Die Abwesenheit der Idole: Bildkonflikte und Anachronismen in der Frühen Neuzeit [1 ed.] 9783412515744, 9783412515720


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Die Abwesenheit der Idole: Bildkonflikte und Anachronismen in der Frühen Neuzeit [1 ed.]
 9783412515744, 9783412515720

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Mateusz Kapustka

Die Abwesenheit der Idole Bildkonflikte und Anachronismen in der Frühen Neuzeit

Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Georges-Bloch-Fonds und des Lehrstuhls für die Kunstgeschichte der Neuzeit im Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich Das vorliegende Buch stellt eine überarbeitete Version der Habilitationsschrift dar, die 2016 an der Universität Zürich angenommen wurde.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. 1. Auf lage 2020

© 2020 by Böhlau Verlag GmbH & Cie., Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Joachim Patinir, Rast auf der Flucht nach Ägypten, Ausschnitt, 1516/1518, Öl auf Holz, Madrid, Prado, Inv.-Nr. P001611. Lektorat: Violeta Sánchez-Lorbach und Rainer Hörmann Korrektorat: Volker Manz, Kenzingen Umschlaggestaltung: Guido Klütsch, Köln Wissenschaftlicher Satz: satz&sonders GmbH, Dülmen

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51574-4

Inhalt Einführung

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7

Gespenster und Lumpensammler: Arbeit an Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zerstörung und Aneignung: Phantome jeder Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anachronismus und Antagonismus: Frühneuzeitliche Ausblicke . . . . . . . . . . . .

10 16 22

1 Historische Kritik von Bildkulturen: Eine kunstgeschichtliche Aufgabe

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25

Die Entfremdung des Diskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bild, Norm, Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anachronismus und Verspätung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25 36 55

2 Fall und Aufstieg: Die Souveränität der Neuzeit

........................

99

Transzendenz gegen Idol: Das Ende der Chronologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Monumentale Antithesen: Objekte und Akteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Bewältigung des Singulären: Idol als Phantomerscheinung . . . . . . . . . . . . . . . . 174 3 Götzen, Gräber und Auftraggeber: Politische Spurensuche und künstlerische Apologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Gegenwart des Stiftungsaktes: Ein Zisterzienserkloster auf dem Marstempel Nachfolge im Leiden: Das barocke Bildformular der apostolitas . . . . . . . . Mittelalterlicher Idolensturz und barocke Apologie des Künstlers . . . . . . . Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 Zeit und Leid: Bilder der verletzten Gemeinschaft im medialen Wettstreit

... .... .... ....

. . . .

195 217 223 234

. . . . . . 253

Das panoramatische Leidenstheater der Zisterzienser als Fortsetzung der ecclesia primitiva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Die barocke Freude am contemptus mundi und die urchristlichen Grundlagen der kollektiven Unschuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280 Geografie und Gründungstopoi: Der jesuitische Entwurf einer Bildevidenz aus der Ferne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 5 Verortung und Aneignung: Jesuitische Inszenierung der Memoria des Ernst von Pardubitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Barocke Folie des Geschehens: Aktivierung der Grabfigur im mittelalterlichen Visionsraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Der historische Würdenträger und die institutionalisierte Gemeinschaft . . . . . . . 365 Politische Körperphysiologie und Selbstverneinung der effigies . . . . . . . . . . . . . 376

6

Inhalt

6 Ausdehnung und Akkommodation: Johannes von Nepomuk und die historischen Flechtwerke der habsburgischen Staatsräson . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Flächendeckende Projektionen: Landschaft und Herrschaft . . . . . . . Netzwerke der Befehlsgewalt: Der mittelalterliche Märtyrer als globaler Staatsverwalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aneignung und eucharistisches Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . . 393 . . . . . . . . . 406 . . . . . . . . . 431 . . . . . . . . . 443

7 Zeitlosigkeit und Ubiquität: Das barocke Bildkonzept der Geschichte als Transmission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 Idolum, Ruina und Historia oder: Die Ohnmacht der sprechenden Steine . . . . . . 449 Strahlende Präsenz: Die Realwerdung der Metapher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 464 Spiegelkopien: Zur Technologie der historischen Zeitlosigkeit . . . . . . . . . . . . . . 489 8 Aufhebung der Zeit: Ein Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 499 Farbtafeln

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 521

Quellenverzeichnis

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545

Literarische Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 Handschriftliche und gedruckte Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 547 Bibliografie

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 553

Abbildungsnachweis

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 627

Einführung Bildkonflikte machen Geschichte sichtbar. Zerrissen zwischen Beschleunigung und Verspätung, zeigt Geschichte sich in ihnen als ein dynamischer Prozess der Aktualisierung, der zur Aufrechterhaltung unterschiedlicher Erfüllungsmythologien Opfer fordert. Zu einem stummen Akteur auf der historischen Bühne avanciert dabei das Idol, das aus seiner Abwesenheit über gesamte Bildkulturen einen Schatten wirft und in jeder Neuzeit wieder als Gespenst umgeht. Im Schicksal des Idols drückt sich die europäische Geschichte der Vielfalt aus: die Verneinung der Pluralität von Götterwelten war von Anfang an Bedingung sine qua non der exklusiven Monotheismen. In einem der folgenreichsten Momente der europäischen Geschichte, der Entstehung des konstantinischen Imperiums mit der Mailänder Vereinbarung 313 als christliches Reich unter dem Zeichen des Kreuzes, wurde der Topos der Ablehnung der nicht-christlichen Gottheiten unter dem Vorwurf der Idolatrie trotz anfänglicher Toleranz allmählich auf die Ebene der staatlichen Obrigkeit gehoben und historiografisch für Jahrhunderte legalisiert. Eine tiefgründige Relevanz dieses Wandels zeigt sich gerade in der langen europäischen Geschichte der religiösen Kultivierung von Fremdheit. Besonders deutlich wird sie in der teleologisch fundierten historiografischen Tradierung der sogenannten Konstantinischen Wende als momentanes Schwellenereignis und zivilisatorische Zäsur, mit der eine siegreiche Allianz der kirchlichen und weltlichen Macht zusammenkommt, die retrospektiv in diesem konkreten Jahr 313 stets nach der Gründungszeit ihrer eigenen Doppelherrschaft suchen und im genealogischen Diskurs mit zunehmenden Polarisierungen arbeiten. Der Aufbau von Identitäten durch Nachahmung der Zerstörung von anderen Bilderwelten, die für historisch inaktuell und devaluiert erklärt werden, wurde dementsprechend zu einem wiederkehrenden Moment in der europäischen Werdung von Gesellschaften. Im frühen Christentum werden Bilder allerdings nicht nur spektakulär zerstört, sondern auch demonstrativ bewältigt, dazu allmählich angeeignet und sakralpolitisch umgedeutet, sodass sie im Endeffekt nicht nur verschwinden, sondern darüber hinaus – ihrer ursprünglichen Funktion, ihrer Rolle als Verkörperungen im kategorialen Sinne beraubt –, zu semantischen Verweisen und dogmatisierten Beweisen einer transzendierenden Macht umgearbeitet werden. 1 Die reziproke Verbindung zwischen Zerstörung und Aneignung, Auslöschung und Überschreibung bestimmte von Anfang an sowohl die Etablierung des christlichen Kultes, des neuen blutlosen Opferritus, der rituellen Gemeinschaftsbildung, der auf römisches Recht gestützten

1 Siehe u. a. Myrup Kristensen / Stirling 2016; Hahn / Emmel / Gotter 2008; Saradi-Mendelovici 1990, S. 47 – 61. Vgl. MacMullen 1997, S. 1 – 31; Bredekamp 1975, v. a. S. 78 – 96 wie auch Brown 1995, v. a. S. 29 – 54 zum Problem der Toleranz und Nixey 2019 zum gewaltvollen Bild von Anfängen des Christentums.

8

Einführung

Gestaltung von Autorität, als auch die in vielen Fällen enorme sozialpolitische Karriere der Bilder selbst. Die kategorische Verneinung von Bildern, die auf diesen Wegen als Idole der ›Abgötterei‹ eingeordnet werden, und ihre Ersetzung durch neue, nüchterne, die Bilder selbst zähmende Semantiken erhalten in diesem Sinne insbesondere durch ihre Visualisierung in den zu jeder Epoche eigenen ›neuen Medien‹ einen spezifischen Übertragungscharakter. Die Geschichte toleriert keinen Stillstand: Auf den Trümmern der ›alten‹ und ›fremden‹ Bilder entstehen ›neue‹ Bilder, die als normkonforme Werkzeuge der Repräsentation gedeutet werden. 2 Angesichts dieser motorischen Kraft der kulturellen Verwandlung erscheinen historische Bezeichnungen wie etwa ›Niedergang der Antike‹ selbst als leere Begriffe. 3 Für die kirchlichen Geschichtsschreiber des 16. bis 18. Jahrhunderts bildete jedoch gerade das Jahr 313 eine entscheidende Schwelle – das erste Jahr, nachdem an der Milvischen Brücke die Schlacht zwischen Konstantin dem Großen und Maxentius zugunsten des Ersteren entschieden worden war; ein Ereignis, das zur staatlichen Anerkennung der neuen Religion führte. 4 Im strikt zeitpolitischen Sinne wurde aus diesem Datum eine historisch nachweisbare Zäsur gemacht, die retrospektiv den Ursprung der Abgrenzung und kontinuierlichen Überwindung des Anderen markieren sollte. 5 Das Idol lässt sich daher nicht mehr nur als eine ontologische Figur der Verkörperung begreifen, sondern muss als eine zeitliche Kategorie verstanden werden: Es verpflichtet jede proklamierte Neuzeit, die nach ihren eigenen Ursprüngen sucht, zu einer historischen Selbstreflexion. Der Status des Idols ist bestimmt davon, wie sich jede Neuzeit in ihrer Fortschrittlichkeit begreift. Das Idol kann in diesem Sinne als eine Scharnierfigur zwischen den Zeiten angesehen werden, dessen Schicksal zeigt, inwieweit Aufhebung des Fremden und Selbstüberbietung eine zukunftsorientierte Bewältigung der eigenen Geschichtlichkeit apriorisch zu bedingen scheinen. Diese Frage weist insbesondere eine bildhistorische Brisanz auf, da Auseinandersetzung mit Geschichte Arbeit mit Bildern ist. In Bildern suchen wir nach einer Vermessung der Zeit, auch oder besonders wenn diese nicht linear verläuft,

2 Siehe Mondzain 2005a, S. 33 – 46 über historische Entwicklung von bilderfeindlichen Phobokratien zu ikonokratischen Regimes. 3 Siehe dazu die klassische Bearbeitung: Demandt 1984, u. a. S. 45 – 67. Vgl. Günther 1993, S. 56; Ariès 1988, S. 126; Meier 1973, S. 53 – 94. Zur Begriffsgeschichte des ›Niedergangs‹ siehe v. a. Koselleck 1980, S. 214 – 230. 4 Siehe: Wienand 2011, S. 237 – 254 wie auch Wienand 2012, S. 396 – 482 (zur christlichen Nachgestaltung des konstantinischen Triumphes); Veyne 2008. 5 Darin realisiert sich der anachronistische Grundsatz der neuzeitlichen Geschichtsschreibung, die das Ereignis aufgrund seiner ›epochalen‹ Folgen retrospektiv hervorhebt, siehe dazu Hans Blumenbergs Kritik der Epochenschwellen in seinem Umriss der Legitimität der Neuzeit: Blumenberg 1988, hier: S. 533 – 534: »Die Individualisierung historischer Zeiträume als komplexer Einheiten von Ereignissen und Wirkungen, die Bevorzugung der Zuständlichkeit vor den Handlungen, der Konfigurationen vor den Figuren, kehren in der modernen Geschichtsschreibung das genuine Verhältnis im Epochenbegriff um: Das Ereignis wird zur geschichtlichen Größe durch den Zustand, den es herbeiführt und bestimmt.«

Einführung

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sondern vielmehr unsere auf die Vergangenheit und die Zukunft bezogenen Erwartungen und Befürchtungen spiegelt. Mit Bildern erzeugen wir ohnedem Zeit, indem wir mit jedem Blick die Aktualität der Darstellung bewerten: Während einige Bilder uns immer wieder ansprechen, werden andere aufgrund ihrer archaisch anmutenden Form, ihrer oftmals als veraltet eingeschätzten Sprache oder einer als verspätet deklarierten Botschaft für inaktuell erklärt. Diese Inaktualität erweist sich zudem als zwiespältig, sobald wir versuchen, aus ihr genealogische Schlussfolgerungen im Hinblick auf kunstgeschichtliche Epochenmodelle zu ziehen. Bilder werden somit zu Medien, mit denen versucht wird, sich die Vergangenheit anzueignen oder diese Vergangenheit sogar zu bewältigen, indem in ihr die Ursprünge unserer eigenen Progressivität verortet werden. Diese derart zwischen Historisierung und Enthistorisierung der Bilder aufgespannte Aktualisierungsprozedur lässt sich insofern als eine Praxis der Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Anderen bezeichnen, die in einer Produktion von verschiedenen, je nach Konjunktur anwendbaren und kultivierbaren exklusiven ›Wahrheiten‹ besteht. Diese Praxis setzt dabei stets das poietische Potenzial der Bilder voraus: die Fähigkeit, das Unsichtbare, gar das Unbegreif liche darzustellen und ihm ein Gesicht zu verleihen, die Fähigkeit, die Geschichte mittels bildlicher Metaphern als ein subjektbildendes Kapital zu prägen, und die Fähigkeit, diese Metaphern im Dienste der Macht zu institutionalisieren. Im Zuge dieser immer wieder aktualisierten Unterscheidung, durch die Geschichte in einen Schauplatz der Hervorbringung von gewünschten Identitäten verwandelt wird, wird auf die überepochale Fortsetzung einer bis in die eigene Jetzt-Zeit führenden Entwicklung des historischen Geschehens geachtet. Das Andere wird dabei als Splitter, als abgefallenes Fragment des historischen Werdens dieses Jetzt wahrgenommen und fügt sich als vergangene Inaktualität apriorisch in den genealogischen Rahmen der aus der Geschichte herauszulesenden Aktualität in statu nascendi. Die historische Niederlage des Anderen wandelt sich somit von einer faktischen, möglicherweise akzidentellen, singulären Begebenheit in ein geschichtsphilosophisches Ereignis, indem die narratologische Entmündigung der besiegten Akteure der Geschichte zum Axiom einer den Fortschritt bejahenden Genealogie wird. Die Frage nach der Bedeutung der Abwesenheit von Idolen, der sich diese Studie mit Blick auf die Werdung einer Neuzeit widmet, knüpft an die erwähnten diskursiven Ausschließungen als inhärenter, wenn auch diskreter Antrieb einer mit Bildern arbeitenden europäischen Geschichtsschreibung an. Inwieweit wird die Geschichte der Bilder als Transporteure einer als normkonform gedeuteten Vergangenheit, so wie sie seit dem 16. Jahrhundert gefasst wird, gerade durch diese Entmündigung konditioniert? Welche Rolle spielt diese Art des ausschließenden Diskurses in bildlichen Deklarationen der Neuzeit, die sowohl ihre revolutionäre Anfänglichkeit als eine programmatische Abhebung von der Zeit davor kultiviert als auch durch fiktionalisierend anachronistische Verweise nach ihren Ursprüngen sucht, um sich in der eigenen historischen Aufhebung zu verwirklichen? Was führt bei dieser Ursprungssuche zur Asymmetrie der historischen Kräfte und wie drückt sich ihre Kultivierung in den jeweils aufeinanderfolgenden historischen Definitionen der Neuzeit aus? Die

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Einführung

Geschichte der Diskursivierung des Idols ist ein besonders deutliches Beispiel dieser sich im Hintergrund vollziehenden Ausschließungsprozedur: das Idol wird seit der Frühen Neuzeit lediglich durch seine seit dem frühen Mittelalter sich zeichnende Abwesenheit als ein negativer Spiegel der bereits abgeschlossenen Vorgeschichte der modernen Bildlichkeit sichtbar. In Bildern, in denen sein Sturz als ontologisches und politisches Ereignis der Beseitigung eines fremden Bildes zugunsten neuer, medial gezähmter Bildlichkeiten dargestellt wird, avanciert es zum Synonym des archaischen Unglaubens und der substanziellen Feindschaft gegenüber allen metaphysischen Systemen sakralpolitischer Kontrolle. Das Idol steht stellvertretend für einen besiegten Feind der systemisch normierten Bilder und wird somit zum ethischen Gegenpol der fortschreitenden Neuzeit. Es führt somit ein sich durch die Geschichte ziehendes Schattendasein, es zeigt sich als eine phantomatische, heimsuchende Figur der Störung, die uns immer wieder aus unserer eigenen Zeit reißen und jede Gegenwart spalten wird, solange wir seiner unermüdlichen historiografischen Bewältigung nicht Rechnung tragen.

Gespenster und Lumpensammler: Arbeit an Geschichte Man muss als Historiker doch mit Gespenstern sprechen können, mit Wiederkehrern, vergessenen, verdrängten oder nur scheinbar bewältigten Phantomen der Geschichte, die einen stets heimsuchen. Diese Heimsuchung ist nicht unbedingt als Präsenz oder als erneute Präsenz zu erklären: Die Gespensthaftigkeit ist eine Kategorie der Erscheinung, die sich der Präsenz oder Präsenzmachung entzieht und im Hintergrund der augenscheinlichen Realität zu verorten ist. Gespenst, spectre, phantom: Diese Erscheinungen werden nicht erwartet – anders als Geister, die man selbst hervorruft, um die Vergangenheit zu sühnen, die Erfahrung der eigenen Geschichte, die Leistungen der Vorfahren in die Zukunft zu überführen oder den ›wahren Sinn‹ eines Geschehenen erzählen zu können, zeigen sich Gespenster eigenwillig und plötzlich, betreten die Bühne der Geschichte durch eine hintere Tür und verkünden in einer vergessenen Sprache ihre eigenen Narrative. Sie werden nicht erwartet, sie sind aber immer ›im Kommen‹; sie sind aus der Vergangenheit aufscheinende Kategorien der Zukunft. Dazu gilt es anzumerken, dass die Gespenster sich auch denjenigen zeigen, die an Geister nicht glauben. Dies ist der Unterschied zwischen diesen beiden ›Subjekten‹ der historischen Erscheinung: Während man an Geister glauben muss, um sie sehen zu können, zeigen sich die Gespenster, ohne gefragt zu werden. Diese Differenz zwischen der pneumatischen Präsenz eines Geistes und der sich unangenehm aufdrängenden Sichtbarkeit eines aus seiner Abwesenheit kommenden Gespensts (spectre) ist hier von grundlegender Bedeutung. 6 Jacques Derridas Auseinandersetzung mit dem Begriff des historischen Gespensts, ein philosophischer Meilenstein in der Debatte um die Entstehung des modernen Europas, 7 6 Siehe Assmann 1999a, S. 171 – 178 (zur Beschwörung der Geister als Arbeit an Erinnerung). 7 Derrida 1995.

Gespenster und Lumpensammler

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ist in einem besonderen Kontext verankert: Derrida analysiert das für das 20. Jahrhundert charakteristische Phänomen der Vermeidung einer Diskussion über das Erbe von Karl Marx, ausgehend von dem berühmten ersten Satz des Manifests der kommunistischen Partei von 1848: »Ein Gespenst geht um in Europa: das Gespenst des Kommunismus«. Ein Gespenst geht um – in Derridas Auffassung bedeutet dies: eine Idee zeigt sich stets am Horizont, auch wenn sie für tot erklärt wird, ignoriert, verschwiegen, als historisch abgeschlossen verabschiedet. Diese langfristige, andauernde Verschwiegenheit macht eine Idee oder ein Phänomen erst zu einem Gespenst, indem eben darüber, was ihr bzw. sein historisches Potenzial ist, nicht diskutiert wird. Dieses Gespenst zeigt sich immer wieder, vor allem in Krisenzeiten. Für Derrida, der sich dabei nicht nur gesellschaftstheoretisch mit politischer Ökonomie, sondern vor allem im Sinne eines Projekts der Dekonstruktion mit den Dynamiken historischer Verleugnung und anachronistischen Gegenwartsdiagnosen beschäftigt und zudem historische Kriterien von Fortschrittlichkeit analysiert, bildet Shakespeares Hamlet einen Ausgangspunkt. 8 In diesem Drama zeigt sich bekanntlich dem Protagonisten sein ermordeter Vater, der ihn in Verlegenheit bringt, da er nach Rache ruft. Das Gespenst des Vaters erscheint dem Sohn in sichtbaren und doch lediglich vermittelten Präsenzen, zum Beispiel in der Rüstung, die dem sprechenden Gespenst die Würde der Gebärde verleiht und es ›lebendig‹ macht, ohne dass sich hinter dem Visier überhaupt ein Gesicht zeigt. Horatio, Hamlets treuer Freund, verkündet im I. Akt, dass eine Gestalt in Rüstung, Hamlets Vater ähnlich, erschienen sei. Durch die Rüstung ist die Gestalt verhüllt und nicht substanziell, zugleich aber ein sprechendes Subjekt. Die Rüstung wird hier zur Metapher einer paradoxen Aussagekraft: Es erscheint eine Autorität, die gehört wird, ohne gesehen werden zu müssen, ohne sichtbar zu werden, ohne Gesicht zu zeigen. 9 Dies ist etwas, was Derrida als »Logik der Heimsuchung« definiert und im Kontext der politischen Verschwiegenheit als Teil der modernen Historizität lokalisiert: Während es für Marx im 19. Jahrhundert die Gespensthaftigkeit einer Idee war, die die Geschichte Europas ändern sollte, ist es für Derrida bereits die Gespensthaftigkeit selbst, die als Erbe der traumatischen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, der totalitären Verfälschungen, der schließlich gescheiterten politischen Systeme und konkurrierenden ökonomischen Theologien, die sich kultisch auf Marx beriefen, aktiv ist. Solche Gespenster als historische Erscheinungen des kultiviert Unbefragten will diese Studie thematisieren, um danach zu fragen, ob und wie unsere heutige säkulare Vorstellung von historischer Urteilskraft, von der Bedeutung von Bildern bei der Vergegenwärtigung bestimmter Versionen von Vergangenheit oder von der Grundlegung sakralpolitischer Machtverhältnisse durch Wiederkehrer bestimmt ist. Es geht bei diesem Vorgehen um das Hinterfragen von historischen Strategien der Bewahrheitung der potestas, die sich im durch

8 Ähnlich wie für Gilles Deleuze in Differenz und Wiederholung: Deleuze 1992, S. 122 – 126. 9 Derrida 1995, S. 19 – 26. Vgl. u. a. Lorraine 2003, S. 30 – 45, wie auch einzelne Beiträge in Sprinker 1999. Zu Unterschieden in der Auffassung des Gespenstischen zwischen Jacques Derrida und Michel Foucault: Apostolou-Hölscher 2015, S. 45 – 58.

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Einführung

die Frühe Neuzeit durchziehenden Nachklang des Mittelalters als eine mit Bildern theatralisierte Gründerzeit der legalisierten Gewalt wiederfinden. Grundlegend ist daher die Frage: Inwieweit wird auch unsere Gegenwart durch die Idee bestimmt, dass die Geschichte, die Werdung einer Kultur, irgendwann ihren Höhepunkt erreicht, endet und sich erfüllt und dass sie dafür in einem Ritual des Fortschritts Opfer bringt? 10 Kann das Idol, eine Figur des Anderen, die scheinbar bewältigt werden muss, damit eine Epochenschwelle entsteht, als ein für die europäische Vorstellung von eigener Historizität geltendes Gespenst, als ein revenant bezeichnet werden, dessen Domäne wir in jeder historiografisch proklamierten Neuzeit suchen müssen? In diesem Sinne lohnt es sich, die Rolle der Bilder oder gar der Bildlichkeit in diesen Prozessen, in der Teleologie hegemonialer Machtausübung, in der Kreierung autoritärer Legitimationen zu untersuchen. Die Öffnung des Visiers, um dem Gespenst in sein unsichtbares Gesicht – die beunruhigende Tiefe der historischen Absenz – zu schauen, wird uns möglicherweise dazu sensibilisieren, auch heute Bilder im Szenario eines zwischen Idol und Bild einst eingesetzten Antagonismus zu betrachten. Wir werden somit, wie Hamlet, feststellen können: »The time is out of joint«. Die Zeit ist aus den Fugen, die Zeit zeigt Risse, die Zeit wurde dereguliert, »die Zeit ist aus den Angeln gehoben« 11 – diese Disharmonie verbindet unausweichlich jede historische Verspätung mit der sich in ihr zeigenden Verdammung zur Erbschaft. 12 Es ist eine »verrückte Zeit, die aus der Krümmung geraten ist, die ihr ein Gott verliehen hat, ihrer allzu einfachen Kreisgestalt entbunden, befreit vom Zwang der Ereignisse, die ihren Inhalt ausmachten, eine Zeit, die ihr Verhältnis zur Bewegung verkehrt [. . . ].« 13 Das kritische Herauslesen des Sinns der Gegenwart ergibt sich also nicht bloß evolutionär ›aus der Vergangenheit‹, die sich in gesammelten historischen Daten offenbart, sondern aus dem kritischen Bewußtsein von ihrer Natur als subjektbildende, die Zeiten durchschneidende Projektion der Erinnerung. Die Betrachtung der Geschichte als Geschichtetes, als fortlaufende und tektonische Züge aufweisende und durchdringbare Sedimentierung von verschiedenen Dichten und Geschwindigkeiten – ein zugleich stratigrafischer und seismografischer Blick – ermöglicht in diesem Sinne eine Alternative zur eindimensional retrospektiven Vergangenheitsforschung als Gegenwarts- und Zukunftssicherung. Denn dieser Blick lässt die Gegenwart als geschichtsimmanent, das heißt gerade im Moment ihrer Aktualität bereits als konditionierte und zugleich möglicherweise prognostizierend folgenreiche Geschichte vorstellen. Es geht also um ein Vorausschauen durch die reflexive Anerkennung des Anachronismus als eines diskreten Triebs der eigenen Entwicklung. Daher kann die Bilderfahrung der historischen Wissenschaften, die aus der Position der Differenz heraus agieren, zugunsten einer der Gegenwartsdiagnostik dienenden Gesellschaftskritik eingesetzt

10 11 12 13

Vgl. Rapp 1992, S. 69 – 72. Deleuze 1992, S. 122. Derrida 1995, v. a. S. 38 – 55, vgl. S. 127 ff. Deleuze 1992, S. 122.

Gespenster und Lumpensammler

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werden. Denn sie können sich – im Unterschied zu den die Daten auswertenden Naturwissenschaften – selbst zum Gegenstand eigener Ideenkritik machen. Anstatt ihre eigenen und die fremden Entwicklungstrajektorien als wahr oder falsch zu berechnen, kann dementsprechend auch die Bild- und Kunstgeschichte, wie etwa Baudelaires und Benjamins Lumpensammler 14, der die Reste des vorigen Tages aufhebt, Fragmente aus der verworrenen Entwicklung der eigenen Artikulation, der eigenen diskursiven Schwingungen, der triumphalen Züge und auch des Scheiterns langsam archäologisch ausgraben, akribisch sammeln, durch Aufzeigen beschreiben, in einem fragmentarischen Fetzenarchiv der Geschichte zur Schau stellen und damit ihr gesellschaftliches Potenzial erkunden. Dies bedeutet auch, den Tag erst nach Anbruch der Nacht, die bald wieder in einen neuen Tag übergeht, zu beurteilen – aus der obskuren Anonymität, der Unpersönlichkeit heraus, die diesen akribisch gesammelten, fragmentarischen Geschichten zugeschrieben wird. Der in der Nachträglichkeit arbeitende Sammler, der Lumpen aufhebt, ist in der Lage zu fragen, wie aus diesen Lumpen einst verhüllende Draperien gemacht wurden, die in ihren Faltungen Tiefe und Fläche einschließen. Er untersucht ferne Spuren ihrer einzelnen Nähte, um zu verstehen, wie die später hinzugekommenen Risse verlaufen und wie diese gerade die Aktualität seines eigenen historischen Nachlasses als Sammler der Reste bestimmt. Damit wird die horizontale Perspektive eines marginalen Beobachters möglich, mit der sowohl historische Identitätskonstrukte als auch Hoheitsansprüche des begriff lich verwurzelten (bild-)historischen Denkens aus einer dialektischen Distanz reflektiert werden. In dieser imaginativen Archivarbeit der Bildgeschichte zeigt sich also ein vagabundisches Beachten von Neukonfigurationen des Vertrauten. Sie lässt über das Ereignishafte der geschichtlichen Wirklichkeit hinausgehen und Räume der geschichtlichen Artikulation wahrnehmen, in denen sich Bilder selbst ereignen und Geschichte prägen. Es lohnt sich also, im Sinne einer Geschichte der Verknüpfungen zwischen den einzelnen Ansprüchen auf Wahrheitsdarbietung nach der Geschichtlichkeit der eigenen Gegenwart zu suchen, auch wenn oder gerade weil sich diese vor allem als ein Anachronismus und ein ephemerer Widerhall lesen lässt und historische Resonanzen aufzeigt, in denen immer wieder sichtbar werdende Symptome von lange kultivierten Asymmetrien auftauchen. 15 Der Vorteil der Bild- und Kunstgeschichte liegt in diesem Kontext darin, dass sie die Geschichte des menschlichen Herumirrens wie auch die Geschichte seiner Verschleierung durch begriffliche und metaphorische Übertragungen immer unter Einbezug von Bildern als historischen Aussagen wahrnimmt. Die Geisteswissenschaften, darunter die Bildgeschichte als eine offene 14 Siehe Palmier 2009; Emden 2002, S. 75 – 77; Assmann 1999a, S. 384 – 390; Bätz 1990; Kaulen 1987, S. 111 – 113. Darüber hinaus Didi-Huberman 2010, u. a. S. 463. Vgl. Kapustka 2017, S. 191 – 195. 15 Zum grundlegenden Problem, dass »Geschichte sich erst durch das Schreiben der Geschichte konstituiert« und dass sie schließlich als »Produkt einer heuristischen Aktivität« begriffen werden kann, was bei Walter Benjamin zu einem Bruch mit dem Historismus und zur Rettung der Vergangenheit vor einem historischen Konformismus der »Geschichte der Sieger« führt, siehe Moses 1993, S. 385 – 405 (hier u. a. S. 400, 404 – 405).

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Einführung

Disziplin, widmen sich im Zuge der in den letzten Jahrzehnten zugenommenen Würdigung von Aby Warburg verstärkt den Symptomen, Phantomen und psychischen Modellen, die sich zwischen Geschichte und Gegenwart ansiedeln. Diese Möglichkeit der den Bildern sich widmenden Disziplin liegt also in ihrem geschichtsphilosophischen Bewußtsein. Aus diesem kann sie einen Vorteil ziehen, indem sie, statt historische Konzepte der Zeitlosigkeit der Deutung auf ihre eigenen Bildbetrachtungen zu übertragen, eher aus der Spalte zwischen den Zeiten agiert, das eigene Urteilsvermögen als Teil der werdenden Geschichte versteht und sich selbst in Relation zur Endlichkeit stellt. Erst aus dieser Negativität heraus kann sie sich bewußt anachronistisch behaupten, etwa wie bei Derrida, der seinen kommentierenden Beitrag zur Diskussion über die von ihm selbst ins Leben gerufene Spektrologie wie folgt eröffnete: »Ich muss gleich zu Beginn gestehen, dass die folgenden Betrachtungen nicht nur unangemessen sein werden. Das war zu erwarten. Man wird ihnen auch schnell jene Form der Unangemessenheit ansehen, die Anachronie genannt wird. Die erwarteten Antworten bleiben einmal mehr verfrüht und kommen zugleich verspätet.« 16 In diesem Sinne, um der Komplexität der Verknüpfung zwischen den historischen Dimensionen der Neuzeitlichkeit und dem machtbezogenen Willen zur kulturellen Überschreibung gerecht zu werden, sind auch in dieser Studie die drei gebräuchlichen Bestimmungen von Neuzeit und Früher Neuzeit zugrunde gelegt, als 1.) einer kunsthistorisch nach Stilen, Werken und Tendenzen definierten Epoche der Bildgeschichte zwischen ca. 1500 und 1750, 2.) einer historischen Zeit, die bestimmt war durch das dynamische Verhältnis des Fortschrittsgedankens zu seinen theologischen Vorprägungen, und 3.) einer retrospektiv zwischen Moderne und Mittelalter teleologisierten Kategorie des geschichtlichen Umbruchs. Die Berücksichtigung des nicht unumstrittenen Terminus ›Frühe Neuzeit‹ im Titel dieses Buches hat demnach keine strikt definitorisch angelegte, reduktionistische Einschränkung des Zeitraumes im Sinne einer geschichtlichen Periodisierung zum Ziel, sondern eher umgekehrt: eine diskursive Herausstellung der Heterogenität dieses Begriffs durch die kritische bildhistorische Reflexion darüber, wie sich gerade die zeitliche Anordnung der Frühen Neuzeit im Verständnis der Neuzeit als einer neuen Zeit einbetten lässt. Wenn das ›Frühe‹ der ›Neuzeit‹ sich zuerst als Einengung eines auf Periodisierung insistierenden Geschichtskonzepts lesen lässt, soll durch eine Demonstration der durch Bilder kreierten historischen Werdung des Neuzeit-Denkens, durch eine analytische Demontage seines vereinheitlichenden und auf überzeitliche Antagonismen aufgebauten Operativs gerade auf die Ambivalenzen der Epochenbildung als einer sakralpolitisch subjektivierenden Prozedur hingewiesen werden. Angesichts dieser Problemstellung richtet sich hier die Aufmerksamkeit insbesondere auf die beiden letzten der genannten drei Bedeutungen der Neuzeit, auch wenn die hier analysierten Bilder einer kunsthistorisch definierten ›Epoche‹ zwischen 16. und 18. Jahrhundert angehören. 16 Derrida 2004, S. 15 (ursprünglich erschienen im Kontext der ›spektrologischen‹ Debatte als Marx & Sons, in: Sprinker 1999, S. 213 – 269, hier: S. 213).

Gespenster und Lumpensammler

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Der Aufbau historiografischer Narrative direkt auf den Trümmern der Entmündigten erscheint im teleologischen Rahmen der Frühen Neuzeit als parallel beziehungsweise direkt korreliert mit einer den Bildern aufgezwungenen ontologischen und ethischen Normativität. 17 Die Aufrufbarkeit und Wiederholbarkeit von Bildkonflikten in jeder proklamierten Neuzeit spielt dabei eine vordergründige Rolle, und zwar jenseits der logozentrisch veranlagten Beziehung zwischen Bild und Text, Bild und historischer Quelle, Bild und theologischer Auslegung. Die gegenseitige Verschränkung von aufeinander anachronistisch rekurrierenden Bildnarrativen und symptomatisch durch Antagonismus vorbestimmten Diskurslagen entzieht sich einer evolutionär anmutenden Exaktheit der chronotopischen Zuordnung ihrer einzelnen Elemente, mit der sich eine Renaissance oder ein Barock bestimmen lässt, 18 und nimmt eher eine in ihren Verzweigungen ungenau wiederkehrende, umkreisende Form an: die Frühe Neuzeit, die sich auf Umwegen auf eine frühere Neuzeit – das als solches deklarierte Mittelalter – teleologisch beruft. In diesem Sinne beschäftigt sich diese Studie mit einer diskursiven Symptomatik der Frühen Neuzeit, die, neben einer humanistischen Akzentsetzung auf der Erneuerung des Altertums und einer Betrachtung des Mittelalters als »beiläufiges bibliothekarisches Versagen« 19, doch auch in eben diesem Mittelalter als ihrer eigenen ›Vorzeit‹ die Ursprünge ihrer eigenen Souveränität und sakralpolitischen Erneuerungskraft nachzuweisen versucht. Der sich in der Retrospektion von der konstantinischen Idolenzerstörung ausdrückende frühneuzeitliche Anachronismus erhält also ein doppeltes Gesicht, da er mit diesem Mittelalterbezug zugleich die zeitgenößische Verherrlichung antiker Bilderwelten begleitet: beide monumentalen Vergangenheiten dienen gleichzeitig als genealogische Koordinaten. Während die Renaissance, in der Zeit der interkontinentalen Expansion innerhalb der formalen Vorprägungen der europäischen Antike verbleibend, sich auf diversen Wegen mit den pathischen Dimensionen der mythologisierten Tugend auseinandersetzte, entwickelte sich parallel seit dem 16. Jahrhundert ein retrospektiver antiidolatrischer, gegen die ›heidnische‹ Vorgeschichte gerichteter Diskurs, mit dem schließlich im Barock die Aneignung des Mittelalters durch die systematische Aktualisierung, Verformung und Aufhebung der in Bild und Schrift als revolutionär nachweisbaren Ursprünge der Theokratie einherging, die schließlich auch in die Geografie der sog. ›Neuen Welt‹ topisch eingeschreiben wurden. Die Vergangenheit wurde in einem teleologisch durch Bilder gerahmten Konflikt erfahrbar und konnte durch Zeit und Raum transportiert werden: für alte Bilder wurde eine neue Technik der kollektiven Leidenschaft entworfen, die imstande war, den einstigen – mittelalterlichen, märtyrerischen – Einsatz gegen die Idole und die Etablierung einer neuen normativen Bildlichkeit immer wieder auf jedem neuen Boden als Stiftungsmoment aufzuzeigen. 17 In diesem Sinne versteht sich die Neuzeit durch das, was sie nicht ist; vgl. die klassische Passage von Michel de Certeau zu »einer Figur der Neuzeit« im »Schreiben der Geschichte«: de Certeau 1991, S. 138 – 141. 18 Vgl. Farago 1995, S. 1 – 20; Farago 2011, S. 99 – 125. 19 Blumenberg 1988, S. 538.

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Einführung

Dabei wird gerade die historiografisch kodifizierte Gewalt der Ausschließung und Vereinnahmung des Anderen zu einem unauffälligen und mit jedem neuen Symptom, mit jedem neuen Rekurs in seiner Unauffälligkeit potenzierten modus operandi des durch Bilder transportierbaren historischen Denkens. In diesem Sinne artikuliert sich die Neuzeit nicht nur als Form einer Gründung oder als fundamentierende Suche nach den diese Gründung rechtfertigenden Ursprüngen – den origines –, sondern als Prozedur einer gleichzeitigen Auf findung, Verwertung und Aufhebung, die zur zukunftsfixierten Produktion von identitätsbildenden und immer wieder neu einsetzbaren Antagonismen führt. Durch diese Antagonismen wird Geschichte zu einer sichtbaren Arena des herausgeschälten, sich apriorisch als souverän formierenden Selbst des historischen Sprechers.

Zerstörung und Aneignung: Phantome jeder Gegenwart Mit dem Idol, das zu einem antagonistischen Bild der Neuzeit, zum Feind ihrer modernitas gemacht wurde, verbindet sich also einerseits eine Geschichte der Gewalt gegen Bilder und zugleich eine Geschichte ihrer Disziplinierung und Umwandlung in neue Werkzeuge der Repräsentation. Die Relevanz der durch die christliche Historiografie zu einem Paradigma erhobenen Bilderfeindlichkeit geht über das Ereignishafte einzelner Vernichtungsaktionen hinaus, da sich diese selbst mit der Zeit in historische Bilder und Vorbilder verwandeln. 20 Daher erscheint es hier sinnvoll, neben Bildersturm und Bilderkampf auch den umfassenden Begriff des Bildkonflikts wahrzunehmen, der über die Bilderfeindlichkeit – die gegen Bilder gerichtete Gewalt – hinaus auch die in der Sprache der Bilder und in der normierenden Erzählung über Bilder selbst diskursiv animierten historischen Konfliktfelder, Asymmetrien und visuellen Ausschließungen fasst. Diese Komplexität der Begriffsdeutung findet man etwa in den präformierten Bereichen der Reaktion auf bildbezogene Manifestationen und Exzesse: im Bildkonflikt findet sich gerade das Gespenstische des zu einem Verlierer erklärten Idols, der lange Schatten seiner historiografisch hergestellten Abwesenheit. In diesem Sinne ist der Begriff Bildkonflikt dem von Bruno Latour vorgeschlagenen Begriff iconoclash ähnlich, der zeitlich beinahe parallel zu dem größten singulären Akt des Ikonoklasmus in der Geschichte vorgestellt wurde: der Vernichtung des World Trade Centers in New York. 21 Iconoclash bildete seinerzeit eine multiperspektivische Alternative zu dem im Vergleich eher eindirektionalen Bildersturm. Dieser Begriff wurde durch den Philosophen 20 Siehe dazu v. a. die nach wie vor aktuelle Publikation: Warnke 1973 (darunter Martin Warnkes Einführung, S. 7 – 13) wie auch Bredekamp 1975. Aus der Fülle der Literatur zur Bilderfeindlichkeit siehe darüber hinaus v. a.: Gamboni 1998. 21 Latour 2002 (eine deutsche übersetzung des Essays, der 2001 in einem Katalog der Austtellung in ZKM Karlsruhe publiziert wurde). Vgl. die bahnbrechende Studie Horst Bredekamps, in der bereits von kulturproduktiven Dimensionen der historischen Bilderstürme und von der Bilderfeindlichkeit als Prüfstein der Modernität die Rede war: Bredekamp 1975, S. 10 – 14. Dazu exemplarisch eine Fallstudie

Zerstörung und Aneignung

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aus dem Widerstand gegen die vorschnelle Kritik an einem naiven Bilderglauben formuliert, die sich oftmals in einer ›reformatorischen Perspektive‹ des kunsthistorischen Schreibens über Bilderstürme niederschlägt, wie auch gegen ikonoklastische Gesten der ›Aufklärer‹. Sein Sinn basiert stattdessen auf einer Anerkennung der Genese von Bildern, die als von Menschenhand geschaffene Produkte der Imagination eine Konstante des menschlichen Strebens nach Sichtbarmachung und Erfahrung einer göttlichen Autorität und Alterität aufzeigen. 22 Wie Latour in der Auslegung seines Neologismus schreibt, soll dieser auf die Permanenz der gesellschaftlichen Metamorphosen von Objekten, Vorstellungen und Handlungen hinweisen, indem ein einzelner Akt der Abtuhung der Bylder – um mit der berühmten Formulierung des ersten reformatorischen Bilderstürmers von 1522, Andreas Bodenstein von Karlstadt, zu sprechen – immer in eine Kette von gesellschaftlichen Spannungen eingebettet ist, in der die Verneinung immer eine Kehrseite von Bejahung darstellt: [. . . ] wie kommt es, daß alle diese Zerstörer von Bildern, diese ›Theoklasten‹, Ikonoklasten, ›Ideoklasten‹ gleichzeitig eine derart sagenhafte Menge neuer Bilder, frischer Ikonen, erneuerter Mittler hervorgebracht haben: größere Ströme von Medien, mächtigere Ideen, stärkere Idole? Als brächte die Verunstaltung eines Objekts unausweichlich neue Gestalten hervor, als gingen Verunstaltung und ›Umgestaltung‹ zwangsläufig Hand in Hand? 23 Zu wichtigen Aufgaben der Bild- und Kunstgeschichte gehört heutzutage allerdings genauso die Relativierung der eindirektionalen Prägung vom traditionellen Begriff des Bildersturms, wie seine kritische Verbindung mit historiografischen Identitätsdiskursen in Hinblick auf ihre bis heute geltenden Vorkonditionierungen. Ein Bildkonflikt ist demnach immer zwischen den Zeiten angesiedelt und lässt jede Gegenwart symptomatisch, gemäß einem immer lauter werdenden Echo einer historischen Sprache der Ausschließung diagnostizieren. Es gilt nämlich als selbstverständlich, dass historische Kontroversen um Bilder, die entehrt, verletzt und enteignet wurden, mit kriegerischen Auseinandersetzungen enden. Die zerstörerische Gewalt, die heutzutage gegen Bilder in Vertretung von Völkern, religiösen Gemeinschaften oder Macht- und Herrschaftsstrukturen angewendet wird, gilt dagegen als animistische Praxis der Stellvertretung und wird durch den Begriff der ›archaischen Barbarei‹ entfremdet. Zugleich scheinen sich die gegenwärtigen Konflikte um Bilder, wie etwa die Karikaturen

zur aneignenden Dekontextualisierung der antiken Bildwerke im sixtinischen Rom: Buddensieg 1983, S. 33 – 73. 22 Latour 2002, S. 17 – 19. Vgl. ebd., S. 57 und 65: »Die Bilderkrieger begehen immer den gleichen Fehler: sie glauben naiv an naiven Glauben. Hat nicht der Idolzertrümmerer nur seine Naivität bewiesen, als er sich vorstellte, dass der erste ein Idolverehrer war, während er oder sie ein ziemlich guter Ikonenbrecher gewesen sein muss [. . . ]. In dieser Tradition ist das Bild immer das eines Bruchs, um den Gegenstand für normalen Konsum untauglich zu machen.« 23 Ebd., S. 12.

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Einführung

Mohammeds zwischen 2005 und 2015, 24 ihrer geschichtlichen Einbettung zu entziehen, indem sie vonseiten des aufgeklärten und immer wieder das Ende der eigenen Geschichte ankündigenden sowie sich selbst hegelianisch aufhebenden Westens mit dem zwiespältigen und instrumentalisierbaren Verweis auf die ›bürgerliche Meinungsfreiheit‹ ausgetragen werden. Der Charakter von heutigen bilderfeindlichen Praktiken zeugt jedoch davon, dass Bilder beziehungsweise ihre postulierte oder tatsächliche Absenz in manchen Kulturen sowie kulturfeindlichen Milizen immer noch den Status von Macht- und Expansionsinstrumenten haben. Aus dieser Beobachtung resultiert die Notwendigkeit, sich in einem übergreifend kritischen Sinne, jenseits der strikt kunsthistorischen Deutungshoheit über Bildpraktiken, mit dem Problem des sich in der Idolenfrage ausdrückenden, systemisch angewendeten Anachronismus auseinanderzusetzen. Die Frage nach der historischen Dimension der heutigen, meistens gegen die westliche Kultur gerichteten Bilderfeindlichkeit ist komplex und lässt sich nicht mit einer vereinfachenden Kategorie von ›barbarischen Akten‹ beantworten. 25 Der derzeitige bilderstürmerische Einsatz von bewaffneten Milizen gegen historische Artefakte, der vor allem in Südwestund Zentralasien stattfindet, ist offensichtlich als Versuch der Abschaffung von Kultur und ihrer Auf lösung in autoritär instrumentalisierten Religionen zu deuten, wie beispielsweise die groß angelegte Zerstörung von Buddha-Statuen in Bamiyan mithilfe der Artillerie im Jahr 2001, 26 die Vernichtung von Hatra, die Sprengung des Baal-Tempels in Palmyra 2015 27 oder die sich im gleichen Jahr via Übertragungsmedien vor unseren Augen abspielende komplette Vernichtung der antiken Kunstwerke und musealen Bestände in Ninive, Nimrud und Mosul, gar ihre Pulverisierung mit Presslufthämmern und Bulldozern. Allerdings bestätigen solche Vorgänge vor allem die inzwischen global gewordene Macht der Bilder, da Zerstörung in diesen Fällen mit Verherrlichung zusammengeht: im Sinne von Spiegelung, Reaktion und Provokation von historischen Mustern der Bilderfeindlichkeit. Diese Zerstörungsakte finden im Zeitalter der fluktuierenden Medien statt und wurden auch bewusst zur weiten Verbreitung und damit Potenzierung ihrer Radikalität konzipiert: Die 2500 Jahre alten assyrischen Figuren werden vernichtet, damit diese Vernichtung in die sich selbst vervielfältigenden Bildmedien des Internets Eingang findet und weltweit live oder mit einer minimalen Verzögerung angeschaut werden kann. Kunst und Kultur fallen der kriminellen Selbstpromotion zum Opfer. 28 Die kurzzeitige moralische Empörung angesichts solcher zerstörerischen, kulturfeindlichen Gewaltakte als Symptome langzeitiger Asymmetrien müsste also mit einer 24 Baumann / Fakhoury-Mühlbacher / Tramontini 2009; Görlach 2009. Vgl. das klassische Studium zu schmähenden Formen und Praktiken des Bildnisses: Brückner 1966, S. 188 – 315. 25 Vgl. Bredekamp 1975, S. 11. 26 Siehe dazu v. a. Flood 2002, S. 641 – 659; darüber hinaus: Clément 2002, S. 218 – 220; Frodon 2002, S. 221 – 223. Vgl. Janowski 2011, S. 44 – 64 und Elias 2007, S. 12 – 29. 27 Bredekamp 2016a (der Autor formuliert den Vorschlag einer »kämpferischen Reproduktion« als Antwort auf die Brutalität der kulturfeindlichen Akte). Vgl. Veyne 2016. 28 Vgl. Bredekamp 2010b, S. 223 – 224.

Zerstörung und Aneignung

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Analyse der eigenen Modernität einhergehen: Was machen wir heute eigentlich mit Bildern, dass sie auch in diesem Sinne ›attraktiv‹ werden? Diese Frage ist grundlegend, denn tragischerweise korrespondiert der heutige anachronistische, bilder- und denkmalfeindliche Radikalismus zeitlich mit einer sich in der westlichen Kultur beinahe jeglicher Kontrolle entziehenden Bildersuprematie im anästhesierenden Medienfluss des technologischen Zeitalters. Angesichts solch einer ›elektronischen Ikonodulie‹ plädierten einige Kunsthistoriker bereits zu Beginn der Debatte um den iconic turn am Anfang des 21. Jahrhunderts für angemessene Enthaltsamkeit, wenn nicht gar für einen rationalisierten, der Bildlichkeit einen humanen Rahmen gebenden westlichen ›Ikonoklasmus‹. 29 Gerade mit Bezug auf die heutige Vorstellung von Fortschrittlichkeit einer Bildkultur, die auf dem globalen Szenario der omnipräsenten, die Zeit verkürzenden Vernetzung fußt, reicht also eine allgemeine Kritik an den durch ›Fremde‹ ausgeübten kulturfeindlichen Akten nicht aus. Vielmehr gilt es, die Legitimierungsgeschichte der Abschaffung, Aneignung und Bewältigung eigener und fremder Bildlichkeiten, ihrer politischen Umwandlung in neue Bilder, brauchbare Evidenzmittel und Datensätze zu berücksichtigen, 30 um die Aufmerksamkeit auf die Aktualität von alten und die historische Dimension von heutigen Bildkonflikten zu lenken. Idolensturz, Technologie und Entzeitlichung – diese Verbindung scheint auf den ersten Blick skurril und ahistorisch. Diese Anzweif lung kann allerdings als Effekt der vorschnellen Historisierung der Bildkonflikte unter dem politisch ausgerichteten und ethisch aufgeladenen Vorzeichen des Anachronismus gedeutet werden. Sobald eine archäologische Dimension der Verbindung zwischen Gewaltnarrativ und Geschichtsproduktion im Rahmen einer kritischen Hinterfragung der teleologischen Einbettung des Anachronismus in die Geschichte von kulturellen (Bild)Konflikten aufgedeckt wird, wird deutlich, dass der neue informationstechnisch bedingte Zwang zum Bild für das geschichtliche Bewusstsein viel weiter reichende Konsequenzen hat als die angebliche Diskrepanz zwischen dem ›Modernen‹ und dem ›Anachronistischen‹. Eine kritische Untersuchung von historischen Projekten der triumphalen politischen Entmächtigung fremder Bilder in Europa durch die Einsetzung eigener Bilder, die der religiös-herrschaftlichen Selbstapotheose dienen soll, gibt möglicherweise eine der Antworten auf die Frage nach den Gründen und Hintergründen der heutigen globalen Differenzen und Spannungen bei der Behandlung von Bildlichkeit und zerstörerischer Gewalt

29 Siehe v. a. Sauerländer 2004, S. 407 – 426 (S. 422: »Wir brauchen (. . . ) nicht nur aus kunstgeschichtlichen und ästhetischen, sondern mehr aus zivilen und öffentlichen Gründen einen kritischen Ikonoklasmus (Bildersturm/-streit) der visuellen Wahrnehmung«). Vgl. die frühere These von Macho 1995, S. 159 – 175, v. a. S. 162 – 171, laut der die zeitgenössische siegreiche Flut der Bilder ihren Untergang – eine Bilderkrise – impliziert. 30 Siehe dazu einen von den grundlegenden Beiträgen Vilém Flussers zur Ontogenese des kalkulatorischen Projizierens als eine technologische Alternative zur Praxis des Abbildens: Flusser 1991, S. 147 – 159. Vgl. zu den möglichen aktuellen Konsequenzen der alten Überwältigung der materiellen Bilder zugunsten der übertragbaren Information: Galison 2002, S. 300 – 323.

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Einführung

im digitalen Zeitalter. Wie lang ist also der Schatten des Idols, der aus Absenz stets geworfen wird? Ein phantomatisches Gesicht erhält heutzutage die Zeit selbst, indem ihr normierter Verlauf technisch ›dereguliert‹ beziehungsweise nivelliert wird: Die Möglichkeit einer ortsunabhängigen augenblicklichen Bildtransmission ferner Ereignisse, die rein medial prokurierte Augenzeugenschaft erzeugt – das Prozedere einer artifiziellen, digital erzeugten und global durchgeführten Gleichzeitigkeit, in der Geschichte kollabiert – avanciert zu einem monumentalen Akt des Bildersturms. Eine sich in ununterbrochen migrierenden Bildern realisierende Auf lösung der Zeit – die globale Gleichzeitigkeit der technisch formatierten Erscheinungen wie auch ihre mühelose Erreichbarkeit ließen sich als zwei Dispositive dieser Macht über die Zeit bezeichnen, die zur Bedingung des Fortschritts erklärt wird. Mit der fortschrittsbejahenden Verherrlichung der in Realzeit stattfindenden Bildtransmission werden einzelne Relationen der Zeit entzogen und die Welt wird damit in ein monumentales Ereignis der permanenten Sichtbarkeit umgewandelt. In diesem Kontext zeigt sich erst die Komplexität der hier angesprochenen terroristischen Praxis der Bildervernichtung, die heutzutage so leicht einer entzeitlichenden Kritik unterzogen und als ›Barbarei‹ bezeichnet wird. 31 Es liegt zumindest die Vermutung nahe, dass zwischen der Zerstörung einer antiken Statue im irakischen Museum und dem durch die Täter prokurierten globalen Online-Streaming dieses Vorgangs viel weniger Diskrepanz besteht, als man zunächst denkt. Soll solch ein Bildersturm lediglich im Sinne einer unzeitgemäßen Rückständigkeit gedeutet werden? Die Abschaffung eines alten, als Idol gedeuteten Artefakts, aufgenommen durch die Linsen der neuesten Bild-Technologie, kann man als einen doppelten Bildersturm verstehen. Das eine Bild wird dabei nicht nur mit dem Hammer zerschlagen, sondern auch, wenn nicht vor allem, während seiner Ruinierung in einem anderen Bild festgehalten, übertragen und somit endgültig überwältigt. Dieses andere Bild – eine animierte und den Affekt animierende Live-Darstellung – zeugt wiederum nicht nur von der technischen Versiertheit der Bilderzerstörer. Es unterliegt auch augenblicklich einer Aneignung, indem es in eine globale Theaterbühne des ikonoklastischen Schreckens umgewandelt wird. Die alten Statuen fallen ebenso durch religiösen Fanatismus und kulturfeindlichen Radikalismus, wie sie zu Opfern des pervertierten Glaubens an die Macht der weltweiten technologischen Bildübertragung werden. Ein terroristischer Bildbericht nutzt die Modernität, um sie gerade als Fremdes zu verachten, und erhält auf diese Art und Weise den archaischen Status einer Schmäh- oder Beleidigungsformel. 31 Vgl. Latour 2002, S. 22 – 24: »Welche Kritikerin glaubt nicht, ihre höchste Pflicht, ihr wichtigstes Engagement bestehe darin, Totempfähle zu zerstören, Ideologien zu entlarven, Götzenanbeter eines Besseren zu belehren? Wie schon des öfteren bemerkt worden ist, stammten nahezu alle, die über die vandalistische Geste der Taliban empört waren, von Ahnen ab, die die kostbarsten Ikonen anderer Menschen in Stücke geschlagen hatten – oder sie selbst hatten sich an irgendeiner Großtat der Dekonstruktion beteiligt.«

Zerstörung und Aneignung

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Diese Kehrseite des eine Aneignung vollziehenden zeitgenössischen Bildersturms hat noch eine andere Bedeutung. Die äußerst brutalen Exekutionen von Gefangenen, die in den letzten Jahren zu einem gewohnten Bild aus Südwest- und Westasien geworden sind, werden den Zerstörungsakten von Bildern beinahe gleichgestellt, indem in beiden Fällen die Gewalt durch ihre eigene globale Zurschaustellbarkeit provoziert wird. Eine besondere symbolische Ebene des explizit als Bild entworfenen Grauens erreichte die Ermordung des 82-jährigen syrischen Archäologen Khaled al-Asaad am 8. August 2015, der – nachdem er sich geweigert hatte, den Terroristen den Ort zu verraten, an dem antike Kulturgüter versteckt worden waren – enthauptet und an einer antiken Säule nahe seiner Forschungsstelle Palmyra gehängt wurde. Sein Leichnam mit separat liegendem Kopf wurde mit einer Schrifttafel versehen, die ihn als »Götzendiener« und »Apostat« bezeichnete. 32 Das einzelne Opfer wird auf diese Art und Weise instrumentalisiert, um an die bürgerliche Verpflichtung gegenüber einem ›gemeinsamen Erbe‹ der Menschheit zu appellieren – ein Martyrium eines Bildes also, inklusive eines Menschenopfers. 33 Mit der Relativierung des einzelnen Menschen durch die Täter geht die gezielte Subjektivierung der Artefakte als Ikonen der Weltgemeinschaft einher – beide Aspekte sind Voraussetzungen für den medialen Erfolg dieses makabren Spektakels, das als eine umgekehrte executio in effigie bezeichnet werden kann, bei der die Menschen für Bilder geopfert werden, damit die Bilder umso mehr beweint werden können. 34 In der Intensität der weltweiten Reaktionen auf diese gezielte Angleichung von Bildern und Subjekten wird dementsprechend nicht nur die Verpflichtung zum Schutz von Kulturgütern artikuliert. Was sich zugleich manifestiert, ist eine neue trügerische Seite der aus der Distanz heraus hervorgerufenen Empathie im globalen Informationszeitalter, die sich in einer medialen Verschiebung der Trauer ausdrückt. Soll man Menschen wie Bilder und Bilder wie Menschen beweinen? Sind Bilder dazu fähig, durch ihre Evidenz eine Übertragung mit einer Verkörperung zu verbinden? Diese Grenzbereiche der technisch ermöglichten Bilderflut werden gerade durch diejenigen kriminell ausgenutzt, die sich selbst als Teil einer autoritär gesetzgebenden Macht verstehen und ihre mörderischen und bilderstürmerischen Aktionen als Mittel einer historischen Reparatur, einer normativen Rückführung der Geschichte betrachten. Zugleich sind diese Videoberichte gegen eine Welt gerichtet, die selbst glaubt, die Paradoxien des eigenen Bildglaubens bereits nüchtern gelöst und hinter sich gelassen zu haben. Im Endeffekt wird mit jedem Mausklick, mit dem der westlichen Sucht nach aus einer Entfernung technologisch ›sichtbar‹ werdenden Beweisen des Grauens nachgegangen wird,

32 Bredekamp 2016a, S. 14 – 17, 21 – 24. 33 Vgl. im Kontext der Vernichtung von Bamiyan-Buddhas: Elias 2007, S. 26: »What started out as a vague iconoclastic impulse became sharply focused as a reenactment of prophetic tradition, the Abrahamic precedent being invoked not just in the iconoclastic act but also in the symbolism of sacrifice, since the deaths of [Afghan – Anm. M.K.] children as a direct consequence of international sanctions evoked Abraham’s willingness to sacrifice his child for his monotheistic God.«) 34 Siehe u. a. Harman¸sah 2015, S. 170 – 177.

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Einführung

ein Signal gesendet, durch das die Tötungs- und Zerstörungsaktionen systematisch einen potenziert perversen Sinn erhalten: Sie sind ein mit Bildern geführter Krieg gegen die Bilder. Weil diese Bilder der Vernichtung nur darauf warten, angeschaut zu werden, werden sie in diesem Buch auch nicht publiziert. Denn für die Bilderstürmer, die die Menschlichkeit verachten, sind es echte herostratische Erfolgsmomente, wenn das unendlich multiplizierte Bild der Zerstörung das Gedächtnis des Zerstörten schließlich überragt – ähnlich wie die zusammen mit unzähligen Videoberichten unkontrolliert verbreiteten Bildnisse und Namen der Attentäter, die auf den technisch erzeugten Echtzeithunger des globalen Nachrichtenempfängers reagieren, die Tat und die Täter immer wieder präsent machen und zugleich die Individualität der Opfer in die mediale Vergessenheit rücken. 35 Im Sinne einer dialektischen Demonstration soll hier lediglich einer der beiden monumentalen Bamiyan-Buddhas abgebildet werden, wie er 2015 durch eine Privatinitiative auf eine wohl auch aus buddhistischer Sicht etwas dubiose, in unserem Kontext allerdings interessante Art holografisch im Laufe einer Lichtprojektion ›auferstehen‹ konnte (Taf. 1), wodurch eine komplexe Verzweigung zwischen Historizität und Erlösungsglauben, Macht und Technologie, Bildkanon und Beglaubigung sakraler Souveränität kurzzeitig sichtbar wurde. 36 In dieser monumentalen Projektion finden sich Zerstörung und Vergegenwärtigung als Leitkategorien globaler Bildkonflikte wieder.

Anachronismus und Antagonismus: Frühneuzeitliche Ausblicke In jedem Akt der Bilderzerstörung genauso wie in den historiografisch über Jahrhunderte kultivierten Bildkonflikten zeigt sich also die historische Komplexität des Bilderglaubens. Die frühneuzeitliche Darstellung der christlichen Anfänge als eine Zeit der ›Reparatur‹ veranlasst demnach zu einer Suche nach den Ursprungsrelationen der die Bilder zu einem Kultstatus erhebenden ecclesia militans und ecclesia triumphans im anti-idolatrischen Mittelalter und gibt Anlass dazu, die politische Verbindung des Anachronismus mit dem Antagonismus als einen der Grundsätze der katholisch geprägten Bildlichkeit zu bezeichnen. Das Mittelalter erscheint in diesem Verständnis der Historizität als eine vergangene Zeit der erfolgreichen Auseinandersetzung mit ›heidnischen‹ Idolen mittels eines neuen, polemisch auf Entzug, Verneinung und Aufopferung basierenden, mit ihrer Medialität Zeit und Raum zu transzendierenden Bilder. Die vorliegende Studie wird in diesem dialektischen Sinne – in Hinblick auf eine gegenseitige Abhängigkeit von Bilderfeindlichkeit und Bilderverherrlichung als Gegenstand einer historiografischen Retrospektion – zu einem Querschnitt durch medial gestützte Anwendungspraktiken des in Bildern antagonistisch diskursivierten katholischen Zeit- und 35 Klonk 2017, S. 130 – 134; vgl. Bredekamp 2016a, S. 27. 36 Zu ursprünglichen künstlerischen Projekten dieser ephemeren ›Rekonstruktion‹ siehe Elias 2007, S. 27.

Anachronismus und Antagonismus

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Geschichtsverständnisses im 16. bis 18. Jahrhundert. Die geografische Breite der hier untersuchten Werke und Konzepte fokussiert auf eine Achse zwischen den habsburgischen Gebieten Ostmitteleuropas, vor allem den Ländern der damaligen Krone Böhmens (Böhmen, Mähren, Schlesien, Lausitz), unter den Kaisern Leopold I. und Karl VI. einerseits und dem päpstlichen Rom andererseits. Diese differenzierende Positionierung zielt auf das Aufzeigen gegenseitiger Verknüpfungen der beiden Wirkungsbereiche des barocken Katholizismus, jenseits der geografischen Unterscheidung von ›einflussreichem Zentrum‹ und ›empfänglicher Peripherie‹. 37 Dabei sollen sich vor allem die Kohärenz und die Anpassungsfähigkeit der kirchlichen und der staatlichen Bildpropaganda zeigen, die zwischen dem politisch aus der Distanz konstruierten, aber direkt auf den Resten der ›heidnischen‹ Antike aufgebauten katholischen Feindesmodell (Rom) einerseits und dem polemischen Bildereinsatz am tatsächlichen Schauplatz der gewaltsamen Rekatholisierung im 17. und 18. Jahrhundert (Böhmen) andererseits auftreten. In einem Land wie dem protestantischen Böhmen, das seit 1620, als die böhmischen Stände unter der Führung des ›Winterkönigs‹ Friedrich V. von der Pfalz die Schlacht am Weißen Berg (Bílá hora) bei Prag gegen die durch den Kaiser Ferdinand II. geführte Katholische Liga verloren hatten, der zwanghaften Rückbekehrung zur katholischen Konfession ausgesetzt war, wurde die Inszenierung der Historizität von Artefakten als Teilnehmern im Gründungsdiskurs zu einer übergreifenden Subjektivierungspraxis. 38 Dabei geht es um diese Schlacht nicht im Sinne einer historischen Zäsur, sondern im Sinne eines Ereignisses, das selbst einer mimetischen Mythologisierung unterzogen wurde: Der Sieg bei Prag ermöglichte es dem Kaiser, als »neuer Konstantin« inszeniert zu werden, der die Modernität durch restauratio der katholischen Herrschaft im Land des ›Verfalls‹ einleitet und sichert. 39 Gerade am Beispiel des nach 1620 aus Prag nach Rom migrierenden Kultbildes S. Maria della Vittoria – ein mittelalterliches Kleingemälde, das wegen seiner faktischen Teilnahme als Palladium an dieser Schlacht zu einer antiprotestantischen und zugleich gesamtkatholischen Kriegstrophäe umgewandelt wurde und aus dem Grund eine den Verhältnissen entsprechend ähnliche mediale Karriere wie einst das Kreuz Konstantins erlebte (Kap. 2) – zeigt sich, dass die Kategorie des eindirektionalen historischen ›Einflusses‹ vom Zentrum zur Peripherie als ein veraltetes Erbe des kunst- und kulturhistorischen Denkens weitgehend relativiert werden muss. Mit dieser Fokussierung auf regionale Formen von Metamorphosen der Historizität als Argument in sakralpolitischen Kräfteverhältnissen des frühmodernen Europas kann nach der gegenseitigen Verknüpfbarkeit von medial migrierenden Erscheinungsformen bildlicher Topoi im Sinne eines mimetisch normierten und sich selbst grundierenden Diskurses gefragt werden.

37 Vgl. Evans 1979, S. 157 – 308. 38 Siehe einführend u. a.: Louthan 2009; Herzig 2002; Herzig 2000; Herzig 1996. Vgl. Spicer 2008, S. 335 – 342. 39 Hengerer 2012, S. 36 – 39 und v. a. 43 – 44; Vácha 2009, S. 79 – 89.

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Einführung

Ausgehend von geschichtsphilosophischen Überlegungen zur Natur der theologischen Norm, zu den Chancen auf ihre dialektische Entfremdung und zur Kritik des kunsthistorischen Anachronismus-Begriffs (Kap. 1), werden daher folgende Themenfelder vorgestellt: die frühmoderne Diskursivierung von Idolen als fremde Bilder in Hinsicht auf christliche Chronologie und Metaphorik der Zeit (Kap. 2); die christliche Archäologie und ihr Narrativ des triumphalen Neubeginns aus den Trümmern des besiegten Feindes, das in der rhetorischen Deutung des Protestantismus als antikes oder barbarisches, mit Idolatrie gleichzusetzendes ›Heidentum‹ mündet (Kap. 3); die klösterliche Bildkultur des Martyriums, in der die christliche Aufopferung im Kampf mit den Idolen als Verkörperungen der Natur zu einem zentralen Motiv wird – vor allem bei den Zisterziensern, die ihre eigene mittelalterliche Wurzel verbildlichen, und bei den Jesuiten, die eine neue bildliche Evidenz auf ihren Missionen in die interkontinentale Ferne tragen (Kap. 4); die herrschaftlich-konfessionelle Formung des kollektiven Gedächtnisses durch die politische Umgestaltung von mittelalterlichen Grabanlagen und öffentlichen Denkmälern in polemische, anti-idolatrische und bildzähmende Siegesmanifeste der katholischen Macht, gründend auf einer Allianz zwischen Thron und Altar (Kap. 5 – 6); die sich in technologischen Metaphern und wissenschaftlichen Ansprüchen realisierende, anti-idolatrisch ausgerichtete Bildpolitik der absolutistischen Selbstbehauptung als notwendiger Aspekt der Modernisierung, in der die christlich definierte Zeitlosigkeit von Herrschaft zum Ziel wird (Kap. 7 – 8). In diesem übergreifenden Szenario der theokratischen Werdung in der Frühmoderne wurde deutlich auf die Zusammenarbeit verschiedener Kunst- und Bildgattungen Wert gelegt, sodass in den einzelnen Kapiteln die Propagandafunktion von mehreren Medien als ein politisches Gesamtkunstwerk einer diskursiven Praxis besprochen wird: Malerei, Skulptur, zirkulierende Grafik, historiografische Schriften, wissenschaftliche Traktate und auch Architektur. Gerade in dieser Vielfalt der Medien zeigt sich eine Beharrlichkeit des antagonistischen, anti-idolatrisch verwurzelten Geschichtsmodells.

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Historische Kritik von Bildkulturen Eine kunstgeschichtliche Aufgabe

Die Entfremdung des Diskurses Damit der Sinn der in der Einleitung signalisierten Blickänderung deutlich wird, werden in diesem Kapitel Grundzüge einer kritischen Beschreibung dargestellt, um die folgenden Analysen einzuleiten und die Besonderheit der Autonomie der Bilder als Aussagen wie auch die Geschichte ihrer Instrumentalisierung zu erschließen. Dieser Ansatz, der sich als historische Kritik von Bildkulturen bezeichnen lässt, versteht sich als eine aus der Differenz hergeleitete Bilduntersuchung, in der über ein System geschrieben wird – aber von einem Punkt jenseits des Systems aus. 1 Diese Art der Umkehrung des Blicks kann zunächst mit der kurzen Erzählung Wasserspiegel von Cees Nooteboom veranschaulicht werden, mit der der Schriftsteller die Oberfläche des Wassers zum Ort einer fiktiven Begegnung von zwei Kulturen des Sehens und der Evidenz macht: Das Boot ist klein, eigentlich eher so etwas wie eine Wanne. Zwei zart gezeichnete Wesen fliegen über den wogenden blauen Wellen durch die Luft. In dem Boot sitzen drei Männer, der hinterste muß es mit einem einzigen Ruder voranbewegen. Ein vierter Mann befindet sich im Wasser, doch von Schwimmen kann keine Rede sein, allenfalls von Wassertreten, denn er hat beide Hände nach dem fünften ausgestreckt, der auf den Wellen steht, ohne zu sinken. Die ersten vier Männer machen das Gesicht, das man macht, wenn jemand über das Wasser geht. Schwarze Pupillen in den Winkeln staunender, ehrfürchtiger Augen. Bei dem Mann im Wasser steht der Name dabei: Petrus. Der fünfte Mann hat einen goldenen Heiligenschein, darüber stehen auf griechisch seine Initialen. Unter allem, was Poseidon aus der Tiefe gesehen hat, muß das wohl das Merkwürdigste gewesen sein: die Fußsohlen des Sohnes jenes anderen Gottes, auf der falschen Seite des Wasserspiegels. Die fünf Männer haben die Münder geschlossen, als gäbe es nichts zu sagen. Wenn etwas zu hören war, dann nur das Geräusch der Wellen und der Schritte auf dem glänzenden Wasser. 2

1 Vgl. Foucault 1988, S. 189 – 190. 2 Cees Nooteboom, Wasserspiegel, in: ders., Briefe an Poseidon, Berlin 2012, S. 91.

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Historische Kritik von Bildkulturen

Dieses von Nooteboom entworfene Bild zeigt jene Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen an, die die Kunstgeschichte vor eine Herausforderung stellt, verbinden sich damit doch die Fragen nach Bewertung und Darstellung von historischen Umbrüchen, die durch das Verdrängen von Etabliertem, das als Fremdes dargestellt wird, jeweils eine Neuzeit ausrufen. Die Szene der passiven Beobachtung des Wunders durch Poseidon von unterhalb des Wasserspiegels lässt nach den Bedingungen von Figuren historischer Abwesenheit fragen, mit der das wiederkehrende Problem der institutionalisierten Verknüpfung zwischen Anachronismus und Antagonismus sichtbar wird. In diesem Sinne spiegelt sich in der Leerstelle der Idole die europäische Modernität wider.

Entfremdung durch Umkehrung Die in den letzten Jahren akzentuierte globale Ausrichtung der Kunstgeschichte begünstigte solch eine Änderung der Betrachterperspektive. Es handelt sich dabei allerdings um ein spezifisches Verständnis der Globalität: Anzustreben wäre eine globale Kunstgeschichte, die nicht auf die geografische Neuerschließung bisher fremder, vernachlässigter oder verdrängter Themenfelder zielt, also auf die humanistisch aufgeklärte Wiederentdeckung der Ferne aus der angeblich neutralen Position der zeitgenössischen Diskursführung heraus. Sie beabsichtigt auch nicht die Entwicklung einer universalistischen Sprache oder einer Homogenität der Periodisierung und Inhaltsdeutung – parallel zu Michel Foucaults Ablehnung einer »globalen Geschichte« aufgrund der Unausweichlichkeit der historischen Diskontinuität. 3 Stattdessen ist die hier beanspruchte kunsthistorische Globalität vor allem als systemübergreifendes Kriterium der kontextbezogenen Gleichberechtigung unterschiedlicher historischer Perspektiven in ihrer gegenseitigen Verflechtung im Rahmen einer Demonstration von Kräfteverhältnissen und deren Asymmetrien zu verstehen: eine Geschichte ohne Orthodoxe und ohne Häretiker, das heißt im Sinne von Aktion und Reaktion nach historiografischen Gesetzen entscheidende und agierende Subjekte. 4 Es gilt nämlich, die Modelle zur Betrachtung außereuropäischer Bildkulturen gewissermassen auf die eigene Bildproduktion 3 Foucault 1988, S. 18 – 20. Vgl. zum Beitrag Foucaults zum Thema der (Dis-)kontinuität und der Periodenbildung im historiografischen Kontext der literaturwissenschaftlichen Barockforschung: Scholz 1991, S. 169 – 184 (zur Kritik der »globalen Geschichte«: S. 177 – 179, 181). Dass die kunsthistorische Untersuchung zur Globalität in der Vormoderne unter der Prämisse einer gegenseitigen Dynamik von Diskontinuität und Überschreibung geführt werden müsste, zeigt u. a. deutlich die Debatte von Flood et al. 2010, S. 3 – 19. 4 In diesem Kontext spricht Paul Veyne über einen »global viewpoint, that is, with successive practices«; Veyne 1997, S. 172. Zu Walter Benjamins Idee, Geschichte(n) der Besiegten zu schreiben statt die der Sieger und dabei die Unabgeschlossenheit des Geschehens wahrzunehmen, siehe Zumbusch 2018, S. 205. Vgl. zugleich zu Benjamins Distanz gegenüber der marxistischen Geschichtsschreibung aufgrund der dieser innewohnenden Möglichkeit einer revolutionären Verherrlichung der »Unterdrückten« der Geschichte: Moses 1993, S. 392 – 394. Siehe auch Beiträge in: Benjamin 2005.

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anzuwenden: die Dichotomie zwischen dem Subjekt des Sprechers, der immer nur die eigene Geschichte erzählt, und dem Anderen aufzuzeigen. Damit handelt es sich um eine selbstentfremdende Umkehrung 5 und nicht um eine Aneignung: Das Ziel ist eine Sichtung des seit langem vertrauten europäischen Bildfundus in einer globalen Perspektive, durch die gerade die auf Selbstdefinition durch Ausgrenzung und Entmündigung des Anderen zielenden Grundmuster des christo- und eurozentrischen Geschichtsverständnisses dargestellt werden sollen, die in einer nachhaltigen Produktion politischer Antagonismen mündeten. 6 In diesem Sinne lässt sich an den kunsthistorischen Ansatz von Claire Farago erinnern, die mit Bezug auf Deleuzes und Guattaris de-territorialisierendes Rhizom-Modell kultureller Artikulation für ein stärkeres Bewusstsein für historische Konfigurationen von Wiederkehr, Resonanz und Spiegelung plädierte: Deleuze’s notion of de-territorialization does not consider any ›centre‹ more imporant than any other in a network of nodes. This analytical scheme replaces cause and effect models, and is also a structure that supports subaltern readings of hegemonic structures, such as postcolonial readings of colonialism. The topology that Deleuze describes is like the inside of a conch shell – its repetitive patterns happen at different scales, and the nature of their resemblance can be described as fractal, but there is contiguity between the planes, as Deleuze puts it – just as the spiralling layers of a conch are connected. Such a model offers a productive scheme for thinking historically and concretely about human agency and the circulation of material culture, including works of art, through time, without falling back on untenable racial constructs that assume a direct connection between the mentality of a person or a people and their cultural productions. 7 Eine derartige Lektüre der Geschichte veranschaulicht die komplexe Natur der Zeitlichkeit, die sich als ein zirkulatorisches und relational veranlagtes Gebilde zeigt und die die Historizität selbst mittels bildhistorischer Analyse im Sinne einer jeweils vergangenen Gleichzeitigkeit erscheinen lässt. An diese Dimension der Historizität, die als ein formal-analytisches Wahrnehmungskriterium der einstigen Ko-Gegenwärtigkeiten von Kulturen verstanden wird, knüpft die vorliegende Studie an. Eine Demonstration von rhetorischen Membranen der eigenen Endgültigkeit, so wie sie in verschiedenen Erfüllungsstrategien, wie beispielsweise der Divinisierung der herrschaftlichen Souveränität in der europäischen Frühmoderne, zu

5 Foucault 1991, S. 34. Georges Didi-Huberman spricht im Kontext von Aby Warburgs anthropologischem Ansatz von der Notwendigkeit einer Verfremdung oder Beunruhigung; Didi-Huberman 2010, S. 51. 6 Vgl. den Vorschlag Walter Seitters, die expansionistische Universalisierung der Topoi in der Historiografie durch ihre jeweilige Verräumlichung und konsequent auch die globale Relativierung des ›Eigenen‹ zu nivellieren: Seitter 2005, S. 245 – 246. 7 Farago 2011, S. 102 – 103.

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Historische Kritik von Bildkulturen

Maßstäben historischer Entwicklung erhoben werden, ebnet folglich einer angestrebten dezentralisierten, dynamischen Beobachtung aus diversen, miteinander verzweigten historischen Perspektiven den Weg – erst durch die Kritik des Eigenen als eine stets korrelierende Singularität eröffnet sich eine transkulturelle Perspektive, die nicht nur offene Geografie würdigt, sondern vor allem auch Geschichte selbst neu denken lässt. 8 Die Geschichte der Idole als negative Vorzeigefiguren in der westlichen Bildkultur erweist sich dabei als ein exemplarisches Feld für solch ein Unternehmen. Dabei ist die Idolenfrage weder vom Standpunkt des theologischen Bilderverbotes aus zu analysieren – also von der apriorischen Definition der Idolatrie ausgehend – noch unter ›globalen‹ Prämissen aus einer lediglich deskriptiv antiquarischen Perspektive, im Sinne der neu entdeckten exotischen Fremdheit, zu bearbeiten. Vielmehr stellt das Idol in diesem Kontext eine obskure Figur des Ausgeschlossenen dar, die es ermöglicht, sich im Rahmen einer sukzessiven Beschreibungspraxis aus der Position der Differenz dialektisch mit dem Problem der historischen Kultivierung von Asymmetrien auseinanderzusetzen, die zur komplexen Definition der Idolatrie und zu ihrem historiografischen und wissenschaftlichen Nachleben überhaupt beigetragen haben. Es geht somit um eine Anerkennung des Idols, des fremden Bildes, als ein für ewig verlorener, negativ fiktionalisierter und dadurch doch aus seiner Abwesenheit heraus historisch sprechender Akteur des historiografischen Geschehens, sei es auch lediglich als eine im Rahmen eines Bilddiskurses rein argumentativ entwickelte Instanz eines Feindes. In diesem Vorgehen wird dem Idol keine Stimme gegeben, kein virtuell sprechender Körper, der den ›Heiden‹ oder den Häretiker sichtbar machen, verlebendigen, und somit die Geschichte im Sinne einer neuen Subjektmythologie runden und re-territorialisieren sollte. Die Dialektik des bildgeschichtlichen Vorgehens besteht stattdessen darin, aus der apriorischen Legitimität herauszutreten 9 und die als sinnstiftend konstruierte Abwesenheit historischer Subjekte 8 Ein rhizomatisches Wissensmodell als Alternative beschreibt u. a. Wieczorek 2005, S. 237 – 243. Vgl. zum dezentralisierenden Potenzial des Barocks für die gegenwärtige »Föderalisierung« der postnationalen Denkstrukturen in der globalisierten Welt: Seitter 2005, S. 245 – 256. Der Autor plädiert für Untersuchungen von »institutionellen Mikrotopographien« und argumentiert, »dass kulturelle Erscheinungen nicht nur immer irgendwann sondern auch irgendwo stattfinden und deswegen die räumliche oder topische Dimension ebenso zu berücksichtigen ist wie die zeitliche oder chronische. Ein Unterschlagen der topologischen Betrachtung würde suggerieren, dass man immer nur die Geschichte eines einzigen Topos betrachtet, oder etwa gar implizieren, dass man den einen Topos expansionistisch universalisiert – wie das ja schon die Epochenbegriffe Altertum, Mittelalter usw. nahelegen. Spätestens seit der Entdeckung der sogenannten ›exotischen‹ Kunst, die naturgemäß gleichzeitig mit ›unserem‹ Mittelalter oder ›unserer‹ Neuzeit in vielen Regionen der Welt erzeugt worden ist oder wird, muss man immer auch sagen, von welchen Orten man spricht. Wenn sie nicht ständig mit allmachtsartigen Homogenisierungen arbeiten will, kann Kunstgeschichte ohne differenzierende Kunstgeographie – bis hin zu urbanistischer und institutioneller Mikrotopographie – nicht auskommen.« In diesem Sinne wäre die rhizomatische Struktur des die barocke Zeitpolitik belichtenden Diskurses als Mittel zur Besprechung des Phänomens historischer Gleichzeitigkeiten – der ›unterirdischen‹ Heterogenitäten – zu verstehen, jenseits des ordnenden und verortenden Modells der ›Verwurzelung‹ (siehe Deleuze / Guattari 1977, u. a. S. 11). 9 Foucault 1992, S. 30 – 31.

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analytisch zu beschreiben. 10 Gerade diese Abwesenheit als Element des historischen Diskurses und nicht das Idol selbst bildet hier den Gegenstand der Beschreibung. Solch eine in die Tiefe der frühmodernen Anachronismen gehende Erkundung von historischen Rissen zwischen Ding, Ereignis und Begriff zeigt sich demnach nicht als glossierende Umwandlung von modernen historiografischen Theoremen, sondern als eine konkrete Praxis der historischen Kritik an den mit Bildern entworfenen universalisierenden Ewigkeitsprojekten der westlichen Geschichtsschreibung. Damit stehen aber auch die zumeist aus der Gewalt gegen das Andere resultierenden stiftenden Ursprungs- und Souveränitätsparadigmen auf dem Prüfstand. Mit der vielfältigen diskursiven Entfremdung des Idols wurde insbesondere im 16. bis 18. Jahrhundert eine neue Evidenz ins Leben gerufen, mit der neue Bilder, die die im Mittelalter gestürzten Idole ersetzten, sich selbst in ihrer systemischen Diszipliniertheit auf den Trümmern des Vergangenen als fortschrittliche Instrumente der Macht behaupten sollten. Solch eine Praxis der Selbstbehauptung ist per se ein globales Thema im Sinne einer tatsächlichen oder fiktiven Kräftemessung historischer Kollektivsubjekte – eine Globalität, die historische Heterochronien ermöglicht und die zeitliche Autarkie jedes alternativlos teleologisierten Modernitätsbegriffes wahrnimmt, um seine Derivate in stets aktualisierten Konstellationen kritisch zu beschreiben. 11 Schließlich waren es in der Frühen Neuzeit nicht nur christlich im Mittelalter verhöhnte griechisch-römische Statuen und Kultstätten, sondern auch – infolge einer geografischen Progression der europäischen Bildkultur – ebenfalls Bilder der buddhistischen, hinduistischen, jainistischen, oder amerikanischen Kulturen, deren komplexe, teils philosophisch untermauerte Sinnschichten zerstört oder medial durch die westliche Idolenfrage einer radikalen Verknappung unterzogen wurden. Wie wurde diese räumliche Entfernung mit der zeitlichen Distanz historischer Erfahrung gekoppelt? Wie wurde die geografisch bedingte Sicht auf andere Kulturen durch eine geschichtliche Resonanz zwischen ›Alt‹ und ›Neu‹ gestaltet? Eine Beschreibung eines über Jahrhunderte kultivierten Konflikts zwischen Bild und Idol, die wiederkehrende Muster des Antagonismus aufdeckt, benötigt angesichts dieser Fragen eine praktische Deprivilegierung bisheriger Sprecher der Geschichte. Dieser Schritt müsste in einer analytischen Exteriorisierung des durch diese Sprecher etablierten Kanons bestehen. Die Frage der Vielfalt der Götter und ihrer Bilder, die in der Frühen Neuzeit zu einer starken Komponente der globalen Asymmetrie und ihrer Kultivierung gemacht wurde, erweist sich in diesem Sinne als eine Frage der Kontrolle über die Zeit. Es handelt sich dabei um ein gedankliches Ursprungsmoment, mit dem historische Versuche unternommen werden konnten, die Zeit diskursiv zu verschieben, zu vereinheitlichen oder zu entstellen, und sei es auch nur in Form von bildlichen Anachronismen. Für das konkrete Thema dieser Studie

10 Daher werden in diesem Buch Worte wie heidnisch oder Götze mit einem Anführungszeichen versehen, um diese auch in der kunsthistorischen Literatur durchaus kultivierte abwertende Nomenklatur des christlichen Zentralnarrativs zu relativieren. 11 Zum Konfliktfeld: Globalität – Modernität siehe diesbezüglich Moxey 2013, u. a. S. 2 – 3, 11 – 22.

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bedeutet dies fast automatisch: Sie bietet einen Blick auf den habsburgischen Barock aus der Position der politischen Praxis der antagonistischen Zeitbestimmung, in der das gegen die Idole eingesetzte Bild zu einer technischen Maßnahme der Evidenz von Dauer, Einheit und Kompetenz gemacht wurde. Die Politik der bildlichen Zähmung von Vergänglichkeit – die sowohl poetische als auch empirische Grundfrage des 17. Jahrhunderts – lässt sich als das grundsätzliche Werkzeug von Machtausübung bezeichnen. Es war unter anderem gerade diese visuelle Effektivität der Zeitkontrolle, die den Ablauf der interkontinentalen Begegnungen im Rahmen der frühneuzeitlichen Globalisierung bestimmte – der Begegnungen von unterschiedlichen Kulturen der Zeit, mit oder ohne Sinn für archivtaugliche und verschriftlichte Geschichtlichkeit. Nicht die bildzähmenden Normen der Bildertheologie, sondern darüber hinaus und vor allem die grundlegenden Unterschiede in den eschatologischen Zeitkonzepten der jeweiligen Kulturen im Bereich der Vorbedingungen der Bildlichkeit bewirkten diesen Prozess. Hier setzt die historische Kritik an. Im westlichen Christentum ist die zeitliche Einbettung der res gestae einerseits mit der raumzeitlichen Exklusivität des Schöpfergottes im Rahmen seiner Transzendenz verknüpft und andererseits durch die endzeitliche Alleingültigkeit der Alternative zwischen Erlösung und Verdammung vorbedingt. Die Anerkennung dieser Konditionen als Elemente der historischen Verknappung der Zeitfrage führt zu einer Möglichkeit, sie als historische Singularitäten zu betrachten und in Relation zu stellen. Dies zeigt sich insbesondere im Kontext der kultivierten Konfliktflächen zwischen der christlichen Erlösungslehre und den polytheistischen Metamorphosen des Göttlichen, den antiken Konzepten des NichtSeins oder der natürlichen Immanenz und den östlichen Eschatologien der Leere. Auf diesem Wege kann gerade die bildhistorische Globalität aus der Geschichte der Differenz, die über die diskursive Verwurzelung der Beschreibung hinausragt, hergeleitet werden. Die Stimme dieser Beschreibung ist eine geteilte, sie erklingt nicht in der Sprache der Identität.

Krakelüren des historischen Großgebildes Die Dialektik der Vielfalt enthüllt Geschichte als Konfliktfeld von verschiedenen Ansprüchen auf Bewahrheitung: »History has become the story of what men have called truths and of their struggles over those truths.« 12 In solch einem Vorgehen zeigt sich zuerst eine Äußerlichkeit der Diskurse, die diese Diskurse in ein Gefüge von Bedingungen, in dem Wahrheitsansprüche formuliert, gefestigt und erweitert werden, einbettet. 13 Gerade unter solchen Prämissen kann der aktuell geäußerte Anspruch auf Selbstevaluierung einer sich als global und transkulturell verstehenden Kunstgeschichte erfüllt werden: eine historische Kritik des eigenen Kanons. Durch solch ein Vorgehen – das Schreiben der Geschichte, die sich der Kapitalisierung von 12 Veyne 1997, S. 171. 13 Eine von Michel Foucaults vier Modalitäten der Äußerung, neben Diskontinuität, Spezifität und Umkehrung: Foucault 1988, u. a. S. 75 – 82, 175 – 177, hier v. a. S. 81 – 82.

