen Angaben; denn er bezeichnet Manfred Gurlitt als ehemaligen Lehrer an der Berliner Musikhochschule, was er nicht war. Bemerkenswert ist, dass als dessen Vater der Kunsthändler Fritz Gurlitt und nicht Willy Waldecker genannt wird. Vermutlich hat Manfred Gurlitt auch seinem Vetter gegenüber das Geheimnis seiner Abkunft für sich behalten. Zum Verhältnis von Manfred und Willibald Gurlitt s. auch Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 109, Anm. 243. Benita an Manfred Gurlitt, o.D.; SUB Hamburg, GN, B 9:33. Benita an Manfred Gurlitt, 1.7.1962; ebd. B 9:31; auch zum Folgenden. Benita an Manfred Gurlitt, o.D.; ebd. B 9:33. Benita an Manfred Gurlitt, 13.9.1962; ebd. B 9:32. Manfred an Else Gurlitt, 26.9.1961; ebd. E 19:4. Manfred an Else Gurlitt, 30.3.1965; ebd. E 19:11. Manfred an Else Gurlitt, 25.3.1962; ebd. E 19:6. Manfred an Else Gurlitt, 7.2.1962; ebd. E 19:5. Benita an Manfred Gurlitt, 13.9.1962 (wie Anm. 155). Interesse an einer Aufführung von Gurlitts Nana zeigte z. B. Gustav Rudolf Sellner, damals Intendant der Berliner Staatsoper, sah jedoch bis auf weiteres kaum Möglichkeiten, sie zu realisieren; s. Sellner an Gurlitt, 29.5.1964, ebd. B 6:2. Im Übrigen Cornelius Streiter (Pseud. für Bernhard Doerdelmann): Manfred Gurlitt – Zur Emigration verdammt? In: Israel-Forum 6, Heft 9 (September 1964), S. 13–15; Bernd W. Weßling, „Es ist mein tragisch-düsteres Erleben …“ Der ehemalige Bremer Generalmusikdirektor Manfred Gurlitt leistet in Japan Pionierarbeit, in: Weser-Kurier, 17.10.1964; Manfred Gurlitt zum 75. Geburtstag, in: Bayreuth 1965, 2. Heft (31.8.1965), S. 13; Ausschnitt in SUB Hamburg, GN, D 18:2; s. auch Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 157f. S. die Ausschnitte in SUB Hamburg, GN, D 18:2. Tel. Generalkonsulat Osaka-Kobe an Gurlitt, 6.9.1965; ebd. B 22:6. „Der Vater der Oper“ in Japan. Zum 25-jährigen Wirkens Manfred Gurlitts in Tokio, in: Tagesspiegel v. 7.7.1965; Ausschnitt ebd. D 18:2. Als einzige seiner Opern kam nur die Nana 1967 in Bordeaux noch einmal auf die Bühne; s. Max Brod an Gurlitt, 21.5.1967; ebd. B 4:30, und die Zeitungsberichte ebd. D 18:2. In Deutschland wurden 1965 lediglich ein Liedzyklus in Bayreuth und 1968 in Hamburg drei frühe Lieder aufgeführt; 1969 spielte die Nordwestdeutsche Philharmonie Gurlitts Goya-Sinfonie ein; s. Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 157; Bieber, SS und Samurai (wie Anm. 72), S. 1138, Anm. 295. „Sie müssten persönlich für sich sprechen. Man tat das früher nicht, aber man tut das heute.“ So Gerd Brötje (Bremen) an Gurlitt, 29.3.1962; SUB Hamburg, GN, B 4:31. Abgedruckt in: Die Silberdistel, September 1958. In einer undatierten Aufzeichnung (ebd. B 25:59) notierte Gurlitt, die Universal Edition habe sich an seinen neuen Werken desinteressiert gezeigt, „da ich durch das lange Nazi-Verbot quasi ‚vergessen‘ sei“. Erst nach der erfolgreichen Aufführung der Nana in Bordeaux von 1967 scheint der Verlag wieder für ein Werk Gurlitts geworben zu haben; s. den Flyer ebd. D 18:2. S. Universal Edition an Gurlitt, 20.1.1964; ebd. B 21:31; Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 156. Cornelius Streiter in: Die Silberdistel, September 1958. Cornelius Streiter in: Die Silberdistel, Juni 1958, Ausschnitt in SUB Hamburg, GN, D 18:1. S. ebd. Westfälische Rundschau,18.4.1958; Ausschnitt ebd. Ebd. D 16. Gurlitt in einem Lebenslauf vom Oktober 1963; ebd. A 89. Manfred an Else Gurlitt, 28.3.1965; ebd. D 19:10. Jean Brixin in: Die Silberdistel, September 1958. Helmut an Manfred Gurlitt, 28.3.1967; ebd. B 9: 47ff.

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Berichte japanischer Zeitungen über Aufführungen unter seiner Leitung aus diesen Jahren ebd. D 18:2. S. Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 140f. S. Manfred Gurlitt: Mein Opernschaffen (Oktober 1963); SUB Hamburg, GN, A 89. So Gurlitt in einem handschriftlichen Manuskript, o.D.; ebd. A 96; s. auch das Interview Gurlitts in den Bremer Nachrichten, 22.5.1958, sowie sein Manuskript „Deutsche Musik im Japanischen Musikleben“ vom Mai 1956; ebd. A 75. S. Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 154. S. Bundespräsidialamt an Gurlitt, 15.11.1967; SUB Hamburg, GN, B 6:10; Götz, Manfred Gurlitt (wie Anm. 5), S. 158. S. ebd., S. 159. S. ebd.; Frankfurter Allgemeine Zeitung,14.8.2009; Frankfurter Rundschau, 25.9.2009; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.10.2013, im Internet zugängliche Aufführungskritiken sowie die auf der Homepage der Universal Edition (auffuehrungen-und-kalender) genannten Aufführungen. Hans-Klaus Jungheinrich in der Frankfurter Rundschau, 13.1.1987. Spielplan des Staatstheaters Darmstadt, Spielzeit 2013/2014. Tageszeitung (taz), 20.1.2015 bzw. Neue Osnabrücker Zeitung, 17.1.2015.

Der Musikwissenschaftler Wilibald Gurlitt 1

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Leo Kestenberg, Musikerziehung und Musikpflege (1921), zit. nach ders., Bewegte Zeiten. Musischmusikantische Lebenserinnerungen, Wolfenbüttel 1961, S. 45. Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt. Ein Künstlerleben des XIX. Jahrhunderts, Berlin 1912, S. 460, behauptet, Else habe das Manuskript noch vor Drucklegung gelesen. Julius Langbehn, Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen, 19. Aufl. Leipzig 1890, S. 26. Wilibald Gurlitt, Michael Praetorius (Creuzbergensis). Sein Leben und seine Werke, Diss. phil. Univ. Leipzig 1914 (masch.). Wilibald Gurlitt, Karl Straube als Vorkämpfer der neueren Orgelbewegung, in: Karl Straube zu seinem 70. Geburtstag. Gaben der Freunde, Leipzig 1943, S. 195–225, ed. in ders., Musikgeschichte und Gegenwart. Eine Aufsatzfolge, hg. und eingeleitet von Hans Heinrich Eggebrecht, Teil I, Wiesbaden 1966, S. 74–89, hier S. 76. Ebd., S. 84. Ebd., S. 85. Hugo Riemann, Geschichte der Musik seit Beethoven (1800–1900), Leipzig und Hannover 1901, bes. S. 762f. Eine Verlobungsanzeige hat sich im Nietzsche-Archiv Weimar erhalten. Sie ist adressiert an Elisabeth Förster-Nietzsche und datiert auf „Juli 1916“. Die Quellen sind genannt bei Markus Zepf, Die Freiburger Praetorius-Orgel – Auf der Suche nach vergangenem Klang, Freiburg 2005, S. 85f. Gurlitts Lehrveranstaltungen in Freiburg lassen sich über die online zugänglichen Vorlesungsverzeichnisse nachverfolgen (www.ub.uni-freiburg.de/recherche/digitale-bibliothek/freiburger-historische-­ bestaende/vorlesungsverzeichnisse). Quellen im Universitätsarchiv Freiburg (UAF): UAF B1/1252. Hugo Riemann an den Dekan der Philosophischen Fakultät vom 10.2.1919 (UAF Be/19). UAF B1/1252. Heidegger an Gurlitt 1.7.1920 (DLA, A:Heidegger). Eine kommentierte Edition des Briefwechsels zwischen Heidegger und Gurlitt im Rahmen meiner Monographie Der musische Staat ist in Vorbereitung.

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Heidegger an Gurlitt 9.10.1920 (DLA, A:Heidegger). Gemeint ist der zweite Sohn Friedemann. Der Begriff taucht pejorativ auf in der „Erklärung“ der protestantischen Kirchenmusikerschaft vom 18.5.1933, die auch von Gurlitt unterzeichnet ist. (Als Anhang zu Bernhard von Peinen, Kirchenmusik im dritten Reich, in: Musik und Kirche 5, 1933, S. 174–189, hier S. 187–189. Gleichlautend veröffentlicht in: Zeitschrift für Musik 100, 1933, S. 599f. Richard Eichenauer, Musik und Rasse, München 1932, erweitert in der 2. Aufl. 1937, S. 42. Heinrich Besseler, Umgangsmusik und Darbietungsmusik im 16. Jahrhundert, in: Archiv für Musikwissenschaft 16, 1959, S. 21–43. Das Heft ist Gurlitt zum 70. Geburtstag gewidmet. Heinrich Besseler in einem Begleitbericht zur Aufführung des Collegium musicum in der Kunsthalle Karlsruhe 1922 im Hannoverschen Kurier vom September 1922 (UAF C101/286, zit. nach Markus Zepf, Musikwissenschaft, in: Eckhard Wirbelauer [Hg.], Die Freiburger Philosophische Fakultät 1920–1960, Freiburg/München 2006, S. 411–439, hier S. 420). Wilibald Gurlitt, Die Wandlungen des Klangideals der Orgel im Lichte der Musikgeschichte, in: ders. (Hg), Bericht über die Freiburger Tagung für Deutsche Orgelkunst. Vom 27.–30. Juli 1926, Kassel 1926, Repr. Kassel 1973, S. 11–42, hier S. 23. Heidegger an Gurlitt 9.10.1920 (DLA, A: Heidegger). Ebd. Georg Misch an Edmund Husserl 28.5.1922, in: Edmund Husserl, Briefwechsel, Bd. VI: Philosophenbriefe, Dordrecht 1994, S. 272f. Der Marburger Philosoph Paul Natorp möchte Heidegger auch berufen und bittet via Husserl ebenso um eine Textprobe. Der Bericht ist in der Heidegger-Gesamtausgabe, Bd. 62, ediert. Die erhaltenen Briefe liegen in der Universitätsbibliothek Göttingen. Ausgenommen den einen spärlichen Hinweis im Brief Gurlitts an Nohl vom 20.1.1923. Vgl. überblickshaft Rainer Bayreuther, Die Situation der deutschen Kirchenmusik um 1933 zwischen Singbewegung und Musikwissenschaft, in: Archiv für Musikwissenschaft 67, 2010, S. 1–35. Gurlitt, Die Wandlungen des Klangideals (wie Anm. 20), S. 11 und 14. Ebd., S. 12f. UAF B3/798. Vgl. anders Bernd Martin, Die Entlassung der jüdischen Lehrkräfte aus der Freiburger Universität und die Bemühungen um ihre Wiedereingliederung nach 1945, in: Schicksale. Jüdische Gelehrte an der Universität Freiburg in der NS-Zeit, Freiburg 1995 (= Freiburger Universitätsblätter 129), S. 7–46. Schreiben des Kultusministeriums Karlsruhe an das Rektorat Freiburg 28.11.1933 (Quelle zitiert ebd., S. 24). Die Vorgänge sind detailliert rekonstruiert bei Hugo Ott, Martin Heidegger als Rektor der Universität Freiburg I: Die Übernahme des Rektorats der Universität Freiburg durch Martin Heidegger im April 1933, in: Schau-ins-Land. Jahresheft des Breisgauer Geschichtsvereins Schauinsland 102 (1983), S. 121–136, hier S. 128. Mündliche Information von Dietrich Gurlitt (Gespräch mit dem Verf. am 27.6.2013). In den zahlreichen Darstellungen des Rektoratswechsels (zum Beispiel Hugo Ott, Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie, Frankfurt a. M 1992) ist dieser Umstand unbekannt. Zur Vermutung, Heidegger habe an ihrem Zustandekommen mitgewirkt, Hugo Ott, Martin Heidegger als Rektor der Universität Freiburg II: Die Übernahme des Rektorats der Universität Freiburg durch Martin Heidegger im April 1933, in: Schau-ins-Land. Jahresheft des Breisgauer Geschichtsvereins Schauinsland 102 (1983), S. 107–130, hier S. 112ff. Akten zu den folgenden Details der Plenarversammlung in UAF B1/3691. UAF B3/798, S. 37. Im Protokoll ist ausdrücklich vermerkt, dass die Sitzung vom Rektorat einberufen wurde.