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Kontinuitäten entzieht – wird grundsätzlich nach der Regelhaftigkeit von Erscheinungsformen und den historischen Möglichkeitsbedingungen der Machtansprüche gesucht, die im konkreten, jeweils vorgegebenen Rahmen vorhanden waren. 14 Mit einem derartigen Instrumentarium strebt die historische Kritik von Bildkulturen keinen neuen Universalismus an: Vielmehr ist sie in diesem Sinne als ein Entwurf zu bezeichnen, der lediglich Hinweise gibt und mithilfe einer Praxis der entfremdend-kritischen Beschreibung versucht, die historische Produktion von ›Wahrheit‹ zu verfolgen. Der Historiker muss – so wie der Philosoph 15 – mit der Geschichte aus der Geschichte hinaustreten und nach konstruierten und tradierten Regelhaftigkeiten suchen. Damit können historische Wissenschaften die Verhältnisse zwischen Singularitäten und gemachten Ganzheiten wahrnehmen, ein reklamiertes Eigentum der ›wahren‹ Geschichte entkräften, dekapitalisieren und zugleich nach den langfristigen Kosten solcher Ansprüche in jeder Gegenwart suchen. Es geht hier also darum, den Finger direkt in die Spalte der Geschichte als Geschichte der Normierung zu legen sowie Disjunktionen und Unebenheiten 16 der eingeleiteten Diskurse aufzuzeigen, statt ihre Valenz durch die Unausgesprochenheit der Gespenster zu kultivieren. Oder anders formuliert: Wir müssen, mit Nietzsches Worten, »eine Vergangenheit zerbrechen und auf lösen, um leben zu können«. 17 Zugleich aber, wie der Philosoph am Ende seiner Fröhlichen Wissenschaft im Sinne einer entsubjektivierenden Losbindung von der Schwere der eigenen Zeit anmerkt: »Man muss sehr leicht sein, um seinen Willen zur Erkenntnis bis in eine solche Ferne und gleichsam über seine Zeit hinaus zu treiben, um sich zum Überblick über Jahrtausende Augen zu schaffen und noch dazu reinen Himmel in diesen Augen!« 18 Die Situation eines ›weiten Blicks von oben‹, der eine notwendige kritische Sachlichkeit gegenüber der Geschichte ermöglichen soll, wurde bereits mit der Metapher einer räum14 Vgl. Foucault 1991, S. 35: »Man muß nicht vom Diskurs in seinen inneren und verborgenen Kern eindringen, in die Mitte eines Denkens oder einer Bedeutung, die sich in ihm manifestieren. Sondern vom Diskurs aus, von seiner Erscheinung und seiner Regelhaftigkeit aus, muß man auf seine äußeren Möglichkeitsbedingungen zugehen; auf das, was der Zufallsreihe dieser Ereignisse Raum gibt und ihre Grenzen fixiert.« 15 Deleuze 2009, Buchstabe C. 16 Foucault 1988, S. 223. 17 Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: ders., Werke in drei Bänden, hrsg. von Karl Schlechta, Darmstadt 1966, Bd. I, S. 229. Siehe dabei eine ausführliche Kritik der nietzscheanischen Ursprünge von Foucaults Archäologie der Konflikte: Thiele 1990, S. 907 – 925. 18 Friedrich Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, in: ders., Werke in drei Bänden, hrsg. von Karl Schlechta, Darmstadt 1966, Bd. II, S. 255 (»›Der Wanderer‹ redet«, V, 380). Im Kontext des hiesigen Studiums ist es allerdings auffallend, dass der unzeitgemäße Nietzsche in seiner umstrittenen Götzen-Dämmerung von 1889 im Sinne der »Umwertung aller Werte«, grundlegend der des Christentums, selbst die christlich vordiskursivierte Metapher des gegen die »Götzen« gerichteten Hammers verwendet: sie werden zwar nicht zerschlagen, aber dennoch sollten sie mit dem Hammer wie mit einer Stimmgabel »ausgehorcht« werden und sich in ihrer »Hohlheit« zeigen (siehe dazu v. a. Blondel 1981, S. 51 – 72 und Sommer 2009, S. 45 – 66, v. a. S. 54 – 57). Zu einem Echo dieses Hammerschlags bei Foucault siehe Kap. 1, Anm. 149; vgl. dazu wie einst Francis Bacon die »Idole« des menschlichen Verstandes entblößte: Kap. 7, Anm. 32.

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lichen Entfernung ausgedrückt: Michel Foucault beruft sich in seinem eröffnenden Werk zu Interaktionen zwischen Wahnsinn und Vernunft auf den von Erasmus von Rotterdam geschilderten Standpunkt des griechischen Kynikers Menippos von Megara, der laut Lukians Icaromenippus auf seiner Reise zu den Sternen auf dem Mond einen Zwischenstopp machte und die Erde von dort nachts beobachten konnte, und zwar mit Hilfe des Naturphilosophen Empedokles, der – nachdem er sich in die Ätna gestürzt hätte – von der Wucht des Vulkanausbruchs zum Mond katapultiert worden sei und dort bereits »von Thau lebe, und in der Luft umherspaziere.« 19 Paul Veyne sieht in seinem kritischen Betrachter der Geschichte einen Bewohner des Sternensystems Sirius, der einen unbefangenen Blick auf die irdischen Verhältnisse beibehält. 20 Auch Krzysztof Pomian entwirft in seinem Buch zu Zeitordnungen eine Sirius-Perspektive, welche die Sichtbarkeit einer reinen zeitlichen Abfolge über lang anhaltende Zyklen und Tendenzen hinweg gewährt. 21 Ebenso schreibt Peter Sloterdijk in einem ähnlichen Sinne über eine »Philosophie der Raumstation«, die durch die technische Übernahme göttlicher Sehkompetenzen eine »starke Beobachtung« der irdischen Verhältnisse zugunsten des Weltgewissens ermöglicht. 22 Auf die Konstruktionen der Geschichte müsste man dann – so wie auf die Bilder – unter Berücksichtigung ihrer Krakelüren schauen, um sich von diesen aus – aus dem Dazwischen der faktischen Einzelteile der in der Zeit zerbröckelnden und sich neu konfigurierenden Darstellung – über sie zu erheben und sie, diese historiografische Modelle, als werdende und zerfallende Konstrukte begreifen zu können. Diese Praxis der sich einer Landschaft der Diskurse widmenden Analyse kann man sich vielleicht sogar – um die hier angeführten monumentalen Dimensionen der fernen Anschauung bescheiden zu konterkarieren – als eine bildhistorische Ballonfahrt vorstellen, bei der eine Anstrengung gefordert wird, um die kartografische und zugleich tektonische Ganzheit des historischen Gebildes in der diskursiven Einbettung seiner einzelnen Teile sehen zu können. Verlassen wir bei der Bildbetrachtung den natürlichen Maßstab, das Angesicht-zu-Angesicht vor dem Bild, der uns dazu veranlasst, mit unserem Blick die Bilder uns anzueignen, und verfolgen stattdessen mit langsam zunehmender Distanz die monumentale Werdung dieses Gesamtbildes, so erkunden wir sowohl seine Reichweite, seine diskursive Topografie, als auch einzelne Fragmente und Spaltungen. Der Schatten unseres Ballons, der während des Emporsteigens auf die Fläche dieses Bildes geworfen wird, wäre zugleich eine kleine kunst- und bildhistorische secunda idea. Es wäre ein Versuch der gedanklichen Rückführung der barocken prima idea Gianpietro Belloris und Vincente Carduchos, die mit dem Schatten des Pinsels auf 19 Foucault 1973, S. 46. 20 Veyne 1997, S. 168. (Diesen Blick schreibt er an einer anderen Stelle direkt Foucault zu: »[. . . ] obwohl er die Welt vom Standpunkt des Sirius aus betrachtete, sah er sie auch als potentielles Schlachtfeld, nun, da diese Welt, die antike ebenso wie die moderne, in seinen Augen jegliche Legitimität eingebüßt hatte.« Veyne 2009a, S. 156, 166.) 21 Pomian plädiert dabei für die Anerkennung der Koexistenz von unterschiedlich veranlagten Evolutionen in historischen Studien: Pomian 1984, S. 95 – 96. 22 Sloterdijk 2016, S. 177 – 184.

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der tabula rasa die platonisch-transzendente Kraft als Ausgangspunkt der Künstleraussage metaphorisch würdigten, 23 auf die Ebene der immanenten diskursiven Metamorphosen der Bilder. Denn solch ein Ballonschatten – ein Schatten des akribisch die Einzelfelder in ihrer historischen Verknüpfung kartierenden Betrachters – schafft eine Evidenz der entfremdenden und doch in ihrer Langsamkeit schlicht beeindruckenden Entkoppelung von der Statik einer historischen Darstellung. Die Ballonfahrt, so wie sie bereits im 18. Jahrhundert mit Begeisterung wahrgenommen wurde, ist eine Erkundungsreise. Geschichte, die in diesem Sinne als Abfolge von miteinander verknüpften Strategien der Bewahrheitung von Ansprüchen analysiert wird, zeigt sich als ein Bedürfnis- und Handlungsraum, der aus der Perspektive der strategisch-analytischen Gleichberechtigung von Siegern und Verlierern in historischen Transformationen und Konflikten gestaltet werden kann. Dieser Raum, der sich zuerst strikt historisch und nicht nur geografisch für das Andere öffnet, ermöglicht auch, die gesetzlichdoktrinale Sanktionierung der Gewalt aus der differenzierenden Position anzusehen. Auf diesem langsam, aus zunehmender Entfernung immer sphärischer werdenden Gebilde der Geschichte kann kein Zentrum aufgezeigt werden. Aus der Entfernung sind die Rufe der Besiegten genauso stumm wie die triumphalen Schreie der Sieger. Eine Reflexion über den im Bildkonflikt angesiedelten historischen Sinn einer Neuzeit aus solch einer Distanz verleitet demnach zu einer Modernität, die die Teilhabe am historischen Geschehen und an dessen Erinnerungsarbeit als »Verzicht auf die Möglichkeit, ein Alibi zu haben« versteht und sich nur deswegen global behaupten kann. 24 Solch eine langsame Zunahme der Distanz macht es möglich, die Reichweite der historischen Diskurse über ihre Zeit hinaus – Progression des Anachronismus – in den topografischen wie auch epochalen Grenzziehungen der Kunstgeschichte wie eine historische Landschaft zu sehen und zu hinterfragen. Denn aus solch einer entfremdenden Distanz zeigt sich Geschichte selbst als ein konzipiertes und mimetisch gemaltes Bild, dessen übergreifende Pinselstriche genauso wie einzelne Krakelüren unsere Wahrnehmung dessen vorbestimmen, was wir Aktualität nennen. Und es ist in diesem Kontext vielleicht auch leichter zu verstehen, warum Paul Veyne das geschichtsphilosophische Vorgehen Michel Foucaults als eine »malerische Methode« bezeichnete, die die Gegenstände im Kontext von Praktiken und Relationen beleuchtet, so dass der Philosoph mit seiner Diskursanalyse selbst Bilder im Stil von Cézanne male, allerdings erscheinen diese selbst als Landschaften wie nach einem Erdbeben. 25 Solch eine fundamentale Erschütterung scheint nötig gewesen zu sein, um gerade im Hinblick auf geschichtliche Ganzheiten die Diskursivität der historischen Arbeit jenseits 23 Siehe Stoichita 1999, S. 92 – 97. Vgl. Steigerwald 2014 (2015), S. 325 – 349. Vgl. Abb. 151. 24 Sloterdijk 2001, S. 367. 25 Veyne 1997, S. 181 – 182. Vgl. die Erinnerungen von Pierre Macherey, der die Publikation von Foucaults Geschichte des Wahns schlicht als »l’effet du seisme« der jenseits der Doktrin historisierenden Philosophie »sensu largo« beschreibt (Macherey 2009, S. 27). Es geht also nicht um die Energie des Erdbebens selbst, sondern um das Unbehagen danach. In einem vergleichbaren Sinne schreibt etwa Hans Blumenberg über die psychoanalytische Revolution Freuds: »Das Freudsche Unbehagen gründete sich auf

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der Versuchung der Rekonstruktion eines sprechenden Vergangenheitssubjekts aufzuzeigen. Bereits der Philosoph und Historiker Robin Collingwood – dessen Vision der Geschichte als kritischer Disziplin, die sich auf Imagination stützt, interessanterweise sowohl im Sinne eines frühen Vorläufers als auch eines Gegenpols von bzw. zu Foucaults Umkehrung des Diskurses interpretiert wird – sah die Selektion als grundlegendes Kriterium historischer Arbeit. Für ihn arbeitet der Historiker, der die Stimmen seiner in Quellen vorgefundenen Autoritäten der Vergangenheit ›reproduzieren‹ will, wie ein Landschaftsmaler, der die Tatsache nicht wahrnimmt, dass sein Gemälde Resultat seiner eigenen Entscheidungen ist. Damit problematisierte Collingwood die Vorauswahl, die Vereinfachung und die Schematisierung als Modalitäten des historischen Schreibens und betonte, dass der Historiker selbst und nicht seine historischen Autoritäten für die angestrebte Exaktheit seines mimetischen Denkens verantwortlich sind. 26 Für Gilles Deleuze, der die Philosophie wiederum als eine Art Porträtkunst bezeichnete, bedeutete der Aufbruch in die Freiheit der Spekulation eine Schlacht, die der Denker führen muss: eine Auseinandersetzung mit dem eigenen mimetischen Glauben an vorgegebene klassische Doktrinen, eine Schlacht wie die des Malers, der seine Angst und Panik angesichts der Farbe im schöpferischen Furor zu bewältigen versucht, um zu ihren neuen Vibrationen zu gelangen. 27 Sind es besonders reizvolle Analogien, die das philosophische Vorgehen der notwendigen Demontage von historischen ›Wahrheiten‹ vor Augen führen, so erscheint es sinnvoll, diese bildhafte Poetologie des Umbruchs auf das kunsthistorische Feld der kritischen Demimetisierung von historischen Bildern in ihrer Deutung als treue Agenten bewusst planender Subjekte einer Erfüllungsgeschichte zu übertragen. Nur in diesem bildhistorischen Vorgehen eines durch Entfernung eingeleiteten produktiven Erdbebens werden in Bildern ihre eigenen Präkonditionierungen und Überdeterminierungen aufgezeigt werden können, ohne dass Bilder selbst zu bloßen Summen ihrer historisch heterogenen und vernetzten Einzelteile, zu Illustrationen ihrer eigenen Kompaktheit werden. Aus dieser die einzelnen Fragmente kartierenden Entfernung erscheinen die Verknüpfungen zwischen Bildern als eine Art historischer Handlung, die mittels Transformation überepochale Strukturen des Denkens langfristig prägt. Darin zeigt sich auch der spezielle Status der Bilder, die sowohl an dem Diskurs teilnehmen als auch die Praxis verkörpern (wenn man hier wieder Foucaults Differenzierung aufrufen möchte 28): Bilder sind imstande, Begriffe

eine erschreckende Entdeckung: die Bloßlegung einer psychischen ›Unterwelt‹ im Menschen. Seither erlaubt das Gespenst des Unterbewußtseins keinem mehr ganz, sich selbst zu trauen. Es ist wie nach einem Erdbeben: die Erde sieht so fest und verläßlich aus wie zuvor, aber das Vertrauen in ihren unverrückbaren Bestand kehrt nicht zurück«; Blumenberg 2015, S. 54 – 56, hier: S. 55. 26 Collingwood 1956, S. 236 – 237, vgl. S. 245. Siehe auch Didi-Huberman 2010, S. 416 (zu Aby Warburgs Diktum über den Historiker als »Seher« der gesamten – »komplexen« – Zeit, vgl. ebd., S. 43 – 44) wie auch Veyne 1990, S. 162 – 164. 27 Deleuze 2009, Buchstabe H; Jaeglé 2005, S. 56 – 60. 28 Vgl. Foucault 1988, S. 41 – 43; vgl. ebd., S. 171 zur diskursiven Praxis als »Gesamtheit von anonymen, historischen, stets im Raum und in der Zeit determinierten Regeln, die in einer gegebenen Epoche und

Die Entfremdung des Diskurses

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als Schilderungswerkzeuge der Praxis aktiv zu transportieren und die Grenze zwischen dem Gesagten und dem Gemachten aufzuheben. Bilder als Instanzen, die sich den Rigorositäten der Sprache entziehen und eher mit zahlreichen Überschreibungen und Gedächtnislücken statt mit fester Syntax agieren, gewähren augenblicklichen Retrospektionen und Antizipationen den Vorteil, in ihrer konstruierten Faktizität als sichtbar gemachte Vorgänge zu leicht erkennbaren, bildlich bereits ›stattgefundenen‹ Ereignissen zu avancieren. Damit kann die Relevanz des Ereignisses als Leerstelle zwischen dem Unvorhersehbaren und dem Erinnerten spezifisch kunsthistorisch angefochten werden, im Sinne einer Erweiterung der durch die Geschichtsphilosophie bereits artikulierten Leitfrage, ob überhaupt von einem Ereignis gesprochen werden kann, wenn sich der Akt des Sprechens doch unausweichlich durch seine Nachträglichkeit und Multiperspektivität auszeichnet. 29 Jedes Narrativ muss einen Anfang und ein Ende entfalten, jedes Ereignis erschöpft sich demnach in der erzählenden Nachträglichkeit. Diese natürliche gegenseitige Verspätung, die selbst zu einem Ereignis avanciert, kann nie aufgehoben werden. In dieser Souveränität der Bilder liegt daher der Reichtum und zugleich das Risiko ihrer anachronistischen Wirkung. Das Ziel einer historischen Kritik von Bildkulturen wäre es gerade, solche Schnittmengen von Diskurs und Praxis, von Antizipation, Verwirklichung und Projektion zu registrieren und aufzuspüren. Somit könnte untersucht werden, inwieweit der Diskurs selbst (die Möglichkeit, eine Aussage zu formulieren, und nicht nur eine feste Ideologie) Resultat einer langfristigen Subjektivierungspraxis ist, inwieweit der Modus der Beschreibung der Realität in einer konkreten historischen Zeit dem in Bildern systemisch verankerten Denken zu verdanken ist oder inwieweit schließlich die Urteilskraft im wisenschaftlichen Diskurs durch die gleichen Praktiken fundiert wird, die der Diskurs selbst kritisch zu beschreiben versucht. 30 Dieses Buch erhebt dementsprechend auch keinen Anspruch darauf, den allgemeinen Charakter der in Bildern erfolgenden Begegnung von zwei unterschiedlichen historischen Epochen, Mittelalter und Früher Neuzeit, zu bezeugen. Es präsentiert lediglich ein Modell

für eine gegebene soziale, ökonomische, geographische oder sprachliche Umgebung die Wirkungsbedingungen der Aussagefunktion definiert haben«, und ebd., S. 211 – 212 zur nötigen Entgegnung des Vorwurfs, diese diskursive Praxis wäre eine epochal vereinheitlichende Prozedur. Vgl. auf dem kunsthistorischen Boden u. a. die kritischen Anmerkungen von Bätschmann 1990, S. 13, zu Erwin Panofskys Formulierung des Neoplatonismus als explanans »aus den Regeln einer geschichtlichen Überzeugung«, einer Methode, die sich am deutlichsten in seinem Buch Gotische Architektur und Scholastik von 1951 (amerikanische Ausgabe) niederschlug. 29 Derrida 2003. Vgl. Landwehr 2016, S. 166 – 175; Lawlor 2014, S. 148 – 152; Ricœur 2004, u. a. S. 368. Darüber hinaus zur Darstellbarkeit des Ereignisses im chronologischen Rahmen von Vorher und Nachher aus der Perspektive der hermeneutischen Geschichtswissenschaft: Koselleck 1979a, S. 144 – 157, wie auch zusammenfassend aus der einst grundlegenden Diskussion zum Thema Ereignis in den historischen Wissenschaften: Borst 1973, S. 536 – 540; Koselleck 1973b, S. 560 – 571. 30 Vgl. Foucault 1992, S. 31 – 33 (zur Untersuchung von »Verschränkungen von Zwangsmechanismen und Erkennungsinhalten« im Rahmen einer »historisch-philosophischen Praktik«).

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der Bildargumentation – einen historischen Bilddiskurs, in dem das Moment einer polemischen Geschichtsaneignung als treibende Kraft eine grundlegende Rolle spielt. Gerade in den frühneuzeitlichen Praktiken einer Hervorhebung des als eine Zeit der Idolenbekämpfung kategorisierten Mittelalters fand dieses Modell eine folgenreiche Anwendung: in der Historiografie genauso wie in der Kunst. Mit der insbesondere im 17. bis 18. Jahrhundert vorgenommenen Kultivierung der diskursiven Dyade ›Mittelalter / Barock‹ zeigt sich deutlich, wie historische Größe mit antagonistischen Bildern konstruiert wird, wie herrschaftliche Ordnung ihre Legitimität aus den selbst verfassten Rollentexten in einem Drama der Gewalt schöpft und wie Subjekte der Ausschließung schließlich zu Kollateralschäden in dieser eigenhändig produzierten Geschichte erklärt werden. Durch eine kritische Befragung der poetischen Modi, der operativen Kulissen der frühmodernen Geschichtsbühne, in denen das Ereignis als eine historiografische Schnittstelle überhaupt zu finden ist, kann gerade Geschichte in ihren diskursiv geprägten Ansprüchen auf Gesamtheit, Antizipation, Konsequenz, Kontinuität und Dauer bewertet werden. Es geht darum, die Tatsache zu untersuchen, warum wir heute nicht die Bilder erklären können, sondern immer in den apriorischen Aussagen über sie gefangen bleiben, wie auch darum, gerade die diskursiven Entstehungskontexte von diesen zu hinterfragen. 31 Federführend ist dabei die Frage, inwieweit in Bildern auf Fundamente der ursprünglichen Verstaatlichung von Religion als ein Szenario dieser Subjektivierung zurückgegriffen wurde und inwiefern gerade dieser Bezug über das Schicksal der europäischen Modernität entschied.

Bild, Norm, Konflikt In den letzten drei Dekaden wurde in der kunsthistorischen Forschung unter anderem die Tatsache in den Vordergrund gerückt, dass im frühneuzeitlichen Entwicklungsprozess des sich selbst als Repräsentation immer mehr medial ›bewusst‹ werdenden Kunstbildes die dem mittelalterlichen Kultbild eingeschriebene Präsenz des Dargestellten aufgehoben wurde. 32 Diese Veränderung erweist sich ebenfalls als maßgeblich für das Nachleben der mittelalterlichen Bilder, die im barocken Zeitalter wieder ins Zentrum der kollektiv gestalteten Aufmerksamkeit geraten sind. Dem neu gerahmten Bild aus der Vergangenheit wurde dabei allerdings in seiner schlichten Objekthaftigkeit einerseits die leibliche Rolle eines historischen ›Augenzeugen‹ zugesprochen, andererseits sollte es weiterhin eine Vermittlerrolle bei der Kontaktaufnahme mit der göttlichen Transzendenz spielen, ohne allerdings eigene Macht eines selbstständig handelnden Subjekts aufzuweisen – eine anti-idolatrische Aufgabe, die gerade die Materialität und Objekthaftigkeit des ›sprechenden‹ Artefakts abwerten soll. Die

31 Foucault 1988, S. 69. Vgl. Bätschmann 1990, S. 10. 32 Siehe v. a. Stoichita 1998, Belting 1990; Freedberg 1989.

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Teilnahme des Betrachters an solchen dualistisch veranlagten Aktualisierungsphänomenen der Frühen Neuzeit wurde dementsprechend dadurch bedingt, inwiefern das bereits im Mittelalter als ein aktives Scharnier zwischen der göttlichen Dimension und der Realität des Betrachters agierende Bild, theatralisch-rituell gespalten im Ritual zwischen Identität und Differenz, 33 nun selbst als strikt historischer Vermittler – eine zwischen den Epochen ausgedehnte Instanz – zur Schau gestellt wurde. Es können dabei mehrere Fragen aufgeworfen werden: Inwieweit wurde diese doppelte, ontologische und zeitliche Spaltung im Bild durch die neue mediale Inszenierung, die den alten Artefakten beigegeben wurde, in ein monumentales anachronistisches Argument umgearbeitet? Wird die gegebene Hülle selbst zum Bild? Wird die Gegenständlichkeit dieses ursprünglichen historischen ›Augenzeugen‹ durch das metaphorische Gesamtszenario der Aktualisierung überblendet oder inkorporiert, damit seine exklusiven Vermittlungskompetenzen übernommen und verstärkt werden können? Die politische Konstruiertheit der Erscheinung von mittelalterlichen Artefakten im Barock stellt jedenfalls die von Hans Belting vertretene These in Frage, dass seit den frühmodernen Bilderstreitigkeiten die Bilder selbst an einer neuen Autorität gewonnen hätten: »Die Bilder waren demokratisiert worden, wobei sie gerade jene Aura verloren, von denen ihr Kult gelebt hatte.« 34 Die europaweite, durchdachte und konfessionell bestimmte barocke Strategie der Aktualisierung der Vergangenheit durch bildliche Relikte aus dem Mittelalter als Mittel gegen politische Feinde scheint ein Widerspruch zu solch einer ›Demokratisierung‹ gewesen zu sein. Diese Strategie lässt sich als ein endgültiges hypertrophes Antidoton gegen die erste mediale Profanierung der Bilder in der Neuzeit verstehen, die in Wittenberg 1522 unter dem reformatorischen Aufruf Andreas Bodenstein von Karstadts als Bildersturm stattgefunden hatte. Dieses Ereignis bedeutete für die spätmittelalterliche scholastische Auslegung der Bilderwirkung, welche die Artefakte trotz ihrer starken Semantisierung immer noch als autoritär beglaubigte Heilmittel verstand, ein Erdbeben. 35 Ein Schlüssel zur konsequenten Anwendung der barocken Strategie der Evokation historischer Aktualität war jedoch nicht nur oder nicht mehr, wie noch im Mittelalter, die mediale Überblendung des Betrachters mittels bildlicher Präsenzerzeuger – nicht nur die szenografische Technik der Auratisierung –, sondern auch die diskursive Einbettung der Bilder in die lange Geschichte ihrer theologischen und teleologischen Normierung. Mit dieser ließ sich nicht nur die neue, ›wiederentdeckte‹ Aura der alten Bilder und Reliquien offenbaren, sondern konnte auch ihre zweckbedingte Politisierung mithilfe neuer alliierter Medien legitimiert werden, ohne dass sich dabei der Verzicht auf chronologische Korrektheit und die Anwendung einer fiktionalisierenden Narration als Störfaktoren erwiesen hätten.

33 Siehe u. a. Kapustka 2008b, u. a. S. 131 – 155. 34 Belting 2002, S. 11 – 32, hier: S. 27 – 28. Vgl. den zusammenfassenden Kommentar zu der darauffolgenden »Polarisierung zwischen Bild und Kunst« im 16. und 17. Jahrhundert: Belting 1990, S. 538 – 545. 35 Kapustka 2008a, S. 97 – 115 (dort frühere Literatur).

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Normierung als Übersetzung Relevant für die Geschichte dieser Gestaltungsprozesse war die Tatsache, dass die meisten Bilder für das breite Publikum im 17. und 18. Jahrhundert unsichtbar waren und erst medialisiert werden mussten, um überhaupt eine Wirkung zu erzeugen. Bilder, die heute im Rahmen der kunsthistorischen Lektüre eines Nachschlagewerks oder im medialen Fluss des Internets gefunden oder in einem Museum in zeitlich oder geografisch geordneten Abteilungen anhand von direkten Vergleichen studiert werden können, blieben in der Frühen Neuzeit im Original zumeist für die Rezipienten unzugänglich. In diesem Sinne konnte man zum Betrachter eines Werkes werden, ohne zu seinem Augenzeugen zu werden, indem das Werk durch andere visuelle und auch schriftliche Werke vervielfältigt worden war. Ein Blick auf das Original des Kult- genauso wie des Kunstbildes stellte im 17. Jahrhundert immer noch ein soziales Privileg dar und lässt sich als ein Moment der Erfüllung davon verstehen, was zuvor in medialen Spiegelungen, die den Diskurs vorprägen und aufrechterhalten, erfahren worden war. Der im 18. Jahrhundert einsetzenden systematischen Beschäftigung mit Bildern, die Autoren wie Lesern von Bildbeschreibungen gleichermaßen aus eigener Anschauung vertraut waren, ging somit eine vormoderne Distanz im Sinne einer gewaltigen Leerstelle zwischen Bild und Rezipient voraus, die medialer Füllung bedurfte. 36 In diesem Kontext erscheint die berühmte Entstehungsgeschichte von Lessings Laokoon aus dem Jahr 1766 – einer Schrift, die im Angesicht der manieristischen Grafiken dieser hellenistischen Skulptur geschrieben wurde, da der Autor das Original wohl nie gesehen hat 37 – paradigmatisch für die durch sekundäre Medien bedingten historischen Bildinstanzen, insbesondere da sie sich als Probestück des Topos ut pictura poesis etablierte. Diese Beobachtung zur Unzugänglichkeit der Originale entspricht weitgehend dem Sinn der modernen historischen Hermeneutik wie auch dem der auf die diskursive Einbettung von Medialisierungen und Verkörperungen setzenden Geschichtsphilosophie, die bereits früher als die Kunstgeschichte signalisiert hatten, dass das Ereignis zum Gegenstand einer Erzählung wird, bevor es zum Gegenstand eines historischen Wissens werden kann. 38 Aus dieser folgenreichen Antizipation lässt sich jedenfalls die Karriere der Kunsthistoriografie ableiten, spätestens seit der Etablierung der Künstlervita als Vermittlungsform durch Giorgio Vasari oder der populären Beschreibungen von Kunstwerken als literarische Gattung. In diesem Sinne sind die dinglichen Relikte – mittelalterliche Bilder und Reliquien –, die nicht nur durch das Wort systematisiert, sondern auch durch andere (barocke) Bilder vermittelt werden, als bereits im Voraus wie auch nachträglich medialisierte Erscheinungen zu verstehen. Daraus entsteht das methodologische Problem, wie solche Objekte im Verhältnis

36 Baxandall 1990, S. 34 – 35. 37 Vgl. Bätschmann 2011, S. 21 – 48 (hier: S. 21 – 30). 38 Ricœur 2004, S. 366 – 367; vgl. Gadamer 1972, S. 275 – 290.

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zu normierenden Quellen der kirchlichen Bildertheologie aufzufassen sind. Die Maßgeblichkeit der Schriften der Bildertheologen wie Gabriele Paleotti oder Johannes Molanus für die barocke Bildproduktion des Katholizismus kann in Frage gestellt werden, da die Norm selbst Teil des durch Bilder hervorgebrachten Diskurses ist und sich im Sinne einer Reaktion auf das, was Bilder anzubieten haben, herleiten lässt. 39 Die Geschichte der Bilder im verstaatlichten Katholizismus der Frühen Neuzeit muss von jenseits der Bildertheologie geschrieben werden, denn zwischen dem Bilddiskurs und der die Bilder mit ihren eigenen Begriffen beschreibenden Theologie besteht eine doppelte Disjunktion: einerseits die zwischen Bild und Wort, die Bilder in ihrer Wirkungsautonomie betrachten lässt und somit zugleich die Risiken ihrer Instrumentalisierung aufweist, und andererseits die zwischen Normsetzung und Normerfüllung beziehungsweise zwischen zwei unterschiedlich medialisierten und umsetzbaren Strategien der Subjektivierung. Die Untersuchung der Norm muss also von der Äußerlichkeit der Norm ausgehen, um die Differenz zu dieser darstellen zu können. Aus dieser Sicht werden Bilder und bildertheologische Prämissen zu eigenständigen Dispositiven eines von ihnen selbst mitgetragenen Diskurses zur christlichen Verquickung von Souveränität und Sichtbarkeit – das Verhältnis zwischen ihnen hat einen eher disjunktiven, weil postulativen Charakter. Die Bildertheologie, so wie sie für die bisherige Barockforschung einen festen Baustein für die Rekonstruktion der praktischen Umsetzung der Bilderlehre darstellte, wird hier lediglich in einzelnen reziproken Schwingungen zwischen Bild und Wort zum Sprechen kommen, in denen die den Bildern aufgezwungene Normativität selbst ihren präformierten Charakter aufweist. Damit mussten nicht nur die Bilder an die von den Propagandisten der visuellen Semantik diktierten Normanweisungen und Grenzziehungen angepasst werden, sondern diese Regulierungen zeigen auch umgekehrt, wie man zu jener Zeit das Potenzial der Bilder einschätzte, wie ihre Einsatzmöglichkeiten aufgrund der bisherigen positiven und negativen Bilderfahrungen imaginiert werden konnten, wie ihre subliminale Wirkungsmächte und die durch ihre Präsenz provozierten Ersatzhandlungen sich in ihrer tatsächlichen oder auch nur geplanten Wirkung ex negativo widerspiegeln konnten. Was wir brauchen, ist also eine Distanzierung des Bildes von seinem Produzenten als Schlüssel der Interpretation. Dieser Produzent bewahrt in unserer Perspektive seine faktische Präsenz hinter der Entstehung von Bildern, verliert jedoch seine Integrität als Sprecher der Geschichte, da er sich selbst durch diese Produktion diskursiviert und zugleich seine

39 Siehe bisherige Untersuchungen zur barocken Bildertheologie: Bianchi 2008, S. 55 – 79, 213 – 223; Steinemann 2006, v. a. S. 9 – 26; Baumgarten 2004, S. 32 – 138; Hecht 1997, v. a. S. 15 – 43 (zu kategorialen Unterschieden zwischen einzelnen Ansprüchen der Bildertheologen und kirchlichen Bilderhistoriker wie auch zur Verbindlichkeit des kirchlichen Diktats), S. 79 – 151 und 335 – 347 (zur bildertheologischen Verherrlichung der frühchristlichen Tradition). Allgemein zu diesem Typus der Literatur: Marcora 1985, S. 189 – 244; Toscano 1985, S. 409 – 423; Ronca 1985, S. 425 – 442. Darüber hinaus zur Skepsis gegenüber den Schriftquellen und zur postulierten Authentizität der bildlichen Überlieferung im 16. und 17. Jahrhundert siehe u. a. Haskell 1993, S. 81 – 111 (Kap. »Historical Narrative and Reportage«, hier insbes. S. 86). Vgl. auch Telesko 2012c, S. 11.

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Produkte in diesen Diskurs hineinsetzt. So wie die Geschichte eine Vergangenheit ist, die sich nicht wiedergeben lässt und an die nur bruchstückhaft erinnert werden kann, so tragen Bilder eine Kraft in sich, speichern eine Art diskursive Energie, die über eine kausale, illustrative, spiegelnde Verbindung mit ihren aussagebedürftigen und nur angeblich ihrer Epoche bewussten Herstellern hinausgeht. Diese Energie wohnt auch den Bildern als lediglich in ihrer Zeit hervorgebrachte Gegenstände inne, die ihre eigenen Hersteller allerdings auch überlebt haben. Die durch historische Bilderproduzenten selbst vorgegebenen Interpretationsrahmen zu verlassen, heißt also, bei dem beschreibenden Verfahren auch die Natur der Quelle kritisch zu hinterfragen beziehungsweise die Bilder als Primärquellen von poietischem Charakter zu betrachten. Robin George Collingwood schrieb über dieses grundlegende Problem des geschichtswissenschaftlichen Denkens im Sinne einer Unmöglichkeit, ein exaktes symmetrisches Verhältnis zwischen historischen Ereignissen, Objekten und Subjekten im Sinne einer Rekonstruktion festzustellen, einer Unmöglichkeit, die aus dem unachtsamen Historiker einen Gläubigen macht, der an seine Autoritäten glaubt: [. . . ] what we perceive is always the this, the here, the now. Even when we hear a distant explosion or see a stellar conflagration long after it has happened, there is still a moment at which it is here and now perceptible, when it is this explosion, this new star. Historical thought is of something which can never be a this, because it is never a here and now. Its objects are events which have finished happening, and conditions no longer in existence. Only when they are no longer perceptible do they become objects for historical thought. Hence all theories of knowledge that conceive it as a transaction or relation between a subject and an object both actually existing, and confronting or compresent to one another, theories that take acquaintance as the essence of knowledge, make history impossible. 40 Every present has a past of its own, and any imaginative reconstruction of the past aims at reconstructing the past of this present, the present in which the act of imagination is going on, as here and now perceived. In principle the aim of any such act is to use the entire perceptible here-and-now as evidence for the entire past through whose process it has come into being. In practice, this aim can never be achieved. 41 40 Collingwood 1956, S. 233; vgl. S. 234 – 235. Mit dieser Ineffizienz der Geschichte steigt die ebenfalls mit Sternenanalogie ausgedrückte Zeitlichkeit des verformbaren und doch sich zeigenden Symbols; vgl. Didi-Huberman 2010, S. 464 – 465 (Kommentar zu den Worten Thomas Carlyles von 1833 – 1834: »Homers Epos hat nicht aufgehört, wahr zu sein; dennoch ist es nicht länger mehr unser Epos, sondern glänzt, zwar immer klarer, doch zugleich immer kleiner in weiter Ferne wie ein zurückweichender Stern. Es verlangt nach einem wissenschaftlichen Teleskop, es muß erneut interpretiert und uns künstlich nahegebracht werden, ehe wir auch nur in etwa erkennen, dass es tatsächlich eine Sonne war«). 41 Collingwood 1956, S. 247. Siehe auch George Kublers Passagen, in denen er den Historiker mit dem Astronomen vergleicht, da beide mit Bildern der Verspätung zu tun haben und auf die imaginative

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Für die hier angestellten Überlegungen ist diese geschickte Sternenanalogie von Relevanz, insbesondere in Verbindung mit der Feststellung der Ungreifbarkeit von Geschichte, die sich nur in fragmentarischen Überlappungen offenbart und dementsprechend nicht rekonstruiert, sondern nach ihrem Ableben in veralteten, zerfetzten Stücken gesammelt werden kann – ähnlich Benjamins zersetzender Arbeit der Erinnerung –, insofern sie gleich im nächsten Schritt darauf aufmerksam macht, dass die vertikal nach historischen Größenordnungen konstruierte Relation zwischen Ding und Ereignis jeweils selbst in ein relationales Feld von Beziehungen, von verschiedenen Zeitlichkeiten eingebettet ist, von denen jede eine eigene Verspätung aufweist. Dieses Verhältnis kommt in der imaginierten Dekonstruktion von Sternenbildern am deutlichsten zum Vorschein: Ihre erkennbare Mimetik zerfällt jeweils in eine unermessliche raumzeitliche Differenz zwischen allen leuchtenden Elementen ihrer nur scheinbaren, da tatsächlich geozentrisch perspektivierten ›Fläche‹. Wie Benjamin es kurz gefasst hat: »Die Ideen verhalten sich zu den Dingen wie die Sternbilder zu den Sternen.« 42 Der Historiker muss folglich ein Astronom sein, der mit einem Mikroskop arbeitet und das Firmament aus unendlichen, aufeinander geschichteten, kleinen Stücken komponiert, die unterschiedlichen Zeitlichkeiten angehören, anstatt zuerst im großen Wurf die Sterne nach ihrer sichtbaren ›Größe‹ zu ordnen. 43 Interessant ist jedenfalls in dieser Hinsicht der Vergleich von Collingwoods astronomisch anmutender Apologie der der Geschichte immanenten Verspätung mit den Verhältnissen, die Michel Foucault für seine Vision verschiedener Entfernungen im Inneren des Archivs als maßgeblich für die Enthüllung der geschichtlichen Illusion eines Kontinuums autonomer Subjekte, Objekte und Ereignisse sah: [. . . ] das Archiv ist auch das, was bewirkt, daß all diese gesagten Dinge sich nicht bis ins Unendliche in einer amorphen Vielzahl anhäufen, sich auch nicht in eine bruchlose Linearität einschreiben und nicht allein schon bei zufälligen äußeren Umständen verschwinden; sondern daß sie sich in distinkten Figuren anordnen, sich aufgrund vielfältiger Beziehungen miteinander verbinden, gemäß spezifischen Regelmäßigkeiten

Kraft des Hineinsehens in lange Zeitdistanzen angewiesen sind: Kubler 1962, S. 19 – 20. Vgl. in diesem Kontext zu Warburgs noch weiter reichender Spanne zwischen Geologie und Astronomie bzw. Astrologie und zu den Seismographen von rhythmischen Zeitsymptomen innerhalb der Produktion von Gedächtnis: Didi-Huberman 2010, S. 131 – 156. 42 Benjamin 1990, S. 214. 43 Vgl. Benjamins »Telescopage der Vergangenheit durch die Gegenwart« (Benjamin 1989a, S. 588) und »historische Erkenntnis von einem Augenblick« (Benjamin 1990, S. 214). Vgl. Zumbusch 2018, S. 203 – 204 und Moses 1993, S. 388 – 395 (zur »Gegenwart der Erkenntnis«). Siehe auch Moxey 2013, S. 32: »The gleam that reaches us from works of past art has no fixed pattern. Despite the efforts of many civilisations – from the Greeks to the Inca – to impose order on the turbulent appearance of the starry heavens, no stellar body dictates the appearance of the rest. The extraordinary objects that constitute the history of art demand the imaginative intervention of the art historian. The challenge is not to array their light according to some constellation, but to allow their qualities to shine in all their unique brilliance«.

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sich behaupten oder verfließen; was bewirkt, daß sie nicht im gleichen Schritt mit der Zeit zurückgehen, sondern daß diejenigen, die besonders stark wie nahe Sterne glänzen, in Wirklichkeit von weither kommen, während andere, noch völlig junge, bereits außerordentlich verblaßt sind. 44 So kann auf das diskursive Potenzial einer kritischen Beschreibung von diversen Möglichkeitsentfaltungen der medialen Produktion von Geschichte hingewiesen werden: Dem bildhaften Denken der Neuzeit selbst wohnt ein durch Bilder geprägter Sinn für Kausalität zwischen Vergangenheit und Aktualität inne. 45 Aus dem Defizit der Unerreichbarkeit von historischen Subjekten resultiert also kein Nachteil für die Einschätzung der historischen Bedeutung der Bilder. Es lohnt sich, die Imagination als Arbeitsmodus der Geschichte aufzugreifen, die durch Bilder mitgestaltet wird, um zu zeigen, dass Bilder selbst über eine autonome Aussagekraft verfügen und zugleich eine konkrete Vorstellung von der Rolle des Individuums in einem gegebenen onto- und eschatologisch geprägten Denksystem verkörpern. Wie Collingwood über diese Art des historischen Denkens schrieb: »It is the idea of the historical imagination as a self-dependent, self-determining, and self-justifying form of thought«. 46 Diese wichtige, wenn auch heutzutage etwas banal klingende entpersonalisierende Entkoppelung im Rahmen eines kunsthistorischen Urteils ist gerade mit der wissensarchäologischen Revolution der 1960er Jahre machbar geworden. Mark Poster stellte gerade in Bezug auf diese fest: »Foucault möchte die Geschichte vor dem Anthropomorphismus bewahren – dem Irrtum also, die Bedeutung von Texten auf die Intention eines konstitutiven Subjekts einzuschränken.« 47 Um die Natur der Machtverhältnisse in ihrer Präkonditionierung zu hinterfragen, wurde von Foucault das Schema einer aufsteigenden Analyse angewendet: Ausgehend von einem Individuum, dem diverse Medien zur Verfügung gestellt werden, wird dessen Entwicklung zu einem modellhaften Subjekt im Machtszenario beschrieben, die einen notwendigen Sicherungsrahmen für die effiziente Selbsterfüllung des gesamten Systems darstellt. 48 Diese

44 Foucault 1988, S. 187 – 188. Vgl. zu Walter Benjamins an verschiedenen Stellen vollzogenen astronomischen Situierung der Aura, für die die siderischen Distanzen die monumentalste Sichtbarmachung von Ferne und Nähe ermöglichen und die sich folglich als Urphänomen in Zeit und Raum zeigt: Weber 2010, S. 15 – 21. Siehe auch zu Benjamins Abstand zwischen Blitz und Donner, mit dem das Vorübergehen und das Vergehen zum Modus des Erscheinens wird: Zumbusch 2018, S. 209 – 210. Vgl. Veyne 1988, S. 40 – 41. Vgl. Kap. 1, Anm. 41. 45 Vgl. Foucault 1988, S. 89 (zu den »Zusammensetzungen im Diskurstyp«). 46 Collingwood 1956, S. 249. 47 Poster 1988, S. 143 – 159, hier: S. 150. Damit kann vielleicht der von Paul Ricœur in seinem Hauptwerk über die historische Hermeneutik formulierte Satz »Indem sich die Geschichte selbst hervorbringt, artikuliert sie ihren eigenen Diskurs« in einem neuen Licht gesehen werden (Ricœur 2004, S. 463 – 464; vgl. Ricœur 2002; Ricœur 1998). Vgl. auch einen kritischen Kommentar zum kunsthistorischen »Tod des Subjekts«: Moxey 1998, S. 402 – 409. 48 Foucault 2005b, S. 108 – 125.

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Umkehrung der gewöhnlichen Akzente betont die Bedeutung der praktischen Zusammenfügung von einzelnen Subjektrollen, die die Richtung der Kritik angibt, anstatt die Monumentalität des »Souveränitätsgebäudes« sprechen zu lassen. In einem daran anknüpfenden Sinne versteht die vorliegende Arbeit Bilder, die geschichtliche Wurzeln haben, als Werkzeuge der Subjektivierung, die sich als vorbereitete und vereinbarte Praxis – sogar im Sinne eines poetischen Sozialvertrags zwischen Bildmachern und Bildempfängern – entlang einzelner visueller Schichtungen, Verzweigungen und Verknüpfungen zwischen historischen Epochen realisiert. So kann nach möglichen Zwischenräumen im Verhältnis von Unterwürfigkeit und Autonomie der Bilder und durch Bilder geforscht werden. Das heißt, dass hier die Struktur der auratischen Souveränität der Artefakte nicht vom Standpunkt des Bildproduzenten und nicht von dem des über die ›objektivierten‹ potenziellen Folgen der historischen Ereignisse verfügenden Kunsthistorikers aus aufgezeigt wird, sondern von dem des werdenden Subjekts, sprich des Betrachters. 49 Dieser sieht sich mit Verknüpfungen visueller Art als a priori grundierten Tatsachen seiner historischen Konstitution konfrontiert, die insgesamt ein durch die Macht kreiertes Auslegungssystem der Selbstlegitimation entstehen lassen. Dieser Betrachter, der sich einerseits immer in statu nascendi befindet und die eigene Geburt als Subjekt im Sinne eines Aktes der Transgression verstehen soll, wird andererseits dazu veranlasst, das eigene Werden als einen Prozess der Teilnahme an Vorgegebenem zu begreifen. Im Rahmen einer sich langsam von einzelnen Symptomen zu übergreifenden Vorstellungen entwickelnden Beschreibung wird sich zeigen, dass diese Teilnahme nicht Konsequenz, sondern Voraussetzung dafür ist, dass die Bilder sich überhaupt als Form der Machtentfaltung verstehen und anwenden lassen. Eine solche historische Kritik von Bildkulturen beschäftigt sich somit mit Räumen der Artikulation, die den Bildern als Voraussetzung ihrer Entwicklung zugewiesen werden, die sich in Bildern transportieren lassen und die sich schließlich in Resonanzräume verwandeln, in denen sich ein Nachhall verbreitet, sodass neue Räume entstehen. Aufgrund der Vielfalt der Medien und des unterschiedlichen Status ihrer Adressaten wird in den vorliegenden Analysen keine konstante Balance, kein methodisch gesichertes, absolutes Gleichgewicht zwischen den internen und externen Akteuren beibehalten werden können. Dies ist auch nicht das Ziel: Was wir untersuchen, ist jeweils die durch den historischen Diskurs geleitete Werdung eines Subjekts. Der unzeitgemäße Bezug auf das Potenzial von Foucaults Kritik, auf einen gedanklichen Horizont, der einst neu war, inzwischen längst modisch konsumiert wurde, und heute bereits historisierbar ist, 50 dient also lediglich einer einleitenden Markierung der Möglichkeit, das 49 Vgl. dazu die Feststellung Paul Zankers in seinen Erörterungen zur Rolle der Bilder in historischen Prozessen: »Für den Historiker spiegeln die Bilder eine ideologisch fixierte Mentalität, den Zeitgenossen hingegen prägten sie sich ein«; Zanker 2006, S. 178. 50 Erb / Ganahl / Stehrenberger 2016. Vgl. Veyne 2009a, S. 100 – 102 (zu Foucaults grundlegender Annahme von der historischen Überholbarkeit der eigenen Thesen). Vgl. Farago 2011, S. 101 – 102, wie auch Hayden Whites Vorwurf der ›Dehumanisierung‹ oder ›Verdinglichung‹ des Diskurses durch Foucault: White 1987, S. 104 – 141.

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Problemfeld zu umkreisen, in dem sich einerseits die spezifisch bildliche Praxis der Geschichtsproduktion durch die Erzeugung von machtbezogenen Anachronismen verfolgen lässt und andererseits Bilder die Geschichte ihrer eigenen Präkonditionierungen und diskursiven Formierungen im Verhältnis zu sakralpolitischen Normen der Gesetzlichkeit aufzeigen. Wenn also Foucault als inaktueller Philosoph, in den Worten von Paul Veyne, sich wie ein Samurai mit eigenem Selbstbewusstseinskodex einen Weg jenseits der wissenschaftspolitischen Deklarationen eröffnete, 51 dann kann diese Studie lediglich fragmentarisch im Sinne einer Beschreibungspraxis dazu anregen, die Geschichte der Bilder als Transporteure – mit Warburg würde man sicherlich sagen: als Fahrzeuge – mit einem schärferen und zugleich sensibilisierenden Blick auf Relationen wahrzunehmen. Ein Bild befreit sich, so gesehen, von seiner Rolle als Spiegel des Künstlers und des Auftraggebers, als einseitige Projektionsfläche ihrer vermeintlichen Loyalität, Frömmigkeit oder Widerstandsfähigkeit, um stattdessen als diskursives Angebot für den subjektivierten Betrachter systemisch generiert zu werden und selbst weitere, der Systemsprache gemäße Normverknüpfungen zu generieren und übergreifende Denkstrukturen weiterzubilden. Beide Figuren – die des Produzenten und die des Empfängers – sind allerdings, zum einen, als historisch immanente Pole auf dem Aussagenfeld zu betrachten, als fiktive historische Subjekte, die eine Relation in Form eines Bilddiskurses herstellen, der sich sowohl in seinen Präformierungen als auch in den nachträglichen Kultivierungen von den konkreten historischen Personen befreit und zum Baustein weiterer Diskurse wird. 52 Zum anderen, und diese Stufe ist wesentlich dialektisch, avanciert die auf Bildern aufgebaute Vision der Selbsterfüllung zu einem Zeugnis der politischen Intentionen einer konkreten Zeit, zu einem Dokument der überlegten Äußerung dessen, was man in dieser Zeit für Wahrheit hält. Diese Vision liefert demnach statt einer historischen ›Wahrheit‹ eine fiktive, diskursive Darstellung des Gewünschten und fügt sich mit allen Mitteln in ontologische Grundlagen des gesamten sakralpolitischen Systems ein, als dessen konsequente Entwicklung sie sich versteht. Die verherrlichende Narrativierung des Ursprungs durch die Opferung des Anderen, also das Thema dieses Buches, dient deshalb diversen historischen Projekten der eigenen Erfüllung, in der sich sowohl der Bildproduzent als auch der Bildbetrachter als Subjekt sehen können. Nach solch einem relativierenden Verständnis der historischen Norm werden die Freiräume für die gesellschaftliche Reglementierung der Bildwirkung sichtbar. 53 In den normierenden Traktaten der Bildertheologen tritt vor allem das in Erscheinung, was das Gegenteil 51 Veyne 2009a, v. a. S. 165 – 178 (die Perspektive der Freundschaft, die Veyne beim Schreiben über Foucault beibehält, hebt seinen Blick innerhalb der umfangreichen Foucault-Rezeption deutlich hervor). Vgl. Didi-Huberman 2017, S. 109 – 138. 52 Vgl. Foucault 1988, S. 177 – 178. 53 Vgl. Burke 2003b, S. 155: »Was [die Bilder] sehr wohl dokumentieren, ist eine kulturelle Konfrontation und die Art und Weise, wie Angehörige einer bestimmten Kultur auf diese Konfrontation reagieren.« Burke betont dabei ebenfalls die Relevanz von David Freedbergs Power of Images, dessen Herangehensweise nennt er jedoch interessanterweise einen »neuere[n] Ansatz in der Sozialgeschichte der Kunst«.

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von der erzielten Bildwirkung war: die andauernde und nicht rational zu bewältigende Angst vor der Idolisierung der mimetischen Bilder, sowohl im Moment ihrer programmatisch gestalteten Rezeption als auch in dem bereits mythisierten Prozess ihrer Herstellung. Diese Angst lässt sich als ein Leitfaden der restriktiven Theologisierung der Bildanschauung in der Frühen Neuzeit bezeichnen. Wenn die Bildertheologen zugunsten der christlichen Semantik alle Idole abschaffen wollen, liegt es nicht zuletzt am Potenzial ihrer tatsächlichen oder imaginierten Existenz. 54 Obwohl die Angst vor dem Idol – das Grundmotiv der frühchristlichen Bilderablehnung wie auch der barocken Bilderverherrlichung – aus der Furcht vor einer Verletzung der Tugend durch die Sinne resultierte, konnte die ihre Macht auf der Genealogie eigener Verstaatlichung aufbauende katholische Kirche jedoch keineswegs auf die mediale Kraft der Bilder verzichten. 55 Da der Barock sich nicht als Werdung, sondern als historische Erfüllung dieses Konzepts betrachtete, die eine transzendenzbezogene Zeitlosigkeit der Herrschaft nach sich zog, ist vor allem die Frage maßgeblich, inwieweit die langjährige Kohärenz dieses Narrativs imstande war, endgültige Kriterien für historische ›Wahrheit‹ zu etablieren. Die Kritik dieses in Bildkonflikten getragenen Diskurses wird demnach zu einer historischen Theatrologie des fiktiven, kollektiven Subjekts.

Theokratie und der Ursprung im Antagonismus In dieser Kritik der Suche der frühmodernen sakralpolitischen Macht nach eigener Gesetzlichkeit mittels mittelalterlicher Spuren wird der Begriff der Theokratie verwendet und auf verschiedene Symptome der Allianz des Throns mit dem Altar projiziert. Wenn Steven Runciman in seiner klassischen historischen Studie zu den Formen des byzantinischen Kaisertums die Theokratie als eine Macht beschreibt, die auf der religiös motivierten Überzeugung von ihrem Status als irdischem Abbild des göttlichen Königtums gründet, 56 kann der Sinn dieses Terminus generell auf die institutionalisierte Macht übertragen werden, der der Unterschied zwischen ecclesia und civitas schwerfällt und die ihre Ansprüche auf Universalität, Orthodoxie und Missionsrecht aus diesem mimetischen Verhältnis der machtausübenden bevollmächtigten Herrscher zur göttlichen Superiorität herleitet. Diese Form des Regierens zeigt sich als ein je nach Kultur rekurrentes und anwendbares Modell der Subordination. Collingwood beschreibt ihre Umrisse im Kontext der theokratischen Erzeugung von Geschichte (die er Quasi-Geschichte nennt) im antiken Mesopotamien wie folgt:

Ferner schlägt er in Bezug auf Michael Baxandalls Intentionalismus eine »Kulturgeschichte der Bilder« bzw. eine »historische Anthropologie der Bilder« vor (S. 206 – 207). Vgl. Burke 1984, S. 117 – 122. 54 Wood 2012, S. 518; Freedberg 1989, S. 378 – 428; Freedberg 1985, S. 33 – 35. Vgl. Flood 2002, S. 648 und 651. 55 Vgl. Warnke 1973, S. 9 – 12 (Einführung). 56 Runciman 1977.

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The gods are conceived on the analogy of human sovereigns, directing the actions of kings and chiefs as these direct the actions of their human subordinates; the hierarchical system of government is carried upwards by a kind of extrapolation. Instead of the series: subject, lower official, higher official, king, we have the series: subject, lower official, higher official, king, god. Whether the king and the god are sharply distinguished so that the god is conceived as the real head of the community and the king as his servant, or whether the king and the god are somehow identified, the king being conceived as an incarnation of the god or at any rate as in some way or other divine, not merely human, is a question into which we need not enter, because, however we answer it, the result will be that government is conceived theocratically. History of that kind I propose to call theocratic history; in which phrase ›history‹ means not history proper, that is scientific history, but a statement of known facts for the information of persons to whom they are not known, but who, as worshippers of the god in question, ought to know the deeds whereby he has made himself manifest. 57 Dieser mesopotamische Exkurs ist hier nicht abwegig, denn die Suche nach kunsthistorisch vernachlässigten Fundamenten der bildlichen Machtpraxis im Kontext der Frühmoderne als neuer Redaktion der Neuzeit, die sich auf eine alte Neuzeit – die des Mittelalters – beruft, muss unbedingt eine archäologische sein. Für die vorliegende Studie ist in diesem Sinne die Stimme eines Ägyptologen tonangebend. Mit dem Monotheismus und die Sprache der Gewalt betitelten Buch von Jan Assmann lassen sich der Topos der göttlichen Herrschergewalt bis zu den Anfängen der judeo-christlichen Kultur der Gemeinschaft zurückverfolgen wie auch der Sinn der Neuzeit im Diskurs des Ausbruchs aus der Gefangenschaft und des Eintritts in die Obrigkeit verorten. Assmanns Ansatz eröffnete vor mehreren Jahren eine intensive Debatte in den Geschichts- und Religionswissenschaften. 58 Das Ereignis der sinaitischen Gesetzgebung (2. Mose 19 – 34) wurde von ihm als ein epochaler Wendepunkt in der narrativen Auffassung herrschaftlicher Gewalt kritisch vorgestellt. Die autoritäre Sprache des vom neuen universellen Herrschergott Jahwe in der Schrift performativ verkündeten wie verkörperten Gesetzes weist auf die jüdische Anwendung des assyrischen Rechts und der mit ihm zusammenhängenden Auffassung einer absoluten Loyalität der Untertanen zur neuen Transzendenzlehre hin. 59 Am Sinai entstand also während des Exodus ein Narrativ der vertikalen Unterwerfung unter die Herrschaft eines transzendenten Gottes als des höchsten Gesetzgebers, mit dem auch ein vollkommen neues Verständnis der bisherigen irdischen 57 Collingwood 1956, S. 14 – 15. Vgl. Barasch 1998, S. 53 – 74 (Kap. »Gott als Herrscher. Zur Ikonographie der Theokratie«). 58 Assmann 2006a. Vgl. Assmann 2015, S. 106 – 119, 360 – 376; Assmann 2007a; Assmann 1999b, v. a. S. 245 – 282; Assmann 1992. Dazu weitergehende Untersuchungen: Sloterdijk 2007; Sloterdijk 2013; und zur Assmann-Debatte: Tück 2015. 59 Assmann 2006a, u. a. S. 29 – 33.

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Machtverhältnisse und ihrer Verwaltung einherging. Die Kultivierung dieser Übernahme der despotischen Sprache als Grundlage für die neue göttliche Vormacht im Erinnerungsmedium der Schrift legitimierte die Fundamentalität der gegen Fremde und Abtrünnige gerichteten Gewalt als des narrativen Kerns der religiösen Gemeinschaftsbildung. Gegenstand von Assmanns Kritik war dementsprechend nicht der Wahrheitsgehalt des monotheistischen Glaubenssystems oder die Relevanz seiner Übertragungsgeschichten, er befasste sich stattdessen mit den historischen Bedingungen der Selbstentfaltung, die sich im exklusiven Monotheismus anhand oder unter ständiger Einbeziehung einer topischen Sprache realisiert: der Sprache der Gewalt. 60 Über dieses archetypische Narrativ des assyrisch verankerten Anachronismus mitten im Befreiungsakt von ägyptischer Oppression kommt auch die Verbindung der herrschaftlichen Gewalt mit dem Problem der Sichtbarkeit und Bildlichkeit zum Vorschein. Die Vielfalt der durch ihre Bilder verkörperten und verstaatlichten Gottheiten Ägyptens und später der Regionalgötter der griechisch-römischen Antike wird im gleichen Augenblick durch den Monotheismus, der sich im eigenen Narrativ des sinaitischen Bruchs selbst als eine Revolution darstellt, vollkommen entwertet und strengstens verboten. Aus der Unsichtbarkeit des transzendenten Gottes resultiert die Bilderfeindlichkeit seiner Anhänger. Der absolute Gehorsam gegenüber Gott zeigt sich als Grundsatz des neuen exklusiven Gesetzes gerade dann, wenn seine Macht anhand diverser Bilderproben erfahrbar wird. Die Untertanen, die die Sichtbarkeit Gottes preisgeben, scheitern in ihrem Gehorsam. In der Zerstörung des Goldenen Kalbes, eines israelitischen Bildes aus Sehnsucht und Verzweif lung in Erwartung einer göttlichen Intervention in der Wüste, manifestiert sich das Misstrauen gegenüber Bildern als Sinneswerkzeugen des ontologischen Verrats. Die Verknüpfung der Gesetzgebung mit der Bildzerstörung, so wie sie in einer der eloquentesten Darstellungen der Lage am Fuße des Sinaiberges erfolgt – in der Miniatur im sogenannten Psalter Ludwigs des Heiligen (1270 – 1274) (Taf. 2) –, bildet ein folgereiches Muster des normativen Entzugs: Mose erhält das Gesetz, entdeckt das Bild des Goldenen Kalbs und zerbricht daraufhin die Gesetzestafeln. Während sich die Gemeinde spaltet, verwandelt sich das angebetete Goldene Kalb von einem Bild des kultischen Vergnügens in ein corpus delicti im kompromisslosen Strafverfahren, in dem seine Zerstörung die kommende Vernichtung seiner Anhänger verkündigt und sogar antizipierend widerspiegelt. Das goldene Kultbild des Kalbes wird zu Staub gemacht, der, in Wasser aufgelöst, den Abtrünnigen zum Trinken gegeben wird, damit sie ihre Schuld durch Verzehr inkorporieren und selbstverspottend zu dem werden, was sie noch vor kurzem verehrt haben. 61 Die vergängliche Materialität wird zum Todesurteil: Indem die pure Materie des pulverisierten Kultbildes eingenommen wird, wird dessen Verschwinden endgültig 60 Assmanns Ansatz dient ebenfalls als Ausgangspunkt in meiner kurzen Skizze der historischen Kritik von Bildkulturen, die sich direkt mit sakralpolitischen Grundlagen frühmoderner Globalitätsvorstellungen beschäftigt: Kapustka 2018, v. a. S. 137 – 141. 61 Vgl. 4. Mose 5,11 – 31, wo eine Strafnorm für Ehebrecherinnen erlassen wird, die einer Probe unterzogen werden, indem sie »das bittere, fluchbringende Wasser« mit dem »Staub vom Fußboden der

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und unumkehrbar gemacht, wie auch seine Anhänger zu Trägern eigener Sünden reduziert werden. Darauffolgend werden 3000 Mann (Brüder, Freunde und Verwandte) durch Mose und die Leviten in einem Akt der Treue gewaltsam eliminiert: »Er sagte zu ihnen: So spricht der Herr, der Gott Israels: Jeder lege sein Schwert an. Zieht durch das Lager von Tor zu Tor! Jeder erschlage seinen Bruder, seinen Freund, seinen Nachbarn.« (2. Mose 32,27). So wie diese Momente ausführlich in 2. Mose, 4. Mose und 5. Mose tradiert worden sind, bestimmen sie ab jetzt den Ton der Exklusivität: Vor Ort wird die Demonstration der Macht über die ungehorsamen Bildproduzenten und Bildverehrer als Verräter der herrschaftlich konzipierten Transzendenz exemplarisch vorgeführt. Ihre Exekution wird zu einer Reifeprüfung für das neue Modell der irdischen Macht, die auf dem Primat einer absoluten Loyalität gründet, deren Bruch das Leben eines Einzelnen wie auch einer ganzen Gemeinschaft kosten kann. Dieser Preis zeigt sich als teleologische Notwendigkeit, obwohl oder gerade weil die Israeliten zum Zeitpunkt ihrer Verehrung des Goldenen Kalbes noch nicht imstande waren, ihre Aktion als Verstoß gegen das unumstößliche Gesetz zu begreifen, das gleichzeitig auf dem Berg verkündet wurde. Die Auslöschung von Bildverehrern erfolgt darüber hinaus als grausamer Vollzug der Treue zwischen dem zornigen Zerbrechen der ersten Gesetzestafeln (2. Mose 32,19) und dem zweiten Gang Moses auf den Berg, wo er nach Jahwes Anweisung die neuen Tafeln fertigte (2. Mose 34,28) – eine Aktion, die sich, auch wenn sie gegen das gerade zuvor erteilte 5. Gebot verstößt, in einem kurzen Zeitraum der Abwesenheit der göttlichen Gesetzesschrift ereignet. In der Lücke zwischen Ersterteilung und Neuschreibung des Gesetzes findet daher eine gewaltsame Homogenisierung der Gemeinschaft in ihrem bildlosen Gehorsam statt. 62 Am Goldenen Kalb manifestiert sich dementsprechend besonders deutlich die Tatsache, dass – um mit Spinozas klarem Urteil zu sprechen – »die Feinde des Staates Feinde Gottes [waren]«. 63 Assmanns Diskursanalyse des Sinai, die bei aller Kürze auch zentrale Themenfelder kunst- und bildhistorischer Forschung anspricht, hebt die intrinsische Einbettung der Gewaltnarrative als Erzeuger und Medien sakralpolitischer Kontrolle in diversen HerrschaftsWohnung« trinken müssen, einen Trank, mit dem die »Unreinen« verflucht und unfruchtbar gemacht werden (»Dieses fluchbringende Wasser wird in deine Eingeweide eindringen, sodass dein Bauch anschwillt und deine Hüften einfallen.« – 4. Mose 5,22); siehe auch zur hebräischen und christlichen Genese der normativen Verbindung zwischen dem durch die Sinne motivierten Ehebruch und der auf Attraktion setzenden Idolatrie: Winiarski 2006, S. 41 – 63. Diese Art der Bestrafung bildet eine offensichtliche Verlängerung von 1. Mose 3,14, wo die Schlange selbst nach der Verführung von Adam und Eva zum Staubfressen verdammt wird: »Auf dem Bauch wirst du kriechen und Staub fressen alle Tage deines Lebens« (biblische Zitate nach der Einheitsübersetzung 2016). 62 Von vielen Abhandlungen zum sinaitischen Bilderverbot siehe hier Assmann 2011c, S. 19 – 31, in dem der Autor die Fundamentalität dieser Geschichte aus der Differenz zwischen der jüdischen, ägyptischen und christlichen Position beschreibt. Vgl. Assmann 2007b, S. 120 – 132 und kritisch dazu: Tugendhaft 2012, S. 301 – 306. 63 Spinoza, Tractatus Theologico-Politicus / Theologisch-Politischer Traktat, hrsg. von Günter Gawlick und Friedrich Niewöhner, Darmstadt 1989 (Benedictus de Spinoza, Opera / Werke: lateinisch und deutsch, Bd. 1), S. 511 (Kap. XVII).

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und Subordinierungsverhältnissen hervor. Dass sich die Treue gegenüber der neuen Transzendenz im Einhalten eines Bilderverbots realisieren solle (»Ich suche die Schuld der Väter an den Kindern heim, an der dritten und vierten Generation, bei denen, die mich hassen«, 2. Mose 20, 5. Mose, 5,6), wird zu einem Siegel der durch das 1. und 3. Gebot untermauerten Superiorität des neuen Gottes, dessen absolute Jenseitigkeit und Unsichtbarkeit dazu führen, dass er sich im ersten Vertrag dem Volk persönlich vorstellen muss, um sein apriorisches Recht auf Gesetzgebung aus seinem historischen Verdienst, der faktischen Volksbefreiung, herzuleiten: »Ich bin Jahwe, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus.« In diesem Sinne erscheint der Bund zwischen dem transzendenten, dem Menschen Erkenntnis verbietenden Gott und Israel als ein Kontrakt, in dem Jahwes Bedingungen eigentlich unerfüllbar sind: die Unbenennbarkeit und Undarstellbarkeit Gottes, der den Menschen wiederum doch nach seinem eigenen Ebenbild geschaffen hatte. 64 Darin manifestiert sich der Übergang zwischen Mythos und Dogma, indem – so Wolfgang Iser – die Aporie der mythischen Gegensätze, mit der eine »retroaktive Besetzung der Grundlosigkeit (stattfindet), die erkennbar macht, in welchem Maße Menschen das bearbeiten, was ihnen zusetzt«, 65 durch eine apriorische und unumkehrbare Unterscheidung zwischen Legalität und Häresie ersetzt wird. 66 Wie Iser – in Anlehnung an Ernst Cassirer und Hans Blumenberg – in seinem Kommentar zur Problematik der Mythosbildung als einer auf die Bekämpfung des historischen Vakuums zielenden rückwärtigen Projektion bemerkte: »So ist die Ausgangslage des Mythos weder Setzung noch Stiftung, aus der seine Bilderwelt hervorströmt, sondern ein projektives Bebildern jener ›Ursprungswirklichkeit‹. Da dem Mythos der Gegensatz von Bild und Sache fremd ist, stellt das Bild die Sache nicht dar, es ist die Sache; es vertritt sie nicht nur, sondern es wirkt gleich ihr, sodass es sie in ihrer unmittelbaren Gegenwart ersetzt.« 67 Es handelt sich somit bei der abstrahierenden Umwertung der mythischen Immanenz am Berge Sinai um eine Szene, die die Gleichzeitigkeit von Revolution und Reaktion zeigt, eine kausale gegenseitige Verbundenheit von Rache und Treue, die sich in der Zerstörung des Kalbs und langfristig in der Verneinung der Bilder deutlich ausdrückt. Eine durchaus monarchistische Revolution, deren Ambition es war, mit der Erfahrung der Transzendenz eines Herrschergottes die Zeit neu zu entwerfen und einen exklusiven Weg zum ewigen Heil der Seele jenseits dieser Welt aufzuzeigen. 68 Mit diesem Schritt werden alle gemachten Bilder als Verkörperungen der irdischen Vielfalt automatisch entkräftet. Das in der Schrift verkörperte Gesetz

64 Blumenberg 1979a, S. 249 – 250. 65 Iser 2013, S. 30. 66 Blumenberg 1979a, S. 241 – 242; vgl. S. 282: »Durch die vermeintliche Lücke des Mythos dringt das Dogma.« 67 Iser 2013, S. 27 – 30, hier: S. 29. Vgl. Giulian 1981, S. 81: »Die sakrale Geschichte ist kein Phantasieprodukt, sondern die Widerspiegelung einer wirklichen Regelung, die im Inneren einer Gruppe getroffen wurde und dann von den Menschen mythischen Ahnen zugeschrieben wird.« Vgl. ebd., S. 128 – 130. 68 Vgl. Assmann 1994, S. 171 – 194, v. a. S. 187 – 191, zu dem israelitischen Entwurf einer die mythische Zyklizität beseitigenden »Verantwortungszeit«.

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annulliert als Stiftungsmoment die sich in Metamorphosen manifestierende Unschärfe der mythischen Ursprünglichkeit. Der die Einzigartigkeit der Wahrheit als Dogma legalisierende Logos verwandelt den sich in Vielsprachigkeit und Ambiguität zeigenden Mythos mit einem fundamentalen Gewaltakt der ontologischen Aufhebung in einen schuldhaften Anderen. Die historische Kritik von Bildkulturen müsste sich in diesem Kontext mit den Bedingungen der Akzeptabilität dieses Verhältnisses auseinandersetzen und nach den sich aufeinander beziehenden Erscheinungsformen seiner Dauerhaftigkeit fragen. 69 Die vorliegende Studie zu Bildkonflikten und Anachronismen nimmt daher im Kontext des 16. und 18. Jahrhunderts diesen bedeutungsvollen Faden der Kritik an Fundamentierungen eines kulturellen Narrativs auf, um die Rolle von Bildern bei der politischen Transportation von Fundamentalität als Vorbedingung der geistlich-autoritären Machtentfaltung in der Vormoderne zu beleuchten. Somit können die Grundlagen der als exklusiv verstandenen Wahrheitsansprüche samt ihrer historischen Beständigkeit im Sinne einer strategischen Analytik beschrieben werden, jenseits einer nur positiven Rekonstruktion. Diese Grundlagen bilden das Objekt einer akribisch den Verknüpfungen zwischen Macht, Bild und Geschichte nachgehenden Betrachtung, die das Detailhafte würdigt, im Fragment die Ursprungskonditionen des Objekts wie auch dessen Heterogenität erkennt und schließlich nach den »Erscheinungsbedingungen von Singularitäten« im Rahmen von historischen Einheitskonstruktionen fragt. 70 Eine derartige Revision der kulturellen Grundlagen der Sichtbarkeit als Bestandteil der Macht, die hier anhand einer Kritik theokratischer Bildprojekte der Frühmoderne exemplarisch vorgestellt wird, erweist sich demnach als produktiv für eine Zwischenbilanz der mit Bildern arbeitenden historischen Wissenschaften, für die mit den aktuellen philosophischen Ansätzen zur »Dekonstruktion des Christentums« oder zur »Aufklärung über die Theologie« 71 ins Gespräch zu kommen bedeuten würde, der Zukunft der eigenen Historizitätsvorstellungen vorauseilen zu können. 72 Verlässt man im historischsystemkritischen Sinne die durch die mittelalterliche und die frühmoderne Historiografie vorgeprägte, auf Epochenschwellen konzentrierte Geschichtsauslegung – das aus der Position der eigenen Fortschrittlichkeit großformatig sprechende ›Ich‹ der Geschichte – und 69 Vgl. Foucault 1992, S. 34 – 35, 40. 70 Ebd., S. 37 – 39. Vgl. zur Bestimmung der Sprachlichkeit des Alltags durch Ursprünge: Foucault 1991, S. 17 – 19. Siehe auch Foucaults einschlägige Bemerkungen zu der von Nietzsche erhobenen Frage der Fabrikation von Religion: »Der Historiker darf sich nicht vor dem Kleinen und Schäbigen scheuen, denn auch die großen Dinge sind Schritt für Schritt aus kleinen, schäbigen Dingen hervorgegangen. Der Erhabenheit des Ursprungs ist daher nach guter historischer Methode die unsägliche Kleinheit dieser Fabrikationen, dieser Erfindungen entgegenzusetzen«; Foucault 2003, S. 16 – 17. 71 Nancy 2008 und Sloterdijk 2017. 72 Siehe Didi-Huberman 2010, S. 16: »Es gibt keine Kunstgeschichte ohne eine Geschichtsphilosophie – so spontan und unausgesprochen sie sein mag – und ohne eine Entscheidung für bestimmte Zeitmodelle«; vgl. ebd., S. 18 – 19. Vgl. ebd., 74 – 78, über die Komplexität geschichtlicher Zeit in Warburgs Auffassung der Lehre Darwins als Impetus einer neuen kunst- und kulturhistorischen Untersuchung zu Nachleben und Anachronismus.

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beschreibt diese Auslegung stattdessen als eine praktisch eingeführte politische Norm, deren Aufgabe es unter anderem war, andere Normen zu verdrängen oder zu ›zivilisieren‹, zeigt sich ein klareres, wenn auch im Sinne einer europäischen Subjektgeschichte viel differenzierteres und problematischeres Bild der eigenen Gegenwärtigkeit. Damit wird dann möglicherweise auch die sogenannte Konstantinische Wende von 313, der Grundstein der christlichen Staatlichkeit, mit ihrer zerstörerischen Seite als neue herostratische Inschrift auf der Erde sichtbar, die »den großen Schreibtafeln ähnelt, auf die jeder seinen Namen schreiben will«. 73 Eine entfremdende Denkrichtung findet sich bereits in Giorgio Agambens Studie zur mittelalterlichen oikonomia der Herrschaft, mit der die zeitlichen Kompetenzen der von Foucault konzipierten strategischen Analytik von sozialen Disziplinierungen im 19. Jahrhundert schlagartig erweitert wurden. 74 Wenn Agamben die voraufklärerische Genealogie der von Foucault examinierten Biopolitik skizziert, öffnet sich dadurch auch ein breites Feld für eine tiefgreifende Archäologie der Ursprünge: die der allerersten Gründungstopoi der abendländischen Herrschaft, die nun auf ihre Abhängigkeit von einem religiös glorifizierenden Zeremoniell hin überprüft werden können. 75 Während jedoch Agambens rechtsphilosophische Suche nach den frühen Entwicklungsformen des Disziplinären den feudalen Herrschaftszwang in seiner Fundamentierung mit Urtypen der sakralen Repräsentation darstellt, lässt sich zugleich eine umgekehrte Perspektive verfolgen, indem in der vormodernen Tradierung von sakralpolitischen Modi der Gemeinschaftsbildung durch anachronistische Bildpraktiken die fortdauernde Aktualität von ursprünglichen Topoi der gesetzgebenden Herrschergewalt nachgezeichnet wird. Als Praxis der Machtausübung wird hier konsequent die Anwendung von Modi gesellschaftlicher Subjektbildung mittels religiöser Vorstellungen der Zugehörigkeit betrachtet, gerechtfertigt durch die Tatsache, dass die archetypischen Ursprünge der Kollektivierung in der Vormoderne selbst eine herrschaftlich-jurisdiktionale Genese aufweisen und durch kultivierte Übertragungsmedien – hier: Bilder – in dieser Genealogie immer wieder lokalisiert werden. Die mittelalterliche Miniatur des Ludwig-Psalters soll daher in ihrer demonstrativen Alleinstellung stellvertretend für den systemarchäologischen Bezug dieser einleitenden Worte stehen und als bildlicher Prolog zum Thema der frühmodernen Zeit- und Bildpolitiken dienen: Diese Miniatur steht hier für den Sinn der Neuzeit.

73 Fontenelle, Gespräche, S. 152. Vgl. Blumenberg 1979b, S. 34 – 35. 74 Agamben 2002 – 2010. Vgl. im Kontext von bildhaften Strukturen: Hartle 2005, S. 23 – 43. 75 Agamben 2010 (Homo sacer, II.2), u. a. S. 135 – 173. Vgl. Geertz 2000, S. 129 – 130: »The most vexed of these [problems – M. K.], and the most fundamental, is simply: How much does the symbolic apparatus through which state power forms and presents itself, what we are used to calling its trappings, as though it were so much gaud and decoration, really matter? To do this sort of work at all involves the abandonment of a ›smoke and blue mirrors‹ view of the issue, and of the simpler forms of reductionism – military, economic, structural, biological – that go with it. The signs of power and the substance of it are not so easily pried apart.«

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Die Sprache der Norm Die Typologie – eine der grundlegenden Modalitäten der frühneuzeitlichen Bilderverknüpfung – wird dabei rudimentär als Grundsatz der historiografischen Präfiguration verstanden, die in dem allegorisierenden Verfahren der christlichen Exegese ihre Wurzel hat. 76 Diese der neutestamentlichen Textnarration eigene Angleichungs- und Parabelrhetorik rekurriert allerdings größtenteils auf die ursprünglichen Bemühungen der Evangelisten, die unangefochtene Beweiskraft des Alten Testaments für ihr neues Evidenzwerk beizubehalten. 77 Die barocke Typologisierung von historischen Bildern und historischen Akteuren ist dagegen zum einen als ein eher im entgegengesetzten Vektor zu lesendes System von Assoziationen aufzufassen: als ein System, in dem die zu rekonstruierende Vergangenheit als stiftende, ankündigende Vorform der bereits anerkannten Gegenwart erscheinen sollte. 78 Zum anderen wurde im Rahmen der barocken Bildlehre und normierten Bildpraxis eine innerbildliche Konkordanz der vernetzten und gegenseitig kopierten Artefakte hergestellt, in der sich Bilder auf Bilder beziehen und ein eigenes, objektbezogenes Narrativ erschaffen. Die Typologie lässt sich konsequent als Modell der kritisch beschreibenden Analyse der historischen Subjektivierung anwenden, und zwar im dreifachen Sinne: als angestrebte Parallelisierung der verschriftlichten Heilsgeschichte – von der sinaitischen Gesetzgebung ausgehend –, ihrer postulierten historischen Werdung im Mittelalter und ihrer institutionellen Fortsetzung beziehungsweise Erfüllung im katholischen Barock. 79 So kommt das vorgeschichtliche Versprechen des als göttlich etablierten und eingeführten Gesetzes zustande – fortgeführt durch die apostolische Sukzession in der kirchlich-herrschaftlichen Allianz, bewahrt in der Aktualität der neuen Zeit der institutionalisierten Gnade, wie zwischen Altem und Neuem Testament. Durch diese reziproke Natur des rückblickenden, bildtypologischen Verweises entsteht ein Rahmen sich widerspiegelnder Konkordanzen, in dem die Zeit aufgrund der im praesens lokalisierten Erfüllung ihrer teleologischen Dimension innerhalb der gesamten Heilsgeschichte in Frage gestellt werden konnte. 80 Indem man diese parallelisierenden

76 Siehe Bultmann 1967, S. 369 – 380. Vgl. von vielen Bearbeitungen zu diesem Thema: Ohly 1988, S. 22 – 63. 77 Frye 1988, S. 64. 78 Zur typologischen Karriere der figura als Denk- und Bildformel in der Frühen Neuzeit: Telesko 2016, passim; Linke 2014, passim; Linke 2013, S. 29 – 57; Blümle 2013, S. 109 – 120, wie auch einzelne Beiträge in: Boehm / Brandstetter / von Müller 2007. 79 Vgl. retrospektiv aus der Position der Forschung zur Frühen Neuzeit: Melville 1980, S. 103 – 136, wie auch umfassend Telesko 2000, S. 87 – 116. Vgl. Kemp 1991, S. 35 – 65 (Kap. »The Completed Past«). 80 Vgl. in Hinsicht auf die mittelalterliche Geschichtsschreibung, die eine göttlich-schöpferische ratio immutabilis der Geschichte – eine »ontische Geformtheit« – sowie deren Verständnis und Verschriftlichung voraussetzt: Melville 1975, S. 33 – 67, 308 – 341, hier: S. 66: »Eine teleologisch abzuleitende Ordnung der geschichtlichen Wirklichkeit mag als tatsächliche Seinsweise des Geschehens in ideologischer Fundierung verifizierbar sein, im Aufgriff auf das Darstellungsobjekt wird sich Geschichte zunächst nur als Chaos zeigen.«

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Strukturen analytisch verfolgt, zeigt sich auch die Positionierung der Idolatrie als Synonym ontischer Negativität des Fremden nicht apriorisch von der Seite ihrer normierenden historischen Definition, sondern dialektisch in der Geschichte ihres durch bildliche Typologien gestalteten Nachlebens. Hier soll also nicht nur eine kritische Genealogie von historischen Bildartikulationen der Macht geschrieben, sondern auch ihre Erbschaft hinterfragt werden – bis zu den kategorial disziplinierenden und metaphorisch übertragenden Dimensionen des wissenschaftlichen Narrativs. Auch in dieser Hinsicht rückt einer der Leitbegriffe, auf dem das moderne und postmoderne Verständnis von Historizität – als Spanne zwischen Kontinuität und Bruch – aufgebaut wurde, ins Zentrum: der Anachronismus. Mit diesem Fokus zeigt sich auch, wie die kunsthistorische Debatte um das Phänomen der anachronistischen Bildpraktiken im neuzeitlichen Europa selbst ein normkonformes Vorgehen war, da oftmals entweder ein Ursprungskern als historischer Ausgangspunkt und Rechtfertigung dieser Bildpraktiken, eine vorgegebene ›Identität‹ der historisierenden Subjekte oder schließlich auch eine Gesetzlichkeit von zwischenzeitlichen Sprüngen vorausgesetzt werden. 81 Somit wird das apriorisch konstruierte Forschungsnarrativ selbst zu einem Teil des in der sakralpolitischen Tradition eingebetteten Autoritätsdenkens, dem durch die Kultivierung von Epochenschwellen, identitären Verankerungen und erneuernden Wiedergeburtsphasen ein Anspruch auf Zeitkontrolle eigen ist. Eine hier versuchte kritische Auslegung des Anachronismus durch eine Demonstration seiner vielfältigen diskursiven Vorprägungen und des mit ihm einhergehenden systemisch konditionierten Willens zur Re-Konstruktion, zum Neuanfang, zur legitimierenden Ursprünglichkeit der jeweiligen Gegenwart wird dagegen aufzeigen, dass dieser Begriff ohne den Schatten seiner sakralpolitischen, um Identitäts- und Machtsicherung bemühten Dimension heute nicht mehr zu denken ist. Eine beschreibende Objektivierung dieses Narrativs, eine Praxis der Verneinung der Annahme von einer rohen Ursprungsmaterie der Geschichte durch die Erforschung von historischen Koordinationssystemen zeigt, dass die Rückkehr ad origines genauso wie die ersehnten origines selbst als normierte Verschränkungen von Macht, Moral und Unterwerfung angesehen werden müssen und dass

81 Unter solchen positiven Prämissen einer Rückkehr zum ›historischen Kern‹, die nicht selten in nationale Stichworte münden, wurden die meisten Forschungen zum Thema der Aktualität des Mittelalters im Barock geführt. Die diesbezügliche Literatur thematisiert darüber hinaus v. a. die spezifisch architektonisch definierten ›Anachronismen‹ anhand ihrer kontextualisierten Formenkataloge, siehe u. a.: Horyna 2009; von Engelberg 2005; Fürst 2002, S. 197 – 264, 337 – 393; Sutthoff 1990; Kotrba 1976. Eine kritische Darstellung dieses Problems in der böhmischen Forschung: Kalina 2010, S. 42 – 56, hier: v. a. S. 45 – 49. Darüber hinaus zu der ins Mittelalter nach Resten und Formenkatalogen greifenden ›historischen Identität‹ der Barockisierung u. a. Herzog / Weigl 2011; Jurkowlaniec 2008. Auf den historisierend-typologischen Einsatz des Anachronismus im Fall der barocken ›Rekonstruktionen‹ des frühen Christentums weist dagegen Linke 2017, S. 275 – 296 hin.

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bei einer solchen formalen Suche nach Wurzeln Kausalität als Mittel zur Erstellung eines nomothetischen Geschichtsverständnisses eingesetzt wird. 82 Jan Assmann versteht seinen kurzen Beitrag zum Monotheismus als eine historische Untersuchung zur Sprache und sieht darin explizit keine verifizierende, denunziatorische oder demaskatorische Prozedur, die die beschriebenen Ereignisse oder den historischen Text – wie im Falle der sinaitischen Gesetzgebung – selbst zu rechtfertigen oder zu delegitimieren vermag. Stattdessen handelt es sich um eine Arbeit, die zeigt, inwieweit Sprache, auch die der Bilder, eine Transportation bestimmter Vorstellungen ermöglicht. Assmanns Text ist eine Reflexion über die Macht der normierenden Verknappung des Diskurses durch Kulturnarrative und über die Vorkonditionierung dieser Kulturnarrative durch Formen des Diskurses. 83 Es lässt sich dazu auch anmerken, dass eine rein moralisch motivierte Kritik an einer institutionellen Rechtfertigung von Gewalt durch die Sprache im Dienste einer historischen Theokratie heutzutage schwach ist, da sie die menschenrechtliche Freiheit des Einzelnen überhistorisch kategorisiert und dazu tendiert, eine Einschränkung derselben statisch und kategorial nach Begriffen und Symptomen dieser Freiheit zu beurteilen, anstatt mit Instrumenten einer tiefgreifenden Wissensarchäologie historische Komplexitäten als hingenommene Grundbedingungen dieser Rechtfertigung auszuweisen. 84 Eine kritische Beschreibung von Bildern zielt daher vor allem auf die Zurschaustellung von Dispositiven der vorausgesetzten Überzeugungskraft der Norm. 85 Es handelt sich auch nicht um eine Denunziation versteckter Phänomene oder Wahrheiten, sondern bloß um ein Hineintreten in das historische Erscheinungsfeld von Aussagen. Es gilt, die genuine Potenzialisierung der Artikulation aufzuzeigen: Mit Blick auf die Vorgeschichte der Sprache der Gewalt wird deutlich, inwieweit legalisierte Gewaltnarrative vor allem weitere Gewaltnarrative hervorrufen und inwieweit gerade in der Selbsthistorisierung nach einer Gesetzlichkeit von Ausschließungspolitiken gesucht wird.

82 Siehe Foucault 1991, S. 31 – 32 (zur Annahme der Durchdringung der ursprünglichen Erfahrung durch Bedeutungen, die im Laufe einer Wiedererkennung nur gelesen werden können). Vgl. Foucault 1992, S. 31 – 33 (zu Verschränkungen von Zwangsmechanismen und Erkenntnisinhalten). 83 Foucault 1991, S. 34. Vgl. Foucault 1992, S. 15: »[. . . ] die Kritik [ist] die Bewegung, in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin.« Vgl. Foucault 1988, S. 108 (zu Formationssystem und einer Untersuchung der Regelmäßigkeit einer Praxis). 84 Hier wäre an den Einspruch Foucaults gegen die Untersuchung der Machtbeziehungen nur innerhalb bestimmter Institutionen zu erinnern, da solch eine Kritik seiner Meinung nach lediglich ihre »Reproduktionsfunktionen« wahrnimmt (Foucault 2005a, S. 257 – 258). Vgl. Foucault 2003, S. 10 – 11 (zur Diskursanalyse, die nicht den linguistischen Tatsachen der Sprache, sondern den Kampfspielen gewidmet werden sollte). 85 Vgl. Macherey 2009, S. 103.