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Quellen zur Veranstaltung: UAF B1/47. Wilibald Gurlitt, Vom Deutschtum in der Musik, in: Die Kirchenmusik 14, 1933, 167–169; ebenso in: Musik im Zeitbewußtsein 1, 1933, H. 9, S. 1f.; ebenso in: Monatsblätter der Deutschen Bühne im Kampfbund für Deutsche Kultur Freiburg im Breisgau 1, Oktober 1933, S. 11–14 (Zitiervorlage). Quellen bei Eckhard John, Der Mythos vom Deutschen in der deutschen Musik. Die Freiburger Musikwissenschaft im NS-Staat, in: Musik in Baden-Württemberg 5, 1998, S. 57–84. Die Freiburger Vorlesungsverzeichnisse sind online zugänglich unter http://www.studium.uni-­freiburg. de/studium/lehrveranstaltungen/vorlesungsverzeichnisse_archiv. Staatsarchiv Freiburg, F 196/1. UAF B24/1127; UAF B1/3985, z. B. Brief von Rektor Friedrich Metz an das Reichserziehungsministerium. Wilibald Gurlitt, Der gegenwärtige Stand der deutschen Musikwissenschaft. Zu ihrem Schrifttum der letzten 10 Jahre, in: DVjs 17, 1939, hg. von Paul Kluckhohn und Erich Rothacker, Referatenheft, S. 1–82. Zur Amtsenthebung Gurlitt vgl. neuerdings Karin Orth, Die NS-Vertreibung der jüdischen Gelehrten. Die Politik der Deutschen Forschugnsgemeinschaft und die Reaktionen der Betroffenen, Göttingen 2016, S. 284ff. Die Studie entstand zeitgleich mit dem vorliegenden Aufsatz. Für die folgende Darstellung siehe die Quellen in UAF B1/3985. UAF B24/1127. Schreiben Müller-Blattaus an Friedrich Metz vom 28.10.1936 (UAF B24/1127). In der Kaufkraft von 2016 entspricht das ca. 3600 Euro. Diese Angaben macht Gurlitt im Sommer 1945 (UAF B3/512 Personalbogen Gurlitt) und noch einmal im „Antrag auf Wiedergutmachung“ von 1950 (Staatsarchiv Freiburg, F 196/1). UAF B24/1127. Uta Werner, geb. Gurlitt, in: Stefan Koldehoff, Wir wollen Wiedergutmachung. Was die Erben von Cornelius Gurlitt mit seiner Sammlung machen würden, in: FAZ, 12.4.2016. Volker Hagedorn, Unheimliches Abendland, in: Die ZEIT, 17.12.2009. Angabe Uta Werners in: Koldehoff, Wir wollen Wiedergutmachung (wie Anm. 54). Schreiben Gurlitts vom 8.8.1945 (UAF B3/512). Die Erklärung ist angehängt an den Aufsatz von Bernhard von Peinen: Kirchenmusik im dritten Reich, in: Musik und Kirche 5, 1933, 174–189, darin: Erklärung (vom 18./19. Mai 1933), S. 187–189. Sie wurde auch in der Zeitschrift für Musik 100, 1933, S. 599f., und als Flugblatt veröffentlicht. Gerhard Schwabe, Gerhard Ritter und der Freiburger Kreis, in: Hans Maier (Hg.): Die Freiburger Kreise. Akademischer Widerstand und Soziale Marktwirtschaft, Paderborn 2014, S. 163–185. Hier zitiert nach dem Abdruck in: Monatsblätter der Deutschen Bühne im Kampfbund für Deutsche Kultur Freiburg im Breisgau, 1. Jahrgang (Oktober 1933), S. 11–14.

Cornelia Gurlitt. Ein Biogramm in Bildern 1

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Elisabeth Nowak-Thaller, Leben und Wirken Wolfgang Gurlitts, in: Wolfgang Gurlitt Zauberprinz. Kunsthändler – Sammler, hg. von Hemma Schmutz und E. N.-Th., Ausst.kat. LENTOS Kunstmuseum Linz, Museum im Kulturspeicher Würzburg, München 2019, S. 33–64, hier S. 41. Richter, Emil: Arbeiten früherer Schülerinnen von Hans Nadler. [Ausst.broschüre, 4 Bl.] Galerie Emil Richter. Dresden [um 1913]. SLUB Dresden (Sig. Art.plast.2756,17.s). Ausst.katalog 18 S. (Mannheim) und 22 S. (Dresden). Vgl. auch Ruth Negendanck: Die Galerie Ernst Arnold (1893–1951). Kunsthandel und Zeitgeschichte. Diss. phil., Nürnberg 1996, S. 47.

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Otto Gerlach, ein Bruder von Cornelia Gurlitts Mutter Marie, war seinerzeit Schauspieler und Regisseur am Stadttheater in Breslau. Helene Franz: Erinnerungen an Cornelia, 1970, S. 5 (maschschr. Privatdokument). Louise Franz, geb. Gerlach, war eine Schwester von Cornelias Mutter Marie. – Vgl. auch den Brief von Cornelias Mutter Marie an ihren Sohn Wilibald in Freiburg Anfang Dezember 1919: „[…] ich hatte Franzens ein Bild von mir, was Eitel gemalt, geschenkt.“ Nachlass Cornelius Gurlitt, TU Dresden, Brief 224/252.

Das kurze Leben einer deutschen Expressionistin 1

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Der folgende Text ist das leicht überarbeitete Rundfunk-Skript aus Anlass des 100. Todestages von Cornelia Gurlitt. Ursendung am 3. August 2019, Rundfunk Berlin Brandenburg (rbb) Kultur, Regie: Beatrix Ackers. Der mündliche Ausdruck der Interviewpartner wurde weitgehend beibehalten. Redaktion der Textfassung: Ursula Renner. Helene Franz ca.1970; ihre hier zitierten Erinnerungen wurden von Hubert Portz an Frank Odenthal übermittelt. Cornelius Gurlitt an seine Schwägerin Mary in Graz, 6. Mai 1908. Nachlass Cornelius Gurlitt, TU Dresden. https://gurlitt.tu-dresden.de/index.php?mode=38. Im Folgenden: NCG Dresden. Cornelia an Wilibald, 17. Dezember 1914; NCG Dresden. Schmidt-Rottluff an den Kunsthistoriker Wilhelm Niemeyer, 1917, zit. nach Aya Soika: Weltenbruch. Die Künstler der Brücke im Ersten Weltkrieg. 1914–1918. München/London/New York 2014, S. 206. Morand Claden / Eduard Reinacher / Oskar Wöhrle: Das Drei-Elsässer-Buch. St. Ingbert 2007, S. 311. Richard Dehmel: Zwischen Volk und Menschheit. Kriegstagebuch. Berlin 1919, S. 450. Arthur Feiler: Neuland. Eine Fahrt durch Ob. Ost. Frankfurt a. M. 1917 (Separatdruck der Frankfurter Zeitung). Cornelia an Wilibald, 21. Juli 1916, NCG Dresden. Cornelia an Wilibald, Spätsommer 1917. NCG Dresden. Cornelia an Wilibald, 20. Dezember 1916, NCG Dresden. Cornelia an Wilibald, Spätsommer 1917. NCG Dresden. Cornelia an Wilibald, 1. März 1918. NCG Dresden. Cornelia an Wilibald, 26. November 1917. NCG Dresden. Cornelia an Wilibald, 7. Mai 1917. NCG Dresden. Cornelia an Wilibald, 26. November 1917. NCG Dresden. Cornelia an Wilibald, 23. September 1918. NCG Dresden. Cornelia an den Vater Cornelius Gurlitt, 9. Februar 1919. NCG Dresden. Cornelia an Wilibald, 5. Dezember 1918. NCG Dresden. Cornelia an den Vater Cornelius Gurlitt, 1. Februar 1919. NCG Dresden. Hildebrand an Bruder Wilibald und Schwägerin Gertrud, 19. Mai 1919. NCG Dresden. Hildebrand an Wilibald, 29. April 1919. NCG Dresden. Hildebrand an Wilibald, 21. Mai 1919. NCG Dresden. Hildebrand Gurlitt an Paul Fechter, 1919. Deutsches Literaturarchiv Marbach, HS 000440948. Cornelius Gurlitt, in: Die Kunstwissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Hg. von Johannes Jahn. Leipzig 1924, S. 30. Paul Fechter: Cornelia Gurlitt. In: Ders.: An der Wende der Zeit. Gütersloh 1949, S. 279–287.

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Zu den Autorinnen und Autoren Elizabeth Baars Urenkelin des Malers Louis Gurlitt; Enkelin von Hans Gurlitt, dem jüngsten Sohn von Louis Gurlitt. Nach Übersiedlung aus Los Angeles (USA) nach Hamburg und nach dem Tod der Großmutter und später Mutter intensive Beschäftigung mit dem künstlerischen Werk des Urgroßvaters und der weit verzweigten Familie Gurlitt. Anlässlich des 100. Todestages von Louis Gurlitt Initiierung und Unterstützung der Jubiläumsausstellung im Altonaer Museum in Hamburg 1997, zu der ein ausführlicher Katalog erschien (Hirmer Verlag). Weitere Aktivitäten: Organisation eines Familientreffens in Hamburg; Auftrag zur Erstellung eines umfassenden Stammbaumes des Zweiges der Familie von Louis Gurlitt, der wichtige Grundlage bei der Aufarbeitung des sogenannten „Schwabinger Kunstfundes“ wurde. Kontakt: [email protected]

Rainer Bayreuther Lehrt Musikwissenschaft an der Hochschule für ev. Kirchenmusik Bayreuth. Vertretungsprofessuren u. a. in Frankfurt a. M., Freiburg und Trossingen. Studium der Musikwissenschaft, Philosophie und ev. Theologie in Heidelberg. Promotion 1994 über Richard Strauss, Habilitation 2004 an der Univ. Halle/S. über das geistliche Lied im Pietismus. 2008/09 Fellow am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald. 2015/16 Gastprofessur am Institut für Kultur und Ästhetik digitaler Medien der Leuphana Universität Lüneburg. Forschungsschwerpunkte sind die Ontologie von Musik und Klang (Was sind Sounds?, 2019) sowie die Musik ab dem 19. Jahrhundert im Kontext von Technik und Medien.

Hans-Joachim Bieber Lange in der Wissenschaftsverwaltung tätig, u. a. in der Geschäftsstelle des Wissenschaftsrats, und bis 2005 Akad. Direktor und apl. Prof. für Neue Geschichte an der Universität Kassel. Arbeitsschwerpunkte: deutsche Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts; Geschichte der 404

Zu den Autorinnen und Autoren

Globalisierung und des sog. Atomzeitalters; kulturelle Beziehungen zwischen Deutschland und Japan; Hochschulentwicklung und Wissenschaftspolitik. Wichtigste Buchpublikationen: Zur politischen Geschichte der friedlichen Kernenergienutzung in Deutschland (1977); Gewerkschaften in Krieg und Revolution. Arbeiterbewegung, Industrie, Staat und Militär 1­ 914–1920 (2 Bde., 1981); Bürgertum in der Revolution. Bürgerräte und Bürgerstreiks in Deutschland 1918–1920 (1992); SS und Samurai. Deutsch-japanische Kulturbeziehungen 1933–1945 (2014); Dietrich Seckel: Berichte aus Japan. Briefe an seine Mutter. Hiroshima 1936 bis Tokyo/Urawa 1941 (Hrsg.; 2020); zahlreiche Aufsätze zu den genannten Arbeitsschwerpunkten.