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In diesem Feld realisiert sich gerade die wirkliche Autonomie der Bilder im allgemeinen Fluss der Geschichte – sie sind nicht nur deswegen keine ›Dokumente ihrer Zeit‹, weil sie die Zeit nicht ›abbilden‹, sondern sie stellen darüber hinaus auch keine illustrative Auslegung externer Normen dar, denn sie kreieren und verändern selbst das Element der Normativität, indem sie dem Betrachter genealogische Konfigurationen mittels Anachronismen sichtbar machen. ›Anachronismus‹ wird in diesem Buch also nicht apriorisch als Begriff für die Erläuterung historischer Vorgänge einer anderen Zeit durch eine historische Bestandsaufnahme der Unzeitgemäßheit verwendet. Ähnlich wie ›Idolatrie‹, wird er hier als geschichtliche Verwaltungskategorie der Frühmoderne gebraucht, mit der im Rahmen einer sakralpolitischen Grundlegung der Macht ein systeminterner Rekurs eingeführt wurde, um die eigene Autorität als »das kontinuierliche Ablaufen einer idealen Notwendigkeit« 86 anzuzeigen.

Anachronismus und Verspätung Die Natur des historischen Relikts als zugleich Zeugnis, Zitat und Versprechen kann als maßgeblich für die Entwicklung der katholischen Geschichtsauslegung betrachtet werden, in der die christliche Spätantike als ein heroisches Zeitalter der ›Befreiung‹ vom ›Heidentum‹ und das Mittelalter als die organisierte Stiftungszeit der westlichen Theokratie präsentiert werden. Wie wird nun das Kontinuum der christlichen Rechtgläubigkeit in der Frühen Neuzeit anhand einer diesen Doppelbezug stärkenden anachronistischen Bildpraxis konstruiert? Anachronismen als Manifestationen der staatlichen Legitimität waren bereits in der Antike präsent. Die durch mesopotamische Herrscher gegründeten antiquarischen Sammlungen hatten einerseits eine Legitimierung ihrer Autorität zum Ziel und andererseits eine historische Projektion ihrer Präsenz in die Zukunft als Konstruktion einer »tiefen Zeit«. 87 Im Alten Ägypten war die königliche »Usurpation« der die Vorgänger verewigenden Monumente und Bauten eine gängige Praxis der Aneignung von Geschichte und der Kreierung einer neuen Gedächtniskultur. 88 Ältere Artefakte und direkte Formzitate in der Kunst konnten auch im kaiserlichen Rom weitgehend einer politischen Instrumentalisierung und einer axiologischen Auf ladung unterzogen werden. So wurden beispielsweise in der Regierungszeit von Augustus archaische Skulpturen oder diejenigen, die aus ›ursprünglichem‹ Material wie Terrakotta gefertigt worden waren, mit einer sakralen und die neuen, ›klassischen‹ Statuen aus Stein mit einer ethischen Potenz ausgestattet. 89 Zur Zeit Maxentius und Konstantins soll darüber hinaus allein die kolossale Dimension von Statuen einen Eindruck von der aus

86 Foucault 1991, S. 38. 87 Dazu v. a. Bahrani 2018, S. 171 – 183; Bahrani 2014, S. 217 – 238. Vgl. Shenkar 2015, S. 471 – 498 und einzelne Beiträge in May 2012. 88 Siehe dazu einen Überblick in: Brand 2010a; Brand 2010b (dort weitere Literatur). 89 Zanker 1987, S. 244 – 252.

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der Vergangenheit sich herleiten lassenden sakralen Aura der imperialen Autorität verliehen haben. 90 Parallel zu dieser Archaisierung lässt sich eine Strategie der Veredelung und Aktualisierung der Bilder mittels integrativer Verwendung und Umarbeitung von älteren Porträts und Skulpturfragmenten nachweisen – eine gängige Praxis, die die Bilder, zusammen mit dem Staat, hat sichtbar ›wachsen‹ und sich im Einklang mit der Aktualität der Macht transformieren lassen. 91 Die sogenannten Spolien wurden daraufhin im Mittelalter zu visuellen Trägern der Idee der renovatio imperii: Die von der Kunstgeschichte relativ früh problematisierten karolingischen Praktiken der Aneignung stehen hier als bekanntes Sinnbild für die Macht der Bilder als Transporteure der Zeit. 92 Im Zeitalter der Konfrontation des staatlich organisierten Katholizismus mit der andauernden reformatorischen Sezession vom 16. bis zum 18. Jahrhundert war allerdings nicht nur die historische Substanz der Überreste von Relevanz, sondern vor allem das polemische Element der mit ihnen einhergehenden Bestätigung vom Sinn der Konversion zum ›alten Glauben‹ aufgrund einer ontologischen und zeitgeschichtlichen Unterscheidung. Nach dieser antagonistischen Auslegung der Neuzeit als Wiederaufnahme eines Ursprungs erfolgte daher eher eine Umformulierung der Zitation von einem mit auctoritas versehenen Repräsentationsmittel in ein überzeitlich anmutendes Missionswerkzeug der konfessionellen Teleologie. Im Rahmen der Gegenreformation verschränken sich somit die Beschäftigung mit Zeugnissen der Vergangenheit und die Konstruktion einer Universalgeschichte auf einer Konfliktachse zwischen Rechtgläubigkeit und Häresie. Geschichte durch dieses Prisma der eigenen Superiorität auf dem Feld des Antagonismus wahrzunehmen heißt, die res gestae nicht nur im Sinne der annalistischen oder archäologisch-systematischen Chronologie auszuschöpfen, sondern vor allem, sie im Rahmen eines ständigen Aktualisierungsprozesses zu begreifen, in dem der Verlauf der Zeit im Sinne einer Erfüllung nivelliert wird. Darin lässt sich gewissermaßen eine Reaktion auf die Einführung der apokalyptischen Visionen in die historische Wirklichkeit in der endzeitlich gedeuteten anti-päpstlichen Polemik der Reformation sehen, 93 die unter der Prämisse der erneuten Übersetzung von Originaltexten und deren individueller Lektüre die endgültige Abschaffung der mittelalterlichen Autorität der Scholastiker bedeutete. 94 Eine Rückkehr zum Mittelalter als Epoche einer die Wahrheit auslegenden Autorität wurde daher für die nachtridentinische Kirche zu einer conditio sine qua non ihrer anti-protestantischen Polemik. In dieser mit Bildern als Neuanfang gezeichneten Würdigung der heilsbezogenen Stiftung und

90 Varner 2014, S. 48 – 77. 91 Zum besonderen Fall von Konstantins Triumphbogen als Amalgam siehe u. a. ebd., S. 64 – 70, wie auch Prusac 2012, S. 127 – 157; Jones 2000, S. 50 – 77; und Elsner 2000, S. 149 – 184. Vgl. Veyne 2009b, S. 82 – 89. 92 Siehe u. a.: Jacobsen 1996, S. 155 – 177; Clasen 1988; Panofsky 1979 (v. a. S. 55 – 117); Schramm 1975; Krautheimer 1942, S. 1 – 38. Vgl. Heather 2014. 93 Koselleck 1979b, S. 20 – 21. 94 Leclerc 1996. Vgl. Kapustka 2008a, S. 97 – 115, hier: S. 101 – 106.

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in der Systematisierung der darauffolgenden Erwartung sollte die Vergänglichkeit der Gegenwart transzendiert werden und sich im Moment der theokratischen Erfüllung des Heilsplans auf lösen.

Der Anachronismus und die Bilder I: »out of time« Die Problematik des Anfangs und der Wiederkehr ist seit Beginn der Kunstgeschichte besonders prägend für die Beschäftigung mit der Kunst der Renaissance, spätestens seit Erwin Panofskys vieldiskutiertem Beitrag zum Unterschied zwischen renascences und Renaissance und zur Kulmination der Wiedergeburt in der italienischen Kunst der Renaissance. 95 In ihrem Buch Anachronic Renaissance, das für eine lange kritische Debatte gesorgt hat, unternahmen Alexander Nagel und Christopher Wood einen Versuch, im Kontext der Kunst der Renaissance und in Relation zu Panofsky ein neues kunsthistorisches Verständnis von Anachronismus aufzubauen. 96 Eingebettet in einer Spannung zwischen der auf Erhaltungsund Wiederholungseffekt durch typologische Verweise zielenden Substitution und der mit Autorschaft zusammenhängenden Performativität, funktioniert das Kunstwerk laut diesem Konzept entweder als Reliquie beziehungsweise Relikt (relic), das andere Zeiten magisch zu evozieren vermag, oder als »Strukturobjekt« (structural object), das die Geschichte des eigenen Werdens illustriert. Das anachronische Kunstwerk realisiert sich als Gegenstand einer pseudomorphosis – einer bereits von Panofsky betonten Antinomie zwischen der tradierten alten Form und der projizierten neuen Bedeutung, die sich dem Verständnis des Anachronismus als Verspätung entzieht. 97 Mit der Hervorhebung dieses Wechselverhältnisses soll die traditionelle Zäsur zwischen der auratisierenden mittelalterlichen Substitution und der Würdigung der Einzigartigkeit der künstlerischen Signatur in der Renaissance aufgehoben werden. In einem Kunstwerk, in dem in der Ära der neuen Druck- und Speichermedien auf diese Art und Weise vor allem der Grad an künstlerischer Manipulation am Substitutionskanon sichtbar werden soll, werden dann mehrere Zeitlichkeiten in einem Formennetzwerk lokalisiert, sodass in der Renaissance beispielsweise das hohe Mittelalter für das Altertum gehalten werden konnte. 98 Die Geschichte, so wie sie sich im Bild offenbart, da dieses ›jenseits

95 Panofsky 1979. 96 Nagel / Wood 2010, hier v. a. S. 7 – 19, 45 – 50. 97 Zu den Anfängen dieses mineralogisch konnotierten Terminus bei Spengler und Panofsky: Nagel / Wood 2010, S. 48. Siehe zugleich in diesem Kontext im Sinne einer dynamischen Alternative zu Nietzsches »Plastizität des Werdens«, die über die bloße Wiederkehr hinausgeht und einen »Perlentaucher« benötigt, der durch Verwesung kristallisierte Formen hebt: Didi-Huberman 2010, S. 187 ff. und 560 – 564. Vgl. ebd., S. 62 – 63 über Edward B. Tylors »Abdrücke« (stamps) und Didi-Huberman 2002a, S. 63. 98 Vgl. Nagel / Wood 2009, S. 53 – 74. Die Kunst erscheint in diesem Rahmen als »manipulation of the similarities and identities proposed by the substitutional model of production.« (Nagel / Wood 2010, S. 11).

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seiner Zeit‹ arbeitet, wird eingespannt in ein künstlerisches System der Transmission von vernetzten historischen Daten. 99 Dieses wird sichtbar durch Erkennbarkeit der semantischen Auf ladung von einzelnen Werken und pseudomorphotisch in neue Kontexte eingebauten Motiven. Im Endeffekt fassen Nagel und Wood die Rolle des Kunstwerks vor allem als visuelle Metapher der eigenen Zeitlichkeit auf. 100 In diesem Sinne wird anachrones Denken der Kunst, erklärt an Beispielen der klassischen Renaissance, einerseits den Vorstellungen zum linearen Verlauf der Geschichte entgegengestellt, andererseits jedoch in die Idee eingebettet, die Kunst spräche nur für sich selbst und über sich selbst als Kunst, über ihre eigene Genese und ihre eigene supratemporale Autonomie. 101 Nagel und Wood formulieren ihren Ansatz in stiller Anlehnung an Jacques Rancières Konzept der »häretischen Geschichte«, die die zeitliche ›Unähnlichkeit‹ historischer Akteure einer Epoche dezidiert in den Vordergrund stellt, dadurch vom mimetischen Bezug befreit und zum Kriterium der Wissenschaftlichkeit der Geschichtsschreibung macht. 102 Geschichte ereignet sich, so Rancière, sobald etwas aus ihr herausragt, sich der Zeit entgegenstellt, sobald sich eine Zeitlinie einer Epoche mit einer anderen der gleichen Epoche trifft und Kollisionen oder Brüche verursacht. Daher ist gerade diejenige Differenz, die die kanonisch etablierte Wesenheit einer Epoche stört, ihr wesentlichstes Merkmal – der Anachronismus verschwindet, da er sich mit dem Lauf der Geschichte vereint und somit eine von der epochalen Statik der Geschichte ausgehende Annahme des Historikers, dass die Zeit als ein epochales Normativ die Möglichkeiten ihrer Akteure bändigt, für inaktuell erklärt. Rancière sieht somit im Anachronismus lediglich einen poetischen Begriff, der vor allem eine metaphorische Ebene der Unangepasstheit evoziert, »eine Farbe, die sich mit den anderen beißt, ein Stück, das nicht aus dem gleichen Material gemacht wurde.« 103 So wird eine Hinterfragung von Marc Blochs Konzept der »Menschen in der Zeit« ausgeführt: Der Anachronismus resultiere nur aus der mimetischen Zügelung der Geschichte, in der man ihren Akteuren nicht ermöglicht, über ihre eigene Zeit hinauszugehen, ihr vorauszueilen. 104 Somit wird vor allem die Ewigkeit selbst zum Gegenstand von Rancières Kritik, da sie für die nach Unangepasstheiten suchenden Historiker immer als die letzte Relationsgröße für menschliches Handeln im Hintergrund lauert, sei sie göttlichen Ursprungs oder eingebettet im aufhebenden Säkularisationstheorem der zeitlichen Immanenz: »Die Frage des Anachronismus bezieht sich auf das, was der Zeit an Wahrheit zugeordnet wird, und zwar in einer vertikalen Ordnung, die die Zeit mit dem verbindet, was über der Zeit liegt, also mit dem, was man gemeinhin 99 Nagel / Wood 2010, u. a. S. 116, 350 – 351, 364. 100 Siehe ebd., S. 34 (»chronotopology of art making«). 101 Vgl. die kritische Stimme von Farago 2008, S. 69 – 93, insbes. S. 73 – 74, die auf den dem Buch von Nagel und Wood inhärenten Satz der kunsthistorischen Entpolitisierung der Renaissance durch das Formprimat hinweist. Siehe auch Nagel / Wood 2010, S. 17 – 18. 102 Rancière 1996, S. 53 – 68 (deutsche Übers.: Rancière 2015). Vgl. Rancière 1994, v. a. S. 131 – 150. 103 Rancière 2015, S. 45, vgl. ebd., S. 33. 104 Ebd., S. 41 – 42.

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Ewigkeit nennt.« 105 Der Philosoph, der sich dabei exemplarisch mit der Hauptfrage Kann Rabelais in seiner Zeit ungläubig gewesen sein? beschäftigt, wendet sich also vor allem gegen die Kategorisierung der Zeit als Spielfeld des nur im vorgegebenen Rahmen einer Epoche Möglichen und als Ausschlusskriterium des die historische Zukunft prospektiv vorzeichnenden Unmöglichen. 106 Es erstaunt also, dass Nagel und Wood in ihrer Kampfansage gegen den kunsthistorischen Anachronismus gerade auf Rancière Bezug nehmen, um die historische Rekursivitäten der Bilder mit ihren Zitationen und Verwandlungen des Vergangenen als künstlerische Aussagen zu untersuchen. Wenn es Rancière darum geht, einen Bruch mit dem Zwang der zeitlich zugeordneten Grenzen des Möglichen zu verwirklichen, um einen Abschied von der ›Wahrheit‹ der Geschichte und von der epochalen Logik der Limitierung von individuellen Dimensionen dessen zu vollbringen, was sich als im anachronischen Sinne progressiv zeigt, fragt man sich, inwieweit dies helfen kann, einen auf die Antike oder auf das Mittelalter zielenden bildlichen Formenrekurs in der Renaissance zu erklären. 107 Denn der Philosoph spricht über die Befreiung des historischen Handlungsmoments oder eher des geschichtsphilosophischen Ereignisses von dem Diktat der Zeit, die als objektiv zu definierende Größe das prospektive Herausragen ihrer Helden aus dem vorgeschriebenen praesens verbietet. Bilder sind dagegen Medien, die von ihrer Natur her vielen vergangenen Zeiten angehören, darüber hinaus ihre zukünftige Rezeptionen und Medialisierungen selbst als Diskursdispositive zu gestalten pflegen. In ihrem Fortdauern sind sie auch schließlich, was Nagel und Wood selbst feststellen, nicht auf eine dargestellte Summe der mittels Formzitaten evozierten Zeitlichkeiten zu reduzieren. Wird also im Konzept der Anachronic Renaissance die eingeschriebene Nachträglichkeit von Bildaussagen – ihre sich im stets erneuten Sichzur-Schau-Stellen manifestierende, nicht selten innerlich widersprüchliche, symptomatische Wirkung – überhaupt wahrgenommen? 105 Ebd., S. 34. Dies hat folgenreiche Konsequenzen für das Denken der Modernität: »Die Revolution ist die Illusion, die Revolution zu machen, und diese Illusion entsteht aus dem Unwissen, daß die Revolution bereits gemacht ist«; ebd., S. 63. 106 Siehe ebd., S. 48 – 49, v. a. S. 49: »Die Kategorie des Anachronismus zu dekonstruieren bedeutet einen doppelten Knoten zu lösen, nämlich den Knoten der Zeit mit dem Möglichen und ihren Knoten mit der Ewigkeit«; »[. . . ] diese Zeit von der Ko-Präsenz zu befreien, die einerseits insgeheim die Ewigkeit in die Zeit versetzt und die andererseits diese verewigte Zeit zum Prinzip der Möglichkeit und der Unmöglichkeit macht.« 107 Rancières komplexes Konzept, dem Nagel und Wood grundsätzlich den Begriff der Anachronie verdanken, wird in ihrem Buch lediglich in einer Fußnote anhand eines Kurzzitats aus dem letzten Abschnitt des Aufsatzes des Philosophen erwähnt, mit dem sein ursprünglicher Ansatz zur Bestätigungsformel der kunsthistorischen Entzeitlichung der Form gemacht wird: »Es gibt keinen Anachronismus. Aber es gibt Verbindungsarten, die wir positiv als Anachronien bezeichnen können: Ereignisse, Begriffe, Bedeutungen, die die Zeit gegen den Strich bürsten, die den Sinn in einer Weise zirkulieren lassen, die jeder Zeitgenossenschaft, jeder Identität der Zeit mit ›sich selbst‹ entgeht. Eine Anachronie, das ist ein Wort, ein Ereignis, eine signifikante Sequenz, die ›ihre‹ Zeit verlassen haben, zugleich ausgestattet mit dem Vermögen, noch nie da gewesene zeitliche Weichenstellungen zu definieren und den Sprung oder die Verbindung von einer Linie der Zeitlichkeit zu einer anderen zu gewährleisten« (ebd., S. 50).

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Die von Nagel und Wood aufgebaute, von ihnen als anti-materialistisch deklarierte Anachronie der Bilder 108 zeigt sich auf diese Art und Weise als Teil einer Ikonologie der Zeit, die – so wie in ihrer ursprünglichen Variante von Panofskys logozentrischem Modell des disguised symbolism – die Werke nach kunsthistorisch anerkannten und klassifizierten Motivdeutungen zeitlich zerlegt, anstatt sie auf ihre eigenen, individuellen und komplexen Zeitlichkeiten hin zu untersuchen. Die beiden Autoren deklarieren eine gewisse Transzendenz der Bilder, die eine Prozedur von »reverse engineering« 109 erlauben, indem sie zu selbstbewussten postmittelalterlichen Texten werden: »Once liberated from their time-mending substitutional tasks, paintings can be understood for the first time as texts, that is, as self-sufficient, integrated wholes mysteriously more significant than the sum of their components. Once the picture is a text, it can be cited and no longer just copied, in the same way that later authors cite or allude to Dante’s Commedia and do not just copy it.« 110 Allerdings wird damit nicht erklärt, um was für eine Bedeutung des kursiv hervorgehobenen Begriffs »Text« es sich handelt, außer seiner Inkompatibilität mit dem Vorgang einer abbildenden Substitution. Die Hoheit des Textuellen beruht hier lediglich auf dem postulierten »geheimnisvollen« Mehrwert einer integrativen Bedeutung, die über die historischen Grammatiken der wiederholbaren Teile hinausgeht. Eine kritische Einbeziehung der divergierenden dekonstruktiven Ansätze wie beispielsweise von Paul de Man in seiner berühmten Abweichung von Derrida, in dem er auf die Unkontrollierbarkeit der Metapher hinweist, 111 hätte außer der von Nagel und Wood hervorgehobenen positiven Integrität und Souveränität etwa auch die Widersprüchlichkeit als primäre Eigenschaft des Phänomens Text gerade im Kontext der Augenblicklichkeit der Bilder aufzeigen können. Damit hätten die beiden Autoren den trotz einer deklarierten antiphilologischen Neigung gefestigten logozentrischen Glauben an die »rhythms of recognition, connection, and interpretation« 112 dialektisch in Frage stellen können. Die Zuschreibung ›Renaissance‹ wird somit durch die Würdigung von Anachronien auf die Probe gestellt. 113 Nagel und Wood bewegen sich auf den ›supratemporalen‹ Bedeutungsebenen von Prototypen und kopierten beziehungsweise erneuerten Bildern. 114 Die als metaphorisch angesehene Semantisierung der Zeit ist so einer transzendentalen und zugleich transzendenten, substituierbaren Ursprungsbedeutung unterlegen und animiert zu 108 Nagel / Wood 2010, S. 18. 109 Ebd., S. 34. 110 Ebd., S. 356. Farago 2005, S. 427 – 428, weist in ihrem Kommentar zu Nagel / Wood 2005a darauf hin, dass die beiden Autoren in ihrer Kritik an Panofsky selbst eine der Anachronie untergeordnete Ikonologie aufbauen. 111 Vgl. z. B. de Man 1978. Vgl. im kunsthistorischen Diskurs die frühen Einwände George Kublers gegen ›Textualisierung‹ von Artefakten: Kubler 1962, u. a. S. 45 – 46. 112 Nagel / Wood 2010, S. 356. Vgl. Nagel / Wood 2005b, S. 429 – 430. Es könnte hier an die Ansicht Walter Benjamins erinnert werden, der in einer »Entwertung« von Dingen, die zur »Ware« gemacht werden, die Bedingung ihrer Allegorisierung sieht; dazu u. a. Konersmann 1991b, S. 78 – 81. 113 Siehe u. a. Nagel / Wood 2010, S. 248 – 249. 114 Ebd., S. 86 – 87.

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einer Fortschreibung der Ikonologie mit anderen Mitteln. Die besprochenen Werke werden dementsprechend in einer Kette von Repliken eingegliedert oder transhistorisch in Relation zu einem Schönheitsideal gesetzt – zu der anzustrebenden ästhetischen Ewigkeit, die sich in der Hochrenaissance künstlerisch verwirklicht. 115 Zu einer Definitionsquelle dieser Ewigkeit werden dann schließlich die Künstler selbst; ihre performative Bewegung ›zwischen den Zeiten‹ wird als eine panoramatische Perspektive der chronografischen Mobilität angesehen, aus der die Kunstgeschichte schöpfen kann. Dabei wird also das Subjekt des Künstlers – in der Renaissance-Forschung seit jeher eine demiurgische Instanz – zu einem Schlüssel zur Erklärung der Anachronie gemacht: Die Kunst operiert auf einer supratemporalen Ebene dank einer künstlerischen Entscheidung; der Künstler ist es, der eine neue Zäsur setzt. 116 Zu einem Musterbeispiel avanciert für Nagel und Wood vor allem Raffael, der in seiner Schule von Athen in der Stanza della Segnatura den interpikturalen Zitationen eine timelessness gewährt, indem er über heterogene imprints verschiedener Zeitlichkeiten wie über frei glossierbare, vom Original gelöste Texte verfügt und somit zugleich – als Begünstigter der Zeit der neuen mechanisierten Druckmedientechnik – der Kunst eine Befreiung ermöglicht. 117 Nagel und Wood ziehen hier zugleich aus der starken räumlichen Polarisierung der Schule von Athen und der gegenüber situierten Disputa des eucharistischen Sakraments außer der formal-kompositorischen Differenzierung zwischen ›diffus‹ und ›zentral‹ keine Konsequenzen und fassen die Stanza als neutralen Raum einer künstlerischen Performance, die in einer Verkettung von sich selbst gegenseitig kommentierenden und aufhebenden Bildformaten sichtbar sei. 118 Die von den beiden Autoren angenommene metaphysische Grundlage des künstlerischen ›Durchbruchs‹ aus dem bloßen Substitutionsparadima in der Schule von Athen wird in diesem Kontext deutlich erkennbar: »It says the same thing as the Disputa, but more radically: books break with mere utterance (a context-bound mode of communication) just as the Eucharist (a relic of Christ generated by ritual) breaks with the mere cult of bodily relics (common to many religions and vulnerable to fraud and mislabelling)«. 119 Interessant präsentiert sich dabei das Verhältnis zwischen solch einer die anachronische Bewegung der Einzelteile im zeitlosen, entpolitisierten Idealkörper der Kunst aufzeigenden ›Anatomie‹, die Nagel und Wood anti-materialistisch beanspruchen, und der vasarianischen ekphrasis, die zum Generator des mimetischen, die Wirklichkeit und zugleich die eigene Genese nachahmenden und kommentierenden Bildes wie auch seines Schöpfers avancierte. 120

115 116 117 118 119 120

Siehe u. a. ebd., S. 94. Ebd., S. 15, vgl. S. 321 – 333. Ebd., S. 358 – 359. Ebd., S. 352 – 356. Ebd., S. 363. Vgl. Winner 1995, S. 259 – 278 (hier auch v. a. am Beispiel von Raffaels Disputa). Siehe auch die umfassende Kritik am vasarianischen Modell der ›mimetischen‹ Kunstgeschichtsschreibung bei DidiHuberman 2000, S. 93 – 145.

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Mit dem neuen begriff lichen Ansatz der Anachronie soll die Kunst demnach von einem negativen Ballast des Anachronismus befreit und auf den Weg ins Zeitlose der migrierenden Formen geführt werden. Die Unangepasstheit wird hierbei verurteilt, allerdings weil sie als einzige Dimension der Verspätung – als Abweichung – vorgestellt wird. In dieser das Modellhafte implizit würdigenden Aussage wird sichtbar, wie die Autonomie des seine eigene Historizität wahrnehmenden Kunstwerks, das einserseits zurecht zu einem zwischen den Zeiten sich bewegenden Vehikel erklärt wird, andererseits auf der unbefragten Annahme gegründet ist, dass die Geschichte selbst doch einen linearen Charakter oder mindestens einen metaphysischen Ewigkeitsbezug hat. Für Walter Benjamin, der von Nagel und Wood ebenfalls als Mitbegründer der Anachronie kurz aufgerufen wird, beruht die Spezifität der Geschichte dagegen vor allem auf ihrer Ungreifbarkeit, auf einer Unabgeschlossenheit des Vergangenen. 121 Umso weniger kann ein Kunstwerk die einzelnen Schichten seiner Eingebettetheit in eine eigene Vorgeschichte taxonomisch enthüllen, da es selbst stets anachronistisch agiert und sich nie vollkommen ins praesens einschreibt. Die Symptomatik der Bilder entzieht sich somit einer anatomisch anmutenden Kunstgeschichte. Es ist in Anachronic Renaissance also immer noch diese kompakte Geschichte, aus der die Kunst als sich selbst befreiendes Ideal mit eigener Energie und eigener Regie ausbrechen muss – aus einer Gefangenschaft, in der die Zeit nach dem platonisch-augustinischen Diktum verstanden wird, laut dem sie als »das bewegliche Bild der unbeweglichen Ewigkeit« zu denken ist. 122 Somit werden einerseits mit solch einem Ansatz zur Normierung der chronografischen Vielfalt offene Türen der längst, spätestens seit Warburg entwickelten heterochronischen Kunst- und Kulturgeschichte eingerannt. Diese fasst die retrospektiv-multidirektionale Dimension von Bildern innerhalb diverser Gedächtniskulturen als eine aktive Qualität auf, die sich auf unterschiedlichsten Vektoren zwischen Vergangenheit und Zukunft verorten lässt, nicht nur auf dem der summierenden oder enthistorisierenden Rückwärts-Zitation. Die Zeit selbst wird somit im Konzept der Anachronic Renaissance zu einer leeren Form, in der sich durch die historische Geste des Künstlers – durch den Akt seiner Verselbstständigung aus der Kette von Substitutionen – vernetzte, zitierbare Kunstwerke und freie Formen in verschiedenen autarken Konkordanzsystemen als Module ereignen. 123 Andererseits wird

121 Siehe v. a. umfassend Zumbusch 2018, S. 198 – 212; Konersmann 1991b. Vgl. Tillmans 2012, S. 80 – 101. 122 Ähnlich bereits Farago 2005, S. 426: »The pejorative charge of anachronism as the inadmissible confusion of periods or eras presupposes that the accuser knows what the correct time of history is.« Siehe Nagel / Wood 2010, S. 87, zu Augustins Zeitlehre und zur dementsprechenden Bildauffassung (»Images were an occasion of Christian theology at work. [. . . ] Effecting a rift in secular time, the image not only represents but instantiates the operativity of the divine in temporal affairs«). Interessanterweise wurde gerade eine Studie zur Darstellung von Augustin in seinem Studio von Vittore Carpaccio zu einem Auftakt der Gedanken zur Anachronie der Renaissance (ebd., S. 35 – 44; vgl. Nagel / Wood 2005a). 123 Vgl. Moses 1993, S. 396 – 397, im Kontext von Walter Benjamins Kritik am historischen Positivismus und ihrer zeitgenössischen philosophischen Einbettung. Rancière schreibt über die Modi der

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hier Kunst auch zu einem Ausbrecher aus der Zeit – aus ihrer eigenen Zeit – erhoben, indem sie die Modernität des Vergangenheitsbezugs als ihre Wesenheit offenbart. Anstatt einer angekündigten Horizontalität verschiedener Zeitschichten als pluralistische Besonderheit eines Renaissance-Kunstwerks zeigt sich darin ein auf vertikalen Stützen aufgebautes Ingenieurwesen der semantischen Zeitlosigkeit als Charakteristikum einer bedeutsamen, funktionierenden und selbstbewussten Gesamtheit der metaphysisch verankerten Form. Der Künstler als Urheber des überhistorischen Deutungsnetzwerks wird in der eigenhändig hervorgerufenen Zeit angesiedelt – in seiner Zeit, in der Zeit der von ihm stets eingeleiteten Wiedergeburt. 124 Der angekündigte Versuch, das Phänomen von disruption zu einer Vielfalt erzeugenden Qualität der Renaissance zu machen, scheint im Endeffekt auf der gleichen Grundlage fundiert worden zu sein wie die klassische Periodisierung der seit jeher zentral nach Burckhardt und Wölfflin aufgefassten Epoche. Die Grenze zwischen Periodisierung und Entzeitlichung ist für die Kritik des Evolutionären in diesem Sinne genauso alarmierend wie zugleich subtil verführend und leicht zu überqueren. Mit diesem einen gewagten Schritt über die Grenze der Aktualität der Bilder verwandelt sich somit Anachronizität in Achronizität und beseitigt die Möglichkeit, in der autoritativ konstruierten, summierenden Zeitenthobenheit, die an eine bildhistorische Rückkehr zur ›Wahrheitsdarbietung‹ der stets im Ähnlichkeitsverhältnis zum Ewigkeitsideal positionierten Geschichte denken lässt, einen alternativen Diskurs zu lokalisieren. 125 Die Diskussion zur anachronischen Renaissance macht somit deutlich, inwieweit die Kunstgeschichte über ihre eigenen methodischen Grenzen hinausgehen muss, wenn sie sich mit einem ihre Objektgeschichten sprengenden Themenspektrum beschäftigt. Umso mehr zeigt sich dabei, wie autark und persistent das durch diese Disziplin seit ihren Anfängen kultivierte Kriterium der Autorschaft ist. Seine unbefragte, implizite Vormacht ist auch bei als revolutionär angekündigten Umformulierungen nicht zuletzt der langen Tradition der italozentrischen Renaissance-Forschung und ihrer Würdigung des seine Zeit gestaltenden ingenio zu verdanken. Wie riskant solche Taktiken sind, zeigt ein weiteres Buch von Alexander Nagel auf: Medieval Modern. Art out of Time. 126 Ausgehend von der Annahme, dass das 18. Jahrhundert mit seiner Kultur der Galerie eine Zäsur bildet, vor der sich beinahe die ganze Kunst als

Erlösung der Zeit durch die der Zeit zugesprochene Immanenz, durch die sie als »Ähnlichkeit oder Substitut der Ewigkeit« funktioniert: Rancière 2015, S. 37. 124 Damit steht Nagels und Woods anachronische Renaissance in einer Reihe mit jenen Geschichtskonzepten, die Rancière wegen der Interiorität ihrer historischen Akteure und konsequent wegen der ewigkeitsbezogenen ›Wahrheit‹ des mimetisch veranlagten Diskurses scharf kritisiert; siehe ebd., S. 42. 125 Vgl. Moxey 2013, S. 47: »The idea that contemporaneity is a form of ›non-time‹, one in which history no longer operates, threatens to impoverish not only our sense of the alterity of the past but also our appreciation of the differences between cultures.« 126 Nagel 2012.

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installation art jenseits des Diktats der Staffelei verstehen lässt, konzipiert der Autor eine ›andere Geschichte‹, welche die Geschichte des longue durée ersetzen soll. Er sucht damit, unter anderem mithilfe von Marshall McLuhans Medientheorie, nach mittelalterlichen Grundlagen von Praktiken wie Collage, Montage oder kinästhetischer Werkgestaltung. So wie einige Bilder von Nagel betrachtet werden, entsteht jedoch der Eindruck, dass im Zuge einer kunsthistorischen Bestimmung von ›Modernität‹ Bilder zu modularen Axiomen gemacht werden, auf die zurückgegriffen werden kann, wenn überhistorische Korrespondenzen anhand rein visueller Assoziationen aufgezeigt werden sollen. In diesem Sinne gleicht Nagels Buch einem schriftlich verfassten Museum mit benachbarten period rooms und veranlasst zur kritischen Frage, inwieweit heutige Begriff lichkeiten, Periodisierungsmodelle und der Sinn für überzeitliche Korrespondenzen in der Kunst von der am Anfang der Kunstgeschichte stehenden dekontextualisierenden musealen Praxis des Auf findens, Sammelns und Ausstellens abhängig sind. In dieser Praxis verwandeln sich Kunstwerke in miteinander kombinierbare visuelle Begriffe und Bausteine der geografisch und zeitlich voneinander entfernten Taxonomien. 127 Medieval Modern kann also als Folge der früheren Studie des Autors zur Anachronic Renaissance gelesen werden; der diesem neueren Buch inhärente Formalismus zeigt allerdings noch offensichtlicher seine Nachteile. Die heterogene Kunstentwicklung nach Künstlervorgaben der allpräsenten Vernetzung durch asynchronous interventions wird hier apriorisch zu einer neuen Positivität erhoben. 128 In diesem Sinne ist Nagels Formalismus paradoxerweise gerade ›in time‹, da der Autor eine eindirektionale Bedingtheit der Bilder aufzuzeigen versucht und die Ursprünge oder die Spiegelungen der Moderne nur deswegen im Mittelalter lokalisiert, weil er den allumfassenden Begriff der Moderne bereits längst gefunden hat. In letzter Konsequenz bleibt Nagels Buch mit seinem die Zeit versetzenden Anachronismus-Begriff und mit seiner Neigung zur Kennzeichnung und Objektivierung des ›out of time‹ doch in einem apriorischen Modell der ›längeren‹ Geschichte gefangen, in dem sich beinahe die ganze Kunst vor dem 18. Jahrhundert als ›mittelalterlich‹ und in Richtung der Moderne ›ausbaufähig‹ erweist. Ein kulturhistorisch eingebetteter Anachronismus der Bilder wird somit in seiner ganzen Komplexität der mittels sich immer neu konfigurierender Erinnerungsnarrative veränderbaren Vergangenheit zu einem spezifischen, auf Erfüllung des Modernitätsaxioms zielenden und die Vergangenheit dadurch bändigenden kunsthistorischen Präsentismus gemacht. 129 Ein herausragendes Beispiel solch eines epochal übergreifenden grand narrative der wortwörtlich gedachten Zeitenthobenheit ist die in einem der Anfangskapitel von Nagels Buch prominent gemachte formal-assoziative Nebeneinanderstellung von Cimabues Madonnen-

127 Vgl. Brückle / Mariaux / Mondini 2015. 128 Zum Begriff: Nagel 2012, S. 196. Vgl. ebd., S. 22 – 26 (Kap. »Learning to live without artistic periods«). 129 Vgl. zum Begriff des Präsentismus als souveräne »Verstetigung« der Zeit durch die Gegenwart: Konersmann 2006, S. 108 – 127.

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bild und einer Rakete vom Beginn des 20. Jahrhunderts. 130 Eine derartige überhistorische Projektion, auch wenn sie zunächst attraktiv zu sein scheint, endet unausweichlich in einer Entmündigung des Mittelalters. Dies geschieht sicherlich entgegen der Intention des Autors, der gerade die Modernität und Mobilität der Epoche der ersten Kathedralen aufzeigen wollte. Dieses assoziative Verfahren leitet entweder hin zu einer Verabsolutierung von Geschichte als sich progressiv entfaltende teleologische Erfüllung oder hüllt sich selbst in den dünnen Schleier einer christlich formulierten Transzendenz als Modell der kategorialen Sinnzuschreibung. In diesem ›entkörpernden‹ Konzept der überzeitlichen Bildersupremation unter der Prämisse der ›Modernität‹ eilt die verselbstständigte Form dem Bild voraus.

Der Anachronismus und die Bilder II: »contretemps« In der vorliegenden Untersuchung zu dem in der Frühen Neuzeit aufgebauten Projekt einer zeitgenössischen ›Aktualität‹ des anti-idolatrischen Mittelalters wird ein vollkommen anderer Ansatz verfolgt. Er gründet auf der Voraussetzung, dass Geschichte selbst von ihrem eingeschränkten Artikulationsvermögen her ein sich selbst fragmentierendes Konstrukt darstellt und dass ihre Heterogenität beziehungsweise Heterochronie insbesondere bei einer Auseinandersetzung mit stark universalisierenden Konzepten ihrer sakralpolitischen Auslegung zum Vorschein kommt. Es geht nicht darum, eine retroaktive ›Autopsie‹ des durch Autorschaft geprägten Kunstwerks als ein Modell von achronischen Zitationen vorzuschlagen. Denn mit solch einem riskanten Vorgehen mündet die intendierte Ent-Periodisierung einer Epoche in einen Entwurf der Hoheit ihres vermeintlich semantischen Bewusstseins, in eine neue, diesmal chronotaxonomisch stabilisierende Linearität. Um diese Gefahr zu vermeiden, wird hier also von Ungreifbarkeit und zugleich impliziter Wiederkehrbarkeit der sich fragmentarisch ereignenden Geschichte selbst ausgegangen. Diese Anerkennung von historischer Disjunktion, mit der alles, was unter die unscharfe Kategorie eines Ereignisses fällt, etwa im Benjamin’schen Sinne nur im ›Vorbeigehen‹ geschieht und nur durch ›blitzartige‹ Erinnerungsarbeit archiviert, verformt oder vergessen wird, 131 lässt einen die Geschichte der Bilder,

130 Nagel 2012, S. 35 – 43 (Kap. »Airplanes and altarpieces«). Ähnlich assoziativ und vereinfachend beschreibt Nagel z. B. unter der Prämisse der Genese von installation art das Problem der modernen anti-idolatry der 1960er Jahre im Kontext der frühneuzeitlichen Bildkritik im 16. Jahrhunderts (ebd., S. 84 – 96). 131 Zum blitzartigen Charakter der Erkenntnis im dialektischen Bild bei Benjamin v. a. Zumbusch 2018, S. 198 – 200, und Moses 1993, S. 398. Vgl. die Äußerung Didi-Hubermans zu Aby Warburgs erster ›Kunstwissenschaft‹: »Es war notwendig, den Bereich der Objekte, die den Kunsthistoriker interessieren können, in dem Maße zu öffnen, wie das Kunstwerk nicht mehr als ein in sich und seine Geschichte eingeschlossener Gegenstand betrachtet wurde, sondern als der dynamische Kreuzungspunkt – Walter Benjamin wird sagen: ›Blitz‹ – heterogener und überdeterminierter historischer Momente« (Didi-Huberman 2010, S. 56; vgl. ebd., S. 515 – 516). Dazu im Kontext von Foucault über

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die mit ihrer eigenen Ausdruckssouveränität und ihrem eigenen fragilen Sinn für Ganzheit das Sprechen über Geschichte selbst langzeitig präformieren, umso mehr in Hinsicht auf Techniken ihrer Bändigung, Entmündigung und Ausschließung zugunsten historischer Modelle der Macht und ihrer Gedächtnisregime untersuchen. Solch eine gezielte Erforschung der Bilder als in ihrer Zeit strukturell eingebettete, vielseitigen prä-formierenden Interferenzen ausgesetzte Komponenten eines Vereinheitlichungsdiskurses folgt also einerseits der Anerkennung von Zerfall und Schwund als Triebkräften ungreifbarer historischer Prozesse. Andererseits wird die Aufmerksamkeit direkt auf die Schnittmenge zwischen der anachronistischen Effizienz der Bilder und den überzeitlich anmutenden Projekten der herrschaftlichen Souveränität gelenkt, deren divinisierter Status mit bildbasierten Wunderkompetenzen fundiert wird. Die Anerkennung von einem sich in Bildern inhärent artikulierenden Anachronismus wirft also die Frage auf: Wie wird Homogenität hergestellt und inwieweit sind es gerade die vielfältig anachronistisch veranlagten Bilder als Medien der Zeit, die in diese historisch argumentierende Produktion von ›Wahrheiten‹ eingespannt werden? Der Nachdruck wird hier explizit auf die Gemachtheit und nicht auf die modellhafte kunsthistorische Wesenheit des Anachronismus gelegt. Unter der Annahme, dass die Frühmoderne die zu ihrer Zeit artikulierbaren Ansprüche auf eine Wahrhaftigkeit ihrer Aussagen erheben konnte – auch wenn diese der eigenen Zeit voraus zu sein versuchten –, wird gerade das bildliche Dispositiv einer sakralpolitischen Überbietung der Zeit selbst untersucht: ein in die Zeitlosigkeit führender Anachronismus, eine in Bildern postulierte Erfüllung der Geschichte in stabilisierender Vollendung der Macht. Wie definiert sich eine Epoche als vollbrachte Neuzeit durch den Bezug auf eine andere Epoche, als deren Fortsetzung sie sich versteht? Ist eine epochale Erfüllung von Anachronismus abhängig? In dieser Studie wird in Hinsicht auf diese Fragen die Sichtbarmachung des apriorischen Rahmens eines Anachronismus als akzeptierter Deutungsmodus frühneuzeitlicher Bilder untersucht: Wie entspringt eine taxonomische Suche nach Anachronismen, die den linäaren Einheitsrahmen sprengen, einer lang anhaltenden historischen Strategie der Beseitigung von Brüchen zugunsten einer subjektbildenden Kontinuitätsvision der Geschichte? 132 Es wird hier also gefragt, inwieweit die frühneuzeitliche Formung von Historizität in Bildern unter dem Vorzeichen der ›Wiederbelebung‹ des Mittelalters mitsamt seiner sakralpolitisch kultivierten Antagonismen als Begründung einer ›Neuzeit‹ erfolgte und wie dieses Verfahren eine Wahrnehmung von

eine »Geschichte der Blitze«: Sloterdijk 2009, S. 140 (vgl. Foucault 1988, S. 164, 179). Einen blitzbedingten Verschiebungseffekt skizziert ebenfalls George Kubler, indem er die Aktualität wie folgend beschreibt: »Actuality is when the lighthouse is dark between flashes: it is the instant between the ticks of the watch: it is a void interval slipping forever through time: the rupture between past and future: the gap at the poles of the revolving magnetic field, infinitesimally small but ultimately real. It is the interchronic pause when nothing is happening. It is the void between events«; Kubler 1962, S. 17. 132 Didi-Huberman macht in diesem Kontext auf die Gefahr aufmerksam, mit Foucaults Diskontinuitäten »das Gedächtnis aus dem Blick zu verlieren«; Didi-Huberman 2010, S. 194 – 195.

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Verspätung und Ubiquität der Disjunktion zu verhindern versuchte – bis hinein in den Bereich des kunstgeschichtlichen Urteilsvermögens. Diese Frage berührt schließlich das grundlegende Problem der Dynamik des Gedächtnisses: »Politik ist die Verwendung des Gedächtnisses, um ein Verlangen zu produzieren, um etwas für die Zukunft, etwas Mögliches in unseren Praktiken selbst hervorzubringen.« 133 Der bildhistorische Anachronismus zeigt sich von einer anderen, viel komplexeren Seite, wenn wir ihn nicht anhand der historischen Formenkataloge, sondern in Hinsicht darauf wahrnehmen, dass Bilder immer die zeitlichen Abfolgen der Ereignisse in Frage stellen, immer die Zeit selbst ins Visier nehmen. Es handelt sich dabei jedoch gerade nicht um eine absolute, zeitlose Existenz von anwendbaren Formen, sondern um eine permanente Unangepasstheit der Bilder an die Gegenwart. Georges Didi-Huberman, in dessen Schriften die Begriffe des »heuristischen Anachronismus« wie auch des »Nachlebens«, des »Überlebens« und der »Wiederkehr« der Bilder größtenteils im Kontext seiner Warburg-Forschung auftauchen, 134 versteht Bilder als Symptome, die den Betrachter wie ein Vehikel aus dem normalen Lauf der Dinge herausnehmen und in eine andere Zeit versetzen: »Whenever we are before the image, we are before time.« 135 Es handelt sich dabei jedoch nicht um eine Praxis der Rekonstruktion, mit der man vergangene Realitäten als Wahrheiten des Damals bildlich erfahren kann, sondern um eine den Bildern inhärente, alternative Zeitlichkeit des Diskurses, die dem schauenden Subjekt ermöglicht, sich selbst in seiner Eingebettetheit in der Zeit wahrzunehmen. Diese innerbildliche Zeitlichkeit arbeitet nie in der richtigen Erfahrungszeit. Nach Didi-Huberman, der sich dezidiert in einem anderen Gedankenkreis als Nagel und Wood bewegt, ist also den Bildern ein inhärenter Anachronismus zu eigen, der als eine Art reflexive Störung zwischen unterschiedlichen Zeitschienen zu verstehen ist. In diesem Dazwischen zeigt sich nicht die achronische Übertragbarkeit der Deutung, sondern – im Gegenteil – die Individualität jedes Anschauungsmomentes und jeder einzelnen, symptomatisch aufgeladenen Beschreibung: As for the temporal paradox, we will have recognized it as proper to anachronism: a symptom never arises at the right moment, it always appears contretemps, like a longfelt sense of disquiet that returns to disturb our present. And, there again, it does so according to a law that resists trivial observation, a subterranean law that composes multiple durations, heterogeneous times, and interlaced memories. Therefore, what symptom-time interrupts is nothing else but the course of chronological history. 136

133 Didi-Huberman 2017, S. 109 – 138, hier: S. 118. 134 Didi-Huberman 2010. Vgl. zusammenfassend Didi-Huberman 2002b, S. 177 – 187. 135 Didi-Huberman 2003b, S. 31 – 44 (hier: S. 31); Didi-Huberman 1995, u. a. S. 128 – 159. Vgl. u. a. den Kommentar in: Rampley 2008, S. 23 – 25. 136 Didi-Huberman 2003a, S. 128 – 143 (hier: S. 130). Vgl. Didi-Huberman 2003b, S. 31 – 44. Diesen Ansatz hat der Autor bekanntlich bereits in seinem früheren Buch zu Fra Angelico entwickelt: DidiHuberman 1995.

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Bilder zeigen sich in diesem Kontext als besondere Werkzeuge der Transportation, die im trügerischen Schein ihres ›dokumentarischen‹ Auftrags ›ihrer‹ Zeit durch jeden auf sie geworfenen, historisch konditionierten Blick vor allem eben diese Differenz zwischen Erfahrung und Erscheinung, zwischen Form und Symptom anachronistisch aufzeigen. Das Einzige, was sie im Endeffekt dokumentieren können, ist die dynamische Geschichte ihrer eigenen Artikulation und die des sich in ihnen manifestierenden wie auch durch sie mitgetragenen Diskurses. Ihr faktisches Herausragen aus ihrer eigenen Zeit gleicht allerdings nicht einer semantischbegriff lichen Entzeitlichung als Gegensatz zur linearen Einbettung in den Zeitgeist, sondern drückt sich in der Spezifizität ihrer souveränen Erzählzeit aus, 137 in der die Vergangenheit immer wieder neu mit heterochronischen Differenzen aufgeladen werden kann. Die Bilder sind es also, die es möglich machen, sich den Gespenstern zu stellen und Zeitlichkeit als »out of joint« wahrzunehmen. Bilder sind gerade aufgrund ihrer zeitlichen Souveränität sowohl verspätet als auch originär – sie berufen sich auf Ursprungsereignisse, denen sie wiederum selbst eine bildhafte Qualität verleihen und die sie als Ereignisse historiografisch herstellen, um sie in die Vergangenheit zu projizieren und weiterzutransportieren. Gerade daraus entsteht ein dynamisches Feld von reziproken Kohärenzen zwischen Geschichte und ihren Spuren, in dem sich Bilder in souveräne retroaktive Sprecher verwandeln und schließlich Geschichte mit sichtbargewordenen ›Wendepunkten‹ ihres eigenen Ablaufs ausstatten. 138 Es wird vor diesem Hintergrund klar, inwieweit bei Nagel und Wood das etablierte Netzwerk der bildlichen Verweise, Begriffe und Metaphern der Renaissance als das neue geschlossene explanans in den Vordergrund gerückt wird. In der Verteidigung ihrer kleinen Studie zu Carpaccios Hl. Augustinus, welche die Anachronic Renaissance ankündigte, deuten Nagel und Wood einen apriorisch festgelegten Modernitätsstatus des Deutungsnetzwerks im kunsthistorischen Urteilsvermögen an: »The continuity between Carpaccio’s painting and the model we have proposed is already implicit in the art system of our own time. The art system today theorizes itself as postautonomous, in the sense that art is located no longer in a discrete object but rather in a network of display, commentary, mediation, and theorization.

137 Ricœur 1988 – 1991, III.3.1., S. 225 – 233 (als Kommentar zu Collingwoods The Idea of History). 138 Vgl. das in der Kunstgeschichte bisher kaum wahrgenommene Konzept Hans Blumenbergs, in dem die Interpolation von Prägnanz bildenden Wendepunkten durch Davor und Danach einer historischen Begriffsverschiebung eine Epoche markiert und die Epochenschwelle somit selbst unsichtbar macht: Blumenberg 1988, S. 531 – 557, hier erklärt mittels einer Sternenanalogie auf S. 533: »Für die astronomische Fachsprache war es der ausgezeichnete Beobachtungspunkt eines Gestirns, sein Durchgang durch den Zenit, seine größte Nähe oder Ferne zu einem anderen Stern; astrologisch eine Position oder Konstellation von überlieferter Bedeutung. Die Distanzen zu definierbaren Punkten ließen sich der Zeitbestimmung dienstbar machen; aber eben nicht diese Zeiträume, sondern ihre Ausgangspunkte waren im strikten Sinne ›Epochen‹ zu nennen. Sie bleiben es in der Anwendung auf die historische Chronologie, die ein Schema diskreter Ereignispunkte voraussetzt, um die zwischen ihnen liegenden Zuständlichkeiten als ›Niederungen‹ der Ereignislosigkeit zu vernachlässigen.«; vgl. Kap. 1, Anm. 39 – 43. Zur Kritik von Blumenbergs Interpolationsidee in Hinsicht auf Diachronizität historischer Begriffsbildung an jedem der Wendepunkte: Zill 2017, S. 20 – 30, v. a. S. 26 – 27.

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This is the place where our paper is written from, and from such a vantage point it starts to look as if historical art was always already dispersed in networks.« 139 Das anachronische Netzwerk wird als medialisierende Folie zu einer neuen historischen Positivität erhoben, die ein Antidoton gegen evolutionäre Schemen der Kunstentwicklung liefern soll. Es ist in diesem Kontext auch nicht zufällig, dass Erwin Panofskys ikonologische Methode, die hier den Hintergrund der kunsthistorisch entworfenen Anachronie sichert, gerade wegen der von ihr angenommenen kontextuellen Konstanten von Georges Didi-Huberman kritisiert wurde. 140 Die mit ihr einhergehende Betrachtung des Anachronismus als einer Abweichung, die es erlaubt, die Linearität der Geschichte zu denunzieren, verleitet zu einem monumentalen Anspruch auf die Positivität der Ewigkeit und zu einer mit dieser einhergehenden Universalität der Deutung. Somit lässt sie nicht anerkennen, inwieweit das Vergessen – eine den Bildern ebenfalls inhärente Prozedur der Überschreibung, Fragmentierung und Neugestaltung – eine durchaus autonome, zusätzliche anachronistische plastische Kraft bildet, die es ermöglicht, »Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzuformen.« 141 Statt die transzendental in die Kunstgeschichte eingeschriebenen epochalen Zuschreibungen mittels neuer, den Anachronismus beseitigender und die Kunst dafür entzeitlichender Netzwerk-Koordinaten zu konterkarieren, lohnt es sich, von der Benjamin’schen Ungreifbarkeit der Geschichte ausgehend, zu fragen, mit welchen Mitteln die historische Gesamtheit – trotz sich in Bildern manifestierenden zeitlichen Sprüngen, Spaltungen und Fragmentierungen – konstruiert wird, oder: wie Bilder gerade wegen ihrer die Zeit ›störenden‹ Fähigkeiten diesbezüglich instrumentalisiert werden. In Bezug auf die gedankliche Gemeinschaft zwischen Nietzsche, Benjamin und Foucault beschreibt Didi-Huberman in diesem Kontext die Rolle der Bilder gewissermaßen als Weichen der Zeit, die jedes Mal die Richtung der Geschichte ändern und somit einen den Bildern immanenten Anachronismus aufweisen: Wenn man mit Bildern arbeitet, dann interessiert man sich natürlich für die Phänomene des Erscheinens, für das, was erscheint, was entsteht und auf einmal existiert. Und bei diesem Erscheinen, bei diesem Auftauchen ist man ständig mit dem konfrontiert, was man als Heterochronien oder Anachronien bezeichnen könnte, nämlich die Tatsache, dass bei jeder Entstehung, bei jedem Wirbel in einem Fluss, Kiesel, die vom

139 Nagel / Wood 2005b, S. 432. 140 Didi-Huberman 2010, S. 108 – 115; Didi-Huberman 2003b, S. 35 – 36; Didi-Huberman 2000, S. 49. Siehe auch Moxey 2013, S. 28 – 31, 32 (»The power of the work of art to inaugurate a time of its own reveals the necessarily mythic nature of the temporal system that claims to contain it«); vgl. ebd., S. 163. Siehe auch Panofsky 1974, S. 77 – 83. 141 Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, hrsg. von Karl Schlechta, Darmstadt 1966, Bd. I, S. 213. Ricœur spricht in diesem Kontext im allerletzten Absatz seines Temps et récit über ein »bilderstürmerisches Verhalten gegenüber der Historie«; siehe: Ricœur 1988 – 1991, III.7.3., S. 388.

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Gebirge angeschwemmt werden, beteiligt sind, dass der Boden einen gewissen Zustand aufweist und dann ändert die Konfiguration des Flusses in diesem Augenblick auf einmal die Richtung der Strömung. Bei der Entstehung ein- und desselben Ereignisses existieren somit verschiedene Zeitläufe zum gleichen Punkt und am gleichen Ort, wodurch der Raum heterotopisch wird. 142 Während also für Didi-Huberman dem Bild eine Verspätung und Spaltung des historischen Raumes als souveräne Qualität eigen ist, geht es Nagel und Wood um eine Achronizität, die es erlaubt, das Bild als ein anatomisches Modell zu ›sezieren‹ oder – da wir mit Artefakten aus der Vergangenheit zu tun haben – eine ›Autopsie‹ durchzuführen. 143 Es ist eine die Unebenheiten vereinheitlichende Prozedur der Zerlegung, die es ermöglicht, das Bild in eine Metapher seines Selbst zu verwandeln. Wie die beiden Autoren in ihrer Erwiderung auf die Kritik an ihrem Modell schreiben: »This model is capable of tracking the artwork as it distances itself from competing myths of origins and reinvents itself as the projection of a hypothetical world within which metaphors of time can be staged and compared.« 144 Die somit gewonnenen Teile entsprechen vielen Realitäten oder Zeitlichkeiten, die als fragmentarische ›Zeugen‹ ihrer eigenen Begriffsgeschichte einen abbildenden Charakter erhalten und durch die Hand des Künstlers zu einem neuen Kompositum gemacht werden. Der Unterschied zwischen dem Anachronismus und der auf diese Art und Weise gezeichneten Anachronie entspricht dem Unterschied zwischen der Dialektik des Zeigens und der Semantik des Abbildens. Obwohl Nagel und Wood sich am Anfang ihrer Studie kurz auf Aby Warburg und Georges Didi-Huberman berufen, erfolgt also ihre Unternehmung, die sich grundsätzlich gegen evolutionäre Auffassungen der Kunstgeschichte wendet, von einem geradezu konträren Standpunkt aus. 145 Das Konzept der Anachronic Renaissance, wenn auch mit zweifellos beeindruckender Erudition der Autoren untermauert, die in ihrem Buch brillante Analysen einzelner mit ihrer Hybridiät verblüffenden Werke präsentiert haben, bleibt im Primat des Abbildens als Hauptbezug eines ›lesbaren‹ Bildes gefangen. Das Bild, konstruiert somit aus ›achronischen‹ Versatzstücken, avanciert zur Summe der verweisenden Rekonstruktionen, die einen Gegenpol zu Didi-Hubermans Valenz der Erscheinung bildet. 146 Wenn sich Nagel und Wood in ihren Ausführungen zur Anachronie als einem Spezifikum der Renaissance also auf Warburg berufen, scheint es, als ob dieser in seiner Rezeption von seinen zwei 142 143 144 145

Didi-Huberman 2017, S. 109 – 138, hier: S. 117 – 118. Nagel / Wood 2010, S. 44 (»[. . . ] the painting becomes something like an anatomical model [. . . ]«). Nagel / Wood 2005b, S. 430. »Our own project responds to Warburg’s provocation, amplified in Didi-Huberman’s exegesis, by attempting to draw a nonevolutionary metaphorics of time from the historical works themselves, a temporality in structural misalignment with, and therefore systematically misrecognized by, art historical scholarship« (ebd., S. 34). Bis auf diese einführende Ansage bleiben Warburg und DidiHuberman in diesem Buch allerdings beinahe unerwähnt. Vgl. die auf eine diesbezügliche apriorische Vereinfachung hinweisende Kritik von Nagels und Woods Buch: Wolf 2012, S. 138. 146 Siehe Didi-Huberman 2003b, S. 41.

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berühmtesten Schülern gelesen worden wäre – von Cassirer im Sinne der Kontinuität und von Panofsky im Sinne der Erfüllung. 147 Die derart unternommene kunsthistorische ›Entzeitlichung‹ der Kunst scheint eine in der europäischen Historiografie längst eingebettete Abwehrreaktion zu sein auf das, was das Hauptproblem jeder historischen Wissenschaft darstellt: Was tun angesichts dessen, was Paul Ricœur zu Foucaults Rhetorik der Diskontinuitäten beschreibt: »It is not only that the debris of the past is scattered; so is the testimony to that past. Moreover, the field of documentation itself adds its own effects of ›selective destruction‹ to the other ways by which supposed historical ›evidence‹ is distorted through the loss of information«. 148 Was tun also angesichts des Anachronismus: Sollen wir die Lücken mit statischen Netzwerken füllen, um der verfließenden Zeit eine ›Wahrheit‹ der Vermittlung entgegenzustellen? Oder sollen wir, aus jeder singulären Lücke herausblickend, Geschichte als Raum für singuläre Artikulationen der dynamischen Verzweigungen ansehen und diese Lücke in ihrer Verbindung zu anderen Lücken wahrnehmen, im Bewußtsein einer Disjunktion als des einzigen Ereignisses, das sich in der Geschichte ausmachen lässt? Sollen wir historische Brücken über diese Brüche hinnehmen oder eher an ihren Rändern verbleiben und das historiografische Bauwerk von Kontinuität und Medialität doch direkt vom Ruinösen aus akribisch beschreiben? Solange die Kunstgeschichte, deren Objekte sowohl als materielle Dinge als auch als bildlich konstruierte Ereignisse anzusehen sind, in einer bejahenden Suche nach Deutung der Form und unter Verwendung überzeitlicher Erfüllungstopoi auf eine essenziell rekonstruierende Erzählung setzt, wird sie zur Verlängerung der universalisierenden Norm, die sie selbst beschreibt – insbesondere wenn sie behauptet, die Werke mit der Macht der schöpferischen Geste aus der Zeit ›herauszunehmen‹. 149

147 Siehe u. a. Nagel / Wood 2010, S. 358. Vgl. die kritischen Anmerkungen zu Warburgs Rezeption: Didi-Huberman 2010, hier: u. a. S. 112 – 113. Interessanterweise beseitigen Nagel und Wood in ihrer Festlegung des Anachronismus-Problems in der Frühen Neuzeit im Sinne einer in die Autorschaft eingebetteten Netzwerkstrategie zugleich die langen Einwirkungen der Idolatrievorwürfe und schreiben diese lediglich der der Souveränität der Kunst entfremdeten Theologie zu: Nagel / Wood 2005b, S. 430: »[. . . ] to frame the problem of artistic authorship in theological terms, in effect recapitulating the medieval debates about the legitimacy of the Christian image, was to miss the point of modern, fictional art. The artwork by 1560, certainly by 1600, was already several cycles beyond the idolatry problem. [. . . ] The religious image of 1600 appeared to repeat the dilemma of the primordial Christian cult image, but it was repetition with a difference.« 148 Ricœur 1994, S. 7 – 24, hier: S. 19 – 20. 149 Siehe Farago 2011, S. 104: »In keeping with entrenched routines, despite extensive critical interest in the institutional history of art history for the past three decades, the profession of art history routinely treats theories of images as if the historical discussion of art somehow did not belong to the same sphere as the objects themselves.« Vgl. Holly 1996, S. 79 – 80. Siehe auch Foucaults Bemerkung zum Problem der Neuzeit-Forschung: ». . . the problem is to free oneself from it, one has to dig out a whole mass of discourse that has accumulated under one’s feet. One may uncover with gentle movements the latent configurations of earlier periods; but when it is a matter of determining the system of discourse on which we are still living, when we have to question the words that are still echoing in our ears,

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Nun zeigt sich durch diese Kluft zwischen diversen beziehungsweise sich konträr zueinander verhaltenden Bedeutungen des Anachronismus, wie wichtig eine kritische kunsthistorische Relativierung der Norm ist. Es ist im Kontext einer Problematisierung der Darstellung des Mittelalters in der Frühen Neuzeit auffallend, dass mit dem Gebot der typologischmetaphorischen Auslegung der Bildlichkeit anhand eines statischen Deutungssystems der ideale Betrachter mittels ›anachronischer‹ Bezüge in eine zeitlose tabula rasa für die Einschreibung historischer Projektionen verwandelt und somit statisch ›enthistorisiert‹ wird. Ebenso wird auch der Künstler zur Annahme der Rolle eines vermittelnden Diskursträgers gezwungen. Bilder werden so zu Objekten einer chronotopischen Disziplinierung, die es erlaubt, ihre eigene zwischenzeitliche Souveränität in das Triebwerk der Erfüllungsdiskurse einzuspannen. Die den Bildern innewohnende zeitliche Differenz wird somit im Sinne der semantischen Aneignung verarbeitet. Für das Verständnis solch einer Autarkie von historischen Geschichtsauslegungen erweist sich also nicht nur eine Analyse von institutionellen oder ideologischen Verquickungen, sondern gerade eine übergreifend kritische Beschreibung der diskursiven Normierung der autonomen Zeitlichkeit der Bilder in der Frühen Neuzeit – ihrer sakralpolitisch konstruierten Supratemporalität – als besonders wichtig bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage, warum Aktualität stets nach Bildern gestaltet und gedeutet wird und warum gerade Bilder diversen politischen ›Rekonstruktionen‹ und ›Reparationen‹ zum Opfer fallen. 150 Bezeichnend für die frühmodernen Zeitkonzepte ist demnach die Differenz zwischen der einer zukünftigen, erfüllenden Schließung der Zeit unterordneten Retrospektive und der offenen, nach vorne ausgerichteten Perspektive des fortlaufenden Strömens. Francis Bacon, der sich im 17. Jahrhundert in seiner Suche nach den Modalitäten des Fortschritts dem aristotelischen Erbe der Renaissance zu entziehen und die Empirie der Beobachtung mit dem synthetischen Plan, der Natur die ›Wahrheit‹ zu entreißen, zu verbinden versuchte, fasste die Zeit als Verlauf der Erfahrung der Dinge zusammen. Am Anfang des Jahrhunderts waren mit einigen seiner Publikationen – vor allem mit der 1620 herausgegebenen Instauratio magna, einem mit Aphorismen geschmückten und damit gegen naturwissenschaftliche und historische Naivitäten gerichteten Werk über die Vorteile des vernunftbasierten Fortschritts 151 – die letzten scholastischen Hürden überwunden worden, und die Geografie hatte sich im Zeitalter der ›Entdeckungen‹ und Eroberungen ›neuer Welten‹ mit der Geschichte verbunden, um nach neuen, fortschrittlichen Entwürfen von Zeitlichkeit zu suchen. Bereits in seiner früheren Schrift The advancement of learning von 1605 argumentiert Bacon, dass which become confused with those we are trying to formulate, the archaeologist, like the Nietzschean philosopher, is forced to take a hammer to it« (Sheridan 1980, S. 196). Siehe auch Kap. 1, Anm. 18. 150 Didi-Huberman signalisiert kritisch eine euchronistic consonance als kanonisches Verfahren der Kunstgeschichte (Didi-Huberman 2003b, S. 35). 151 Bacon 1620. Vgl. zum Frontispiz u. a.: Höffe 2012, S. 336 – 339; Assmann 2011, S. 212 – 219; zu bildlichen Zügen der metaphorischen Grenzenlosigkeit in diesem Werk: Konersmann 1994, S. 21 – 27. Dazu auch Blumenberg 1998, S. 35 ff.

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»time seemeth to be of the nature of a river or stream, which carrieth down to us that which is light and blown up, and sinketh and drowneth that which is weighty and solid.« 152 Das andauernde Auftauchen, Herausragen, Sich-zur-Schau-Stellen, Sich-Durchschlagen ist dabei die sichtbare Dimension der geschichtlichen Dynamik: Die »Antiquities, or remnants of history« sind in seiner Auffassung Dinge, die dem Schiffbruch der Zeit entfliehen. 153 Diese Metapher des andauernden Strömens, die es ihm in seiner Thesenentfaltung zum Beispiel erlaubt, die historische Stellung Alexanders des Großen mit der des Columbus überhistorisch zu vergleichen, ist nicht nur als eine Konzession an die gängige Poetik der fließenden Zeit zu bewerten. Sie lässt sich darüber hinaus produktiv im Sinne einer kritischen Klarstellung dazu interpretieren, was der Mensch auf seinem Weg der Progression unter dem Begriff der antiquitas überhaupt verstehen kann: »ANTIQUITAS SAECULI JUVENTUS MUNDI. These times are the ancient times, when the world is ancient, and not those which we account ancient ordine retrogrado, by a computation backward from ourselves.« 154 Während also für Bacon dieses Bild des Herausragens aus dem laufenden Strom eine dynamische Leitfigur des empirisch bedingten Fortschritts und der Verjüngung der Menschheit war – die Antiquiertheit der Welt, die dem Menschen eine Selbst-Perfektionierung ermöglicht –, etablierte sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, nach der Kant’schen Auffassung des Zeitfließens als einer Bedingung der menschlichen Erkenntnis, 155 ein differenzierteres Verständnis des Zeitströmens, vorwärts wie rückwärts. Damit zeigte sich eine Möglichkeit, ein Modell der Wahrnehmung von historischen Spuren als komplexe Palimpseste begriff lich aufzubauen, die mehrschichtige Sedimentationsprozesse der Erinnerung aufweisen. Dadurch wird im historischen Denken auch die Vergangenheit durch Gedächtnisarbeit veränderbar, der Strom wird zu einem wandernden Vortex, der sich stets neu bildet und auf löst. Reinhart Koselleck skizziert diesbezüglich die Grundlagen seiner Historik, die sich als Gegenentwurf zur kausalen Geschichtsschreibung über zyklisch aufzufassenden Strukturen und Entitäten, als Beschäftigung mit aus dem offenen Strom der Zeit herausragenden ›Trümmern‹ sieht. Er verbindet dieses Szenario immer autonomer werdender Ruinen des Vergangenen mit dem aufklärerischen Aufbruch in eine neue Wahrnehmung der Historizität: »Die Geschichte wird verzeitlicht in dem Sinne, dass sie sich kraft der ablaufenden Zeit jeweils heute und mit wachsender Distanz auch in der Vergangenheit ändert oder besser gesagt:

152 Bacon 1605, S. 11. 153 Ebd., S. 25. Vgl. Blumenberg 2012, u. a. S. 169 – 173. Zur Metaphorik des Strömens siehe auch Demandt 1978, S. 166 – 187. Zur historischen Kritik dieser Vorstellung vgl. Pomian 1984, S. 92 – 99. Interessanterweise bezeichnet der altrömische Humanist Libanios, Oratio, XXX, 23 die Menschen, die durch die nach 313 stattfindenden christlichen Zerstörungsaktionen ihrer Kultstätten beraubt wurden, als Schiffbrüchige und markiert damit das langsam fortschreitende Ende einer Epoche. Zur Relevanz der künstlerischen Metapherbildung in der Konstruktion eines Neuanfangs siehe: Pfisterer 2011a, S. 47 – 65. 154 Bacon 1605, S. 211, Kap. V, 1. Zum Zeitverständnis Bacons siehe auch Demandt 2013, S. 133 – 135. 155 Siehe Pomian 1984, S. 283 – 291.

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in ihrer jeweiligen Wahrheit enthüllt.« 156 Diese heterogene Auffassung von Zeitlichkeit, die Singularitäten zum Vorschein bringt und Zeit als äußere Form und zugleich immanente Kraft der Geschichte im Sinne einer progressiven Arena des menschlichen Handelns versteht – der vernunftorientierten progressio anstelle des theologischen profectus –, 157 brach sich nach Koselleck und seinem Konzept der Verzeitlichung als Differenz zwischen Erfahrung und Erwartung erst im Laufe des 18. Jahrhunderts Bahn: »Die Erwartungen werden nicht mehr zur Gänze aus der bisherigen Erfahrung abgeleitet. Erfahrung – der Vergangenheit – und Erwartung – für die Zukunft – treten auseinander.« 158 Damit sind eine Aufarbeitung der Geschichte jenseits des religiös verwurzelten Vervollkommnungsschemas und eine Etablierung der geschichtswissenschaftlichen Begriff lichkeiten möglich geworden – ein Verständnis für die »Ungleichzeitigkeit verschiedener, aber im chronologischen Sinne gleichzeitiger Geschichten« 159 und des damit einhergehenden zeitlichen Pluralismus der Weltgeschichte wurde ins Zentrum des historischen Diskurses gerückt. 160 Eine kunst- beziehungsweise objekthistorische Anerkennung der Differenz zwischen den unterschiedlichen Arten des gleichzeitigen Andauerns wurde schließlich, ein halbes Jahrhundert nach Aby Warburgs erster Demonstration der sich im Bilddenken ausdrückenden zwischenkulturellen Heterochronie in seinem grundlegenden Aufsatz zu den astrologischen Fresken im Palazzo Schifanoia in Ferrara 1912, explizit in George Kublers Buch The Shape of Time. Remarks on the History of Things angesprochen – mithilfe der gedanklichen Figur der parallel verlaufenden Fasern der Zeit: We can imagine the flow of time as assuming the shapes of fibrous bundles, with each fiber corresponding to a need upon a particular theater of action, and the lengths of the fibers varying as to the duration of each need and the solution to its problems. The cultural bundles therefore consist of variegated fibrous lengths of happening, mostly long, and many brief. They are juxtaposed largely by chance, and rarely by conscious or rigorous planning. 161 Dieses Pluralitätskonzept, in dem sich einerseits ein deutlicher Nachhall der Zeitauffassung von Kublers Mentor Henri Focillon erkennen lässt, die durch die umfassenden Gedanken Henri Bergsons zur Komplexität des multiplen Dauerns und des Gedächtnisses geprägt

156 Koselleck 1987, S. 279. Mehr zu den aus dieser Schwelle hervorgehenden »Kürzungen der Zeit« und »Zeiten der Geschichtsschreibung«: Koselleck 2000, u. a. 225 – 239 (»Wie neu ist die Neuzeit?«). Vgl. Muhlack 1991. Zur Verzeitlichung und deren Rezeption vgl. zusammenfassend Jung 2010/11, S. 172 – 184. Siehe auch Rancière 2015, S. 38. 157 Koselleck 2006, S. 77 – 85, hier v. a. S. 77. 158 Ebd., S. 81. 159 Koselleck 1987, S. 279. 160 Zur Kritik von Kosellecks Fortschrittsbegriff: Rohbeck 2019, S. 86 – 92. 161 Kubler 1962, S. 122. Vgl. das Konzept der Heterochronie von Moxey 2013, S. 11 – 22 wie auch eine Unterscheidung zwischen Heterochronie und Anachronie, u. a. in Bezug auf Kubler: Moxey 2018, S. 26 – 42 (v. a. S. 27, 36).

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worden war, und andererseits Kublers Erfahrung mit mesoamerikanischen Kulturen einer »tiefen Zeit« widerspiegelt, veranlasst zu einer Frage nach der Kontingenz als einer faktischen inneren Kraft der Geschichte, die zudem nur aus multiplen Perspektiven der historischen Wahrheitsansprüche beurteilt werden kann. 162 Es verdeutlicht zugleich umso mehr die Tatsache, dass Bilder, obwohl sie Geschichte mittels dargestellter Denkfiguren – auch denen der Umbrüche – auf diversen Wegen gezielt zu transportieren vermögen, sich selbst zugleich der scharfen Einordnung in die Gliederung historischer Epochenschwellen entziehen, da ihre immanente, multitemporale »Konfrontationsenergie« über ihre Resistenz als durch die Zeit sich bloß durchschlagende Speicher des Vergangenen hinausgeht. In diesem hier nur kurz skizzierten Wandel zur Pluralisierung der Zeit als Anzeichen der Moderne, mit dem die in den Geschichtswissenschaften mehrmals diskutierte Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen wahrgenommen werden konnte, lässt sich allerdings keine direkte Zäsur, keine explosive Ereignisschwelle im historischen Verständnis der Geschichte sehen (für Koselleck ereignet er sich bekanntlich in der »Sattelzeit« von ca. 1750–1850). Mit diesem Wandel kam jedenfalls die Erarbeitung einer eigenen Historizität allmählich zusammen, die keine Prophezeiungen mehr anhand der Vergangenheit ermöglicht, sondern stattdessen den inneren Trieb des menschlichen Fortschritts ins Zentrum der Geschichte rückt und dementsprechend auch die Aussagen der Historiker als geschichtsimmanent relativiert. 163 Bis zu dieser aufklärerisch initiierten Anerkennung der Tatsache, dass die Zeit mit verschiedenen Geschwindigkeiten fließen kann und dass die Vergangenheit durch die symptomatische Lektüre ihrer Spuren in der offen strömenden Gegenwart als Erinnerung veränderbar ist, beruhte das Schreiben der Geschichte auf sakralpolitischen Normierungen der Kausalität, die dem soteriologischen Prinzip der abschließenden Erfüllung untergeordnet war. Diese etwas zu kategorisch anmutende Feststellung dient hier keiner dogmatisierenden Unterscheidung zwischen der teleologischen Setzung der göttlich vorgeformten Geschichte und dem kritisch-revolutionären Bewußtsein für die historische Immanenz des Säkularisationszeitalters. Sie weist stattdessen auf das Bedürfnis einer Sensibilisierung für die anachronistische Intensität des sakralpolitischen Willens der Kontinuität in der katholischen Frühen Neuzeit auf, mit der der Zeit eine zugleich genealogische und prophetische Qualität zugeschrieben wurde. Interessant ist in diesem Kontext überdies die Frage nach den diskursiven Vorkonditionierungen der historischen Kategorien von Fortschrittlichkeit

162 Vgl. u. a. Miller 2009, S. 71 – 77. Vgl. Koselleck 2000, S. 291 – 293 (über eine gemeinsame Chronologie des heutigen globalen Zeitalters, in dem kosmische Raketenflüge mit ›primitiven‹ Kulturen zeitlich koexistieren – eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen –, als eine historiografische Herausforderung, die Beschleunigung und Verlangsamung als ihre Grundkriterien wahrnehmen muß). Siehe auch den Kommentar zu Kublers Zeitentwurf im Kontext der historischen Spurensicherung durch das Sammeln der Reste: Assmann 1999a, S. 317, wie auch einige Beiträge in Maupeu / Schankweiler / Stallschus 2014. 163 Vgl. Oexle 2012; Moxey 2013, S. 40 – 41.

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in der Zeit vor der Aufklärung. 164 Denn eine scharfe Unterscheidung zwischen Stagnation der Geschichtszyklen bis 1750 und dem a priori des Fortschritts in dem danach beginnenden industriellen Zeitalter widerspräche selbst der historisch-kritischen Annahme der Heterochronie und wäre darüber hinaus mit dem berühmten zeitgenössischen Diktum Kants, dass jede Aufklärung, auch wenn sie einen Austritt aus der Unmündigkeit bewirkt, schließlich sich selbst immer als Aufklärung versteht und somit eine eigene ›Wahrheit‹ produziert, 165 leicht zu demontieren. Zu solch einer Entkategorisierung des Übergangs von der Kausalität der Geschehens zur geschichtlichen Immanenz veranlasst nicht zuletzt Hans Blumenbergs monumentale Kritik am Konzept der Verweltlichung der eschatologischen Zeitlichkeit als aufklärerisches Kriterium der Säkularisation der Geschichte. Der Philosoph argumentiert in seiner Auseinandersetzung mit theologischen Theoremen, dass im Christentum selbst, dank der durch die innerweltlich eingeführte Inkarnation in Gang gesetzten Naherwartung der heilsgeschichtlichen Erfüllung und endzeitlichen Weltzerstörung, das Element der Verweltlichung der Zeit implizit vorhanden war, sodass »man in die Zukunft projizierte, was den Verheißungen nach schon geschehen sein sollte.« 166 Blumenberg schlägt dementsprechend vor, die »Aufmerksamkeit auf genuin theologische Motive der Vernunftemanzipation« zu richten, anstatt zwischen Religion und Säkularisation auf einer chronologischen Basis zu unterscheiden. 167 Dieser philosophischen Aufmerksamkeit entspringt gerade im Kontext visueller Zäsurmarkierungen der im vorliegenden Buch gesetzte Fokus auf die frühmoderne Produktion der Abwesenheit der Idole. Die Kultivierung des Topos ihrer Zerstörung weist kategorisch auf die Beschleunigung des Fortschritts als programmatische Abhebung vom Vergangenen hin und erklärt den Sinn des innerweltlichen Anfangs der Heilsmission, um den Fragen nach deren Erfüllung im Voraus nachzukommen: »Das frühe Christentum kam in die angesichts seiner Gründungsurkunden schwierige Lage, einer ungläubigen Umwelt die Zuverlässigkeit seines Gottes nicht an der Erfüllung seiner Verheißungen, sondern an der Verzögerung dieser Erfüllung demonstrieren zu müssen«. 168 Der in

164 In diesem Sinne geht es um eine Untersuchung der retroaktiven Nachhaltigkeit von genealogischen Determinanten sowohl von der Perspektivierung der Ursprünge als auch von ihrer Aufhebung: auch ein »anti-genealogischer« Ausbruch der aufklärerischen Moderne aus der Belastung der religiösen Erbschaft der Sünde erweist sich dabei ebenfalls als bestimmt durch den Rahmendiskurs der Ursprünglichkeit; vgl. Sloterdijk 2014, S. 9 – 29. 165 Immanuel Kant, Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in: Berlinische Monatsschrift, 1784, H. 12, S. 481 – 494. Vgl. Blumenberg 1986, S. 218: »Aufklärung kommt immer zu spät, könnte ein Satz der Aufklärung selbst sein; auch wenn diese damit das Selbstbewußtsein verband, ihre Leistung so steigern zu können, daß die Verspätung aufgeholt wurde.« 166 Blumenberg 1988, S. 53 (daher Blumenbergs Postulat der Verweltlichung durch Eschatologie statt der Eschatologie). 167 Ebd., S. 71. Damit spielt Blumenbergs Hauptbegriff der Legitimität der Neuzeit als Zeit der menschlichen Selbstbehauptung jenseits des theologischen Anspruchs auf das Absolute und zugleich jenseits der historischen ›Schuld‹ an Säkularisierung und ›Verweltlichung‹ des Religiösen zusammen, siehe ebd., u. a. S. 11 – 19. 168 Ebd., S. 54.

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der frühmodernen Idolenfrage implizit vorhandene Anachronismus realisiert sich hier, indem die fremden Bilder alter Zeiten und ferner Länder immer wieder mittels historischer Zäsuren in eine Opferrolle versetzt werden: als ein zerbrechender Grund für den modernen Sprung der christlichen Neuzeit in Richtung der kommenden Heilserfüllung, des bereits vorskizzierten Fortschritts, als ein statischer Gegenpol der zunehmenden Beschleunigung.

Rebellen in Ruinen: Eine gemalte Heterochronie Die Disjunktion der Zeit, über die hier gesprochen wird, hat insofern einen beinahe tektonischen Charakter: Was sie bewirkt, ist das Aufeinanderstoßen und gegenseitiges Überlagern von großen und kleinen Schichten, Platten und Bruchteilen. Aus derartiger Kluft zwischen der Zeit der Geschichte als Form und der Zeit der Mechanik als Veränderung – so die Unterscheidung von Walter Benjamin in seinen Untersuchungen zum Aufbau der Tragödie – 169 geht beispielsweise die Poetik der Ruine hervor, die als ein archäologischer Indikator der lediglich fragmentarisch zugänglichen historischen Bedeutungen betrachten lässt, die in einer heterogenen Dimension des Verfalls miteinander konvergieren. Sie können nachträglich allegorisch aus der Ruine herausgelesen werden, indem diese zu einem Bild erklärt wird. 170 Die überdauernden Formen als Zeugen jedes einzelnen Moments der Metamorphose der Dinge zeichnen sich allerdings durch ihre eigene zeitliche Unschärfe aus und verleihen nur täuschend den Eindruck, dass die Zeit, die sonst vergeht, in ihnen stehengeblieben wäre und somit taxonomisch zuzuordnen sei. Die Zeit wird also selbst zu einer werdenden Ruine, indem sie nicht in einem einheitlichen Strom, sondern eher wie in einem ganzen Stromgebiet, in verschiedenen Parallelströmen von verschiedener Geschwindigkeit fließt, 171 um sich in jedem noch so kleinen trockenen Flussbett in ineffiziente Erinnerung zu verwandeln – eben in Benjamins Fragmente, Fetzen und Lumpen, die das heterogene, fragmentarische Gesicht des unerreichbaren Vergangenen bilden, so wie es sich dann in einer gegenwärtigen Lektüre offenbart. Im Abfall, im Rest, auch in den Ruinen des Kanons, sieht man doch direkt die Zeit als ein valorisierendes Kriterium – im Abfall spiegelt sich daher jede Neuzeit und vor allem die, welche die Dynamik von fremdem Fall und eigenem Aufstieg zum ontologischen Axiom erhebt. Direkt im Ruinösen verbleiben historische Gespenster. Diese der Ruine innewohnende produktive Negativität zeigt sich in der Erkenntnis, dass die Vergangenheit immer

169 Benjamin 1989b, S. 134. Vgl. Tiedemann 1973, S. 91 – 92. Darüber hinaus zum Thema der Zeitangemessenheit zwischen Ding und Ereignis: Ariès 1988, S. 205. 170 Vgl. Emden 2002, S. 61 – 87. 171 »Zeit fließt nicht nur, sie verfließt auch. Insofern ist sie kein Strom, der mächtig aus der Zukunft kommt und durch die Strommenge der Gegenwart hindurch in die Vergangenheit strömt«; Blumenberg 2012, S. 180.

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nur als tektonische Sinnverschiebung einer Müllhalde, als anachronistischer Riss in der hingenommenen autochthonen Geschlossenheit der Zeit, als eine von Metamorphose und Absenz geprägte Spaltung auf sich aufmerksam macht. Ein Riss, dessen Verlauf sich, wie in diesem Text Durs Grünbeins, aller modernisierenden Kontrollversuche entzieht: [. . . ] das Gesetz der Formerhaltung, das lange einen vulkanischen Untergrund hatte, wandelt sich in der Moderne unterm Druck der in Schüben ausgestoßenen Waren. Etwas wird dem Strom der Dinge entrissen, kühlt sich ab und wird unter Luftabschluss versiegelt. Obsolet geworden, lädt es sich mit eben der Zeit auf, die der Gegenwart, von der es sich abschied, fortwährend fehlt. Sprengt man den Einschluss auf, werden Laute zu Artefakten, Verszeilen erweisen sich als Kapseln, aus denen die Denkbilder fallen. Das wenige, worauf später die Spitzhacke stößt, der Pinsel des Ausgräbers, die Schaufel des Müllsammlers, dies ist der Stoff, aus dem die Gedichte sind. 172 Damit kann auch bei der Betrachtung von historischen Artefakten schließlich eine dynamische Wechselbeziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart wahrgenommen werden, so wie sie auch in Bezug auf Kublers Wahrnehmung der Ruinen der Materie als Indikatoren der kulturellen Dimension der Zeit von Keith Moxey in seinem kunsthistorischen Entwurf der Heterochronizität von jeder Gegenwart im Sinne einer »Anerkennung der Unmöglichkeit« hervorgehoben wird: The texture of the past is threaded through an account of the work’s reception in the present. History is recognized as the attempt to grasp the otherness of temporal distance in full recognition of the impossibility of ever doing so. Disabused of any pretension of offering an objective account of the past, historical writing of this kind affirms the presence of the present in the past, as well as of the past in the present. 173 Die andauernde Verflechtung der Vergangenheit mit der Gegenwart beruht dementsprechend nicht auf einer apriorischen Herausnahme aus der Zeit, sondern, im Gegenteil, auf einer ent-universalisierenden Historisierung des Jetzt, indem jede Vergangenheit in ihrer Konstitution als einstige heterochrone Gegenwart aufgefasst wird, die für ihre Nachträglichkeit zu einem ungreifbaren praeteritum wird. Die Korrespondenz zwischen den Zeiten besteht hier in dem impliziten Vergehen als Bedingung des Werdens. Das von Didi-Huberman und Moxey aus zwei verschiedenen kunsthistorischen Perspektiven betonte reziproke Verhältnis zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem ist also eine grundlegende Paradoxie der Geschichte, der man sich nur durch Beschreibung von Techniken und Medien der Erinnerung und ihrer Ineffizienz annähern kann. Die Geschichte der den Bildern innewohnenden diversen Zeitlichkeiten, die diese Paradoxie anerkennt – sei es mithilfe von Freud, 172 Grünbein 2007, S. 13 – 18, hier: S. 17 – 18. Vgl. zu Grünbeins Anachronismus im Kontext der von DidiHuberman geführten Debatte: Spoerhase 2011, S. 263 – 283, hier: S. 273 – 275. 173 Moxey 2013, S. 45.