Heinrich Bosse Akademischer Oberrat i. R., Promotion über Jean Paul 1968, DAAD-Lektor in Turku / Finnland (1967–1970) und Montreal / Canada (1970–1973), von 1973–2002 am Deutschen Seminar der Universität Freiburg. Arbeitsgebiete: 18. Jahrhundert, Bildungs- und Sozialgeschichte der Akademiker, Jakob Lenz. Veröffentlichungen (u.  a.): Bildungsrevolution 1770–1830. Mit einem Gespräch hg. von Nacim Ghanbari. Heidelberg 2012; Das Dispositiv der Bildung in Jena (Athenäum 25/2015, S.  89–122); Aufklärung und Kapitalismus (Merkur 73/ Dez. 2019, S. 90 –99). https://www.heinrich-bosse.de/

Justus Cobet (*1939), Emeritus der Alten Geschichte in der fusionierten Universität Duisburg-Essen, studierte in Tübingen, Frankfurt am Main und in Haverford/Bryn Mawr, Pennsylvania. Er ist Schüler des Klassischen Philologen Harald Patzer und des Althistorikers Jochen Bleicken. Seine Arbeitsgebiete, erst in Frankfurt, dann in Essen, sind antike Geschichtsschreibung, Themen zwischen Archäologie und Geschichte wie der Streit um Troia, Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte.

Sonja Feßel Geb. 1978, Dr. phil., 2014 Promotion über Leere Bühnen: Historische Orte in der zeitgenössischen Fotografie an der Universität Bern (Jonas Verlag 2018), derzeit Leiterin Fotografische Sammlung und Redaktion ‚Rundbrief Fotografie’ am Deutschen Dokumentationszentrum für 405

Zu den Autorinnen und Autoren

Kunstgeschichte  – Bildarchiv Foto Marburg; Forschungsschwerpunkte u.  a. Geschichte und Theorie der Fotografie, zeitgenössische Kunst, Ausstellungs- und Museumswesen.

Anna Kinder Geb. 1979, Dr. phil., Dissertation 2011 über Geldströme. Ökonomie im Romanwerk Thomas Manns (De Gruyter 2013), Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Literaturarchiv Marbach.

Jana Kittelmann Geb. 1978, Dr. phil., derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin der Alexander von HumboldtProfessur für neuzeitliche Schriftkultur und europäischen Wissenstransfer an der MLU Halle-Wittenberg, Arbeitsschwerpunkte: Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts, Briefkultur, Editionsphilologie, Garten und Landschaft in der Literatur.

Evonne Levy Distinguished Professor of Early Modern Art at the University of Toronto. She is author of Baroque and the Political Language of Formalism (1845–1945): Burckhardt, Wölfflin, Gurlitt, Brinckmann Sedlmayr and Propaganda and the Jesuit Baroque. Recently she co-edited with Tristan Weddigen The Global Reception of Heinrich Wölfflin’s ‚Principles of Art History‘ (2020) and the new English translation, Principles of Art History: The Problem of the Develpoment of Style in Early Modern Art (Getty, 2015) of Wölfflin’s classic text.  

Frank Odenthal 1971 in Köln geboren, arbeitet als freischaffender Journalist und Autor. Er hat Volkswirtschaftslehre an den Universitäten von Köln und Liverpool studiert. Für seine Reportagen bereist er regelmäßig Afrika und den arabischen Raum. Zudem schreibt er Hörspiele, Theaterstücke und Kurzgeschichten. Seit Anfang 2020 ist er Chefredakteur des Kunstmagazins Blauberta. 406

Zu den Autorinnen und Autoren

Hubert Portz Geb. 1949 in Bekond/Mosel, studierte Psychologie und Medizin und hat sich als Psychotherapeut fortgebildet. Der Kunst und Kultur 2008 mit dem Kunsthaus Désirée einen Ort der Begegnung gegeben. Veröffentlichungen u. a.: Walter Becker. Frühe Werke 1914–1933 (2008); Zimmer frei für Cornelia Gurlitt, Lotte Wahle, Conrad Felixmüller (2014); Cornelia Gurlitt: Reise des Herzens (2015); Auf Erkundung, Anne Deuter und Monika Supé (2020), Cornelia Gurlitt. Begegnung.

Ursula Renner Von 2002 bis zur Pensionierung 2016 Lehrstuhl für ‚Deutsche Literatur seit dem 18. Jahrhundert und Kulturwissenschaften‘ an der Universität Duisburg-Essen. Studium der Germanistik, Anglistik und Kunstgeschichte in Freiburg i. Brsg. Promotion 1979. Visiting Assistant Professor in den USA (Cincinnati). 1995 Habilitation in Freiburg über „Die Zauberschrift der Bilder“ (1999). Fellowship am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften IFK in Wien. In der Forschung Konzentration auf die Literatur der Jahrhundertwende um 1900, auf die Beziehungen von bildender Kunst und Literatur und auf kulturanalytische Fragestellungen. Publikationen und Vita unter http://renner-henke.de/kurzvita-cv/

Gabriele Schneider Germanistin und Anglistin, hat über Fanny Lewald promoviert (Vom Zeitroman zum „stylisierten“ Roman: Die Erzählerin Fanny Lewald). Sie ist Autorin einer Biografie Fanny Lewalds (Fanny Lewald), einer Edition von Briefen Fanny Lewalds an Johann Jacoby (Freundschaftsbriefe an einen Gefangenen), Mitherausgeberin des Briefwechsels zwischen Fanny Lewald und Adolf Stahr (Ein Leben auf dem Papier. Fanny Lewald und Adolf Stahr. Der Briefwechsel 1846 bis 1852, 3 Bde.) sowie zahlreicher Aufsätze. Sie arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Historischkritischen Heinrich-Heine-Ausgabe.

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Zu den Autorinnen und Autoren

Stefan Willer Professor für Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Literaturgeschichte des 17.–21. Jahrhunderts; Literatur und Zukunftswissen; Kulturgeschichte von Genealogie, Generation und Erbe; Sprachund Übersetzungstheorien; Literatur und Musik. Buchpublikationen (Auswahl): Selbstübersetzung als Wissenstransfer (Mithg., 2020); Oper und Film. Geschichten einer Beziehung (Mithg., 2019); Zukunftssicherung. Kulturwissenschaftliche Perspektiven (Mithg., 2019); Futurologien. Ordnungen des Zukunftswissens (Mithg., 2016); Erbfälle. Theorie und Praxis kultureller Übertragung in der Moderne (2014); Erbe. Übertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur (Mithg., 2013); Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte (Mitvf., 2008); Das Beispiel. Epistemologie des Exemplarischen (Mithg., 2007); Poetik der Etymologie. Texturen sprachlichen Wissens in der Romantik (2003).

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Personenregister Die Vornamen der Familie Gurlitt sind gereiht nach dem unterstrichenen Rufnamen Abele, Andreas 353 Achenbach, Andreas 8, 80, 357 Achenbach, Oswald 67, 71, 77, 80, 83, 357 Ackers, Beatrix 403 Acosta, Uriel s. Costa Adenauer, Konrad 271 Adler, Friedrich 94, 364 Adler, Guido 285 Aischylos 91 Albert, Prinzgemahl von Königin Victoria von England 81 d’Albert, Eugen 258 Albrecht, Gerd 278, 393 Alexander der Große 101, 368 Alexandrine, Herzogin von Sachsen-Coburg und Gotha 82 Alice, Prinzessin von Großbritannien; s­ päter Großherzogin von Hessen-Darmstadt, Gemahlin von Großherzog Ludwig IV 82 Amiet, Cuno 218, 221, 302 Anders, Jörg P. 76 Andrä, Walter 361 Andrian-Werburg, Irmtraud von 363 Apuleius 91 Arndt, Ernst Moritz 140 Aristophanes 91, 350 Aristoteles 102, 290, 370 Arnim, Achim von 61 Arnim, Bettina von 61 Arnold, Ernst (Galerie) 302, 304, 387, 402 Assinger, Thomas 366 Assmann, Arno 272 Assur (Tante von Fanny Lewald und Elisabeth G.) 54 Auerbach, Berthold 60, 357 Augusta von Sachsen-Weimar-Eisenach (1811–1890, Gemahlin von Wilhelm I, 1861 preuß. König, 1871 dt. Kaiser) 199

Auguste Victoria von Schleswig-HolsteinSonderburg-Augustenburg, Gemahlin von Kaiser Wilhelm II von Preußen (gest. 1921) 140 Augustus, röm. Kaiser 106 Baars, Bodo A. 170 Baars, Elizabeth 14, 66, 79, 84, 99, 135, 169–217 (383–386), 275f, 349, 352–356, 358, 377, 393, 395 Bach, Familie 382 Bach, Johann Sebastian 156f, 161, 284, 286, 295, 299f, 381f Bach, Söhne von J. S. B. 299 Bacheracht, Therese von, Pseud. „Therese“ (Schriftstellerin) 55 Bachmann, Rainer 359 Bahnsen, Claudia 346 Bähr, Georg 128 Baiter, Johann Georg 362 Barbakoff, Tatjana 254 Barrett, Paul H. 382 Bártok, Béla 258 Basilou (Bankdirektor in Athen) 142 Bassenge, Friedrich 373 Bauch, Kurt 292f Baudelaire, Charles 345 Bauer (Regierungsrat) 296 Bauer, Adolf 372 Bauernfeld, Eduard von 7 Bayertz, Kurt 382 Bayreuther, Rainer 280–300 (400–402) Beaumont, Antony 393 Beckmann, Max 343 Beethoven, Ludwig van 299, 400 Behne, Adolf 224, 229, 235, 387–389 Beil, Ralf 390f Belling, Rudolf 220, 223f, 226f, 236f, 248, 253, 387–390 Bendixen, Siegfried 46, 66, 185, 209 Benjamin, Walter 16, 20, 345f

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Die anderen Gurlitts

Benn, Gottfried 15, 41, 345 Benndorf, Otto 93, 97, 99–101, 103, 106, 108, 110, 363, 366–373 Benner, Dietrich 376 Berbig, Roland 359 Berents, Catharina 243, 390 Berg, Alban 259f, 277, 393 Berg, Christa 370 Berger, Familie 216 Berger, Friedrich 90, 362 Berio, Luciano 277 Bernstein, Carl 220 Bernstein, Felicie 220 Besseler, Heinrich 289, 298, 401 Bettelheim, Anton (1851–1930, österr. Literaturkritiker; Biograf und Herausgeber) 208f Bieber, Hans-Joachim 256–279 (392–400), 395f, 399 Bierbaum, Otto Julius 308 Biermann, Georg 223, 227, 231, 387–389 Bischoff, Ulrich 388 Bismarck, Otto Fürst von 125, 129, 189, 348, 374, 385 Bismeyer & Kraus (Kunsthandlung in Düsseldorf) 80 Blaffer Hrdy, Sarah 344 Blech, Leo 258 Blechen, Carl 357 Bleicken, Jochen 361, 365 Bloch, Familie 54 Bloch, Ernest 258 Blüher, Hans 378 Boeckh, August 95, 97, 362 Böcklin, Arnold 108, 114, 220f, 359, 372, 386 Bötticher, Carl / Karl (1806–1889; Architekt und Altertumsforscher) 63 Bötticher, Clarisse (1836–1915; Schriftstellerin; dritte Ehefrau von Carl B.) 63 Bodenburg, Christian Christoph 37 Bodenhausen, Eberhard von 145 Böckstiegel, Peter August 303 Bohnenkamp, Björn 346 Bohnstedt, Ludwig 122 Boileau-Despréaux, Nicolas 116, 373f Bol, Peter C. 366 Bombelles, Joseph / Sepp von (Sohn von Markus von B. [1858–1912] und Altgräfin Maria zu Salm-Reifferscheidt-Raitz [1859–1897]) 211