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Warburg oder Foucault –, steht daher im Einklang mit der rudimentären philosophischen Logik der Pluralisierung der Zeit, die Gilles Deleuze in seinen Überlegungen zu Bergsons Zeitlehre mit folgenden Worten darlegt: The past is ›contemporaneous‹ with the present that it has been. If the past had to wait in order to be no longer, if it was not immediately and now that it had passed, ›past in general‹, it could never become what it is, it would never be that past. If it were not constituted immediately, neither could it be reconstituted on the basis of an ulterior present. The past would never be constituted if it did not coexist with the present whose past it is. 174 * Verfolgen wir nun diesen Faden exemplarisch weiter, um konkret danach zu fragen, wie und wo in den Bildpraktiken der Frühmoderne eine eventuelle Schnittfläche zwischen der Wahrnehmung der Nachträglichkeit und dem Diktat der Kontinuität thematisiert wird. Die Präsenz des Mittelalters im Barock, bevor entsprechende vorreformatorische Bildobjekte in historische Lehrstücke oder konfessionelle Argumente umgearbeitet wurden – und auch währenddessen –, lässt sich gewissermaßen in Analogie zur Wahrnehmung antiker Artefakte im frühneuzeitlichen Rom betrachten. Nirgendwo sonst wird es so deutlich, dass Ruinen kein statisches Modell der Vergangenheit, sondern ein Ort der Metamorphose sind, wie in den Bildern der bamboccianti, der römischen Malerrebellen des 17. Jahrhunderts. Als Kritiker der großen Kunstmilieus, des Establishments, der Auftraggeber, des damaligen Kunstmarktes und der Kirchenhierarchie zeigen sie in ihren satirischen Gemälden eine Serie von epochenübergreifenden Überlappungen, indem sie altrömische Ruinen stets als eine Bühne der Gegenwart, des alltäglichen Lebens vor Augen führen und zugleich mit zeitgenössischen Kunstidealen konfrontieren. 175 Ihre ikonografische Palette changiert dabei zwischen den ironisierenden, idyllischen Ausblicken auf die verfallenden Monumentalskulpturen auf den Hügeln der Ewigen Stadt und der skatologischen Poetik des Vergehens, wie sie u. a. durch den ersten kritischen ›Lumpenmaler‹ Pieter van Laer verbreitet wurde. Einige der durch die Kunstgeschichte gewissermaßen verdrängten Bilder der bamboccianti zeigen äußerst illustrativ, wenn auch ironisch inszeniert, unter welchen Bedingungen sich der ästhetische Geschmack des Vergangenen und die barocken Vorformen der stimmungsvollen puristischen Ruinologie des 18. Jahrhunderts etablierten. In diesen Bildern wird deutlich, inwieweit kunsthistorische Hierarchie der Gattungen und differenzierende Suche nach formalen Anachronismen zusammenspielen und zu einer weitgehenden Verdrängung der Heterochronie 174 Deleuze 1991, S. 58 – 59. Vgl. den Kommentar Paul Ricœurs zu diesem Statement: Ricœur 2004, S. 662. 175 Siehe Piereth 1996; Levine / Mai 1991. Dies unterscheidet beispielsweise die ›barocken‹ Ruinen von den Ruinen des romantischen Zeitalters und jenen der Posthistoire, in der die architektonische Entropie zu einer faszinierenden Verkörperung der »starren Unvergänglichkeit« stilisiert wird; siehe dazu: Böhringer 1985, S. 32 – 37. Vgl. Assmann 1999a, S. 314 – 322. Zu der spezifischen Auffassung der römischen Ruinen durch niederländische Künstler der Frühen Neuzeit siehe v. a. Dacos 1995.

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aus der Kunstgeschichte beitragen – steht doch an der Spitze dieser Ordnung die Historie und am entgegengesetzten Ende die Genremalerei. 176 Es ist jedenfalls erstaunlich, dass die elaborierten und humorvollen Manifeste dieser Ruinen bewohnenden Außenseiter, die die Autorität des Systems herausfordern und somit auch das kunstgeschichtliche Modell des Kanons in Frage stellen, durch die Zuschreibung zu einem ›Genre‹ nur vergleichsweise geringe Beachtung gefunden haben. Und das, obwohl sie sich heute als historische Doubles der ausgeschlossenen, vagabundierenden und störenden Wahnsinnigen aus Foucaults Geschichte des Wahns ebenso eignen würden wie als Sprecher von Warburgs heterogener, palimpsestartiger Empirie der Nachträglichkeit – und damit als unangepasste Figuren, an denen eine poststrukturalistisch orientierte kunsthistorische Kritik des Klassischen beispielhaft vorgeführt werden kann. Ihre Bilder verkörpern Warburgs Sinn für Geschichte, indem sie ebenso auf das standhafte Ideal der Dinge verweisen wie auf deren andauernde Metamorphose, indem sie die Nachträglichkeit und die Verspätung zu immanenten Triebkräften der Formenbildung erklären und indem sie das Gedächtnis als von dieser »Konfrontationsenergie« 177 abhängiges Hybrid aus verschiedenen Formen des Nachlebens denken lassen. In einem Bild des in Rom zeitweise tätigen Antwerpener Malers Anton Goubau aus dem Jahr 1662 (Taf. 3), das den hier angesprochenen Prozess der sozialen Disziplinierung von Bildlichkeit im Sinne einer Spurensuche deutlich vor Augen führt, studieren vor den Toren des damaligen Roms einige Adepten der Akademie unterschiedliche antike Skulpturen und Architekturelemente an einer wahrscheinlich fiktiven, zum Zweck dieser Szene durch den Maler erfundenen Wand. Dabei geht in der gleichen Zeit das tägliche Leben seinen Gang: Hirten ziehen vorbei, Schafe und Ziegen weiden und eine männliche Lustgesellschaft beobachtet die eifrigen Künstler, spielt dabei ihre bacchanalien und bereitet sich auf die ›Abenteuer‹ der vorstädtischen Spätstunden vor. Die höfisch gekleideten gelehrten Maler, in den belichteten Vordergrund gerückt, erscheinen bei ihrer Suche nach dem antiken Ideal im deutlichen Kontrast zur gesamten Umwelt, inklusive der Ruinen, und wirken wie ein eleganter Fremdkörper in der sukzessiv alternden Realität. Ihre Präsenz in diesem chaotischen Ambiente scheint nicht zuletzt durch einen mit einem Kreuz besetzten Obelisken, dem Zeichen der Beherrschung der Vergangenheit, gekennzeichnet zu sein. 178 In einem anderen Bild von Michael Sweerts (Taf. 4) zeichnet ein dem Alltag entrückter Maler wiederum eine ihm zeitgenössische Statue – den Neptunbrunnen von Bernini in der Villa Montalto in Rom. Wieder erscheinen neben ihm Protagonisten des Prosaischen, ein Fleischer oder ein Scherenschleifer; lediglich die Kinder zeigen Interesse an seiner Tätigkeit. 179 Der Vergleich von den beiden von Goubau

176 Zur historischen Bedeutung der bamboccianti siehe: Levine 1991, S. 14 – 33, hier: S. 28 – 29. 177 Didi-Huberman 2010, S. 206; vgl. ebd., S. 220, 367. 178 Vgl. Levine / Mai 1991, S. 174 – 176 (Kat.-Nr. 14.1). Zum komischen Effekt der ästhetisch-wissenschaftlichen Entzückung über die Spuren der Vergangenheit im Barock siehe die Studie von Herklotz 2011, S. 141 – 182. 179 Levine / Mai 1991, S. 278 – 279 (Kat.-Nr. 33.7).

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und Sweerts gemalten Zeichenstunden visualisiert die Tatsache, dass die Ruine sich durch eigene nachträgliche Lebendigkeit auszeichnet: Die ›Einstigkeit‹ der als ewig konzipierten Pracht und die gegenwärtige Vertrautheit ihrer ruinierten Spuren und Nachbildungen als Seismographen des Vergehens sind zwei Seiten derselben Medaille. In solchen Bildern wird zum einen die erwähnte Schnittmenge zwischen Schwund und Kontinuität auf einen Blick sichtbar und zum anderen avancieren die Ruinen zu einem Paradebeispiel des Nachlebens der Formen: Sie zeigen zugleich das antike Rom, das Mittelalter als die Zeit, in der Rom zum zweiten Mal entworfen wurde, die phantomatische Dimension der nach der Antike wehenden Renaissance und die universalisierende Ebene der barocken Geschichtsschreibung. In diesem Sinne avancieren die bamboccianti als Figuren der Ausschließung von sich der Norm widersetzenden Wahnsinnigen zu historischen Ansprechpartnern der postmodernen Kritik. Es ist eine natürliche Spurensuche mithilfe der Kunst, die sich selbst als Spur versteht. Diese Malerei zeigt gerade wie ein verkehrter Spiegel die Mechanismen der Ereignisbildung in der frühmodernen Historiografie: Heroisierung der Vergangenheit wird nur dann erfolgreich, wenn die heterochronische Aktualitätserfahrung – die Anerkennung der Ruine als Prozess – anhand ausgewählter und bildlich kanonisierter Spuren zugunsten einer Kontinuität als historische Tugend aufgehoben wird. 180

Aufhebung der Zeit: Vision, Perspektive, Entzug Diese Perspektive macht deutlich, inwieweit der Diskurs selbst eine »Gewalt ist, die wir den Dingen antun«, 181 und gibt eine Vorstellung von den in jedem Ereignis faktisch ineinander greifenden unterschiedlichen Zeitlichkeiten wie auch von der Nachträglichkeit ihrer kontextbezogener Narrativierung. Es lohnt sich daher, historische Projekte der Umwandlung von Heterochronie in eine kausal ausgelegte Prospektivität, ihre systemischen Werkzeuge der Normierung von zeitlichen Differenzen zu untersuchen. Das Thema dieses Buches ist in diesem Sinne die kategoriale Bestimmung vergangener Zeitlichkeiten in der Frühen Neuzeit, die mit ihren antagonistisch, typologisch und metaphorisch aufgefassten Relationen einer auf die Sicherung der Zukunft gerichteten sakralpolitischen Kontrolle diente. 182 Einige Aspekte der zwischen Bild und Raum unternommenen Vereinheitlichung und Verschiebung von historischer Evidenz sollen im Folgenden anhand von drei exemplarischen Situationen diskutiert werden – Situationen, die für 180 Vgl. zur Herausbildung des Ideals aus der Sehnsucht nach dem Ursprung im Kontext Winckelmanns: Didi-Huberman 2010, u. a. S. 27 – 29. 181 Foucault 1991, S. 34 – 35. Vgl. ebd., S 32: »Die Dinge murmeln bereits einen Sinn, den unsere Sprache nur noch zu heben braucht; und diese Sprache sprach uns ja immer schon von einem Sein, dessen Gerüst sie gleichsam ist.« 182 Die historischen Momente solch einer Verschmelzung in der Frühen Neuzeit als staatspolitisch markierte »rationale Prognostik« durch Präfigurationen sub specie aeternitatis beschreibt Koselleck 1979b, insbes. S. 17 – 37.

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den Charakter der in diesem Buch dargestellten Fallstudien konstitutiv sind –, um im nächsten Kapitel ihre systemischen Präkonditionierungen aufzeigen zu können: die Prägung der Vorstellung der Neuzeit, über die Aufklärung hinaus, durch die anti-idolatrische Auflösung der Zeit als Erfüllung der Geschichte und diese Prägung als ein mithilfe der theokratischen Vision des Mittelalters erzeugtes barockes Politikum. Die in den drei hier ausgewählten Situationen zum Einsatz kommenden Bilder erscheinen dementsprechend als instrumentalisierte Medien der Bewahrheitung von historischen Universalismen. 1. Vision. Einen interessanten Kommentar zur Teleologie der Formen als Grundlage einer Geschichtsvision liefert Pieter Paul Rubens mit seinen zwischen 1622 und 1623 entstandenen Entwürfen zu Tapisserien für Ludwig XIII., die das Leben Konstantins des Großen als beispielhaft für die Gründerzeit des institutionalisierten Christentums nach der Zeit der Evangelien und ersten Apologien zeigen sollten. In einem der Bilder wird der erste christliche Kaiser im Moment der Gründung Konstantinopels dargestellt (Abb. 1). 183 Dieses Bild ist ein Pendant zu einem anderen der gleichen Serie, in dem die triumphale Ankunft Konstantins in Rom nach der gewonnenen Schlacht mit Maxentius dargestellt wird (Abb. 2). 184 Ungeachtet der Tatsache, dass es sich bei der ersten Szene um ein Bild des stehenden und in der zweiten Szene um das eines reitenden Kaisers handelt, weisen diese zwei historischen Rekonstruktionen in Rubens’ Auslegung eine weitgehende Ähnlichkeit auf. In einem Detail zeigt sich allerdings ein deutlicher Unterschied: Während es sich bei den auf dem Boden verstreut herumliegenden steinernen Bauelementen im zweiten Bild um Ruinen handelt, wird im ersten Bild wiedergegeben, wie Bauteile gerade gefertigt werden, um anschließend in die architektonische Struktur der werdenden Stadt Konstantinopel integriert zu werden. Die alten Reste und das bereitgestellte Baumaterial bilden zusammen eine historische Schnittmenge, die Gründung der Stadt wird dem Triumph über das Alte politisch gegenübergestellt. Diese Kombination lässt die historische Zeit als eine Domäne der möglichen Wiederkehr und allumfassenden Typologie verstehen. Solch eine auf Erfüllung zielende Poetik geht im gleichen Augenblick über die bereits zur Zeit Konstantins etablierten Modi des triumphalen Memorialgedankens hinaus – wie dies Zitate und Spolien zeigen, die in konjunktural anachronistischen Werken wie Konstantins römischem Triumphbogen enthalten sind. 185 Und in diesem Sinne lässt sich auch das Nachleben dieser Bilder betrachten: Die von Rubens als Skizze belassene Szene der Gründung Konstantinopels an der Stelle der alten griechischen Hafenstadt Byzantion wurde interessanterweise später in Frankreich als Tapisserie ausgeführt, die 1625 von Ludwig XIII. dem Kardinal Francesco Barberini geschenkt wurde. 186 Dass auf dem Plan, der dem Kaiser in dieser Szene durch seine Bauleute gezeigt wird, ein Grundriss eines Idealgebäudes – des Pantheons, des Tempels aller Götter Roms, inklusive

183 184 185 186

Brosens 2011, S. 232 – 234. Ebd., S. 216 – 218. Vgl. Kap. 1, Anm. 91. Brosens 2011, S. 230 – 232.

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Abb. 1: Pieter Paul Rubens, Die Gründung von Konstantinopel, 1622, Entwurf einer Tapisserie, Öl auf Holz, Karlsruhe, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Inv.-Nr. 2759.

Abb. 2: Pieter Paul Rubens, Die Ankunft Konstantins in Rom, 1622, Entwurf einer Tapisserie, Öl auf Holz, Indianapolis, Indianapolis Museum of Art, Inv.-Nr. IMA2001.237.

Divus Iulius – erscheint, der den Quattri libri di architettura von Andrea Palladio entnommen wurde, kann in diesem Kontext kaum verwundern. Die Bilder vermögen selbst historische Ereignisse zu ›rekonstruieren‹ oder gar zu ›erschaffen‹, um die Wahrnehmung des Vergangenen durch alternative Zeitlichkeiten zu steuern. Die Suche nach der Korrektheit architektonischer Details – auch in den Bildern der bamboccianti – scheint demgegenüber selbst ahistorisch zu sein und könnte als eine aufs Scheitern angewiesene Prozedur der chronotopischen Kennerschaft bezeichnet werden. Dies kann repräsentativ anhand eines Bildes von Michael Willmann aus dem Jahr 1660 in der

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schlesischen Zisterzienserkirche Leubus (Lubia˙ ˛z) beschrieben werden, das die Szene der lactatio des hl. Bernhard zeigt (Taf. 5) – ein Bild, das eine Vision selbst zum Thema hat. 187 Auch wenn die Genese einzelner Architekturformen in diesem wie eine Collage konstruierten ›mittelalterlichen‹ Kircheninnenraum rekonstruierbar wäre, würde eine solche Rekonstruktion auf methodologische Irrwege führen. Hier war nicht die getreue Zeichnung einer gotischen Kathedrale das Ziel. Die Gotik wird hier eher mithilfe einer mehr oder weniger klassischen Triforienwand dargestellt, eines konstitutiven Konstruktionsmerkmals. Nimmt man an, Willmann habe wie Erwin Panofsky gedacht und eine Wand als scholastisches pars pro toto einer ganzen Kathedrale dargestellt, um diese eben ›kunsthistorisch‹ mithilfe eines visuellen Begriffs darzustellen, wird doch klar, dass es sich bei diesem Motiv eher um die Andeutung von Größe und Monumentalität handelt. Der Rest des monumentalen Baus verliert für den Maler an Relevanz, sobald er vom Betrachter als Kathedrale wiedererkannt wird. Ihre Größe wird mithilfe der kleinen Staffagefiguren im Hintergrund verdeutlicht. Die analytische Suche nach einer stilistischen Kohärenz wie auch nach der räumlichen Korrektheit dieser Architektur wird scheitern. Dies heißt jedoch nicht, dass wir das Bild, so wie es bisher bewertet wurde, für historisch ungenau und den Maler für inkompetent halten sollen. Die Vision findet auf einem fiktiven Altar statt, der schräg in der Mitte des Hauptschiffes oder des Presbyteriums situiert wurde, wo auch der Standpunkt des Betrachters angesiedelt ist. Nicht die historische Realität dieses Moments, sondern gerade das bildliche Potenzial der aus der Zeit herausführenden Vision steht hier also im Vordergrund. Dieses Ereignis vollzieht sich trotz seiner Abbildung in einem Kirchenraum jenseits des Topografischen, nicht an einem faktischen ›Ort‹. Die gotische Kathedrale mit ihrer leicht erkennbaren Differenz zur barocken Haltung des affektierten Protagonisten – des mittelalterlichen Heiligen – fungiert hier lediglich als ein Attribut einer applizierbaren Zeitlichkeit. Die fragmentarisch erhaltenen, sorgfältig ausgewählten und neu inszenierten Relikte werden also als monumentale Träger von Ursprüngen der Macht gedeutet, die eine überzeitliche Aktualität des Jetzt als geltende Erfüllung aufweisen sollen; die barocke Verhüllung und Enthüllung der mittelalterlichen Reste lässt sich als eine Praxis der planmäßigen Verschmelzung und Vereinheitlichung von ursprünglichen Spuren eigener Normiertheit verstehen. Ein offensichtlicher Fall solcher historischer Querschnitte ist auch mit dem monumentalen Rahmen einer ephemeren Festarchitektur vorhanden – mit der barocken Inszenierung des gotischen, durch Matthias von Arras sowie Peter Parler und seine Nachfolger von 1344 bis zum Ausgang des 14. Jahrhunderts gebauten Prager Doms zur Zeit der Feierlichkeiten zur Seligsprechung des böhmischen Proto-Märtyrers Johannes von Nepomuk im Jahr 1721. 188

187 Steinborn 1996, S. 219 – 226. Vgl. Kozieł 2013, S. 406 – 408; Kozieł 2010, S. 502 – 504. 188 Fürst 2002, S. 381. Vgl. Baumstark / Herzogenberg / Volk 1993, S. 124 – 127 (Kat.-Nr. 38 – 40); Klingenberg-Seifert 1971, S. 63 – 88. Zur barocken Historisierung der Person von Nepomuk durch das Haus Habsburg siehe Kap. 6.

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Abb. 3: Michael Heinrich Rentz nach Johann Ferdinand Schor, Festlichkeiten zur Seligsprechung von Johannes von Nepomuk im Prager Dom im Jahr 1721, 1722, Kupferstich, Prag-Strahov, Prämonstratenserkloster, Bibliothek, Inv.-Nr. GKF 40 / 65-512.

Die imposante temporäre Festarchitektur vor dem mittelalterlichen Dom, welche die »Pietas veterum Boemorum« mithilfe eines barocken »Opus Gothicum imitante« zeigen sollte (Abb. 3) war laut Zeitgenossen als ein durchsichtiges Werk gedacht, das durch die moderne Folie den historisch zurückliegenden Kern visualisieren sollte: »quod Ecclesiam ipsam opera eodem constructam videre est«. 189 Die vertraute mittelalterliche Kirche ist dargestellt, wie man sie noch nicht kannte: mittels eines Durchblicks durch die Zeit. Damit wurde allerdings eine Evidenz für die historische Herkunft des gerade hic et nunc vor den Augen der Betrachter festlich verherrlichten mittelalterlichen Märtyrers geschaffen, der mit diesem Schritt zum Protoplasten und Exponenten der habsburgischen Rekatholisierung im protestantischen Böhmen werden sollte: eine chronologische Konkordanz, die im Dienste der Legitimierung und Aufrechterhaltung von Macht in Bildern arbeitet. Solch eine Zusammensetzung von ›alter‹ Architektur und ›aktueller‹ Vision wurde in Willmans Bild mit weiteren auf eine zeitliche Transgression hinweisenden Motiven besiegelt. Dass auf dem Antependium des in diesem Bild dargestellten Altars ein Kreuz der Kreuzritter gezeigt wird, 190 ist verständlich. Nicht weil Bernhard von Clairvaux seine zum Kreuzzug aufrufende Predigt 1146 in dem romanischen Dom zu Speyer gehalten hat, was uns dazu veranlassen sollte, diesen in diesem Bild wiederzuerkennen, sondern weil sich in diesem Kontext sowohl die Zeit eines entfernten Mittelalters als auch die Topografie eines stets bedrohten

189 Von Frankenstein 1721, S. 1 – 2. 190 Steinborn 1996, S. 225, Anm. 18.

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und zurückzuerobernden Heiligen Landes durch die Macht des Bildes in die Aktualität der seit 1620 unter der habsburgischen Herrschaft laufenden Rekatholisierungsmission im protestantischen Böhmen transportieren lassen soll. Die in dieser Szene dargestellte gotische Architektur kreiert dementsprechend einen Rahmen, der nahelegt, dass das visionäre Ereignis im Vordergrund für real, aktuell und zweckmäßig gehalten werden soll. Das Innere des Kirchengebäudes, das die linke Hälfte der Leinwand einnimmt, funktioniert dabei eigentlich wie in Bildern von Pieter Saenredam und anderen barocken holländischen Malern der stillen Monumentalräume: Mit ihren erst auf den zweiten Blick sichtbar werdenden Staffagefiguren geschieht nichts, was den Fluss der Zeit stören würde; das Mittelalter entfaltet sich im gebauten Mikrokosmos. Und doch, sobald das neugierige Auge des Betrachters von der Tiefe des Raumes zurück zur vordergründigen Vision wandert, erscheint diese als plötzliche Explosion des Zeitlosen, die einen Sprung in die ewige Aktualität möglich macht. Das malerische Genre der Holländer, mit denen Willmann nach seiner Studienreise um 1650 wahrscheinlich vertraut war, wird also genutzt, um eine unüberbrückbare Differenz – nicht die zeitliche der alten Architektur, sondern die ontologische der wunderbaren Erscheinung – im Vordergrund aufzuzeigen und zu normalisieren. Die Szene der lactatio Bernardi ist folglich kein historisches Bild, sondern eine zeitentrückte Visionsdarstellung, die lediglich den zeitlichen Unterschied nutzt, um sich durch das, was die Kunstgeschichte auch heute noch für gotisch hält, mit ›bildlichen Begriffen‹ als Ereignis zu bewahrheiten. Das Bild zeigt somit das destillierte Mittelalter als eine Requisite der dezidiert visionären Geschichtsproduktion. Diese zeitliche Vereinheitlichung spielt mit der Art und Weise, wie hier die ontologischen Grenzen zwischen den Akteuren aufgehoben werden. 191 Da der Milchstrahl aus einer Statue spritzt, wird die lactatio aus einer träumerischen Einsicht zu einem direkt erfahrbaren, physikalischen Erlebnis der Transmission vom Altarbild zum Visionär: Es findet eine Verschmelzung von Vision und Aktion statt. Diese Aktivierung der Figur entspricht in ihrer Intensität der Kontaktaufnahme dem gewöhnlichen amplexus-Motiv in Bernhards Visionen der lebhaften Erscheinung Christi am Kreuz. Willmanns Darstellung zeigt jedenfalls weder eine Allusion zur berühmten rhetorischen Süße des Doctor Mellifluus noch eine bildliche Verkörperung der von Bernhard thematisierten »Nahrung für die Seele«. 192 Es ist stattdessen eine Antwort auf die direkt ins Bild gesetzte Apostrophe Bernhards: »Monstra te esse matrem« während seiner Marienadoration; hier wird der träumerische Charakter der Vision mit dem Topos der Verlebendigung einer Statue verbunden. Es liegt eine Überschreitung verschiedener Grenzen vor: der ontologischen zwischen Diesseits und Jenseits, der chronologischen zwischen Erfahrungs- und Heilsgeschichte und der semantischen, die eigentlich die

191 Zum Vergleich siehe die Beiträge in: Thürlemann / Kruse 1999 (v. a.: Bogen 1999, S. 53 – 72), wie auch: Ganz 2008. 192 So deutet die Szene Steinborn 1996, S. 219.

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gewünschte tridentinische Indifferenz des christlichen Bildes im Kontrast zu agierenden Idolen sichern sollte. Diese Fusion zwischen Hagiografie und künstlerischer inventio lässt sich zwar auch in einigen anderen zeitgenössischen Visionsdarstellungen Bernhards nachweisen, wie zum Beispiel in einem Bild von Alonso Cano von ca. 1650 (Taf. 6). 193 In der Leubuser Variante wird jedoch der Evidenzcharakter der augenscheinlichen Momentaufnahme durch den historischen Sog des ›gotischen‹ Bauwerks eindrucksvoll verstärkt. Diese Variante ist damit ein Musterbeispiel für die Vergegenwärtigung als modus operandi der gemalten barocken Bildapologie: Die stillende Mutter erscheint dem Mönch-Kind in Form einer aus dem Verlauf der Zeit herausgenommenen Figur. Es fällt schwer, an das Ende der Milchstrahlen zu denken. Die durch die Figur unternommene Aktion entzieht sich der temporalen Begrenztheit. Willmans Bild situiert die Historio- und Hagiografie in einer alternativen Temporalität, die sich in einem sorgfältig komponierten Anachronismus ausdrückt. Der sich in die Rolle eines böhmischen Missionars versetzende Geschichtsschreiber Augustin Sartorius (gest. 1723), Abt der nordböhmischen Zisterzienserabtei Ossegg (Osek), beschäftigt sich in seinem monumentalen Kompositwerk zur Geschichte der Zisterzienser Cistercium bis-Tertium von 1700 in einem ähnlichen Sinne mit Bernhards Vision und überschreitet dabei die Grenzen der chronologischen Exaktheit. Er zitiert die Episode der milchspendenden Marienfigur und weist zugleich auf den aktuellen Aufbewahrungsort des konkreten Bildwerks hin, um die lactatio als Ereignis mit einem auf findbaren Objekt zu historisieren. Im Anschluss daran lässt er jedoch die sekundäre Erscheinung – die Laktation durch eine Skulptur – und die primäre Erscheinung – Bernhards persönliche Begegnung mit Maria in Clairvaux, bei der sie den Ordensgründer selbst »mit ihrer Mütterlichen Milch erquicket habe« 194 – miteinander verschmelzen. Willmanns Bild kombiniert auf eine ähnliche Weise Realitäten miteinander: Geschichte wird aus zwei unterschiedlichen Visionen gewoben. Die Verspätung wird nivelliert, um das Zeitlose aufzuzeigen. 2. Perspektive. Sowohl bei Rubens als auch bei Willmann handelt es sich um eine malerische Narrativierung des Originären mithilfe von rein ikonisch erzeugter Gleichzeitigkeit. Legt man fest, dass die Bilder im Barock nicht nur die Fläche der Leinwand einnehmen, sondern auch die Realitätserfahrung bestimmen, muss man sich im vorliegenden Kontext fragen, ob solch eine verhüllende Kompositpoetik der mittelalterlichen Ursprünge eine topografische Umsetzung finden konnte und wie sich eine ähnliche fiktive Gleichzeitigkeit in begehbaren Räumen sakralpolitischer Macht konstruieren ließ. Wie wird also der Raum selbst zu einem den Betrachter miteinbeziehenden Bild der postulierten geschichtlichen Kontinuität? Ein kurzer Blick auf die barocke Inszenierung einer der ersten und wichtigsten Autoritätsreliquien des Christentums – des Throns des Apostelfürsten – kann hier ein weiteres Licht auf den Charakter von Bildpraktiken werfen, die in dieser Studie im Sinne 193 Cruz Valdovinos 2002, S. 85. Vgl. zu den barocken Aktualisierungsmodi dieser Vision: Telesko 1996, S. 19, 21. 194 Sartorius 1708a, S. 183. Vgl. Cousinié 2014, S. 221 – 241.

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Abb. 4: Gian Lorenzo Bernini, Cathedra Petri, 1656/1666, Vatikan, Petersbasilika.

eines sakralpolitischen Anachronismus beschrieben werden. Als überzeitlicher Nachweis der gesegneten Sukzession nach Christi Tod wurde er in der Apsis vom Peterssdom zentral platziert, also dem Nachfolgerbau der im Jahr 324 gestifteten konstantinischen Basilica vetus, die die ursprüngliche Sepultur des Apostels markiert haben sollte und die selbst, wie man es im 17. Jahrhundert rekonstruierte, auf dem Areal von Neros Zirkus mit einem durch die Römer in Heliopolis erbeuteten ägyptischen Obelisk und den Tempeln Apolls und Mars, lokalisiert worden war. 195 Berninis Inszenierung des Petersthrons von 1657 – 1666 (Abb. 4), das Modell der barocken Auratisierungen sakraler Objekte schlechthin, kann als maßgeblich für damalige Techniken der Einverleibung historischer Relikte in ein barockes Gesamtkunstwerk bezeichnet werden. Er wurde entworfen, um unter anderem gerade mit dem von Bernini 34 Jahre früher gestalteten baldacchino (1624 – 1633) über dem Petrusgrab zusammen angeschaut zu werden (Abb. 5), in das vier überdimensionierte Nachbildungen der Säulen des Jerusalemer Tempels integriert sind, die von Konstantin nach Rom gebracht worden sein sollen. Damit kommt es bereits zu einer Zusammenfügung von drei Zeitlichkeiten der Artefakte: der der Antizipation, der Apostolizität und der Sukzession. Der nachgebildete Apostelthron

195 Siehe u. a. Martinelli 1644, S. 10. Vgl. dazu wie die Etablierung des Typus der ›konstantinischen Basilika‹ selbst mit einer Überschreibung der bereits bestehenden Bauwerke und Baukonzepte von Maxentius zusammenging: Jastrz˛ebowska 2016, S. 509 – 515.

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Abb. 5: Gian Lorenzo Bernini, Cathedra Petri, 1656/1666, Vatikan, Petersbasilika, Blick vom Hauptschiff durch das baldacchino des Petrusgrabes.

wurde durch Bernini als ein schwebendes Objekt inszeniert, das durch seine Form auf die dahinter aufbewahrten hölzernen Überreste der tatsächlichen Cathedra Petri 196 genauso wie durch seine deutliche, frontal sichtbare Leere auf institutionelle Permanenz des Amtes hinweist. Ein auratisierter Thron aus Bronze für den historischen Apostelsitz aus Holz, ein monumentales amtliches Reliquiar, das allein durch seine Materialsprache einen Übergang markiert. Ein künstlerisch gestalteter Thron als objekthafte Verhüllung eines fragmentarisch, als Relikt erhaltenen historischen Objekts erscheint in dieser Perspektive wie ein bildliches Axiom, denn er ist im Voraus gerahmt: Er wird gebändigt durch den geschickt komponierten Durchblick durch die in der Vierung dominierenden Säulen des Baldachins, die selbst durch ihre angebliche erste translatio nach Rom und durch den Fakt, dass dieses Werk Berninis das letzte in der Reihe der geplanten ›Rekonstruktionen‹ des ersten konstantinischen Altars darstellt, als historische Spuren der räumlich-zeitlichen Translokation dienen. 197 Der erste

196 Siehe u. a. Moffitt 2007, S. 23 – 31. 197 Zum baldacchino wie auch zu den vorherigen Versuchen der ›Rekonstruktion‹ vor Berninis Auftrag siehe u. a. Lavin 1984, S. 405 – 414; Kirwin 1981, S. 141 – 171; Lavin 1968, 10 – 18; Kauffmann 1955,

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Thron des ersten Nachfolgers Christi wird somit als Relikt und Ort der höchsten ekklesiastischen Würde und immer noch andauernden Amtsausübung durch die Vorgeschichte des Christentums eingefangen. 198 Die Überwindung des Todes durch das Amt, so wie diese gezielte Perspektive des unmittelbar über das Petrusgrab zum Petrusthron geführten Blickes es ermöglicht, verwirklicht sich in diesem Deutungsregime als eine überzeitliche Figur der Übertragung von Machtbefugnissen. Entscheidend für die Natur des Relikts ist jedoch nicht nur seine natürliche – wenn auch inszenierte – Augenzeugenfunktion, sondern auch seine nachträgliche Diskursivierung. Während in der realisierten Variante der leeren Cathedra Petri die Wand der Basilika als Architektur entmaterialisiert wurde, um der durchgehenden Erscheinung des Heiligen Geistes im Glasfenster Platz zu gewähren, wurde im ersten Entwurf Berninis die Bereitschaft betont, den Thron zu besetzen. In einer lavierten Zeichnung in Windsor Castle von 1656/1657 (Abb. 6) 199 wird der Thron direkt durch die Kirchenväter – und zwar auf der Ebene der Kalotte – hochgehalten, was eine Anspielung auf die frühchristlichen Darstellungen der hetoimasia, des leeren Throns Christi, ist, der auf die Zeit der Parusie wartet, in der der Erlöser zum kaiserlichen Richter wird. 200 Damit wird eine zusätzliche zeitliche Ausdehnung suggeriert, die in der Formensprache und in der Motivik manifest wird – eine Kopplung der Gründerzeit der Kirche samt ihrer Sukzessionsrechte und der nach christlichen Gesetzen normierten Ewigkeit. Über dem Thron zeigt sich die Aura, indem eine von enormer Strahlenglorie umgebene männliche Gestalt in einer Rüstung – wohl der Erzengel Michael 201 – durch die architektonische Schwelle des Gebälks herabsinkt, um den großen Schlüssel und die Tiara demjenigen zu übergeben, der zwar als Petri Nachfolger designiert wurde, aber körperlich in diesem Bild nicht mehr oder noch nicht präsent ist. Diese reziproken Bezüge der beiden Ebenen – derjenigen des Throns und derjenigen über dem Thron –, die von der später ausgeführten Variante wesentlich abweichen, lassen die strahlende Aura als ein Mittel der Bewältigung von Absenz und Unsichtbarkeit im Dienste der Aktualität der Amtsausübung betrachten. Diese Kombination funktioniert dabei als ein Werkzeug, das es erlaubt, die Grenzen zwischen dem vorhandenen und ausgestellten Objekt des historischen Relikts – der Thronreliquie – und der darauf aufbauenden göttlichen Intervention auf eine szenische Art und Weise logisch und konsequent zu überschreiten, ohne dass das Objekt nur für sich spricht und die Strahlen der Glorie sich allein in ihrer Funktion als energetische Auf ladung

198 199 200 201

S. 222 – 242. Darüber hinaus zur Wiederentdeckung der confessio als mittelalterlicher Typus: Ostrow 2009, S. 19 – 32, wie auch zur Rolle der Spolien in San Pietro vor Bernini: Bosman 2004. Dazu ausführlich Ackermann 2007, S. 179 – 206; Rice 1997, S. 189 – 192; Wittkower 1955, S. 17 – 21. Zum Durchblick durch das baldacchino vgl. Winter 2009, S. 47 – 63, hier: S. 53 – 63. Ackermann 2007, S. 183 – 184; Dombrowski 2003a, S. 40; Rice 1992, S. 428 – 434; Kauffmann 1955, S. 238 – 239. Di Natale 2013, S. 691 – 750; Alfoldi 1977, S. 248 – 257; Engemann 1976, S. 139 – 156. Ackermann 2007, S. 183 – 184.

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Abb. 6: Gian Lorenzo Bernini, Cathedra Petri, Entwurf, 1656/1657, Zeichnung, Windsor Castle, Inv.-Nr. 5614.

erschöpfen. Diese Art von dialektischer Aura der kontinuierlichen Strahlung, von der in dieser Studie noch die Rede sein wird, verbindet die Nähe mit der Ferne durch die überzeitliche Narrativierung von erfahrbaren Objekten; ihre Bedeutung geht konsequent über die bloße Überblendung des passiven Betrachters durch die pompös inszenierten Objekte hinaus. 3. Entzug. Als eine ähnlich zeitrelativierende Bildpraxis der Perspektivierung lässt sich die Neurahmung von kleinformatigen Heiligenbildern, Reliquien und Sakramentalien in barocken Altarkompositionen verstehen. In einer angestrebten Verflüssigung der Grenzen zwischen Bild und Rahmung kommt die bloße Sichtbarkeit beziehungsweise ihr Entzug als Faktor der Zeiterfahrung ins Spiel, da sie eine komplette Überblendung des zur Schau gestellten Bildes durch seinen Rahmen anbietet. Das Verschwinden des durch die Fassung überwältigten, kleinformatigen Artefakts mit der gleichzeitigen Andeutung seiner zentralen Präsenz

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als Etwas zwischen Objekt und Subjekt ist als Mittel zur Verstärkung seiner Wirkung zu verstehen. Die Leere des Hinaustretens wird kombiniert mit der metaphysisch inszenierten Punktualität des Hineintretens, die Geschichte soll sich gleichzeitig in Unsichtbarkeit und Aussagefähigkeit des transzendierenden Bildes kondensieren. Diese gezielte Verwendung der dem kirchlichen Barock eher fremden Miniaturgröße als Ausdruck der mittelalterlichen Alterität und die gleichzeitige Aufforderung des Betrachters zu einer Extraktion dieser Präsenz der Spolie aus dem überdimensionierten, aus goldener Glorie bestehenden barocken Rahmen können als eine beispielhafte Situation der medial konstruierten Verwandtschaft von Ferne und Nähe und somit als Werkzeug der Kontinuität dienen. So entsteht ein übernatürliches Potenzial eines Bildes, das paradoxerweise aus dem Entzug der eigenen Sichtbarkeit – der Selbst-Überblendung – eine Fähigkeit schöpft, sich in diesem plötzlichen Einbruch in die Gegenwart als historische Autorität auszudrücken. Ein deutlicher Fall von einer Steuerung der Bildperzeption durch den Kontrast der Maßstäbe ist mit der Situierung des mittelalterlichen Bildes – einer französisch-rheinischen Emaille mit Madonna mit Kind – im Hochaltar der römischen Kirche S. Maria in Campitelli vorhanden (Abb. 7). Es wurde von Melchiore Cafà und Ercole Ferrata 1659 – 1667 in einer Miniaturkopie des Ziboriums über dem Petrusgrab und dem Papstaltar von 1624 – 1633 angebracht, sodass es wie auf einem Thron zu sehen ist. 202 An diesem Bild kann aufgezeigt werden, wie durchlässig die Grenze zwischen Präsentationsformen von Bildern Abb. 7: Melchiore Cafà und Ercole Ferrata, Hochaltar, 1659 – 1667, Rom, S. Maria in Campitelli.

202 Siehe Erra 1750, S. 49.

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und Relikten und den auratisierenden Inszenierungen im sakramentalen Bereich ist, welche die lineare Zeit und somit die Chronologie vollkommen zu relativieren vermögen. 203 Die Positionierung des kleinformatigen Bildes in S. Maria in Campitelli erinnert durch die Tatsache seiner weitgehenden Unscheinbarkeit als Hauptakteur an die Situation eines Tabernakels beziehungsweise einer tabernakelähnlichen Konstruktion und ruft den Aufbewahrungsort der nur als Punktum erscheinenden sakramentalen Akzidenz der Hostie hervor. Es kann in diesem Kontext an den komplexen Aufbau der römischen Quarant’ore als Mittel zur Überzeugung ›Ungläubiger‹ erinnert werden: In diesen zeigte sich gerade ein Versuch, den beinahe unsichtbaren liturgischen Gegenstand der Hostie in künstlichen Wolken und damit als Erscheinung des höchsten Anzubetenden darzustellen (Abb. 8). Zentral in einen narrativen Erscheinungsrahmen eingebettet, erscheint dabei die Hostie nicht nur als ein im liturgischen Sinne substanzieller, sondern auch als ein physikalisch-körpergewordener katholischer Inbegriff der Einheit des Christentums. 204 Die Unsichtbarkeit des unlesbaren, mächtigen Zentrums – so wie die Hostie und das kleine Bild in diesem Kontext als auratische Objekte inszeniert werden – zwingt den Betrachter, sie in purer Präsenz jenseits aller Kriterien von Raum und Zeit wahrzunehmen. 205 In ihrer planmäßig eingeführten, schweigenden und auch öfters dosierten Unsichtbarkeit, die wiederum durch andere Erscheinungsmedien konditioniert wird, tritt das beinahe transzendent positionierte Artefakt aus der historischen Ferne wie ein ewiger Ritualkörper hervor. Es bildet also eine deutliche Antithese zum Idol als Inbegriff einer einmaligen, historisch in der menschlichen poiesis verankerten Verkörperung. Damit kommen wir konsequent zum wichtigsten historischen Knotenpunkt, an dem dieses Buch ansetzt: Das Bild fordert das Idol mit der gesamten Kraft seiner teleologisch ausgerichteten und die Zeit zu überwindenden Historizität zu einem endgültigen Duell heraus. Die über ihre eigenen medialen Limitierungen hinaus reichende barocke Glorie beweist, dass es gerade die auf reine Übertragung ausgerichtete Präsentation ist – und nicht der Gegenstand –, die zählt, weil sie über die fiktionalisierende Argumentationskraft verfügt, den Betrachter über die Materialität des Relikts hinauszuführen. 206 Eine derartig selbststimulierende Autothematik der barocken Inszenierung, die einen Höhepunkt der Expositionstechnik bildet, bot jedoch gleichzeitig eine permanente Bestätigung dafür, dass die christlichen Bilder, obwohl sie sich dank ihrer lediglich vermittelnden Kraft von den Idolen dezidiert abgrenzen lassen, doch immer noch

203 Vgl. Moxey 2013, S. 55. 204 Barry 2002, S. 22 – 37, insbes. S. 26 – 27; Imorde 1999, S. 104 – 115; Imorde 1997, S. 35 – 43; Weil 1974, S. 218 – 248. Vgl. zur bereits früher präsenten Verbindung von Thron und Eucharistie: Brückner 2000, S. 77 – 86; Imorde 1998, S. 53 – 61. 205 Vgl. zum Problem der intensivierten Aufmerksamkeit und Unwahrscheinlichkeit oder Außertagtäglichkeit: Hahn 2001, S. 29 – 47. Dazu ein Essay zum Phänomen der frühneuzeitlichen Faszination der Philosophie an den kleinsten Teilen in ihrer Relation zum Kolossalen: Breeur 2014, S. 31 – 34. 206 Vgl. Hecht 2003, S. 268 – 298.

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Historische Kritik von Bildkulturen

Abb. 8: Carlo Rainaldi, Entwurf vom Quarant’ore-Apparat für die Kirche Il Gesù, 1650, Kupferstich, Rom, Biblioteca del’Istituto di Archeologia e Storia dell’Arte.

eine Fähigkeit besitzen, selbst für sich als Objekte zu argumentieren. Die Aufgabe der ahistorischen Transmission verwandelt ein Artefakt in einen mit Kompetenz ausgestatteten Vermittler und mindert sein eventuelles souveränes Aktionspotenzial. Allein die Tatsache, dass die Ursprünge dieser Karriere der Glorie in Bildern in dem künstlerischen Akt der enormen Konzentration von auratischer Präsenz in der Cathedra Petri lokalisiert werden, 207 befähigt dazu, die Intensität von Strahlen um das ausgestellte Objekt als Hinweis auf dessen Rolle als nur in diesem Sinne ›agierendes‹ Objekt zu verstehen. Der Wirkungsraum des Bildes wird somit durch die Limitierung der Kraft seiner strikt materiellen Erscheinung konditioniert. Angesichts solcher Strahlungen ist es nicht mehr der Betrachter, der mit seinem Blick ins Bild ›hineintreten‹ muss, um im Dargestellten kontemplativ versinken zu können, sondern

207 Ebd., S. 290 – 298.

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Abb. 9: Giovanni Francesco Grimaldi nach Niccolò Menghini, Entwurf vom Quarant’ore-Apparat für die Kirche Il Gesù von 1640, Kupferstich, Rom, Biblioteca Casanetense, Inv.-Nr. Misc. 4° 807 int. 3.

die äußere Realität wird selbst zum Bild, in dem sich die Historizität des Artefakts mittels ewiger Authentizität der divinen Übertragung durch die Strahlen präsent macht. 208 Die Konnotation des eucharistischen Erscheinungsortes in den Quarant’ore-Apparati mit einem Thron, so wie er zu diesem Zeitpunkt mit dem Apostelthron Petri sicherlich in Verbindung gebracht werden konnte, bildete einen wesentlichen Teil der zeitgenössischen Erfahrung derartiger Konstruktionen, wie es die Rezeption des zum hundertsten Jubiläum des Jesuitenordens 1640 von Niccolò Menghini gefertigten Quarant’ore eindeutig beweist (Abb. 9). 209 Diese großformatigen Überzeugungsmaschinen setzten die Hostie im Sinne einer sichtbar gemachten Dematerialisierung autoritär in den Vordergrund, da die inkarnierte Transzendenz in ihrer gleichzeitigen Kompression und Ubiquität einen Bruch mit den natürlichen Raumzeitbegriffen bewirkt. Dies zeigt sich gerade im Rahmen einer kombinierten 208 Siehe u. a. Isar 2004, S. 57 (hier die weitere Literatur). 209 Imorde 1999, S. 107 – 108, beschreibt dabei die Wolken als Glorie der Reflexionen der Hostienscheibe, welche die unerträgliche Wahrheit Gottes verbergen sollte. Vgl. ebd., S. 111 und Imorde 1997, S. 35 – 43, 99 – 109. In einem breiteren Kontext: Imorde 2004, S. 175 – 220.

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Historische Kritik von Bildkulturen

historischen Narration, so wie der von Menghini, in der das verabsolutierte eucharistische Punktum – als Pendant zur Darstellung von Mose, der mit den Gesetzestafeln vom Berg Sinai herabsteigt – eine andere Perspektive, nämlich die Sicht durch einen Präsenztunnel in einen Wolkenraum, öffnet. 210 Mit ihrer gleichzeitigen Bewegung in zwei Richtungen – die Flucht in die Tiefe der absoluten Singularität und das Eintreten in die Realität des Betrachters – stellte die eucharistische Scheibe den Anfang und das Ende der biblischen und historischen Narration dar, bildete den unbeherrschbaren geometrischen Fluchtpunkt der an die irdische Zeit gebundenen, darstellenden Perspektive. Diese Auffassung der eucharistischen Akzidenz als Bildmotiv ist jenseits ihrer üblichen Interpretation als Oblate mit materiellen, eine substantielle Verkörperung im Ritual ermöglichenden Eigenschaften angesiedelt. In diesem Rahmen wird der ontologische Status der Hostie durch ihre neue Visualität geprägt, deren Grundsatz ein geometrischer ist. Die barocke Einführung des Punktums ›Hostie‹ als in Richtung der Unsichtbarkeit steuerndes Zentrum des ausformulierten narrativen Zusammenhangs kann in diesem Sinne als ein technischer Entwurf der geometrisch konstruierten ›sichtbaren Transzendenz‹ betrachtet und somit in Hinsicht auf die zeitgenössischen philosophischen Erwägungen zur Singularität und Vielfalt interpretiert werden. 211 Die Hostie als bildlich verdeutlichte Differenz und Superiorität – als ein affizierendes Bild, das durch die maximale Konzentration der transgressiven Präsenz bereits seit dem Mittelalter mit einer durchaus ambivalenten, auf ikonischem Entzug basierten Erscheinungkraft ausgestattet wird 212 – bildete im empirisch veranlagten 17. Jahrhundert eine Konkurrenz sowohl zu den technologischen Einblicken in die optische Unendlichkeit des Kleinen (darunter ausdrücklich des Punktes) 213 als auch zu den astronomischen Relativierungen der zentralistischen Weltvorstellung durch den Blick in die kosmische Ferne. 214 Der Zentralismus der barocken Hostienerscheinung ist in diesem Kontext jedoch zugleich als Element einer sakralpolitischen Evidenztaktik zu verstehen, welche die Fragestellung zur Singularität und Vielfalt, zur Gradation von räumlichen und zeitlichen Dimensionen im Zeitalter der wissenschaftlichen Empirie zum Zwecke der kirchlichen Selbstlegitimation vereinnahmen ließ. Die barocke Hostie – so wie sie in ihrer ontologischen Weltentfremdung zu einem radikal aikonischen und trotzdem bildlich sichtbaren Verweis geworden ist – stellt für dieses raumzeitliche Kontinuum einen autoritären Grenzwert dar. Demzufolge liefert sie auch ein zentralistisch gedachtes und zugleich transzendent orientiertes Wirkungsmodell für alle christlichen Bilder, deren normierte Metaphorizität sich stets an der Schwelle zwischen den Welten, zwischen Diesseits und Jenseits erstrecken sollte: Die

210 Imorde 2008, S. 121 – 124. 211 Vgl. in diesem Kontext die im 17. Jahrhundert angesichts Galileos atomistischer Thesen in der Kirche geführte Debatte zur Physikalität der Transsubstantiation: Koneˇcný 2015, S. 350 – 354. 212 Kapustka 2008b, S. 166 – 207. 213 Siehe v. a. Hooke 1665. 214 Siehe v. a. Fontenelle 1686.

Anachronismus und Verspätung

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Hostie ermöglicht einen gleichzeitigen Blick auf die projizierte Ferne inmitten der erfahrbaren Nähe. 215 Als solche wurde die Hostie eingesetzt, um ihre endgültige Achronizität im Dienste einer dogmatischen Vorprägung der christlichen Historizität zu zeigen: als Transsubstantiation des geborenen, historisch geopferten und dennoch ewig verklärten Leibes, als ubiquitär präsentes, sich dadurch der Physik entziehendes und dennoch demonstrierbares Mittel zur Überwindung der materiellen Vergänglichkeit – als ein unbesiegbares Anti-Idol.

215 Im barocken Quarant’ore manifestiert sich demnach am deutlichsten die Ambivalenz der Inszenierung, so wie sie durch Wolfgang Iser beschrieben wurde: »Inszenierung beinhaltet, dass ihr etwas vorausliegen muss, welches durch sie zur Erscheinung kommt. Dieses ›Vorausliegende‹ vermag niemals vollkommen in Inszenierung einzugehen, weil sonst diese selbst das ihr Vorausliegende wäre. Man kann das auch anders wenden und sagen, dass jede Inszenierung aus dem lebt, was sie nicht ist. Denn alles, was sich in ihr materialisiert, steht im Dienst eines Abwesenden, das sich durch Anwesendes verbildlicht. Inszenierung ist dann die Form der Doppelung schlechthin, nicht zuletzt, weil in ihr die Bewußtheit herrscht, dass diese Doppelung unaufhebbar ist.« (Iser 1983, S. 508).

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Fall und Aufstieg Die Souveränität der Neuzeit

Transzendenz gegen Idol: Das Ende der Chronologie Das frühneuzeitliche Projekt der christlichen Zeitlosigkeit steht im langen Schatten bereits zerschlagener Idole. Dieser Schatten ist dem platonischen Höhlenschatten nicht ähnlich – anstatt von einer transzendenten Teilung der Welten, von einer Hierarchie zwischen Idee, Ding und Nachahmung zu zeugen, bringt er die Einstigkeit der Immanenz in ihrem tragischen Abwesendsein hervor. Seine dämmrige Negativität ist somit alles andere als kategorial, denn sie macht nur ein Angebot: Sie lässt gerade die lange Geschichte der kategorialen Unterscheidung von außerhalb, im peripheren Blick, wahrnehmen, lässt das ins Übersinnliche führende Licht von jenseits seiner Strahlen, aus dem Schatten heraus, sehen. Dieser Schatten wird immer noch, immer wieder in die Jetzt-Zeit geworfen als eine phantomatische Entfärbung, durch die sichtbar wird, wie jede Gegenwart das Erbe einer einst metaphysisch kreierten Schuld an einem idolatrischem Bilderglauben antritt. »Die Kirche im Ganzen war noch keine Korporation und ermangelte des Bewußtseins, eine Geschichte zu haben, und ebenso dessen, Geschichte zu machen«, so der Philosoph Horst Günther in seinen Erörterungen zur Entstehung der christlichen Historizität aus den Trümmern des ›heidnischen‹ Staates. 1 Durch die rhetorische Einführung der propagandistischen Figur eines Idols als Verkörperung einer an die Naturgewalten gebundenen Zeitlichkeit war im Rahmen der Evangelisierung jedoch eine Differenz sichtbar geworden, noch bevor überhaupt der Begriff der Geschichte für die Etablierung des kollektiven Bewusstseins im Christentum nötig erschien. Denn die apriorisch konstruierte Weltenzäsur entstand bereits im Moment der ersten neutestamentlichen Zerstörung der Idole durch Christus während seiner Flucht nach Ägypten – die Idole stürzten zum Boden, als Christus mit seiner Familie einen ›heidnischen‹ Tempel betrat. 2 Als primäres Exemplum der ikonoklastischen Hand-

1 Günther 1993, S. 57. 2 Evangelium Pseudo-Matthäus, 22,2: »Freudig und jubelnd kamen sie im Gebiet von Hermopolis an, und sie betraten eine der Städte Ägyptens mit Namen Sotinen. Und weil sich in ihr kein Bekannter fand, bei dem sie als Gäste hätten weilen können, gingen sie in einen Tempel, den man Kapitol Ägyptens nannte. In diesem Tempel waren 365 Götterbilder aufgestellt, denen an den einzelnen Tagen in götzendienerischer Weise göttliche Ehre erwiesen wurde. Als die seligste Maria mit ihrem Kindlein den Tempel betreten hatte, geschah es, daß sämtliche Götterbilder zur Erde stürzten, so daß sie alle gänzlich umgestürzt und zerbrochen auf ihrem Angesicht lagen. Auf diese Weise erteilten sie klar

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Fall und Aufstieg

lung – die Bewältigung des ›Anderen‹ als erstes sichtbares Autoritätszeugnis der faktgewordenen übernatürlichen Inkarnation des Schöpfergottes – relativiert dieser Vernichtungsakt den bisherigen Verlauf der Zeit. Das kosmologisch-chronologische Zeitempfinden wird im gleichen Moment, in dem die ägyptischen Idole fallen, durch das typologische Verhältnis innerhalb der bereits begonnenen Heilsmission ersetzt. In diesem Sinne wurde das Idol auch in seiner stummen Einsamkeit und materiellen Passivität als eine andauernde Bedrohung für die kirchliche Institution imaginiert, die auf der Kultivierung einer auf Erden ubiquitär gewordenen Transzendenz gestiftet worden war. Die Abschaffung von Idolen erscheint daher nach der sinaitischen Gesetzgebung als eine neue historische Zäsur, ganz so wie sie im apologetischen Kontext der kämpfenden Kirche der Christen wohl von Anfang an verstanden wurde: als ein unwiderrufbares Ereignis, dessen Relevanz vor allem mit Blick auf die zukünftige Erfüllung verstanden werden sollte. Die Vergangenheit erstreckt sich in diesem Sinne zwischen dem Ereignis des Idolensturzes, das die Macht hat, die Historizität vollkommen in ein Versprechen umzuwandeln, und dem prospektiv skizzierten Ende der vollbrachten Geschichte, dem heilbringenden Ziel des irdischen Religionssystems. Auch wenn diese Feststellung eher pauschalisierend und verfremdend erscheint: Die Erklärung der Gegenwart der Empfindung zur Vergangenheit wurzelt in einem langen Tranformationsprozess, in dem die mythologische Ferne in einen dogmatischen Satz umgearbeitet wurde. Die jeweils präsente Zeit der Handlungen, Intentionen und Gedanken wird zeitlich immer nach dem Fall des ›heidnischen‹ Idols angesichts der in die Welt hineingeborenen und die Jenseitsverheißung realisierenden Transzendenz lokalisiert. Die christliche Neudatierung der Zeitlichkeit nach der Geburt des Gottessohnes erklärt somit die Historiografie apriorisch zu einem post-historischen Verfahren der Autorität. Mit seiner Fleischwerdung als Sichtbarwerdung des Wortes, als »Eingang in das Spürbare«, 3 werden in Ägypten die ›heidnischen‹ ›Götzenbilder‹ nahezu automatisch und mühelos vernichtet. Nach der Überwältigung der mit polytheistischen Götterbildern vorhandenen Immanenz, Inkarnation und Metamorphose des Natürlichen durch eine andere, dynamische Inkarnation – die des Gottessohnes selbst – kann Geschichte, so wie sie ab diesem Moment systematisch in einer Sprache der Unterscheidung konstruiert wird, immer in Relation zu der kategorischen Unwiderrufbarkeit der ersten Idolenbewältigung verstanden werden. Sie rekurriert immer auf die ursprüngliche Stiftung einer Neuzeit, die mit der Zerstörung der Idole zusammenkommt.

die Lehre, daß sie nichts waren.«. Vgl. Mat 2,13 – 15. Die Prophezeihung des Ereignisses findet sich bei Jes 19,1: »Ausspruch über Ägypten. Siehe, der Herr reitet auf einer schnellen Wolke und kommt nach Ägypten. Vor seinem Angesicht erbeben die Götter Ägyptens, das Herz Ägyptens verzagt in seinem Innern« und Jes 19,16: »An jenem Tag wird Ägypten wie die Frauen sein: Es wird zittern und erschrecken vor dem Schwingen der Hand des Herrn der Heerscharen, die er gegen es schwingt.« Zu den apokryphen Quellen siehe im bildhistorischen Kontext v. a. Koneˇcný 2005, S. 10 – 32. 3 Nancy 2008, S. 141 – 145; Nancy 2003, S. 58 – 60. Vgl. Didi-Huberman 2011, S. 280 – 282 (»Die Fleischwerdung und die Aufhebung des Sichtbaren: das Visuelle«).

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Um die Vorprägungen dieses in der christlichen Frühmoderne bildpolitisch zugespitzten Verständnisses vom gewaltvollen zeitlichen Umbruch sprechen zu lassen, soll hier, im Sinne einer kritischen Archäologie der Bildtopoi, der Akzent auf eine wichtige Präfiguration der als Neuzeitstiftungen kultivierten Bilderstürme gesetzt werden. In anderen Worten: Um den narratologischen Sinn der christlichen Bildervernichtung als Machtargument tiefer ausloten zu können, muss man zuerst über deren direkte Gründe hinaus ihre kultivierte Vorgeschichte aufzeigen und nach möglichen Konditionierungen des bilderstürmerischen Kanons suchen, nach langfristigen Überdeterminierungen von Vorbedingungen des historisierenden beziehungsweise anachronistisch gestalteten Narrativs. Es wird sich zeigen, dass die frühmoderne Artikulation der Erfüllung von christlicher Zeitlichkeit in der katholischen Herrschaft durch einen anachronistischen Einsatz der Bilder, die so zu Machtinstrumenten avancieren, direkt auf die Ursprünge des anti-idolatrischen, monotheistischen Transzendenznarrativs zurückgeht. Ein Blick auf die Einbettung der sakralpolitisch fundierten und bildlich artikulierten Zeitfragen in die von der Figur eines Schöpfergottes bedingte Makrodimension der Weltanschauung – als eine Möglichkeit, die ganze Welt bildlich zu umspannen und darzustellen – wird die Natur des Bildersturms als eine jeweils auf die Eröffnung einer Neuzeit zielende Sinnstiftung aufzeigen. Diese Fundierung des bildlich zustande kommenden Anachronismus in kosmologischen Diskursen wird die vorliegende Studie als eine Referenz im Hintergrund mitführen. In diesem Sinne kann hier die Analyse gleichzeitig in zwei Richtungen erfolgen: Von einem barocken Bild ausgehend, wird sie zu kosmologischen Grundsätzen des Religionsnarrativs des Westens zurückkehren. Ausgangspunkt ist hier Jahwes Offenbarung von seiner Transzendenz gegenüber Abraham, der durch diese zu einem Astronomielehrer der Völker gemacht wird. Mit diesem Akt wird die erste Differenz – die zwischen Gott und Kosmos – etabliert und bereits lange vor der Gesetzgebung am Sinai und vor dem ägyptischen Bildersturm Christi eine Zäsur gesetzt. Dies ist der erste Moment, in dem die Welt zu einem begrenzten Körper erklärt wird durch einen Gott, der sich, selbst grenzenlos, außerhalb dieser Welt befindet – der Moment, in dem sich der sichtbare Himmel als eine von ihm gemachte geschichtete sphärische Hülle erweist und nach dem die Bilder ihrer verkörpernden Rolle beraubt werden wie auch die Zeit die Unabwendbarkeit ihrer eigenen Auf lösung widerspiegelt. Auf einem in einer carravagesken Manier der pittori tenebrosi gemalten Bild von Antonio Zanchi, das sich heute in der Sakristei der Kirche S. Maria del Giglio (Zobenigo) in Venedig befindet und auf ca. 1665 datiert ist, wurde Abraham als Astronomielehrer bei den Ägyptern dargestellt (Taf. 7). In der Mitte sitzend, erläutert er anhand eines großen Himmelsglobus die sphärische Begrenztheit des Universums. Seine Zuhörer reagieren unterschiedlich auf die demonstrative Verkündigung: Ein Gelehrter beziehungsweise Priester wendet sich mit einer vorsichtigen Geste direkt an den Lehrenden, zwei Zuhörer in der Mitte der Komposition wundern sich, weitere zwei auf der rechten Seite des Bildes versuchen die Lehre mittels einer astrologischen Tafel, die die neue Teilung zwischen Gott und Welt durch Zeichen (Zodiakzeichen?) erklärt, und eines Astrolabs, mit dem das Sphärische des Globus ins Planimetrische

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übersetzt wird, anzuwenden. Wesentliche Bedeutung hat allerdings die Aktion des über sie gebeugten Gesellen, der in der linken Hand ein Blatt Papier mit dem ptolemäischen Schema der geozentrisch gebauten Welt hält 4 und mit der rechten Hand eine deiktische Geste direkt gen Himmel macht – auf das Undarstellbare jenseits des Bildes. Damit erweist sich in dieser Situation die Astronomie als erstes religiöses Erkenntnis- und Überzeugungswerkzeug, mit dem die Aufklärung der polytheistischen Völker Ägyptens angestrebt wird. Astronomie, die den Sternen Namen gibt und deren Gesetze verkündet, gleicht somit einer Lehre der absoluten göttlichen Souveränität. Das Jenseits des Bildes entspricht dem Jenseits des Denkens: Die Tafel, die die neue Differenz durch Zeichen erklärt, genauso wie das Astrolab, mit dem der Himmel mittels Sternenkartografie berechnet wird, erscheinen hier als Instrumente einer notwendigen Übersetzung. Die spezifische Kapazität des Himmelsglobus, die ganze Welt fiktiv von außerhalb – jenseits ihrer sichtbaren und denkbaren Grenzen – sehen zu können, wird hier in die Zeit der allerersten Konversion des ägyptischen Volkes vor dem israelitischen Exodus unter Moses Führung anachronistisch zurückprojiziert und im Sinne einer Ur-Evidenz der monotheistischen Transzendenzlehre als ›zivilisatorischer‹ Prozess gezeigt. Das Thema der Darstellung rekurriert auf verschiedene Fragmente der judeo-hellenistischen Überlieferung zu Abraham als Astronomie-, Astrologie- und Arithmetiklehrer in Ägypten, nach der dieser seine chaldäische Heimat in Mesopotamien verlässt, um das neue Wissen zu verbreiten. Das Bild geht höchstwahrscheinlich auf die gut tradierte Erzählung zurück, die sich bei Josephus Flavius in dessen Jüdischen Altertümern (1.8.2.) aus dem Jahr 93/94 findet und in der die astronomischen Kenntnisse Abrahams mit seiner biblischen Wanderung nach Ägypten in Verbindung gebracht werden. 5 Verschiedene auf die Quellen des 2. Jahrhunderts zurückgehende Berichte von jüdisch-hellenistischen Autoren in den sogenannten Abraham-Büchern aus dem 2. Jahrhundert, 6 die gleichzeitig auch in andere Schriften, wie die des griechischen Astronomen Vettius Valens, in Alexandrien Eingang fanden und auch in spätere römische Werke, so etwa von dem im Nachhinein zum Christentum konvertierten Astrologen Iulius Firmicus Maternus im 4. Jahrhundert, wurden mit diesem Motiv wieder aufgenommen und weitertradiert. 7 Die Erzählung über die siderischen Kenntnisse Abrahams wurde zugleich im Kontext der alttestamentlichen Überlieferung verortet, in der der durch den Schöpfergott eingeleitete und kommentierte Blick in die kosmische Ferne den ersten chaldäischen Transzendenzlehrer von der Notwendigkeit des epochalen Neuanfangs im Sinne einer protogenealogisch geprägten Zukunftszuwendung überzeugte:

4 Zur Bedeutung der in Bildern der Wissenschaftler abgebildeten astronomischen Schriften und Diagramme siehe u. a. Häfele 2013, S. 110 – 162. 5 Reed 2004, S. 119 – 158. 6 Leicht 2006, S. 11 – 17. 7 Ebd.

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Und Abram sagte: Siehe, du hast mir keine Nachkommen gegeben; so wird mich mein Haussklave beerben. Aber siehe, das Wort des Herrn erging an ihn: Nicht er wird dich beerben, sondern dein leiblicher Sohn wird dein Erbe sein. Er führte ihn hinaus und sprach: Sieh doch zum Himmel hinauf und zähl die Sterne, wenn du sie zählen kannst! Und er sprach zu ihm: So zahlreich werden deine Nachkommen sein. Und er glaubte dem Herrn und das rechnete er ihm als Gerechtigkeit an. (1. Mose 15,3 – 5). Die Zahl der Sterne bildet hier im Sinne einer panoramatischen Projektion ein direktes Versprechen der Zukunftssicherung. Abrahams Anerkennung des Alleinstellungsmerkmals von Jahwe ist allerdings Resultat eben dieser Möglichkeit, die Vielzahl und Irregularität der Sterne vor Augen zu führen. Denn gerade im Kontrast zu diesen bewahrt der zu Abraham persönlich sprechende Gott seine transzendente Stellung – die Gründung des Monotheismus ereignet sich in seiner fundamentalen Differenz zur unermesslichen Weite, in der doch unregelmäßig einzelne Gestirne anzutreffen sind und die sich als ein geschlossenes und nach dem Willen des Schöpfers geordnetes Rahmensystem ausweist. 8 Diese Relation, die uns später im Kontext der frühmodernen Naturevidenz im Bild noch beschäftigen wird, wurde zu einem Leitmotiv in historischen Glossen zur astronomischen Lehre Abrahams und avancierte ferner zu einem Argument in polemischen Schriften wie der von Maternus bereits christlich konzipierten De errore profanarum religionum von 346/350, in der der Autor die Instanz des transzendenten deus fabricator mundi aus seiner eigenen früheren astronomischen Schrift Matheses übernimmt (»per fabricatorem mundi deum, qui omnia necessitate perpetuitatis excoluit, qui Solem formauit et Lunam, qui omnium siderum cursus ordinesque disposuit«). 9 Maternus bezieht sich in seiner Apologie direkt auf die Sternenbeobachtung Abrahams während dessen Wanderung in der Wüste und deutet sie christologisch: Aber Gott hatte dem Abraham ein Reich glänzender als des Himmels Sterne versprochen. Deswegen empfing, aus dem Geschlechte Abrahams entstammend, Maria, die Jungfrau Gottes, damit die Nachkommenschaft der oben genannten Männer mit dem Band unsterblicher Gemeinschaft verbunden würde, damit das Menschengeschlecht so durch einen Menschen und zugleich durch Gott in gleichmäßig geschaffenem Bündnis zum Reich der Unsterblichkeit durch das Verdienst des Gehorsams gelange. 10 In Zanchis Bild wurde Abraham allerdings nicht in seinem Wüstenzelt und nicht nur als Lehrer, sondern in der Pose eines Wissenschaftlers dargestellt, die dem barocken Betrachter durchaus vertraut war. Wie ist diese zu deuten? Wenn wir auf die vergleichbare demiurgische Geste von Johannes Vermeers berühmtem Astronomen von 1668 (Taf. 8) schauen, der imstande ist, die Welt von außen an einem Modell zu betrachten, sehen wir in ihm zuerst

8 Reed 2004, S. 123 – 124; vgl. ebd., S. 129. 9 Firmicus, Matheses, VII. 1, 2. 10 Firmicus, De errore, XXV, 4. Vgl. Zu diesem Werk: Hoheisel 1971, u. a. S. 254 – 256.

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einen bewussten Beobachter. Zugleich sind in diesem Bild zwei Details bedeutsam. Zum einen ist das Buch auf dem Tisch – Adriaan Adriaanszoon Metius’ Institutiones Astronomicae Geographicae von 1621, das zu jener Zeit bekannte wissenschaftliche Kompendium der Sternenkunde – auf der Seite 109, am Anfang des dritten Kapitels, aufgeschlagen, wo von der göttlichen Inspiration als Grundbedingung für die Astronomie die Rede ist wie auch, nach der Überlieferung von Josephus Flavius, von Set (Seth), dem dritten Sohn von Adam und Eva, als Begründer des siderischen Wissens. 11 Zum anderen erkennen wir in dem an der Wand hängenden Gemälde die Szene von Moses Auf findung. Dieses Gemälde macht deutlich, wie prägend Abrahams Bund für die Herausbildung von weiteren zeitlichen Zäsuren als biblischer Topos ist, und gibt darüber hinaus Hinweise zu der Rolle der Bilder in diesem stets als gemeinschaftsbildend kultivierten Neuzeitparadigma als Entfremdungsnarrativ. Die Bilderfrage erweist sich als fundamental für die ontologische Differenz zwischen Welt und Gott, zwischen Zeit und Ewigkeit, von der alle Neuzeit-Formate ausgehen werden: Das von Vermeer im Hintergrund dargestellte Gemälde bildet eine narratologische Entsprechung zur Geste des Astronomen, die eine Bestätigung von Abrahams Bund in der wissenschaftlichen Empirie liefert, indem das Kategorische der am Himmelsglobus sichtbar werdenden Außerweltlichkeit Gottes mit einem Hinweis auf die legislativen Folgen dieser universalen Unterscheidung verbunden wird. Denn die Geschichte von Abrahams Vermächtnis ist wieder in einem sehr fragilen Moment des alttestamentlichen Narrativs eingebettet, in dem sich die Grundfrage der Legalität der Bilder entscheidet. Auf dem Berg Sinai, nach der Verleihung des Gesetzes, ahnt Mose das Ausmaß des durch die unten auf ihn wartenden Israeliten initiierten Kultes vom Goldenen Kalb noch nicht und führt im Gespräch mit Jahwe den einstigen Treuhand-Bund Abrahams als Beschönigung der Schuld seines Volkes an, bevor er hinabsteigt und selbst angesichts des geschmückten Kultbildes im Zorn die Gesetzestafeln vernichtet: Mose aber besänftigte den Herrn, seinen Gott, indem er sagte: Wozu, Herr, soll dein Zorn gegen dein Volk entbrennen, das du mit großer Macht und starker Hand aus dem Land Ägypten herausgeführt hast. Wozu sollen die Ägypter sagen können: In böser Absicht hat er sie herausgeführt, um sie im Gebirge umzubringen und sie vom Erdboden verschwinden zu lassen? Lass ab von deinem glühenden Zorn und lass dich das Unheil reuen, das du deinem Volk antun wolltest! Denk an deine Knechte, an Abraham, Isaak und Israel, denen du selbst geschworen und gesagt hast: Ich will eure Nachkommen zahlreich machen wie die Sterne am Himmel, und: Dieses ganze Land, von dem ich gesprochen habe, will ich euren Nachkommen geben und sie sollen es für immer besitzen. (2. Mose 32,11 – 13). Im Rahmen der Teleologie der monotheistischen Gesetzeskraft erscheint somit Abrahams Bund am Himmelsglobus als eine im Sinne einer historischen Legitimation anachronistisch 11 Vgl. Weber 1998, S. 294 – 307, hier: S. 303 – 304.

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ex post abrufbare und dazu unumkehrbare Idolenbewältigung. Mit der kategorischen Abkoppelung der Welt von ihrem transzendenten Schöpfer wurde der erste Nachweis seiner ontologischen Distanzierung geschaffen, die über das sichtbare firmamentum hinausreicht. Die Endlichkeit dieser Welt – eines begrenzten sphärischen Gebildes – wird dadurch nachgewiesen, und somit werden auch die allerersten Grundlagen für das Motiv der Weltverachtung – contemptus mundi – etabliert. 12 Die erschaffene Welt als gemachtes Bild, dessen Materialität und Endlichkeit sich durch die Entfernung von dem Demiurgen erklären und sich schließlich in aus Metall gegossenen Bildern – Kopien des Sterblichen – am deutlichsten verwirklichen. Die Metamorphose, die das am Fuße des Berges Sinai aus mitgebrachten Kostbarkeiten gefertigte Goldene Kalb vollzogen hat, situiert Bilder am Ende der seit Abraham bestehenden und mit Moses Mission erneuerten ontologischen Kette. In ihnen wird nicht nur Hochmut und alternatives Herrschaftskapital, sondern vor allem der gegenüber einem eifersüchtigen Gott vergeblich erhobene Anspruch der formbaren Materie auf Selbstbestimmung, ein Versuch der Relativierung der Schöpfung lokalisiert. Bereits der himmlische Bund Abrahams selbst war eine direkte Konsequenz seiner Entscheidung, die Treue gegenüber seinem neuen Gott eigenhändig durch eine bilderstürmerische Aktion zu verkörpern: Nachdem er von Jahwe aufgerufen worden war, sein Land und seine Familie in Richtung Ägypten zu verlassen (1. Mose 11 – 12), zertrümmerte er die von seinem Vater Terach hergestellten und verkauften Idole, um die Sinnlosigkeit ihrer Verehrung bloßzustellen. Dafür vom König Nimrod zum Scheiterhaufen verurteilt, überlebte er – anders als die Bilder – in diesem wundersamerweise drei Tage lang. 13 Dadurch gewann er neue Anhänger für den zum Exil zwingenden alleinherrschenden Jahwe und war bereit, für diesen später auch seinen eigenen Sohn zu opfern. Da das während der Wanderung stattfindende astronomische Auseinanderdividieren von Gott und Welt in Abrahams erstem Bund eine Unterscheidung zwischen dem absoluten Außen und dem begrenzten Innen, eine Differenzierung von wahr und falsch, unendlich und endlich mit sich bringt, besiegelt es lange vor den Ereignissen am Berge Sinai die universale Exklusivität Gottes als Grundstein des neuen Monotheismus. Dieses Moment ist ein Moment der abrahamitischen Unterscheidung: Sie bildet die notwendige raumtechnische Vorbedingung aller darauffolgenden Teilungen zwischen dem Profanen und dem Heiligen, dem ›Heidnischen‹ und dem Gottgefälligen, dem Bild und dem Bildlosen, dem Anderen und dem Selbst.

12 Siehe u. a; Kiening / Eichberger 1994, S. 409 – 457; Schlette 1961. Darüber hinaus Kern 2009 und Hinz 2003, S. 83 – 104 (zur allegorischen ›Verweiblichung‹ der Vergänglichkeit). 13 Midrash Rabbah, Gen., 38,13. Abraham verdammt hier die Idole aufgrund ihrer Temporalität: ihr Kult wird illegitim, da sie lediglich menschliche Produkte des Tages sind. Letztendlich, nach der Zerstörung, verweist er bei der Ankunft seines Vaters spöttisch auf die vermeintliche Aktivität der Idole: das größte von ihnen soll die anderen im Streit um die dargebrachten Opfergaben mit einem Stock geschlagen und zerbrochen haben. Vgl. Nathan 2002, S. 470 – 472; Latour 2002, S. 37 – 39.

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Denn später am Sinai, wo Jan Assmann die mosaische Unterscheidung lokalisiert, 14 zeigte sich die irdische Konsequenz der ersten astronomischen Teilung. Mit dem neuen legislativen Narrativ der dem Volksführer Mose verliehenen Gesetzestafeln wurde die Frage der herrschaftlichen Gewalt direkt mit dem Problem der Sichtbarkeit und Bildlichkeit in Verbindung gebracht und am Goldenen Kalb, als Vorzeigeobjekt der Untreue, überprüft. Die Verehrung des Goldenen Kalbes erscheint in diesem Kontext als eine Widerstandsgeste gegen die Verheißung der neuen universellen Verhältnisse des Monotheismus, die bereits bei Abrahams Bund aufgekommen war. Die Verknüpfung von astronomischer Teilung, exklusiver Gesetzgebung und legalisierter Bildzerstörung, so wie sie sich im Narrativ, das von Abrahams Bund bis zum Konflikt am Fuße des Sinaiberges reicht, findet, kreiert ein Muster des die Welt entfremdenden Imperativs. Im Fall Abrahams ist es die universale Dimension der Unterscheidung, mit der die Welt an Größe verliert und Grenzen erhält. 15 Im Fall Mose findet im Namen dieser Differenz bereits die Gesetzesverleihung statt, die die irdischen Völker mit Gewalt unterteilt: in treue Verehrer Gottes und abtrünnige Anhänger von Idolen. Die christliche Weiterführung dieses Topos manifestiert sich konsequent in dem Fall der ägyptischen Götterbilder im Moment der Flucht Christi mit seiner Familie nach Ägypten: Als ›illegale‹ Verformungen der irdischen Materie können sich diese Götterbilder der Verkörperung von Transzendenz in Menschengestalt, dem fleischgewordenen Wort, nicht entgegenstellen. Anders als Jahwes für die Mission bestimmter Erstgeborener, der schließlich nach 33 Jahren durch seine Himmelfahrt alle kosmischen Distanzen wie auch die äußere Grenze der sphärischen Welt selbst überqueren wird, können Idole die Natur nicht überlisten. Wenn also auf dem Bild von Antonio Zanchi die Transzendenzlehre mittels eines astronomischen Modells des Himmelsglobus zu einem Wissensverfahren stilisiert wird, erscheint ein interessanter Konnex von bildlicher Evidenz und Legalität des Bildersturms. Aus der christlichen Perspektive, in der dieses Gemälde eindeutig zu verorten ist, lässt sich diese Lehre, die Ägypten in eine lediglich monumentale Akzidenz der Geschichte auf dem Weg ihrer Erfüllung im Christentum verwandelt, zugleich im Sinne einer Geschichte der angeblich verlorenen historischen Chance einer zivilisatorischen Aufklärung bezeichnen: Wäre die durch Abraham vorgezeigte räumliche Trennung der Welt durch ihren fabricator bei den Ägyptern angekommen, hätten die Idole bei der späteren Flucht Christi nach Ägypten gar nicht auseinanderfallen müssen. Im Hinblick auf solche teleologischen Eigenschaften des Bilddiskurses kann Zanchis Gemälde als künstlerische Umsetzung einer monumentalen Frage betrachtet werden: nach den monotheistischen Ursprüngen des astronomischen Narrativs und nach dem theologischen Sinn des Neuzeitparadigmas. Dieser Konnex erwies

14 Siehe Kap. 1, Anm. 58. 15 Der Größenschwund der Welt findet sein Äquivalent in der Hervorbringung des »abrahamischen Ich« in der zu einem »empathischen Individualismus« führenden Vorstellung eines unsichtbaren Gottes, der nicht aus dem menschennahen Mythos hervorgeht; siehe dazu die Kommentare von Jan Assmann zu Thomas Manns Josephsromanen: Assmann 2006b, S. 172 – 187, hier: insbes. S. 177.

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sich folglich für die Entwicklung der Astronomie genauso als bindend wie für die Produktion der Bilder, deren Aussagekraft dieser allerersten Trennung zwischen Gott und Welt im Sinne eines normativen Entzugs untergeordnet blieb und an deren Verneinung, Unterwerfung und Entmündigung die teleologische Relevanz von zeitlichen Umbrüchen gemessen wird. Die Verbindung zwischen der abrahamitischen und der mosaischen Unterscheidung, so wie sie auch in Vermeers Bild subtil angedeutet wird, lässt somit aus der astronomischen Übergröße der Transzendenz eine Geschichte der Treue sich entfalten. Die dogmatisch auf Neuanfang setzende christliche Geschichte erklärt konsequent die nachantike Welt zu einer Welt in adventu, zu einer zeitlosen Form des irdischen Überganges, dessen hohe Schwellen sich nicht chronologisch, sondern typologisch auffassen lassen. Die Vernichtung der Idole in Ägypten durch Christus auf seiner Flucht aus Judäa lässt die chronikalische Zeit der historisch nachweisbaren und archäologisch dokumentierten res gestae innerhalb eines Gesamtkonzepts wahrnehmen, in dem die Akzente nicht auf die Rekonstruktion der Ursprünge der Gegenwart, sondern auf die Prospektivität des seit jeher institutionalisierten Heils im ersehnten Jenseits gesetzt werden. In diesen Rahmen passt sich ebenfalls die Spanne zwischen Mittelalter und barockem Zeitalter ein, insofern diese beiden zeitlichen Pole in der politischen Deutung der Heilsgeschichte durch weitgehende und facettenreiche typologische Verhältnisse innerhalb einer ausgedehnten Zeitschiene der sehr spezifisch verstandenen Nachträglichkeit – nach der Abschaffung der Idole – verbunden wurden. Die faktische, wahrnehmbare Realität – alles, was nach dem ägyptischen Fall der Idole stattfindet – wird augenblicklich zur Vergangenheit und kann programmatisch als solche verstanden werden. Die einzelnen Abschnitte dieser langen Vergangenheit lassen sich einerseits dokumentieren – es sind die medii aevi, es ist die humanistisch-neoplatonische ›Wiedergeburt‹ der Antike, es sind die Jahre des ›Fremdkörpers‹ Häresie und der gestörten göttlichen Ordnung oder schließlich die Epoche der kämpfenden und triumphierenden barocken Kirche mit ihrer Dynamik der klaren politischen Gegensätze. Andererseits spricht die Möglichkeit der typologischen Überbrückung zwischen diesen chronologisch voneinander entfernten Epochen dafür, dass die Zeitlichkeit an sich, in Hinsicht auf die versprochene Teilnahme an der endgültigen glorreichen Erfüllung – Christi Parusie –, bereits im irdischen Gang der Geschichte überwunden wurde. In diesem irritierend verflüssigten Zeitrahmen verliert auch die ekklesiologische Grenze zwischen militans und triumphans der nachtridentinischen Kirche an Schärfe. 16 Ebenfalls fällt die klare Unterscheidung zwischen den einzelnen Modulen der immer fortschreitenden Vergangenheit, dieser sich ex post erstreckenden und als solche wahrnehmbaren heilsgeschichtlichen Werdung, immer schwerer. Dementsprechend wird der mit der christlichen Inkarnation Gottes zusammenhängende Fall der Idole als zeitliche Grenze und zugleich als ontologische Zäsur betrachtet. Das Ereignis der allerersten Bewältigung des ›Heidentums‹ durch die in die Welt hineingeborene Transzendenz wirft also einen langen Schatten. Für die Etablierung der heilsgeschichtlichen Schwellen 16 Vgl. Dombrowski 2003b, S. 340 – 392.

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von Abrahams Bund und Moses Gesetzestafeln war die Situation des Exils maßgeblich. Die ikonoklastische Geste Christi benötigte die gleiche Krise der Entfremdung: Die christliche Zeitlosigkeit begann in Ägypten. * Verfolgen wir die Konstruktion dieses zeitlichen Umbruchs anhand einiger Bildbeispiele, in denen nicht direkte Abbildungen des Bildersturms, sondern die Abwesenheit des Idols als ein historisches Axiom über die Bildregie entscheidet. Der niederländische Maler Joachim Patinir malte eine von mehreren Versionen des Themas »Flucht nach Ägypten« (Taf. 9) in den Jahren 1516/1518, das heißt zu der Zeit, als in Wittenberg Martin Luther seine reformatorischen Thesen ankündigte. 17 Das recht monumentale Gemälde befindet sich heute im Museo del Prado in Madrid. In diesem Bild materialisiert sich der komplexe Gedanke der Abschaffung der Idole in Ägypten während der Flucht der Heiligen Familie als eine klare Zäsur, die die Geschichte nur zukunftsorientiert deuten lässt. Um die Relevanz dieser Schwelle aufzuzeigen, wird die Deutung des Gemäldes von Joachim Patinir im Folgenden um die Interpretation von zwei weiteren Bildern von Adam Elsheimer und Vittore Carpaccio erweitert. Diese markieren mit ihrer rhetorischen Komplexität die Möglichkeiten der künstlerischen Gestaltung der monotheistischen Teleologie des Idolensturzes und bringen gleichzeitig die frühmoderne christliche Bezugnahme auf die Macht der Bilder deutlich auf den Punkt. Solch eine Visualisierung der im ersten Jahrhundert der Frühen Neuzeit formulierten christlichen Bildtopoi wird es ermöglichen, die systematische Produktion der Geschichte im Barock als ein gezielt anachronistisches Verfahren zu sehen, das nicht nur in einem (bild-)theologischen und historiografischen Diktat durchgeführt wurde. Vielmehr wurde dieses Verfahren größtenteils durch eine Verankerung der bildlichen Typologien in unterschiedlichen apologetischen Projekten des Mittelalters vorbereitet. Ein repräsentativer Querschnitt durch die Problematik der (ur-)christlichen Zeitlichkeit in Bildern erweist sich daher als grundlegend für die kritische Erforschung der sakralpolitisch auf der Basis des Antagonismus konstruierten Kontinuitätslinie zwischen zwei auseinanderliegenden Epochen. Mit jedem der drei im Folgenden vorgestellten Bilder kommt die Frage nach der teleologischen Verbindung zwischen Konflikt und Sukzession auf. Die rastende, auf einem kleinen Hügel direkt vor dem Betrachter sitzende Madonna mit Kind wurde von Joachim Patinir im Zentrum des Bildes dargestellt, umgeben von einer detailreichen Darstellung der Landschaft, die eine Anschauung von dem gibt, was die Kunstgeschichte schon lange als »Weltlandschaft« bezeichnet. 18 Im Hintergrund sind weitere 17 Maßstab des Bildes: 121 x 177 cm. Laut dendrochronologischer Untersuchung hat Patinir das Bild in den Jahren 1518/1520 gemalt, die Provenienz ist unbekannt. Vgl. Vergara 2007, S. 192; siehe ebd., S. 182 – 193; Falkenburg 1988. Vgl. Silver 2006, S. 31 – 33; Schwartz 1975, passim, wie auch lediglich beschreibend Knaap 2017, S. 73 – 74. 18 Zinke 1977, wie auch Mostafawy 1998, S. 117 – 133; Gibson 1989; Wolf 1984, S. 109 – 122. Vgl. Helas 1999, S. 31 – 49, und Thielemann 2014, S. 125 – 165 (hier auch weitere Literatur).

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Szenen zu sehen: Zur linken Hand findet sich eine Stadtansicht mit zwei deutlich sichtbaren, von dem Turm eines Tempels fallenden goldenen oder bronzenen Idolen und einer Szene der Anbetung eines weiteren, animalisch aussehenden ›Götzen‹. Zur rechten Hand wird die sogenannte ›Kornfeldlegende‹ gezeigt, eines der wundersamen Ereignisse, die während der Flucht der Heiligen Familie und ihrer Verfolgung durch Söldner Herodes stattgefunden haben soll: Laut dieser Erzählung, die mindestens seit dem 13. Jahrhundert literarisch überliefert ist und europaweit rezipiert wurde, soll ein plötzlich gewachsenes Getreide die Knechte, die bereits in der Nähe der Familie waren, von der weiteren Suche abgehalten haben. Ein Bauer, der gefragt wurde, ob und wann die Familie von Christus vorbeigekommen wäre, antwortete, dass sie das Feld durchquert hatte, als er noch mit dem Säen beschäftigt war. 19 Zwischen dem bereits hochgewachsenen Getreide und der sitzenden Madonna ist im Bild ein graues Feld zu sehen, auf dem mithilfe einer von einem Esel gezogenen Egge der Boden kultiviert und von einem Sämann mit Saatgut bestreut wird. Ebenfalls im Hintergrund schließt die Szene des bethlehemitischen Kindermordes den historischen Kreis der Parallelereignisse. Diese Gleichzeitigkeit der Szenen gewinnt an Relevanz, sobald man sie nicht mehr als eine Zusammenfügung von zeitlichen Sequenzen ansieht, sondern als einen argumentativen Rahmen, in dem verschiedene metaphorische Ebenen im Bild synchronisiert werden. Die bildliche Historisierung der apokryphen Wundererscheinung des Kornfeldes, die als storia direkt in eine dem Betrachter vertraute bäuerliche Landschaft eingebettet wurde, entspricht der natürlichen Offensichtlichkeit der im Bild gerade im gleichen Moment im Hintergrund fallenden Idole, und als solche wurde sie auch mit der Geschichte des Kindermassakers als gleichzeitiges Ereignis parallelisiert. Die Natürlichkeit und Ausgewogenheit der Gesamterscheinung dieser Szenen verleiht dem Bild – trotz ihrer offensichtlichen Dramatik – einen idyllischen Eindruck. Dieser ist nicht nur der Darstellung der rastenden Heiligen Familie zu verdanken, sondern hängt mit der theologisch zu deutenden Natur der Historizität des evangelischen Idolensturzes zusammen. Die stille Idylle als Bild einer Zeit täuscht nicht, denn alles, was in Patinirs detailfreudigem Bild bis in die kleinsten rustikalen Finessen beobachtet werden kann, resultiert aus einer bereits geschehenen, endgültigen Zäsur, welche die Zeit relativiert und diese bereits jenseits der Chronologie auf der Ebene der Verheißung still verlaufen lässt. Diese Zäsur erfährt der Betrachter des Bildes als eine unwiderruf liche Schwelle des Vergangenen: Sie wurde auf einem Felsen direkt rechts neben der ihr Kind stillenden Maria versinnbildlicht. Anders als in den meisten mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Darstellungen des ägyptischen Idolensturzes wurde in diesem Gemälde nicht der Vorgang der Vernichtung, der effektvolle Fall einer tristen Standfigur eines ›Götzen‹, sondern bereits die Zeit danach visualisiert: Auf einer steinernen Kugel, die auf dem Felsen angebracht wurde, sind – wenn auch nur mit Mühe – die kleinen Füße eines goldenen Idols zu erkennen.

19 Einen Überblick über die Legende und ihre Ikonografie bieten Koneˇcný 2005, S. 24 – 28 und Mostafawy 1998, S. 58 – 59. Vgl. Augustyn 2005, S. 95 – 96 und Abb. 11 auf S. 88.

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Die Figur selbst ist im Bild gar nicht mehr zu sehen. 20 Diese Spur fasst die Abschaffung des ›Götzen‹ als abgeschlossene Tatsache, anstatt einen spektakulären Sturz als laufenden Prozess vor Augen zu führen. Die stille Evidenz der Wirksamkeit der vernichtenden Kraft überragt die gewöhnliche narrative Zurschaustellung ihrer Einsetzung. Diese erzählerische Verschiebung erklärt das Bildmedium – Patinirs Tafel – selbst zum Mittel der Bewältigung, denn gerade in diesem Medium wird dem erstgefallenen Idol kein Platz mehr eingeräumt. Die ›heidnische‹ Figur entzieht sich der gemalten Landschaft als ein fremdzeitliches Gebilde, das zu dem neuen, typologischen Aufbau der Sequenzen in dem umfassenden Panorama des Geschehens nicht mehr passt. Dementsprechend ist alles, was in der »Weltlandschaft« an der Grenze zwischen Judäa und Ägypten zu sehen ist, gleichmäßig in der Nachträglichkeit versunken, in der Zeit ›danach‹, nach dem Fall des Idols. Dies sollte zugleich als erster Schritt in die Neuzeit verstanden werden: Danach fallen sogleich die Idole der Stadt im Hintergrund, und mit ihnen fällt die alte Ordnung der ›heidnischen‹ Priester. Die nahezu nicht erkennbare, winzige Spur auf der steinernen Kugel, die sich als unscheinbares Detail rhetorisch versteckt, hat also eine monumentale Konsequenz. Als eine in die Absenz abgestürzte Figur – eine selbstreflexive Formel der Abschaffung eines Monuments, das memoriert, indem es verschwindet – zeigt das inexistente Idol nicht mehr seine verführerische Objekthaftigkeit, sondern verwandelt sich in eine rein zeitliche Kategorie. Die vor Augen geführte Aktualität der sprechenden Gewaltspur, die mit der Aufdringlichkeit einer inaktuell gewordenen Legitimation der alten Welt in die neue Zeit – die Zeit danach – durchschlägt, lässt die Vergangenheit prospektiv lesen, sie als eine Deutungsebene für die Zukunft verstehen, eine Zukunft, in der unausweichlich weitere Idole fallen werden, jene in der nahen Stadt und in allen weiteren Städten. Die Zerstörung der ›heidnischen‹ Bilder als eine zukunftsorientierte Investition ist besonders gut zu sehen, indem das zuerst gefallene, im Bild zu einer Absenzfigur erklärte Idol zu einer Gegenfigur des frontal vor den Augen des Betrachters gestillten Christkindes wird. Eikon und eidolon, der von der Mutter versorgte Säugling und das nur noch durch Spuren sprechende Idol – beide nebeneinander auf der gleichen Ebene, horizontal verbunden durch eine fingierte Bodenkulisse, das Kind verhüllt in den Falten des mütterlichen Kleides wie in einer textilen pyxis, 21 das Überbleibsel des Idols auf einem bearbeiteten Stück Stein, auf dem Kugelpostament –, beide Antagonisten dieses ungleichen Kampfes werden zu Grenzpfeilern unterschiedlicher Zeitlichkeiten. Retrospektion und Prospektion treffen bildlich direkt aufeinander und definieren durch ihre Auseinandersetzung erneut den natürlichen Gang der Dinge. Anstatt des Idols, dort wo es auf der bemalten Leinwand eigentlich auftauchen sollte,

20 In einer anderen von Patinirs Versionen des Themas (1515 – 1524, Berlin, SMPK) erscheint ein von einer Säule fallendes Idol direkt über dem Kopf der Maria mit Kind. 21 Zur Rolle von Maria als leiblicher ›Verhüllung‹ der menschgewordenen Transzendenz (»Vestis eum substantia carnis, et vestit ille te suae gloria maiestatis«) siehe u. a. Bernhard von Clairvaux, Dominica infra octavam assumptionis, S. 595 – 619; vgl. ebd., S. 621 – 646. Vgl. Rinke 2006, S. 94 – 95.

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entfaltet sich auf dem Stück Fläche die räumliche Perspektive eines offenen Ackers. Dieses Feld dient einerseits dazu, den sichtbaren Kontrast zwischen Saatzeit auf dem Feld und Erntezeit, rechts im Bild, deutlich zu machen, ohne die erzählerische Gleichzeitigkeit der beiden zu stören. Andererseits jedoch kommt die pikturale Relevanz des rauen Saatfeldes deutlich zum Vorschein, wenn seine Disposition auf der Oberfläche des Gemäldes zweidimensional, jenseits der mimetischen Tiefenerzeugung, wahrgenommen wird. Dann offenbart sich die Entgegensetzung der zeitlichen Dimensionen des Idols und des Christkindes allein auf der Ebene der Darstellung. Der Acker unmittelbar über den goldenen Füßen bildet den einzigen rauen und leeren Ort der Landschaft, die einzige Leerstelle in der sonst als vegetabiles Kontinuum dargestellten Natur. Direkt über den auf der Kugel verbleibenden Schmachrelikten der ›Götzenfigur‹ öffnet sich damit ein Loch, eine kontrollierte Wunde in dieser allpräsenten Natur, ein Ort in statu nascendi: ein landwirtschaftlich bestelltes Feld, auf dem gesät wird. Es scheint, als ob das ursprünglich auf dem Stein stehende Idol wortwörtlich durch die Kultivierung der Erde mithilfe der Egge aus dem Bild wegradiert worden wäre. Plausibel wird diese rein pikturale Ersetzung nur aufgrund ihrer sich aufdrängenden Korrespondenz mit dem theologischen Inhalt. Denn die Transformation im bestellten Feld ersetzt somit gerade die materielle Kondensation im Idol, und die Kontrolle über die natürlichen Kräfte substituiert die poietike techne einer mimetischen ›Götzenform‹ als ein passives, komprimiertes Sinnbild der alten Naturwahrnehmung. Dieses visuelle Loch, das durch Kultivierung in das Feld gerissen wurde, dieser geöffnete Boden kreiert ein postulatives Bild der Zukunft, bringt ein heilsgeschichtlich auf Erfüllung hin orientiertes System des Fortschritts zustande, eine dynamische Ersatzlösung für das Idol als lebloser Empfänger von Opfern. Während das kleine Kind als Verkörperung der in die Welt leiblich hineingeborenen Transzendenz gerade durch seine Ubiquität ab jetzt die zyklischen Kräfte des Wachstums, die Blüte-, Früchteund Erntezeit, auf ewig kontrolliert, endet die Existenz des Idols als von Menschenhänden geschaffenes Objekt im Moment der Entformung und Entmaterialisierung. Diese Polarisierung von Tod und Leben geht über die Natur des Duells Gott gegen Idole und über die strukturelle Kontrastierung von Monotheismus und polytheistischen Vorstellungen hinaus. Die Kontrolle über die Zeit der Natur, über die in langer Perspektive früchtebringende seminale Zeit, 22 zeigt sich in einer alles beherrschenden Transzendenz und einer im Moment der Geburt des Gottessohnes sich vollziehenden Paradoxie: Sie offenbart sich in jener Welt, über die sie zugleich erhaben ist. Damit zeigt sich eine deutliche Differenz zu dem ›heidnischen‹ Verständnis vom immanenten Eingriff des Göttlichen in die zyklischen Werke der Natur. Laut christlicher Überlieferung stürzten die ersten Idole in Heliopolis, in der Sonnenstadt, in der der ägyptische Kult des Schöpfungsgottes Hu blühte. Dieser ist Bevollmächtigter des höchsten Sonnengottes Ra, der wiederum direkt durch die Sonne verkörpert wird. In Helio-

22 Der Begriff der »seminalen Zeit« wurde von Michel Onfray vorgestellt: Onfray 1999.

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polis soll auch Abraham seine astronomische Lehre verbreitet haben. 23 Die Abschaffung der Idole des Sonnengottes erscheint in diesem Sinne als Beweis einer perfekten Alienation des christlichen Gottes als Schöpfer, der alle Himmelskörper samt der Sonne selbst aus seiner transzendenten Position heraus erschaffen hat und dadurch auch kosmologisch gesehen eine ultimative Kontrolle bewahrt. Sein Abstieg in die Welt im Moment der Inkarnation ist daher nicht mit einer ontologischen Minderung verbunden. Wie in den nächsten Kapiteln dieser Studie noch gezeigt wird, werden in den barocken Legitimierungsformen der christlichen Herrschaft und den daran gebundenen Strategien der Zukunftssicherung gerade aus dieser kosmologischen Differenzierung und aus der ubiquitären Zuschreibung der göttlichen Macht gravierende Konsequenzen gezogen. 24 Die an die Narration gebundene Gleichzeitigkeit von Saat- und Kornfeld überlappt sich in dieser Lesart mit einer endgültigen zeitlichen Unterscheidung zwischen der Vergangenheit des Idols und der Zukunft des ubiquitären und in diesem Sinne vor allem eucharistisch definierten Gottessohnes. Dabei entpuppt sich der geöffnete Acker als eine Figur der göttlichen Offenbarung im Kontrast zur Fülle des bereits wachsenden Kornfeldes, das mit seiner verhüllenden Dimension einer semantischen, allegorischen Deutung im Dienste der Apologetik, der wirksamen Verteidigung gegen Fremde dient. Um diese Produktivität des Kornfeldes summarisch zu fassen: Der Bauer kann den Verfolgern die Wahrheit sagen, ohne gleichzeitig die flüchtende Familie zu verraten, denn zwischen Wahrheit und Lüge ist plötzlich das Wundergetreide gewachsen, das, durch ein Absehen vom eigentlichen Wachstumszyklus, die Wahrnehmung der Zeit wie eine anachronistische Metapher verändert. Durch dieses Moment der Ambivalenz im Wunder entzieht sich die offene Fläche des bestellten Ackers der grausamen Realität des Kindermordes, einer rein linearen Realität, die mit der Flucht der Familie Christi die alte, sinnlose Zeit des weltlichen Herrschers Herodes verkörpert. Es handelt sich dabei wohl um eine in die apokryphe Präzedenz zurückprojizierte Vorform der

23 In der Überlieferung ist von Hermopolis oder Heliopolis (Matarae) die Rede – beide Städte waren Kulturzentren Ägyptens, in denen der Kult der Muttergöttin Isis mit dem kleinen Horus blühte; siehe dazu Mostafawy 1998, S. 57 (vgl. im Evangelium des Pseudo-Matthäus, 24 zu ägyptischen Priestern, die angesichts der Zerstörung ihrer Götterbilder durch Christus ihn als neue Gottheit zu verehren angefangen haben sollen). In Heliopolis wird ebenfalls die altägyptische Überlieferung zur Weltschöpfung lokalisiert – laut der an diesem Ort gepflegten Tradition soll der Sonnengott Atum-Re masturbiert und somit die ihm innewohnenen männlichen und weiblichen Kräfte vereinen, die übrigen Götter erscheinen und die Welt entstehen lassen haben, siehe dazu u. a. Tobin 1988, S. 169 – 183, hier: S. 175. 24 Vgl. Simon 1972, S. 302, zur Verwendung der solaren Rhetorik der Antike durch christliche Apologie, die mit dem Konzept Sol salutis, Sol invicta und Sol justitiae eine taktische Appropriation der Machtsymbole durchführte. Diese drückt sich am besten mit der Wahl des 25. Dezember (Wintersonnenwende) für die Geburt des Gottessohnes und des 25. Juni (Sommersonnenwende) für die Geburt seines (laut Lukas-Evangelium genau um diese sechs Monate älteren) Vorläufers Johannes des Täufers aus. Vgl. Leipoldt / Grundmann 1966, S. 87 – 89, wie auch Roll 1995. Grundlegend zur triumphalen Aneignung der Sonne durch das Christentum: Wallraff 2001 (v. a. S. 126 – 143 zur Entwicklung der solaren Topik in der konstantinischen Staatspropaganda).

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eucharistischen figura als verhüllende Erscheinungsform, die substantia von imago und res von sacramentum abgrenzt. 25 In diesem Sinne ist die facettenreiche Entfaltung der Landschaft in Patinirs Bild keineswegs nur ein ›Vorwand‹ für unterschiedliche Erscheinungen des »versteckten Symbolismus«, so wie es die ältere und auch neuere Forschung zu diesem Maler einschätzt. 26 Max Friedländer analysiert beispielsweise die Neuartigkeit von Patinirs Landschaft lediglich im Sinne eines Mittels der malerischen Zusammenfügung von zeitlich entfernten Ereignissen: »Patinir spinnt die Erzählung gemächlich aus. Das zeitliche Nacheinander, das sich der Wiedergabe in einem Bild entzieht, wird als örtliches Nebeneinander eingeschmuggelt. Die Auseinanderlegung der Episoden, die möglich wurde – die Landschaft konnte ja weit und tief gedehnt und vielfach gegliedert, die Figuren winzig gebildet und versteckt werden – läßt das Beieinander weniger naturwidrig und primitiv erscheinen als etwa in Memlings prinzipiell ebenso gestalteten Tafeln mit der Passion Christi und den Freuden Mariä. Die Landschaft, wenn auch räumlich überwiegend, ist nicht Bildinhalt, sondern nur Schauplatz.« 27 Es lässt sich jedoch feststellen, dass die Natur in diesem Kontext nicht nur zu einem Mittel, sondern auch zum inhärenten Gegenstand der Argumentation wird. Als Gegensatz zu solch einem narrativen Formalismus ist das Diktum Max Dvoˇráks interessant, der die Landschaft als eine reformfreudige Formel der Deikonisierung des mittelalterlichen Bildes sah. 28 In Patinirs Bild geht es sicherlich um ein über die mittelalterliche Simultaneität der Ereignisse hinausgehendes Verhältnis zum neuen Genre der Landschaftsdarstellung. Allerdings, auch wenn das Bild zur Zeit von Luthers Sezession gemalt wurde, lässt sich dennoch die Frage stellen, ob in diesem Fall durch die Hervorhebung des Konzepts der christlichen Kultivierung der Natur die Landschaft selbst als malerische Wiedergabe der Umwelt eines Christen in den anti-idolatrischen Diskurs miteinbezogen wird und nicht wie in der These Dvoˇráks durch die Abschaffung der ikonisch-hieratischen Bezüge der in Bildern dargestellten Personen zugunsten einer offenen Landschaftsdarstellung. Die wunderbare Entstehung des Kornfeldes zwischen der erhellenden Wahrheit und der grausamen Verfolgung markiert den offiziellen Anfang der Allegorese in anachronistischer Überbrückung, ähnlich wie der Idolensturz das neue Zeitalter der Geschichte eröffnet, in dem die Historizität einer Allegorisierung untergeordnet wird. Ein eskapistischer Charakter der Metapher als vertikale Verhüllungsfigur wird dadurch erzeugt, dass die Flucht nach Ägypten selbst die Natur des Christentums symbolisch verkörpert – einer auf Apologie aufgebauten Religion, die in einem fremden Umfeld entstanden ist und daher ihre eigene Natur mit einer ständigen peregrinatio verbunden hat. 29 Auch im Gemälde Patinirs ist die 25 26 27 28 29

Dürig 1952, u. a. S. 14 – 47. Maderuelo 2012, S. 57. Friedländer 1986, S. 108. Vgl. Zinke 1977, S. 57 – 58. Dvoˇrák 1928, S. 214. Vgl. Zinke 1977, S. 53 – 69, insbes. S. 56 – 57. Vgl. Tertullian, De Corona Militis, 13, 4 (Christen als »peregrini mundi huius et ciuis ciuitatis supernae Hierusalem«).

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Umgebung still und dennoch nur scheinbar idyllisch. Wenn man dieses Panorama in seiner Ganzheit als Lebensumfeld, eben als eine ›Weltlandschaft‹ betrachtet, wird klar, dass die flüchtende Familie des Gottessohnes nicht nur getreu der biblischen Erzählung verfolgt wird, sondern auch von entfremdenden Elementen umgeben ist: von der Stadt der Idole, einem Bordell, einem seine Notdurft verrichtenden Mann, einer Sau mit ihren Ferkeln, einem seine Armbrust aufspannenden Jäger und schließlich einem grausamen Kindermassenmord. 30 Das einzige Element in dieser vollkommen feindlichen und keineswegs kindersicheren Umwelt, das mit einer Art metaphysischem Versprechen einhergeht, ist der kultivierte Acker. Die peregrinatio der Flüchtlinge, obwohl sie nach dem Tod des Herodes wieder in Richtung Judäa fortgesetzt wird, um nach 33 Jahren schließlich in Jerusalem zu kulminieren, findet in dieser malerischen Auffassung ihr Ziel in einem rohen Acker, als einem Ort der ersten onto- wie auch technologischen Bewältigung der Natur und der darauffolgenden Transformation von Realität. Nach dem Tod des Herodes befiehlt der Engel Joseph im Traum, mit seiner Familie nach Judäa zurückzukehren (Mt 2,19 – 20). Die mühelose Abschaffung der Idole in Ägypten spiegelt das natürliche Ende des Herodes als Stellvertreter des ›Heidentums‹ wider. Der um seine Macht fürchtende Konkurrent stirbt, seine in ihrem mörderischen Wahnsinn sich als machtlos erweisende Herrscherfigur versinnbildlicht die lineare, natürliche Zeit des ›Heidentums‹, die vergeht, damit die Herrschaft im Land des israelitischen Volkes durch die christliche Transzendenz übernommen werden kann. Der historische Herodes, der als Idumäer übrigens nach dem damaligen Recht keine jüdische Abstammung nachweisen konnte, der seine Macht in Judäa dem römischen Schutz verdankte und der für die ihm in Rom erteilte Königswürde mit einem dem Jupiter dargebrachten Opfer zahlte, 31 war bereits in mittelalterlichen Deutungen zu einem allegorischen Bindeglied zwischen den Zeiten geworden. Ihm wurde die Rolle eines historischen Exponenten zugewiesen, mit dem durch die Entmachtung des ›Heidentums‹ der Ägypter zugleich, wie in einem Spiegelbild, der jüdische ›Unglaube‹ angeklagt werden konnte. Durch die Flucht ins Exil, das Abwarten bis zum Tod des Konkurrenten, der sich erfolglos darum bemüht, den Christusknaben durch einen Massenmord zu beseitigen, entsteht eine Zwischenzeit, eine zeitliche Leerstelle, in der die inkarnierte Transzendenz in Person des kleinen Christus auf eine irdische Wallfahrt angewiesen ist. Wie Wolfgang Augustyn schreibt: »Christus lehrte durch die Flucht die Gläubigen, das Exil – die Welt – zu verachten, in der sie nur Pilger und Heimatlose seien (›peregrinos et exules in terra‹).« 32 In dieser zeitlichen wie auch topografischen Zwischenposition, die aus der Distanz des Exils 30 Carel van Mander bezeichnete Patinir bekanntlich sogar als »de Kacker«, da dieser mit solchen physiologisch markierten Figuren eines Mannes, wie er im Prado-Bild auch zu sehen ist, sich ein ironisches Markenzeichen geschaffen hatte (Onuf 2012, S. 242 – 243, vgl. Bartilla 2003, S. 6 – 10). 31 Zur historisch-politischen Dimension des Bethlehemitischen Kindermordes siehe u. a.: Münkler 1994, S. 80 – 92. 32 Zu dieser verhüllten Kritik durchs Exil: Augustyn 2005, S. 80 – 81. Vgl. zu »jüdischen Idolen«: Camille 1989, S. 165 – 194.

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der Heiligen Familie zur Vermittlung zwingt, kann ein Moment des missionarischen Selbstbewusstseins erkannt werden, in dem der erste historische Antagonismus, die Auseinandersetzung mit den Idolen in Ägypten, zu einem Spiegel wird, in dem sich die Notwendigkeit der Gesandtschaft Christi in Judäa und die Notwendigkeit seiner Rückkehr als zukünftiger König der Juden nach Jahwes Plan zeigt. 33 Der Sinn seiner Jerusalemer Passion erfolgt insofern auch teilweise a priori im Rahmen einer biografischen Teleologisierung: Christus erscheint wieder als einziger Überlebender des nur wegen ihm veranstalteten bethlehemitischen Pogroms an den jüdischen Kindern, was wiederum auf eine reziproke Art und Weise der wundersamen Intervention Gottes und der sich während der Flucht nach Ägypten im Sturz der Idole manifestierenden Kraft des Logos Glaubwürdigkeit verleiht. Diese vermittelnde Position des Topos des ersten Idolensturzes wird umso deutlicher, wenn die bereits im Mittelalter hervorgehobene typologische Symmetrie der Ereignisse wahrgenommen wird. In der Legenda aurea des Jacobus de Voragine erzeugt die Konkurrenz zwischen Christus und Herodes ein dynamisches Bedeutungsfeld, in dem teleologische Ziele in Form von historischen Angleichungen zum Ausdruck kommen. In dem den Kindern von Bethlehem gewidmeten Kapitel zitiert Voragine eine Passage aus dem alttestamentlichen Buch 2. Mose 13 zum Exodus als eine Präfiguration des von Herodes verübten Massakers und schreibt, dass »gleichwie bei dem Auszug der Kinder Israel aus Ägypten kein Haus war, in dem nicht die Erstgeburt tot lag, so war jetzt kein Tempel, es läge denn ein zerbrochener Abgott darinnen.« 34 Diese typologisch konzipierte, spiegelähnliche Symmetrie des Opfers – die Söhne Ägyptens und die Unschuldigen in Bethlehem –, die dazu zwingt, über einen verdrängten Gewissenskonflikt der neutestamentlichen Poetik zu denken, verdeutlicht den angestrebten Sinn der monotheistischen Inkarnation der Transzendenz in dem vom Pogrom erretteten Erstgeborenen (prototokos) und Einziggeborenen (monogenetos) von Jahwe. Die Flucht und das Exil als erste Ausdrücke ihrer möglichen Ubiquität, das anachronistisch wirkende Kornfeldwunder als Urtopos ihrer Verhüllung – gar eine bildhafte Verkörperung der substanziellen Referenz im eikon – spiegeln die Radikalität des furchtsamen Machthabers in Judäa wider: Er lässt in Bethlehem pauschal alle Kinder töten, die gemäß der Angaben der drei Magier unter zwei Jahren sind, wohlwissend, dass nur einer von ihnen der ›Konkurrent‹ sein kann. In diesem Sinne, um sein Machtmonopol beizubehalten, entscheidet er sich, einen lediglich scheinbaren Feind – die unschuldigen, in keine Heilsmission verwickelten Kinder – auszulöschen in der Hoffnung, dabei auch den erwarteten Feind beseitigen zu können. Eine Handlung, die angesichts der Erzählungen über den »neugeborenen König der Juden« (Mt 2,1) den exklusiven Anspruch auf die Regierung in Judäa gewährleisten sollte.

33 Vgl. Assmann 1992, S. 77 – 82, zum jüdischen Exodus aus Ägypten als Moment der Theologisierung des Politischen und zur Fundierung des israelitischen Monotheismus auf dem Widerstand gegen die ägyptische Staatsgewalt. 34 Voragine, Legenda aurea, S. 80 – 85 (hier: S. 81 – 82). Vgl. Mostafawy 1998, S. 57 – 58. Zum landesweiten Tod von ägyptischen Erstgeborenen beim jüdischen Exodus: Assmann 2015, S. 201 – 203.

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Die ermordeten Kinder dienen dementsprechend heilsgeschichtlich pauschal als die erste märtyrerische Metapher der Inkarnation der Transzendenz. Die von Jacobus de Voragine angedeutete Spiegelung zwischen den Unschuldigen aus Bethlehem und den ägyptischen Erstgeborenen positioniert die gleichzeitig fallenden ägyptischen Idole als eine den Letzteren angeglichene teleologische Scharnierfigur des notwendigen Opfers, mit der ein Ausgleich, eine Rundung der Geschichte gewährleistet wird. Der Hagiograph bezieht sich also im Kontext der zerstörerischen Aktion der beiden agierenden Protagonisten – Herodes und Christus – auf die Symmetrie des Widerstandes gegen eine andere Art der Verkörperung, gegen eine potenzielle, im Werden begriffene Gefahr. In diesem Versuch, die Verkörperung der Transzendenz als Bedrohung für die königliche Alleinherrschaft auszulöschen, und den Sturz von angeblich beseelten Idolen direkt miteinander gleichzusetzen, handelt sich um eine in gewissem Sinn kohärente Poetik des Antagonismus, in welcher der Kampf um die Alleinherrschaft – für die monotheistische Religion eine unabdingbare Voraussetzung ihrer Existenz – eventuelle Kollateralschäden als Mittel auf dem Weg zur Superiorität erscheinen lässt. Die innocenti werden in diesem Narrativ zu Opfern aufgrund ihres Alters und – wie die Erstgeborenen Ägyptens – ihrer Herkunft; die Idole, die in ihrer Passivität für die göttliche Transzendenz keine ontologische Realbedrohung darstellen, werden ausschließlich aufgrund ihrer Materialität und ihrer Eingliederung in die fremde Verwaltung irdischkosmischer Kräfte gestürzt, also ebenfalls wegen ihrer sich nicht überwinden lassenden Abstammung. Diese Materialität ist zwar nur von dieser Welt, aber auch in ihrer als Betrug angesehenen polytheistischen Diesseitigkeit ist sie mit der Einzigartigkeit der neuen, als wahrhaftig eingeführten Offenbarung von Transzendenz nicht kompatibel. Es lässt sich also wieder auf das erste hier besprochene Bild verweisen: die Verkündigung des Gesetzes und die Zerstörung des Goldenen Kalbes. Der eingeschriebene teleologische Automatismus, den man in der Geschichte der Tötung der Anhänger des spontan hergestellten goldenen Kultbildes sehen kann, zeigt sich ebenfalls als für die Kultur des Martyriums bindend, einer Kultur, in der die Entschlossenheit des sich für die Reinheit des Gesetzes Aufopfernden durch seine Einbettung in die Onto- und Eschatologie eines als absoluter Monarch definierten Gottes apriorisch vorgegeben wird. So wie nach der Zerstörung des Goldenen Kalbes dessen Anhänger vernichtet wurden, so vermag der Märtyrer diesen Vorgang auf eine christologische Art und Weise, durch seine Opferbereitschaft, umzukehren. In der Wiederholung der Schritte von Christus, der selbst die irdische Ordnung der Monarchie durchbrochen hat, um eine andere monarchische Präsenz zu verkörpern, verliert er sein Leben oftmals in Verteidigung der ratio seines eigenen, gegen fremde Bilder gerichteten ikonoklastischen Aktes und situiert seine Mission im Kontext eines göttlichen Rechts auf absolute Exklusivität. Ein Bindeglied zwischen diesen zwei Etappen der Ausführung des Gesetzes bilden die bethlehemitischen innocenti als unbewusste, aber dennoch teleologisch legitimierte Proto-Märtyrer: Die von Voragine zwischen ihrer Ermordung und der Auf lösung der Bildlichkeit in Ägypten erstellte Typologie hatte einen signifikanten Anteil an der Entwicklung der europäischen Vorstellungen von Fremdheit, und in einer längeren Perspektive

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wurde sie zum Bestandteil der sakralpolitischen Grundierungen von Macht als civitas terrena. Wie in den folgenden Kapiteln noch ersichtlich wird, spielte gerade dieses ambivalente Verhältnis zwischen Kind und Idol im Kontext der Superiorität eine wichtige Rolle in den barocken Typologien, in denen die Propaganda der leiblichen Fortsetzung von christlichen Herrscherdynastien wie auch mediale Identitätsstrategien der Märtyrergemeinschaft den Topos der Kindheit, der Familie und der Vater- wie auch Mutterschaft nutzten, um sich von den ›verräterischen‹ Idolen als vereinsamten Figuren des ›Unwahren‹ endgültig abzuwenden. In diesem Sinne ist das monotheistische Ausschlusskriterium der verkörperten Transzendenz als Antidoton gegen Idole ein Prüfstein für die kollektive Mythologie des Zusammenseins. Die Bilder werden stets einer missionarischen Prüfung auf ihr idolatrisches Potenzial unterzogen, damit die Rückkehr der alten Herrschaft und mit ihr der alten Zeit vor dem ersten Sturz der täuschenden ›heidnischen‹ Bilder – dem nach Sinai zweiten Auftreten des Gesetzes als Konkurrent des Bildes – im Voraus verhindert werden kann. Die Angst vor der Rückkehr der einst gefallenen Idole – als ein deutlicher Gegenpol zur apokatastatischen Rückkehr zur Transzendenz 35 – wird folglich zu einem relevanten Faktor der christlichen Bildproduktion. Die vermutete Tatsache, dass diese Täuschung immer aufs Neue hinter der künstlerischen Rechtgläubigkeit lauert, scheint Patinir selbst in seinem Bild dargestellt zu haben. Rechts von der steinernen Kugel mit den winzigen Anzeichen des bereits durch die Transzendenz gewonnenen Duells ist auf Höhe des abgeschafften Idols die ungewöhnliche Gestalt eines Esels zu sehen, der die Familie Christi auf ihrer Flucht begleitet. Dargestellt von hinten, in einer genauso untypischen wie meisterhaften Verkürzung, zeugt sie von den perspektivischen Fähigkeiten des Malers. Durch seine unzweideutige Position jedoch scheint der Esel – seit der Antike eine Figur der Dummheit, Sturheit, Faulheit und darüber hinaus der dionysischen Ekstase, Materialität und Sexualität – eine kritische Reflexion darüber anzuzeigen, wie stark und wie subliminal sich auch im christlichen Bild das Wesen eines verräterischen und mit seiner Animalität und unverschämten Nacktheit den Betrachter beleidigenden Idols einnisten kann. 36 * Da der Aufruf zur sofortigen Flucht Joseph im Traum ereilt, bot das Thema der nach Ägypten ziehenden Familie Christi den Künstlern ebenfalls die Möglichkeit, sich mit den nokturnalen Stimmungen auseinanderzusetzen und sie gegebenenfalls mit einer Symbolhaftigkeit der weltlichen obscuritas auszustatten. In der Kunst der Frühen Neuzeit ist diese Variante der biblischen Narration im Bild jedoch eher eine Seltenheit, da sie die Möglichkeiten der

35 Zur Aneignung und »Entpaganisierung« der kosmischen Apokatastasis der Pythagoräer und Platoniker durch die Universalität der frühchristlichen Eschatologie siehe: Ramelli 2013. 36 Interessanterweise bedeutet im Niederländischen das Wort »ezel« sowohl den Esel als auch die Staffelei eines Malers. Vgl. zur Nacktheit des Idols: Koneˇcný 2005, S. 54; Camille 1989, S. 87 – 101.

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Erzählung einschränkt und gerade dem typologischen Verhältnis der Transzendenz zum Idol und zur Natur relativ wenig Raum bietet. Die Herausforderung der dunklen Inversion der sichtbaren Welt hat jedoch im Jahr 1609 Adam Elsheimer mit einem deskriptiven Eifer aufgegriffen und die nächtliche Perspektive der nach Ägypten fliehenden Familie Christi (Taf. 10) zu einem Manifest des malerischen Weitblicks in die Natur umgearbeitet. Dieses kleine Gemälde – das letzte des Malers, das nach seinem Tod in seinem Studio gefunden wurde 37 – wird von der Kunstgeschichte vor allem wegen der vermeintlich von Elsheimer angestrebten astronomischen Korrektheit des abgebildeten Nachthimmels gefeiert. Über dem Lagerfeuer der Hirten, dem sich die peregrini et exules in terra annähern, entfaltet sich eine auf empirischer Beobachtung basierende Darstellung der Milchstraße; über dem Fluss, den die Heilige Familie gerade überquert hat, scheint der Mond, der sich in der Wasseroberfläche spiegelt. Es handelt sich um eine Szene zu Beginn der Flucht, kurz zuvor war Joseph der Engel erschienen und hatte ihm den Aufbruch ins Exil befohlen. Es gibt keine fallenden Idole, die nächtliche Idylle scheint auf den ersten Blick hier ihren Platz zu haben; die nach oben fliegenden Funken des Lagerfeuers vereinen sich mit den Sternen der zum ersten Mal im Bild angeblich völlig mimetisch sichtbar gewordenen Galaxie. So hat bisher die Kunstgeschichte dieses Bild gelesen. Keith Andrews, der in diesem Kontext einen irritierenden Begriff des transcendent realism verwendet, schreibt in seiner Monografie zu dem Werk: This painting can be interpreted, beyond its immediate theme as a demonstration of the nature reflecting the human situation. No other rendering of the Flight into Egypt conveys to quite the same extent the contrast between the fugitive Holy Family and the vast yet protective nature into which they have strayed, with the stars above and the promise of human contact with the group of shepherds round the fire, whom they are about to encounter. 38 Für die Befürworter des realistischen Charakters von diesem Bild hat Elsheimer ein Porträt der »puren Natur« gemalt, einen »wohl stimmungsvollen und naturwahrsten Nachthimmel der Kunstgeschichte«. 39 Die Abbildung der Konstellationen wurde von mehreren ForscherInnen zur künstlerischen Umsetzung der galileischen Entdeckungen durch das kurz zuvor erfundene Teleskop erklärt, in der der Sternenhimmel wegen seiner angeblichen Exaktheit zum finalen sichtbaren Ausdruck der Präsenz des christlichen Gottes avancierte, 40 obwohl

37 Maßstab des Bildes: 31 × 41 cm. 38 Andrews 1977, S. 37. 39 Dekiert 2005, S. 33 (vgl. weiter S. 34 – 35, wo sich eine Zusammenfassung der bisherigen kunsthistorischen Interpretationen zu diesem Bild findet). Vgl. Sauerländer 2010, S. 83 – 88. Diese kunsthistorische Einschätzung hat schließlich zu einer astronomischen Überprüfung des Gemäldes bei Gelegenheit der Ausstellung Outer Space im Jahr 2014 geführt: Kat. Bonn 2014, S. 49. Vgl. auch Hartl / Sicka 2005, S. 107 – 126. 40 Vgl. Thielemann 2008, S. 125 – 156; Klessmann 2006, S. 37 – 38.

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das Bild in Wirklichkeit auf der Grundlage von mehreren, während nächtlicher Beobachtungen erstellten Skizzen entstanden war, die sämtliche Sterne in unterschiedlichsten Verschiebungen am Himmel zeigen und das Gemälde wie eine Collage betrachten lassen. 41 Diese euphorische Zuschreibung, welche die himmlischen Konstellationen mit mimetischen Fesseln des abbildenden Künstlers bändigt und damit den Vorrang der empirischen Beobachtung als Grundlage der Bildlichkeit gewährleistet, lässt allerdings eine wichtige Tatsache in Vergessenheit geraten. Die Szene der nächtlichen Flucht der Heiligen Familie stellt eine Notsituation der verkörperten Transzendenz dar, die sich direkt in der Natur – in einem Menschenkörper – offenbart und wegen dieser Sichtbarwerdung nun verfolgt wird. Zum einen wird also in solch einer kunsthistorischen Gleichsetzung des Göttlichen mit dem Himmel das Grundphänomen der Inkarnation umgangen und auf eine romantisch-pantheistische Bahn umgeleitet. Zum anderen beseitigt diese angebliche Klarstellung des Himmels in Elsheimers Bild von vornherein die Frage, warum in diesem Bild keine Spuren des Antagonismus zwischen Christkind und Idolen zu finden sind. Hängt die Absenz der Idole in diesem Bild lediglich davon ab, dass die ägyptische peregrinatio gerade erst begonnen hat? Oder war das Thema für den mit Galileo Galilei befreundeten und in Rom verweilenden deutschen Künstler nur ein Vorwand, um eine nächtliche Szenerie ›realistisch‹ und ›stimmungsvoll‹ zu gestalten? In Elsheimers Bild werden trotz der Absenz der figürlichen Idole die zeitlichen Hürden mit einem durchaus starken Bezug auf den Idolensturz auf eine eloquente Art und Weise problematisiert. Mit der auf bildliche Beschreibung zielenden Darstellung der Milchstraße wurde auch der Mond relativiert, indem er mit den durch Galileos Fernrohr sorgfältig beobachteten Flecken als Evidenz seiner Unebenheit versehen wurde. 42 Dass dieser erdgebundene Satellit in den damaligen Diskussionen über die sakrale Potenz der astronomischen Gebilde zu einer Reflexfläche, einem Transmitter des sekundären Lichts der Sonne und der Erde wurde, scheint nicht nur durch diese in der Kunst zum ersten Mal dargestellten Flecken versinnbildlicht worden zu sein. Die dargestellte Spiegelung des Mondes im Wasser verkündet auch deutlich die Position eines nur reflektierenden Abbilds. Es handelt sich dabei um eine Relativierung der kosmischen Größe: Zwei Jahre nach der Entstehung des Bildes beginnt bekanntlich Christoph Scheiner, ein jesuitischer Astronom aus dem Ingolstädter Kollegium, die Sonnenflecken zu beobachten, um sie danach in seiner noch geozentrisch basierten Schrift Rosa Ursina sive Sol von 1626 – 1630 zu veröffentlichen und gleichzeitig mit Galileo Galilei, dem Autor des Sidereus Nuntius von 1610, den berühmten Streit um die Urheberrechte 41 So werden übrigens auch heutzutage durch Raumbehörden die Visualisierungen des Sternenhimmels anhand mehrschichtiger Überlappungen von den in unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Lichtspektren aufgenommenen Fotografien erstellt. 42 Galilei 1610, u. a. S. 5v: »ex quo deinde sensata certitudine quispiam intelligat, Lunam superficie leni, & perpolita nequaquam esse indutam, sed aspera, & inæquali; ac veluti ipsiusmet Telluris facies ingentibus tumoribus, profundis lacunis, atque anfractibus vndiquaque confertam existere«. Vgl. Bredekamp 2009, v. a. S. 104 – 113.

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dieser Entdeckung anzufechten. 43 So wie die Tatsache der Sonnenflecken die Sonne ihres göttlichen Idealzustands eines unbefleckten Himmelskörpers beraubt hat, 44 so wurde auch die Entzauberung des Mondes als ein Himmelskörper von unebener Oberfläche zu einem der wichtigsten Akte der Naturwahrnehmung der Frühen Neuzeit. Durch die Fleckigkeit des Mondes wurde die kosmische Natur zu einer Erscheinung unebener Einzelkörpern erklärt, im Kontrast zu den bisher beruhigenden Vorstellungen von idealen, kreisrunden, göttlichen Majestäten: Der Mond hat sich eben in seiner Diesseitigkeit gezeigt. Diese astronomischontologische Beobachtung führte dementsprechend zu einer Befreiung von dem Diktat des mittelalterlichen firmamentum als fester, makelloser Erscheinungsfläche eines Gottes oder mehrerer Götter, die früher für ›heidnische‹ Sternenbilder verantwortlich gewesen waren und deren Bedeutung mit den christlichen Vorwürfen gegen astrologische Bestimmungskulturen weitgehend zurückgedrängt wurde. 45 Dies bedeutete allerdings keineswegs eine Abkehr von der Bedeutsamkeit des Himmels für die theologischen Diskurse der Zeit, boten doch gerade die Mond- und Sonnenflecken eine neue Argumentationslinie, um sich mit dem Problem der ursprünglichen Reinheit und der Verunreinigung des Schöpfungswerks auseinandersetzen zu können. Die Frage der Zeit, verbunden mit dem Problem der sichtbaren Bewegung, war von der Frage der Vollkommenheit der kosmischen Körper untrennbar. 46 Die kunsthistorisch mittlerweile gut dokumentierte Wahrnehmung der astronomischen Evidenz in verschiedenen polemischen Bilddiskursen, vor allem in den Darstellungen des befleckten (maculatus) und somit der Reinheit beraubten Mondes unter den Füßen der siegreichen antiprotestantischen Immacolata, wie bei Lodovico Cigoli und Pieter Paul Rubens, scheint diese politisch motivierte, rhetorische Verschiebung deutlich beweisen zu können. 47 Abgesehen jedoch von den weitreichenden theologischen Konsequenzen der Entdeckung der 43 Dazu ausführlich ebd., S. 217 – 282. 44 Noch 1615, als Galileo in seinem Brief an Christine von Lothringen, Großherzogin der Toskana, zugunsten des Heliozentrismus argumentiert, indem er die inzwischen zum astronomischen Streitpunkt gewordene Geschichte von Josuas Schlacht mit Gibeons Truppen in Jos 10, 12 – 14 zitiert, in der Gott die Sonne und den Mond angehalten hatte, schreibt er Gott eindeutig die Kraft der momentanen Beherrschung der Gestirne zu (nach Galileo soll Gott lediglich die Flecken der immobilen Sonne angehalten haben). Den Brief beendet Galileo mit einer von den Ambrosius von Mailand zugeschriebenen Hymnen an Gott als dem ordnungsbringenden Maler des Universums. Zu der zwischen wissenschaftlicher Empirie und christlicher Symbolbildung vorgenommenen Desakralisierung der Sonne angesichts ihrer Befleckung vgl. Stoffel 2005, S. 195 – 216. Vgl. Kap. 2, Anm. 55. 45 Auch wenn bereits die frühchristliche Apologie und die Kunst die Differenz zwischen den Fixsternen und den wandernden Planeten als Dämonen und gefallenen Engeln auffasste und größtenteils die ›kosmische‹ Ikonografie als Werkzeug der astrologischen Bestimmung aus ihrem Kanon verbannte; siehe dazu u. a. Mathews 1995, S. 148 – 150. Zur Verhöhnung der Sternenbilder als ridikül-abergläubisch siehe z. B. Tatian, Oratio ad Graecos, 9 – 10. 46 Blumenberg 2014, S. 567 – 606. Vgl. auch Demandt 1978, S. 125 – 135, 146 – 149. 47 Siehe u. a. Bredekamp 2010a, S. 111 – 128; Bredekamp 2009, S. 87 – 99; Reeves 1997, S. 148 – 154, 167 – 183. Zur Reflexion dieser astronomischen Entzauberung des Mondes in der katholischen Bildpropaganda kann darüber hinaus auf eine interessante Studie von Lubomír Koneˇcný verwiesen werden, der Galileos Vergleich von einem der Mondkrater mit der kartografischen Gestalt Böhmens wie auch

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besagten Flecken, signalisiert in Elsheimers Bild allein die neue Darstellung des Himmels eine Zäsur: Die Welt hat sich als eine aus verderblichen Singularitäten gewirkte Hülle der ›nackten Wahrheit‹ der Theophanie gezeigt. Wenn auch der Himmel am Anfang des 17. Jahrhunderts durch die Linsen des Teleskops zerrissen wurde, handelt es sich dabei weder pauschal um die endgültige Abkehr von der Göttlichkeit des Kosmos noch um deren bloße plakative Bestätigung. Der empirische Blick durch das bisherige firmamentum hindurch in die sphärische Ferne ruft eher eine Modifikation der Selbst-Anschauung hervor. Er macht vor allem sichtbar, inwieweit die neue technologische Grundlage der Erkenntnis durch das Fern-Sehen eine ontologische Verortung liefert: die Distanz zum allpräsenten kosmischen Schöpfer, der sich in der Figur seines aufzuopfernden menschlichen Sohnes in die Welt inkarniert hat, wurde mit neuen Instrumenten überprüfbar gemacht. 48 Die Enthüllung des befleckten Mondes bei Elsheimer kann in diesem Sinne selbst als ein pikturaler Vorgang des Idolensturzes angesehen werden, da durch die relativierende Hervorhebung seiner kosmischen Singularität als Erdsatellit der Sinn der Transzendenz als jenseits des firmamentum – als Außerweltlichkeit – deutlich manifestiert wurde. Sichtbar gemacht als eine undurchschaubare, aber empirisch differenzierbare und schließlich auch begrenzte Weite, entzog sich das Universum diesen Vorstellungen von Unendlichkeit und Ewigkeit, bei denen in ›heidnischen‹ Welterklärungen auf himmlische Kohärenz und Zusammenarbeit der Sternenbilder als Domäne Gottes oder der Götter Wert gelegt wurde. Ab jetzt waren die durch den Blick bewältigten Himmelskörper – wenn auch mithilfe der Linsentechnologie – innerhalb einer unerschöpf lichen Sammlung der jeweils einzigartigen, unterschiedlich geformten Sternengebilde zu verstehen und tatsächlich in ihren unwiederholbaren Fleckenkombinationen und Sekundärerscheinungen der Lichttransmission beobachtbar. Dadurch zeigte sich die göttliche Transzendenz umso mehr in voller Pracht der Unsichtbarkeit und der Unerreichbarkeit als jenseits dieser Welt, die gerade durch unterschiedlich geschaffene, unebene kosmische Gebilde geprägt war, die sich jetzt dem gerüsteten Auge offenbaren. 49 Das Idol ist gefallen: Der Kosmos ist für die Erde kein Spiegel mehr, er ist zerbrochen. Durch die neue Beobachtungstechnologie schien sich somit einer dessen Reflex in einem bald nach der Schlacht am Weißen Berg von 1620 bei Rubens in Auftrag gegebenen gegenreformatorischen Gemälde der Maria als Apokalyptisches Weib (1623 – 25) in Freising analysiert. Auf diesem Bild – so der Autor – zertritt Maria die Schlange, um ihr auf der Mondoberfläche den Zugang zu ›Böhmen‹ zu verweigern. Siehe Koneˇcný 1996, S. 139 – 142. Vgl. Reeves 2009, S. 61 – 84, hier: S. 70 – 74. 48 Vgl. einen medienwissenschaftlichen Ansatz: Vogl 2001, S. 115 – 123 (Denaturierung und Anästhesierung); dazu auch: Gingerich 2011, S. 134 – 141; Báez Rubí 2010, S. 165 – 182; Nelle 2006, S. 66 – 83, wie auch andererseits zu den Problemen, welche die neue Einsicht in die kosmische Weite der christlichen Sprache der mystischen Offenbarung bereitete: Neumann 2013, S. 273 – 298. Vgl. den Kommentar Wolfgang Isers zu einer epistemischen Disjunktion nach der Erfindung des Fernrohrs durch Galileo: Iser 1991, S. 169 – 171 (S. 171: »Bruchstellen sind der ›Nährboden‹ für Fiktionen«). 49 Damit verblieb die neue, technologisch entzaubernde Einsicht in die kosmische Ferne wiederum mit jener der frühchristlichen Observationen im Einklang, in denen die Himmelskörper mit Reflexen der

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der wichtigsten Grundsätze der frühen christlichen Apologetik bestätigen zu lassen – in den Worten von Athanasios, dem Bekehrer aus dem 4. Jahrhundert: Kommt das Ganze zustande durch die Verbindung von Einzelteilen, und besteht das Ganze aus Einzelteilen, so besteht ja das Ganze aus Teilen, und das Einzelne ist ein Teil des Ganzen. Aber das ist von den Vorstellungen, die wir von Gott haben, himmelweit entfernt. Denn Gott ist ein Ganzes und hat keine Teile, und er besteht nicht aus verschiedenen Dingen, vielmehr gibt er selbst allen Dingen Bestand. Sieh doch, welche Gottlosigkeit in solcher Sprache gegen das Göttliche liegt! Besteht er nämlich aus Teilen, so wird er jedenfalls sich selbst ungleich vorkommen als ein Konglomerat von ungleichen Teilen. Ist er nämlich Sonne, so ist er nicht Mond; und ist er Mond, so ist er nicht Erde; ist er aber Erde, so ist er nicht Meer. 50 Die Inkarnation zeigte sich im Licht dieser Exklusivität umso mehr als ein Vorgang der Entfremdung, der trotz der göttlichen Menschwerdung zugleich jenseits der erfahrbaren Natur verläuft, und zwar als eine direkte Projektion der absoluten Distanz des christlichen Gottes auf die irdische Welt, ohne dass sie mit einer Auf lösung seiner Instanz in seinem eigenen Schöpfungswerk zusammenfällt. Dieser Abstieg Gottes als Schöpfer vom Jenseits der kosmischen Natur zur historischen Einzigartigkeit des Gottesmenschen, folglich zum eucharistischen Punktum, das sich der erschaffenen Natur geometrisch-ontologisch vollkommen entzieht, bringt eine gravierende Ausdehnung der räumlichen und zeitlichen Dimensionen mit sich. Mit einer derartigen Entzauberung des Universums – dem sichtbaren Sturz der gesamten Natur als gemachtes Idol, zu dem sie bereits in Abrahams Bund erklärt worden war – schlägt die zyklische Zeit in eine heilsgeschichtlich vorbedingte Zeitlosigkeit um. 51 Die Funken des Lagerfeuers in Elsheimers Gemälde, an dem sich ein Hirte auf seinen Stock stützt, vereinigen sich mit den Sternen der Milchstraße. Christus wird zu einem Bindeglied zwischen einerseits der Zeit der erschaffenen Natur mit ihrem diesseitigen Leuchten der Sterne und andererseits der Zeitlosigkeit der Transzendenz, als Verkörperung der göttlichen Undefinierbarkeit – zwei gleichrelevante Naturen also. Die Zeit der mythologischen Bebilderung des Himmels als einer göttlichen Domäne, und damit auch die irdische Zeit, ist mit diesem Schritt vorbei, die Welt und die Außerweltlichkeit öffnen sich geometrisch, punktuell, eucharistisch aufeinander, ohne dass der sich schließlich in der Materie ausdrückenden Natur eine göttliche Hoheit zugeschrieben wird. Die ›heidnische‹ Repräsentation der olympischen Göttergesellschaft im Himmel, so wie sie diesen mit Planeten und Konstellationen jenseitigen lux divina – eines Lichts, das von einer anderen Quelle als ihre Körper selbst produziert wurde – zum Scheinen gebracht worden waren; siehe dazu z. B. Basilius von Caeserea, Hexaemeron, Hom. VI, 3. 50 Athanasios, Contra Gentes, 28. 51 Somit ist Entzauberung in einem abweichenden Sinne zu Max Webers Konzept gemeint, in dem die Rationalisierung und die Technizisierung mit der Entgötterung zusammenkommt; vgl. ausführlicher Kap. 2, Anm. 60. Zur Tradition der kosmischen Zeit vgl. Pomian 1984, S. 240 – 244.

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bestimmte, wird nun endgültig auf der Erde bewältigt. 52 Die Zeit der Chronologie ist zu Ende, da sich die Macht des im Jahr null geborenen Kindes über diese Zeit hinaus erstreckt. Denn die Chronologie ist nicht mit einem permanenten Neuanfang als zukunftsorientiertem Momentum kompatibel, das während der irdischen peregrinatio eine Erfolgsbedingung des Heils darstellt. Auf dem Kupferstich von Hendrick Goudt, der 1613 nach Elsheimers Bild gefertigt wurde, wird in diesem Sinne die seitenverkehrt dargestellte Szene mit einer vielsagenden lateinischen Inschrift versehen, die über die Flucht »vom Licht der Welt« in das »Reich des Pharao, des Tyrannen«, berichtet: »Profugit in tenebris lux mundi, et conditor orbis / Exul apud Pharios latitat res mira tyrannos./ Rebus in adversis exemplum hinc sumite Christi,/ Quem semper tristi fortuna exercivit ira.« 53 Die zeitliche Relativierung fällt mit der räumlichen Entzauberung zusammen. Wenn die Idole an sich kosmische Kräfte der dea natura in sich trugen, da sie selbst Spiegelungen und Konzentrationen der Naturzustände oder greifbare Sichtbarwerdungen der Elemente waren, ändert die Einführung der Transzendenz auf Erden durch die Inkarnation diametral die Wahrnehmung der natürlichen Universalität. Da der christliche Gott jenseits jeglicher Natur verbleibt und als ihr erster Techniker übernatürliche Kompetenzen aufweist, wird die irdische Natur auch in ihrer Substanz von ihrem Anfang an automatisch kleiner und verliert ihre Monopolstellung. In göttlicher Außerweltlichkeit lokalisierte bereits die Patristik den Grund für den eskapistischen Drang zum contemptus mundi. Clemens von Alexandrien empfiehlt in seiner Mahnrede an die Heiden ausdrücklich, nicht die Sonne und die Welt, sondern ihren Schöpfer anzubeten und sich dabei nicht durch die Erde als Domäne der Dämonen und ihrer Figuren verführen lassen. 54 In diesem Kontext kann auch zum Beispiel an eine der Predigten von Basilius von Cäsarea erinnert werden, in der er das zeitliche Primat und die funktionale Autarkie der zentral als Schöpfungswerk positionierten Erde mithilfe der Genesis nachzuweisen versucht, indem er der Sonne sogar die lebensgebende Energie abspricht. 55

52 Vgl. in diesem Kontext eine Studie zur Verortung der Position von Christus als Ordnungsbringer innerhalb der antiken Heldenmuster, u. a. mit Bezug auf die herakleische Kampf leistungen: Zilling 2011. 53 Vgl. Klessmann 2006, S. 174 (hier wird das Datum falsch mit »1616« angegeben); vgl. ebd., S. 174 – 177. 54 Clemens von Alexandrien, Protrepticus ad Graecos, 63; vgl. 51 und 56. 55 Basilius von Cäsarea, Hexaemeron, Hom. V,1. Diese Kompromisslosigkeit ist interessant auch angesichts der stark heliofixierten Passagen zur Unanschaubarkeit Gottes bei Minucius Felix (Minucius Felix, Octavius, 32 u. s.); vgl. Kap. 4.

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Auch wenn sie durch die christliche Lehre der Ursachen, mit Blick auf den Unterschied zwischen Substanz und Materie in den Präsenzmodalitäten des logos, formal und genealogisch erläutert wird, wird die Natur in Konfrontation mit der Transzendenz zu einer Sekundärerscheinung. Auch wenn der Natur eine Vorrangstellung als Ausführungsmacht des Schöpfungswerks gewährleistet wird, bleibt sie eine mit ihren erkennbaren proprietates normierte Wirkungsregel des principium agens. 56 Diese kategoriale Unterordnung ist beispielsweise in der hochmittelalterlichen philosophischen Schule von Chartres sichtbar, wo die Natur durch solche Theologen wie Bernardus Silvestris oder Wilhelm von Conches als dem ordnenden Gott subordinierte dissolubile natura erklärt wurde bzw. von Alanus von Lille in seinem Liber de planctu naturae zu einer huldigenden Dei auctoris vicaria. 57 Diese hierarchische Positionierung der Natur führte übrigens die Theologen aus Chartres zu einem synkretistischen Spagat, da sie als durch den platonischen Timaios inspirierte Begründer der westlichen Naturwissenschaften sich zwischen dem platonischen Idealismus, dem aristotelischen Hylemorphismus, der antiken Kosmogonie und der biblischen Exegese bewegen mussten. Daher ließ sich in ihren Überlegungen das Werkzeug der rhetorischen Verhüllung (integumentum, involucrum) als wissenschaftliche Metapher etablieren, welche die Form der ›heidnischen‹ Philosophie und Mythologie von ihrem Inhalt zu unterscheiden und Aneignung mit Entfremdung zu verbinden verhalf. Dieses Verständnis der Metapher erlaubte es, größere Risse in der die Immanenz der Welt entfremdenden, auf Opposition zum Erkenntnisobjekt setzenden und somit zur Parabolisierung der Natur zwingenden christlichen Doktrin zu vermeiden. 58 Die Enigmatisierung der Welt als auslegbare Erscheinungsform des Unsichtbaren verläuft somit parallel zur Herausbildung der Metapher als Instrument, mit dem auf die Verborgenheit der Wahrheit in zukunftsfixierten, soteriologisch bedingten Formen von Warnung und Mahnung hingewiesen wird. 59 In diesem langen Prozess der Kontrollausübung durch Wertminderung lässt sich eine zwischenepochale Verzahnung erkennen. Sie verläuft zwischen dem allerersten, sich in der Irregularität des bestirnten firmamentum realisierenden Bund Abrahams und der Darstellbarkeit des Diesseits der in kosmischen Zügen erfahrbaren Natur, so wie sie von Elsheimer thematisiert wurde, als heilsgeschichtliches Kriterium. Der pikturale Bildersturm in Form der Entzauberung (Entmythologisierung) des Universums als eines geschlossenen und von

56 Vgl. zur »entgötterten Natur« im Mittelalter: Benjamin 1989b, S. 132 – 133. 57 Dales 1982, S. 495 – 508; Dronke 1980, S. 16 – 31; Lemay 1977, S. 226 – 236; Raby 1968, S. 72 – 77; Silverstein 1948, S. 92 – 116. Dies steht beispielsweise im Einklang mit der Überlieferung zur Flucht nach Ägypten im Evangelium des Pseudo-Matthäus, 16 – 24, wo sich Wild- und Lasttiere genauso wie Pflanzen und selbst das Wasser Christus als neuem Herrn unterordnen, der »immer schon vollkommen gewesen / enim semper vir perfectus« war (ebd., 18.2). 58 Siehe Speer 1997, S. 135 – 151; Otten 1995, S. 257 – 284; Stiefel 1977, S. 346 – 362. Vgl. Barkan 1986, Kap. 3. Im breiteren Kontext: Brinkmann 1971, S. 314 – 339, hier insbes. S. 324 – 327. Siehe auch Blumenberg 1988, S. 79. 59 Dazu Blumenberg 1998, S. 61 – 76. Vgl. Konersmann 2006, S. 380 – 399.

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außen begrenzten Orts der Natur – oder kurz: die Notwendigkeit seiner Auf lösung als Idol, die sich in Elsheimers Mond und Milchstraße zeigt – kommt aus der ursprünglichen theokratischen Strukturierung des Verhältnisses zwischen Schöpfer und Kosmos in der abrahamitischen Unterscheidung hervor. 60 Wenn ein transzendenter Gott einen Einfluss auf die von ihm hergestellte Struktur der sich bewegenden, die Erde in sich zentral einschließenden Himmelssphären hat, dann ist die ganze irdische Existenz im universellen Maßstab nach dem allerersten Modell der Theokratie zu beurteilen. Von der ursprünglichen Entzauberung des Universums im Moment seiner Erschaffung zur empirisch reduzierenden Aneignung des Mondes mittels seiner visuellen Evidenz führt ein gerader Weg: Die Objekthaftigkeit der sichtbaren Welt als göttlich entworfene Maschinerie wird als zeitlich begrenztes Produkt in die zeitlose Geschichte der göttlichen Souveränität eingeschrieben. In seiner apostolischen Mission verkündet bereits Paulus als Jüngling des Gottessohnes unter den Griechen die Ursache der Abwendung der Christen von den seit ewig verehrten natürlichen Kräften – »den Elementen dieser Welt« –, die er mit Dämonen vergleicht und für nichtig erklärt. Die Mission von Christus propagiert er als eine Befreiung des Menschen von der Sklaverei der Natur, da sie nur aus Eigenschaften besteht. 61 Die Dämonen, unter denen dann vor allem die mythologisch geprägten Verkörperungen von Göttern der Antike verstanden wurden, erscheinen dabei in den apologetischen Schriften als die gefallenen Engel der Genesis, als die Urväter aller Verbrechen, die das Gottesgebot gebrochen haben und zum Verderben außerhalb seiner Reichweite verdammt wurden. 62 Als solche werden sie im Hinblick auf die christliche Kosmologie mit den natürlichen Elementen in Verbindung gebracht und funktionieren in diesem Zusammenhang als Repräsentanten der kosmischen Weite. Sie werden sogar als Sterne bezeichnet – diejenigen luminösen Körper, die erst am vierten Tag der Schöpfung am bereits existierenden firmamentum platziert gewesen sein sollen –, damit das gesamte ›Heidentum‹ mit seiner kosmo- und astrologisch regulierten Zyklizität als ein verstaatlichter ›Kult der Natur‹ verachtet werden kann. Der christliche Abstieg des Gottessohnes und das von ihm erbrachte Opfer werden in diesem Rahmen konsequent als eine

60 Mit dem Begriff der ›Entzauberung‹ wird hier somit nicht eine Anlehnung an Max Webers Bezeichnung der intellektuellen Rationalisierung der Welt und der Eliminierung seiner magischen Auslegungsnarrative seit den Anfängen des Judentums angestrebt. Er soll eher auf die dogmatischen Formierungsfelder des Rationalisierungsprozesses in der Frühen Neuzeit hinweisen, die der Aneignung und Bewältigung der Immanenz im Zuge der ›Entmythologisierung‹ einen apriorischen Charakter verleihen und die Ersetzung des mythos durch den logos als einen Gewaltakt ansehen lassen. Siehe zu Webers Begriffsbildung u. a.: Lehmann 2009, S. 9 – 20. Vgl. Joas 2017 (eine Diskussion mit Weber, in der auf die entzaubernde Rolle der Stiftungsmomente des Monotheismus hingewiesen wird, darunter auch auf S. 41 – 42 eine knappe Kritik an Assmanns These zur mosaischen Unterscheidung). Siehe auch zur frühmodernen Bezeichnung des Naturkultes als Atheismus und Idolatrie: Mulsow 2006, S. 697 – 712. 61 Ga 4,1 – 7. Vgl. 1 Kor 10,20. 62 Justinus Martyr, Apologie II.

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Befreiung von der kosmischen Dimension der Natur vorgestellt. 63 Aus diesem Grund wird ebenfalls die zeitliche Nomenklatur zum Objekt des Angriffs, stellt sie doch einen Widerhall der Kulte von ›heidnischen‹ ›Verbrechern‹ dar. Martinus de Braga verhöhnt in seiner apologetischen Schrift De correctione rusticorum am Ende des 4. Jahrhunderts diejenigen, welche die Wochentage immer noch nach den antiken Göttern benennen, die seiner Meinung nach durch ihre Anbindung an die Sternenbilder als astrologische Dämonen zu bezeichnen sind, da sie »die schlimmsten Menschen und Verbrecher im griechischen Volk« waren. 64 Die von de Braga kurz angeführte Genealogie des nach der Sintflut stattgefundenen menschlichen Verderbens in der antiken Idolatrie – als Kult der teuf lischen Natur – kann im Sinne einer kleinen Summa des contemptus mundi als eine Darbietung der Gründe für das christliche Selbstverteidigungsgebot gegen das In-der-Welt-Sein bezeichnet werden: [6] Post diluvium iterum recuperatum est genus humanum per tres filios Noe, reservatos cum uxoribus suis. Et cum coepisset multitudo subcrescens mundum implere, obliviscentes iterum homines creatorem mundi deum, coeperunt, dimisso creatore, colere creaturas. Alii adorabant solem, alii lunam vel stellas, alii ignem, alii aquam profundam vel fontes aquarum, credentes haec omnia non a deo esse facta ad usum hominum, sed ipsa ex se orta deos esse. [7] Tunc diabolus vel ministri ipsius, daemones, qui de caelo deiecti sunt, videntes ignaros homines dimisso Deo creatore suo, per creaturas errare, coeperunt se illis in diversas formas ostendere et loqui cum eis et expetere ab eis, ut in excelsis montibus et in silvis frondosis sacrificia sibi offerrent et ipsos colerent pro deo, imponentes sibi vocabula sceleratorum hominum, qui in omnibus criminibus et sceleribus suam egerant vitam, ut alius Iovem se esse diceret, qui fuerat magus et in tantis adulteriis incestus ut sororem suam haberet uxorem, quae dicta est Iuno, Minervam et Venerem filias suas corruperit, neptes quoque et omnem parentelam suam turpiter incestaverit. Alius autem daemon Martem se nominavit, qui fuit litigiorum et discordiae commissor. Alius deinde daemon Mercurium se appellare voluit, qui fuit omnis furti et fraudis dolosus inventor; cui homines cupidi quasi deo lucri, in quadriviis transeuntes, iactatis lapidibus acervos petrarum pro sacrificio reddunt. Alius quoque daemon Saturni sibi nomen adscripsit, qui, in omni crudelitate vivens, etiam nascentes suos filios devorabat. Alius etiam daemon Venerem se esse confinxit, quae fuit mulier meretrix. Non solum cum innumerabilibus adulteris, sed etiam cum patre suo Iove et cum fratre suo Marte meretricata est. 65

63 Simon 1972, S. 164 – 165. 64 »Non tamen sine permissione dei nocent, quia deum habent iratum et non ex toto corde in fide Christi credunt, sed sunt dubii in tantum ut nomina ipsa daemoniorum in singulos dies nominent, et appellent diem Martis et Mercurii et Iovis et Veneris et Saturni, qui nullum diem fecerunt, sed fuerunt homines pessimi et scelerati in gente Graecorum«; Martinus de Braga, De correctione rusticorum, 8. Vgl. ebd., 9. Vgl. Firmicus, De errore, XVII. 65 Martinus de Braga, De correctione rusticorum, 6 – 7. Vgl. Athanasios, Contra Gentes, 9 und 28.

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Solch eine Verteufelung der Natur scheint eine harte politische Antwort auf die spätantike Rechtfertigung von ästhetisch-therapeutischen Qualitäten der Bilderanfertigung angesichts der christlichen Bilderverneinung zu sein, so wie sie beispielsweise im 1. Jahrhundert durch den griechischen Redner und Philosophen Dion Chrysostomos (Dion von Prusa) vorgeschlagen worden war. In seiner Olympischen Rede stellt er die kunstvolle ikonische Gestaltung des natürlichen Materials in einer Figur als eine selbstverständliche Folge des Einklangs des Menschen mit der Natur vor, die von selbst auf eine göttliche Weise geordnet worden sei. 66 Diese Ordnung hat für Dion eine aisthetische und ästhetische Dimension, indem das Sichtbare der Natur – Flüsse, Berge, Meere, Winde, Sterne etc. – die Sehnsucht des Menschen nach dem Göttlichen erfüllt. Obwohl das Göttliche an sich unsichtbar bleibt, lässt es sich in diesem Sinne als die erste und andauernde Quelle der natürlichen Rationalität in Form von bewusster Wahrnehmung der Natur durch den Menschen in Erinnerung rufen. Solch eine Kosmogonie aus der Beobachtung und der Zuwendung zur natürlichen Welt – durch die gedächtnisbasierte Fülle der Selbstempfindung in der Welt – ist universell. Sie ist sogar ›animalisch‹, allerdings in dem Sinne, dass auch, so wie Dion es beschreibt, Tiere und sogar Pflanzen an dieser Ordnung teilnehmen können, indem sie so wie die Menschen, die mit dem Schrei beim ersten Atmen zur Welt kommen, vom Anfang an durch den Odem der Mutter Erde und später durch ihre Säfte und Früchte ernährt werden. 67 Aufschlussreich sind in diesem Kontext die apologetischen Bemerkungen von Athanasios, mit denen deutlich wird, dass die christliche Verdammung der Gestirne als Dämonen mit der Vorstellung der göttlichen Macht als höchste exklusive Superiorität in einem endgültigen universalen Szenario der Unterwerfung einhergeht. Der Apologet stürzt in seiner Schrift die olympischen Götter als kosmische Größen, indem er eine ›heidnische‹ Falschvorstellung von gegebenen Makroverhältnissen zeichnet. Diese müsse sich – seiner Meinung nach – in einer kompletten Umstellung der faktisch-universellen Subordinierung der Gestirne in ihrem orbitalen Kampf ausdrücken, wenn sie wirklich einzelne, »sich zusammen vertragende« Götter sein sollen: Wären sie [irdische Elemente] nun Götter, dann dürften sie sich nicht gegenseitig besiegen und verdrängen lassen, sondern müßten immer untereinander zusammen sich vertragen und gleichzeitig die gemeinsamen Energien entfalten. Es müßte bei Tag und Nacht die Sonne zugleich mit dem Mond und dem übrigen Chor der Gestirne das gleiche Licht haben, und dieses müßte allen leuchten, und alles müßte von ihnen erhellt

66 Dion von Prusa, Olympische Rede, 28 – 31. Gegen solche ›Naturalisierungen‹ des Abbildens genauso wie gegen die Vorwürfe des Atheismus und der anti-staatlichen Laizität vonseiten der griechisch-römischen Kritiker haben christliche Apologeten euhemeristische Argumente aufgegriffen; siehe dazu u. a. Finney 1994, S. 44 – 45. 67 Dion von Prusa, Olympische Rede, 29 – 32.

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werden. Es müßten gleichzeitig Sommer, Winter, Frühling, Herbst ohne Wechsel und zu derselben Zeit bestehen. 68 In Konsequenz dieses Konflikts zwischen der göttlichen Transzendenz des Christentums und der natürlichen Immanenz der antiken Welt erzeugt die durch spätere Selbstaufopferung des Gottessohnes etablierte Eucharistie eine endgültige Überwältigung und Unterordnung der Natur, denn der transzendente Gott markiert dabei seine Präsenz nicht mithilfe der Naturgewalt, sondern als Punkt, als eine substanziell verkörperte Unmöglichkeit. Diese verschafft den Gläubigen zwar ein Hineinsehen, aber als figura stellt sie nur eine pure Form dar und wird selbst als Erscheinungsmodus zu einer subtilen Verhüllung. Die Erfahrung des christlichen Gottes wurde damit von der Erfahrung des Universums getrennt. Nicht die außerordentlichen Naturkräfte, die das Göttliche der kosmischen Natur widerspiegeln, sondern deren Bewältigung vom Außen bestimmte die neue Kontaktfläche mit dem Gott, der sich hinter allen Kulissen verbirgt. Diese Revolutionierung der mit abrahamitischen und mosaischen Erbe von Jahwes Unsichtbarkeit markierten christlichen Gotteserfahrung war auch für Bilder und ihre Zeitlichkeit maßgeblich. In der Antike half die Zeichenlektüre, ein omnipräsenter Bereich der wahrsagerischen Semantik, vor allem, die kommenden Ereignisse zu erahnen. Diese Möglichkeit war durchaus damit kompatibel, dass die klassischen Götter nicht nur für bestimmte Naturkräfte und Handlungsbereiche profiliert, sondern auch untereinander in typisch menschliche Peripetien verwickelt waren. Die Ankündigung der zukünftigen Zeit in der natürlichen oder künstlichen Wahrsagerei der Griechen oder die römische Staatspraxis der Prophezeiung war kein transzendent orientiertes Gebilde, sondern eine vorstellungsbasierte Beschleunigung der gleichen Zeitschiene, die in der natur- und mythenumhüllten Gegenwart das Leben eines Menschen bestimmte und seine aktuellen Entscheidungen legitimierte. 69 Die Figur der Hera aus Argos zum Beispiel war mit der ihr temporär durch das Ritual oder durch mimetische Ähnlichkeit zugewiesenen göttlichen ›Bewohnerin‹ verbunden und konnte daher selbst Signale in Bezug auf die Gestaltung der Zukunft aussenden: Sie konnte den Kriegshelden strategische Antworten geben, indem sie – wie Herodot berichtet – Feuer aus ihrer Brust sendete. 70 Die Bildlichkeit der antiken Götter war folglich ein bestimmter Modus ihrer Existenz: Während der christliche Gott auch in seiner durch Inkarnation ermöglichten Erscheinung verhüllt blieb, mussten sich die Bewohner des Olymp unter den Menschen verwandeln, da sie sonst von diesen sofort erkannt worden wären, da sie teilweise – wie wir von der neoplatonischen Auslegung von Phidias’ Zeusfigur wissen – selbst so aussahen, wie sie durch die Griechen bereits imaginiert und

68 Athanasios, Contra Gentes, 29. 69 Siehe dazu umfassend: Rosenberger 2001, insbes. S. 40 – 48, 69 – 78, wie auch zur frühmodernen Rezeption: Ossa-Richardson 2013, insbes. S. 46 – 82. 70 Herodot, Historien, VI, 82.

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porträtiert worden waren. 71 Während der christliche Gott, der in seiner absoluten Superiorität keinen essenziellen Bezug zur irdischen Welt hat und vor allem in einem eindirektional kausalen Verhältnis zu seinen Geschöpfen verbleibt, waren die ›heidnischen‹ Gottheiten auf unterschiedliche Interaktionen mit dem menschlichen Diesseits angewiesen. Wenn später christliche Bilder imstande waren, als semantische Spiegelungen des Heilsopfers zu weinen und zu bluten, war diese Fähigkeit in struktureller Hinsicht immer eine vollkommen andere Form der göttlichen Präsenzmarkierung als diejenige, welche die besondere Situation bestimmte, in der sich Zeus in einen Goldregen verwandeln musste, um eine menschliche Frau zu befruchten. Während der christliche Gott ein offenes, allsehendes Auge auf die Welt hat, waren die klassischen Götter keineswegs mit absoluter Übersicht ausgestattet. Die griechische Mythologie liefert viele Beispiele dafür, wie sie insbesondere als untreue Ehemänner überrascht werden konnten. Eine definitive, empirisch unterstützte Entzauberung und zeitliche Positionierung der Himmelsgebilde, so wie sie in Elsheimers Bild durchgeführt wurde, bedeutet demnach nicht nur eine Kontextualisierung der damaligen, auf Evidenz setzenden Wissensdiskursen oder eine Sichtbarmachung zur andauernden Relevanz des christlichen Geozentrismus angesichts der kopernikanischen Dynamisierung des Weltbildes 72 und zu Galileis revolutionärer Mondbeobachtung. Sie lässt gleichzeitig gerade im Hinblick auf die Frage nach den Idolen einige gravierende Konsequenzen aus deren historischer Vernichtung deutlich in Erscheinung treten und folglich auch den vormodernen Sinn der Evidenz selbst hinterfragen. Jede Abschaffung eines Idols hat das Potenzial, das durch diese Abschaffung entstandene Vakuum zu füllen. Der zerstückelte Körper eines ›Götzen‹, so wie er in Patinirs Bild eine zeitliche Wende markiert, ist durch die Aufhebung des bisherigen Deutungssystems der dinglichen Repräsentation zugleich eine ›exegetische Wunde‹. Mit dem Sturz des feindlichen Idols als Verkörperung der vegetativen und animalischen Kräfte der Natur oder als materieller Erscheinungsort eines höheren, es ›bewohnenden‹ Wesens hat diese Natur an dem

71 »Verachtet aber jemand die Künste, weil sie in ihren Schöpfungen die Natur nachahmen, so ist zuerst zu sagen, dass auch die Schöpfungen der Natur Nachahmungen sind; sodann muss man wissen, dass sie die Erscheinung nicht schlechtweg nachahmen, sondern aufsteigen zu den Gedanken, aus denen die Natur stammt; dann, dass sie auch aus dem Eigenen vieles hinzuthun. Sie fügen nämlich als im Besitz der Schönheit allem Mangelhaften etwas hinzu, wie denn auch Phidias den Zeus nach keinem sichtbaren Gegenstande gebildet hat, sondern so wie Zeus aussehen würde, wenn er einmal vor unsern Augen erscheinen wollte«; Plotin, Enneaden, V, 8, 1. 72 Eine kritische Revision der historischen, zeitgenössischen Relevanz von Kopernikus’ Beobachtungen als eine durch neue Druckmedien ermöglichte und doch theologisch gebändigte Revolution: Blumenberg 1965. Die kopernikanische ›Mobilmachung‹ müsste übrigens auch in Hinsicht auf den antiken Heliozentrismus des Aristarchos von Samos (um 310 – 230 v. Chr.) analysiert werden, denn bereits dieser griechische Astronom schrieb ausführlich über die orbitale Umkreisung der Sonne durch die Erde und beobachtete die Rotation der Letzteren um die eigene Achse (vgl. Russo 2005, S. 90 – 103). Die heliozentrische Auffassung des Universums lässt sich ebenfalls bereits in den indischen Veden vorfinden: Sidharth 1999, u. a. S. 39 – 43.

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besagten Tag, an dem in Ägypten die Idole fielen, einen wichtigen Teil ihrer Rechte verloren, denn es ist ab diesem Moment nicht mehr sie, die einen semantischen oder substanziellen Bezug zur Göttlichkeit herstellt. 73 Die Kluft zwischen dem unsichtbaren christlichen Gott und der wahrnehmbaren Natur wurde zwar durch Inkarnation überbrückt, gleichzeitig aber lässt sich diese durch die Macht des Geistes bewirkte Verkörperung des Logos im auserwählten makellosen Mutterkörper direkt mit der im Buch Genesis beschriebenen Schöpfungskraft dieses Gottes in Verbindung bringen: Soteriologie erfordert Makellosigkeit, während sich die Erde nie vom Makel befreien wird, da sie als Produkt göttlicher Manufaktur das Verfallen selbst verkörpert. Durch die Abstraktheit des auf diese Art und Weise durch Inkarnation körpergewordenen Einen wie auch durch die in die Zukunft gerichtete Perspektive seiner heilsgeschichtlichen Verklärung kann die Natur, auch wenn sie neoplatonisch gerechtfertigt wird, entmündigt werden. Nur dank dieser Relativierung oder sogar Verachtung des natürlichen Fleisches, dem contemptus mundi, kann sie im Vorgang der Repräsentation passiv, anästhetisch werden. Auf dem Bild Elsheimers verwandeln sich zwar die aufsteigenden Funken des Lagerfeuers symbolisch in die Sterne der Galaxie, die schlafende Natur kann sich jedoch keineswegs als Schöpfungswerk entfalten, denn die Kommunikation zwischen der unerschöpf lichen Transzendenz und ihrer historischen Verkörperung in Menschengestalt verneint die Kraft der aus Materie gemachten Idole, die bisher für Erscheinungen einer außergewöhnlichen Potenz verantwortlich waren. Dieser Bruch mit der sprechenden Natur – die Ersetzung des natürlichen Fleisches durch den eucharistisch ubiquitären Leib – lässt sich daher in seiner philosophischen und theologischen Dimension wohl mit dem logisch begründeten Einbruch der Unbestimmtheit – des abstrakten apeiron Anaximanders und des Seins von Parmenides – in die geordnete Welt der vorsokratischen konstitutiven Naturelemente Wasser, Feuer und Luft vergleichen, mit einer Abschaffung der »Prinzipien stoff licher Art« 74 und einer Bereitstellung der Grundlagen eines sokratischen und platonischen Idealismus. 75 Dieses der Natur entrissene Deutungspotenzial, so wie es in dem Moment der idolomachia Christi eine Verletzung vom Sinn der bildlichen Verkörperung darstellt, wurde im Christentum – über die zerstörerische Ebene des Bildersturms hinaus – zu einer speziellen Variante der Anagoge. Dabei handelt es sich nicht nur um eine automatische Füllung der entstandenen Leerstelle mit eucharistischer Exegese der ubiquitären Präsenz – man beachte hier erneut den kultivierten Acker Patinirs –, sondern darüber hinaus um ein Konzept der Aneignung von dem, was für die ›heidnischen‹ Idole als Bilder in ihrer praktischen rituellen Wirkung so maßgeblich war: die Deutungskonzentration durch Erhöhung. * 73 Vgl. im Kontext der der Natur entnommenen Zeitdeutungen der Ägypter: Assmann 2011, passim, wie auch in Kurzform: Assmann 2012, S. 69 – 78. 74 Thales, Fragmente, S. 12. 75 Zu diesem grundsätzlichen Problem der Philosophiegeschichte siehe u. a. im epistemologischen Kontext: Feyerabend 1995, S. 189 – 192.

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Diese Übernahme der Leerstelle nach dem Sturz des Idols ging mit der Anwendung der gängigen römischen Praxis einer damnatio memoriae einher. 76 Auf einem Bild von Vittore Carpaccio von 1514, das als ein Teil des Vita-Zyklus des hl. Stephanus – nach den bethlehemitischen innocenti der erste erwachsene christliche Märtyrer – für die Scuola di Santo Stefano (Scuola dei laneri) in Venedig gemalt wurde und dort zur Devotion neben einem Altar aufgehängt worden war (Taf. 11) 77 und hier als ein drittes frühneuzeitliches Exempel des christlichen Zeitkonzepts vorgestellt wird, tritt der Stephanus in Jerusalem auf einen steinernen Sockel einer gestürzten römischen Skulptur, um den bunt und exotisch gekleideten versammelten Juden, Männern und Frauen die neue Lehre des christlichen Gottes zu verkünden. Auf dem Boden sind noch die Reste des zerstörten Monuments zu sehen, selbst auf dem Sockel zeugt ein im Relief gestaltetes Profilbildnis des ›heidnischen‹ Herrschers von seiner einstigen Macht. Während die Teile der zertrümmerten Herrscherfigur auf dem Boden die in Entkörperung erfolgende Beseitigung ihrer Autorität versinnbildlichen, setzt sich der Heilige in seiner Predigt für die Erhöhung seines Gottes jenseits des Sichtbaren ein und zeigt mit seinem digitus in den Himmel, um die Transzendenz als Herrschaftsform, die nicht von dieser Welt ist, deiktisch deutlich zu machen. Die linke Hand legt er auf seine Brust; mit der affektierten Gebärdensprache weist er darauf hin, dass diese Herrschaft auf einer Obrigkeit anderer Art basiert, auf der geistigen Devotion, die angesichts der christlichen Ubiquität Gottes sich nur affektiv, innerlich und nicht durch äußere Ritualformen oder dargebrachte Opferungen ausführen lässt. Um die Produktivität des Zerstörungswerks als Akt der Aneignung, Übernahme und Wiederholung mit einem Terminus zu subsumieren, könnte man sagen, dass die Position des Stephanus ein Modellbeispiel des in der Einführung erwähnten iconoclash Bruno Latours bedeutet. Iconoclash synthetisiert als Begriff einen bestimmten Aspekt der frühneuzeitlichen Bilderlehre, wo es heißt, dass die christlichen Heiligen selbst zu Monumenten werden, die affektiv als neue Bilder wahrzunehmen sind, um uns als Betrachter wiederum in nachahmende Skulpturen zu verwandeln, wie es unter anderem von dem vortridentinischen Bildtheoretiker Johannes Eck in seinem einflussreichen Traktat De non tollendis von 1522 dargestellt wurde. 78 Die Christen als Bildskeptiker sollen also selbst zu Bildern werden. Entscheidend in Carpaccios Bild ist jedoch die Tatsache, dass Stephanus nicht in Rom, sondern in Jerusalem seine Predigt hält und sich eben an jenes Volk wendet, das einerseits als erstes die Inkarnation Christi nicht anerkannt hat und andererseits seit Sinai dem Bildnis keine konstitutive Rolle bei der Vorstellung der göttlichen Instanz zuschreibt. Der Bilddiskurs ist hier also ein anderer als im Fall der anti-

76 Siehe u. a. Calomino 2016; Varner 2004; Hedrick 2000, v. a. S. 89 – 130. 77 Maßstab des Bildes – 152 × 195 cm. Siehe Sgarbi 1999, S. 174 – 177 (zum gesamten Zyklus S. 170 – 181); Humfrey 1991, S. 112 – 113 (zum gesamten Zyklus S. 110 – 117); Zampetti 1966, S. 85 (zum gesamten Zyklus S. 84 – 86); Lauts 1962, S. 243 (zum gesamten Zyklus S. 242 – 243). 78 »[. . . ] statuas sanctis erigimus & visibiles imagines, vt nos ipsi animate statue & imagines ipsorum, virtutum imitatione efficiamur«; Eck 1522, S. 9 – 11 (unpag.). Vgl. Kapustka 2008, S. 108.

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heidnischen Apologie, die als Mittel gegen idolatrische Opferrituale fungierte. Wenn Stephanus also die Stelle der absenten Kaiserfigur dazu nutzt, um die Inkarnations- und Trinitätslehre zu verbreiten – sein Zeigefinger erscheint direkt am zentralen von drei Fenstern eines Turms: eine bildliche Trinitätssymbolik, die jedem zeitgenössischen Betrachter aus der Ikonografie der hl. Barbara bekannt gewesen sein dürfte –, dann tut er das nicht, um sich selbst in ein neues mächtiges Idol zu verwandeln, sondern um sich als Vermittler und Verwalter in einem neuen Jurisdiktionsbereich zu positionieren. Zum Vergleich sei beispielsweise auf die gewöhnliche adlocutio-Position Konstantins im Moment seiner Kreuzesvision verwiesen, sowohl in seinem Triumphbogen als auch in Raffaels oder Rubens’ historischen Bildzyklen. Auch feine Details, wie der einen Schatten auf den Sockel werfende, über den Rahmen hinausragende Schuh des Heiligen oder das künstlerische cartellino Carpaccios, das direkt unter dem kaiserlichen Bildnis platziert wurde, scheinen eine im Voraus gewollte Relativierung des figurgewordenen Heiligen zu bezeugen. In dieser kunstvollen Inszenierung ist der Verweis auf die Gleichzeitigkeit des Christengottes im Jenseits und in seiner historischen Menschwerdung – versinnbildlicht durch die kompositorische Verbindungslinie zwischen dem Sockel, der Figur des Predigers und dem auf einem Hügel gebauten Turm – ein Argument und nicht nur ein bildlicher Vorgang der damnatio memoriae. Den inkarnierten Gott für die Juden attraktiv zu machen, heißt in diesem Kontext, ihn als einen Herrscher darzustellen, der zwar die Bereiche Himmel und Erde durch seinen irdischen Abstieg beherrscht, der aber gleichzeitig ubiquitär und nur durch bevollmächtigte Vertreter wahrnehmbar ist. Stephanus wird daher in diesem Bild zwar selbst zum Bild erhoben, aber nicht zum herrschaftlichen Idol. Diese präzise transitorische Positionierung des zeigenden Heiligen scheint übrigens durch die Reaktion seiner Zuhörer verraten worden zu sein, von denen einige bereits nicht mehr den Predigenden, sondern – wie einst bei Zanchi die von Abraham unterwiesenen Ägypter – direkt den Himmel anschauen. Auf den Ruinen der alten fremden Ordnung wird eine neue eingesetzt, die aber die Macht der Figur nicht im Sinne eines auf Distanz gehenden staatlichen Mahnbildes, sondern eines Vorbildes, eines sichtbaren Gesandten des transzendenten, omnipräsenten und historisch menschgewordenen Gottes verstehen lässt. Eine interessante Parallele zu dieser Art der gleichzeitigen Bewältigung, Aneignung und Bildwerdung bildet beispielsweise Andrea Mantegnas Darstellung des gemarterten Sebastian von 1459 (Abb. 10), in der dieser Heilige an die Säule eines ruinierten römischen Triumphbogens mit üblichen Tropaion-Motiven festgebunden ist. 79 Indem er sein Opfer direkt am ›heidnischen‹ Siegesdenkmal vollbringt, das selbst bereits den Zahn der Zeit aufweist, und sich selbst somit in ein klassisch-römisches Bild des direkt am Triumphbogen vorgeführten besiegten Feindes verwandelt, manifestiert er wie Christus am römischen Kreuz den transzendierenden Sinn seiner Ergebenheit. Mit dieser invertierenden Inanspruchnahme eines 79 Maßtab des Bildes: 68 × 30 cm; siehe Brown 2013, S. 21 – 48, hier: v. a. S. 23 – 24, 30; Helke 2010, S. 221 – 271, hier: v. a. S. 232 – 238; D’Ancona 1977, S. 98 – 114, hier: v. a. S. 109; Von Einem 1973, S. 75 – 82, hier: v. a. S. 78 – 80.

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Abb. 10: Andrea Mantegna, Hl. Sebastian, 1459, Öl auf Holz, Wien, Kunsthistorisches Museum, Inv.-Nr. GG 301.

leicht erkennbaren visuellen Motivs werden die im Bild dargestellten römischen Ruinen, darunter auch die neben dem Bogen liegenden Fragmente von Statuen und bacchischen Reliefs, zu Trägern einer inaktuell gewordenen Geschichte, die durch märtyrologische Ewigkeitsprojektion ersetzt wird. Die von Carpaccio bebilderte Geschichte der ›Steinwerdung‹ des Stephanus wiederum kommt interessanterweise als eine rhetorische Figur mit seinem späteren Martyrium durch

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Steinigung zusammen. Der vom Maler in fünf Bildern geschilderte Weg des Stephanus von seiner Konsekration als Diakon durch Petrus war imitatorisch angelegt, da der werdende Heilige, so wie der junge Christus, die Weisen Judäas und des Orients lehrt, und er tut das – wie Jacobus de Voragine beschreibt –, obwohl gegen ihn falsche Vorwürfe und Zeugnisse inszeniert werden, denn durch ihn rede der Geist. 80 Im Moment des Todes fügt er sich immer noch genau in die Spur der imitatio Christi, indem seine Marter als ein Nachbild des ersten Versuchs der Juden gestaltet wird, Christus bereits vor seiner Kreuzigung zu steinigen. Der Vorwurf gegen Christus lautete, er habe sich inmitten der jüdischen Gemeinde durch seine Selbstbezeichnung als Sohn Jahwes einer Gotteslästerung schuldig gemacht. Der Verlauf der Anklage wird im Johannesevangelium (10,31 – 39) geschildert: Da hoben die Juden wiederum Steine auf, um ihn zu steinigen. Jesus hielt ihnen entgegen: Viele gute Werke habe ich im Auftrag des Vaters vor euren Augen getan. Für welches dieser Werke wollt ihr mich steinigen? Die Juden antworteten ihm: Wir steinigen dich nicht wegen eines guten Werkes, sondern wegen Gotteslästerung; denn du bist nur ein Mensch und machst dich selbst zu Gott. Jesus erwiderte ihnen: Steht nicht geschrieben in eurem Gesetz: Ich habe gesagt: Ihr seid Götter? Wenn er jene Menschen Götter genannt hat, an die das Wort Gottes ergangen ist, und wenn die Schrift nicht aufgehoben werden kann, dürft ihr dann von dem, den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat, sagen: Du lästerst Gott – weil ich gesagt habe: Ich bin Gottes Sohn? Wenn ich nicht die Werke meines Vaters vollbringe, dann glaubt mir nicht! Aber wenn ich sie vollbringe, dann glaubt wenigstens den Werken, wenn ihr mir nicht glaubt! Dann werdet ihr erkennen und einsehen, dass in mir der Vater ist und ich im Vater bin. Wieder suchten sie ihn festzunehmen; er aber entzog sich ihrem Zugriff. 81 Es war bereits die zweite Flucht Christi. Während er bei der ersten Flucht – vor den Söldnern seines Konkurrenten Herodes – die steinernen Idole Ägyptens außer Kraft setzte und sie endgültig vernichtete, so war die zweite Flucht nicht nur ein Resultat des erneuten Anspruchs auf die Herrschaft in Judäa, sondern zugleich ein Versuch, selbst dem Tod durch Steinigung zu entkommen. Diese Art der Hinrichtung war in der jüdischen Tradition eine übliche Prozedur für jene, die des ›Götzendienstes‹ beschuldigt wurden. Während Christus sich also selbst einer Vernichtung entzieht – als selbstgemachtes Idol, zu dem er in den Augen der Juden geworden war –, manifestiert er eindeutig seine aktive Macht, die erneut die Passivität der unbeweglichen Idole als Werke der Menschen zum Vorschein bringt. Die nachträgliche Erfüllung der Geschichte im Moment der Kreuzigung erklärt allerdings die nicht stattgefundene Steinigung Christi zu einem Modell des ›mimetischen Todes‹, das zu einer möglichen, nicht verwirklichten Passionsgeschichte wird und als solche durch seine Nachfolger in Anspruch genommen wird. Die diesmal erfolgreiche Steinigung von Stepha80 Voragine, Legenda aurea, S. 64 – 71. 81 Vgl. auch andere Momente, z. B. Joh 8,59; 10,31.