Bombelles, Marco (Markus) Graf von (2. Mann von Minka, geb. Salm-Reifferscheidt-Raitz) 188 Bonhoeffer, Dietrich 297 Bornhardt (Ehemann von Ludwiga G.) 90 Bornhardt, Memo 90 Bornitz, Frank 350 Bornemann, Bernd 356, 359f Bosse, Heinrich 14, 26–47 (348–353), 349, 352, 365, 376, 380 Boulez, Pierre 277 Brahms, Johannes 294f Brandenburg, Hajo 351f Braque, Georges 326 Bratuscheck, Ernst 365 Braun, Bernhard 373 Brehm, David 14 Breloer, Heinrich 346 Breuer, Peter 227 Brietzke, Dirk 351 Brinker von der Heyde, Claudia 344 Brinckmann, Albert Erich 374 Brixin, Jean 399 Brod, Max 261, 399 Brodersen, Kai 362 Brodersen, Theodor? 391 Brötje, Gerd 399 Bruck, Elisabeth 376 Bruckmann-Cantacuzène, Elsa 383 Brücke, Ernst Wilhelm von (1819–1892; Physiologe) 7, 176, 195, 384 Brunn, Heinrich 365f, 369 Brutus, Marcus Iunius 364f, 377 Buber, Martin 380 Bucher (Briefadressat) 61 Büchner, Georg 258f Bürger, Fritz 352 Bürger, Julie s. Gurlitt, Julie Büsch, Johann Georg 37 Buhe, Walter 329 Bunia, Remigius 352 Burckhardt-Hiss, Basler Pflegefamilie von Wilhelm / Memo G. 56, 87 Burckhardt, Jacob 124, 374 Burda, Arthur 374 Burg, Tobias 391 Burguière, André 344f, Bury, Stanislaus 41, 47 Busolt, Georg 361

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Register

Busoni, Ferruccio 258 Cage, John 277 Calder, William M. III 369 Calmberg, Ernst Philipp Ludwig 349, 351 Calov, Carla 349 Cambi, Fabrizio 346 Campe, Johann Heinrich 37 Carl, Hans 380 Carl-Alexander, Großherzog von SachsenWeimar-Eisenach (1818–1901) 60, 172 Carr, Jonathan 346 Caspari, Georg 221, 386 Cassatt, Mary 221 Cassirer, Bruno 387 Cassirer, Paul 387 Castelli, Ignaz Franz 7 Catull 34 Cedrino-Nahrstedt, Alexandra 391, 395 Chagall, Marc 327, 336, 341 Chamberlain, Houston Stewart 151 Chamisso, Adelbert von 308 Charles I, König von England, Schottland und Irland 128 Chilese, Viviane 346 Chlodwig I, König der Franken 202 Christ, Stefanie 344 Christian VIII, König von Dänemark 70 Christiansen Agoston, Lilly 218 Chun, Carl 382 Cicero, Marcus Tullius 94, 106, 132, 142, 151, 154, 350, 364, 377 Classen, Carl Joachim 361 Cobet, Justus 60, 86–121 (361–374), 361 Comenius 152, 202 Conze, Alexander 86, 94, 97f, 102, 364, 366, 368–370 Corinth, Lovis 218, 221, 249, 253, 391 Corneille, Pierre 374 Cornelius, Peter 30 Correns, Carl 158, 382 Cosimo I de’ Medici, Herzog der Toscana 126 Costa (auch Acosta), Uriel da 200 Costagli, Simone 346 Courbet, Gustave 78 Cramer, Kevin 375 Cranach der Jüngere, Lucas 15 Crusius, Otto 369 Cuntz, Otto 101, 388

Curtius, Ernst 86, 91–96, 105f, 142, 362, 364–366, 368, 370f, 377, 379 Däubler, Theodor 387, 389 Dahl, Christian Clausen 72 Dahn, Felix 308 Dalbajewa, Birgit 388 Dalinghaus, Ruth Irmgard 251, 387f, 390f Dante Alighieri 384 Danzer, Gudrun 371f Darwin, Charles 159, 382 David, Jacques-Louis 66 Davids, Yael 305 Davout, Louis Nicolas 38 Dawson s. Harbutt Dawson Debussy, Claude 277 Degas, Edgar 221 Dehmel, Richard 153, 329, 403 Dehrmann, Mark-Georg 366 Delaunay, Robert 326 Delbrück, Hans 369 Dembeck, Till 352 Dernburg, Bernhard 391 Descartes, René 34 Dewey, John 141, 169, 183, 377 Dewitz, Fräulein von 206 Diels, Hermann 370 Diestelmann, Jürgen 345, Dietze, Constantin von 297 Dillmann, Claudia 389–391 Dilthey, Wilhelm 162, 290, 382 Dionysios von Harlikanass 91 Ditters, Johann Carl 29 Dittgen, Dania A. 384 Dittmar, Peter 348 Doerdelmann, Bernhard 398 Doll, Nikola 340f Domaszewski, Alfred von 370 Donandt, Rolf / Rallo 303 Dorpalen, Andreas 375 Drasenovich, Adalbert von 109 Droysen, Gustav 368 Druschky, Susanne 304 Dürer, Albrecht 347 Düsing, Hans-Jürgen 380 Dugdale, Richard L. 382 Dumreicher, Oscar / Oskar von (1857–1897) 198 Durand-Ruel, Paul 220 Durkheim, Émile 157, 382

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Die anderen Gurlitts

Dvořák, Max 374 Eberstein, Christine Helene (1783–1857; zweite Ehefrau von Johann August Wilhelm G.) s. Gurlitt, Helene Eberstein, Ludwig 164f Eggebrecht, Hans Heinrich 400 Eggers, Friedrich 359 Ehmcke, Franziska 396 Ehrhorn, Margaretha Martina (1773–1809; erste Ehefrau von Johann August Wilhelm G.) 27, 41f Eichenauer, Richard 299, 401 Eigler, Friederike 346 Einstein, Alfred 396 Einstein, Carl 388 Eiselein, Joseph 373 Eitelberger von Edelberg, Rudolf 94 Elgin, Lord, d.i. Thomas Bruce, 7. Earl of Elgin 104 Eliot, George 60f Elisabeth (Sisi), Kaiserin von Österreich-Ungarn 147 Ellis, Havelock 382 Emerson, Ralph Waldo 133 Engel, Louisa / Louise von 198, 200 Enzinger, Moriz 376 Erfurth, Hugo 301 Erhart, Walter 346 Ernst II., Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha (1818–1893) 8, 81f, 136, 139, 172, 175, 358 Ernst, Otto 379 Errington, Luise M. 366 Ersch, Johann Samuel 352 Ertl, Emil 109 Etzenmüller, Thomas 344 Eucken, Walter 297 Eulenberg, Herbert 303 Faber, Johann Joachim 26 Fabricius, Ernst 286 Fach, Joseph 305 Faistauer, Anton 302 Fechter, Paul 303f, 333f, 338–40, 343, 403 Fechter-Vockeradt, Emma 317, 333 Feilchenfeldt, Konrad 345, 350 Fehr, Conrad 254 Feiler, Arthur 329, 403 Felixmüller, Conrad 303, 305, 320, 323, 336 Feller, Michael 344 Fellmer, Edith 396 Fellmer, Helmut 395f Felsing, O. (Kupferdruckerei) 232

Feßel, Sonja 218–255 (386–391), 386, 390f Feuchtwanger, Familie 347 Feuerbach, Anselm 220f Feuerbach, Ludwig 71 Feuermann, Emanuel 259 Fichte, Johann Gottlieb 152 Fick, Karl E. 349 Fischer, Johann Friedrich 31, 349, 365 Fischer, Karl 254, 282 Fittschen, Klaus 361, 365f Flaubert, Gustave 338, 342 Fleischanderl, Karin 347 Flick, Familie 347 Flourens, Marie-Jean-Pierre 160 Förster, Emil von 363 Förster-Nietzsche, Elisabeth 369, 379, 400 Fontane, Theodor 60, 77f, 359 Forkel, Johann Nikolaus 156f, 161, 381 Foucault, Michel 156, 381 Franz Josef I., Kaiser von Österreich und König von Ungarn 88 Franz, Helene 325, 403 Franz, Hubert 395 Franz, Louise geb. Gerlach (Schwester von Marie G., geb. Gerlach) 403 Freeman, R.[ichard] B.[roke] 382 Freimark, Peter 351 Freud, Familie Sigmund 347 Freytag, Gustav 8, 60, 66, 72, 358 Friedmann, Ina 369 Friedrich Wilhelm (1831–1888; Kronprinz von Preußen; als Friedrich III deutscher Kaiser und König von Preußen) 81f, 91, 140, 199, 254 Friedrich Wilhelm IV, König von Preußen 66, 71–73, 140, 358 Friedrich VIII, Herzog von Schleswig-HolsteinSonderburg-Augustenburg 140 Friedrich, Caspar David 77 Fritsch, Theodor 393 Führich, Joseph von 360 Fürst und Kupferberg, Maximilian von 380 Fürstenberg, Friedrich 348f, 353 Fujiwara, Yoshie 268 Funck, Heinz 353 Furtwängler, Familie 347 Furtwängler, Adolf 371 Gabelmann, Andreas 388 Gärtner, Carl Friedrich 384

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Register

Galli, Matteo 346 Galliano, Luciana 396, 398 Ganz, Rudolph 396 Gauguin, Paul 326 Geiringer, Karl 161, 382 Gensler, Familie 42, 352 Gensler, Günther 27 Gensler, Johann Jakob 42 Gercke, Achim (Kampfbund für Deutsche Kultur) 394 Gerhard, Eduard 95, 97, 366 Gerlach, Ferdinand und Marie (Eltern von Cornelius G.’s Frau Marie) 89 Gerlach, Marie s. Marie Gurlitt Gerlach, Otto (Bruder von Marie G.) 308, 403 Gerlach, Theodor (Bruder von Marie Gurlitt) 216 Gerlinger, Hermann 388 Gerstenberger, Ursula 74 Gerson, Marie s. Stahr, Marie Ghanbari, Nacim 344, 349, 380 Giacon, Nicoletta 383f Gieseking, Walter 260 Göller, Adolf 107, 111, 114, 373 Goethe, Johann Wolfgang 33, 37, 46, 61, 117, 144, 379 Goethe, Ottilie von 67, 355f, 359 Götz, Helma 392–400 Goldbacher, Alois 367 Goob, Julia (erste Frau von Wolfgang G.) s. Gurlitt Gor(a)litius (Gurlitt), Martinus 6, 13, 345 Grabherr, Gerald 369 Graepler, Daniel 364 Graf, Friedrich Wilhelm 379 Graff, Carl 208 Greenslade, William 382 Grieben, Herr 216 Gröschel, Sepp-Gustav 362f, 365f, 370 Gropp, Birgit 222, 386f, 391–393, 397 Gross, Edgar 359 Grube, Fritz 396 Gruber, Johann Gottfried 352 Gruder-Guntram, Hugo 398 Gülck, Oliver 344 Gurlitt, Agnes / Neste verh. Silten-Gurlitt (1871–1946) 192, 395 Gurlitt, Amadeus (geb. 1953, Sohn von Manfred G. aus vierter Ehe mit Hisako Hidoka) 256, 270, 275f