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nus wegen Gotteslästerung durch die Juden nach seiner Weihe, Lehre und Figurwerdung kann im Rahmen der imitatorischen Poetik des christlichen Martyriums als Verwirklichung dieses Modells betrachtet werden. Diese mimetische Qualität des Martyriums als Figur des Leidens soll ferner im Rahmen der Devotion fortgesetzt werden: Die Darstellungen der ›Steinwerdung‹ und der Steinigung des allerersten christlichen Märtyrers bildeten Vorbilder für die Steinmetze, die neben den laneri in der Venezianer Scuola tätig waren und die diese ›Steinbezüge‹ in ihrer Berufspraxis kollektiv praktizieren konnten. 82 Michel Serres betont in seiner Studie zum Werk Carpaccios die zeitliche Dimension der Poetik von Stephanus’ Martyrium, wenn die Verwandlung des Heiligen in eine redende Statue zur Präfiguration seines Todes wird: »déjà pierre avant d’être lapidé«. 83 Dadurch drückt sich, laut Serres, die im Voraus angedeutete transitorische Position des Heiligen aus, der zugleich zu einem Ikonoklasten und einem Ikonophilen wird: »Pierre sur pierre. Étienne est, déjà, lapidé.« 84 Auch wenn die Inanspruchnahme des Sockels durch den Redner Stephanus hinterfragt werden kann, verbleibt die vita des Heiligen mit seinem martyrium bildlich in Einklang. Diese Kohärenz, die eine Erfüllung des Lebens auf Christi Spuren anhand typologischer Daten nahelegt, kann als eine Konsequenz der allerersten Relativierung der linearen Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit bezeichnet werden, die sich auf der Flucht nach Ägypten ereignete. Die Transzendenz zeichnet einen neuen zeitlichen Rahmen und ermöglicht, einen Anfang der zukunftsorientierten Geschichte zu bestimmen, einer Geschichte, die zum Diskurs, zum Argument und zum Kampfmittel um die monotheistische Exklusivität wird. Damit bildet sich ein neuer Begriff von Gemeinschaft, der später für die barocken Reminiszenzen innerhalb des konfessionellen Kampfes der Kirche als Institution maßgeblich und folgenreich sein wird. Wie Serres in seinen Erörterungen zu Carpaccios Bild und der Szene des auf dem ›heidnischen‹ Statuensockel stehenden Lehrenden schreibt: La communauté, la première église se divise: la chose même ou le symbole. Marque de la séparation primordiale, dès les protorécepteurs, lorsque le verbe n’est plus chair. Quand celui qui parlait réunissait d’un coup le locuteur, le signe et le sens, quand le verbe cher était son propre sens, et qu’il disait, par conséquent, je suis la voie, la réception, en ce temps-là, ne pouvait être qu’unanime. Mais ce temps-là n’est plus. Le temps où ceci, objet plain, était le corps, mon corps sujet. Temps achevé près la pierre tombale, au corps allongé sur la table de pierre, pou assis sur le trône brisé. Le nouveau temps, celui de la prédication et de l’écoute, le vrai temps de l’histoire, a déchiré en deux l’espace, les signes et les sens, l’immanent et le transcendant, l’indéchiffrable foisonnement des

82 Vgl. Gentili 1988, S. 79 – 108 (hier eine berufsbezogene Deutung der elaborierten architektonischen und skulpturalen Motive in den Bildern der Stephanus-Reihe). 83 Serres 1992, S. 75. 84 Ebd., S. 93.

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lignes présentes et l’absence du présenté. A déchiré en deux les groupes. Va déchirer les corps. Ici, le premier mot de ce temps-ci, le premier discours de l’histoire. 85 Die Gründung der neuen Gemeinschaft hängt demgegenüber von der Kapazität der typologischen Inanspruchnahme der Geschichte ab. In dieser führt die Präsenz der Spur zur Setzung eines erneuten Anfangsmoments – zur Stiftung einer Neuzeit – und ruft die kollektive Identität durch seine immer wieder an neue politische Verhältnisse angepasste, teleologische Deutung hervor. Die Geschichte Christi, in der das Motiv der zwanghaften peregrinatio als Flucht vor der Verfolgung – bis zum Moment der prophetisch vorausgesagten Erfüllung der Passion – zu einem dominierenden wird und in der die Spannung zwischen Transzendenz und historischer Präsenz unausweichlich einen Konflikt auslöst, definiert den Umgang mit historischen Spuren und ihrer Ambiguität. Anders als die zurückgebliebenen, zu einem fragmentarischen Schmachbild der Bewältigung gemachten Füße des Idols auf Patinirs Gemälde sollen die Fußabdrücke Christi für Beweise seines erfolgreichen Transitus gehalten werden. Die Suche nach den Spuren des allerersten Gründers der Gemeinschaft wird dadurch zu einer Projektion der Autorität in die Leere. Denn sie beweist eine unüberwindbare Kluft zwischen angestrebter Universalität und tatsächlicher irdischer Absenz, die für das Christentum als einer dezidiert historischen Medien- bzw. Schriftreligion maßgeblich ist und sich programmatisch im historischen Entzug realisiert: dem Verschwinden. Die Autoritätsbildung ist in diesem Fall ein auf einer Absenz des Vergangenen, auf einer Relativierung der Geschichte durch die transitorische Schwelle, und zugleich auf einer lediglich zukunftsorientierten, erneuten Präsenz aufgebautes Verfahren. Die Erscheinung (Christi) als historische Person bringt unausweichlich immer eine Empfindung vom Fort-Sein beziehungsweise Nicht-daSein mit sich. Georges Didi-Huberman betont in seinem Kommentar zu dieser einerseits fundamentalen, andererseits aber als banal wahrgenommenen und deswegen oft nicht mehr in die Forschung einbezogenen Tatsache eine fortdauernde Dynamik des indirekten SichZeigens: »Vermutlich gibt es keinen Glauben ohne das Verschwinden eines Körpers. [. . . ] So hört Christus niemals auf, sich zu manifestieren, zu verschwinden und schließlich sein Verschwinden selbst zu manifestieren.« 86 Wenn er dabei eine der bekannten Szenen der Himmelfahrt Christi vor Maria und den Aposteln analysiert, bei der die Fußabdrücke des Heilands auf einem Stein als dessen letzte sichtbare Spuren verbleiben – als Todes- und Absenznachweis –, 87 kann in diesem Kontext im Sinne der Geschichte von Kompetenzübertragung auf eine andere Abdrucksreliquie Christi verwiesen werden, die in der heutigen Forschung etwas in Vergessenheit geraten ist. Es handelt sich um den Stein mit Fußabdrücken, die Christus nach seinem Tod und noch vor der Himmelfahrt in Rom hinterlassen haben soll,

85 Ebd., S. 92. 86 Didi-Huberman 2001, S. 211. 87 Vgl. Didi-Huberman 1999, u. a. S. 56 – 69.

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der heute in der römischen Basilica di S. Sebastiano fuori le mura (in der Via Appia Antica) und als 1616 fabrizierte Kopie in der nahe gelegenen kleinen Kirche Quo vadis, Domine (S. Maria in Palmis) zu sehen ist (Abb. 11). An dieser Stelle soll Petrus, der nach Christi Kreuzigung versucht hatte, aus Rom zu fliehen, Christus getroffen haben, der ihm sagte, dass er nach Rom zurückkehre, um sich erneut kreuzigen zu lassen (»Venio Romam iterum crucifigi«, laut den Apokryphen, den sogenannten Petrusakten aus dem 2. Jahrhundert). 88 Hier schlägt die historische Dimension der Geschichte endgültig in eine teleologische um, die von der wiederholten Vorführung durch den Meister zur Praxis der Imitation unter den Schülern führt. Dies ist der Moment, in dem Petrus durch seine Entscheidung, nach seinem ängstlichen Versagen – der Verleugnung Christi nach dessen Tod – sich doch dem Märtyrerschicksal zu ergeben, seine eigentliche Mission begonnen und durch seine Rückkehr die bisherige Autorität der Apostelgemeinschaft als institutionelle Autorität der Kirche neu begründet hat. Diese steinerne Reliquie ist demzufolge nicht nur ein Beweis für das produktive Verschwinden, sondern auch ein christliches Mahnmal des Zweifelns, der Angst, schließlich des individuellen Scheiterns des Apostelfürsten, der als Petrus-Stein selbst als Fundament der Apostolizität dienen sollte. Zugleich aber ist sie ein Zeugnis der posthumen Gründung der Institution durch die Schüler Christi: aufgebaut auf einer permanenten Differenz zwischen dem in den Himmel gefahrenen Christus und seinen auf Erden verbleibenden Nachfolgern. Diese Differenz ist es, die trotz der mimetischen Versuche zahlreicher Märtyrer, in die Fußstapfen Christi zu treten, die Gültigkeit der allerersten Umkehrung der Geschichte durch das Christkind in Ägypten gewährt. Denn im Augenblick der Begegnung auf der Via Appia erfolgte gleichzeitig eine

Abb. 11: Stein mit den Fußabdrücken Christi, Kopie, 1616, Rom, Kirche Quo vadis, Domine.

88 Vgl. Mondini 2004, S. 399 – 410.

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direkte Konfrontation des designierten Nachfolgers mit dem bereits verklärten Körper des auferstandenen und bald fortgehenden Christus. Obwohl er seine eigene Mission und die seiner Schüler indirekt in Form einer Nachahmung (imitatio) darstellte, ist dieser empfohlene Weg der leidvollen Wiederholung lediglich ein Mittel zur Erfüllung ex post von einem auf der Verachtung der materiellen Welt gestützten Modell, das im Moment der Vernichtung des ›heidnischen‹ Idols durch die Inkarnation Gottes eingeführt worden ist. Wie sich in dieser Untersuchung noch zeigen wird, wurde diese Szene der visionären Begegnung Petri mit dem sich historisch endgültig entfernenden Christus in der barocken Kultur der institutionalisierten christlichen imitatio zu einem identitätsstiftenden Moment. Auch die steinernen Spuren Christi, mit denen die historische Absenz in eine permanente teleologische Präsenz umgearbeitet wird, bilden eine Matrix der Steine mit den Fußabdrücken der Nachfolger. In diesen Spuren, in denen – anders als bei den Idolen – die sich im Verschwinden manifestierende irdische Vergänglichkeit durch die himmlische Verheißung überwältigt wird, sollten die historischen Passionen der zahlreichen Imitatoren als Gründer der neuen apostolischen Zweige als historische Ereignisse memoriert werden. Der Prediger Stephanus auf Carpaccios Bild scheint seinen Sockel zu übertreten, um angesichts der die Zeit auf lösenden Menschwerdung Gottes auf seine gleichzeitige Präsenz und Absenz in seinen eigenen Spuren zu verweisen und dabei anhand eines vollkommen anagogischen Prinzips Gemeinschaft über allen irdischen Herrschafts-, Repräsentations- und Verkörperungssystemen aufzubauen. Dementsprechend sollen auch zahlreiche verehrte Fußspuren von Gemeinschaftsgründern, die zwischen Mittelalter und Barock zum Einsatz kommen, institutionelle origines von lokalen Gemeinden indexikalisch beweisen, ohne dass sie sich der Gefahr der Idolatrie aussetzen. 89 Das Negativ des Abdrucks als ein historisches vestigium des Vergangenen wird mit diesem Schritt in ein Positiv der auf ewig gegründeten und die außerweltliche Zukunft bereits anvisierenden Gemeinschaft umgewandelt. Die als historisches Ereignis und zugleich semantisches Schwellenmoment dargestellte Jerusalemer Rede des Stephanus auf dem umgedeuteten Sockel in Carpaccios Bild leitet das Thema der Abschaffung und Ersetzung der Idole direkt zur Problematik der Metapher über, mit der – wie Paul Ricœur in seinen Prolegomena zur Metapher als hermeneutischer Aufgabe schreibt – die Rede sich als Ursprungsfeld des Metaphorischen zeigt. 90 Die Rede, als »Gegenteil von Sprache als ›langue‹, Code oder System« – so Ricœur – wird zum ursprünglichen Ereignis des Verweises und bahnt den Weg für die Attribution von Eigenschaften, den konstitutiven Merkmalen des Metaphorischen als Teil des hermeneutischen Verstehens. 91 Die Bilder, die in dieser Studie als Bausteine einer historischen Konstruktion von Geschichte

89 Siehe z. B. zu den Fussabdrücken des hl. Adalberts Kundmann 1726, S. 5: »Habetur praeterea in hac basilica Johannea lapis, ut dicunt, miraculosus, in quo pedum plantae St. Adalberti Episcopi & Martyris sat profunde impressae videntur«. Vgl. Czechowicz / Pobóg-Lenartowicz 2016, S. 113 – 120. 90 Ricœur 1996, S. 356 – 375. 91 Ebd., S. 358 – 359.

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vorgestellt werden, übernehmen gewissermaßen selbst die Rolle der Nachfolger des Stephanus, indem sie als ›redende‹ Artefakte behandelt werden, allerdings lediglich in dem Sinne, dass sie eine bestimmte Wirklichkeit mit der autonomen Kraft des Ikonischen in der Form eines Diskurses herzustellen vermögen. Ihre Fähigkeit zu ›reden‹ wird hier im Kontext ihrer institutionellen Bändigung und Instrumentalisierung untersucht, sodass dabei vor allem die Schnittstellen zwischen Assoziation, Kontext und Prätext sichtbar werden sollen. Zum Höhepunkt dieser pervertierten Autonomie der Bilder gehört ihre Möglichkeit der produktiven Selbstverneinung – des Verweises auf den eigenen Sockel, um mit der Stimme der christlichen Idolenfrage zu sprechen –, die als Sinn der frühneuzeitlichen Bildlehre betrachtet werden kann. 92 Als Paradebeispiel für diesen Entzug kann hier noch ein viertes Bild erwähnt werden, das sich mit der ganzen Kraft seiner ungewöhnlichen Medialität als ›Konsequenz‹ der oben beschriebenen Trias aufdrängt: Die Heilige Familie auf der Flucht nach Ägypten vor der Ansicht von Verona von Battista Agnolo del Moro aus dem Jahr 1581 (Taf. 12). Die sofort ins Auge fallende Selbstthematisierung dieses Bildes, die sich in der herunterrollenden, eine untere Malschicht enthüllenden Leinwand zeigt, ist bereits zu einem erkennbaren ikonischen Zeichen der visuellen Störung geworden. 93 Dabei wurde allerdings lange nicht darauf geachtet, dass dieses Gemälde nicht irgendein Porträt oder – wie man die ikonografische Unklarheit zu dechiffrieren versuchte – eine Vision der Heiligen Familie mit Stadtansicht im herunterrollenden Vordergrund zum Thema hat, sondern ihre Flucht nach Ägypten mit der hinzugefügten typologischen Figur des kleinen Johannes des Täufers als Vorläufer und Herold Christi. 94 Die selbstbezogene Mission des christlichen Bildes, so wie sie seit der Ermächtigung des kleinen Christus vor den ägyptischen Idolen im Gange war, manifestiert sich in diesem Fall in einer radikalen Auffassung der medialen Selbstkritik und in der Verabsolutierung der visuellen Metapher als Zweck der eigenen Aussage. So wie in Elsheimers Gemälde wenig später das explanandum des dargestellten Universums bloßgestellt wurde, so wurde durch del Moro eine vollkommene Relativierung des explanans der figürlich bemalten Oberfläche selbst vollzogen, um die bildliche Metapher als eine normative Ablenkung vorzustellen. Die im Vordergrund des Gemäldes zu sehende Idylle, die der von Elsheimers Lagerfeuer ähnelt, erweist sich in diesem Zuge lediglich als flache Verhüllung der tatsächlichen historischen Realität des gefährlichen entfremdenden Exils, in dem sich die erste christliche Familie befand. Um beurteilen zu können, inwieweit die im cartellino genannte Stadt Verona trotz dieser Idylle als ein Terrain der irdischen Peregrination verstanden werden sollte, gibt es keine ausreichenden Hinweise, allerdings wird die Ansicht von einem Kloster her dargestellt, von dem Ort des weltentfremdenden Rückzugs also, in dem der Maler sich aufhielt. 95 Was jedoch damit eindeutig zum Vorschein kommt, ist die 92 Vgl. Koerner 2002, S. 164 – 213 (insbes. S. 189 – 200, Kap. »The Image Makers are Image Breakers«). 93 Krüger 2001, S. 38 – 39, 44 (hier die einrollende Leinwand als »ein Vergehen der Landschaft«), 46; Krüger 2000, S. 107 ff. Vgl. Kapustka 2015, S. 7 – 17, hier: S. 13. 94 Bredekamp 2010b, S. 269 – 171 erkennt das Thema des Bildes. 95 Vgl. Krüger 2001, S. 38.

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Selbstentfremdung eines Kunstwerks, das sich dem Betrachter im Sinne eines Autoikonoklasmus präsentiert. An diesem Beispiel der zutiefst sinnerzeugenden Bildstörung kann eine alternative Genealogie der frühmodernen Täuschung verfolgt werden, die nicht nachträglich, sondern parallel, wenn nicht sogar unabhängig von den bildtheoretischen Paradigmen der künstlerischen finestra aperta Leone Battista Albertis, den verweisenden Sinn der mimetischen Darstellung klarstellt. 96 Gleichzeitig bereitet diese explizite Selbstverneinung des christlichen Bildes im Hinblick auf seine sich immer im Hintergrund implizit abzeichnende ägyptische Entstehungsgeschichte einen Grund, um sichtbare Techniken der Blickverstellung und der dynamischen Aufhebung der Fläche im Rahmen der Anamorphose zu entwickeln. Letztere lässt sich gerade als ein extremes Mittel der künstlerischen Täuschung und Enttäuschung bezeichnen, welches das Thema der Bildlichkeit auf den schmalen Grat zwischen mimetischer Magie und Anti-Mimetik beziehungsweise Anti-Repräsentation leitete. 97 In diesem Sinne geht es im Folgenden nicht um die Klärung der strukturellen, medienund literaturwissenschaftlich orientierten Differenzierungen zwischen einzelnen Arten von Metaphern – Metapher, Metonimie oder Synekdoche –, sondern darum, die Entstehungsnarrative der relationalen und attributiven Bildinhalte als Effekte des vorgenommenen Schwellenüberbrückens zu sehen, der ersten Verhüllung, zu der es keine Alternative mehr gibt, außer dass sie selbst in eine neue Realität umschlägt. 98 Nicht die Metapher als Begriff und mediales Verfahren, nicht ihre Prädikate oder syntaktischen Strukturen bilden hiermit den Hauptpunkt des Interesses, sondern mythologisch-dogmatische Bedingungen ihrer historischen Einführung im Christentum als eine normative Ablenkung ontologischer Art, die in einem spezifischen Moment der Abschaffung der alten und gleichzeitigen Erschaffung der neuen normierten Bilder zustande gekommen war. Wenn die Welt nur als eine Brücke wahrgenommen wird, 99 verwandelt sich die Metapher von einem rhetorischen Werkzeug, wie es in der Antike eine Rolle spielte, in ein Mittel der kategorialen Unterscheidung. Die angesichts der Bilder oftmals gestellten Fragen wie: »Ist diese Darstellung eine Metapher oder eine Metonymie?«, deren Antworten in lexikalischen Definitionen liegen, in Spezifikationen der einzelnen Begriffe, geben hier entsprechend der folgenden Frage Vorrang: Was für kulturelle Fundamentierungen gab es, damit das Bild überhaupt als vertikale Metapher – dem Prinzip einer normativen Ablenkung untergeordnet – funktionieren und seine Techniken als solche entwickeln konnte? Es ist eine Frage nach den Entstehungsmöglichkeiten einer Metapher und nach ihrer Erfüllung in sakralpolitischen Techniken der diskursiv kontrollierten Selbstüberschreitung.

96 Zu den künstlerischen Theorien und Praktiken der Illusion wie auch zu den Erzeugungstechniken der bellezza im Dienste der frühmodernen Devotion siehe v. a. Krüger 2001, passim; Wolf 2002, passim. 97 Moxey 2013, S. 122 – 127, 132; Belting 2002, S. 44 – 52. 98 Vgl. u. a. Lieb 1996, S. 340 – 345. 99 Blumenberg 1998, S. 27, wie auch ebd., S. 49 – 60 (zur Umformung der antiken Metapher durch christliche Engführung der Übertragung anhand von Laktanz’ Schriften).

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Der christliche Ursprungsbezug der Metapher positioniert sie sogar als Verschleierung der Verschleierung. Die mythologische Narration, die in keiner Zeit verankert ist, so wie sie es den griechischen Philosophen ermöglichte, den unbegreif lichen Kern der aletheia verschleiert zu verkünden, erzeugte im Christentum als historisch verortbare Religion der zukünftigen Präsenz selbst eine neue mythologische Verhüllung in weltentfremdenden Metaphern wie die des plötzlich wachsenden Kornfeldes. Diese theologisch basierte, verhüllende Distanz erwies sich als ein geeignetes Instrument, mit dem die Transzendenz als eine höhere Realität geschützt werden konnte. 100 Anstatt die Theorie der Metapher oder ihre Klassifizierung nach semantischen Durchgängen zu untersuchen, versteht sich somit die vorliegende Studie als ein Hinweis auf die spezifische Eigenschaft des Metaphorischen, die sich nur in Bildern – und folglich in der sakralpolitisch zu einem Bild erklärten Realität – verfolgen lässt. Es geht um diese antagonistische Auslegung der Metapher, die selbst ein Effekt davon ist, auf welche Art und Weise vorher die Abschaffung, Bewältigung oder Zähmung der Bilder vollzogen und narrativ als Kern der historischen Werdung kultiviert wurde. 101 Das Konstruieren der Wahrheit in solch einem Bildkonflikt erfordert Opfer und zwingt zur Mobilisierung der Kräfte, sodass die Bewältigung und Überwindung zum Modell der enthüllenden Erkenntnis avanciert: »Und hier kehrt sich die ganze Metaphorik von der Macht der Wahrheit um in die Vorstellung von der Gewalt, die der Mensch der Wahrheit antun muß, um sie sich zu gewinnen.« 102 Eine bestimmte Art des metaphorischen Verweises, die Hyperbel, die sich in diesem Kontext der Bewältigung und Aneignung von Wahrheit in den Vordergrund drängt, wird hier dementsprechend nicht gattungsspezifisch behandelt, sondern vor allem als Verfahren der bewussten und kontrollierten Übertreibung von aliqua figura veritatis. Denn die Hyperbel macht auf die Tatsache der medial und bild-technologisch ermöglichten Selbststeigerung des bildlichen Verweises aufmerksam, der in typologische Gradationen verwickelt ist – bis zur Selbstverneinung und Überquerung der eigenen medialen Kapazität. In der Hyperbel zeigt sich die Nähe zwischen dogmatisiertem Ursprungsnarrativ und mimetischer Kraft der Poiesis, durch die eine fiktionalisierende Verstellung in Gang gesetzt wird – eine »Reallokation« des Verweises, die im Lichte der Hermeneutik als Missbrauch der Metapher, als eine Verwechselung der Maske mit dem Gesicht angesehen wird. 103 Diesem bedingungslos durchgeführten Tausch wird im Folgenden konsequent nachgegangen, um danach zu fragen, inwieweit sich die Selbstüberbietung des Verweises als ein Grundtenor in den westlichen Bildtechniken der Neuzeit etabliert hat. Die kritische Beschreibung dieser Prozedur der metaphorischen »Reallokation«, welche die den Bildern eingeborene assoziative, dynamische und retroaktive Polysemie autoritär vertikalisiert, erfordert dementsprechend, der systematischen Wirkungsmacht des historischen Diskurses nachzugehen – sich durch die Norm 100 Vgl. Ginzburg 1999, S. 42 – 96, insbes. S. 51 – 56. Vgl. Blumenberg 1988, S. 79; Blumenberg 1979a, S. 239 – 290. 101 Vgl. Blumenberg 1998, S. 32. 102 Vgl. ebd., S. 34. 103 Vgl. Ricœur 1986, S. 245 – 251.

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führen lassen –, um dessen Grenzen gleichzeitig sowohl demonstrativ als auch dialektisch aufzeigen zu können. So sieht auch Gaston Bachelard im Verfolgen einer übertreibenden, weil einer Übertreibung nachkommenden dichterischen Sprache ein phänomenologisches Vorgehen, mit dem sich durch die Potenzialisierung der Sprache die Gefahr der Bekömmlichkeit abwehren lässt: Was mich selbst betrifft, so nehme ich das Bild des Dichters als einen kleinen experimentellen Wahnsinn auf, als eine Spur potentiellen Haschischrauches, ohne den wir nicht in das Reich der Imagination gelangen könnten. Und wie anders soll man ein übertriebenes Bild aufnehmen, als indem man es noch ein wenig mehr übertreibt und die Übertreibung ins Persönliche überträgt? Der phänomenologische Gewinn springt sofort in die Augen: wenn man das Übertriebene weitertreibt, hat man einige Aussicht, den Gepflogenheiten der Reduktion zu entkommen. 104 Eine Philosophie der Einbildungskraft muss also dem Dichter bis an die äußerste Grenze seiner Bilder folgen, ohne jemals diesen Extremismus zu reduzieren, der das eigentliche Phänomen des dichterischen Schwunges ist. 105 Da auch im Rahmen hiesiger bildgeschichtlicher Untersuchungen der historischen Praxis der Hyperbolisierung akribisch gefolgt wird, hat dieses Buch auf eine ähnliche Art und Weise nichts zu verbergen oder zu enthüllen. Die Leere dieses Vorgehens besteht in der Einfachheit der direkten Beobachtung und der Beschreibung, in einem Übergang retrogrado vom Namen zum Akt und vom Namen zum Ding – beides als Effekte historischer Entscheidungen und dadurch eingeleiteter semantischer Kaskaden von Singularitäten. Was das Buch liefert, ist schließlich nur eine auf Demonstration aufgebaute kritische Analyse einiger Bestandteile der zur kulturellen Erbschaft zwingenden, expansiven und zugleich auf metaphorischem Entzug basierten Bilderlehre, die einen Bildkonflikt hervorruft. Diese Untersuchung folgt dabei konsequent den historischen Bildern entlang der zwischen den Zeiten sich entwickelnden Komplexitäten ihrer vorgegebenen Vermittlerrollen. Die frühmoderne Hyperbel wird somit zur Schau gestellt als eine Kondition der Selbsterhöhung durch die Aufhebung des Fremden. Ihre narrative Herausschälung wird hier in einem bildhistorischen und bildkritischen Verfahren möglich, mit dem die übertragende Hyperbel nicht mehr die Sprache der Selbstbewahrheitung sprechen kann, sondern sich in einer entfremdenden Beschreibung zeigt, die ihr folgt und die Grenzen der Hyperbolisierung von außerhalb aufweist. Mit dieser äußeren Aufschließung der vertikalisierten Metapher zeigt sich die Perspektive vom Abriss ihrer Normativität, die in der sinaitischen Gesetzgebung sanktioniert wurde – die Metapher als eine normative Störung der Einheit der Welt, eine »semantische Anomalie«. 106 Als eine in ihre Zeit narrativ hineingeworfene und zugleich anachronistisch aufgeladene Aussage, 104 Bachelard 1987, S. 217 – 218. 105 Ebd., S. 219. 106 Blumenberg 2007, S. 61 – 62.

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präsentiert sich die vertikal festgelegte Metapher insbesondere im finalen Kapitel dieser Studie als eine historisch vorprägende Bedingung dafür, wie die frühmoderne Vorstellung von Evidenz, Rekonstruktion und Übertragung selbst von den Bildkonflikten abhängt, die die Metapher erzeugt. Untersucht wird dabei die übertragungstechnische Produktivität des Normativen: In Anlehnung an Louis Marin und anhand einer Analyse von Caravaggios Gemälde Christus in Emmaus, in dem der schlichte Moment der Erkennung der symbolischen Auf ladung von Christi Geste des Brotbrechens durch die Schüler dargestellt wird, weist Bruno Latour darauf hin, dass die christlichen Bilder stets semantisch in ›Kaskaden‹ auf andere Bilder verweisen: »Die Aufmerksamkeit anderswohin zu lenken, ist stets die Aufgabe, die sich diese Bilder stellen, um so die Gläubigen zu zwingen, sich von einem Bild zum nächsten zu bewegen.« 107 Die immer weiter führende, sich zwanghaft realisierende Verweisfunktion der Bilder als ihr frühneuzeitliches Charakteristikum macht deutlich, inwiefern sich ihr Sinn in ständiger Selbstüberschreitung und zugleich Selbstrelativierung realisiert. 108 Diese Beobachtung ermöglicht die Erfassung der Autarkie eines Systems, das die Vermittlung als Ebene der kontrollierten Sinnerzeugung zu bewahren versucht. Solch ein System stellte der katholische Barock mit seiner Relativierung von Historizität und Gegenwärtigkeit dar. Der Unterschied zwischen diesen beiden Ebenen konnte mithilfe von miteinander systematisch vernetzten Bildtypologien, Formkonstellationen und Realitätsentwürfen weitgehend zugunsten eines Stillstands in postulierter überepochaler Erfüllung aufgehoben werden. Es geht um eine kritische Verfolgung des durch ein Bild implizierten Verweises, ohne das andere Bild, auf das verwiesen wird, als die endgültige Wurzel dieser Vermittlungspraxis zu betrachten, ohne nach dem statischen Fundament zu suchen – ohne imitatorisch zu handeln –, sondern um stattdessen die Fundamentierung selbst als eine entworfene und kultivierte Strategie in Relation zu stellen. 109 Das ist der dialektische Weg zur Erfassung der poietischen Rolle der Bilder jenseits des explanatorischen Zwangs der Semantik und jenseits der sogenannten anthropologischen Konstanten: eine Öffnung des allen zugänglichen Archivs. Es geht darum, aus der Position der Differenz diese Verknüpfungen genau zu verfolgen, um die Verknüpfung selbst als Technik aufzeigen zu können. Dieser kritische Beobachtungsmodus erlaubt es, gezielt eine eigenständige Kategorie der Pikturalität des Geschehens zu denken: eine Formation des Ereignisses oder eines Bildes mithilfe anderer auf sie verweisender Bilder, eine Kultivierung der Realitätsdeutung durch geschichtete Bildervermehrung in einem autarken, sich selbst bestätigenden Diskurs. In solch einem System der vernetzbaren Dar- und Vorstellungen als sakralpolitischen Entwürfen der Realität zeigt sich diese schließlich selbst wie ein Bild, etwa

107 Latour 2002, S. 66; siehe auch S. 67 – 69. Der Autor unterscheidet allerdings an einem anderen Ort zwischen den religiösen Bildern und den »kalten« Bildern der Wissenschaften; ebd., S. 24 – 25. 108 Vgl. zur Selbst-Entfernung der Sprache: Foucault 1988, S. 161 – 162. 109 Foucault 1988, S. 182: »die Entdeckung einer Fundierung, die Freilegung von Gründungsakten.«

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im Sinne W. J. T. Mitchells, der in seinen Ausführungen zum pictorial turn über visuelle Verdopplungen schreibt – Darstellungen von Darstellungen, Vorstellungen von Vorstellungen und Figurationen von Figurationen –, die den Begriff imagery plausibel machen und einen Anlass dazu geben sollen, Ideen selbst wie Bilder zu betrachten (»to see ideas as images«). 110 Am Ende zeigt sich der Gegenstand der kritisch beschreibenden Analyse – historische, vertikal ausgerichteten Bilderkaskaden – wie eine unaufhaltbare Extension, eine durchdringende bildliche Atmosphäre: eine Unsichtbarkeit, die die liminalen Werte für eine Auslegung der Bildermacht von innen vorgibt. Die Frage lautet also: Wie werden diese Kaskaden hergestellt? Sie betrifft ebenfalls die wissenschaftliche Produktion von sekundären Metaphern, die sich vernetzen, sich auf bereits vorgegebene Metaphern beziehen und das semantische Mauerwerk der Interpretierbarkeit von Bildern zementieren – diese Produktion mündet in einer künstlichen, medial erzeugten Zeitenthobenheit und legt damit den Grundstein für einen neuen Essentialismus des ahistorischen Medienglaubens. 111 Damit wird ein Riss als Ausgangspunkt unserer Thesenentfaltung sichtbar: Als ein zu einem Konsensus erhobenes Denkschema der durch Bewältigung der Vielfalt gesteigerten Selbstüberbietung generiert die christliche Metapher einen Erkennungsmodus der Bilder. Die verweisende Rolle der visuellen Repräsentation, so wie sie im katholischen Barock theoretisch und postulativ als Spur des einstigen – neutestamentlichen – ontologischen Konflikts gefestigt wurde, ist eine Funktion ex post; sie ist immer wieder definierbar durch ihre genealogischen Züge, die den Mythos durch das Dogma bändigen. 112 Die unwiderruf liche und daher sich selbst potenzierende metaphorá geht dabei Hand in Hand mit dem Projekt der immer fortschreitenden metanoia, was sich als Grund der eindeutigen Direktionalität der Ersteren innerhalb der als christlich zweckdefinierten Kunst in der Frühen Neuzeit entpuppt. Das Ereignis der Flucht nach Ägypten lässt wegen seines nachhaltig bilderfeindlichen Potenzials gerade die Bildlichkeit des Metaphorischen bewerten beziehungsweise diese Art von metaphorischen Bezügen in den Vordergrund rücken, die wegen dieser apriorischen

110 Siehe Mitchell 1987, S. 5 – 6, wie auch S. 39: »We can never understand a picture unless we grasp the ways in which it shows what cannot be seen«. Vgl. Holly 1996, S. 83 (»The trick is making what forever will be a provisional metaphorical construction at least partially consonant with that made visible in the reigning artistic metaphors of the period.«) 111 Vgl. Haverkamp 1996, S. 500: »Es gehört zu den Paradoxien dieses Begriffs schon im Ansatz, daß die Metapher den Begriff ihrer selbst nicht begriff lich, sondern selbst nur metaphorisch fassen kann – so wie es zu den paradoxen Konsequenzen schon dieser Paradoxie gehört, daß es der Orthodoxie der Begriffe gar nicht anders geht.« 112 Zu antiken Ursprüngen des metaphorischen Denkens an der Grenze zwischen Mythos und Sprache als Mittel zur Beherrschung des »Chaos der Objekte« siehe den klassischen philosophischen Eintrag: Cassirer 1959, S. 71 – 167, insbes. S. 144 – 158, Kap. »Sprache und Mythos. Ein Beitrag zum Problem der Götternamen«. Die aristotelischen Anfänge der Metapher skizziert Mende 2013, S. 168 – 181. Siehe auch Blumenberg 1979a, S. 254, zu einer »Welt ohne Gleichnisse« als kontrastiert mit der evangelischen Idealisierung des Menschen im Rahmen der eschatologischen Planwirtschaft Gottes (vgl. dazu Blumenberg 2007, S. 89 – 91).

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Auf ladung mit dem ursprünglichen, unüberwindbaren Konflikt zwischen Immanenz und Transzendenz der Repräsentation neue Wege erschlossen. 113 Die christliche Wende beseitigte mit der programmatischen Verhöhnung der immanenten Verkörperungsmodelle in den Bildern der griechisch-römischen Antike eine Möglichkeit, Bilder selbst als Elemente der Umwelt sprechen zu lassen, einer Umwelt, in der imaginierte Götterpräsenzen sich in der Natur ereignen. Zudem etablierte sie die vertikale Referenz zum fernen unsichtbaren Gott als eine alternativlose Option der Bildlichkeit. Nach der Flucht nach Ägypten dürfen Bilder nicht mehr im eigenen Namen agieren.

Monumentale Antithesen: Objekte und Akteure Der Topos der Zerstörung von Idolen als Synonym der Bewältigung der Fremdheit hat durch seine feste Verankerung in der christlichen Bilderwelt bewirkt, dass die Abrundung der Heilsgeschichte im Sinne einer Reihenfolge: Abstieg – Konflikt – Opfer – Erhöhung in Konsequenz selbst zu einem autoritären Leitfaden der Geschichtsschreibung geworden ist. Es ist daher nicht verwunderlich, dass gerade diese große Narration im Zeitalter der reformatorischen Sezession zu einer Erzählfläche der institutionellen Suche nach den Wurzeln der römischen Kirche wurde, die angesichts der inneren Spaltung, die bereits durch Augustin befürchtet worden war, 114 ihre Legitimität zu beweisen versuchte – und zwar durch die Betonung einer Kontinuität der Zeit. Zwischen dem unausweichlichen Ur-Konflikt der Transzendenz mit der historischen Singularität des Idols und dem zukunftsorientierten Aufbau der christlichen Gemeinschaft wird ein werdendes Subjekt verortet, an dessen Entscheidungsfähigkeit mithilfe von klaren bildlichen Thesen und Antithesen gearbeitet wird. Diese Klarheit wird in Bildern durch eine typologische Argumentation erreicht, die durch die Polarisierung der historischen Seiten des Konflikts den Betrachter zu einer endgültigen Stellungnahme zwingt. So zeigt auch die Zeichnung Jacopo Stradas von ca. 1570 (Abb. 12) den Idolensturz und die Taufe als zwei miteinander korrespondierende Tatsachen, die sich beinahe unumgänglich gegenseitig bedingen. Zwischen dem Bilderstürmer als einem mit der Pathosformel seines Kleidbeiwerks ausgezeichneten Ordnungsstifter, der die Tugend mit dem Hammer umzusetzen versucht, indem er eine antike Skulptur in Teile schlägt und den bereits liegenden, steinernen Korpus mit Füßen tritt, und dem bärtigen Johannes, der Christus gerade getauft hat, kniet eine

113 Darin mag sich die Funktion der christlichen Metapher als »Leitfossil« verwirklichen, so wie die Metapher generell von Hans Blumenberg genannt wurde. Die Spuren des ursprünglichen Konflikts zu ihrer biblisch definierten Entstehung führen dazu, sie stets im Hinblick auf ihre Genealogie – ›archäologisch‹ – zu betrachten. Siehe Blumenberg 1979b, S. 77; vgl. zum Kontext des Begriffs Mende 2013, S. 231. 114 Günther 1993, S. 44.

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Abb. 12: Jacopo da Strada, Die Zerstörung des Idols und die Taufe Christi, um 1570, Zeichnung in einer Entwurfsammlung, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Inv.-Nr. Cod. Min. 21/3.

halbnackte, männliche Gestalt, die mit ihrer Körperhaltung zu einem mimetischen Double von Christus wird und sich beinahe körperlich mit ihm vereint. Diese Darstellung zeigt eine Gleichzeitigkeit der zwei Arten von Transgression. Der in die Fußstapfen des Gottessohnes tretende Christ als neues Mitglied der Gemeinde wird modelliert; es handelt sich um eine sukzessive Spiegelung des vollbrachten Vernichtungsaktes. Dieser Christ gewinnt die Form, so wie das Idol, sein ›heidnischer‹ Vorgänger, seine auf Polyklets Ideale oder gar an Praxiteles’ olympischen Hermes anknüpfende Form gerade verliert und bis zur amimetischen Unkenntlichkeit zerstückelt wird. Die künstlerische Anthropomorphie wird durch göttliche Ebenbildlichkeit ersetzt. Diese Darstellung erfüllt daher bis zum äußersten Grad die Bedürfnisse der eindeutigen Artikulation im Sinne eines eingeleiteten Bildkonflikts und tut dies mit einem Hinweis auf die historische und semantische Gleichzeitigkeit von damnatio und communio. Solch ein Hinweis auf die gegenseitige Konditionierung des seit der Flucht nach Ägypten anerkannten, ›rechtgläubigen‹ Zerstörungswerks und der formenden Institutionalisierung der christlichen Gemeinde wird im Barock zu einem erkennbaren Leitfaden der auf Subjektbildung zielenden Bildproduktion.

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Abb. 13: Cesare Baronio, Annales Ecclesiastici, 1588, Frontispiz.

Die Suche nach den materiellen origines der Kirche war im barocken Zeitalter nach diesen Prämissen der klaren Entgegensetzung und historischen Typologisierung mit einem enormen Konfliktpotenzial gekennzeichnet. Auf dem bekannten Titelblatt der wichtigsten frühneuzeitlichen Bearbeitung der archäologisch geprägten Kirchengeschichte im Zeitalter der Religionskriege, der Annales Ecclesiastici des Oratorianers Cesare Baronio von 1588 (Abb. 13), 115 wird diese Linie der auf Erzeugung von historischen Antagonismen aufgebauten Triumphpropaganda programmatisch eingeführt. Das Frontispiz dieses Werks wird zu einem allegorischen Ereignis, in dem auch dem mittelalterlichen Bild als Akteur aus der immer noch aktuellen Vergangenheit eine konstitutive Rolle zukommt. Die Auffassung eines wahrhaften und erleuchtenden Glaubens unter Auspizien des römischen Marienbildes der S. Maria in Vallicella – noch bevor Rubens diese mittelalterliche Bildspolie durch seine mobile Bildklappe 1606 – 1608 zu einem intermedial ›sprechenden Subjekt‹ erklären konnte 116 – bildet sich hier erst durch die Subordination des Anderen heraus. In dem für die neue Kirchengeschichte als repräsentativ vorgestellten Identitätstopos bediente man sich 115 Baronio 1588 – 1609. 116 Aus der reichlichen Literatur zu diesem Werk siehe: Warnke 1997, S. 66 – 87; von Zur Mühlen 1996, S. 245 – 272.

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einer bereits in dieser Zeit etablierten Bildfindung, die in der gewöhnlichen Herrscherund Feldherrenikonografie ihren Platz hatte: die Darstellung des gefesselten Feindes. Im Frontispiz erscheint er doppelt: als Häresie und als gerüsteter ›Ungläubiger‹. 117 Letzterer, der mit einem Morion-Helm und einer antikisierten Rüstung eindeutig als Protestant und nicht wie gewöhnlich als Römer, exotischer ›Heide‹ oder Muslim aus dem Orient gedeutet werden sollte, wird selbst zu einem Schmachobjekt, zu einem Tropaion, indem er auf dem Haufen der eigenen, als Panoplien inszenierten Waffen demütig kauert. Zur linken Seite tritt wiederum die als altes Weib mit hängenden Brüsten – dem deutlichen Gegenstück zu den vollen lactatio-Brüsten Marias – dargestellte Häresie auf ihre eigenen Bücher, die somit zu verachtungswürdigen Medien der falschen Lehre erklärt werden. Während die beiden Gegner der rechtgläubigen Institution vor allem dunkle Schatten auf die Erde werfen, tauchen die triumphierenden Protagonisten der christlichen Heilsgeschichte sie ins ewige göttliche Licht. Das Symbol des Kreuzes, das in dieser Allegorie zu einem durch Glaubenspersonifikation beherrschten Kontrollinstrument wird, an das beide Gegner angekettet bleiben, verwandelt sich dabei in ein neues Marterzeichen, ein zwiespältiges Signum der heilsbringenden und erfolgreich durchgeführten Bekehrungsmission als identitätsstiftendes Prinzip des siegreichen Katholizismus. Die Inschrift unter dieser altarartigen Bühne des Konflikts, die dem Psalm 26 entnommen wurde, der als eine Hymne des Vertrauens an Gott in schwersten Auseinandersetzungen mit listigen Feinden verstanden werden kann, bezeugt darüber hinaus die Bedeutung des ewig gepflegten Antagonismus als eine motorische Kraft der teleologisch konstruierten christlichen Geschichte: »In petra exaltavit me, et nunc exaltavit caput meum super inimicos meos« (Ps 26 (27),6). Dies sind Worte, die den Kampf mit den Gegnern perpetuieren: Das entscheidende nunc erscheint dabei als eine Formel der Aktualität, die den bereits errungenen Triumph mit dem immer noch andauernden militanten Einsatz auf ewig verbindet und die Mission stets prospektiv versteht. Der Titel von Baronios Werk – und damit das vom Autor dargelegte textuelle Geschichtsarchiv des Christentums selbst – entfaltet sich also in dem zentralen weißen Feld des altarartigen Frontispiz wie ein Sprechakt, der im Voraus politisch gedeutet worden ist. Heute würde man vielleicht sagen: wie ein Film auf einer Leinwand, deren Rahmen einen politischen Kommentar zum Gezeigten liefert. Die kämpferische Rhetorik, die bereits bei der Ausgabe des ersten Bandes der Annales durch solch eine politische Ikonografie das historiografische Verfahren bestimmte, wurde in den späteren Teilen der Reihe im Sinne der historischen Aktualisierungen fortgeführt. Der Band X aus dem Jahr 1602, in dem unter anderem die Christianisierung der östlichen Teile Europas in den Jahren 843 – 1000 beschrieben wird, ist Kaiser Rudolf II. von Habsburg gewidmet, wobei die Bekehrung von Böhmen und Ungarn mit dem damaligen Türkenkrieg von 1601/1602 typologisiert wurde. Der 1604 herausgegebene Band XI, der die Zeitspanne von 1000 – 1099 umfasst, ist wiederum dem polnischen König Sigismund III. als Neubegründer

117 Zu diesem Motiv: Kempe 2014, S. 157 – 183.

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Abb. 14: Bohuslav Balbin, Epitome historica rerum bohemicarum, 1677, Frontispiz.

des katholischen Glaubens in seinem Reich gewidmet. 118 Die Widmungen besiegeln auch die älteste Geschichte der Kircheninstitution in ihrer andauernden Aktualität des Missionswerks und verleihen dem Konzept der Annales den Eindruck einer historischen Erfüllung. 119 Solch eine triumphale Ausstattung von historiografischen Untersuchungen scheint sich mit Baronios Projekt als eine Norm festgesetzt zu haben, als ein Paradigma, mit dem die eigene Geschichte durch eine klare Benennung der Feinde und eine Perpetualisierung des rechtgläubigen Kampfeinsatzes greifbar wurde. Als Beispiel dieser Bildsprache kann das Frontispiz zu einem der bedeutendsten Werke zur böhmischen Staatsgenealogie genannt werden: Epitome historica rerum bohemicarum von 1677 von Bohuslav Balbin (1621 – 1688), dem böhmischen Geschichtsschreiber und Rektor des Prager Clementinums (Abb. 14). 120 Bezeichnend ist dabei die Tatsache, dass es sich um eine komplexe Bearbeitung der böhmischen Geschichte handelt, obwohl der Autor eingangs plante, einzig eine Besprechung der Kultgeschichte der Madonna von Altbunzlau (Maria Staroboleslavská), eines der wichtigsten

118 Siehe dazu Jedin 1978, S. 43. 119 Norelli 1982, S. 253 – 308. 120 Balbin 1667. Vgl. Vácha 2014, S. 257 – 259; Zelenková 2009, S. 84 – 85.

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Kultgegenstände in der gesamten böhmischen Provinz, zu verfassen. 121 Die monumentale Rekonstruktion der dynastischen Geschichte wird auf dieses allerheiligste böhmische Bild – das Palladium – zentriert, das im Mittelalter durch den böhmischen Proto-Märtyrer Johannes von Nepomuk verehrt wurde und darüber hinaus mit der durch den hl. Wenzel in Gang gesetzten Staatsgründung und somit mit den Anfängen des christlichen Reiches in Böhmen zusammenhängt. 122 Der Titelkupferstich, der anhand der zeichnerischen Vorlage Karl Škretas von Melchior Küsell bereits 1669 – 1670 gefertigt wurde, thematisiert in einer allegorischen Darstellung die katholischen Grundzüge der historischen Erkenntnis. 123 Während links eine Forscherfigur, welche zusammen mit der frühmodernen Curiositas die historiografische Pflicht verkörpert, nach den eigenen Ursprüngen in einer mit Herrscherbüsten gefüllten Höhle sucht und sich im Endeffekt durch das Erleben der historischen Finsternis auf der rechten Seite in eine der Ikonologie Cesare Ripas entlehnte, durch Sonnenstrahlen erleuchtete Wahrheit verwandelt, definieren zwei Parallelwelten die Bedingungen dieser erfolgreichen, archäologisch gesättigten Neugier. Die oben kollektiv ihr Werkzeug auslegende Historia (mit einem vollen Bienenstock), Industria, Philosophia und Memoria sowie Meditatio und weitere Personifikationen und englische Gestalten bilden nur insoweit eine produktive Gesellschaft, als sie zu einer ikonografischen Polarisierung beitragen. Im unteren Register, in einer Vorhölle der historischen Arbeit, lauern alle Gefahren und Versuchungen, die einen Erforscher der Vergangenheit stets begleiten: Faulheit, Häresie, Chronos, Neid und nicht zuletzt Mars. In dieser Entgegensetzung zeichnet sich ein deutliches Vertrauen in historische Bildreste als glaubwürdige Relikte ab, etwa im Sinne eines marianischen Reichspalladiums. Denn während die Obscuritas der alten Bilder zur wahrheitsbedingten Erleuchtung führt, sind alle erkenntnisfeindlichen Ungestalten damit beschäftigt, die Bücher als tote Schriftmedien zu negieren, zu verfälschen oder zu vernichten. Es ist eine zunächst erstaunliche Aussage für ein historiografisches Monumentalwerk im Dienste der Lokalidentität, die jedoch letztendlich darauf hinweist, dass es gerade die in ihrer historischen Leiblichkeit intakten Bilder waren, die als Zeugen der Rechtgläubigkeit und Loyalität eine Argumentationsfläche lieferten – vor allem gegenüber denen, die mindestens seit 1522 pauschal als Bilderstürmer galten. 124 Hier werden also Bilder bereits aufgrund ihrer historischen Alterität zu normierten Erkenntniswerkzeugen erhoben: Bilder als Instrumente der ›Wahrheit‹, die gegen die Anderen als Geschichtsfälscher eingesetzt werden. Legt man also den Gewinn an zeitloser Autorität durch kriegerische Entfremdung als einen Ausgangspunkt der Überlegungen zur historischen Identität der katholischen Kirche in der Frühen Neuzeit zugrunde, erstaunt es wenig, dass auch alte Bilder in neuen militä-

121 Zur Rolle Balbins in der böhmischen Geschichtsschreibung des Barocks siehe v. a. die Beiträge in Pokorná/Svatoš 1993. 122 Sie bildet jetzt die Kapitel VI – VII von Balbins Buch. 123 Zelenková 2009, S. 32; Neumann 1974, S. 250 – 251, Kat.-Nr. 199. 124 Vgl. Kapustka 2008a, S. 97 – 115, hier: v. a. S. 104 – 106.

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rischen Konflikten zu agieren beginnen und dadurch zu siegreichen Autoritäten erhoben werden. Als Objekten kommt ihnen damit die Rolle der aktiven ›Akteure‹ der Historiografie zu, die im Rahmen der barocken Techniken der Affekterzeugung eine Kontinuität zwischen den Zeiten gewährleisten sollen. Dieser neue, auf aktivierte historische Bildobjekte gerichtete Fokus kann im vorliegenden Kontext am besten mit dem Bild der Santa Maria della Vittoria illustriert werden, das selbst an der Schlacht am Weißen Berg bei Prag 1620 teilgenommen hat und später dank der neuen Medien der konfessionellen Propaganda zu einem grenzüberschreitenden barocken Palladium erhoben wurde. Dieses spätmittelalterliche Tafelbild der Anbetung des Christkindes, das einem häretischen Bildersturm zum Opfer gefallen sein soll – der Heiligen Familie wurden angeblich die Augen ausgekratzt (Abb. 15) –, wurde von dem kaiserlichen Feldgeistlichen und Ordensgeneral der Karmeliter, Padre Domenico à Jesu Maria, in einer Kirchenruine im

Abb. 15: M. Greuter, Das Gnadenbild der Geburt Christi vom Weißen Berg, 1622, Flugblatt, Musées de la ville de Strasbourg.

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böhmischen Stenovitz (Štˇenovice) aufgefunden und später in der entscheidenden Schlacht als apotropäisches Feldzeichen der katholischen Liga gegen die protestantischen Truppen geführt. 125 Es markiert mit seinem propagandistischen Nachleben eine Neuheit in der bisherigen Tradition des katholischen Palladiums – eines für den gewünschten Ausgang einer Schlacht sorgenden Bildes –, die bislang durch den Einsatz der Madonna del Rosario bei der Lepanto-Schlacht von 1571 markiert war. 126 Das Neue besteht in einer medialen Umsetzung des Palladiums als ein direkt am historischen Ereignis teilnehmendes und politisch ›agierendes‹ Bildobjekt. Denn es war nicht nur die ausstrahlende Kraft dieses Bildes, das – zusammen mit einem von Padre Domenico gehaltenen Kruzifix – einen erneuten konstantinischen Sieg des ›wahren Glaubens‹ über die böhmischen Sezessionisten des Winterkönigs Friedrich V. von der Pfalz ermöglichte und im interkonfessionellen Krieg eine Neubewertung des alten christlichen Topos der staatlichen Gründerzeit erlaubte. Es war auch seine nachträgliche, durch die historische Berichterstattung begründete Verherrlichung, die einen vollkommen neuen Wert in der bisherigen kriegerischen Kirchenpropaganda eingeführt hat. Das Bild wird in diesem Rahmen nicht nur zu einem Symbol des Sieges, sondern zum neuen Mitstreiter Christi stilisiert, der seine Opferrolle auf sich nimmt, um sich nach einer würdevollen peregrinatio in ein Kultobjekt zu verwandeln und schließlich im triumphalen Zug als Bild zur sichtbaren herrschaftlichen Autorität zu werden. Nach der besagten Schlacht am Weißen Berg wurde das Bild aus Stenovitz im Jahr 1622 von Prag nach Rom gebracht und mit allen dazugehörigen Feierlichkeiten in die römische Karmeliterkirche überführt. 127 Sicherlich fand diese Translokation nicht zufällig in der Zeit der Heiligsprechung von Ignatius von Loyola, Franz Xaver und Teresa von Ávila statt. Im gleichen Jahr entsteht auch die Congregatio de Propaganda Fide, eine neue Institution, die für eine neue Welle von Missionsarbeiten in Europa und Übersee verantwortlich war und in deren Gründung Domenico à Jesu Maria auf Wunsch des Papstes direkt involviert war. Der Karmeliterkirche selbst, die bisher dem hl. Paulus gewidmet war, wurde unter dem neuen Patrozinium von S. Maria della Vittoria ein neues ›Gesicht‹ verliehen. Der festen Installation des Bildes auf dem Hochaltar nach dem Muster der Inszenierung in S. Maria in Campitelli folgten weitere Ausstattungsstücke: unter anderem zwei von Pierre-Étienne Monnot 1695 – 1699 gefertigte Hochrelieftafeln mit der Geburt Christi und der Flucht nach Ägypten (mit Maria mit Kind auf

125 Vácha 2009, S. 202 – 206; Royt 1999, S. 222 – 223; Bätschmann 1998, S. 215 – 218. Vgl. Vlnas 2001, S. 172, Kat.-Nr. I / 5.10. 126 Siehe Gibellini 2008, S. 145 – 169. Vgl. zur Langlebigkeit des Topos von Maria als Generalin und Siegerin: Schreiner 2000, S. 105 – 115 wie auch Silver 2009, S. 295 – 304, 311 – 313. 127 Der Altar der Karmeliterkirche S. Maria della Vittoria in Rom ist 1833 in einem Brand verlorengegangen und wurde 1880 nach Zeichnungen wiederaufgebaut, im Presbiterium der Kirche befindet ich jetzt eine Kopie des Bildes. Das Kruzifix wird immer noch in der Sakristei aufbewahrt. Eine der weiteren wichtigen Kopien des Bildes befindet sich in der Kirche Panna Maria Vítˇezná am Weißen Berg in Prag, zur Ausstattung dieser Kirche siehe: Fiˇrtová 2017, S. 531 – 544; Horyna 1983, S. 247 – 258, vgl. Vácha 2009, S. 240 – 244.

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Abb. 16: Kirche Maria die Siegreiche (Panna Maria Vítˇezná), Prag, Kleinseite, Hochaltar, 1723

einer zerbrochenen antiken Säule sitzend) am Joseph-Altar sowie unzählige Panoplien, mit denen man in Erinnerung an den glorreichen Schlachtensieg den gesamten Kirchenraum als ein »antihäretisches Monument« im Herzen Roms kreieren wollte. 128 Diese beabsichtigte Wirkung kam auch einer Kopie dieses Bildes zu, die 1622 zurück in die neu geweihte Kirche Maria die Siegreiche (Panna Maria Vítˇezná) auf der Kleinseite (Malá Strana) in Prag geschickt wurde, um mithilfe entsprechender Feierlichkeiten im Kircheninneren die Memoria der Schlacht am Weißen Berg zu visualisieren. Die Festivitäten wurden in zahlreichen gedruckten Berichten in Rom und in Prag gleichermaßen beschrieben. Interessanterweise kann der erst im 1. Viertel des 18. Jahrhunderts errichtete Hochaltar in der gleichen Prager Kirche, an dem die Kopie des Bildes des Padre Domenico angebracht wurde (Abb. 16), unter bestimmten Prämissen als ein Beispiel jener politischen Ikonografie betrachtet werden, die ca. 150 Jahre früher im Frontispiz von Baronios Annales ihren Platz fand. Der Altar wurde beinahe wie eine Chorschranke komponiert und mit seinem durchsichtigen architektonischen Aufbau einige Meter vor den Chorabschluss gerückt. 129 Das siegreiche Bild

128 Bätschmann 1998, S. 216. 129 Vácha 2009, S. 193 – 195.

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Abb. 17: Anton Stevens, Die Fürbitte zur Maria am Weißen Berg, 1641, Öl auf Leinwand, Prag, Kleinseite, Kirche Maria die Siegreiche (Panna Maria Vítˇezná), Bild des Hochaltars.

des Padre Domenico thront als Kopie in Glorie auf einem Haufen von Panoplien im massiv vergoldeten Giebel. Diese detailliert skulptierte Konstruktion wird von alterniert gedrehten Säulen getragen, vor denen ebenfalls vergoldete Figuren der Karmeliterheiligen stehen. Das Ausmaß an Vergoldung lässt das zentral angebrachte historische Mikroobjekt des geschändeten Bildes, das aus der Distanz kaum als Bild erkennbar ist, in seiner Unsichtbarkeit beinahe wie eine bildliche ›Hostie‹ triumphal dominieren und die erfahrbare Realität der Panoplien als Dinge im Schein der goldenen Reflexe transzendieren. Im Zentrum des Altars – direkt unter diesem als authentisch auratisierter Bild-Zeuge – wurde, anstatt der üblichen großen Leinwand, ein freier Raum gelassen, um einen perspektivischen Durchbruch zu gewährleisten. Der Blick des vor dem Altar stehenden Betrachters fällt somit direkt auf die narrative Darstellung der Schlacht als einer in das Heil eingebetteten Geschichte: ein an der östlichen Chorwand aufgehängtes Gemälde von Anton Stevens von 1641 (Abb. 17). Bei diesem – ein

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Rest des früheren Altars 130 – handelt es sich weniger um ein wirkliches Schlachten- oder Gefechtspanorama. Vielmehr sind einige Protagonisten in einer deutlich abgestuften Situation der Fürbitte zu sehen: Während sich das Gefecht der verfeindeten Truppen im fernen Hintergrund entwickelt, ist im Vordergrund der Komposition die zum Himmel aufsteigende und sich vor Christus für die katholische Liga einsetzende Maria zu sehen, die von Kaiser Ferdinand III., seinem Sohn Ferdinand IV. und Domenico à Jesu Maria im Gebet unterstützt wird. Der gesamte, im Laufe beinahe eines Jahrhunderts aus verschiedenen historischen Bauund Bildstücken kombinierte Altar wird dementsprechend zu einer sich im Raum ausdehnenden Projektionsfläche, auf der das Schlachtengemälde selbst als ›historisches‹ Objekt, das eine ihm beinahe zeitgenössische Geschichte erzählt, einen zentralen Platz einnimmt und in substanzieller Differenz zur vordergründigen Verherrlichung des tatsächlichen, beinahe unsichtbaren Bildrelikts agiert. Diese in der hintersten Partie der Kirche auftauchende storia – eine stilistisch anachronistische Erscheinung als Akkommodationspunkt in der Jetzt-Zeit des bereits stattgefundenen Triumphes – übernimmt gewissermaßen die Rolle der informativen Titeltafel aus Baronios Frontispiz, in dem gerade im leeren Zentrum sich die ›sprechende‹ Geschichte der historischen Texte selbst verkündet, während das in der Architektur des triumphalen ›Altars‹ enthaltene Szenario der Verherrlichung ein ewiges Monument bildet. Gleich nach der peregrinatio des Stenovitzer Marienbildes zwischen Prag und Rom begann auch dessen große Karriere im Bereich der Grafik, indem zwei Pole – die normierenden Voraussetzungen des Bildkultes sowie die narrative Überzeugungsmacht der kriegerischen Berichterstattung – in verschiedenen, heterogenen Darstellungsformen zusammengekoppelt wurden. In diesem Rahmen nimmt das kleine Bild der Santa Maria della Vittoria in seiner intendierten Wirkung einen besonderen Platz ein, indem ihm gleichzeitig objekthafte Qualitäten und subjektive Handlungskapazitäten zugeschrieben werden. Einerseits wird es zu einem auf den militärischen Triumph verweisenden, fahnenumhüllten Objekt stilisiert, das den errungenen Sieg endgültig besiegelt. Andererseits verwandelt es sich dank verschiedener Manipulationen von Darstellungskonventionen zu einem historisch ›agierenden‹ Subjekt. Dieses wird nicht durch die transzendente göttliche Intervention aktiviert, sondern eher selbstständig durch den Verlauf der Geschichte des militärischen Konflikts und vor allem durch die Person seines engagierten Bewegers – Padre Domenico. Die Karriere des Sakralbildes wurde also in diesem Fall nicht durch die Bildertheologie und deren (eventuelle) praktische Folgen im Bereich des normierten römischen Bildkultes bedingt, in dem die wunderbare Genese, die ungewöhnliche Erscheinung, die wundertätige Wirkung und folglich die dementsprechend aussagekräftige, performative Ausstellung unabwendbare Erfolgskomponenten bildeten. Es ist die Geschichte selbst, die das historische Bild als glaubwürdigen Zeugen anruft und zum ›Agenten‹ macht. Dieser Parallelweg der kirchlichen Bildpolitik ging mit einer Konvergenz der visuellen Konventionen einher, die sich der eigentlichen römischen

130 Ebd., S. 172 – 195.

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Abb. 18: Das Gnadenbild der Geburt Christi, Domenico à Jesu Maria und die Schlacht am Weißen Berg, 1622, Flugblatt, Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum.

Repräsentationsmuster der Kultbilder dieser Zeit entzieht. Anstatt eines gewöhnlichen, noch aus der Ikonografie der Lepanto-Schlacht bekannten Fürbitte-Motivs Marias, in dem die autoritäre Macht der göttlichen Intervention sichtbar geworden wäre, 131 wird im Fall der römischen wie auch der Prager Bildspolie des Sieges am Weißen Berg die historisch verortbare und nachweisbare Gewalt des charismatischen Handelns mithilfe eines Bildobjekts demonstriert, wodurch erst seine Macht als Subjekt zustande kommt. Das kleine Bild soll sich dabei als Kultobjekt der Gefahr der Idolatrie entziehen, indem es in den Grafiken lediglich ›porträtiert‹ wird: als ein »Contrafeth oder Bildnuß« dargestellt und somit als Pendant zur »Bildnuß oder warhaffte Contrafeth« seines historischen Befürworters – Padre Domenico (Abb. 18). Durch die Vervielfältigung als Paar erhalten beide Protagonisten – das Bild und sein Hüter – einen festen Platz als ›Agenten‹ in der katholischen Triumphgeschichte und weisen auf ein unvergessliches Ereignis in der kollektiven Erinnerung hin, anstatt bloß im kultischen Bereich zu verbleiben. Auch das Original mit seinen Kopien wird vor allem durch den Kontext und nicht wegen seines ontologischen Bezugs zum Prototyp verherrlicht. Das von dem Karmeliter entdeckte kleine Bild der Nativitas weist in seiner medialen Kampagne keinerlei Bezüge zur Heiligen Familie als Prototyp auf, sondern wird mit der autonomen

131 Vgl. u. a. Döbele 1989, S. 68 – 75.

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Handlungsmacht Marias in Verbindung gebracht. 132 Zudem definiert es sich selbst, durch seine Teilnahme an den rekonstruierbaren, historischen Ereignissen, gleichzeitig als Objekt und Subjekt. Die Erfüllung der imitatorischen Rolle des Bildes als Märtyrer, das somit zuerst als Ikone desakralisiert werden muss, um nachher als historische Spur und Vorzeigefigur der sakralpolitischen Macht glorifiziert zu werden, wird in den grafischen Berichten mit der Abbildung der historischen Schlacht zusammengeführt: Die zwei Porträts – das eine des Bildes und das andere des Padre Domenico als seines Entdeckers – werden der Abbildung des grundlegenden und kultstiftenden Ereignisses beigefügt. Mit dieser Vernetzung wird die missionarische Autorität des Bildes zwischen seiner Objekthaftigkeit, seiner historischen Differenz und seinem angenommenen Handlungsvermögen bekräftigt. Ihren Höhepunkt fand diese argumentative Entwicklung in der 1655 in Wien gedruckten umfangreichen Vita Padre Domenicos aus der Feder des spanischen Universalgelehrten Juan Caramuel y Lobkowitz, die als Unterstützung der geplanten, später gescheiterten Heiligsprechung Domenicos gedacht war. 133 Drei ganzseitige Kupferstiche dieses Buches visualisieren den Verlauf der besprochenen medialen Wandlung. Die am Anfang des Bandes reproduzierten zwei Porträts – des sein Regiment anführenden Bildes und des Karmeliters in der klassischen Pose des Feldherrn – weisen auf eine gewisse Kompetenzteilung der beiden historischen ›Akteure‹ der Schlacht am Weißen Berg hin (Abb. 19, 20). Der dritte Kupferstich, der im Buch einen Textabschnitt zur Rückkehr Domenicos nach Rom und zur Heiligsprechung der Teresa von Ávila eröffnet, präsentiert dagegen gleichsam von einem Ort ›hinter den Kulissen‹ die neue Rolle des Bildes innerhalb der kirchlichen Propaganda dieser Zeit (Abb. 21). Es handelt sich in dieser Illustration nicht um die gewöhnliche strahlende Aura des im Voraus vergöttlichten und seinen Prototyp wiedergebenden Sakralbildes. Wir haben es in diesem Fall lediglich mit einer gerahmten Bildfläche als durchsichtiger Transmissionsebene der transzendenten Macht Gottes zu tun, die in ihrer Transparenz – unabhängig von dem (hier übrigens absenten) Sujet – eine überwältigende, missionarische Rolle spielt. Das Bild als Erscheinung wurde zu einem bloßen Rahmen reduziert, dessen leerer Innenraum eine unsichtbare Fläche beinhaltet. Es handelt sich jedoch nicht um eine Leere, sondern eher um eine immaterielle Fläche. An ihr spiegeln sich zodiakale Tugenden in alttestamentlicher Form als sieben Laternen wider, die – wie die Inschrift verkündet – »luceant ex adverso« (1. Mose 25,37). Sie sind hier als Sinnbild des von Mose gestifteten Menora-Leuchters zu verstehen: Durch diese alttestamentliche Anspielung weisen sie auf das Moment der allerersten Gründung des Heiligtums und der Instandsetzung des in der Bundeslade aufbewahrten Gesetzes hin. Die als Lichtstreifen von oben gesendeten Strahlen der trinitären Macht werden an dieser unsichtbaren Fläche allerdings physikalisch gebrochen und als bekehrende Kraft nach außen – in den Raum vor dem Rahmen – ausgesendet. Die Macht dieses inhaltslosen und potenten Bildes, das hier in Bezug auf die bildliche Spur der Santa Maria della Vittoria als 132 Siehe u. a. Schreiner 2000, S. 77 – 115. 133 Lobkowitz 1655.

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Abb. 19: Domenico à Jesu Maria und die Schlacht am Weißen Berg, in: Juan Caramuel y Lobkowitz, Caramuelis Dominicus, 1655.

eine Art flexibles Modell der Argumentation präsentiert wird, liegt laut dieser Auffassung in seiner Historizität und Medialität, die jenseits der Prototyp-Lehre zu verorten ist. Somit soll sich das Bild als reine Lichtprojektion automatisch der idolatrischen Versuchung entziehen und kann daher mit dem Begriff der autoritären Übertragung definiert werden. Wie sich im Laufe dieser Untersuchung zeigen wird, kommt gerade diese Vorstellung der normierten Repräsentation mit den barocken Geschichtskonzepten, die im Dienst der theokratischen Macht standen, zusammen. 134 Lediglich das personifizierte, mit der Kaiserkrone gekennzeichnete Europa wendet sich in dieser Szene der Botschaft des gestaltlosen, gerahmten Bildes zu, die anderen drei Kontinente scheinen dem auf sie gerichteten missionierenden Licht auszuweichen. Sie nehmen dabei

134 Vgl. Kap. 7.

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Abb. 20: Das Gnadenbild der Geburt Christi vom Weißen Berg, in: Juan Caramuel y Lobkowitz, Caramuelis Dominicus, 1655.

zudem langsam die demütige Haltung der gefesselten Feinde an. Anders als in der zuvor gezeigten Grafik in Baronios Annales wird hier jedoch nicht eine statische, triumphale Allegorie der Universalbewältigung dargestellt, sondern absichtlich eher eine dynamische Perspektive des bestehenden argumentativen Fortschritts geschildert, die mit dem immer noch aktuellen Kontext des Rekatholisierungs- und Missionierungswerks des Kirchenmannes Padre Domenico zusammenhängt. Klare visuelle Schemata des ewigen Antagonismus, als dessen sichtbare Erfüllungen die einzelnen historischen Auseinandersetzungen erscheinen, kommen also mit der Einbettung des Bildes als ›handelndes‹ Medium in den Verlauf der christlichen Konfliktgeschichte zwischen Bild und Idol, zwischen Eigen und Fremd zusammen. Diese Geschichte beweist ihre konstitutive Rolle in der Erhaltung und Neubepflanzung des konfessionellen Bodens. Das alte Bild wird dementsprechend nach seinen tatsächlichen Verdiensten in der neuen Geschichte gewürdigt und nicht nur mit theologischen Nominierungen als passive Verkörperung des Göttlichen betrachtet, die in ihrer materiellen Kondition auf idolatrische

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Abb. 21: Die Bekehrung der vier Erdteile, in: Juan Caramuel y Lobkowitz, Caramuelis Dominicus, 1655.

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Irrwege führen kann. Eine klare Entgegensetzung der Hostie und des Idols, des verletzten Bildes und des zu vernichtenden Feindes, der Apologie der traditionellen Kirchengründer und der Verdammung der ›falschen‹ Lehre der alten und neuen Häretiker entwickelt sich demgemäß seit dem 16. Jahrhundert in einem neuen Kontext, in dem der spiritus movens der Geschichte – der gesegnete christliche Herrscher – zu einem religiösen Statthalter und Schutzpatron der Konfession wird, der jegliche Spuren der Idolatrie beseitigt und somit sich in die lange Geschichte der Aktualität der theokratischen Ursprünge einschreibt. Der am Anfang der christlichen Gemeinde stehende Kirchenmann wiederum zeigt seine militärischen wie auch herrschaftlichen Qualitäten über die religionis causa. In diesem typologisch bestimmten Rahmen der gegenseitigen Angleichung der modellhaften Geschichtssubjekte entwickelte sich infolgedessen eine neue barocke Ikonografie des historischen Konflikts, in der die Repräsentanten der einzelnen Parteien – Katholiken und ›Andere‹ – sich vor den Augen des Betrachters duellieren, um dem polemischen Bild eine stärkere Überzeugungskraft zu verleihen. Sichtbar wird diese Entwicklung zum Beispiel in zahlreichen Begegnungen der frühen kirchlichen Oberhäupter mit ›heidnischen‹ Herrschern, die den Sinn der Konversion und Subordination der Letzteren immer wieder aufzeigen sollen. 135 Zwischen den Darstellungen des Treffens vom Papst Leo I. dem Großen mit dem Hunnenkönig Attila vor den Toren Roms im Jahr 452, so wie es im Fresko von Raffael in den Stanzen des vatikanischen Palasts von 1514 und im Relief von Alessandro Algardi von 1646 – 1653 gezeigt wurde (Abb. 22), 136 ist dabei allerdings eine deutliche Kluft zu sehen. Dies wirft einerseits die Frage nach ikonografischen Differenzen auf, also die Frage, ob der Papst reitend oder als eine stehende beziehungsweise fortschreitende Figur abgebildet wird. 137 Algardis Version zeichnet sich andererseits vor allem durch eine deutliche Konzentration von typologischen Mustern aus, die jenseits der narrativen Geschichtsentfaltung ihre Rolle erfüllt. Leo, der als Vertreter des römischen Kaisers die Ewige Stadt in Schutz nimmt, wird als ein neuer Konstantin dargestellt: Vor dem ›heidnischen‹ Hunnenkönig stehend, zeigt er auf das Kreuz als Autoritätszeichen des institutionellen Glaubensverwalters. Dieses fungiert zugleich als ein semantisches Symbol jenseits der Möglichkeiten von Idolatrie. Die deiktische Geste des Papstes ruft die beiden Kirchengründer Petrus und Paulus hervor, die als seine amtlichen Vorfahren den ›heidnischen‹ Angreifer sofort überwältigen und Attilas Truppen im Hintergrund in Unruhe versetzen. Kompositorisch gesehen ist es weniger die Darstellung eines historischen Ereignisses als vielmehr ein psychologisch aufgebautes Duell von zwei Herrschern: Leos päpstliche Tiara 135 In solch einem Bildformular lassen sich Spuren der mittelalterlichen Machtkämpfe aus der Zeit des Investiturstreits erkennen, bei denen die kirchliche Partei einen Anspruch auf die Verbindung von biblischer Prophetie und priesterlicher Gesetzgebung erhob; siehe dazu u. a. die kompakte Darstellung: Nilgen 1997, S. 27 – 47. 136 Zu den beiden Werken siehe: Dobler 2005, S. 145 – 173; Esteso 2000, S. 11 – 22; Rice 1997, S. 257 – 265; Preimesberger 1994, S. 397 – 416; Träger 1986, S. 97 – 116; Montagu 1985, S. 135 – 147. 137 Preimesberger 1994, S. 406.

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Abb. 22: Alessandro Algardi, Leo I. der Große vertreibt Attila vor den Toren Roms, 1646 – 1653, Marmorrelief, Vatikan, Petersbasilika.

ähnelt sogar einer königlichen Krone, und als solche wird sie der fiktiven Krone des fernen Exoten Attila entgegengesetzt. Die klare Zuspitzung des Antagonismus rückt den faktischen Ablauf der res gestae in den Schatten. Die Szene wird zu einem Modell der herrschaftlichen Überwältigung, das ein »Ineinanderblenden von Vergangenheit und Gegenwart« erzielt. 138 Als institutioneller Bevollmächtigter der Kirche ist Leo an die unüberwindbare Semantik der aktuellen Absenz des historischen Christus auf Erden im Zeitalter der päpstlichen Sukzession gebunden. 139 Daher weist er auf das Kreuzzeichen hin, das nicht nur als historischer Beweis, sondern unter diesen Umständen vor allem als ein aktivierbarer Schlüssel zu einer parallelen, zeitlosen Realität des Himmels dienen kann. Das Kreuz Leos bewirkt im Sinne eines deus ex machina eine militante Reaktion vonseiten der christlichen Himmelsmächte, aus einer anderen, für ›Heiden‹ unsichtbaren und unverständlichen Welt, um den Gegner mit dieser Wundererscheinung endgültig zu besiegen oder von der kirchlichen Superiorität zu überzeugen. 140 138 Ebd., S. 400. 139 Auf Baronios Zeittafeln gehört dieser historische Moment (452) noch zur Gründerzeit der Kircheninstitution; vgl. Steiner 2013, S. 241 – 271. 140 Vgl. Preimesberger 1994, S. 408.

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Abb. 23: Johann Christoph Winkler, Hl. Ambrosius nötigt Kaiser Theodosius zur Kirchenbuße, 1776, Kupferstich, Thesenblatt von Alexander Mahacschek und Franz Sales Wintersteiner an der Universität Linz, Wien, Archiv der Universität Wien, Inv.-Nr. 111 – 7/4/10/84.

Anspielungen an ein solches typologisches Modell von sich mit Herrschern ›duellierenden‹ Kirchenoberhäuptern und -lehrern des Mittelalters finden sich zahlreich. Es kann in diesem Kontext an die Darstellungen des Ambrosius von Mailand erinnert werden, der 388 als Bischof Kaiser Theodosius davon abbringt, die Brandstifter einer Synagoge zu bestrafen, eine Szene, die von Rubens und van Dyck beziehungsweise in universitären Thesenblättern abgebildet wurde (Abb. 23), oder an den in grafischen Illustrationen des 17. und 18. Jahrhunderts verherrlichten böhmischen Proto-Märtyrer Johannes von Nepomuk, der König Wenzel von Luxemburg, dem späteren Auftraggeber seines Mordes, Widerstand leistet (Abb. 24). 141 Die Darstellung der ›sich duellierenden‹ Kirchenmänner als Imitatoren Christi im Dienste der institutionalisierten Gemeinschaft, des irdischen corpus mysticum, ermöglicht in jedem Fall eine eindeutige historiografische Bewertung der ›unrechten‹ Herrschaft beziehungsweise einer Herrschaft, die sich auf Irrwege begibt, sobald sie ihre eigenen, beschränkt diesseitigen Kompetenzen in Bezug auf Kirchengüter als eindeutig kirchliche Domäne auszuweiten versucht. 141 Zelenková 2009, S. 128 – 129; Baumstark / von Herzogenberg / Volk 1993, S. 184 – 186, 240 – 243. Zur historischen Relevanz von Johannes von Nepomuk für die habsburgische Staatspropaganda siehe Kap. 6.

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Abb. 24: Gottlieb Heiss nach Johann Evangelist Holzer, Hl. Johannes von Nepomuk widersteht König Wenzel IV. von Luxemburg, 1735/1736, Schabkunstblatt, Coburg, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Inv.-Nr. III, 44, 7.

Eine sehr interessante Verbindung dieses Anspruchs auf legislatorische Autonomie und Hoheit der kirchlichen Macht über die weltlichen Autoritäten mit dem Topos der Gründung der lokalen Gemeinschaft findet sich in einem barocken Werk, das in seiner kompositorischen und politischen Polarität die mittelalterlichen Anfänge der ewigen christlichen Mission gegen die Vertreter der Idolatrie darzulegen versucht und somit durchaus als eines der leitenden Werke für die Problematik der Bildkonflikte betrachtet werden kann. Es handelt sich um ein von Johann Georg Urbanski für den Dom in Breslau (Wrocław) im Jahr 1723 gefertigtes Doppelmonument: für den ersten schlesischen Bischof Gottfried (966 – 983) und einen seiner mittelalterlichen Nachfolger im Amt, den aus Krakau (Kraków) stammenden Nanker (1326 – 1341) (Abb. 25, 26). 142 Die Person Gottfrieds ist fiktiv, wurde jedoch gerade im Rahmen der auf Mythologien des Anfangs setzenden schlesischen Rekatholisierung in den Vordergrund des konfessionellen Kampfes gerückt. Die Person Nankers erscheint als Sukzessor des verschleierten Gründers und ist durch sein chronikalisch nachgewiesenes po-

142 Wie¸cek 1963, S. 109 – 116.

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Abb. 25: Johann Georg Urbansky, Monument für Bischof Gottfried, 1723, Breslau, Dom St. Johannis.

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Abb. 26: Johann Georg Urbansky, Monument für Bischof Nanker, 1723, Breslau, Dom St. Johannis.

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litisches Engagement gekennzeichnet. 143 Diese einwandfreie Zusammensetzung von Fiktion und Geschichte verkörpert die propagandistischen Züge der barocken Geschichtspoetik, in der die Vergangenheit sich zielbewusst der Linearität der archivalischen Erzählung entzieht, um als zukunftsorientierte und politisch durchdrungene Aktualität erfahrbar zu werden. Die Frage, die sich in diesem Kontext als grundlegend erweist, lautet: Warum wird in der genealogischen Suche nach den Ursprüngen der lokalen Kircheninstitution eine neue Poetik der historischen Fiktion aufgegriffen, obwohl die nachweisbare Geschichte des Breslauer Bistums in den im dortigen Dom verbliebenen, tatsächlichen mittelalterlichen Bischofsgrabmälern sichtbar ist? 144 Die beiden marmornen Monumente, situiert an den ersten westlichen Pfeilern des gotischen Hauptschiffes, sind in ihrem architektonischen Aufbau und in der figürlich-ornamentalen Dekoration beinahe identisch. Während die Form bei beiden konstant bleibt, unterscheiden sie sich im Inhalt. In den an den zentralen, monumentalen Tafeln angebrachten langen Inschriften, in den allegorischen Begleitfiguren, die diese flankieren, und nicht zuletzt in den narrativen Reliefs auf den kleineren Alabasterkartuschen, die sich, gewissermaßen als architektonische Fremdkörper, jeweils zwischen die Sockelzone und die obere Inschriftentafel drängen, sieht man eine bewusste gegenseitige Angleichung der beiden Werke. Allein diese Tatsache scheint eine Intention zu verraten, eine planmäßige Fortsetzung der Geschichte zwischen dem Anfang, der mittelalterlichen Institutionalisierung und dem zeitlichen Jetzt-Moment der barocken Memoria manifestieren zu wollen. Die historischen Bedingungen ändern sich, das Ziel bleibt jedoch unveränderlich und bezeugt somit seine mit der Macht der Autorität programmatisch gesegnete Langlebigkeit. Die Präsenz des nur durch die Schilderung seiner Taten und nicht ikonisch in einem Porträt dargestellten mythischen ersten Bischofs Gottfried wird von der kinderreichen Caritas und der ihre Augen verschleiernden Veritas als flankierenden Gründerfiguren der Grundtugenden umgeben, so wie in Baronios Frontispiz Petrus und Paulus mit ihren Attributen für den institutionellen Impetus der ersten römischen Kirche stehen. Bei seinem Nachfolger Nanker bezeugen dafür die Religio und die Fortitudo die Relevanz seiner Vita als befestigende Markenzeichen eines bereits etablierten und fest verankerten Systems. Allein die Inschrift in Nankers Monument signalisiert die systematische Ähnlichkeit der beiden Bischöfe, indem sie mit folgenden Worten beginnt: »Aemulus hic lapis alteri e regione posito per omnia similis non absimilem in virtutibus exhibet Episcopum, Nankerum nomine, probitatis et fortitudinis ecclesiasticae exemplar fulgidissimum« (»Dieser Stein, der mit dem gegenüberstehenden wetteifert und ihm ganz ähnlich sieht, stellt auch einen in Tugenden nicht unähnlichen Bischof dar, nämlich Nanker, das strahlende Vorbild kirchlicher Rechtschaffenheit und Kraft«). 145 Die 143 Walter 1990, S. 323 – 332. Vgl. eine ältere, unter dem Zeichen ›nationaler‹ Konflikte geschriebene Bearbeitung: Grünhagen 1864, S. 4 – 102. 144 Vgl. Mikołajczak 2016, S. 103 – 112; Mikołajczak 2003, S. 474 – 483. 145 Zit. nach Erdmann 1850, S. 135 (zu den beiden Denkmälern siehe ebd., S. 132 – 136). Vgl. Kundmann 1726, S. 10 – 11; Fibiger 1723, S. 90.

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historische Bedeutung von Nanker wird in dieser Rhetorik an seiner Fähigkeit gemessen, das Werk seines ›Vorfahren‹ fortzusetzen. Eine gegenseitige Angleichung der beiden Beamten in ihren Monumenten scheint eine direkte Konsequenz aus der historischen Verwandtschaft in Entscheidungskraft zu sein. Und doch unterscheiden sich die beiden Kirchenmänner in ihren Verdiensten radikal voneinander, indem der fiktive Status des ersten Gründers eine conditio sine qua non dafür zu sein scheint, die Einsetzung des christlichen Glaubens in der späteren Diözese überhaupt als Geschichte darstellen zu können. Die Kirche ist hier ein ursprünglicher Glaubensverwalter, der »sich an die Geschichte seiner eigenen Einführung nicht erinnert« 146 und anhand dieser zielbewussten Verschweigung seine als zeitlos gedeutete Autorität untermauern kann. Sie agiert hier nach dem Modell der nachträglichen Konstruktion der Vergangenheit aus der Gegenwart heraus, um gerade diese Gegenwart produktiv machen zu können. Die poetische Erfindung des Gemeinschaftsgründers ist dabei kompatibel mit dem typologischen Darstellungsvorsatz der christlichen res gestae, mit dem die Zeitlichkeit der Institutionsgeschichte zugunsten ihrer Zweckgebundenheit modifiziert werden konnte. Gottfried wird zum Anfang, zum ersten Beweger der sich in statu nascendi befindenden Gemeinde, zur konzentrierten Verkörperung aller Tugenden. Dies sind Tugenden, die am Ursprung einer Gemeinde stehen sollten – vor allem die Caritas als christliches Mutterbild und hier als Synonym für die Pflege des Eigenen – und sich aus späteren, tatsächlich historischen Daten, darunter auch aus der Vita Nankers, rekonstruieren lassen. In Nankers Monument wird in der Alabasterkartusche die historische Szene der Exkommunizierung des böhmischen Königs Johann von Luxemburg dargestellt, der sich 1339 kirchliche Güter der Diözese samt des bischöf lichen Schlosses Militsch (Milicz) bei Breslau angeeignet hatte (Abb. 27). Aus Krakau gekommen, wo er den Bischofssitz bis 1326 innehatte und sich – so die Inschrift des Monuments – für seine Institution einsetzte und vom polnischen König Wladislaus II. ins Gesicht geschlagen worden sei (»[. . . ] caesus es alapa [. . . ]«), führte er seinen Kampf auf neuem, schlesischen Boden weiter, bis er in Konsequenz seines Widerstandes und der Anathema, die er über den böhmischen König und über die Stadt Breslau ausgesprochen hatte, vom Herrscher vergiftet wird (»hic vero in Silesia propinato veneno vota privatus«). Nanker folgt einem Modell, das auch bei der Verherrlichung des böhmischen Proto-Märtyrers Johannes von Nepomuk angewendet worden war, der nach einem politischen Konflikt im Auftrag Wenzels von Luxemburg im Jahr 1393 gemartert wurde. Dieser Bezug scheint nicht zufällig zu sein und hängt mit den damaligen Visualisierungsstrategien der mittelalterlichen Märtyrer der Kircheninstitution zusammen: In diesem Kontext genügt es, darauf hinzuweisen, dass der Bildhauer Urbanski, der zum Zweck der Memoria der beiden Bischöfe beauftragt worden war, im gleichen Jahr darüber hinaus eines von seinen drei Breslauer Nepomuk-Monumenten schuf. 147

146 Ricœur 1997, S. 36 – 53. 147 Wie¸cek 1963, S. 100 – 108, 129, 131 – 135.

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Abb. 27: Johann Georg Urbansky, Monument für Bischof Nanker, Ausschnitt, 1723, Breslau, Dom St. Johannis.