Gurlitt, Angelina verh. von Weech (1882–1962, Halb-/Schwester von Manfred G.) 257, 267, 270f, 273–276, 397f Gurlitt, Annarella geb. Maria Anna Imhof (1856–1935, Ehefrau von Fritz G.) 6, 188, 207, 213, 221f, 256–258, 261–264, 271, 387, 392–394 Gurlitt, Benita Renate (1935–2012, Tochter von Hildebrand G.) 6, 275f, 399 Gurlitt, Maria Christine Bertha (1830–1897) 47 Gurlitt, Brigitta s. Gitta G. Gurlitt, Carl Christian (1746–1812, Bürger von Leipzig) 29, 348, 351 Gurlitt, Christian (1716–1778, Schneidermeister in Leipzig) 6, 28, 29, 40 Gurlitt, Cornelia („Eitel“, 1890–1919; Tochter von Cornelius II G.) 6, 10,12, 301–343, 402–404 Gurlitt, Gustav Cornelius [I] (1820–1901, Komponist) 6, 7, 30, 39, 43–47, 161, 165, 209, 280, 349, 351–353 Gurlitt, Cornelius [II] (1850–1938, Kunst- und Architekturhistoriker) 6–9,12,13, 57–59, 61, 66f, 70, 77, 83, 88–90, 93, 103, 106f, 109–131, 135, 140, 143, 146, 165, 167, 169, 171, 176, 182f, 186–188, 193, 198, 206–209, 211, 213, 215f, 218, 220, 257, 267, 274f, 282, 292, 302, 309, 323, 325, 330, 336, 338, 340, 344f, 347, 356f, 359–363, 367, 369, 371, 373f, 376–378, 392, 403 Gurlitt, Cornelius [III] (1932–2014, Kunstsammler) 6, 7, 9, 13, 22–25, 275, 312, 323, 344, 402 Gurlitt, Dietrich (1919–2016, Geologe, Sohn von Wilibald G.) 267, 287, 297, 401 Gurlitt, Margarethe Dorothea (1814–1814) 47 Gurlitt, Jan Tycho Eduard (1806–1855) 39, 47 Gurlitt, Elisabeth / Else geb. Lewald (1823–1909, Frau von Louis G.) 6, 8,13; 51–53, 55–61, 65f, 68f, 71f, 80–83, 87, 89, 110, 123, 130, 132, 135f, 138, 140, 167–217, 256, 261f, 264f, 292, 295f, 325, 356, 359f, 373, 376, 384f, 391 Gurlitt, Elise geb. Saxild (1817–1839, erste Frau von Louis G.) 6, 49, 66 Gurlitt, Elizabeth verh. Baars (geb. 1949, Enkelin von Hans G.) s. Baars Gurlitt, Else (1855–1936, Tochter von Elisabeth und Louis G.) 6, 8, 12, 58f, 61, 66f, 81, 135, 140f, 165, 167, 169–217, 265, 275, 282, 325, 354f, 358f, 367, 376f, 383–385

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Die anderen Gurlitts

Gurlitt, Else (Tochter von Otto und Rose G.) 205 Gurlitt, Else (1911–1993, Tochter von Susanna und Hans G., Mutter von Elizabeth Baars) 265f, 273, 276, 277, 394f, 398f Gurlitt, Emanuel (1826–1896, Bruder von Louis G.; Bürgermeister von Husum und Dichter) 6, 13, 47, 69, 163 Gurlitt, Emilie / Emmy geb. Ludolf verh. Meyer, verh. Rogge (zweite Ehefrau von Ludwig G.) s. Rogge Gurlitt, Emma Sophie Albertine (1822–1888) 47 Gurlitt, Ernst August (1748–?, Sohn von Carl Christian G.) 348 Gurlitt, Erwin (1893–1959, Architekt, ältester Sohn von Ludwig G.) 193, 211, 268, 273, 396 Gurlitt, Emilie Fanni (geb. und gest. 1814) 47 Gurlitt, Friedemann (1920–1957, Sohn von Wilibald G.) 267, 285, 289, 297, 401 Gurlitt, Adolf Friedrich (geb. und gest. 1820) 47 Gurlitt, Friedrich Rudolph (Sohn von Johann Georg G.) 29 Gurlitt, Fritz / Friedrich (1853–1893, Sohn von Louis und Elisabeth Gurlitt) 6–9, 58–61, 66f, 69. 82f, 90, 108, 135, 139f, 165, 167, 169, 171, 173, 177, 182f, 187f, 204, 207, 213, 218, 220–223, 256f, 261f, 271, 358, 360, 383, 388, 393, 395, 399 Gurlitt, Fritz (Verlag und Kunsthandlung) 184, 229–231, 233, 247, 251, 253, 302, 359, 386f, 389, 391 Gurlitt, Gabriele (1922–2003, Tochter von Wilibald G.) 285 Gurlitt, Gerd (1916–1973, Sohn von Manfred G. aus erster Ehe mit Maria Therese Kilby) 256, 258, 263, 266, 270f, 273, 392, 395f, 398 Gurlitt, Gertrud geb. Darmstaedter (1894–1992, Ehefrau von Wilibald G.) 267, 280, 285, 292, 330 Gurlitt, Gitta / Brigitta (1889–1956, Tochter von Wilhelm G.) 87, 99, 190, 212f, 271, 302, 307, 367, 397 Gurlitt, Wilhelm Gustav (1810–1812) 47 Gurlitt, Hans / Johannes (1857–1928, jüngster Sohn von Louis und Elisabeth G., verh. mit 1. Marie, geb. Lehmann, und 2. Susanna) 6, 8, 58f, 66f, 90, 135, 167, 170f, 173f, 181, 189–190, 192, 195, 213, 216, 325, 358, 360, 386 Gurlitt, Martin Wilhelm Heinrich (1800–1803) 47

Gurlitt, Christine Helene geb. Eberstein (1783– 1857; zweite Ehefrau von Johann August Wilhelm G., Mutter von Louis G.) 27, 41–43, 53, 55, 164, 166, 171 Gurlitt, Helene geb. Schrotzberg (1863–1917, Ehefrau von Ludwig G.) 6, 141, 143f, 147, 151, 189, 210–212, 216, 385 Gurlitt, Helene geb. Hanke (1895–1968, Ehefrau von Hildebrand G.) 6, 9, 267, 275f Gurlitt, Helma / Wilhelmina (1894–1976, Tochter von Wilhelm G.) 87, 99, 190, 212, 362 Gurlitt, Helmut (1895–1973, zweiter Sohn von Ludwig G.) 189, 192, 211, 270, 278, 399 Gurlitt, Hildebrand („Putz“; 1895–1956, Sohn von Cornelius II G.) 6, 7, 9, 10, 13, 15, 22–25, 68, 211, 267, 270f, 274f, 302–304, 309–311, 314, 323, 325, 327, 330f, 335, 339–341, 343–345, 347f, 351, 356f, 392f, 395–397, 403 Gurlitt, Hisako geb. Hidoka (vierte Ehefrau von Manfred G.) s. Hidoka, Hisako Gurlitt, Johann Friedrich Karl (1802–1864, Pastor in Hamburg) 351 Gurlitt, Johann Georg (?–1790, verh. mit Johanna Christiane Carnal) 6, 28 Gurlitt, Johann(es) Gottfried (1754–1827, Philologe und Lehrer in Hamburg) 6, 22, 26, 29–39, 47, 95, 142, 348–351, 365 Gurlitt, Johanna Elisabeth Mancy (1797–1803) 47 Gurlitt, Johanna Sophie 29 Gurlitt, Johannes, Sohn von Louis und Elisabeth G. s. Hans G. Gurlitt, Julia geb. Goob (erste Ehefrau von Wolfgang G.) 218, 249, 391 Gurlitt, Julie geb. Bürger (1823–1844; zweite Ehefrau von Louis G.) 6, 49, 66f, 87, 130, 166, 171, 353, 356 Gurlitt, Käthe (zweite Ehefrau von Wolfgang G.) 218 Gurlitt, Louis (1812–1897) 6–9,13, 23, 27, 30, 40, 41, 43f,, 46f,, 49–56, 58f, 61, 65–85, 87f, 91f, 110, 123, 130, 132, 134f, 139–141, 147, 153, 155–173, 176–218, 220, 260f, 271, 292, 295, 324f, 344, 349, 351–355, 357–363, 372f, 375f, 379, 381–385, 400 Gurlitt, Ludwig (1855–1931) 6, 8, 10, 30, 40, 42, 43, 51, 58f, 61, 66–70, 72,75, 83–85, 89, 93f, 101–103, 106, 110f, 132–154–170, 172–174, 177, 181–183, 186–193, 195, 198, 204, 207–209, 211–213, 215f, 257, 267, 270, 282,

414

Register

290, 325, 345, 347, 351–355, 358, 360, 362f, 365, 367–370, 372, 375–386, 396, 400 Gurlitt, Ludwiga s. Wiga G. Gurlitt, Manfred (1890–1972, vermutlich Sohn von Willy Waldecker und Annarella G., verh. mit den Sängerinnen 1. Maria Therese Kilby, 2. Maria Hartow, 3. Wiltrud Hahn, 4. Hisako Hidoka) 6, 252, 254f, 256–279, 392–400 Gurlitt, Margarete (1885–1944; Tochter von Fritz G.) 207, 257, 267, 397 Gurlitt, Maria Christiane Henriette (1796–1870) 47 Gurlitt, Maria Dorothea geb. Illig (Frau von Christian G., Bürger von Leipzig) 348 Gurlitt, Marie / Mariechen geb. Gerlach (1859– 1949, Ehefrau von Cornelius II G.) 6, 90, 120, 211, 214, 216, 267, 280, 302, 312f, 325, 333, 403 Gurlitt, Marie geb. Lehmann (erste Ehefrau von Hans G.) 213, 216 Gurlitt, Mary geb. Labatt (1857–1940, Ehefrau von Wilhelm G.) 87, 90, 93, 98f, 112, 116, 120f, 142, 187, 190, 205, 208, 210f, 217, 363, 374, 385, 392, 395, 403 Gurlitt, Mathilde (1822–1897) 47, 210 Gurlitt, Mercedes (–2007, Stief- und Schwiegertochter von Ludwig G.) 62, 170, 176, 178, 185f, 190, 353, 378, 383–386 Gurlitt, Otto (1848–1905; Sohn von Louis und Elisabeth G.) 6, 8, 13, 57–59, 61, 66f, 80, 90, 110, 120, 135, 140, 167, 171, 176, 181f, 204f, 217, 325, 359, 363 Gurlitt, Renate Benita s. Benita G. Gurlitt, Rose geb. Pocket (Ehefrau von Otto Gurlitt) 205 Gurlitt, Rose (Tochter von Otto und Rose G.) 205 Gurlitt, Rosina 29 Gurlitt, Susanna (zweite Ehefrau von Hans / Johannes G.) 260, 265, 267, 276, 393, 398 Gurlitt, Johann August Christian Theodor (1815–1821) 47, 265 Gurlitt, Uta (geb. 1928, verh. Werner, Tochter von Wilibald G.) 285, 296, 402 Gurlitt, Wiga / Ludwiga (1891–1981, Tochter von Wilhelm G., verh. Bornhardt) 87, 90, 99, 190, 212, 307, 367 Gurlitt, Gottlob (Gottlieb) Wilhelm (1751–1793, Golddrahtzieher, Vater von Johann August Wilhelm G.) 6, 29f, 40, 165, 348

Gurlitt, Johann August Wilhelm (1774–1855, verh. mit Christine Helene Eberstein, Vater von Louis Gurlitt) 6, 22, 27, 29f, 40–47, 53, 55, 66, 165f, 348, 352 Gurlitt, Karl Bernhard Wilhelm (1817–1863) 47 Gurlitt, Wilhelm (gen. Memo; 1844–1905) 6, 8, 53, 56f, 59f, 62, 65, 68f, 73, 79–81, 83, 86–121, 132, 135, 138–140, 142f, 147, 163–165, 167, 170f, 173, 176f, 179–183, 185, 187, 189f, 194–217, 271, 302, 325, 353–355f, 358–374, 377f, 384f, 392, 395 Gurlitt, Wilhelmina s. Helma G. Gurlitt, Johanna Elisabeth Wilhelmine (1803–1869) 47 Gurlitt, Wilibald („Ebb“, 1889–1963) 6f, 9, 12, 213f,, 267f, 270, 274, 276, 280–300, 302f, 325, 330–332, 339, 344, 393, 398, 400–403 Gurlitt, Winfried (1902–1982, jüngster Sohn von Ludwig G.) 62, 189f, 383, 385 Gurlitt, Wolfgang (1888–1965; Sohn von Fritz G.) 6, 188, 218–251, 253f, 257, 260, 262–264, 267, 270f, 273–276, 302, 344, 348, 386–391, 393, 397f, 402 Gutscher, Johann 372 Habermann, Herr (Damenmode) 179 Habich, Theodor 362 Habicht, Christian 369, 373 Hackert, Jacob Philipp 77 Haeckel, Ernst 159, 382 Händel, Georg Friedrich 299 Hagedorn, Volker 402 Hagen, Karl Gottfried 353 Hahn, Erich 132, 345, 377 Hahn, Wiltrud (dritte Ehefrau von Manfred Gurlitt) 266, 270, 394 Hallberger, Eduard von 63, 355 Hamburger, Hilde 304 Hammer, Guido 82, 360 Handschuck, Angelika 362 Haller, Carl 364 Haller, Lea 344 Hanke, Helene s. Helene Gurlitt Harbutt Dawson, William 375 Harich-Schneider, Eta 396 Hartmann, Ludo Moritz 370 Hartow, Maria eigentl. Schmidt (zweite Ehefrau von Manfred G.) 258, 263, 392, 394 Harwood, Ronald 10

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Die anderen Gurlitts

Hasse, Karl 283 Hauptmann, Gerhart 258 Hauptmann, Karl 258 Hausenstein, Wilhelm 389 Hausmann, Ulrich 361 Haydn, Joseph 299 Hebbel, Friedrich 7f, 66–68, 70, 73, 84, 136, 144, 146f, 151, 165, 295, 357f, 360, 376, 379 Hebel, Johann Peter 308 Heberdey, Rudolf 373 Heckel, Erich 218, 221, 302 Hedinger, Bärbel 355, 358, 375f, 383 Heftrich, Eckard 346 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 71, 111, 120, 285, 373 Heidegger, Martin 287–294, 289, 297, 400f Heil, Johannes 345, 348 Heine, Heinrich 381 Heinersdorff, Gottfried, s. Puhl & Wagner Heinrich, Bert 364 Helfft, Julius 359 Hellwig, Karin 360 Hendejock, Fred 329 Henneberg, Claus H. 393 Hensel, Wilhelm 51 Herder, Johann Gottfried 144, 379, 381 Hering, Ewald 159, 382 Hermann, Gottfried 362 Herodot 33, 350 Herondas 102 Herrmann, Hilde 22, 347, 356 Herwig, Betty 304 Hesiod 32 Hesse, Hermann 134 Hettner, Hermann 67, 357 Heumann, Konrad 379 Heuser, Klaus 15 Heuss, Theodor 231, 235, 389 Heye, Uwe-Karsten 346 Heyne, Christian Gottlob 34f, 361, 366 Hickettner, Clara 195 Hickley, Catherine 23, 345, 347, 357, 396 Hidoka, Hisako (vierte Ehefrau von Manfred G.) 256, 270–272, 275f, 278 Hindenburg, Paul von 291 Hindemith, Paul 258, 299 Hinkel, Hans (SS-Brigadeführer) 264, 394 Hipp, Carl Friedrich 38

Hirschfeld, Otto 98, 366, 368, 370 Hitler, Adolf 7, 9, 13, 23, 131, 227, 291f, 294, 297–299, 344, 347, 351, 356f., 392, 396 Hoeck, Karl 96, 365 Höflechner, Walter 367f, 371 Hoelscher, Ludwig 270 Hölzel, Emma 198 Hölzel, Familie 198, 201 Hoffmann, Meike 23, 344, 347, 351, 356f, 392f, 396f Hofmann, Ludwig von 109 Hofmannsthal, Hugo von 110, 133, 140, 145–147, 150, 153, 186, 189f, 372, 376f, 379f, 383–385 Holbein der Jüngere, Hans 15 Holler, Alfred 329 Holstein, Hugo 349f Holtermann, Martin 366 Holzer, Ernst 369 Homer 32f, 101, 150, 350 Horaz 34, 91, 350, 381 Hotho, Heinrich Gustav 373 Houellebecq, Michel 346 Huch, Felix 134 Hübner, Emil/Aemilius 92, 363 Hüneke, Andreas 347 Humboldt, Alexander von 66, 70, 72f, 357f Humboldt, Wilhelm von 285 Humperdinck, Engelbert 258, 392 Husserl, Edmund 289f, 401 Hustig, Ilse (Dresden 1885–1962) 302–304 Huysmans, Joris-Karl 219 Ibsen, Henrik 257 Imhof, Maria Anna Karoline s. Annarella G. Imhof, Max (Schweizer Bildhauer, Vater von Annarella G.) 257, 265 Imorde, Joseph 375 Isepp, Sebastian 302 Jacoby, Johann 54, 362 Jäckle, Erwin 380 Jahn, Johannes 403 Jahn, Otto 86, 91f, 95, 100, 362, 364f Janáček, Leoš 258, 277 Jankevičiuté, Giedré 321 Janthur, Richard 341 Jens, Inge 345 Johannsen, Wilhelm 158, 382 John, Eckhard 402 Jungbluth, Rüdiger 346f Jungheinrich, Hans-Klaus 393, 400

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Register

Köhler, Adolf 396 Köhler, Elisabeth 361 Königstein, Horst 346 Köpf, Peter 347 Koerner, Bernhard 348 Körner, Theodor 140 Kohle, Hubertus 356 Koiner, Gabriele 363 Kokoschka, Oskar 218, 221, 232, 249f, 302, 333, 391 Koldehoff, Stefan 346, 348, 402 Kolig, Anton 302, 306, 327 Kollwitz, Käthe 336 Konoe, Hidemaro 265, 269, 395 Kontze, Arne 186, 347, 376–378, 383–385 Kopitzsch, Franklin 350f Korngold, Erich Wolfgang 277 Korte, Hermann 378 Koschorke, Albrecht 344 Kotzebue, August 33 Krammer, Sabine 368 Krauseneck, Wilhelm von 54 Krebs, Gerhard 396 Kreul, Andreas 356, 359 Krierer, Karl Reinhard 364, 366, 368f Kroll, Jürgen 382 Krüger, Günter 388 Krupp, Familie 382 Krupp, Alfred 382 Krupp, Friedrich 382 Krupp, Friedrich Alfred 382 Kubin, Alfred 218, 390 Kubitschek, Wilhelm 101 Kugler, Franz 357 Kuhn, Nicola 23, 344, 347, 351, 356f, 392f, 396f Kulenkampff, Georg 259 Kupfer, Else 232 Kurella, Hans 10, 382 Kurig, Hans 350f Kuster, Friederike 344 Labatt, Mary s. Mary Gurlitt Lachmann, Karl 362 Lackmann, Thomas 347 La Fontaine, Jean de 201 Laforgue, Jules 386 Lagarde, Paul de 131, 133, 145, 148f, 151, 283, 379 Lahme, Tilmann 21, 347 Lahsen, Hennie 185 Lamarck, Jean-Baptiste de 159, 382

Jussen, Bernhard 382 Juvenal 91 Kagel, Mauricio 277 Kainrath, Barbara 369 Kallimachos 362 Kaminski, Heinrich 299 Kamlah, Wilhelm 284 Kandinsky, Wassily 326 Kanoldt, Alexander 254 Karajan, Max Theodor von 367, 372 Kaufhold, Enno 391 Kaulbach, Wilhelm 30 Keilhacker, Martin 370 Keim, Wolfgang 376 Keller, Albert von 357 Keller, Otto 367 Kelter, Edmund 350f Kemper, Herwart 376 Kergel, Wilhelm 367 Kernbauer, Alois 368 Kessler, Harry Graf 145 Kestenberg, Leo 282, 400 Kilby, Maria Therese (erste Ehefrau von Manfred G.) 258, 263, 265f, 270, 273, 392 Kilger, Andres 74 Kinder, Anna 15–25 (345–348), 346 Kindervater, Christian Victor 349 Kirchhoff, Arthur 369 Kirchner, Ernst Ludwig 218, 221, 302, 336, 343, 390f Kittelmann, Jana 66–85 (355–360) Kittler, Friedrich A. 380 Kitzbichler, Josefine 365 Klapisch-Zuber, Christine 344 Klauck, Hans-Joseph 364 Klein, César 220, 223–225, 227, 235–237, 240, 242f, 248, 251, 253, 387–391 Klein, Christian 344, 357, 360 Klein, Eva 371f Klein, Kerstin 347 Kletzer, Meister 41f Klinger, Max 109 Klinkhardt & Eyssen 122 Klopstock, Friedrich Gottlieb 37 Kluckhohn, Paul 295, 402 Knoll, Joachim H. 348 Knop, Guido 330 Koch, Iris 361, 363f, 367f, 370 Koch, Rainer 397

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Die anderen Gurlitts

Lamm, Susanne 372 Lampe, Adolf 297 Lamprecht, Karl 283 Langbehn, Julius 131, 133, 141, 151, 169, 185f, 283, 385, 400 Lange, Käthe (zweite Ehefrau von Wolfgang Gurlitt) s. Käthe G. Lasker-Schüler, Else 305 Lassalle, Ferdinand 60 Laube, Heinrich 357 Laučkaité(-Surgailiené), Laima 321, 328f, 336, 339 Lederer, Dr. 211 Lederer, Fräulein 197 Leembruggen, Ilse von geb. von Lieben (1873–1961) 189, 192f, 386 Lehner, Manfred 367 Leibl, Wilhelm 221 Leisching, Nathalie 198, 201 Leithäuser, Gustav 364 Lenbach, Franz von 30, 221, 393 Lenné, Peter Joseph 51 Leo, Friedrich 395f Lenz, Jacob Michael Reinhold 260, 272, 376, 398 Lepper, Marcel 13 Lepsius, Reinhold 150 Lepsius, Sabine 150 Lesser Ury, Leo 221 Lessing, Carl Friedrich (1808–1880; Historienund Landschaftsmaler) 83, 209 Lessing, Gotthold Ephraim 101, 117, 349, 379 Leutsch, Ernst von 91, 96 Levy, Evonne 122–131 (374f), 374f Lewald (bis 1831 Marcus), David (1787–1846; Vater von Fanny Lewald) 48, 51, 171, 261, 295 Lewald, Elisabeth (1823–1909, Schwester von Fanny L.) s. Elisabeth / Else G. Lewald, Elisabeth geb. Althaus (Ehefrau von Otto Lewald) 60 Lewald (bis 1831: Marcus), Fanny verh. Stahr (1811–1889) 6, 8f,13, 48–68, 87, 112, 138, 171, 176, 178f, 182f, 206–208, 213, 353, 355f, 358f, 362, 373, 383f, 391 Lewald, Felix (geb. 1855; Sohn von Otto Lewald) 60 Lewald, Henriette (1826–1886; Schwester von Fanny Lewald) 51, 171, 175, 182, 384 Lewald, Marie (1825–1905; Schwester von Fanny Lewald) 175, 182, 384

Lewald, Martha (geb. 1852; Tochter von Otto Lewald) 60 Lewald, Minna / Wilhelmine verh. Minden (1821–1891; Schwester von Fanny L.) 51, 54, 180, 196, 198f Lewald, Moritz (1815–1846; Bruder von Fanny L.) 51 Lewald, Moritz Otto Fidelio (geb. 1857; Sohn von Otto Lewald) 60 Lewald, Otto (1813–1874, Bruder von Fanny L.) 51, 54, 59f, 65, 188, 354 Lewald, Paul 216 Lewald, Theodor (1860–1947; Sohn von Otto L., Neffe von Fanny L.) 9, 13, 60, 394 Lewald, Zippora (Mutter von Fanny L. und Elisabeth G.) 48, 52, Lewes, George Henry 61 Lewin-Funcke, Arthur 254 Lichtenberg, Fräulein 215 Lichtenstein, August Heinrich (1753–1799, Rektor des Johanneums in Hamburg) 37 Lichtwark, Alfred 185, 209, 221, 386 Liebermann, Max 70, 218, 221, 254, 393 Lienert, Matthias 344f, 347, 361, 373–375, 377 Lier, Hermann Arthur 357 Lietz, Hermann 378 Lindner, Erik 347 Lindau, Rudolf 64, 355 Lipmann-Wulf, Friedrich Wilhelm (gest. 1941) 254f Lipmann-Wulf, Hans 254f Lipmann-Wulf, Lucie (1878–1941) 252–255 Lipmann-Wulf, Peter 254f Liszt, Franz 60, 258 Livius, Titus 350 Lohner-Urban, Ute 363 Lolling, Habbo Gerhard 94f, 364 Lombroso, Cesare 160, 382 Lorenz, Thuri 363, 367 Lortzing, Albert 46 Lubitz, Katja 365 Ludwig I, König von Bayern 72 Ludwig I, König von Portugal 81, 360 Ludwig IV, Großherzog von Hessen 82 Ludwig XIV, König von Frankreich 126f, 375 Ludwig, Carl (Physiologe, 1816–1895) 7 Ludwig, Otto 357 Lübke, Wilhelm 122, 124, 130, 375