Der enigmatische Gottfried, so wie er in seiner Kartusche mit einer ähnlichen affektiven Gebärdensprache arbeitet, sichert die politische Relevanz der christlichen Gründerzeit ebenfalls im Rahmen eines fiktiven Szenarios der gewaltsamen Auseinandersetzung (Abb. 28). Mit der linken Hand stürzt er mühelos den Sockel eines dem Gott Apoll ähnlichen Idols, aus dem eine basiliskenartige ›Seele‹ entflieht, während Bruchstücke der zerfallenden Figur auf ihre Verehrer herabstürzen. Mit der ausgestreckten rechten Hand zeigt er nach vorn auf den neuen Gegenpol der bisher verehrten ›heidnischen‹ Skulptur: eine auf einer Altarmensa, vor einem schlichten architektonischen Aufsatz, in einer prächtigen Monstranz zur Schau gestellte Hostie. Vor ihr fallen die ersten Konvertiten auf die Knie. Die Szene findet in einem fiktiven Raum statt; es ist schwer zu sagen, ob wir es mit einem kirchlichen Innenraum oder mit einem Platz vor einer romanisch-gotischen Kirche als Bühne dieses ontologischen Konflikts zu tun haben. Ziel dieser Komposition ist es jedoch nicht, historische Exaktheit aufzurufen, sondern vor allem, die sofort lesbare Bildebene eines ›Duells‹ zu schaffen, auf der die polarisierte Auseinandersetzung der beiden Objekte – Idol und Hostie – zur Erzeugung der neuen Welt stilisiert wird. Dies ist, so die Intention dieses fiktiven Ereignisbildes, die

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Abb. 28: Johann Georg Urbansky, Monument für Bischof Gottfried, Ausschnitt, 1723, Breslau, Dom St. Johannis.

wahre Welt: Während die vor den fallenden Trümmern ihres ›Götzen‹ fliehenden Anhänger des ›Heidentums‹ sogar aus dem Bild verbannt werden, ist die neue überragende Körperlichkeit des eucharistischen Punktums scheinbar auch hinter dem Altar zu spüren, wie die Entzückung der Figur zur linken Seite der Komposition zu beweisen scheint. In dieser abstrakten Hostie wird das erkennbar, was in den mimetischen, anthropomorphen Qualitäten des täuschenden Idols sich nur als Betrug entpuppen konnte. Mit ihrer Kompromisslosigkeit wird die Hostie als eine Herrschaftsinstanz vorgestellt, als eine der gewöhnlichen Natur entrückte Präsenzformel – jener Natur, der die Idole entstammen, der sie innewohnen und der sie nicht entfliehen können. Die mit einer Krone versehene Monstranz lässt sie wie einen plenipotenten Repräsentanten erscheinen, einen auf dem Altar thronenden Träger der weltfremden, jenseitigen und ewigen Singularität, die wiederum in ihrer punktuell-geometrischen Göttlichkeit eine ganz andere ist als die materielle, stoff liche und bloß temporäre Singularität der durch Menschen für Menschen gemachten Idole. Gottfried als Stifter unterscheidet in diesem Sinne zwischen wahr und falsch, etwa so wie Petrus Martyr, der durch seine legendäre Konfrontation der konsekrierten Hostie mit einer durch einen Häretiker

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Abb. 29: Filippo Abbiati, Hl. Petrus Martyr zwingt mit der Hostie die falsche Madonnastatue zur Flucht (aus dem Sakramentszyklus), um 1700, Öl auf Leinwand, ehem. Mailand, Dom, heute Mailand, Diözesanmusem.

fabrizierten und zur Verehrung dargebotenen Madonnenfigur diese Figur als einen Betrug denunzieren und in die Flucht treiben konnte (Abb. 29). 148 Dadurch führte er eine Art Test der bildlichen Potenz durch und enttarnte das sich selbst behauptende Madonnenbild durch ein anderes Bild – das des puren, afigurativen Verweises. Diese ›illegitime‹ Fabrikation zeigt sich im Moment ihrer Flucht als ein in seiner Essenz sogar doppelt ›falsches‹, gezielt zur Schändung der christlichen Repräsentation hergestelltes Idol. So wie die Hostie im Moment ihrer ersten Einführung weltentrückt ist – wodurch sie gerade ihre transzendierende Autorität zeigen kann –, so wird auch Gottfried, der erste Bischof eines bisher ›heidnischen‹ Landes, in der Inschrift seines Monuments als derjenige beschrieben, der bereits im Jahr 966, als das Land der Polen unter Herzog Mesco I. christianisiert wurde, zwar auf Befehl des Papstes Johannes XIII., aber »nicht so sehr von Rom, als gerade vom Himmel herab gesendet worden« sei (»non tam ab urbe Romana missus, quam e

148 Clark 2013, S. 291 – 293. Zur Relevanz der Hostie in der mittelalterlichen Idolenfrage: Camille 1989, S. 215 – 220; Kapustka 2008b, S. 80 – 83.

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coelo velut Sidus quoddam in has oras illapsus«). Seine Aufgabe war es, so die Inschrift, nicht nur die Idole abzuschaffen und ein Gegenmodell einzuführen, sondern diesen Prozess als eine breit angelegte Aufklärungskampagne zu initiieren: Er wird als »Lehrer der Schlesier« (»Magister Silesiorum«) bezeichnet, dessen Leistungen in der christlichen Evangelisierung gleichbedeutend sind mit seinem Engagement in der Bildung und Zivilisierung des Landes. Er wurde dabei zum Stifter der ersten schlesischen Schule, deren junge Adepten gleich zu Trägern der didaktischen und aufklärerischen Qualitäten des Christentums werden sollten, und zu einem Apostel, der eine Kultivierung des rohen Ackers beabsichtigt. Der Studiengang der frischen Konvertiten glich damit einem Weg von der Erde in Richtung Himmel (»attamen vel sic edoctos a parva ad supremam classem e terra ad coelum feliciter ascendere fecit«). 149 Dieser letzte Aspekt weist darauf hin, dass die Erschaffung der neuen zeitlichen Dimension mit der Einführung der auf Transzendenz hinweisenden Hostie sich nicht nur im Sinne einer herrschaftlichen Strategie der Dominanz interpretieren lässt, sondern auch als eine unter der Prämisse der Aufklärung durchgeführte und gezielt auf Antagonismen gestützte Gemeinschaftsbildung. Diese Problematik erweist sich als grundlegend für mehrere historische Themen, die in dieser Untersuchung berührt werden, vor allem für die Re-Organisation der Idee der Familie innerhalb der kollektiven Kultur des Martyriums als Gegenpol der Idolatrie. Als erster Lehrer des konvertierten Volkes verfügt Gottfried in diesem Rahmen über eine uneingeschränkte Autorität. Er ist derjenige, der die biblische Narration der Vita Christi nicht nur erzählt, sondern in eine erfahrbare Realität umsetzt. Die bewusste Fiktionalisierung seiner Person ist eine Bedingung für die Legitimität seines Tuns; sie geht mit einer entsprechenden Konstruktion einer detailreichen ›historischen‹ Evidenz einher. Die Herkunft des ersten Bischofs muss eine solide Basis für seine Sukzessoren darstellen, damit das Gesamtbild der lokalen Missionierung vom Mittelalter bis zur Zeit der barocken Rekatholisierung einheitlich betrachtet werden kann. Um die Schritte Christi und seiner in die Welt gesandten Apostel wiederholen zu können, um »den ersten Stein und den Grund zum Hause und zur Verehrung des wahren Gottes« zu legen (»primam in hac patria petram et basin pro domo et culta veri Dei potentem«), muss er als derjenige vorgestellt werden, der noch aus der Zeit vor der Institutionalisierung des Katholizismus stammt, um die ursprüngliche Lehre verbreiten zu können. Eben darum ist er »nicht so sehr von Rom, als gerade vom Himmel herab gesendet worden«. Dementsprechend wird auch die Genealogie des ersten Bewältigers von Idolen im ›heidnischen‹ Lande verschwiegen. Während Nanker durch das im Giebel seiner eigenen petra

149 Vgl. Merian 1650, S. T31: »Der erste Bischoff hieß Gottfried / war ein Römer / auch ein gelehrter und gottsförchtiger Mann / so der Kirchen zu Schmogra 17. Jahr vorgestanden / und im Jahr 983. gestorben. Er ist der erste Catechismus-Prediger in Schlesien gewesen / in welchem gantzen Lande dazumal nur eine höltzern und geringe Kirch war / gestifftet zu Ehren Johanni dem Täuffer / den die Schlesier allezeit geehret / und sonderlich die alten Fürsten in ihren Tituln / S. Johannis Namen vornen an gesetzt haben.«

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angebrachte Wappen erkennbar wird, soll die Leere des Wappenschildes Gottfrieds seinen himmlischen Ursprung bezeugen. Damit zeigt sich die Spitze der politischen Fiktionalisierung des Gemeinschaftsgründers. In der Fama posthuma, einer Druckschrift, die 1671 anlässlich des Todes des Breslauer Bischofs Sebastian von Rostock, des ersten schlesischen Bischofs der Rekatholisierungszeit, herausgegeben wurde, finden sich detaillierte und poetisierte Genealogien aller bisherigen Amtsinhaber auf dem Breslauer Bischofsstuhl. Darin wird Gottfried als erster Bischof und Friedensbringer bezeichnet, der eine politische Mission zwischen Rom und dem Hof der polnischen Herzöge erfüllt. 150 In der Gottfried zugeschriebenen poësis wurde die unter den Auspizien der polnischen Herzöge Mesco I. und Boleslaus I. des Langen durchgeführte Abschaffung der Idolatrie, die Auslöschung der als Synonym für Dunkelheit begriffenen ›heidnischen‹ Praxis, mit der Belichtung der Welt durch die Sonne gleichgesetzt. Die Idolatrie wird dabei mit Schwert, Feuersbrunst und Rauch vollkommen ausgelöscht. Diese Ausrottung fand in Tempeln wie in Hainen statt, um dem aus Rom kommenden »Mediator Pacis« einen Freiraum für die Verbreitung der neuen Lehre zu schaffen: unter dem Motto Pax Christianorum, bellum est. Diese neue Lehre fällt mit der Einführung einer Wissenschaft, der »profana scientia & sacra«, zusammen, die nach dem Erlöschen der »idolatrischen Hölle« ein neues Feuer in den Herzen der Konvertiten entfachen sollte. Die damit in der ersten Phase der Rekatholisierung deutlich signalisierte römische Herkunft von Gottfried wie auch seine politische Anbindung an den herzoglichen Hof lassen sich – im Kontrast zur politischen Indifferenz der Inschrift an seinem Monument – im Sinne einer Entwicklung von der ecclesia militans zur ecclesia triumphans deuten. Im Jahr 1671 wird Gottfried noch als »natione Italus, patriâ Romanus« beschrieben, der die zukünftigen Pröbste der neuen Pfarreien aus Rom nach Schlesien holt (»strenue adjuvantibus Presbyteris, quos sibi ex Italia comites adlegit«). Daher trägt er als Anerkennung seiner Verdienste einen ›Mohrenkopf‹ im Wappen, ein Symbol des erfolgreichen Sieges über fremde Völker – »homines barbaros«, die er konvertiert –, womit eine Trophäe gewissermaßen zu seinem professionellen Markenzeichen erhoben wird. 151 Im Jahr 1723 ist er bereits seines Wappens beraubt, um in einem rein typologischen Zeitgefüge, zwischen dem fallenden Idol und der im göttlichen Licht erscheinenden Hostie, auf ewig positioniert werden zu können. Der Antagonismus zwischen Natur und Transzendenz, der lokal im Jahr 966 stattgefunden haben soll, wird in dem Breslauer Doppelmonument zu einem Paradigma erhoben, dessen Aktualität auf dem historischen Entzug und dem Prinzip der ununterbrochenen Kontinuität gründet. Diese Kontinuität kommt nicht zuletzt dadurch zum Vorschein, dass der direkt vom Himmel gesandte Protoplast des schlesischen Christentums in der Inschrift seines Denkmals

150 Fama Posthuma 1665, S. 3 – 4 (unnummeriert). 151 Ebd., S. 3.

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selbst zu einem »ewigen Stern« erklärt wird, dessen Leuchtkraft – hier eher kosmologisch als symbolisch – die vermittelnde Fortsetzung seines Werks ad infinitum bedeuten soll: »fulgeat quasi stella in perpetuas aeternitates«. 152 Diese Art der Interpretation eines historischen Ereignisses fällt mit einem radikalen Wandel der politisch verankerten Glaubensverhältnisse im Zuge der Rekatholisierung zusammen. Das Subjekt wird, wie im exemplarischen Falle Nankers, zu einer immer aufs Neue zu beweisenden Loyalität und Erneuerung der ursprünglichen Opferbereitschaft gezwungen – und diese wird zum Leitfaden der Wahrnehmung des Mittelalters im Barock als einer Gründerzeit, die immer noch andauert. Die rechtgläubige und normkonforme Fortsetzung im Rahmen der beglaubigten Institution, sei dies die Kirche oder die katholische Herrschaft, festigt die Endgültigkeit der allerersten Zäsur – des Akts der ursprünglichen Abschaffung der Idole – und verkörpert den Umstand, dass zwischen dem während der ersten Flucht Christi nach Ägypten manifestierten göttlichen Gewaltpotenzial und dem theokratischen Machtgefüge im barocken Christenreich als politischer Erfüllung dieses ersten autoritären Manifests der körpergewordenen Transzendenz kein wesentlicher Unterschied besteht. Nur unter diesen Prämissen sind auch solche ungewöhnlichen und durch ihre Typologie stark wirkenden BildAbb. 30: Johann Michael Scherhauf, Taufstein, 1765, Kosteletz in der Hanna bei kombinationen verständlich wie zum Beispiel die Olmütz, St.-Jakobs-Kirche. um 1765 von Johann Michael Scherhauf in Stucco ausgearbeitete Figurengruppe auf dem Taufstein in der St.-Jakobs-Kirche in Kosteletz in der Hanna (Kostelec na Hané) bei Olmütz (Olomouc) in Mähren (Abb. 30). Hier wurde die Darstellung der im Jahr 880 stattgefundenen Taufe des ersten christlichen Herzogs Böhmens Boˇrivoj I. durch den Erzbischof Method – neben Kyrill einer der Hauptapostel Osteuropas – direkt über der Szene der Erbsünde platziert, in der Adam und Eva kurz davor sind, das Angebot der Schlange anzunehmen. 153 Die beiden ersten Menschen, auf dem Globus sitzend, bilden den Deckel der Taufschale, die für den Moment der Taufe abgenommen werden

152 Erdmann 1850, S. 132. Vgl. zu Nanker in: Fama Posthuma 1665, S. 41 – 42 (unnummeriert). 153 Stehlík 2006, S. 24. Siehe auch Kováˇrová 2011, S. 60 – 61. Vgl. Pojsl 1995, S. 119 – 126.

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muss. Die darüber auf dem Baldachin dargestellte Christianisierung der ersten Staatsgewalt Böhmens wird einerseits tief in die paradiesische Zeit der Genesis zurückversetzt, zeugt andererseits aber von der Aktualität der Gefahr von Idolatrie als »illegitimem« Anspruch auf humane Selbstständigkeit jenseits göttlicher Macht. Die Taufe, die sich historisch als Mittel zur Durchsetzung der Obrigkeit erwiesen hat, soll helfen, der stets auftauchenden Versuchung, Früchte vom Baum der Erkenntnis zu pflücken, nicht nachzugeben. Sobald das Ritual durchgeführt und der Deckel mit dem Bildnis abgenommen wird, wird die Erbsünde ›entfernt‹ und mit ihr auch rein technisch das Risiko, durch die weltliche Materie, durch die Natur und ihr Wissen verzaubert zu werden. Anstatt des gefährlichen Erbsündenglobus kommt dann von oben das durch die Präsenz der dreieckigen Trinität auratisierte, blaue firmamentum des Baldachins in den Blick: die in der Taufe sich ausdrückende Autorität der Kirche als Institution, welche die infirmis, die im ›Irrglauben‹ verbleibenden und sich der ›wahren‹ Lehre widersetzenden Zweif ler, in ihre Obhut nimmt. 154 Die Taufe – die, wie in da Stradas Zeichnung, einem Versprechen der anti-idolatrischen Resistenz gleicht – ist nicht nur ein reinigendes Ritual, sondern auch eine Prozedur des Antagonismus, welche die Permanenz des christlich-politischen Drangs nach einem wiederholbaren, aber nicht zurücksetzbaren Neuanfang, nach einer stark definierten Neuzeit in der fremden Umwelt verkörpert. Die Konversion zeigt sich in diesem Rahmen als ein Ereignis, mit dem – im Unterschied zum Mythos, der es erlaubt, in die Unermesslichkeit des Abgrunds zu schauen – immer wieder der Zwang zur Datierung und zu einer historischen Lokation des Schwellenereignisses einhergeht, um eine Unumkehrbarkeit zu garantieren. 155 In einer solchen Vorstellung von Geschichtlichkeit, in der der Anachronismus zu einem Instrument der politischen Sinnstiftung und Subjektivierung avanciert, beginnt die historiografische Akkumulation der sich aufeinander beziehenden Ereignisse und die Kapitalisierung der Geschichte durch die semantische Autarkie der Medien ihrer Bewahrheitung.

Bewältigung des Singulären: Idol als Phantomerscheinung Die Idolatrie erschöpft sich aus christlich-katholischer Sicht nicht nur in einer pygmalionischen Verherrlichung der aus Stoff gemachten Figur. Die Idolatrie ist spätestens im barocken Christentum selbst zu einem polemischen Bild geworden, mit dem sich die Anbindung an die materielle Welt auch politisch negativ fokussieren lässt. Die bildenden Künste, die in diesem Sinne ständig der Gefahr ausgesetzt waren, den Betrachter zu verführen, die Taufe vergessen zu lassen und eine idolatrische Erotik der Bilder vor das erste Gebot zu rücken, werden daher im barocken Zeitalter gebändigt durch den autothematischen Diskurs, den

154 Lütcke 1968, S. 140 – 141 (zu firmare als Funktion des Papstamtes laut Augustins Lehre). 155 Blumenberg 1979a, S. 269 – 270 und 277; vgl. ebd., S. 271.

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sich die Kirche angeeignet hat. Dieses ›Sicherheitsprozedere‹ kann im Sinne einer neuen Dimension des künstlerischen Paragone verstanden werden. Anders als im humanistischen Diskurs um das Primat in der Nachahmung waren die mimetischen Qualitäten der an diesem ›Wettbewerb‹ teilnehmenden Künste als Argument für deren Hoheit anzunehmen, insofern sich diese Kunst selbst als anagogisches Mittel der rein historischen Nachahmung, als Verweis auf einen einst leiblich offenbarten Prototypen und seine neue Historizität bloßstellte. Die Idolatrie in der Kunst war somit bereits im Voraus mithilfe einer forcierten Selbstverleugnung, gar Entmündigung des ihr eigenen Bildmediums zu neutralisieren. Diesem politisch motivierten, anti-pygmalionischen Selbstbewusstsein der barocken Bildlichkeit kommt bereits im 16. Jahrhundert die christliche Archäologie zu Hilfe. Durch ihre Betonung der Historizität, der sichtbaren Patina der darstellenden Artefakte, die aus der Erde ausgegraben werden, lieferte die Archäologie ein Argument für die physikalische Passivität dieser Reste als Zeugen des Ursprungs und sorgte damit für die wissenschaftliche Fundamentierung der anti-idolatrischen Grundlagen der christlichen Kunst. 156 In diesem weitgehend archäologisch-polemisch strukturierten Rahmen zeigte daher die Demonstration des Idolensturzes, gründend auf zahlreichen Typologien, ein klares Verständnis für die kritische und kompromisslose anti-idolatrische Botschaft. Entscheidend ist in diesem Bildkonflikt die in den Vordergrund gerückte Singularität des Idols als einer vereinsamten Figur, die der kämpfenden, triumphierenden und mit starken Autoritäten ausgestatteten christlichen Gemeinschaft nicht standhalten kann. Als eine symbolische Visualisierung der Klarheit solcher Bildformulare in der Frühen Neuzeit soll in diesem Kontext exemplarisch auf die Geschichte des päpstlichen Auftrags an den sizilianischen Maler Tommaso Laureti verwiesen werden, der von Gregor XIII. mit der Ausmalung des seit Raffael immer noch nicht ausgestalteten Gewölbes der Sala di Costantino im Vatikanischen Palast beauftragt wurde. 157 Seine Aufgabe war es, im Deckenfresko des repräsentativen Raumes den Triumph der Religion zu visualisieren. Laureti konzipierte dafür eine neue Formel, die an die ersten Anfänge des christlichen Mittelalters erinnern sollte: die narrative Szene des Befehls von Kaiser Konstantin, alle ›heidnischen‹ Idole im Reich zu vernichten, eine praktische Umsetzung der kaiserlichen Konversion also, so wie sie sich in der Mailänder Vereinbarung von 313 findet. Wie der Biograf des Malers Giovanni Baglioni berichtet, hielt jedoch der Nachfolger des inzwischen verstorbenen Gregor, Sixtus V., die von Laureti geplante und den anderen Fresken im Raum thematisch angepasste storia für ungeeignet. Statt der vorher konzipierten Bilderzählung gestaltete Laureti schließlich 1585 das Gewölbe mit einem den Betrachter perspektivisch stark einbeziehenden Bild aus, in dem ein Idol in einem leeren, monumentalisierten Raum direkt vor dem zentral auf einem Postament aufgestellten

156 Siehe u. a. Herklotz 2007, S. 104 – 109. Vgl. Herklotz 2012; Herklotz 2001, S. 291 – 307; Herklotz 1997, S. 57 – 78. 157 Zu diesem Raum siehe: De Jong 2001, S. 27 – 56; Rohlmann 1994, S. 153 – 169; Fehl 1993, S. 9 – 76; Quednau 1979. Vgl. Freiberg 1995, S. 66 – 87.

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Kruzifix zerbricht (Taf. 13). 158 Durch diese klare visuelle Polarität der zwei dargestellten Objekte ist die eindeutig polemische Aussage der gesamten Darstellung leicht zu ersehen: der Sieg des auf ewig triumphierenden christlichen Kreuzes über die zertrümmerte und dadurch bereits für immer passiv gewordene Verkörperung des ›Heidentums‹. Das Idol ›stirbt‹ also als historisches Subjekt unter den gleichen Prämissen, mit denen auch sein vermeintliches ›Leben‹ verläuft. Mit der automatischen, gewaltsamen Zerstörung der durch Menschenhände erzeugten materiellen Form endet auch seine Existenz – in Trümmern, in zerstückelten Körperteilen, in dem leeren Blick des abgetrennten, auf dem Boden rollenden steinernen Kopfes. Das Idol ist in diesem Sinne eindeutig als Gegenpol zur Hostie anzusehen, die, wie es auch bereits in Thomas’ Summa lautet, als eine wiederholbare figura der Ubiquität verletzt werden kann, ohne dass dieser Zerstörungsakt den Prototyp schwächen oder in irgendeine Relation stellen könnte, genauso wie solch ein Vorgang keine Auswirkung auf andere konsekrierte eucharistische Akzidenzien hat. 159 Lauretis schlichtes und dadurch ausdrucksvolles Bild der bereits vollbrachten gewaltvollen Auseinandersetzung wurde im Kontext der sowohl lokalen als auch globalen Verbreitung des Christentums durch dessen pontifikale caput in Allianz mit dem staatlichen Oberhaupt platziert. Die anderen Teile des Gewölbes in der Sala di Costantino visualisieren es mit ihren Bildern mehr als deutlich: Die Ecken wurden mit den Taten Gregors XIII. und der Fries mit Szenen aus dem Leben von Konstantin dem Großen und den territorialen Personifikationen der italienischen Provinzen sowie der drei Kontinente Europa, Asien und Afrika verziert. Eine direkte Versinnbildlichung der Umsetzung dieser anti-heidnischen Bildpolitik findet sich schließlich an der gleichen Decke in den Darstellungen der historischen Beispiele der Umwandlung von antiken Monumenten in christliche Mahnmale beziehungsweise Triumphdenkmäler. Die Trajanssäule wird hier durch die Figur von Petrus triumphal angeeignet, die Colonna Antonina von Paulus in Besitz genommen, und der triumphal bezwungene ägyptische Obelisk im Vatikan, der aus Heliopolis stammt – der Stadt, die nach der Zeit von Abrahams Lehre später den Fall ihrer Idole bei der Ankunft Christi erleben musste –, wie auch der im Lateran erscheinen hier in der ganzen Komplexität ihrer neuen Semantik. Als mühsam aufrechtgestellte Zeichen der sixtinischen Macht sind sie zugleich als antagonistische Formen der Verbindung zwischen Triumph und Verachtung durch die bezwingende Zurschaustellung der Trophäe, des archaischen ›Leichnams‹ einer bewältigten Kultur zu verstehen. Folglich versinnbildlichen sie das sich in Aneignung des Fremden ausdrückende 158 Knaap 2017, S. 78 – 79; Richter 2009, S. 111 – 114. Einige Betrachtungen liefern: Baglioni 1640, S. 72; Krüger 2001, S. 202 – 203. Vgl. eine kurze Notiz bei Cole 2009, S. 58, 69. Zu den früheren mediceischen Dekoration des Raumes mit den Darstellungen zur Geschichte des konstantinischen Kreuzes vgl. v. a. Quednau 1979, S. 330 – 346. Die Szene der Vernichtung von Idolen wurde auch in einer der Fensterrahmungen des Raumes von Giulio Romano gemalt, siehe Fehl 1993, S. 53. 159 »Corpus Christi non potest in propria specie videri nisi in uno loco, in quo definitive continetur. Unde, cum videatur in propria specie et adoretur incaelo, sub propria specie non videtur in hoc sacramento« (Thomas von Aquin, Summa theologiae, pars III, 76, 5).

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Geschichtsbewusstsein, mit dem auch ihr Status als Beweise der den christlichen Behörden zugänglichen modernen Technologie sichtbar wird. Spätestens seit dem sixtinischen Zeitalter festigte also das Motiv der Vernichtung der Idole der durch das christliche Mittelalter bezwungenen, ›heidnischen‹ Antike und der nördlichen ›Barbarei‹ einen politischen Topos. Seit dem 17. Jahrhundert bildete dieses Motiv verständlicherweise ebenfalls eine Inspiration für die in verschiedenen Regionen Europas tätigen antiquarii, die mit ihren Kategorien der Historizität und der Altertümlichkeit die erwünschte Dinglichkeit der Artefakte auf die Probe stellten. Die Suche nach eigenen Ursprüngen endete dabei meist in einem Entfremdungseffekt, indem die naturgebundene und als archaisch-autoritär gedeutete Idolatrie der Urvölker des jeweiligen Landes als ein Gegenpol zum systematisch auf ethischen Voraussetzungen und einem historischen Verständnis gründenden Religionssystem des Christentums dargestellt werden musste. Mit diesem neuen System des Christentums als Schriftreligion des Gesetzes bildeten sich auch die ersten regionalen Regierungsformen, die sich – aus historischen Schriften rekonstruiert – mit ihren rechtlichen Grundlagen als die ersten Vorläufer der idealen barocken Herrschaftsform interpretieren ließen. Dies war insbesondere in den rekatholisierten Regionen Europas der Fall, wie etwa in den Spanischen Niederlanden und den nach 1620 habsburgisch gewordenen Ländern der Krone Böhmens. Die Rückgewinnung der im Mittelalter vom ›Heidentum‹ zum Christentum konvertierten und nachher protestantisch gewordenen Länder ging mit einer sehr speziellen Propagandakampagne einher, in der der Topos der Abschaffung der Idole eine sichtbare und lokal anzuwendende Gestalt annahm, mit der die geografische Lokalität in eine ubiquitäre Universalität umgedeutet werden konnte. Die Erhebung des Marienbildes vom Weißen Berg zum Missionswerkzeug ist daher als repräsentativ für die gesamte Bildpolitik anzusehen, die in den nach 1620 habsburgisch gewordenen Ländern programmatisch ins Leben gerufen wurde. Die Aktualität der Idolenfrage bildete dabei den Schlüssel zur Erstellung eines Phantombildes des ewigen Feindes, nachdem die aristokratischen Träger der böhmischen Rebellion bereits am 21. Juni 1621, wenige Monate nach der entscheidenden Schlacht, durch die habsburgischen Verwalter auf dem Alten Markt in Prag exekutiert worden waren und die dadurch entstandene soziopolitische Leerstelle durch den ›neuen‹ katholischen Adel mitten in einem protestantischen Land ersetzt wurde. 160 Der protestantische Bildersturm dagegen wird in diesem Kontext interessanterweise als eine Aktion verstanden, die den idolatrischen ›Irrglauben‹ verkörpert, indem Bilder aus der Sicht der katholischen Kirche gerade aus Furcht vor ihren Aktivitäten vernichtet werden, ohne Respekt und ohne Verständnis für das durch das Tridentinum deutlich bestätigte katholische Modell der lediglich passiv an die Prototypen weiterleitenden Repräsentation. Durch diese Differenz wird eine Geschichte der diskursiven Herausforderung deutlich, mit der sich die katholische Kirche konfrontiert sehen musste: Der Bildersturm braucht nicht

160 Zur Ikonografie dieser Exekution: Vlnas 2001, S. 172, Kat.-Nr. I / 5.15 – 16.

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soziopolitische Argumentation, sondern teleologische Rechtfertigung. Die Annahme, dass die Skulpturen der griechischen und römischen Antike aufgrund ihrer künstlerischen Qualitäten im Barock entideologisiert werden konnten beziehungsweise als ästhetische Artefakte sich durch Neutralität auszeichneten und die Kraft der gegen Idole gerichteten Polemik sich in der Frühen Neuzeit eher auf die aufklärende Narrativierung und Missionierung der mit tatsächlichen Idolen befüllten außereuropäischen Länder konzentrierte, kann somit nicht bestätigt werden. 161 Einerseits musste die klare politische Periodisierung der eigenen Geschichte mit allen dazugehörigen Brüchen und Zäsuren durchgeführt werden, um durch die Feststellung der Differenzen einen deutlich teleologischen Hintergrund des Christentums und dementsprechend eine alternative Zeitdimension ›nach der Idolatrie‹ postulieren zu können. Andererseits funktionierten europäische Idole des 17. und 18. Jahrhunderts – anders als die zeitgenössischen Götterfiguren in Asien und Übersee – nur als kulturelle Konstrukte, als feindliche Phantombilder und sie wurden meist lediglich dank der Vorstellungskraft der Geschichtsschreiber und Künstler zu dieser Rolle als im Voraus scheiternde Attrappen animiert, als im juristischen Sinne Subjekte dead on arrival. Nicht die Individualität eines konkreten, erfahrbaren Artefakts, wie bei den zu obszönen Gedanken verführenden antiken Figuren der Venus, 162 sondern gerade die befremdende Anonymität eines im Idealfall nur rekonstruierbaren ›heidnischen‹ Bildwerks kann als Grund für dessen barocke Karriere als fremdes Idol betrachtet werden, das sich vor allem in seiner Abwesenheit als besiegter Feind auszeichnet. Denn diese Karriere ließ sich am besten historiografisch und auf eine polemische Weise den herausragenden Persönlichkeiten ihrer anerkannten katholischen Zerstörer entgegensetzen. In diesem Sinne erscheinen die europäischen Idole als phantomatische Wunschobjekte der Aufhebung, genauso wie die durch Athanasius Kircher, Matteo Ricci und andere jesuitische Gelehrte beschriebenen Götterstatuen Chinas, Indiens und der übrigen damals fernen Länder zu Objekten von Exotisierung und Übersetzung werden. In Regionen wie Böhmen, wo eine katholische Herrschaft sich als Ziel gesetzt hatte, das reformierte Volk zu missionieren, erschienen sie umso mehr als politisch aufgeladene Kuriositäten. Weder war ihre Altertümlichkeit bekannt – wie es in Italien meistens der Fall war –, noch wurden sie im Rahmen der flächendeckenden ethnografischen Beschreibungen – wie im Fall der Kulturen asiatischer Völker und der Ureinwohner der beiden Amerikas – systematisch untersucht. In der Propaganda der Rekatholisierung stellten dementsprechend ihre poetisierten Geschichten die geeignetsten historischen Argumente für die konfessionelle und staatspolitische Rückgewinnung der – in der Zeit zwischen dem rohen Mittelalter und der triumphalen 161 So argumentiert Pfisterer 2012, S. 94 – 95. 162 Vgl. die Passage Ulysse Aldrovandis über eine Figur im römischen Belvedere: »In un’ altra cappella è Venere tutta ignuda intiera, che con la man dritta si cuopre le membra sue genitali, con la manca tiene la sua camiscia pendente sopra un giarrone, & è ogni cosa di un pezzo. [. . . ] la depinsero ignuda, per che apparessero le sue gran bellezze; ò pure, per che gli amanti, che lei et il fi gliuolo seguono, mostra no tutti ignudi i loro pensieri, e fanno molto à l’aperta le loro cose, non credendo però, che altri le vegga«; Aldrovandi 1562, S. 120. Vgl. Bussels 2014, S. 38 – 55.

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habsburgischen Rückkehr – auf ›idolatrischen‹, das heißt protestantischen Wegen verlorenen Länder dar. 163 Bis zum 18. Jahrhundert galt die antike, griechische oder römische Skulptur jenseits des durch Giorgio Vasari initiierten strikt künstlerischen Diskurses als Synonym eines Idols. Ohne dass entsprechende bildliche Rituale aus der vorchristlichen Zeit rekonstruiert werden konnten, provozierte zu solch einer Bezeichnung allein die Nacktheit der Figuren; an ihr waren – neben der Bewaffnung – bereits in der mittelalterlichen Auslegung alle Idole erkennbar. 164 Erst die fortschreitende Ethnologisierung der Forschungen zum Polytheismus in seinen breiten geografischen Variationen im 18. Jahrhundert brachte eine neue Definition der ›Heiden‹ mit sich, die sich ab dieser Zeit vor allem mit den durch die Missionen dehumanisierten Ureinwohnern Amerikas in Verbindung bringen ließ, während antike Skulpturen nach und nach durch die ästhetische Brille Winckelmanns als klassische Artefakte angesehen wurden. In der gleichen Zeit blühten außerdem unterschiedliche Lokalforschungen zu alten germanischen und slawischen Kulturen Europas, deren Skulpturen und andere materielle Überreste die Frage der Idolatrie auf eine neue Art der Exotisierung der eigenen Geschichte umzuleiten vermochten, mit der wiederum die negative Seite der Angebundenheit an die Natur und die des Kultes von Naturgottheiten sichtbar werden konnte. Der anti-idolatrische Barock wird auf diese Art und Weise zu einem politischen Museum, denn nicht nur die Bewahrung der die Vergangenheit bezeugenden Körper und Spuren, sondern auch die Bewältigung aller bildlichen Grundlagen der animistischen Versuchung kann als ein musealer Vorgang beschrieben werden. Im Barock wird das Idol erneut erhöht, indem es mit einer polemischen Negativität ausgestattet und als apriorischer Verlierer im tödlichen Duell mit dem ubiquitären Christengott kategorisiert wird. Einen Grundstein für das barocke Projekt der ›Musealisierung‹ der historischen Bilder als semantische Kommunikationsflächen, durch welche die alten Idole in dieser Rolle übertroffen werden sollen, legte bereits die vortridentinische Propaganda der spätscholastischen Kontroverstheologen, die angesichts der Radikalität der protestantischen Idolatrie-Vorwürfe eine Antwort auf die Rolle der Bildlichkeit in einem dezidiert anti-idolatrischen System der zeichenorientierten Bildlektüre zu finden vermochten. 165 Diese spontane Semantisierung des mimetischen Vorgangs in der Kunst kann als ein museales Labelling betrachtet werden, mit dem der Inhalt des Bildes im Voraus durch die Macht des begleitenden Wortes systematisch entzaubert und weitgehend neutralisiert wird. Barocke Versuche eines neuen, normkonformen Paragone zwischen den gezähmten abbildenden Medien führten zu einer ausstellungsbedingten Befestigung der spezifischen, ausdehnbaren Historizität der Dinge.

163 Vgl. mit der im Kap. 4 besprochenen sog. ›Degenerationstheorie‹. 164 Vgl. Kap. 2, Anm. 119. 165 Kapustka 2008a, S. 97 – 115; Göttler 1990, S. 263 – 297; Smolinsky 1980, S. 427 – 440; Iserloh 1974, S. 75 – 85.

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In der Konsequenz etablierte sich die ›Verwissenschaftlichung‹ der Idole und wurde zu einem Mittel ihrer Bewältigung und endgültigen Entzauberung. 166 Solch ein didaktischer Vorgang der Entmächtigung wird allerdings bereits lange vor dem Zeitalter ethnografischer Forschungen typologisch angestrebt, wie in dem Bild der Flucht nach Ägypten von Amico Aspertini von ca. 1520 (Taf. 14) zu erkennen ist: Die Steintafel im Vordergrund bannt als skulpturales Vorzeigemedium sogar die vorchristlichen idolatrischen Sünden und visualisiert ihre Beseitigung durch indisputable alt- und neutestamentliche Autoritäten: neben der Verleihung des Gesetzes am Sinai, der die Anbetung des Goldenen Kalbes folgt, erscheint hier Mose als Zerstörer, der die Gesetzestafeln im Zorn zerbricht, der Begründer der Davidischen Dynastie König Josia als Bindeglied zwischen dem Alten und dem Neuen Testament und der kleine Christus, der – auf dem Schoss seiner Mutter stehend – vor den Augen der Prophetin Hulda die ägyptischen Idole zum Fall bringt. 167 Diese bildhafte Gallerie des durch die gesetzliche Norm bestraften vorzeitlichen Verbrechens der Idolatrie wird in dem Moment selbst als Medium leblos, in dem das Licht den Inhalt der Kristallkugel unter dem Fuß von Christus erscheinen lässt. Hinter den flimmernden Reflexen auf ihrer Oberfläche wird im Inneren ein kleines szenisches Bild sichtbar, das nur als ein im reinen Kristall wie in einem ewigen Spiegel gespeichertes Ereignis, als ein Ur-Abbild begriffen werden kann: die Erschaffung Adams durch Gotteshand. Der vorletzte Akt der Schöpfung als gespiegelter beziehungsweise eingefangener Bildbericht in einer Kugel – dieses christliche Ideal der verweisenden, flüchtigen Form, eines leuchtenden oder reflektierenden Bildes, erklärt alle anderen Speichermedien für ungültig, sobald sie als Requisite der gotteslästernden Ansprüche des Menschen auf eigene Kreativität im Umgang mit der natürlichen Materie verwendet werden. In Bezug auf das die Fremdheit entmachtende Schwellenereignis der Flucht nach Ägypten wird hier die Zeit universalisiert: Der menschlichen Produktion von Idolen als Vorgang des Verderbens wird die göttliche Produktion des Menschen als eine exklusive Praxis vorgesetzt. Eine derartige museal entzaubernde Nische für die abgeschafften und entmachteten Idole in den christlichen Ländern, die immer als frontal exponierte, anschaubare Statuen dargestellt werden, garantierte später der Begriff von »Merckwürdigkeiten«, mit dem in barocken Schriften viele ›heidnische‹ Bildpraktiken unter ethnografischen Prämissen subsumiert wurden. Ein Beispiel für solch eine ›Verwissenschaftlichung‹ findet sich unter anderem in der Oberlausitz, der im Barock noch immer durch den slawischen Polytheismus geprägten Region, in der monumentalen Ausgabe der Lausitzer Merckwürdigkeiten des protestantischen Historikers Samuel Grosser aus dem Jahr 1714, in der alle slawischen Gottheiten des Landes in einem Gruppentableau porträtiert und im Text ausführlich behandelt werden

166 Vgl. Shaffer 2002, S. 498 – 522. 167 Emiliani / Scaglietti Kelescian 2008, S. 212; Koneˇcný 2005, S. 65 – 66; Faietti / Scaglietti Kelescian 1995, S. 175 – 177, Kat.-Nr. 39.

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Abb. 31: Slawische Götter der Lausitz, in: Samuel Grosser, Lausitzer Merckwürdigkeiten, 1714.

(Abb. 31). 168 Allein ihre Vielfalt, unvereinbar mit dem exklusiv-monotheistischen Einheitsglauben, stellte aus christlicher Sicht einen Grund für ihre Bewältigung dar. In der Katalogisierung und Taxonomisierung von multiplen singulären Erscheinungen des ›Fremden‹ aus der Geschichte erfolgte zugleich eine Prozedur der semantischen Zähmung einer diesen Objekten im 17. und 18. Jahrhundert eigenen Ambivalenz: Sie durften mit ihrer idolatrischen Exotik zur Schau gestellt werden und die Neugier des Betrachters stillen, sobald sie auf ihrem Weg zur Wunderkammer durch die ratio der aufgeklärten Historisierung entkräftet worden waren. 169 Die Entfremdung der durch die Idole verkörperten slawisch-germanischen Geschichte gegenüber dem christlichen Bild- und Geschichtsverständnis verläuft also, wie Grossers Werk nachweist, konfessionell übergreifend. Während der chronikalische Sinn der protestantischen Historiografen auf den wachsenden Lokalpatriotismus zurückging, betrachteten katholische Historiker wie der Zisterzienser Augustin Sartorius die als eigene beanspruchte Geschichte – die Universalgeschichte des Christentums – als eine Geschichte des erneuten Anfangs, der die Fundamente des missionarischen Antriebs lieferte.

168 Grosser 1714. Vgl. spätere Beispiele in: Effinger / Logemann / Pfisterer 2012, passim. 169 Vgl. Farago 2011, S. 104; vgl. S. 113 ff. wie auch Pfisterer 2013, S. 163 – 199, v. a. S. 172 – 182; Rubiés 2006, S. 584 – 596; Mitter 1977, S. 1 – 104 wie auch Sheehan 2006a, 35 – 66 (zu Schnittmengen von Wissenschaft und Theologie in der frühmodernen Idolenfrage).

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Abb. 32: Bartholomäus Kilian nach Karl Škreta, Der Fall vom Idol Nebukadnezars, Abbildung in den philosophischen Thesen Conclusiones philosophicae von Robert Wallis (J. A. Losy von Losinthal), 1668, Kupferstich, Prag, Nationalgalerie, Inv.-Nr. R 241 466.

Die »Merckwürdigkeiten« der ›heidnischen‹, polytheistischen Idole standen also einerseits im Fokus des an Spuren und Relikten orientierten protestantischen Polyhistorismus wie auch der sich entwickelnden Natur- und Kulturinteressen. Andererseits lieferten sie zugleich einen Beitrag zur Etablierung einer übergreifenden, auf Typologien, Differenzen und fiktiven Aktualisierungen aufgebauten katholischen Geschichtsvision. Im Kontext dieser purifizierenden Macht der Idolenvernichtung, die mit der Einführung der christlich-kompatiblen Herrschaftsformen einherging, spielt die Einführung des weltlichen Herrschers als Erbe der ersten ›Götzenstürmer‹ eine topische Rolle. Eine grafische Darstellung, in der seine nur indirekt sichtbare Macht den vergänglichen, antastbaren Feindeskörper bewältigt, befindet sich in einer von Bartholomäus Kilian anhand der Zeichnung Karl Škretas gefertigten Illustration zu den philosophischen Thesen (Conclusiones philosophicae) von Robert Wallis (J. A. Losy von Losinthal) von 1668 (Abb. 32). 170 In diesem für unsere Erwägungen paradigmatischen Bild fällt ein Idol auseinander, das der ›heidnische‹ 170 Stolaˇrová/Vlnas 2010, S. 392 – 393; Zelenková 2009, S. 28 – 30.

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König Nebukadnezar, der Erbauer von Babylon, im Traum gesehen hatte. Ursprünglich ein Synonym der weltlichen Herrschaft, wurde diese Figur in Kilians Stich mit einem Halbmond auf dem Schild als aktualisierte Verkörperung des ›Unglaubens‹ gekennzeichnet. 171 Sein Gegner, der christliche Herrscher, ist das habsburgische Reich, das hier nicht persönlich, sondern lediglich in Form einer bildlichen Darstellung, einer beflügelten, thronenden Herrschaftspersonifikation auf dem Felsen gezeigt wird. Der christliche Herrscher ist also ›nicht von dieser Welt‹, denn er wird selbst auch ›nur‹ durch ein verweisendes Bild vertreten. 172 Die habsburgische Monarchie formt ein architektonisch gerahmtes ›Andachtsbild‹, dessen Inschrift auf die Fruchtbarkeit und damit Stabilitätsgarantie für das Reich der ersten dynastischen Ehe zwischen Leopold I. und Margherita Theresa von Spanien hinweist. 173 Ein Bild eben, das sich durch die Kraft der göttlich gesegneten Selbstreproduktion auszeichnen soll. Die Macht des Idols erweist sich in dieser Konfrontation mit dem durch Fortpflanzung genealogisch verlängerbaren Staatskörper als illusorisch, denn sie ist direkt an seine Materialität als Einzelwerk gebunden und endet mit der Vernichtung der singulären Körperhülle. Vom Felsen über dem Idol, in dem das ›Andachtsbild‹ des Reiches erscheint, ist ein Steinfragment heruntergefallen und hat die steinerne Figur des ›heidnischen‹ Kämpfers zerbrochen, um die christliche Ordnung (wieder) in Gang zu setzen. Genauer gesagt ist der Stein ein Stück des Rahmens, des Postaments, der fundamentalen Stütze des imperialen Bildes (versehen mit der Inschrift »abscindetur adhuc«), der sich, nun am Boden liegend, als ein gewaltiger rechteckiger Steinbrocken mit einer enormen Vernichtungskraft erwiesen hat. Der Idolensturz wird hier also nicht als Gewaltakt gezeigt, sondern zu einem ›natürlichen‹ Vorgang im Sinne einer teleologischen Notwendigkeit stilisiert. 174 Die steinerne Figur zerfällt durch den Einsatz der Kraft, mit der die Natur selbst beherrscht wird. Es ist ein Ereignis, das durch eine Macht verursacht wurde, welche die Akzidenzien der Natur übertrifft. Die ganze Landschaft, gar die ganze sichtbare Welt bleibt der Präsenz des Kaisers unterworfen. Gegen diese herrschaftliche Machtausdehnung, die ein weites Echo des von Konstantin taktisch eingeführten frühchristlichen Kaiserkultes als Grundsatz des monotheistischen Religionsstaates zu sein scheint, 175 zeichnet sich das aus einem Stück Stein hergestellte Idol durch seine prosaisch erzeugte Vereinzelung aus, die eine Gebrechlichkeit des doch fragilen

171 Vgl. Rahn 2000, S. 521 – 561, wie auch zum mittelalterlichen Kontext: Fricke 2007, S. 240 – 242. 172 Vgl. zum Idolatrie-Diskurs im Kontext der königlichen Bildnisse und Monumente im 17. Jahrhundert: van Eck 2015, S. 79 – 99. 173 Text der Inschrift: »Programma. / Margarita Leopoldi Romanorum Imperatoris semper / Augusti Conjux, Infans Hispaniæ. / Anagramma. / Mons rari valoris unionum ferax, Patriae amico gemmas, hosti / populi grandines pariet.« 174 Vgl. die aristotelische Kategorie des Zufalls (automaton) als eine unklare Ursache in der Poetik, die bekanntlich mit dem Beispiel einer Statue des Mitys in Argos illustriert wird, von der ein Teil herunterfällt und zufällig – obwohl es nicht wie ein Zufall aussieht – den Mörder von Mitys tötet (Aristoteles, Poetik, 1452a); dazu Seitter 2010, S. 140 – 143. 175 Vgl. Simon 1972, S. 298 – 300.

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Materials – einer lediglich geologischen Akzidenz der allgegenwärtigen Natur – impliziert. Das Idol erscheint als eine Entstellung dieser göttlich hergestellten Natur, eine sekundäre Fabrikation, die im Gegensatz zu gesegneten dynastischen Machthabern unfruchtbar ist und die letztendlich durch einen einfachen, von dem Felsen wie von einer Matrix der kaiserlichen Ehe herausgeworfenen Stein wieder in den nonfigurativen Zustand einer leblosen Ruine zurückgewiesen werden muss. Es ist also nicht nur eine bloße Auseinandersetzung zweier Bilder, die hier allegorisch demonstriert wird, sondern der Konflikt einer leeren Form der irdischen Materie mit einer höheren Form, die der Materie bereits entbunden wurde, um transzendent zu werden, also ein Konflikt des flüchtigen apatetischen Scheins mit der andauernden ›wahren‹ Existenz. Diese Polarität zeugt von der beanspruchten Allmacht des christlichen Herrschers und von den autonomen Zügen dieser Ikonografie. Die Tatsache, dass der Stein, der die Traumstatue Nebukadnezars vernichtete, in der christlichen Exegese als neugeborener Christus gedeutet worden ist, 176 der als erster legitimer acheiropoietos eine neue, nicht naturimmanente Zeitlichkeit der Geschichte mit sich bringt, liefert dabei im Hintergrund eine Legitimation für die christomimetische Selbstpositionierung des im göttlichen Licht agierenden Herrschers. Der Bezug auf die inkarnierte Transzendenz scheint sich somit als ein Idealmittel der weltlichen Machtaneignung, Machtbefestigung und Machtbegründung etabliert zu haben. Gerade aufgrund der Ewigkeit, die hier als Resultat der jenseitig motivierten Befreiung von den Naturkräften und als konsequente Relativierung der Zeit mit der unsichtbaren Ubiquität zusammenkommt, wird diese Potenz sichtbar. Die genealogischen Züge der christlichen Macht des Kaisers, der mit seinem Steinwurf den Gründungsmoment der rechten Ordnung verewigt und mit dieser Intervention Geschichte als Aktualität erscheinen lässt, zeigen sich hier also im ähnlichen Kontext wie die familiären Beziehungen des jungen Christus als vom unsichtbaren Vater geistlich gezeugter ewiger Dämonenbekämpfer. Damit wird zugleich die mittelalterliche Debatte zur Superiorität der christlichen eikon als substanzielle Repräsentation über dem ›heidnischen‹ eidolon, dem künstlichen Produkt einer Täuschung, auf einer politischen Ebene aufgegriffen. Im Kontrast zur göttlichen Legitimität des christlichen Herrschers als gesegneter Repräsentant wird in diesem Propagandakonstrukt der Status des Idols, das gerade durch seine hypermimetische Verführungsart einen Versuch unternimmt, die vorgegebenen Grenzen seines Wirkungsbereichs als bloße Skulptur zu überwinden, moralisch als eindeutig negativ beurteilt. Das christliche Verständnis der haereditas, der Weitergabe, die in der katholischen Auslegung – wie die von oben gesteuerte kaiserliche Fruchtbarkeit – einen Gegenpol zur historischen Singularität des einsamen Idols darstellen sollte, animierte darüber hinaus eine neue Interpretationsebene des Sozialkörpers Familie als Sinnbild der katholischen Gemeinschaft. Wie in den weiteren Abschnitten dieser Studie noch darzulegen ist, wurde im Zuge der barocken Geschichtspoetik insbesondere die Familie zu einem semantisch ausdehnbaren

176 Koneˇcný 2005, S. 44 – 45 ff, 93 (Anm. 105).

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Träger der verankerten, legitimen Historizität und der rechtgläubigen Sukzession erhoben. Ihre Genealogie der wachsenden Vermehrung konnte einen Gegenpol zur Ohnmacht des durch Menschen gemachten Idols darstellen – diese sollte doch der gestalteten Materie innewohnen, die aus dem Grund als vergänglich verurteilt worden war. Die Familie wurde als symbolische Struktur historisch kultiviert: Die alten Orden – wie die Benediktiner oder die Zisterzienser – pflegten mit diesem Bezug die Genealogie ihrer geografischen Filiationen. Sie wurde jedoch auch neu gegründet, wie bei den Jesuiten, einem neuen Orden, für den nicht mehr die Abstammung, sondern die Produktion einer neuen, eigenen Geschichte aufgrund nachweisbarer Verdienste zählte. Für die vom Orden eingesetzte Metaphorik der ›kollektiven Familienidentität‹ war natürlich die erste Familie, die trinitas terrestris, Vorbild. Die Aktualisierung des Motivs der durch das ägyptische Exil wandernden Heiligen Familie wird im Barock zu einem Topos der nach ihrer kollektiven Identität suchenden Ordensmitglieder unterschiedlicher Filiationen. So werden auch die Hauptakteure der habsburgischen Rekatholisierung durch die anachronistische Ikonografie von ihrem Kindesalter an sorgfältig beobachtet, wie zum Beispiel der junge Johannes von Nepomuk, der – wie es in einem Stich von Johann Christoph Lischka dargestellt wurde – von Anfang an in Obhut der Familie der Zisterzienser mit dem topografischen Sakralpanorama seiner Geburts- und Verehrungsorte konfrontiert worden war (Abb. 33). 177 Er ist in diesem Sinne ein unter den Auspizien der vorsorglichen Ordensmänner formbares ›Adoptionskind‹, dessen späteres Schicksal als Märtyrer die Vergangenheit und die Zukunft teleologisch miteinander verbindet. Die Kindheit der barocken Heiligen als eine semantisch aufgeladene und zukunftsorientierte ›ursprüngliche Zeit‹, die ihre spätere Mission durch ihre kindliche Unschuld vorbereiten soll – übrigens auch ein Leitmotiv für die künstlerische Biografistik des Barocks –, stellte dementsprechend eine neue Herausforderung für die normkonforme, nachtridentinische Bildpolitik der konfessionellen Rückeroberung der einst katholischen Territorien dar. Mit solcher Rekonstruktionslust ließ sich nicht nur die im Rahmen der christlichen Bildung erlernbare Tugend als Voraussetzung der Aufopferung im Dienste der kirchlichen Institution beschreiben, sondern auch die zeitlichen Komponenten der biografischen Erzählung konnten damit effektiv auf zahlreichen Typologien aufgebaut werden. Der Grundsatz der Treue, der disziplinierten ›Kinder‹ in der paternalistisch geschlossenen Struktur eines Ordens, so wie er zum Beispiel in den Kollegien der Jesuiten als Grundsatz der Gruppenidentität gepflegt wurde, vermochte es, eine neue Poetik der Kindheit in der Apotheose des wiederholten Anfangs zu erzeugen. In der böhmischen Historiografie hat sich ein markantes Beispiel solch einer Propaganda der adoptiven Familienbildung in der sakralpolitischen Gründungszeit erhalten: Der hl. Wenzel, erster Protoplast des christlichen Böhmens, kauft als Konvertit den lokalen ›Heiden‹ ihre Kinder ab, um sie in einer selbst errichteten christlichen Schule planmäßig in Mitglieder der neuen Gemeinde zu verwandeln.

177 Siehe Fürst 2002, S. 386.

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Abb. 33: Johann Christoph Lischka nach Karl Škreta, Der junge Johannes Nepomuk bei den Zisterziensern, in: Augustin Sartorius, Verteutschtes Cistercium, 1708.

Es handelt sich dabei wohl um eine lokale Reinterpretation des altchristlichen, auf den Topos der bethlehemitischen innocenti zurückgehenden Adoptionsbrauchs, Kinder ihren eigenen Familien zu entnehmen, um sie in gemeinschaftlichen Bildungsstätten systematisch auf den Status der alumni – derjenigen, die in Gotteseifer den Selbstentzug üben – vorzubereiten. 178 Das Motiv des Wenzels als Kinderkäufer, präsent in einigen böhmischen Chroniken, wurde in einem großformatigen Gemälde von Karl Škreta innerhalb seines Zyklus des Lebens des Heiligen für die Augustinerkirche im Prager Zderaz von 1641 dargestellt, der aufgrund eines im Kloster aufgefundenen Textes aus dem 14. Jahrhundert konzipiert worden war (Abb. 34). 179 In diesem Bild werden die ihren Familien entrissenen Kinder vor dem in einem antikisierten Ambiente sitzenden mächtigen Käufer Wenzel wie gestaltbare Objekte oder bewegte Figuren auf ein Postament gestellt und nach ihrer Tauglichkeit beurteilt. Nach

178 Siehe dazu Boswell 1988, u. a. S. 177. 179 Stolaˇrová/Vlnas 2010, S. 172 – 173 (zum gesamten Zyklus S. 154 – 177); Neumann 1974, S. 81 – 82, Kat.-Nr. 6 (zum gesamten Zyklus S. 65 – 83), Dvorský 1966, S. 305 – 306. Vgl. Vácha 2014, S. 257 – 258.

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Abb. 34: Karl Škreta, Hl. Wenzel kauft heidnische Kinder ab (eine Szene aus dem Zyklus des Lebens des Heiligen), ehem. Augustinerkirche im Prager Zderaz, um 1641, Öl auf Leinwand, Schloss Mˇelnik, Sammlung Lobkowicz.

der Messung des Tugendpotenzials werden die ›Heidenkinder‹, die laut christlichen Sorgemaßnahmen als die neuen innocenti vor dem Verderben in der ›idolatrischen Finsternis‹ gerettet werden sollen, im Hintergrund durch den mit einer Rute ausgestatteten Lehrer im Unterricht ermahnt, während im Vordergrund eine Mutter, dem evangelischen Judas gleich, ihren Gewinn nach der Transaktion zusammenrechnet. Die sich rechts im Vordergrund von ihrem neuen Betreuer abwendende, nach ihrer Mutter sehnende und trist zum Betrachter schauende Kindesfigur scheint dabei die Ausweglosigkeit der zukünftigen Gemeindemitglieder zu verkörpern, die in solch einer polarisierten Welt ihrem vorprogrammierten Schicksal nicht entkommen können. Eine besondere Zuspitzung erreichte die Idee der christlichen Gemeinschaft als antiidolatrische Familie jedoch in einem Bereich, in dem das Warten auf und die Geburt des Erben eines christlichen Herrschers zu einem Höhepunkt der dynastischen Anbindung an missionarische Kontinuität erhoben wurde. In dem Fundus der zahlreichen anagrammatisch, emblematisch und kosmologisch begründeten Typologien zur Verherrlichung des neuen Thronerben, die insbesondere im habsburgischen Bereich zu einer neuen barocken Bildgattung avancierten, finden sich zahlreiche Beispiele dafür, wie eine dynastische Vorbestimmung die Christianisierung und die Missionierung durch weltliche Herrscher als zeitlose Kontinuitäten begreifen ließ. In der vorliegenden Untersuchung soll allerdings nur ein Beispiel solch einer ikonografischen Kindheitsvision, oder genauer gesagt: einer bildpolitischen Zeugungsformel, ausführlich besprochen werden. In diesem Beispiel gehören sowohl die mittelalterlichen origines als auch die ewige Idolenfrage samt der barocken Bildlehre

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zu den physiologischen Fruchtbarkeitsbedingungen eines christlichen Herrscherpaares auf katholischer Mission. Die Illustration auf einem Thesenblatt der Universität Innsbruck aus dem Jahr 1674, in der das kaiserliche Paar Leopold I. von Habsburg und Claudia Felicitas vor dem MariahilfBild knien, das vor dem fiktiven Doppelpanorama von Innsbruck und Passau – zwei Städten, die den Besitz der Originalfassung des Bildes für sich beanspruchen – durch die Engel gehalten wird (Abb. 35), war mehrfach Gegenstand der kunsthistorischen Analyse. 180 Die meisten Interpretationen konzentrieren sich auf die Kontextualisierung des ursprünglich für die Dresdener Hofkirche nach 1537 gemalten Cranach’schen Bildes in der habsburgischen Sakraltopografie Österreichs. Sie lokalisieren die Bildbotschaft in der metaphorischen Deutung der Fruchtbarkeit der kaiserlichen Gemahlin, die das Passauer / Innsbrucker Marienbildnis – eines der vielen barocken Fruchtbarkeits- und Glücksbringer für die Schwangeren in Form eines Bildes – um die dynastische Erbenzeugung bittet. Im Kontext der hiesigen Überlegungen lässt sich jedoch darüber hinaus darauf hinweisen, dass die zeugende Macht dieses Bildes – des im frühneuzeitlichen Katholizismus wohl am meisten kopierten, das heißt: mit Nachwuchs von Kopien vermehrten Gemäldes – nicht nur aus seinem frömmigkeitsgeschichtlichen Potenzial resultiert. Zum einen ist dieses Bild, das – bevor es zu einem österreichischen Palladium der Austria Superior und Austria Inferior wurde, wie es in den ›eigenhändig‹ mit Lichtstrahlen erzeugten Spiegelreflexionen zu sehen ist – in eine Mission involviert. Es ist durch seine zeitliche Alterität als ein ›Agent‹ tätig, der die Sorge um die Fortpflanzung der christlichen Herrschaft zu seinen vermittelnden Aufgaben hinzufügt. Gemalt wurde das Bild von Lucas Cranach dem Älteren, einem Künstler, der durch seinen Vater – ebenfalls ein Künstler – bewusst zu einem Namensvetter des Apostels Lukas, also dem allerersten Porträtisten Marias, der seinen Pinsel zu einem theophanischen Werkzeug erheben kann, gemacht worden war. 181 So präsentiert sich dieses Marienbildnis als ein theatralischer, ex machina erscheinender Fremdkörper in einer urzeitlichen Aura. In dieser verschmilzt das späte Mittelalter als Zeit seiner tatsächlichen Entstehung mit der biblischen Zeitlichkeit der Evangelien und Apokryphen. Als Bild, das mit seinem Rahmen im Himmel beinahe wie ein Fenster erscheint, vermag es, durch die unterschiedlichen Zeitmodi in die aktuelle, mit der dynastischen Zeugungsaufgabe betraute barocke Realität miteinzufließen. Die grafische Präzision der Kompetenzstrahlen, die das Bild aussendet, scheint diese Übertragungsebene auf eine physikalische Art und Weise zu versinnbildlichen. Die besondere Bestimmung des Cranach’schen Marienbildes kommt zum anderen jedoch mit seiner Profanierung zustande. Das Sakrileg bestand in diesem Fall darin, dass es 1611 180 Siehe u. a. Schumann 2003, S. 358; Telesko 1996, S. 163 – 166; Appuhn-Radtke 1988, S. 63 – 64, 106 – 108. Vgl. Lashofer / Lechner / Grünwald 2005, S. 162 – 163; Henkel 2004b, S. 170 (Anm. 41); Hecht 2003, S. 302. 181 Zur barocken Divinisierung des Lucas Cranach d. Ä. als vormoderner Autor des Mariahilf-Bildes: Henkel 2004b, S. 143 – 171; Henkel 2004a, S. 223 – 252.

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Abb. 35: Bartholomäus Kilian nach Ägidius Schor, Leopold I. von Habsburg und Claudia Felicitas vor dem Mariahilf-Bild, Thesenblatt De corpore animato von Franz Anton Kofler von Rudenstein an der Universität Innsbruck, 1674, Kupferstich, Stift Göttweig.

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von einem protestantischen Fürsten in einer Kunstgalerie – der des Dresdener Hofes – platziert worden war, um dem häretischen Drang nach ästhetischem Genuss zu dienen, anstatt den angemessenen Kult weiterzupflegen. In diesem Sinne wurde dieses Marienbildnis kurzzeitig seiner göttlicher Würde beraubt und in die Position eines Idols versetzt, bevor es schließlich durch katholische Hände gerettet werden konnte. Die Protestanten wurden beschuldigt, selbst Idole herstellen zu wollen, indem sie die anerkannte Semantik eines Kultobjekts durch die sinnliche, ästhetische Entzückung austauschten. Dies ist der Höhepunkt der Schändung: Die Reformierten schienen in ihrem häretischen Wahn einen Bildersturm als Idolatrie auszuüben und die anagogischen Fähigkeiten des Bildes zugunsten einer Täuschung durch Kunstgenuss zu reduzieren. Als ein aus dem Jenseits gesteuertes katholisches AntiIdol beweist sich dagegen das wiedererlangte Mariahilf-Bild auf der barocken Bühne der herrschaftlichen Fortpflanzung: Anstatt den Betrachter mit den umgekehrten Bildnissen von Maria und Kind zu täuschen, zeigen sich die beiden vom Original in konvexen Spiegelflächen erzeugten Doubles als nicht gespiegelte Reproduktionen. Die Legitimität der Erzeugung von eigenen Kopien befähigt das Bild, das durch die Nicht-Katholiken seiner ursprünglichen ikonischen Natur temporär entrissen worden war und dadurch im katholischen Sinne selbst das Schicksal eines Idols – eine sinnstiftende Verletzung, ein Martyrium – erleiden musste, schließlich dazu, eine exekutierende Kraft bei der dynastischen Erbenzeugung zu entfalten. Diese Kontaktfläche zwischen Herrscher und Anti-Idol wird in Kilians Stich zu einer historischen Regel befördert. Die genealogische Schleife, die von dem Bild ausgeht und die Namen aller bisherigen Habsburger zitiert, um dem zu erwartenden Erben auch einen Platz einzuräumen, endet nicht mit dem erwünschten Sohn Leopolds, sondern enthält in ihren Faltungen mehrere heraldische Platzhalter, um die Präsenz der Dynastie zeitlich im Voraus ad infinitum dokumentieren zu können. Diese Generalisierung hängt damit zusammen, dass die Ikonografie des Blattes ausnahmsweise mit dem Thema der damit vorgelegten Universitätsthesen übereinstimmt: De corpore animato. Die Akzentuierung der Frage nach der Beseelung – und nicht nach der Beweglichkeit – des menschlichen Fötus in den Thesen bildet einen produktiven Kontrapunkt zu dem transitorischen Status des immateriell aus den Schichten der Universalgeschichte und aus dem himmlischen Jenseits agierenden, beseelten Marienbildes, das weitere Beseelungen erzeugen kann. Durch diese vermittelnden Fähigkeiten entzieht es sich endgültig dem idolatrischen Vorwurf und multipliziert sich aus eigener Kraft, anstatt in der Singularität eines gemachten Artefakts gebannt zu bleiben. Der Akt der Fortpflanzung des christlichen Herrschers als Bevollmächtigter im Dienste der Mission wird dadurch als positiver Gegenpol zur Unfruchtbarkeit des Idols stilisiert, das keine Familie nachweisen kann. Als Zeichen einer wesentlichen, wenn auch etwas hybriden Verbindung zwischen der kaiserlichen Würde und dem Fortpflanzungsakt fungiert in der Grafik Leopolds Insignie:

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sein Reichsapfel, ein am Äquator mit Kreuz und Perlen versehener römischer Globus. 182 Er wurde hier ungewöhnlicherweise zugleich tatsächlich als eine noch mit einem Blatt versehene Frucht, als ein mit dem Ausgang des Kerngehäuses direkt zum Marienbild gerichteter Apfel dargestellt. Dadurch entzieht sich die gesamte Darstellung einer emblematischen Lektüre und nimmt mithilfe einer alten dynastischen Ikone und deren Energiestrahlungen die Form eines narrativen Aktes an, einer Inszenierung der Erbenzeugung. Die Selbstreproduktion des Bildes und die Zeugung eines Thronfolgers wurden hier deutlich aufeinander bezogen: Die ursprüngliche Aura des apostolischen Bildes, das als Kopie des heiligen Prototyps weitere historische Nachbildungen erlaubt, schafft den Rahmen für die Erhaltung des dynastischen Status quo. Die physikalische Legitimität der Fortpflanzung legitimiert wiederum den aktiven Status des multiplizierbaren, durch seine zahlreichen im Land verstreuten Kopien eine herrschaftliche Sakraltopografie kreierenden Bildes. Zwar konnte die im Moment der Entstehung des Blattes bereits schwangere Claudia Felicitas ihrem Mann keinen wirklichen Erben geben – ihre noch im September 1674 geborene Tochter Anna Maria Sophie starb einige Monate nach der Geburt –, durch die Perle, die vom vermittelnden Marienbild mit einem der Strahlen gesendet worden zu sein scheint und die in die von Claudia gehaltene Muschel fliegt, übernimmt sie jedoch die Rolle der passiven Empfängerin in der Erfüllung eines kohärenten Herrschaftsmodells. Der Imperator dagegen äußert seinen ständigen Machtanspruch mit einem neuen Kinderwunsch und bereitet somit, wie die Inschrift verkündet, dem ganzen Land Freude: »Crescite Felices felicibus incrementis; Claudia bis felix, bis Leopoldus erit. O nimiumfelix Domus Austria! terque, quaterque; Stringit Felices una corona Duos. / Claudiae Partus Austriae Optatissimus.« Diese pomografischen Allusionen im Kontext der kaiserlichen Erbenzeugung scheinen die Konsequenz einer prächtigen Bühnensetzung des mythologischen Stoffes einige Jahre zuvor gewesen zu sein. Aus Anlass der ersten Eheschließung Leopolds I. mit Margherita Theresia von Spanien wurde in Wien bereits im Jahr 1665 eine der größten Theatervorführungen aller Zeiten vorbereitet, die Oper Pomo d’Oro. 183 Der goldene Apfel symbolisiert in diesem Werk, in dem die mythologische Ambiguität mit der dynastischen Klarheit verwoben wurde, den chaotischen Zustand nachdem sich der Paris zugunsten der antiken Liebesgöttin entschieden hatte. Das Libretto dieser Oper, deren Stoff sich mithilfe der neuesten Theatertechnologie zwei volle Tage lang entfaltete – inklusive Kamelen, Elefanten, Gewitter, Erdbeben und anderen kontrollierbaren Bühnenwundern –, wurde von der Bewältigung des Streites der konkurrierenden Göttinnen durch den als kaiserlich gedeuteten Jupiter gekrönt. Jupiter entzieht schließlich den Streitenden den goldenen Apfel und überreicht ihn der neuen legitimen Erbenzeugerin des habsburgischen Throns.

182 Zur Ikonografie des Reichsapfels: Schramm 1958 (darunter über die ›Nachbarschaft‹ des Apfels und der Reichsinsignie). Vgl. Madersbacher 2011, S. 129 – 142. 183 Cesti 1668. Vgl. Merino Peral 2008, S. 141 – 166.

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Drei Jahre nach der Publikation des Innsbrucker Blattes, als Leopold 1677 mit einem ähnlichen Wunsch, diesmal bereits gegenüber seiner dritten Gemahlin Eleonora Magdalena Theresia, in einem anderen Thesenblatt auftauchte (Abb. 36), 184 wurde sein Anspruch bereits durch bildschaffende Qualitäten von Sternbildern und vor allem durch eine direkt im Himmel erscheinende Monstranz mit Hostie als Lichtquelle beglaubigt. Diese Hostie wird durch ihre astronomisch-astrologische Positionierung im Himmel, wie kurz zuvor das MariahilfBild, zu einem Spender der motorischen Kraft für die erwünschte Erbenzeugung, indem sie das Neuburgische Wappenschild in Form eines polygonalen Spiegels bestrahlt. Hinter diesem Spiegel fasst ein antikisiert dargestellter Jüngling mit einer Hand eine halbnackte Frau an die Brüste (Apoll und Urania?), während er in der anderen ein kleines Fernrohr hält. Es ist allerdings nur eines von drei Fernrohren in diesem Bild: Die anderen zwei – professionell gehalten von Wissenschaftlern – werden zu technischen Katalysatoren dieser Eheschließung erklärt. Denn sie projizieren die von oben kommende Strahlung im Sinne der Himmelsabbilder auf die Flächen mit den Monogrammen der kaiserlichen Gattin und lassen somit die dynastische Verlängerung wortwörtlich ›generieren‹. Damit findet sich eine visuelle Propagandaformel der christlichen Herrschaftssukzession, durch die die politisch aktuelle beziehungsweise zu bestätigende Zeit des Neuanfangs mit der alles übersteigenden substanziellen Präsenz des christlichen Gottes jenseits und zugleich inmitten der irdischen Natur als Überwindung dieser Natur verbunden bleibt. 185 Die Bühne der kaiserlichen Fortpflanzung kann dementsprechend im Kontext des Innsbrucker Thesenblattes als Arena der Zusammenarbeit bezeichnet werden: Da der potente Impuls von Leopold ausgeht, um durch das Bild bearbeitet und an seine empfängliche Gemahlin gesendet zu werden, zeichnet sich eine reziproke Konditionierung der beiden Protagonisten ab. Der Kaiser kann und darf an der Macht des Bildes teilhaben, das Bild selbst erhält dafür eine Identität als agens – und dies trotz seiner Anbindung an die göttliche Transzendenz, die seine eigene, autonome Aktivität, die einer trügerischen Selbstbestimmung eines Naturidols ähneln würde, prinzipiell ausschließt. Das Bild entzieht sich der Idolatrie, indem es normkonform vermittelt. Durch diese Vermittlung befreit der Kaiser wiederum den Akt seiner Fortpflanzung von der schwierigen Erbschaft der adamitischen Sünde der Fleischlichkeit, die mit jedem physischen Zeugungsakt den menschlichen Hochmut gegenüber Gottes exklusiver Kreation sichtbar macht und mit jeder Geburt unausweichlich die nachparadiesische Schuld am Fleisch weiterleiet: Es ist das göttlich disziplinierte Bild der unbefleckten Gottesmutter, das zusammen mit seinen durch Strahlung erzeugten Kopien die Zeugung eines Thronerben, eines neuen dynastischen Ebenbilds einleitet, kontrolliert durchführt und nachträglich legitimiert – eine habsburgische Nachahmung der immacolata conceptio mit eigenen Mitteln. Die Verbindung zwischen den beiden scheint also ein Effekt eines ungeschriebenen mimetischen Vertrages zu sein. Die Abschaffung der Idole durch den 184 Appuhn-Radtke 1988, S. 112 – 115. 185 Christin 2002, S. 66 – 68.

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Abb. 36: Bartholomäus Kilian nach Johann Rauchmüller, Die Apotheose der Ehe von Leopold I. von Habsburg und Eleonora Magdalena Theresia, Thesenblatt Assertiones Philosophicae von Nicolaus Antonius Lippay an der Universität Wien, 1677, Kupferstich, Stadtbibliothek Augsburg, Inv.-Nr. Kilian B. 18.

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Fall und Aufstieg

christlichen Monotheismus und die konsequente Etablierung solcher Anti-Idole, welche die herrschaftliche Fortpflanzung kontrollieren und historisch beglaubigen können, fügt sich in den konstruierten Rahmen der zu beherrschenden irdischen Realität, die nur durch ihre Subordination unter die Macht der Transzendenz ihre Bedeutung beziehungsweise ihren untergeordneten Wahrheitsstatus erhält. Durch die neue Politisierung der alten Substanzfrage im Bilderstreit erweist sich die Idolenabschaffung als eine endgültige Zäsur, die das Machtmonopol des Herrschers im konfessionellen Konflikt auszuweisen vermag. Der naturnahe Polytheismus erlaubte Mischungen verschiedener Realitäten, aus denen die Historizität mythologisch gewoben wurde. Dazu gehörten Zusammenkünfte der Materie und der göttlichen Übermaterie, körperliche Eingriffe in die menschliche Welt, heimliche Befruchtungen der menschlichen Frauen durch männliche Götter des Olymps, aus denen dann Heroen entstanden, und Verführungen der menschlichen Jünglinge durch weibliche Gottheiten, die für diese Jünglinge meist tödlich endeten. Das monotheistische System des Christentums in seiner katholischen Ausprägung entwirft dagegen eine puristische Weltordnung, in der die Produktion von Geschichte in einem vertikalen Verhältnis von subordinierender Sinnund Kompetenzübertragung zwischen Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit angesiedelt ist und mit der historische Erfüllung durch Bilder – übergeordnete Botschafter der Transzendenz – überwacht und streng kontrolliert wird.

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Götzen, Gräber und Auftraggeber Politische Spurensuche und künstlerische Apologie

Gegenwart des Stiftungsaktes: Ein Zisterzienserkloster auf dem Marstempel Der in dieser Studie bereits skizzierte historiografische Diskurs garantierte durch seine dogmatisierende Verschleierung die Grundlage für eine systematische Überbrückung der chronotopischen Hindernisse. Handelt es sich bei dieser Taktik der kämpfenden Kirche nur um eine Art politisch motivierte Archäologie oder können diese Strategien der historischen Selbstverortung darüber hinaus vielleicht auch als präzedenzlose Beispiele der Auf lösung von zeitlichen Zäsuren im Sog der proklamierten Kontinuität betrachtet werden? Kommt dem im Barock neu thematisierten Mittelalter eine ähnliche Rolle zu wie der bewusst rezipierten Antike in der Renaissance? Oder geht es in dieser Vereinnahmung eher um eine planmäßige Verschmelzung der zeitlichen Differenzen im allgemeinen Verständnis der überhistorischen Aktualität der Formen, die einen unabdingbaren Rahmen für das historisch als lückenlos zu betrachtende konfessionelle Bewusstsein der Anti-Idolatrie garantieren soll? Entscheidend in dieser Diskursbildung scheint die Rolle des Historiografen und die des Künstlers zu sein: Kann aber zwischen diesen beiden Figuren als Hersteller der Aktualität von Vergangenheit überhaupt unterschieden werden? Innerhalb der konfessionellen Geschichtsschreibung des ausgehenden 16. Jahrhunderts ist der Anfang eines Wandels zu bemerken, der sich, durch ein anwachsendes historisches Bewusstsein provoziert, in einem kulturellen Übergang vom reinen Glauben an historische Texte als Autoritätsmedien zum Vertrauen auf materielle Relikte manifestiert, die als neue Träger des kulturellen Gedächtnisses und Mittel der Propaganda funktionierten. 1 Einen besonderen Ausdruck findet diese Wendung mit der Entgegensetzung der als äußerst spekulativ dargestellten protestantischen Doktrin und der mit einer übertragenden Körperlichkeit des Sakralen ausgezeichneten Präsenz des Katholizismus. Offensichtlich wird dies in den römischen Ausgrabungskampagnen. Diese Entdeckung der Macht der Entdeckungen leistete einen Beitrag zur konfessionellen Rhetorik – von solch grundlegenden Werken wie

1 Zum Phänomen dieses Wandels: Assmann 1999a, S. 204 – 205.

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Götzen, Gräber und Auftraggeber

Cesare Baronios Annales Ecclesiastici bis zu den einzelnen Beschreibungen der lokalen Funde und Kultbildgeschichten in ganz Europa. 2 Die Artefakte gewannen an Autorität durch ihre Narrativierung als vorgefundene Relikte, deren Historizität im Voraus politisiert worden war. Michael Joseph Fiebiger, Prälat der Breslauer Kirche zu St. Matthias und gelehrter Geschichtsschreiber – um ein lokales böhmisch-schlesisches Beispiel zu nennen –, subsumierte diese Polarisierung noch am Anfang des 18. Jahrhunderts kurz, aber eindeutig, in der Erzählung eines als Legende überlieferten Ereignisses. Die »ausrotternde« Lehre der ersten Breslauer protestantischen Theologen aus dem frühen 16. Jahrhundert, Johann Hess und Ambrosius Moiban, kontrastierte er als tote Schriften mit der zu seiner Zeit immer noch als aktuell geltenden mittelalterlichen Geschichte der wunderbaren Errettung aus dem Feuer des romanischen Gnadenbildes der Madonna aus dem schlesischen Wallfahrtsort Wartha. Das Bild soll durch einen Zisterziensermönch gerettet worden sein, wobei der Körper des Mönchs völlig verbrannte. Einzig seine Hand, in der er das Palladium als identitätsstiftenden Bildkörper des katholischen Landes hielt, soll unversehrt geblieben sein. 3 Der propagandistische Erfolg der Wiederentdeckung der mittels Objekten gezeichneten und – wie in der erwähnten Legende – öfters eine radikale Aufopferung zeigenden Geschichte leistete jedoch wiederum einen Beitrag zur Karriere neuer Texte, in denen die Vergangenheit selbst nicht mehr chronikalisch, sondern direkt anhand dieser archäologischen, objektbezogenen Spurensuche zum Zweck der zielgerichteten Polemik katalogisiert, klassifiziert und bebildert wurde. Nicht nur Archive und nicht nur archäologische Entdeckungen also, sondern vielmehr anschließende systematische Narrativierungen der Vergangenheit anhand von Spuren leisteten einen Beitrag zur konfessionellen Prägung der res gestae und somit zur machtbezogenen Subjektbildung. Diese Vergangenheit, die mittels der überlieferten kirchlichen Archivalien nicht mehr zu verifizieren war, konnte lediglich antiquarisch im Rahmen einer fragmentarischen Rekonstruktion der aufgefundenen oder präparierten Reste präsentiert werden, die im Voraus nach einem wissenschaftlich beanspruchten Denkmodell interpretiert wurden. Da für die selbstlegitimierende Politik der Kirche vor allem die möglichst ferne Vorzeit – die Antike und das Mittelalter – von Interesse war, gewann die systematische, sich in statu nascendi befindende christliche Archäologie gerade zu ihrer Geburtsstunde an Bedeutung und ließ sich mit den aktuellen Fragen der Bildpolitik untrennbar verknüpfen. 4 Dementsprechend konzentrierte sich die Kraft solcher Argumentationen auf den einzelnen Ort und seine Lokalisierbarkeit: Wiederauf findung, Entdeckung und Wiederbelebung wurden zu Garanten einer Kontinuität und legitimierenden Verankerung der konfessionellen Identität. Nur durch konkrete Verortung war somit die Universalisierung machbar. 5 Die 2 Siehe u. a. Spera 2009, S. 69 – 86; Campanelli 1985, S. 385 – 407; Sosti 1985, S. 247 – 260. 3 Fibiger 1723, S. 209 – 217. 4 Das Problem der Erneuerung und Selbstdefinierung der Religion anhand der neu klassifizierten Geschichte und der Neubewertung ihrer materiellen Spuren diskutiert Halbwachs 1985, S. 243 – 296 (Kap. »Das Kollektivgedächtnis der religiösen Gruppen«). 5 Vgl. ebd., S. 298.

Gegenwart des Stiftungsaktes

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durch das treue Bündnis mit Gott gekennzeichnete Geschichte wurde also aufgrund der Entdeckung von materiellen Spuren in Schrift- und Bildmedien »theologisiert«: Sie wurde zum »Feld göttlicher Interventionen« gemacht, deren Beweise in »Grundmuster der Ereignisse« umgewandelt wurden. 6 Gekennzeichnet durch die Wiederholbarkeit und ritualisierte Nachahmbarkeit der Ereignisse, stellte sie einen kollektiven Raum der kulturellen Erinnerung dar, in dem die heroischen Anfänge der jeweiligen Gemeinschaften zu einer historisch erklärbaren und gegenwärtig erfahrbaren Wirklichkeit umgestaltet werden konnten. Dem Künstler kam dabei des Öfteren die Rolle zu, nicht nur die christliche Vorgeschichte zusammen mit der Entdeckung ihrer Spuren und ihrer Vermittlung in antiquarischen Texten in ein anderes Medium zu übersetzen, sondern vor allem, ihre dauerhafte Poetisierung und Heroisierung gerade durch die visuelle Kraft der Kunst zu garantieren oder gar in Gang zu setzen und somit die Ansprüche der Auftraggeber an eine normkonforme Modellierung der res gestae zu erfüllen. Diese Tatsache – entscheidend für die neuzeitliche Erinnerungskultur – führte zu einer gewissen Spannung, da der Künstler durch die Bildertheologie von Johannes Molanus, Gabriele Paleotti und anderen nachtridentinischen Systematikern gebunden war. Für diese Theologen bildete das allgemeine didaktische Prinzip der veritas historica mit ihren detaillierten Wahrscheinlichkeitsregeln, den Kriterien von usus und consuetudo und den kategorisch geordneten, kanonischen Bildtypen eine strenge Grundlage. Zugleich war die Kunst aber selbst Träger von eben diesem normierenden Diskurs, nicht nur im Sinne der Konformität, sondern auch im Sinne der Erkundung der ihm eigenen Grenzen. 7 Die Normen der historischen Imagination wurden dementsprechend durch Bilder selbst erstellt und ausgedehnt. Die Vergangenheit des einzelnen sakralisierten Ortes und das historische Schicksal der lokalen christlichen Gemeinschaft wurden auf diese Art und Weise mittels der Textund Bildmedien als eine in der Konsequenz der synchronisierten Geschichtsprozesse entstandene Bildformel präsentiert, deren erstes Ziel die Überzeugung von der zweckbedingten Einheitlichkeit der Geschichte war und die als Mittel der Glorifizierung des Kampfes um die vom Protestantismus bedrohte Einheit des christlichen Glaubens diente. In der Rhetorik der Rekatholisierung bedeutete das im 16. Jahrhundert eindringende Luthertum ein plötzliches Gewitter für die bisher stabile Schiffsflotte der »christlichen Segler«. 8 Die derart aufgebaute Argumentation wurde im 17. und 18. Jahrhundert zu einem Entwicklungsfaktor für religiöse Orden, da sie eine andauernde Verkörperung der sich durch den Verlauf der Geschichte hindurchziehenden, organisierten Struktur des Katholizismus propagierte. Besonders wichtig war sie für die Zisterzienser, die in ganz Ostmitteleuropa infolge des Dreißigjährigen Krieges und der danach folgenden konfessionellen Teilung der einzelnen Länder fast zweihundert

6 Assmann 2005, S. 248, in Bezug auf die altägyptische Geschichtsauffassung, siehe auch ebd., S. 248 – 251, zu dem für die katholische Frühe Neuzeit im generellen Umriss adaptierbaren Begriff der ›Theologisierung‹ der Geschichte. 7 Bianchi 2008, S. 55 – 79; Steinemann 2006, S. 132 – 193; Hecht 1997, v. a. S. 248 – 266. 8 Fibiger 1723, Cap. I, S. 1 – 9.

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Götzen, Gräber und Auftraggeber

Jahre nach dem Tridentinum immer noch ihre antihäretische Mission ausübten und sich gleichzeitig der Konkurrenz mit anderen Orden, wie vor allem den nach ihren möglichen historischen Verankerungsfeldern flächendeckend suchenden Jesuiten, stellen mussten. 9 In dieser Studie wird es sich in diesem Sinne vor allem um Bildstrategien handeln, deren primäre Rolle eine zwanghafte Konversion zum anderen Glauben war oder eine poetisch konstruierte Bestätigung des Sinns der Mission für deren kollektivierte Vollstrecker. Es geht dabei nicht um die Verbindung des Barocks mit der Gegenreformation auf einer restriktiven Definitionsbasis – ein zweifelhaftes Unternehmen, das die Kunstgeschichte bisher öfters beschäftigte –, 10 sondern um die Analyse eines in Bildern konzipierten und umgesetzten diskursiven Entwurfs der sakralpolitischen Realität, um die Kartierung eines vorgegebenen diskursiven Feldes für diesbezügliche Aussagen. Dieser Entwurf fand in der barocken Universalisierung des Mittelalters in damaligen Bildmedien seine Erfüllung und konnte im Sinne eines konfessionellen Antagonismus mit den Grundsätzen des christlichen Glaubens zwecks konfessioneller Subjektbildung gekoppelt werden. * Eine modellhafte Aktualisierung der mittelalterlichen Geschichte im Sinne eines Stiftungsaktes kann man im Zisterzienserkloster Leubus in Schlesien verfolgen, dem 1163 gegründeten, größten Konvent dieses Ordens und, nach dem spanischen El Escorial, zweitgrößten barocken Sakralbau Europas (Abb. 37 – 39). Im Vordergrund der Untersuchung steht dabei eine neue, auf bisher kaum beachtetem Quellenmaterial aufgebaute Interpretation des gesamten Bildprogramms der von 1649 bis um 1710/15 umgestalteten und barockisierten gotischen Klosterkirche Mariä Himmelfahrt. Damit geht auch eine Neubewertung von einigen Bildern Michael Lucas Leopold Willmanns (1630 – 1706) für diese Kirche einher. Dessen Tätigkeit in Schlesien und Böhmen war eine Inspirationsquelle für zeitgenössische Künstler und nachfolgende Generationen, und auch heutzutage wird er in der Kunstgeschichte »schlesischer Raffael« beziehungsweise »schlesischer Apelles« genannt. 11 Als 2006 das dreihundertjährige Todesjubiläum dieses Malers gefeiert wurde, würdigte ihn die kunstgeschichtliche Forschung wieder vor allem durch stilistische Betrachtungen und Analysen seiner künstlerischen Praxis als ein frommes Künstlergenie. 12 Das erneute Studium von Quellen und eine übergreifende, supralokal angelegte und auf horizontalen Vergleichen mit anderen zeitgenössischen Künstlerkarrieren basierte Bildbetrachtung führt jedoch zu einer etwas anderen Lesart seiner 9 Zu dem konfessionellen Antiquarianismus im Ostmitteleuropa siehe u. a. Benz 2003, S. 195 – 214; vgl. Sawilla 2009. Zur Topik des frühmodernen Antiquarianismus siehe auch Zwink 2006, S. 83 – 194. 10 Siehe u. a. Weisbach 1921. Im Sinne einer kritischen Bewertung: Vácha 2009, S. 107 – 139; Koˇrán 2003, S. 479 – 483. Darüber hinaus zum Terminus der Gegenreformation: Po-chia Hsia 1998, und historisch zu ihren strukturellen Grundlagen: Leeb / Pils / Winkelbauer 2007; Forster 2001, S. 18 – 60. 11 Nach dem Eintrag Willmanns im Leubuser Totenbuch 1706: »[. . . ] temporum nostrorum Apelles« (zit. nach Klossowski 1902, S. 39 – 40). 12 Siehe einzelne Beiträge in: Kozieł 2008.

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Abb. 37: Leubus, ehem. Zisterzienserkloster, Gesamtansicht.

Abb. 38: Leubus, ehem. Zisterzienserkirche Mariä Himmelfahrt, Grundriss, nach Hans Lutsch.