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Register

Metz, Friedrich 296, 402 Meusel, Dr. (Augenarzt von Else G.) 176f, 179, 195f Meyer, Eduard 365 Meyer, Wilhelm (Astronom) 190 Michaelis, Adolf 366, 371 Michelangelo 121, 127, 139, 375, Milchhöfer, Arthur 364 Minden, Familie 201 Minden, Else (1853–; Tochter von Minna / Wilhelmine M.) 180, 196, 198f, 384 Minden, David (1816–1888; Gutsbesitzer, verh. mit Minna Lewald) 199 Minden, Heinrich (geb. 1853, Sohn von Minna / Wilhelmine, Neffe von Fanny Lewald, Verleger) 199 Minden, Minna / Wilhelmine geb. Lewald (1821–1891, Schwester von Fanny Lewald) s. Lewald, Minna Mindt, Nina 365 Minnich, Walter 386 Misch, Georg 290, 401 Modl, Daniel 367 Moellendorff, Wilhelm von 292f Mommsen, Familie 347 Mommsen, Theodor 357, 362f, 366, 368, 370 Monet, Claude 78, 221, 343 Morgenstern, Christian 72 Moritz, Karl Philipp 348 Morton, Frederic 347 Moulden, Ken 346 Mozart, Wolfgang Amadeus 258, 299, 392 Muck, Karl 258 Müller, Carl Ottfried 365 Müller, Christine von 351 Müller, Conrad Felix s. Felixmüller Müller, Cornelius 350 Müller, Hanna 303 Mueller, Otto 218, 221, 302 Müller-Blattau, Josef 296f, 402 Müller-Luckner, Elisabeth 379 Müller-Wille, Staffan 382 Munch, Edvard 218, 221, 249, 253, 391 Musil, Robert 134 Muthesius, Hermann 122 Nadar 78 Nadler, Hans 302, 304, 323, 326 Napoleon Buonaparte 38, 142, 165, 263 Natorp, Paul 290, 401

Lück, Robert 143, 378 Lützow, Karl von 106 Lulinska, Agnieszka 305 Lullies, Reinhard 88, 361, 364 Luther, Martin 129 Lutosch, Heide 346 Macho, Thomas 20, 346 Mack, Franz 29 Maier, Hans 402 Maisch, Herbert 272, 398 Makart, Hans 115 Mann, Familie 21, 346f Mann, Heinrich 134 Mann, Katia 15 Mann, Thomas 15–25, 160, 167, 345–347, 395 Manet, Édouard 221 Manning, Till 346 Mannlich, Johann Christian 30 Marc, Franz 347 Marcellus, s. Nonius Marcus (Markus), Familie, ab 1831 Lewald Marcus, David s. Lewald, David Marcus, Zip(p)ora geb. Assur / Assing (1790–1841) s. Lewald, Zippora Marquardt, Joachim 90, 362 Márquez, Gabriel García 346 Marstrand, Wilhelm 66, 358 Martens, Wolfgang 348 Martin, Bernd 396, 401 Martinsen 216 Marx, Friedhelm 346 Massow, Julius Eberhard von 35 Matisse, Henri 336, 343, 347 Matthisson, Friedrich 33, 349f Matz, Friedrich 94, 97, 364 Mauritsch, Peter 363f Mauthner, Fritz 152, 381 May, Karl 149f, 380 Mayarde, Professor (Lehrer von Else G.) 202 McKay, Dwight 9 Meid, Hans 248 Meidner, Ludwig 303, 341 Meier, Oliver 344 Mendel, David (getauft Johann Wilhelm Neander) 38 Mendelssohn, Familie 347 Mensdorff, Hugo Graf 372 Menzel, Adolph von 78 Mertens-Schaaffhausen, Sibylle 353

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Die anderen Gurlitts

Parnes, Ohad 345f, 381f Paul, Cedar 375 Paul, Eden 375 Paul, Jürgen 124, 347, 374f Pauli, Pastor, vollzieht die Trauung von Louis G. mit Elisabeth Lewald 54 Pausanias 95, 102, 104f, 369, 373 Pechstein, Max 218, 220f, 223f, 227–231, 235, 245, 248, 251, 253, 302, 336, 386–389 Peinen, Bernhard von 401f Penderecki, Krzysztof 277 Perikles 96, 105 Perls, Hugo 227 Pestalozzi, Johann Heinrich 144, 152 Petersen, Eugen 362 Petersen, Uwe 351 Petronius 94, 365 Pfempfert, Franz 378 Pfitzner, Hans 299 Pforschl, Dr. 63 Phidias 96, 101, 105f, 366 Philostratos 95, 101 Picasso, Pablo 326, 336f, 343, 347 Pichler, Friedrich 101, 106, 368 Pilz, Holger 347 Pindar 34 Pissaro, Camille 221 Planck, Familie 21, 347 Plato 32 Plautus 91, 94, 362f, 365, 373 Pleschinski, Hans 15, 345 Pochat, Götz 367 Pochmarski, Erwin 362, 367 Poelzig, Hans 122 Pohl, Max 152 Pohl (Professor; Lehrer von Else G.) 202 Porten, Henny 248 Portz, Hubert 301–321 (402f), 322–324, 327, 333, 335, 337, 341f, 403 Praetorius, Michael 284f, 287, 290f, 400 Praxiteles 100 Precht, Friedrich 71, 357 Pringsheim, Klaus 395 Puccini, Giacomo 271, 277 Pufendorf, Astrid von 347 Puhl & Wagner 228, 230f, 243, 251, 388 Purser, Louis Claude 364 Raabe, Peter 264

Naumann, Friedrich 151 Neander, Johann Wilhelm s. Mendel, David Negendanck, Ruth 402 Nerdinger, Winfried 387–389 Neumann, Carl W. 382 Nicolai, Carl 221 Nicolaysen, Rainer 351 Niedecken-Gebhard, Hanns 303 Niemeyer, Wilhelm 403 Nietzsche, Friedrich 103, 133, 144, 285, 369, 379, 381 Nissen, Heinrich 100, 367 Nohl, Herman 284f, 290, 401 Nolde, Emil 343 Nonius Marcellus 364 Nono, Luigi 277 Nordau, Max 158, 382 Nowak, Claudia 344 Nowak-Thaller, Elisabeth 219, 397, 402 Ocherbauer, Heidetraut 371 Odenthal, Frank 322–343 (403) Oehler, Max 379 Oehlkers, Friedrich 296 Oehmke, Ralf 346, 348 Oelkers, Jürgen 376 Oetker, Familie 21, 347 Offenbach, Jacques 260 Oncken, Hermann 283 Oppenheimer, Felix von 145, 181, 186, 377, 383f Oppenheimer, Yella (Gabriele) von 141, 169, 172, 181, 186, 188, 193, 267, 377, 379, 383f, 396 Oppenheimer, Hermann von (Sohn von Felix O.) 186, 385 Oppenheimer, Ludwig von 396 Oppenheimer, Mysa von 383f Orth, Karin 402 Osborn, Max 220, 227–229, 232, 237, 243, 248, 254, 386, 388–390 Osthaus, Karl Ernst 387 Ott, Hugo 401 Otto, Berthold 150f, Overbeck, Johann Friedrich 360 Overbeck, Johannes 365 Paionios 100, 105f, 365 Pàl, Hugo 224 Palladio, Andrea 126f, 375 Palmer, Dr. Otto 192 Pannwitz, Rudolph / Rudolf 133, 150–152, 378–380 Pantzer, Peter 396

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Register

Rabany, Charles 382 Racine, Jean-Baptiste 374 Raff, Georg Christian 57 Raffael 121 Rahl, Carl 55 Ramberg, Arthur 29 Range, Thomas 347 Ranke, Johannes 368 Ranke, Leopold von 130 Raulff, Ulrich 13 Redeker, Martin 382 Reemtsma, Familie 21, 347 Reger, Max 284, 294, 299 Reich, Karin 350 Reichel, Anton 372 Reidy, Julian 346 Reifferscheid, August 91 Reimer, Uwe 351 Rein, Wilhelm 378 Reinhardt, Max 260 Reinhardt, Volker 348 Rembrandt 185 Remy, Maurice Philip 330, 333, 336, 343f Renner(-Henke), Ursula 6–14 (344f), 132–154 (376–381), 325f, 334–336, 376, 385, 403 Renoir, Auguste 221 Resewitz, Friedrich Gabriel 32, 34, 39, 349 Reuther, Oscar 361 Revett, Nicholas 369 Rheinberger, Hans-Jörg 382 Richter, Emil (Kunstsalon) 302, 304, 402 Richter, Ludwig 77 Rickert, Heinrich 286 Riegl, Alois 122, 124f., 374 Riehl, Wilhelm Heinrich 10 Riemann, Hugo 283, 285, 289, 400 Riess, Frieda (Fotoatelier) 388–390 Rilke, Rainer Maria 134 Ringer, Fritz K. 367 Ritschl, Friedrich 91, 362, 364 Ritter, Ellen 379 Ritter, Gerhard 297, 402 Ritzenberg, Ferdinand von 53 Ritzenberg, Jacobine von, geb. Krauseneck 53 Robert, Carl 371 Roeck, Bernd 24, 348 Röhrig, Paul 370

Rogge, Emilia/Emilie geb. Ludolph verw. Meyer (zweite Ehefrau von Ludwig G.) 143, 190, 192, 378, 383 Romansky, Ljubomir 272 Ronald, Susan 23, 347 Roper, Katherine 374 Roscher, Helmut 349 Rosegger, Peter 108, 308 Roselius, Ludwig 397 Rosenhagen, Hans 70, 357 Rosenkranz, Karl Friedrich 373 Roskothen, Johannes 346 Rossmann, Andreas 345, 347 Rothenberg, Jacob 369 Rothacker, Erich 295, 402 Rothschild, Familie 21, 347 Rottmann, Carl 72, 75f, 357 Roudinesco, Elisabeth 344 Rousseau, Jean-Jacques 147, 152, 202 Rousseau, Henri 326 Rubens, Peter Paul 15 Rumford, Benjamin Thompson, Graf 351 Runge, Dr. (Schulleiter) 350 Ruskin, John 120 Sachs (Onkel von Fanny Lewald und Elisabeth G.; Trauzeuge von Louis und Elisabeth G.) 54 Sachse, Louis (Kunsthändler und Galerist) 69 Saint-Genois, Gabriele Eleonore Josephine Gräfin von 8 Salm-Reifferscheidt, Familie 87, 102, 172, 203–205, 208, 363f Salm-Reifferscheidt, Altgraf und Fürst Hugo zu 8, 86, 93, 98, 142, 181, 204 Salm-Reifferscheidt, Fürstin (Altgräfin) Elise zu, geb. Prinzessin Liechtenstein 8, 93, 185, 203, 213 Salm-Reifferscheidt, Minka / Marie (Tochter von Hugo und Elise) 172, 181f, 188, 199–201, 203f, 213 Salm-Reifferscheidt, Hugo (Bruder von Minka Reifferscheidt-Salm) 213 Saria, Balduin 370 Sauer, Joseph /Josef 292, 294 Sauer, Wilhelm 284 Sauppe, Hermann 86, 91, 362 Saxild, Elise s. Gurlitt, Elise Schad, Christian 218 Schad-Rossa, Paul 109f, 371f Schadewaldt, Wolfgang 292f

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Die anderen Gurlitts

Schrotzberg, Franz 147 Schrotzberg, Helene s. Helene G. Schütz, Heinrich 299 Schütze, Stephan 33, 349f Schulte, Eduard (Kunsthandlung in Düsseldorf) 80 Schulte-Wülwer, Ulrich 355f, 358f, 375f, 383–385 Schulz, Arthur 152 Schulze, Johannes 362 Schumacher, Fritz 122 Schuster, Gerhard 380 Schwabe, Gerhard 402 Schwanenfeld, Emma von 353 Schwartz, Paul 350 Schweighäuser, Familie 382 Schweitzer, Albert 286 Schwerdt, Ulrich 376 Schwind, Wolfgang von 268, 396 Sedlmayr, Hans 374 Seebach, Astrid 179 Seewitz, Joachim von 254 Seidl, Gabriel 187 Seifert, Else 132, 191 Seitter, Walter 381 Sellner, Gustav Rudolf 399 Semon, Richard 382 Seuffert, Bernhard 103, 363 Shakespeare, William 331 Sichtermann, Hellmut 361 Sieg, Ulrich 379 Siercke, Alfred 272 Silberner, Edmund 362 Silies, Eva Maria 346 Sillig (Lehrer von Else G.) 195 Silten, Tilly 395f Silten-Gurlitt, Agnes / Neste geb. Gurlitt s. Gurlitt, Agnes Simmel, Georg 150 Simon, Heinrich (Vetter von Fanny Lewald) 50 Simon, Manfred 398 Simon, Marga 395 Sinn, Ulrich 364 Sinzheimer, Elise 254 Sinzheimer, David 254 Sirota Gordon, Beate 396 Sisley, Alfred 221 Sittmoser, Dr. 213 Skriabin, Alexander 277 Slevogt, Max 218, 221

Schallmayer, Egon 367 Schasler, Max 115, 373 Schauwecker, Detlev 396 Scheffler, Karl 387 Scheibe, Wolfgang 376 Schelsky, Helmut 346 Schenker, Karl 248f Schenkl, Heinrich 367 Scherenberg, Ernst 125 Scheuer, Helmut 344 Scheumann, Rose 302, 304, 326 Schiele, Egon 218, 221, 386 Schiering, Wolfgang 88, 111, 361, 364 Schiller, Friedrich 33, 37, 117, 378f Schirmer, Johann Wilhelm 357 Schleiermacher, Friedrich 382 Schlemmer, Oskar 391 Schliemann, Heinrich 88, 101, 104, 106, 361, 368–370 Schliepmann, Hans 387 Schloesser, Frau (Bekannte von Hildebrand G.) 333 Schlüter, Andreas 128 Schlüter, Marguerite 345 Schmatz (Lehrer von Else G.) 195 Schmid, Frau Dr. 216 Schmid, Michael 382 Schmid-Blasius, Dr. 211 Schmidt-Burkhardt, Astrit 345 Schmidt-Rottluff, Karl 218, 221, 254, 302, 329, 333, 403 Schmidts, Ludwig 382 Schmitz, Dora L. 374 Schmoll von Eisenwerth, Karl 329 Schmutz, Hemma 219, 397, 402 Schneider, Gabriele 48–65 (353–355), 353f Schneider, Katja 388 Schneider, Otto 90, 362 Schönberg, Arnold 258, 277 Schoeps, Julius H. 347 Scholl, Christian 357 Schopenhauer, Adele 67 Schopenhauer, Arthur 350 Schrader, Hans 373 Schreker, Franz 258, 277 Schrötter[-Kristelli], Alfred von 109 Schrotzberg, Schwestern 212 Schrotzberg, Eleonore (Schwester von Ludwig G.s Frau Helene Sch.) 189, 212, 216, 385

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Register

Streiter, Cornelius 399 Struck, Hermann 329 Strzygowski, Josef 108, 110, 371f Stuart, James 104, 369 Stubbe da Luz, Helmut 351 Stuck, Franz 30, 221 Suchy, Irene 395f Szell, George 396 Szemethy, Hubert 363, 367–372 Sybel, Heinrich von 130

Soika, Aya 388–390, 403 Solzbacher, Claudia 376 Sommer, Robert 159f Specht, Heike 347 Speer, Albert 357, Spiero, Heinrich 67, 353, 355 Spitta, Philipp 382 Spitzer, Dorothea 341 Spitzner, Ursula 344 Spoerhase, Carlos 366 Spranger, Eduard 283 Springer, Anton 71, 122, 357 Stahmer, Heinrich Georg 269 Stahr, Ado (Sohn von Adolf St. und Marie geb. Krätz) 60 Stahr, Adolf (1805–1876, 1. Ehe mit Marie geb. Krätz, 2. Ehe mit Fanny Lewald) 48f, 51, 55f, 59–63, 65–71, 77f, 112, 171, 353, 356f, 359, 362, 373 Stahr, Alwin (1836–1892; Sohn von Adolf St. und Marie geb. Krätz) 60, 63, 69, 354 Stahr, Edo (Sohn von Adolf St. und Marie geb. Krätz) 60 Stahr, Marie geb. Gerson („Marde“, 1841–1903, Ehefrau von Alwin St.) 63, 69 Stanitzek, Georg 352 Stecher, Eberhard 353 Stecker, Raimund 346, 348 Stein, Fritz 286 Steiner, Rudolf 192 Steinhardt, Jacob 341 Steinle, Eduard / Edward von 360 Stephani, Heinrich 33, 349 Stern, Fritz 131, 375 Stern, Irma 218 Sternagel, Renate 353 Stinde, Julius 124, 374 Stocker, Hans 395 Stockhausen, Karlheinz 277 Stoedtner, Franz 246f, 389f Storm, Theodor 200 Stranberg, Otto 352 Straub, Eberhard 347 Straube, Karl 284, 400 Strauß, David Friedrich 71 Strauß, Emil 133 Strauss, Richard 258, 267, 277, 299, 395f Strawinsky, Igor 258

Taut, Bruno 122 Tautenhayn, Josef 98 Teeuwisse, Nicolaas 386 Terenz 91 Tettenborn, Friedrich Karl Freiherr von 38 Texiére, Jacob 254 Theophrast 102 Thiele, Wilhelm 303 Thiersch, Hermann 361, 365f Thoma, Hans 109, 221 Tiedemann-Bischop, Nicole 355 Timm, Elisabeth 345 Titzenthaler, Waldemar 391 Todesco, Familie 172, 186, 377 Todesco, Eduard Baron (1814–1887) 7, 172 Todesco, Sophie Baronin, geb. Gomperz (1825– 1895) 7, 172, 181, 208, 213 Todesko s. Todesco Toscanini, Arturo 396 Treitschke, Heinrich von 129f, 375 Trinkl, Elisabeth 362 Tropper, Ulrike 371 Trübner, Wilhelm 221 Turner, William 77, 358f Tyrrell, Robert Yelverton 364 Uhde, Fritz von 221 Ulf, Christoph 363 Ullstein, Hermann 254 Valdivieso, Edith 305 Van de Velde, Henry 387 Van Gogh, Vincent 357 Varnhagen von Ense, Karl August 10–12, 36, 345, 350 Vedder, Ulrike 345f, 381 Victoria, Königin von England 81 Victoria, Kronprinzessin und Gemahlin des späteren Kaiser Friedrich III, Tochter von Victoria, Königin von England (gest. 1901) 82, 199

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Viktor Emanuel II, König von Italien (1820–1878) 206 Virchow, Rudolf 368 Vischer, Friedrich Theodor 77, 114, 117, 122, 357, 359, 373 Vitt, Walter 347 Vitzthum, Familie Graf 204 Völklein, Ulrich 347 Vogel, Familie 195 Vogell, Adolph 69, 73, 356, 358 Voss, Julia 23, 347f Voß, Richard 208 Waagen, Gustav 73, 358 Wachler, Ernst 378 Wachsmuth, Curt 91, 95, 362 Wacker, Otto 292 Waetzoldt, Wilhelm 356 Wagener, Joachim Heinrich Wilhelm 358 Wagner, Adolf 382 Wagner, August 390 Wagner, Richard 259, 268, 294f, 346, 396 Wagner, Robert 292f Wagner, Velten 372 Wahle, Justus Matthias (Sohn von Lotte W. und Conrad Felixmüller) 303, Wahle, Lotte 302–305, 323, 326, 336 Waldberg, A. von s. Winterfeld Waldecker, Annarella s. Annarella G. Waldecker, Willy / Willi (gest. 1921¸ zweiter Ehemann von Annarella G.) 188, 221f, 257, 261, 263–265, 274, 386f, 392, 394, 399 Waldegg, Tilly 248 Wallot, Paul 212 Walser Smith, Helmut 129, 375 Walzel, Oskar 283 Warburg, Aby 24, 348 Warnke, Martin 348 Waugh, Alexander 347 Wasmuth, Ernst 236f, 389f Weber, Hofrath (möglicherweise Max Maria Freiherr von W., 1822–1881, Sohn des Komponisten Carl Maria von Weber) 63 Weber, Tochter (möglicherweise Maria Karoline Freiin von Weber, 1847–1920, verh. mit dem Dichter Ernst von Wildenbruch) 63 Weber, Andreas Karl 329 Weber, Annette 345, 348 Weber, Max 157, 382

Webern, Anton 277 Wedekind, Frank 133, 376 Weech, Angelina von, geb. Gurlitt s. Angelina G. Weigel, Sigrid 16, 20, 345f, 382 Weiler, Ingomar 363 Weingärtner, Wilhelm 70, 357 Weingart, Peter 382 Weinzheimer, Friedrich August 254 Weismann, August 159, 382 Weissweiler, Eva 347 Weizsäcker, Familie 347f Welzer, Harald 20, 346 Werner, Uta geb. Gurlitt (Tochter von Wilibald G.) s. Uta G. Wertheimstein, Josephine von, geb. Gomperz (1820–1894) 7 Weßling, Bernd W. 399 Westheim, Paul 219f, 235, 237, 239, 242, 248, 386, 388–390 Wichmann, Adolf 51 Wickert, Erwin 396 Wiegand, Theodor 248, 373 Wiegele, Franz 302 Wiene, Robert 389 Wieseler, Friedrich 91, 96f, 361, 365f Wihl, Lazarus 48 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 104, 369 Wildermuth, Adelheid 192 Wildermuth, Ottilie 192 Wilhelm I., deutscher Kaiser und König von Preußen (1797–1888) 184, 199 Wilhelm II., deutscher Kaiser und König von Preußen (1859–1941) 184, 379 Willer, Stefan 16, 155–168 (381–383), 345f, 357, 360, 381f Willers, Ernst 71 Wilpert, Gero von 346 Winckelmann, Johann Joachim 34, 88, 96f, 104, 105, 108, 112f, 117f, 361, 368, 370f Winckelmann, Johannes 382 Windelband, Wilhelm 283, 285f Winter, Franz 111 Winterfeld, Achim von (Pseud. A. von Waldberg) 152, 381 Wirbelauer, Eckhard 401 Witte, Reinhard 368 Wittgenstein, Familie 347 Wittmann, Konrad 389

Register

Wladika, Michael 386, 391 Wöhrle, Oskar 329 Wölfflin, Heinrich 122–124, 126, 130, 285, 374 Wolf, Friedrich August 95, 97, 365f Wolfrum, Philipp 283 Wolzogen, Wolf von 397 Worms, Franziska de 377 Wrede, Henning 106, 362f, 365f, 370 Wren, Christopher 128 Würzbach, Walter 219, 227, 236f, 239, 241, 247f, 253, 388, 390 Wundt, Wilhelm 283 Wyneken, Gustav 162 Xenophon 32

Yamada, Kosaku 268 Yun, Isan 277 Zacharias, Herr 200 Zachert, Susanna 396 Zeller, Magnus 329 Zemlinsky, Alexander von 277 Zepf, Markus 400 Ziller, Ernst 94f, 364 Zimmermann, Alois 272 Zola, Émile 160, 261 Zollikofer, Georg Joachim 31 Zur Linde, Otto 150 Zweig, Arnold 329

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Ursula Renner ist Professorin für Literatur- und Kulturwissenschaften. Seit ihrer Pensionierung lebt sie in Freiburg im Breisgau.

www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40465-0

Ursula Renner (Hg.) Die anderen Gurlitts

Die Familie Gurlitt ist mehr als eine skandalträchtige Kunstsammlerfamilie, mehr auch als eine Reihe von verwandten Personen hinter Werken der Malerei, Musik, Kunstgeschichte oder anderen Wissenschaften. Sie ist ein Geflecht von Schicksalen im 19. und 20. Jahrhundert, bei denen sich Privates, Politisches und Ökonomisches durchdringt. Die Lebensgeschichten, die hier in 14 historischen Fallstudien gesammelt sind, berühren sich im familiären Austausch und driften doch in alle Richtungen wieder auseinander.

Ursula Renner (Hg.)

Die anderen Gurlitts Unterwegs zu einer Familiengeschichte