Werke. Diese lässt ihn an der systematischen Gestaltung des katholischen Macht- und Gründungsdiskurses der Barockzeit teilnehmen und ermöglicht es zugleich, seine kunsthistorisch kultivierte Lobpreisung kritisch zu hinterfragen. Bereits mit Blick auf das Westportal der Leubuser Klosterkirche, das am Ende der Barockisierung der gesamten Anlage um 1710/1715 gebaut wurde, fällt sein polemischer, gegen den ›Unglauben‹ gerichteter Charakter auf (Abb. 40). Die im Giebel des Portals angebrachten Figuren Maria und Joseph mit dem jungen Christus in der Mitte können zunächst als gewöhnliche Variante der trinitas terrestris, und zwar in einer für die schlesische Zisterzienserikonografie typischen Version, gedeutet werden, die unter anderem von Michael Willmann in seinen Bildern und Zeichnungen verbreitet wurde. 13 Der junge Christus wird hier allerdings als der siegreiche Salvator dargestellt, der mit dem Kreuzstab einen unter seinen Füßen sich schlangenartig windenden Dämon auf den Kopf schlägt. Solch eine Interpretation wird auch durch die Ähnlichkeit mit einer 1677 gefertigten Grafik des Bartholomäus II. Kilian nach der

13 Dazu Kozieł 2006, S. 117 – 166. Vgl. im böhmischen Kontext u. a. Preiss 2008, S. 91 – 104, v. a. S. 96 – 99.

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Abb. 39: Leubus, ehem. Zisterzienserkirche Mariä Himmelfahrt, Innenansicht mit Blick zum Hochaltar, Archivaufnahme vor 1945.

Zeichnung von Michael Willmann bestätigt (Abb. 41). 14 Nicht nur das Kreuz als Waffe gegen das teuf lische Ungeheuer wird hier verwendet – ein deutliches Nachleben der allerersten Bildpräsenz Konstantins des Großen, in deren Rahmen er mit dem Kreuz einen Drachen zerschlägt. 15 Die gleichzeitige Darstellung von weiteren Leidenswerkzeugen Christi auf dem Boden zeigt darüber hinaus, dass vor allem das eigene Opfer als Weg zum Triumph betrachtet wird. Auf den ersten Blick wirken sie wie ein Stillleben, auf den zweiten Blick jedoch wird dem Betrachter klar, dass sie eine typische Komposition aus Waffen bilden: die Panoplien. Als solche signalisieren sie einen doppelten Sieg des jungen Erlösers: gegen den Dämon und gegen den Tod selbst, denn dadurch werden gerade die Instrumente des Todes Christi zu den Waffen, die vom Feind auf dem Kampffeld gelassen worden sind und nachträglich zu einem QuasiTropaion umgestaltet werden. 16 Auf diesem thront der zukünftige Triumphator und verbreitet seinen Segen. Im Leubuser Portal, vergleichsweise eher summarisch komponiert, bewahrt diese symbolische Szene trotzdem ihren triumphalistischen und präfigurativen Charakter. 14 Zu der Zeichnung siehe: Kozieł 2006, S. 137 – 138; Hołownia 2002, S. 182 – 191 (hier: 187 – 188); Kozieł 2000c, S. 129, 302 – 303. Vgl. Kalinowski 1970, S. 57 (hier noch eine falsche Identifizierung der Figur Josephs im Portal als Johannes der Täufer). Vgl. Kozieł 2010, S. 522 – 527. 15 Eusebius, Vita Constantini, III, 3. 16 Vgl. Dinkler 1964a, S. 71 – 78.

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Abb. 40: Leubus, ehem. Zisterzienserkloster, Portal der Klosterkirche Mariä Himmelfahrt, Ausschnitt, 1710/1715.

Abb. 41: Bartholomaäus II. Kilian nach Michael Willmann, Trinitas terrestris, Kupferstich, 1677, Prag, Nationalgalerie, Inv.-Nr. R 54708.

Weiteres Gewicht erhält diese Interpretation des Leubuser Figurenensembles als siegreicher Kampf mit dem durch den Dämon verkörperten ›Unglauben‹ durch eine Figur des auferstandenen Christus im Fassadengiebel, die als höchste und das gesamte Bauwerk krönende Skulptur dieser polemischen Komposition zusätzlich einen eindeutig soteriologischen Akzent verleiht. 17 Damit wird die allegorische Präfiguration der Heilsgeschichte mit deren Erfüllung verbunden. Mit diesem beinahe performativ inszenierten teleologischen Szenario scheint bereits an der Fassade der Kirche ein Faden für das Bildprogramm des Inneren angedeutet zu werden: der endgültige Sieg des Kreuzes über den Dämon. Das Kircheninnere

17 Die Skulpturen der Fassade sind heute stark zerstört. Die gesamte Klosteranlage samt der Ausstattung der Kirche wurde 1943 durch die Evakuierung der Kunstwerke und 1945 durch die Plünderungen durch die Rote Armee weitgehend beschädigt. Eine Inventarisierung aller aus Leubus bekannten und teilweise erhaltenen Kunstwerke bietet: Kozieł 2010 (hier zu der Fassade: S. 522 – 527, dabei eine Interpretation der erwähnten Figur des auferstandenen Christus als »Salvator oder Immaculata«).

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wurde bis 1945 durch mehrere großformatige Bilder von Michael Willmann dominiert. Es fällt bei der Betrachtung ihrer Ikonografie sofort ins Auge, dass neben den üblichen Marienund Heiligendarstellungen sowie den Marterszenen ein weiterer inhaltlicher Schwerpunkt gerade auf den Visualisierungen des exemplarischen historischen Widerstandes gegen den Kult der antiken Idole lag. Dieses Thema wurde zuerst von Willmann auf zwei Gemälden mit Szenen aus dem Leben der hl. Katharina und der hl. Barbara dargestellt (Taf. 15 – 16), die nach ihrer Fertigung 1682 auf parallelen Seitenaltären im Chorumgang der Klosterkirche ihre Aufstellung fanden. 18 In diesen zwei Bildern, welche die letzten Lebensstunden der beiden Heiligen darstellen, sind deutlich die ›heidnischen‹ Götterfiguren zu sehen, deren philosophische Negation bei Katharina oder physische Zerstörung bei Barbara das Martyrium zur Folge hatte. Diese Figuren erscheinen in der Komposition beider Gemälde jeweils an einem hervorgehobenen Ort, was eine deutliche Modifizierung des in der barocken Ikonografie vorkommenden Bildthemas der beiden gemarterten Jungfrauen darstellt. Ziel dieser polarisierten Kombination war es, wie im Fall des von Tommaso Laureti gemalten Idols, den Sinn des Konflikts zwischen Idolatrie und Religion zu visualisieren. 19 Die Letztere findet ihre Zuspitzung in der konkretisierten Form der Eucharistie, die durch Barbara als Ritual und zugleich als ontologisches Modell bis zum letzten Ende verteidigt wird. Der Körper der Märtyrerin wird von dem Licht der oben erscheinenden Hostie empfangen und erweist sich in seiner Ergebenheit selbst als eine mit dem Kleid der Unschuld gekennzeichnete Lichtquelle, als eine der leuchtenden Hostie ähnliche, ephemere und eigentlich im Jenseits verankerte figura des Martyriums. Somit bildet sie in dieser Komposition zusammen mit der eucharistischen Akzidenz einen deutlichen Gegensatz zu den aus Gold gemachten und nur als reflektierende Flächen dienenden ›heidnischen‹ Utensilien unter dem standfesten und unberührten Idol der Jägerin Diana. Die Tatsache, dass diese Szene der endgültigen Auseinandersetzung zweier Religionskonzepte als ein Pendant zu der disputatio von Katharina mit dem Kaiser Maximinus über den ›Götzendienst‹ dient, kann als eine intendierte Würdigung des polemischen Geistes des Katholizismus gelesen werden. Die Gelehrtheit der Heiligen stammt in diesem Sinne nicht nur genealogisch von der ›heidnischen‹ Philosophie ab, sondern verdankt ihre Effektivität vor allem der anagogischen Symbolisierung. Diese findet gerade in der gen Himmel gerichteten hinweisenden Geste der Heiligen ihren Ausdruck. In Konsequenz lassen sich nicht nur die ›heidnischen‹ Philosophen überzeugen und bekehren (wofür sie mit ihrem Leben bezahlen), sondern der ›heidnische‹ 18 Heute in den Nationalmuseen in Breslau (Katharina) und in Warschau (Barbara) zu sehen. Siehe Kozieł 2013, S. 438 – 439, 471 – 472; Kozieł 2010, S. 252 – 255, 308 – 311; Adamski / Łukaszewicz / Wagner 1994, S. 110 – 113. Für aufschlussreiche Bemerkungen und Korrekturen zu Willmanns Tätigkeit in Leubus bin ich Andrzej Kozieł dankbar. 19 Zum Thema des christomimetischen Konflikts des christlichen Heiligen mit dem ›heidnischen‹ Idol in der frühmittelalterlichen Bildpropaganda siehe v. a. die grundsätzliche Bearbeitung: Camille 1989, S. 115 – 128, wie auch Fricke 2007, u. a. S. 64 – 69; zur Erweiterung dieses Themenspektrums in der Frühen Neuzeit u. a. Leoni 2016, S. 30 – 56.

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Herrscher wird selbst – wie es weiter in der Legende der Heiligen zu lesen ist – von der Kraft der Argumentation Katharinas eingenommen, bevor er sie schließlich doch zur Märtyrerin werden lässt. 20 Die Aussage dieser beiden Leubuser Bilder der Bekämpferinnen der Idole wurde von Willmann nach kurzer Zeit programmatisch erweitert. Auf den Kuppeln der zwei neu gebauten östlichen Seitenkapellen im Chorumgang der Klosterkirche malte der Künstler – wahrscheinlich zusammen mit dem aus Schweden stammenden Maler Carol Dankwart – in den Jahren 1691 – 1692 Fresken mit Szenen aus dem Leben des hl. Benedikt und des hl. Bernhard, der zwei Hauptheiligen des Ordens. 21 In einem der Bilder wurde Benedikt als Stifter des Klosters Monte Cassino dargestellt (Taf. 17). 22 Die Tatsache, dass er vor dem Bau dieses Klosters ein Idol Apolls an diesem Ort zerstören musste, war spätestens seit der Legenda aurea zu einem konstanten hagiografischen Topos geworden. 23 In dem Leubuser Fresko fand dieser Eingang durch die unter den Füßen Benedikts zertrümmerte Gestalt des besiegten Idols. Die Ersetzung des antiken Tempels durch das christliche Sanktuarium wurde in diesem Bild folgerichtig als ein historisches Schwellenereignis visualisiert. Nachdem der Akt der glorreichen Vernichtung des Apollos als ›heidnischer‹ Dämon und somit die sakrale Umwandlung des Ortes vollzogen wurde – wobei der Bau des Benediktinerklosters als ein positives Sinnbild dieser inversio fungiert –, ist auf der rechts von Benedikt stehenden Säule das erhöhte Kreuz Christi platziert worden. Die gleiche Säule, die für gewöhnlich als Ort der superbia des Idols interpretiert wurde, wird also in ein Siegeszeichen über den in seiner Körperlichkeit gefangenen Feind umgewandelt, indem das ultimative Marterzeichen des Christentums darauf seinen Platz findet – eine exorzistische Praxis, die auf den sixtinischen Obelisken in Rom ihre bekannteste historische Anwendung fand. 24 Ein Pendant zu dieser Darstellung, das die historischen Entwicklungsstufen des Ordens zwischen der ursprünglichen Macht Benedikts, der Matrix des ersten Klosters und der lokalen Filiationen hervorhebt, bildet die Szene mit dem hl. Bernhard auf der Baustelle des Zisterzienserklosters Clairvaux im Kuppelfresko der zweiten Kapelle. 25 Die Szene der Vernichtung eines Idols wurde somit als Gründungsmythos in den exponierten Kontext der narrativierten Ordensgeschichte eingegliedert und trägt als Zeugnis zur propagandistischen Glorifizierung der beiden Hauptheiligen des Ordens bei. Typologisch verwandte Paare werden ebenfalls durch andere Szenen in den Kuppelfresken der beiden Kapellen gebildet, wie beispielsweise

20 Voragine, Legenda aurea, S. 991 – 1001 (S. 991: »Katharina kommt von katha, das heißt gänzlich, und ruina, Sturz, und ist also gesprochen ein gänzlicher Sturz, denn alles Gebäude des Teufels brach in ihr gänzlich zusammen.«) Zu einer Refomulierung dieser Erzählung im Barock siehe ferner Kap. 7. 21 Siehe Kozieł 2010, S. 186 – 195; Hołownia 2002, S. 237 – 248, hier: 245; Lossow 1994, S. 237 – 248. 22 Siehe Kalinowski 1970, S. 67 – 69; Kloss 1934, S. 113 – 114. 23 Voragine, Legenda aurea, S. 260. 24 Richter 2009, S. 75 – 135; Cole 2009, S. 57 – 76; Silver 2009, S. 289 – 315; Cipriani 1993. Vgl. Kristensen 2014, S. 268 – 282. 25 Siehe zu den Fresken in beiden Kapellen: Kozieł 2010, S. 186 – 195.

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die Adoration des Kruzifixes durch Benedikt und die Erscheinung Christi vor Bernhard. 26 Damit zeichnet sich eine klare Polarisierung zwischen Idolatrie und Mystik ab, denn allein der visionäre Charakter des christlichen Gotteserlebnisses schließt die Relevanz der Idole aus und zwingt die Helden der christlichen Geschichte zur Ergreifung bilderstürmerischer Maßnahmen. 27 Interessant ist dabei, dass solch eine hagiografische Konstruktion im katholischen Europa vor allem dort zur Idee einer realen Umkehrung des Ortes beigetragen hat, wo die antiken Quellen und die immer noch erhaltenen ›heidnischen‹ Bauwerke eine natürliche Ressource für solch eine Verwandlung darstellten: in den Ländern südlich der Alpen. Es ist in diesem Licht auffallend, dass solche komplexen Visualisierungen des Idolensturzes im Rahmen der konfessionellen Medialisierung der kirchlichen Geschichte im ostmitteleuropäischen Raum gar keine programmatische Verwendung fanden. Eine markante Ausnahme bildet daher gerade die Leubuser Geschichte. Es ist entscheidend, dass die Darstellung Benedikts in Willmanns Fresko sich nicht nur auf die Ordensikonografie sowie die Hagiografie beruft, sondern auch eine Anknüpfung an die lokale Vorgeschichte des Leubuser Konvents bildet. Dieses soll nämlich laut den mittelalterlichen Quellen und der in der Barockzeit aufgebauten Legende selbst im Sinne einer damnatio memoriae am Ort eines ›heidnischen‹ Tempels gestiftet worden sein. Benedikt erscheint daher durch seinen Sieg über das Idol und die darauffolgende Errichtung des Konvents auf dem Monte Cassino institutionell als Gründer der Ordensgemeinschaft und ihrer Regel. Zudem wird er als zu einem symbolischen geistigen Stifter des Leubuser Klosters, dessen Anfänge sich wiederum in den Topos der Christianisierung in den ersten Jahrhunderten nach Christus einschreiben lassen. Durch diesen Bezug wird also die Geschichte nicht in ihrem linearen Verlauf dargestellt oder zusammengefasst, sondern auf Figuren einer überhistorischen ›Simultanität‹ aufgebaut. Zwischen den frühchristlichen Anfängen und deren systematischen Wiederholungen in Stiftungsakten besteht kein Unterschied; die Mission lässt sich nicht zeitlich in vergehenden Jahrhunderten messen, sondern ist räumlich in miteinander verknüpften Filiationen lesbar. Durch die Strenge der Klosterfiliationen – eine durchaus familiäre Nomenklatur – wird jedenfalls die Leubuser Örtlichkeit der katholischen Ordenskirche in die Urgeschichte der Kirche zurückprojiziert und gewinnt somit an symbolischer Beweiskraft als exemplarischer Schauplatz des allerersten Kampfes mit den ›Heiden‹ als Idolenverehrern. Das notwendige Fundament für die angeblich antike Vorgeschichte des Klosters und für die Kraft ihrer barocken Nacherzählung legte wenig später Augustin Sartorius. Er verfasste im Jahr 1700 aus Anlass des sechshundertjährigen Jubiläums der Gründung von Cîteaux sein prächtiges Lebenswerk, Cistercium bis-Tertium, eine programmatisch angelegte und

26 Ebd. 27 Vgl. Mondzain 2011, S. 197 – 212; Mondzain 2005b, S. 13 – 22.

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mit verschiedenen detaillierten Historien einzelner Klöster ausgestattete monumentale Bearbeitung der gesamten Ordensgeschichte, die mit mehreren, von einer expressiven Stilistik geprägten Gedichten versehen wurde. 28 Dieses Buch wird in der Kunstgeschichte meistens lediglich als Quelle zur Erforschung einzelner Kunstwerke beziehungsweise zur Belichtung der tatsächlichen Entstehungsgeschichten der zisterziensischen Klosteranlagen in Betracht gezogen. Darüber hinaus bietet es aber eine äußerst poetische Vision der institutionalisierten Kirchengeschichte. Diese wird zwar im großen Format unter der Ägide des durch Bernhard gegründeten Ordens entwickelt, lässt sich aber gleichzeitig – und hier liegt der Hauptwert dieses Werkes – lokal verorten und wird dadurch in ihrer Umsetzung sichtbar gemacht. Sartorius zitiert dabei nicht nur Exemplifizierungen der allgemeinen Mission in den Lebensläufen von konkreten Ordensmännern in einzelnen, europaweit verstreuten Klöstern, sondern beschreibt auch gegenseitige Vernetzungen und systematische Genealogien von verschiedenen Ordensinstitutionen. Diese sollen angesichts der faktischen Konkurrenz der alten und neuen Orden um 1700, wie vor allem der Zisterzienser und der Jesuiten, für den gesamten kämpfenden Katholizismus mindestens auf der Ebene der historiografischen Rhetorik helfen, im Zeitalter der konfessionellen Krisen einen gemeinsamen Nenner zu finden. Die Zisterzienser werden dabei hinsichtlich ihrer politischen Strategien und der historischen Wertstellung von den anderen Kollektivkörpern, wie Franziskanern oder Jesuiten, unterschieden, aber im Hinblick auf die gemeinsamen Ziele mit den anderen Orden doch auf die gleiche Handlungsebene der gegenreformatorischen Mission gebracht. Das Ziel dieses Werkes ist es dementsprechend, eine Vision der Vergangenheit zu erzeugen, deren vorausgesetzte Kohärenz durch fragmentarisch erhaltene Quellen und Befunde bewiesen werden kann. Dreiundsechzig Jahre nach der Edition von Cistercium bis-Tertium ist ein anderes Werk von Sartorius erschienen, ein mit detailliertem Index versehenes Kompendium der Annales Ecclesiastici von Cesare Baronio. 29 Diese Systematisierung der Systematisierung, herausgegeben durch seinen Nachfolger Eustachius Janka in Prag »pro publica utilitate eorum præcipue, Qui grandia Baronii Volumina non habent, aut non habent, unde habeant«, wie man am Ende der Titelseite dieses Werkes lesen kann, markiert deutlich ein neues Zeitalter der Historiografie. In diesem fungiert die Geschichte von den Anfängen der Kirche erst durch Auswahl, Übersetzung und Übermittlung als ein greifbarer Fundus; die ersten archäologischen Entdeckungen werden erst durch ihre Narrativierung und nachträgliche Bearbeitung in historiografischen Texten tatsächlich relevant. Im Endeffekt stellen sie poetische Projektionen der Geschichtsschreibung dar, die ihren Evidenzcharakter aus der anerkannten Autorität des ordnenden Autors und seiner Glossen schöpfen und nicht aus dem direkten kritischen Blick auf das Untersuchungsobjekt. In einem zusammenfassenden Kompendium

28 Sartorius 1700. Die deutschsprachige Ausgabe: Sartorius 1708a. 29 Sartorius / Janka 1736.

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zählt die eine sekundäre Narration konstruierende vielseitige Konkordanz und nicht die erzählerische Linearität. Die typologischen Parallelen, die durch solch ein historiografisches Verfahren der Zitation beinahe automatisch erzeugt werden, sind folglich auf eine verhüllende Poetik angewiesen, damit die unvermeidlichen Leerstellen in der Erzählung im Voraus beseitigt werden können. Die Leubuser Geschichte, so wie sie von Sartorius in seinem Cistercium bis-Tertium sehr ausführlich beschrieben wurde, kann in diesem Kontext als ein Vorbild dieser narrativen Verdichtung und Vernetzung der christlichen res gestae bezeichnet werden. In ihrer Darstellung kommen alle nötigen Elemente einer historischen Verwandlung des Ortes, lokal und geografisch übergreifend, zum Vorschein. Es kann sogar vermutet werden, dass diese exakt zum Ende der Barockisierung der gesamten Leubuser Klosteranlage im Jahr 1700 in zwei Editionen erschienene Publikation einen direkten Kommentar, wenn nicht sogar eine Inspiration für die endgültige Gestaltung des Bilderprogramms der Kirche darstellte. In dem die Leubuser Abtei betreffenden Kapitel, bei der Beschreibung der ältesten Geschichte des Klosters, erwähnt Sartorius eine Legende, die den Ursprung des Ortes zeitlich nicht wie üblich im Mittelalter, sondern noch in der Antike lokalisiert. Genau an der Stelle, die später durch die Zisterzienser für ihr Filialkloster übernommen wurde, soll Julius Cäsar mit seiner Armee ein Lager aufgeschlagen haben, nachdem er von seinen Soldaten um eine MarschPause gebeten worden war: Commendanda porro Lubae celebritas ex eo, quod Julius Caesar olim Romanas Aquilas, aciesque armatas inter victorias per vicinos Populos circumferens, hoc loco subsistendo castra fixerit, fano Martis in armorum triumphorumque faustum auspicium ibidem erecto. Et quidem nomen ipsum a Julio desumptum esse, doceor a Lubensibus qui in ejus rei testimonium pervetustam Poesium ad me perscripserunt, quam hic adjucio: ›Est locus iste Lubens Julio de Caesare dictum Sclavonizando loquens consuevit dicere vulgus Lubens pro Julius, qui primus castra metatus Est hic, et populus ejus fanum hoc veneratus Annos per mille‹. 30 Mit dieser Erwähnung greift Sartorius auf eine literarische Überlieferung aus dem Mittelalter zurück, die zum ersten Mal in einer anonymen Handschrift, der sogenannten Versus Lubenses, vom Ende des 14. Jahrhunderts (nach 1371/1384) aufgetaucht war und später in Form einer aus dem 15. Jahrhundert stammenden Abschrift im 19. Jahrhundert wiederentdeckt wurde. Seit der Zeit ihrer Wiederauf findung wird diese Geschichte zu einem von den Historikern zitierten Topos der Gründungsgeschichte der Abtei. 31 Die antike Tradition

30 Sartorius 1700, S. 1112; vgl. Sartorius 1708a, S. 762 – 763. 31 Epperlein 1967, S. 587 – 604; Grünhagen 1863, S. 193 – 221, hier: 194 – 195; Wattenbach 1861, S. 14 – 16. Vgl. u. a. Stenzel 1835, S. 99. Siehe die Zusammenfassung dieser Mythologie in: Ja˙zd˙zewski 1992, S. 104 – 115.

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der Klosterstiftung erweckte in der Frühen Neuzeit ebenfalls das Interesse der schlesischen Chronisten, wie etwa des Protestanten Joachim Schickfuss 32, Ephraim Ignatius Naso 33 oder später Georg Thebesius. 34 Laut Sartorius’ Erzählung soll an diesem Ort ein festgebautes römisches Lager entstanden sein, dessen Spuren angeblich noch Jahrhunderte danach zu sehen waren. Dieses Bauwerk, das links von der heutigen Klosterkirche angelegt worden sein soll, an eben der Stelle des späteren barocken Flügels des in die Klosterfassade integrierten Abtspalastes, wurde niedergerissen. Wahrscheinlich geschah dies durch den Abt Ludwig Bauch, als er den Bau dieses monumentalen Gebäudes 1699, also unmittelbar vor dem Jubiläum des gesamten Ordens, zu Ende brachte und somit den Umbau der ganzen Anlage in eine barocke Klosterresidenz abschloss. 35 In diesem Kontext ist jedoch nicht das Lager selbst, sondern vor allem sein bestimmter Teil von Interesse. Wie Sartorius am Anfang seines Textes verkündet, soll an dieser Stelle ebenfalls ein dem römischen Kriegsgott Mars geweihter Tempel gebaut worden sein, in dem wahrscheinlich eine Figur dieser Gottheit verehrt wurde. Der Ort des Idolenkultes wurde laut dem Historiografen in der »neuen Zeit«, das heißt bereits im Mittelalter, durch die Errichtung einer Kapelle zum Heiligen Kreuz in eine christliche Kultstätte umgewandelt, was in situ durch eine entsprechende Inschrift dokumentiert worden sein soll: Fani, quod Julius Marti dedicaverat, vestigia hodiedum Lubae extant, mutata idoli religione in cultum Sanctae Crucis, cujus vivifici ligni honori substituta aedes nunc sacra est. Legitur haec veritas ac metamorphosis inscripta aediculae fronti: ›Locus a quo conditus iste, Daemonis ara prius, tua transit in atria Christe‹. 36 Eine genaue Lokalisierung dieses Ortes innerhalb des Klosterareals ist heute nicht mehr möglich, die Existenz einer kleinen Kapelle beweisen allerdings mindestens zwei Quellen. Eine von ihnen ist eine Erwähnung in der Klosterchronik Proarchivum Lubense von ca. 1670, zu deren Fertigung der Leubuser Archivist Martin Dittmann vom Abt Arnold Freiberger (gest. 1672) veranlasst wurde. In dem Text ist von einer Kapelle die Rede, die durch den gleichen Abt aus einem umgebauten Stall gestaltet worden sei, den man damals noch als Überbleibsel eines ›heidnischen‹ Tempels interpretierte: »[. . . ] undt Heyligen Creucz, welches Kirchl Er [Freiberger – Anm. M. K.] am einen verwüsteten Pferststall, so für ein

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Schickfuss 1622, S. 42. Naso 1667, S. 9. Thebesius 1733, Bd. 2, S. 31. Zum Thema der barocken Umgestaltungen des Klosters siehe die Zusammenfassung in: Kalinowski 1970, S. 18 – 28. Die Suche nach den Resten dieser Burganlage, die u. a. auch im 20. Jahrhundert im Rahmen der frühen Wehrbautenforschung geführt wurde, ist gescheitert; siehe z. B.: Juhnke 1938, S. 205 – 209, insbes. S. 207, 209; Patzak 1932, S. 188, 192 – 194. 36 Sartorius 1700, S. 1112.

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Abb. 42: Johann Christoph Lischka, Leubuser Vesperbild mit der Ansicht vom Zisterzienserkloster Leubus, in: Augustin Sartorius, Verteutschtes Cistercium, 1708.

›heidnisches‹ Kirchl gehalten worden, von Newem hat formiren, erbawen undt mit Bleche verdecken lassen«. 37 Die zweite Quelle, die den antiken Kult in Leubus eventuell topografisch zu bestimmen vermag, ist die bekannte, nach der Zeichnung von Johann Christoph Lischka gefertigte Grafik, die in der späteren deutschsprachigen Ausgabe des zitierten Werkes von Sartorius aus dem Jahr 1708 reproduziert wurde (Abb. 42). Sie stellt das Leubuser gotische Vesperbild von ca. 1360 – 1370 als hochverehrtes Kultbild der Barockzeit dar, zusammen mit der zeitgenössischen Ansicht der Kirche und des gesamten Klosterareals in einer topografischen Seitenperspektive. 38 Das ›heidnische‹ Relikt scheint auf der Grafik als ein kleines Bauwerk gegenüber der Klosterkirche abgebildet worden zu sein, neben der zweiten freistehenden Klosterkirche St. Jakob. Interessanterweise, obwohl es in der für das ganze Kloster stehenden

37 Wattenbach 1856, S. 289. Wels schrieb noch im Jahr 1924: »Als Überreste des alten heidnischen Schlosses, sowie eines Marstempels werden einige alte Gemäuer gegen die Kirche hin und ein alter Turm in der Gartenmauer gedeutet«; Wels 1924, S. 23 – 24. Vgl. Walter 1989, S. 37 – 58, insbes. 43 – 58; Kalinowski 1970, S. 19. 38 Sartorius 1708a, S. 766.

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Grafik als dessen Markenzeichen abgebildet wurde, 39 widmete Sartorius dem Vesperbild im Beschreibungstext selbst lediglich einige Zeilen und konzentrierte sich in der Rekonstruktion der sakralen Topografie von Leubus eher auf die Geschichte des vermeintlich ›heidnischen‹ Tempels. Komponiert als eine typische Darstellung der überragenden Superiorität eines Kultbildes über seinen Ort und damit übereinstimmend mit vielen anderen Bildern in diesem Buch, scheint die genannte bildliche Quelle jedoch eine ziemlich spezifische Situation der Leubuser Sakraltopografie zu zeigen. Die auratische Präsenz des gemarterten Christus und seiner mitleidenden Mutter in der Pietà sanktioniert eine Kontrastierung des alten Tempels und des neuen Klosters, die quasi auf einer Bühne des Klosterareals erscheinen und gegeneinander ›auftreten‹. Die Kirche wurde interessanterweise nicht wie üblich in der architektonischen Praxis der damnatio memoriae direkt auf den Ruinen des Tempels gebaut. Diese scheinen in der neuen Zeit immer noch als Monument oder eher als Mahnmal des ›Unglaubens‹ gedient zu haben. Daher vollzieht sich in Leubus eigentlich keine übliche Auslöschung oder Ersetzung. Eher wird durch die Erhaltung der ›heidnischen‹ Überreste, also durch die musealisierende Veranschaulichung der Geschichte des Fremden, auf die immer noch – trotz des politischen Triumphes – andauernde Mission hingewiesen und zugleich auf das Bedürfnis, die Polarisierung als Werkzeug der Propaganda weiter zu etablieren. Im Rahmen dieser argumentativen Erhaltungsstrategie wurde möglicherweise sogar eine didaktische Strecke komponiert, an der der Triumph über ›heidnische‹ Idole den Besuchern in einem direkten Bezug auf die lokale Topografie veranschaulicht wurde, wie man noch heute sehen kann. In der Mitte des Klosterareals, genau auf der Strecke zwischen dem alten Tempel und dem neuen Kirchenportal, befindet sich eine 1670 vom Abt Freiberger gestiftete Mariensäule (Abb. 43). Die an der Spitze der korinthischen Säule stehende und in Richtung Kloster ihre Hände zum Gebet richtende Immaculata, die ursprünglich bemalt und vergoldet war, wird in der durch massive ionische Voluten markierten Sockelzone durch zwei Paare der Assistenzfiguren begleitet: Mose mit Aaron und Elisabeth mit Anna. Die Verknüpfung der immaculata conceptio, eines typischen Motivs der gegenreformatorischen Propaganda, mit der Bekämpfung des unter dem Tarnwort ›Heidentum‹ gemeinten Protestantismus kann in dem Kontext nicht verwundern. Allerdings wird diese Ikonografie interessanterweise um genealogische Züge der Heilsgeschichte erweitert. Die Mission von zwei alttestamentlichen Figuren des jüdischen Exodus: Mose und Aaron, die beide doch in ihrer Verzweif lung scheitern – Aaron beim Goldenen Kalb und Mose beim Haderwasser – und schließlich zu tragischen Helden werden, findet in den Figuren der beiden heiligen Mütter: der von Maria und der von Johannes dem Täufer, ihre Entsprechung. Mit ihnen wird der baldige Anfang der Erlösungsmission Christi wie in einem Stammbaum angedeutet. Zwischen dem Ort des ›heidnischen‹ Idols und dem im Portal später dargestellten jungen Triumphator und seinen 39 Das Original wird heutzutage im Nationalmuseum in Warschau aufbewahrt, siehe: Kaczmarek 2010, S. 103 – 113; Kaczmarek 2007, S. 59 – 68. Zur kunsthistorischen Verortung und ursprünglichen Situation des Bildwerks im Altar: Kozieł 2010, S. 235 – 239.

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Abb. 43: Mariensäule, 1670, ehem. Zistersienserkloster Leubus, Archivaufnahme von 1928.

Eltern erscheint also auf dem Weg eine präfigurative Zwischenstufe. Sie ist umso sichtbarer, weil das durch Menschenhand gemachte ›falsche‹ Idol, dessen Zuhause der damals bereits verlassene, leere Tempel war, gerade keine Eltern hat und in seiner singulären Erscheinung keine Genealogie nachweisen kann. Im teleologischen Rahmen dieser räumlichen Inszenierung werden also zwei Dimensionen der Zeit miteinander kontrastiert: die der endgültig abgeschlossenen res gestae des ›Heidentums‹ und die des perpetuierten Andauerns der genealogisch immer wieder reaktivierbaren christlichen Geschichte. Die einstige Existenz eines

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›heidnischen‹ Tempels vor Ort wurde somit in diesem polemischen Szenario als eine einmalige Tatsache interpretiert, während sich die überragende Potenz des christlichen Zeitalters in ihren Fäden in beide Richtungen, retrospektiv und prospektiv, beobachten lässt und nichts an ihrer Aktualität verliert. Der Besuch des Klosters Leubus wird somit zu einer lokalen Erfahrung der ›lebendigen Archäologie‹ der Heilsgeschichte. Einer der ersten protestantischen gelehrten Archäologen des voraufklärerischen Zeitalters, Christian Stieff (1675 – 1751), der in Leipzig studiert hatte und 1706 zum Rektor des Breslauer Magdalenäums ernannt wurde, rekonstruierte die Geschichte Schlesiens größtenteils auf der Basis der Lektüre von Tacitus Werken. Er verfasste eine ausführliche archäologische Bearbeitung der schlesischen Urnengräber, die 1704 in Breslau und Leipzig verlegt wurde. 40 In diesem Werk widmete er den antiken Wurzeln von Leubus zusammen mit dem dortigen ›heidnischen‹ Tempel (fanum), der seiner Meinung nach mit den lokalen urslawischen Kulten des frühen Mittelalters in Zusammenhang gestanden hatte, eine außerordentlich lange Passage. Da dieses Zeugnis, wie der Autor selbst betont, nur 50 Jahre nach der barocken Wiederherstellung des Leubuser Klosters entstand und somit als ein zeitgenössisches Barometer des antiquarischen Eifers dienen kann, erscheint es sinnvoll, seinen Text in voller Länge zu zitieren, auch um die eventuellen Unterschiede zu der relativ kurz zuvor veröffentlichten Leubuser Passage bei Sartorius feststellen zu können: Si coniecturae locus esset, putae antiquae religionis lucum constitui debere vel prope LVBENAM & PILGRAMSDORFIVM, in cuius monte Schmirsio cultum fuisse celebre quoddam idolum perhibent, vel prope LEVBVSIVM ad ripas Guttali; quo fanum Gentis olim stetisse, cultusque barbari sacra floruisse communi opinione firmatur. Monasterium certe LEVBVSIUM religione loci cultum, & Seculo XII sub BOLESLAO ALTO antiquitate ima clarum fuit, fanum vero aliquod Leubusiense hodienum superest, ad Christianae Religionis vsvs ante hos quasi quinquaginta annos consecratum. An vero hoc ipsum, quod nunc cernimus, idem illud sit, quod ante octo vel nouem secula, quibus idola sectabantur adhuc maiores nostri, extructum & frequentatum fuit, cordatioribus merito & iis qui nouerunt, quid aera lupinis distent, discutiendum relinquo. Id quidem certum est, legi aliquot versiculos in limine huius tenoris: DAEMONIS ARA PRIVS TVA TRANSIT IN ATRIA CHRISTE. Reliquas verborum particulas aëris & pluuiarum iniuria deleuit. Quod dum refero, non possum non ex Anonymi, qui anilibus fabulis vltra modum delectatus fuisse videtur, carmine latino, barbariem seculorum superiorum admodum redolente, quod de primitiua Monasterii LVBENSIS fundatione scripsit, fragmentum ab Amico patriarum Antiquitatum studiosissimo mecum communicatum, risus tantum gratia adducere:

40 Stieff 1704.

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Abb. 44: Leubuser Marstempel, in: Sylloge variorum monumentorum, um 1740 (?), Zeichnung, Breslau, Universitätsbibliothek, Inv.-Nr. B 1649.

Est locus iste LVBENS IVLIO de Cæsare dictus, Sclauonizando loquens consueuit dicere vulgus LVBENS pro IVLIVS, qui primus castra metatus Isthic, & populu eius phanum veneratus & c. 41 Auf Stieffs Publikation als Garanten der wissenschaftlichen Glaubwürdigkeit der aufgefundenen Relikte und auf den schlesischen Altertumsforscher Dr. Johann Gottfried Baro, der den ›heidnischen‹ Tempel noch mit seinen eigenen Augen gesehen haben soll, berief sich wiederum später der anonyme Autor einer Bildquelle. Bei dieser handelt es sich um eine bisher wenig bekannte, bereits in den vierziger Jahren des 18. Jahrhunderts (?) angefertigte Federzeichnung, die eine nähere Ansicht des angeblichen Leubuser Marstempels darstellt (Abb. 44). 42 Auf dieser Zeichnung ist ein isometrisch skizziertes Gebäude mit mehreren 41 Ebd., S. 13 – 14. 42 Sylloge variorum monumentorum, 174 v – 175 r. (siehe auch 180v – »De primitiva monasterii lubensis fundatione«). Zu der Aussage dieser Quelle vgl. Kapustka 2008c, S. 334 – 351.

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Rundbogenfenstern zu sehen, an dessen Fassade eine Inschrift angebracht wurde, die mit dem von Sartorius und Stieff zitierten Text übereinstimmt und über den Sturz des vorherigen ›heidnischen‹ Altars in dem Tempel zugunsten eines »Palastes Christi« informiert: »Locus a quo conditus iste, Daemonis ara prius, tua transit in atria Christe«. Unterhalb dieser Zeichnung wurde mithilfe einer gekippten Perspektive der Einblick in das Innere dieses Tempels dargestellt. Am Ende dieses durch Pfeiler oder Pilaster abgesonderten Raumes, in einer Art cella, ist ein Blockaltar zu sehen, über dem zwei an den Gurten des Gewölbes angebrachte Metallringe hängen. Die zweite Inschrift, die in der Zeichnung auf einer über der seitlichen Eingangstür angebrachten Tafel (?) skizziert wurde, lässt sich nicht entziffern. 43 Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde das erste auf der Zeichnung abgebildete Epigraf zur Umwandlung des Gebäudes, das Dr. Baro angeblich noch selber gesehen haben soll (»has adhuc vidisse reliquias testatur«), an dessen Fassade aus Metallbuchstaben der Applikation des ersten gotischen Grabmals des Klosterstifters Herzog Boleslaus I. (1127 – 1201) von ca. 1202 komponiert, das sich ursprünglich im Hauptschiff der Leubuser Kirche vor dem Hochaltar befunden hatte. Auf diesem bildeten die genannten Verse das letzte Fragment des Bordürentextes der Grabplatte beziehungsweise der Tumba. In den Versus Lubenses wird die Inschrift genau zitiert: Et isti versus scripti in tumba eius [Boleslaus I. – Anm. M. K.] in Lubens in choro ante summum altare. / Dux Bolezslaus, honor patrie, virtute deinceps / Cui par nullus erit per regna Polonica princeps, / Conditur hoc loculo, locus a quo conditus iste, / Demonis ara prius, tua transit in atria, Christe. 44 Die Grabplatte des Herzogs ist 1312 beziehungsweise zwischen 1315 und 1335 durch eine neue, heute fragmentarisch erhaltene Platte mit Metallapplikationen und mit einer anderen Inschrift ersetzt worden (Abb. 45). Die erste, ursprüngliche Platte von 1202 wurde bei der Errichtung eines Leubuser Grabmonuments für Herzog Konrad, den Breslauer Domprobst (gest. 1304), sekundär verwendet. 45 Auf der steinernen Oberfläche der Letzteren sind die alten Spuren der ursprünglichen Ritzzeichnung mit einer Rittergestalt erhalten geblieben. Zu welchem Zeitpunkt der Transfer der Buchstaben auf das fanum tatsächlich vorgenommen

43 Vgl. Heinze 1812, S. 5 – 6 – hier wird über den Abriss dieses Gebäudes durch den Abt Ludwig Bauch am Anfang des 18. Jahrhunderts berichtet, wie auch die Legende über die auf dem Areal des Klosters in das Treppenhaus des Wirtschaftshauses eingemauerte ›heidnische‹ Statue erzählt (die Suche nach dieser Figur hat bisher zu keinem positiven Ergebnis geführt). Die Erwähnung Heinzes wiederholt später wortwörtlich Gottfried Büsching, der die Organisation und Verteilung der schlesischen Klostergüter nach der Säkularisierung 1811 betreute: Büsching 1817, S. 198 – 200 (für den Hinweis auf diesen Artikel bedanke ich mich bei Aleksandra Lipi´nska). Über die gemeinsame antiquarische Tätigkeit von Heinze und Büsching in Schlesien siehe darüber hinaus: Bernd o. D., S. 15 – 16. 44 Wattenbach 1861, S. 16. 45 Kozieł 2010, S. 536 – 554; K˛ebłowski 1971, S. 26 – 28; Kalinowski 1970, S. 80 – 82; K˛ebłowski 1969, S. 15 – 16.

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wurde, bleibt offen. Der Chronist Schickfuss notierte jedenfalls schon 1625 das Fehlen der zitierten Verse auf dem Grabmal, die ihm zuvor aus schriftlichen Quellen bekannt waren. Eine Inschrift auf der Fassade des alten Tempels erwähnte er allerdings noch nicht. Wahrscheinlich wurden also die Buchstaben der vom Grabmal bereits früher abmontierten Beschriftung an der Mauer des ›heidnischen‹ fanum erst in der Zeit angebracht, als dieses in den sechziger Jahren des 17. Jahrhunderts von Abt Arnold Freiberger programmatisch als Kapelle zum Heiligen Kreuz neu errichtet wurde. In der gleichen Zeit wurde auch wahrscheinlich die zweite Grabplatte des Herzogs Boleslaus, die inzwischen während der schwedischen Kriege beschädigt worden war, um fehlende Elemente wie den Kopf des Verstorbenen in einem archaisierenden Stil ergänzt und neu inszeniert. Der Klosterstifter erscheint in der neuen Fassung als eine hybride, mittelalterlich-barocke Gestalt in voller Pracht der ritterlichen Rüstung und herrschaftlichen Attribute. Er wurde mit diesem Schritt in eine charismatische historische Figur verwandelt, die aber durch die symmetrische, beinahe ornamentale Stilisierung ihres intensiv schauenden Abb. 45: Grabplatte des Herzogs Gesichts ambivalent wirkt: archaisch stumm und zuBoleslaus I. dem Langen, gleich aktuell, mit einem Charakter ausgestattet, also 1312/1315 – 1335, barockisiert, Leubus, ehem. Zisterzienserkirche Mariä einer Person gleich, die lebendig aus der Geschichte Himmelfahrt, Archivaufnahme vor 1945. hervorzutreten scheint. Die Macht des durch seine Inschrift ›sprechenden‹ ersten gotischen Stiftergrabmals wurde in die noch tiefere Vergangenheit zurückprojiziert, um mit dem anachronistischen Akt der symbolischen Inbesitznahme und der tatsächlichen Umwandlung des Ortes den triumphalen Gründungsmythos endgültig zu beweisen. Zudem wurden so beide Momente, die für die Gründung wie auch die klösterliche Identität bestimmend waren – die Abschaffung des Idols und die offizielle Stiftung des Klosters –, mithilfe dieser synthetischen Poetik des Fortdauerns an einem gemeinsamen Ort verschmolzen. Eigentliche Bindeglieder in dieser inszenierten Zeitreise sind aber nicht die Texte, sondern allein die tatsächlichen materiellen Körper der einzelnen, aus Metall geformten und applizierbaren Buchstaben, die noch vor kurzem die Sepultur des Herrschers markierten. Mit diesem Umwandlungsprojekt wurde eine Situation kreiert, in der die dämonische Aura des ›heidnischen‹ Tempels durch die Last dieser Buchstaben, dieser sprechenden ›Sekundärreliquien‹ außer Kraft gesetzt wird und der

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darauf aufgebauten christlichen Kultstätte weichen muss. Der mittelalterliche Herzog wurde somit zu einem aktiven Protagonisten der archaischen Inversionsgeschichte und damit zum institutionalisierten Nachfolger der beiden Heiligen dieses Ordens stilisiert: Benedikt als Kämpfer gegen Idole sowie Bernhard als Bauherr. Die derart politisch aktualisierte Grabanlage des Stifters in der Mitte der Kirche, die im Weiteren auch eine um 1312 nördlich des Chors angelegte, um 1675 barockisierte Grabkapelle der späteren Piastenherzöge beherbergte, wurde mit der Zeit um ein Pendant bereichert. Im Jahr 1693 wurde im Chor der Klosterkirche hinter dem Hochaltar eine barocke Nekropole der mittelalterlichen Breslauer Bischöfe angelegt. 46 Diese künstlich inszenierte bischöf liche Memoria wurde in diesem Zusammenhang als ein neuer symbolischer Beitrag zur offiziellen Anbindung der Leubuser Abtei an die konfessionelle Rückeroberungskampagne der katholischen Kirche Schlesiens unter der Macht der lokalen Herrscher gedacht. Die historische ›Entpaganisierung‹ und ›Christianisierung‹ des Ortes durch den weltlichen Herrscher wurde somit zu einem Akt der Besiegelung der ewigen – das heißt auch: auf die Nachfolger zu übertragenden – Allianz zwischen dem Staatskörper und der Institution der Kirche. 47 Dieses Bündnis wurde direkt im sogenannten Fürstensaal des Leubuser Klosters durch die Darstellung der markanten Stiftungsgeste Boleslaus’ vor der topografischen Ansicht des Klosters auf Christian Philipp Bentums monumentaler Deckenleinwand von 1732 dargestellt (Abb. 46). In diesem großformatigen Bild wird die Gründung des Klosters einerseits durch die gemalte theophanische Erscheinung des Heiligen Geistes beglaubigt und andererseits durch die monumentale Präsenz der im gleichen Raum platzierten, überlebensgroßen Figuren der habsburgischen Kaiser legitimiert: Leopold I., Karl VI. und Josef I., samt Personifikationen von Tugenden, Kontinenten und mythologischen Gestalten. 48 Die genealogischen Züge dieser Allianz stellten einen wichtigen rhetorischen Knotenpunkt der lokalen Rekatholisierung dar. Spätestens seit dem Tod des letzten männlichen Mitglieds der Piastendynastie, Georg Wilhelm I. von Liegnitz-Brieg-Wohlau 1675, sahen sich die Habsburger als ihre legitimen Nachfolger. 49 In der Zeit der habsburgischen Rückeroberung der protestantischen Länder war dementsprechend eine typologische Interpretation des archaisierten Idolensturzes als Bewältigung der alten Ordnung und Stiftung der neuen, rechtgläubigen Hierarchie mehr als aktuell, bot sie doch auch eine visuelle Formel für den Kampf gegen die ›Ungläubigen‹ jeglicher abweichenden religiösen Formation. Das geschichtete, typologische Denken, in dem eine klare Identitätsachse zwischen den ersten Heiligen der frühen Kirche, den Zisterzienserheiligen, den mittelalterlichen Landesherrschern und dem Oberhaupt des modernen Reiches gezogen wurde, trug damit zu einem legitimierenden Modus der damaligen Geschichtsschreibung als Machtdispositiv bei. In diesem Sinne

46 47 48 49

Kozieł 2010, S. 562 – 568. Zu dem Phänomen vgl. umfassend v. a. Matsche 1981. Kalinowski 1999, S. 379 – 388. Vgl. Kalinowski 1975, S. 106 – 122. Siehe Conrads / Bahlcke 2009, S. 1 – 173.

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Abb. 46: Christian Philipp Bentum, Die Stiftung des Zisterzienserklosters Leubus durch Boleslaus I. den Langen, Ausschnitt, 1732, Öl auf Leinwand, ehem. Zisterzienserkloster Leubus, Kaisersaal.

bezieht sich diese als lückenlos beanspruchte Entwicklungslinie der christlichen Rückeroberer des Landes auf die gleiche Gründungsidee eines christlichen Gemeinschaftskörpers, die in den von Johann Georg Urbanski gestalteten Monumenten für die Bischöfe Gottfried und Nanker im Breslauer Dom auf den Punkt gebracht wurde, in denen zwischen der guten und der schlechten Herrschaft unterschieden wird. Die Abschaffung der Idole kann in diesem Kontext als ein durchaus subjektbildendes Ereignis angesehen werden, mit dem sich in Anlehnung an den Topos der Gründung des christlichen Staates durch Konstantin die Protagonisten der abgebildeten Geschichte mit klaren politischen Statements versehen lassen. Der idolenfeindliche Einsatz der kirchlichen Geschichtsakteure wird als Kampf an der ersten Frontlinie inszeniert und zwar im physischen Sinne – man beachte allein die gewöhnliche körperliche Anstrengung der Hierarchen beim Idolensturz. Dadurch wird auch die Teilnahme des rechtgläubigen und sich an den Kodex der kirchlich-staatlichen Allianz haltenden Herrschers gewissermaßen an die Eucharistielehre gebunden und somit als ubiquitär vorgestellt. Sichtbar gemacht werden dadurch ebenfalls symbolische Manifestationen und auratische Präsenzen, deren Wirkung von hinter den Kulissen des Antagonismus zum Vorschein kommt. Die Anbringung der Leubuser Buchstaben als ›Körperteile‹ des Textes der ursprünglichen, durch den christlichen Herrscher Boleslaus vollzogenen Landestaufe, die die Besetzung und die dauerhafte Umkehrung des Ortes durch die Zisterzienser ermöglichte, ist

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in diesem Kontext nicht als eine konservatorische Geste der Klosterhistoriker zu verstehen. Vielmehr kann sie im Sinne einer politisch aufgeladenen Prozedur der Aktualitätserzeugung angesehen werden. Da sich das ›gesprochene‹ Testimonium des Stifters von dem Ort seiner Grablege lösen lässt und zum allerersten Ort des Konflikts übertragen werden kann – wenn es auch nicht mehr als einhundert Meter durch den Klosterhof sein sollen –, zeigt sich eine überdauernde herrschaftliche Präsenz als topografisch ubiquitär, überzeitlich und jenseits der üblichen figürlichen Manifestationen im höfischen Porträt oder öffentlichen Denkmal. Somit wird auch die Geschichte der christlichen Herrschaft vor Ort als ein andauernder Prozess der Erzeugung einer Botschaft durch Taten von überzeitlicher Wirkung ausgedehnt und konsequent selbst in Aktualität umgewandelt.

Nachfolge im Leiden: Das barocke Bildformular der apostolitas Im Kontext der Leubuser Kultstätte des Kriegsgottes Mars wird noch ein weiterer Interpretationsstrang des Bildprogramms der Klosterkirche sichtbar, der auf dem aktualisierten Topos der Auseinandersetzung mit den ›heidnischen‹ Idolen beruht. Schon in der Renaissance spielte Mars – der wiederentdeckte Leubuser Delinquent – eine wichtige Rolle bei der kulturellen und religiösen Subjektbildung. In diesem Kontext kann das bekannteste Beispiel der Neuweihe eines Ortes aus dem italienischen Raum erwähnt werden: die im humanistischen Schrifttum kultivierte, unter anderem durch Dantes Göttliche Komödie verbreitete Gründungsmythologie des Florentiner Baptisteriums, das vermeintlich an der Stelle eines früheren Marstempels gebaut und Johannes dem Täufer geweiht worden war. 50 Den Altertumsund Mittelalterforschern des 17. Jahrhunderts war diese Gottheit also bereits seit langem vertraut. Warum wurde aber gerade die im Mittelalter relativ spärlich überlieferte Marslegende im Rahmen der von Augustin Sartorius verfassten Einleitung zu der ausführlich dargestellten Geschichte des barockisierten Zisterzienserklosters in der Zeit des Ordensjubiläums um 1700? Sicherlich war es nicht nur das antiquarische Interesse, das den zisterziensischen Geschichtsschreiber bewegte. Für Sartorius wurde der Sturz des ausdrücklich bewaffneten und konfrontativ eingestellten Idols als Sieg im religiösen Krieg mit den Protestanten gedeutet, denn die kriegerische Gottheit war bereits im Mittelalter zu einer Verkörperung der offensiven, militärischen Geisteshaltung der ›Ungläubigen‹ geworden. Somit lässt sich das Motiv der Vernichtung des simulacrum von Mars samt seinem Gehäuse, wie auch die Stiftung einer christlichen Kirche auf dessen Trümmern, konsequent als ein Bestandteil der argumentativen Bildkultur des christlichen Martyriums betrachten. Damit ließ sich die Relevanz der Leubuser ecclesia renovata als Verlängerung der ursprünglichen Bedeutsamkeit erster

50 Von der reichen Literatur zu diesem Thema siehe: Straehle 2001; Degl’Innocenti 1994; Wa´zbi´nski 1980, S. 933 – 950.

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römischer Basiliken ansehen, die als erste Häuser der christlichen Gemeinden die Kultstätten der Idole ersetzten. An der mit mehreren Wandmalereien ausgestatteten Fassade einer der patriarchalen Basiliken Roms, S. Lorenzo fuori le Mura, die zur Zeit Konstantins des Großen super corpus des Laurentius gestiftet wurde, ist beispielsweise in der bis heute erhaltenen, byzantinisch geprägten Bilderreihe zu Laurentius’ Vita vom Ende des 13. Jahrhunderts die Szene der Zerstörung des Marstempels zu sehen (Abb. 47). Gemäß der Legenda aurea leistete Laurentius dem Sixtus, dem Bischof von Athen, Diakon von Rom und für weniger als ein Jahr Papst, Gesellschaft, als dieser sich weigerte, einem Idol im Marstempel Opfer darzubringen. Wegen seines Widerstandes wurde Sixtus auf Befehl von Kaiser Valerian im Jahr 258 enthauptet. Im Text selbst ist vom Zerfall des Tempels keine Rede. Durch die Einführung dieses Motivs in das bildliche Narrativ wurde aber eine klare Formel der körperlichen Polarität zwischen dem fallenden Marstempel und dem in diesem Moment immer noch als Amtsinhaber agierenden Sixtus erreicht, die sich in der von Jacobus de Voragine erläuterten Etymologie von Sixtus’ Namen – vom lateinischen sisto (stehen) – widerspiegelt. 51 Dieses Fragment der Vita des Heiligen, abgebildet an der Frontwand der Basilika, legitimiert die neue Relevanz des Hauses als symbolisch gestiftet an einem neutralisierten und neu geweihten Grund. Für die ecclesia militans des 17. und 18. Jahrhunderts stellte Mars dementsprechend einen für die mit klaren Polarisierungen arbeitende, politische Siegespropaganda des Katholizismus geeigneten Feind dar, der sich im Rahmen der historiografischen Vereinheitlichung der ewigen Konfrontation unmittelbar und eindeutig interpretieren ließ. 52 In diesem Kontext ist auch nicht davon abzusehen, dass für die Vorgeschichte der Leubuser Lokalität als Ort des Marstempels unter dem Motto des ewigen Kampfes des Christentums mit den ›Heiden‹ auch die damals allgemein verständliche Konnotation des Namens Mars mit dem Martialischen wesentlich war. 53 Eine Frage, die nun im Kontext des in Leubus entwickelten Narrativs des Idolensturzes besonders interessant wird, betrifft den Charakter der im gesamten ostmitteleuropäischen Raum einzigartigen Reihe monumentaler Ölgemälde, die Martyrien der ersten Apostel Christi darstellen. Dieser Zyklus befand sich ursprünglich ebenfalls in der Klosterkirche – mit seiner Fertigung beauftragte Abt Freiberger schon 1661 den als Klostermaler tätigen Michael Willmann. Die Arbeiten an diesem ungewöhnlichen Bildensemble dauerten mit einigen Pausen nahezu 40 Jahre, bis zum Ende der Barockisierung der Abtei unter Abt Ludwig Bauch im Jahr 1700. Bis 1943 – 1945 bildeten diese 14 durch Brutalität und äußerste Gewalt gekenn-

51 Voragine, Legenda aurea, S. 603 – 604. Der Todestag von Sixtus, der mit dem Fest der Transfiguration übereinstimmt, wurde hier als ein Tag der Erneuerung bezeichnet. 52 Über die Wechselhaftigkeit des Feindbildes im Rahmen der Gegenreformation siehe u. a. Kapustka 2007, S. 281 – 315. Vgl. zum apokalyptisch gefärbten Phänomen des ›totalen Feindes‹ im Christentum: Münkler 1994, S. 32 – 33. ˇ 53 Siehe u. a.: Pešina z Cechorodu 1677; Opitz 1628. Vgl. Stolaˇrová/Vlnas 2010, S. 412 – 413.

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Abb. 47: Hl. Sixtus zerstört einen Marstempel, Ende 13. Jh., Rom, S. Lorenzo fuori le Mura (Wandmalerei in der Vorhalle).

zeichneten Bilder der sterbenden ersten Märtyrer eine einzigartige ›Galerie‹ an den Wänden des Langschiffes, des Querschiffes und des Chores der Klosterkirche (Abb. 39, Taf. 18 a – d). 54 Die Aussage dieses imposanten Zyklus, der in der Forschung immer als ein chef d’œuvre des »schlesischen Apelles« präsentiert wird, 55 kann dank der hervorgerufenen Leubuser Marslegende in einem neuen Licht betrachtet werden. Der Auftrag, die imposanten Marterdarstellungen der Apostel zu malen, der von dem Leubuser Abt erteilt wurde, der wesentlich nach dem Dreißigjährigen Krieg die Tradition des lokalen mittelalterlichen Stiftungsmythos mit aktuellen Mitteln mitgestaltete, ist nun direkt mit der damals postulierten Rolle des Klosters als vermeintlicher Ort der Bekämpfung des ›heidnischen‹ Kultes, des barocken Sinnbilds der Häresie zu verbinden. Dieser Bildkomplex des christlichen Martyriums – in diesem Teil Europas präzedenzlos – ist folglich als Produkt der historischen Doktrin der damaligen Kirche und Element ihrer auf übergreifende Kontinuitäten setzenden Bildpropaganda anzusehen. Die anfangs beschriebenen Bilder Willmanns von Katharina und Barbara wie auch von Benedikt, welche die Idole bekämpfen, sind folglich nur als Teil einer größeren Geschichte eines angestrebten anti-protestantischen Bildprogramms zu betrachten. Dieses Programm, in seiner polemischen Komplexität gezielt typologisierend, wurde ausgedehnt und um das Motiv des christlichen Martyriums bereichert. Das Opfer als Bedingung einer erfolgreichen Konfrontation wurde als unentbehrlicher Grundsatz der christlichen Gemeinschaftsbildung

54 Der Maßstab aller Bilder: 400 × 300 cm. Heute sind sie in verschiedenen Kirchen in Warschau verstreut – siehe Lossow 1994, S. 47 – 52, wie auch Kozieł 2013, S. 390 – 392, 401, 404 – 406, 409 – 423, 431 – 432; Kozieł 2010, S. 476 – 493. 55 Als solches wurde es durch die Kunstgeschichte vor allem unter den Kriterien der Stilanalyse und Ikonografie behandelt; siehe: Kalinowski 1970, S. 69 – 70; Kloss 1934, S. 52 – 55.

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auf das Kloster als Ort des katholischen Sieges über den ›heidnisch‹-häretischen Dämon projiziert. Als eine fundierte Inspiration für die Leubuser Bilderreihe der Martyrien sind die damals bereits allgemein bekannten Musterbeispiele solch einer visuellen Argumentation, wie die Fresken in S. Stefano Rotondo, der römischen Kirche des jesuitischen Collegium Germanicum-Hungaricum, zu nennen. Diese Kirche soll laut der traditionellen, seit dem Mittelalter und bis ins 18. Jahrhundert präsenten, tatsächlich aber falschen Annahme auf den Trümmern des Tempels des Faunus (beziehungsweise Klaudius oder Bacchus) gestiftet worden sein und wurde dementsprechend tempio d’idoli genannt. Als solche ist sie am Ende des 16. Jahrhunderts für die frühneuzeitliche katholische Bilderwelt zu einem modellhaften Vorbild der Sakralisierung des Ortes mithilfe eines medial gesteuerten historischen Opfers der Christen geworden. Kurz nachdem die Martyrien der zumeist frühchristlichen Heiligen von Niccolò Circignani, genannt Pomarancio, in seinen von blutiger Grausamkeit geprägten Bildern an den Wänden dieser Kirche 1582 – 1583 visualisiert worden waren (Abb. 48), 56 fanden sie im Medium der Grafiken der Ecclesiae militantis triumphi von Gianbattista Cavalieri allgemeine Verbreitung. 57 Dieses Modell wurde ferner im 17. Jahrhundert von einem systematisch entwickelten Interesse für die Archäologie der christlichen Martyrien begleitet, das sich in groß angelegten Ausgrabungen niederschlug. Nur als Beispiel sei die bekannte, aufschlussreiche Bearbeitung damaliger Funde von Antonio Bosio erwähnt, 58 aus denen später unter anderem Paolo Aringhi direkt geschöpft hat. 59 Die Popularität dieser Quellen- und Fundbearbeitungen drückte sich ebenfalls in den damaligen Konzepten der Kirchenausstattung aus, wie es die auf dem Topos des christlichen Martyriums basierenden, monumentalen barocken Bildprogramme solcher italienischen Kirchen wie der römischen San Vitale (1601 – 1603) und Santi Nereo e Achilleo (1600) oder der neapolitanischen Teatinerkirche Santissimi Apostoli (1638 – 1646) beweisen. Letztere wurde eindeutig als ein neues templum für Gläubige als werdende Märtyrer komponiert. Gestiftet im 5. Jahrhundert, laut Legenden aber bereits durch Konstantin den Großen an der Stelle eines dem Mars oder dem Merkur geweihten Tempels errichtet, 60 fügt sich die 1649 neu geweihte Kirche mit ihrem Bilderprogramm in den

56 Siehe z. B. Bailey 2003, S. 107 – 148; Salviucci Insolera 2000, S. 129 – 137. 57 Cavalieri 1585. Vgl. Cavalieri 1584. Zu der medialen Verbreitung und übergreifenden Bedeutung der Kompositionen von Pomarancio siehe von der reichen Literatur: Müller-Bongard 2011, S. 153 – 175; Monssen 2009, S. 305 – 366; Horsch 2005, S. 65 – 92; Burschel 2004a, S. 197 – 262; Bailey 1999, hier: S. 158 – 160; Noreen 1998, S. 689 – 715; Puppi 1990; Herz 1988b, S. 53 – 70; Monssen 1983, S. 11 – 106; Monssen 1982, S. 10 – 20; Monssen 1981, S. 130 – 137; Buser 1976, S. 424 – 433. 58 Bosio 1632. Vgl. auch Merz 2003, S. 229 – 244. 59 Aringus 1659; die deutschsprachige Version: 1668. Zu dem Phänomen dieser Spurensuche vgl. Wolf 2004, S. 288 – 291, wie auch Bickendorf 1998, insbes. S. 65 – 103 (Kap. »Mittelalterforschung zwischen Vasari-Kritik und römischer Kirchenhistorie«). 60 Inschriften an deren Fassade: »EREPTUM SUPERSTITIONI FANUM / QUOD EXPLICATA LATIUS AREA MUTATO CULTU / CONSTANTINUS MAGNUS / SS. APOSTOLORUM

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Abb. 48: Niccolò Circignani gen. Pomarancio, Martyrien der ersten Christen, 1582 – 1583, Rom, S. Stefano Rotondo, Gesamtansicht der Fresken.

argumentativen Modus der visuellen Geschichtsschreibung mit ihren Identität stiftenden Inversionen und zielorientierten Typologisierungen. Der Blick des Betrachters wird in diesem Raum durch mehrere Marterbilder Giovanni Lanfrancos geleitet, auf denen die Folterungen der Apostel dargestellt sind, wie des Johannes Evangelist, Juda Thaddäus oder Thomas zu sehen sind, die vor den antiken Idolen und während der Ausführung der ›heidnischen‹ Rituale im Namen Christi agieren. Am Ende dieser ›Galerie der Folter‹ wird der Betrachter dazu eingeladen, seinen Blick auf das illusionistische Kuppelbild (1664 – 1680) zu richten, in dem das Paradies als logische Konsequenz des Martyriums gezeigt und die neapolitanische Lokalität mit der himmlischen Universalität gekoppelt wird. Das über dem Hauptausgang gemalte Fresko Lanfrancos mit der Darstellung der biblischen piscina probatica von 1638 versichert den Betrachter zusätzlich über das heilende Versprechen gegenüber denen, die den Bildern bereits affektiv gefolgt und sich schließlich für den imitatorischen Weg des Leidens entschieden haben. Die böhmisch-schlesischen Varianten solch einer märtyrologichen Subjektbildung durch ein Erfüllungsnarrativ wurden sicherlich vor allem durch die neuen Medien der kirchlichen Propagandagrafik ermöglicht. Die Inspirationsquelle für den Leubuser Abt Freiberger bildeten mit großer Wahrscheinlichkeit nicht nur die im 17. Jahrhundert mehrfach gedruckten Martyrologien Gregors XIII., sondern auch das bereits zitierte Werk Cavalieris sowie das

MEMORIAE DEDICAVIT [. . . ]«; »AEDEM ANTIQUISSIMAM ETHNICA SUPERSTITIONE MERCURIO PIETATE CHRISTIANA / DEO IN HONOREM APOSTOLORUM CONSECRATAM FRANCISCUS I P. F. AUG. UT TEMPLUM / NOBILISSIMUM SARTUM IN POSTERUM TECTUMQUE OMNI EX PARTE SERVARETUR / NIHILQUE AD DIVINI CULTUS SPLENDOREM DESIDERARETUR III VIRUM CURATORUM [. . . ] / AN. SAL. MDCCCXXVI«; zit. nach: Strazzullo 1959, S. 38; vgl. ebd. S. 22.

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Abb. 49: Antonio Tempesta (Entwurf), Martyrium der ersten Christen, in: Antonio Gallonio, Romani de SS. Martyrum Cruciatibus liber, 1660.

populäre Kompendium von Fulvio Cardulo 61 oder der wenig später herausgegebene, fast textlose ›Bildband‹ der Martyrien von Antonio Gallonio, 62 dessen verschiedene Exemplare im 17. und 18. Jahrhundert auch in Schlesien nachweisbar sind. Bei näherer Betrachtung einiger von Antonio Tempesta gefertigter Abbildungen in Gallonios Werk De sanctorum martyrum cruciatibus (Abb. 49), das im Laufe des 17. Jahrhunderts mehrmals in verschiedenen europäischen Verlagen herausgegeben wurde, fällt auf, dass in zwei reich illustrierten, 1660 in Venedig und Paris erschienenen Ausgaben (also ein Jahr vor dem Leubuser Auftrag der Martyrienbilder) nicht die Folter von konkreten historischen Märtyrern, sondern ausgesprochen brutale und sehr genau inszenierte Quälereien anonymer christlicher Opfer dargestellt wurden, denen in erster Linie eine Rolle universeller und nachahmbarer Modelle zukam. Die Variabilität der Folter machte also das Werk Gallonios zu einem Lehrbuch des christlichen

61 Cardulo 1588. 62 Gallonio 1591. Eine der späteren, erweiterten Ausgaben: Gallonio 1660.

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Selbstentzugs. Ziel dieser Publikation war es, die glorreiche Opferbereitschaft angesichts Gottes zu zeigen. Die unbegrenzte Vielfalt der skrupellosen Foltermethoden konstruierte gleichzeitig ein festes Repertoire für die kollektive Martervorstellung. Da es sich dazu um kunstvolle Kombinationen der Körperponderation als eine Art künstlerische Herausforderung handelte, provozierten die von Tempesta konzipierten Bildmotive mehrere Künstler zur wiederholten Nachahmung im Rahmen ihrer Bildproduktion. 63 Die ewige Aktualität des christlichen Leidens als Prinzip der kämpfenden Kirche des gegenreformatorischen Zeitalters zeigt sich demnach teilweise als eine Konsequenz der künstlerischen Aneignung der markanten Vorbilder; die Reichweite von politischen Ansprüchen war in diesem Sinne größtenteils den auf eigenen Wegen kursierenden Bildmedien zu verdanken. Die bereits um 1649 beziehungsweise um 1660 begonnene Umgestaltung der Leubuser Kirche in ein Denkmal des christlichen Sieges lässt sich einerseits als ein wesentlicher Teil der Selbstvermarktung des Klosters als Exemplum der Universalgeschichte verstehen. Andererseits jedoch wirft die Umsetzung dieses Konzepts ein interessantes Licht auf den Status des Künstlers, der nicht nur zum Ausführer oder Vermittler einer Norm wird, sondern allein durch seine werkstattliche Praxis und den Umgang mit Vorbildern neben seinem Auftraggeber zu einer motorischen Kraft dieser Überzeugungspraxis stilisiert wurde. Der Künstler wurde somit zur Geisel seines eigenen Diskurses.

Mittelalterlicher Idolensturz und barocke Apologie des Künstlers Beinahe das gesamte Bildprogramm der barockisierten Leubuser Klosterkirche wurde durch das christliche, aus der mittelalterlichen Exegese hergeleitete Prinzip der imitatio Christi in Verbindung mit dem Topos der idolomachia bestimmt. In diesem Rahmen ist auch eine rhetorische Konstruktion von Ankündigung und Erfüllung aufzuspüren, deren performativ gesteuerte Erfahrung dem Betrachter gewährt wird. Nach dem Eintreten in die Vorhalle der Kirche durch das Portal mit den bereits besprochenen Figuren des mit dem Dämon kämpfenden jungen Salvators und des auferstandenen Christus im Giebel wird der Gläubige weitergeleitet sowie symbolisch zum eigenen imitatorischen Handeln eingeladen. Denn das zweite, direkt von der Vorhalle zum Langschiff führende Portal wurde mit der Inschrift »Domus sanctificationis nostra« versehen. Signifikat der »sanctificatio« ist in diesem Fall nicht ein in der Kirche aufbewahrtes Heiligtum, denn dieses Wort kann ebenfalls als ›Heiligung‹ oder ›Eingliederung in die Reihe der Heiligen‹ übersetzt werden. Über die notwendigen Bedingungen dieses als nobilitierend angekündigten Vorgangs informierte den Betrachter das sich vor seinen Augen gleich nach dem Eintreten entfaltende Panorama des Opfers in

63 Zum Charakter dieser Abbildungen siehe ausführlich: Touber 2014, S. 69 – 88; Wolf 2011, S. 151 – 156; Mansour 2005, S. 167 – 183.

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Götzen, Gräber und Auftraggeber

der überwältigenden monumentalen ›Galerie‹ der exemplarischen Marterbilder zwischen den massiven gotischen Pfeilern und den leuchtenden Spitzbogenfenstern der barockisierten Basilika. Eine symbolische Kulmination der gesamten ›sanktifizierenden‹ Bilderreihe und somit eine Verwirklichung der im Westportal der Kirche annoncierten Bekämpfung des Idols bildete Willmanns Aufrichtung des Kreuzes (Taf. 19), eine Leinwand, die an der nördlichen Wand des Presbyteriums, also am Ende des ganzen Ensembles, platziert wurde. 64 Versehen mit der kurzen Inschrift »Salvator Mundi«, die in dem vorliegenden, zwischen Universalität und Lokalität gespannten Kontext des besiegten Dämons an neuer topografischer Relevanz gewinnt, bildete diese Szene einen narrativen Fokus für den durch den Kirchenraum gehenden Betrachter. Diese Ergänzung der dargestellten Folterszenen der Apostel ist also nicht nur im gleichen Sinne zu beurteilen wie die Parallelisierung des Leidens von frühchristlichen Märtyrern mit dem ursprünglichen Opfer Christi, so wie sie in S. Stefano Rotondo mit einer Schlussfigur des Rex Gloriose Martyrum, des gekreuzigten Christus als erstem Märtyrer 65 und somit zeichenhaftem Vertreter der gesamten Leidensgemeinschaft und im Medium der Grafik durchgeführt wurde (Abb. 50). 66 Dieses letzte Bild der Leubuser Reihe gilt vielmehr zugleich mit seinem narrativen Erfüllungsmoment als ein eindeutiges und antithetisch konstruiertes Gegenstück zu dem bereits im Portal lokal signalisierten jugendlichen Idolensturz Christi und als eine Ankündigung beziehungsweise aus der historischen Handlung hervorgehende präfigurative Bestätigung der bereits im Giebel triumphal markierten Auferstehung. 67 Damit wird also ein Kreis der Passion geschlossen: Die sowohl historisch als auch typologisch zu deutende Universalgeschichte – die der Passion und der darauffolgenden Martyrien – manifestiert sich in ihrem kompletten Ablauf innerhalb der Klosterkirche. Erwähnenswert ist auch, dass sich zwischen den beiden räumlich geordneten Knotenpunkten dieser thematischen Achse auch Bilder der direkten, formal angepassten Nachfolge des Kreuztodes befinden: Petrus wird am Anfang der ›Galerie‹ der Apostelmärtyrer auf dem umgedrehten Kreuz gemartert, Matthäus wird während der Adoration des auf einem Altar ausgestellten Kreuzes getötet. Innerhalb des gesamten Zyklus fungieren ihre Marterfiguren als Übergangsformen der Nachahmung. Der Darstellung der Kreuzigung Christi selbst wird dabei eine überwältigende Anziehungskraft zugesprochen; sie gilt als eine rudimentäre Form der Selbstaufopferung, die nur genau nach diesem ersten Fall des gekreuzigten Christus imitiert und wiederholt werden kann. Das Kreuz des wahrhaften Martyriums wird damit als wiederholbares Werkzeug der unendlichen imitatio des Leidens zu einer eindeutigen,

64 65 66 67

Kozieł 2013, S. 426 – 427; Kozieł 2010, S. 487 – 488. Siehe van Henten 2011, S. 47 – 64. Monssen 1981, S. 130 – 137. Nyga 2004, S. 223 – 238 (hier: 229 – 231).

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Abb. 50: Rex Gloriose Martyrum, in: Gianbattista Cavalieri, Ecclesiae militantis triumphi, 1583.

topografisch polarisierten Antithese der einmaligen und umwandelbaren Säule des in seiner historischen Einmaligkeit von Grund auf als falsch gedeuteten Dämons. 68 Mit diesem auf eine performative Ersetzung des passiven Idols durch das aktive Kreuz fokussierten Programm scheint Willmann in Leubus gezielt eine Fusion zweier polemischer Themenkreise durchzuführen: Der Akt des Idolensturzes wird mit dem sich im Leiden ausdrückenden christlichen Triumph organisch verknüpft. Denn wenn die Ansammlung von Marterbildern am Ort eines ehemaligen ›heidnischen‹ Tempels, so wie es unter anderem

68 Es kann hier an das interessante frühchristliche Negativbild der imitatio erinnert werden. Tatian skizziert in seiner Rede an die Bekenner der griechischen Kulte eine Vision der Zukunft von Dämonen, nachdem die Menschen entweder mit der göttlichen Glückseligkeit oder der teuf lischen Verdammnis konfrontiert werden: Die Dämonen sollen ebenfalls einen Anteil an der endgültigen Ewigkeit gewinnen, allerdings werden sie dabei für immer zur Ausübung dergleichen Tätigkeiten verurteilt, zu denen sie selbst die Menschen zu ihren Lebzeiten als böse Geister und Idole angestiftet haben sollen. Im Sinne der verkehrten Mimetik werden sie demnach zu humanoiden Gefangenen der eigenen falschen Lehre (Tatian, Oratio ad Graecos, 14).

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in Ss. Apostoli in Neapel der Fall war, eine gewöhnliche Taktik der damnatio memoriae durch die Universalisierung und Teleologisierung dieses Ortes darstellte, kam in Leubus noch eine deutlichere, direkt negative Spiegelung dazu: der bipolare Antagonismus zwischen dem erhöhten Kreuz und dem immer noch sichtbaren beziehungsweise medial ›präsenten‹ Idol. Die strukturelle Hervorhebung des Kreuzes kann einerseits als Resultat der pontifikalen Praktiken im sixtinischen Rom angesehen werden, bei denen, wie bereits vermerkt, auf Obelisken und anderen antiken Säulen die triumphalen Zeichen des Kreuzes als Besiegelungen der endgültigen inversio der Macht ihren Platz fanden. Eine nähere Parallele für Willmans Programmierung der Leubuser Kirche findet sich andererseits eher in Werken, die fern vom römischen Boden eine argumentative Ebene der rekatholisierenden Bildpolitik des Kreuzes auf das performativ geleitete, affektive Erlebnis der Kreuzigung im Kirchenprogramm zu fokussieren vermochten. Gemeint ist hier unter anderem die Gestaltung des Hochaltars der Walpurgiskirche im katholischen Antwerpen durch Pieter Paul Rubens 1610 (Abb. 51), der dem schlesischen Maler infolge seiner jugendlichen Reise durch die Niederlande um 1650 sogar aus eigener Erfahrung bekannt gewesen sein mag. 69 Die aufgebaute kompositorische Dramaturgie der drei Altartafeln der Aufrichtung des Kreuzes bildet hier eine Voraussetzung, um das persönliche Engagement des Betrachters mit den eucharistischen Andeutungen auf die Relevanz der gemeinschaftlichen Teilnahme am Ritual zu verbinden. Diese Komposition aus drei Tafeln, die durch die deutliche Teilung der Präsenzebenen die historische Zeugenschaft am Golgatha auf die gegenwärtige Situation des unten stehenden Betrachters zu projizieren scheint, wirkt im Rahmen einer affektiven Bildlektüre. 70 Betrachtet man diese monumentale Inszenierung vom historischen Werden des allbekannten Kreuzeszeichens retrospektiv im Lichte eines zehn Jahre späteren Antwerpener Werkes von Rubens, des Freskenprogramms der dortigen Jesuitenkirche (1620 – 1621), wird eine rhetorische Entwicklungslinie in seiner visuellen Gestaltung des christlichen Kampfszenarios noch deutlicher sichtbar. Die illusionistischen Bilder der über die Dämonen und über die skulptierten Idole triumphierenden griechischen und lateinischen Kirchenväter und Märtyrer in der Jesuitenkirche (Abb. 52, 53), die in ihrer architektonischen Erscheinung zu einer neuen konstantinischen Basilika stilisiert wurde, wurden mit der Idee des Martyriums verknüpft. 71 Angebracht ursprünglich an den Decken der seitlichen Emporen, bildeten sie ein narratives Verbindungsglied zwischen den mit Jesuitenemblemen verbundenen Marterzeichen an der Fassade, die von Rubens selbst entworfen wurden, und den beiden ebenfalls von ihm gemalten monumentalen, auswechselbaren Bildern der Hauptheiligen des Ordens, Ignatius von Loyola und Franz Xaver, im Hochaltar. 72 Auf diesen beiden Leinwänden wird die Aufgabe

69 Zu Willmanns Reise in die Niederlande und ihren Folgen: Klessmann 1994, S. 55 – 76. 70 Lawrence 2008, S. 251 – 275; Glen 1983, S. 35 – 47; Martin 1969. Vgl. Heinen 1996, passim. 71 Knaap 2006, S. 157 – 181, insbes. S. 158 – 159, 167 – 168, 171, 174; Knaap 2004 (2006), S. 154 – 195; Martin 1968. 72 Knaap 2017, S. 65 – 84; Göttler 1999, S. 10 – 31; Smith 1969, S. 39 – 60.

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Abb. 51: Pieter Paul Rubens, Aufrichtung des Kreuzes, 1610, Öl auf Holz, ehem. Antwerpen, Walpurgiskirche (Hochaltar), heute O.-L. Vrouwekathedraal.

Abb. 52: Pieter Paul Rubens, Gregor von Nazianz, 1620 – 1621, Zeichnung, Entwurf für die Fresken in der Jesuitenkirche in Antwerpen, Buffalo, Albright-Knox Art Gallery.

der Exorzismen durch Ignatius von Loyola und die Idolenbekämpfung durch Franz Xaver übernommen, obwohl die beiden Ordensanführer zu dieser Zeit noch nicht heiliggesprochen waren und noch ein Jahr lang auf diesen Rang ›warten‹ mussten. 73 Eine weitere Verbindung der beiden rhetorischen Mittelpunkte – des Kreuzes und des Idols – findet sich in einer etwas abweichenden Redaktion in der von Rubens gemalten Todesszene des Apostels Thomas in der Prager Augustinerkirche St. Thomas. Dieses monumentale Bild, das für den dortigen Hochaltar 1637 – 1639 gefertigt wurde (Taf. 20), ist Resultat des einzigen Auftrags, der Rubens in seiner Karriere aus den ostmitteleuropäischen Habsburgerländern erteilt wurde. 74 Das Gemälde zeigt den ehemals zweifelnden Nachfolger 73 Sauerländer 2011, S. 81 – 101; Ziggelaar 2008, S. 38. Siehe auch Haeger 2008, S. 97 – 124, hier: S. 111 wie auch 120 – 124 zu Rubens’ Fassadenentwurf. 74 Sauerländer 2011, S. 206 – 217; Koneˇcný 1978, S. 211 – 244. Vgl. Vácha 2014, S. 257.

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Abb. 53: Jan Punt nach Jacob de Wit, Martyrium der hl. Eugenia, 1751, Kupferstich, nach dem Entwurf für die Fresken in der Jesuitenkirche in Antwerpen von Pieter Paul Rubens (1620 – 1621), Haarlem, Teylers Museum.

Christi, wie er beim Umarmen eines steinernen Kreuzes durch die ›heidnischen‹ Henker in Indien erstochen wird. Sein Tod findet in Anwesenheit eines auf einer gedrehten Säule sitzenden, exotisierten und von der ganzen Aktion apathisch distanzierten ›Götzen‹ statt. 75 Der Tod des Märtyrers, in seiner Einsamkeit kompositorisch direkt zwischen dem Idol und dem Kreuz als zwei polemischen Pendants situiert, wird somit zu einer interessanten Projektion der imitatio. Der Missionar stirbt durch den gleichen, von Rubens demonstrativ zentral im Vordergrund hervorgehobenen Lanzenstich in die Seite, dessen tödliche Spuren im Christuskörper er früher selbst mit Antasten prüfen musste, um sich von dessen Auferstehung zu vergewissern. Die ›Ungläubigen‹ Indiens werden so mit den auf protestantischen Abwegen irrenden Seelen Böhmens typologisch verknüpft, der Aufruf zum Ausstieg aus der häretischen Irrlehre durch das geistige Martyrium wird in Form eines klaren Apells zur Nachahmung als gemeinschaftsbildendem Mittel einer flächendeckenden Rekatholisierung formuliert. Vor diesem Hintergrund – geografisch übergreifend und zugleich regional – wird deutlich, dass Willmann in seiner Leubuser Vision verschiedene Versatzstücke aus bisherigen polemischen Bildtraditionen zusammensetzte und in dem direkt erkennbaren missionierenden Kolorit der lokalen historischen Überlieferung verankerte. Die Leubuser Aufrichtung des Kreuzes am Ende der Marterreihe entzieht sich dementsprechend sowohl einer rein semantischen Lesart im Sinne der durch ein erkennbares Zeichen evozierten auratischen Präsenz 76 als auch der historischen Narration in Form eines visuellen Berichts aus der linear skizzierten Heilsgeschichte. Sie kann nur performativ als ein Schlüsselpunkt eines Programms gelesen werden, das eine stärkere Einbeziehung des einzelnen Betrachters erfordert und im Rahmen

75 Zur ›indischen‹ Ikonografie dieses Gemäldes siehe Uppenkamp 2016, S. 113 – 141, hier: S. 113 – 125. 76 Siehe in diesem Kontext z. B. das mittelalterliche Paradigma des monumentalen Kreuzes im Kirchenraum: Cooper 2006, S. 47 – 69.

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einer in Bewegung gestalteten Bildlektüre durch Affektsteigerung und geistige Nachahmung die universelle Heilsgeschichte als eine lokale Gemeinschaftssache rekonstruieren lässt. Die einzigartige Situation des ehemals durch ›heidnische‹ Kulte ›verseuchten‹ und einer neuen apostolischen Kultivierung unterzogenen antik-›heidnischen‹ Bodens ermöglichte mithilfe der affektiven Umsetzung der globalen Konversion eine neue Interpretation von Bildern der christlichen Geschichte. Dieses Szenario wurde ohne Glossen oder Fußnoten auf den Leubuser Grund projiziert, der somit zu einem Schauplatz des ewigen Glaubenskonflikts erhoben werden konnte. Außerhalb der narrativen Bilderreihe der apostolischen Märtyrer war in Leubus in einem 1702 von Willmann zusätzlich gemalten Bilderensemble der Kreuzigung eine weitere deutliche antithetische Anspielung an den Idolensturz zu sehen. Diese ungewöhnliche Trias, die aus drei separaten, monumentalen Bildern vom gekreuzigten Christus, von Maria und von Johannes Evangelist besteht, hing ursprünglich im südlichen Querhausarm der Kirche, an dessen südlicher Wand, über zwei Portalen (Abb. 54). 77 Das Bildensemble ähnelt in seiner asketisch-narrativen Gestaltung den monumentalen Triumphkreuzgruppen aus dem Mittelalter und kennzeichnet wie diese deutlich den transitus zwischen zwei Sphären: in diesem Fall zwischen dem öffentlich begehbaren Kirchenraum und dem Kreuzgang als einem exklusiven Raum der im claustrum verschlossenen Kongregation. Hier endet die peregrinatio durch die qualvolle Welt der ersten Nachfolger Christi, und zwar in einem doppelten Sinne. Die Kulmination der Passion in der Kreuzigung kommt mit dem architektonischen limes der neu gebauten Kirche zusammen: Die Portale unter dieser gemalten Golgatha, von denen eines die Inschrift »LVDOVICVS ABBAS LVBENSIS FF 1702« trägt, markieren topografisch die Grenze der begehbaren Galerie und dokumentieren zugleich im zeitlichen Sinne den Abschluss der Wiederherstellung des Klosters durch Abt Ludwig Bauch im Jahr 1702. Die Wiederkehr der Passion in jedem Akt der gezielten Nachahmung wird also der Erneuerung der Klosterkirche gleichgestellt, indem der Faden von apostolischer imitatio den gesamten Raum affektiv auf lädt und sein Überqueren in einer sublimierten Regie der Präfigurationen topografisch bestimmt. Das Bildensemble der Golgatha lädt darüber hinaus durch seine Platzierung direkt am Ende dieses Weges der miteinander verschmolzenen Geschichtsebenen zu einer aktiven Betrachtung des letzten Atemzuges des diesseitigen Christus ein. Denn die aus dem Kirchenraum durch diese Türen tretenden Mitglieder des Konvents wurden unmittelbar in die Position von Johannes und Maria versetzt, deren seitlich platzierte Bilder direkt über den Türen hingen und mit denen die Letzteren auch durch ihre Größe parallelisiert wurden. Somit wird der Blick auf den transitus von Christus auf Golgatha vor der endgültigen Erfüllung der Heilsgeschichte zu einer Anregung zum apostolischen, mit compassio gekennzeichneten Beistand kurz vor der Rückkehr in das claustrum.

77 Kozieł 2013, S. 504 – 508; Kozieł 2010, S. 507 – 510; Kloss 1934, S. 136 – 137, vgl. auch S. 172.

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Abb. 54: Michael Willmann, Kreuzigung mit Maria und Johannes, 1702, Leubus, ehem. Zisterzienserkirche Mariä Himmelfahrt, ursprüngliche Situierung über den Portalen zur Sakristei, Archivaufnahme vor 1945 (heute Breslau, Nationalmuseum).

Diese Komposition wurde als letzte in der Reihe der Gemälde geplant und wahrscheinlich von dem Leubuser Abt Ludwig Bauch als Krönung des gesamten Zyklus der christlichen Marter bei Michael Willmann in Auftrag gegeben. Es scheint nicht zufällig zu sein, dass eben diese Bildgruppe nachträglich als Mittel der Verherrlichung des – wie er sich selbst bezeichnete – frommen »Dorfmalers« Willmann genutzt wurde. In der Historia Domestica Lubensis, einer von Gabriel Peschel 1739 verfassten und von Arnold Teichert 1759 neu redigierten Chronik der Abtei, die teilweise Joachim von Sandrarts Eintrag zu Willmanns Lebenslauf in seiner Teutschen Academie zitiert (um den sich Willmann übrigens sehr bemühte), 78 wurde die Entstehung der Kreuzigung mit einer Legende verbunden, die das Ensemble auch in anderer Hinsicht, nämlich mit Blick auf die Rezeptionsgeschichte des Künstlers, zu einem

78 Kozieł 2000, S. 101 – 104, 167 – 176; Kozieł 1999, S. 100 – 106.

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relevanten Moment werden lässt. Das Kreuzigungsbild soll laut dieser Überlieferung Resultat eines Traums von Willmann gewesen sein, wie er während seiner peregrinatio durch die Räumlichkeiten der Leubuser Kirche plötzlich erfahren habe, dass in seinem bereits vollendeten Werk eben dieses Bild noch fehle. 79 Die Anspielung auf das mittelalterliche Prinzip des acheiropoietos im Sinne der in einer Vision offenbarten und nachträglich direkt in das Bildmedium übersetzten Szene ist hier leicht zu erkennen. Dabei wurde gleichzeitig der Anspruch erhoben, den inzwischen kirchlich anerkannten und institutionell gesegneten Künstler als einen neuen hl. Lukas zu präsentieren, dessen Pinsel zum Augenersatz eines Visionärs wird. 80 Willmann erfährt also im Traum den durch sich selbst bebilderten Kirchenraum auf eine performative Art und Weise, in körperlicher Bewegung und in geistiger Emporhebung – eine Rolle für das schauende Subjekt ist damit direkt vorgegeben. Man kann sich fast vorstellen, wie er während seines weltentrückten Spaziergangs die Leubuser Martyrienreihe als sein eigenes Werk heimlich bewundert und gleichzeitig die Wahrheit des Dargestellten als tief berührend empfindet. Ein von dieser Qual des ästhetischen Zwiespalts befreiendes kathartisches Moment kommt erst mit der visionären Erleuchtung, mit einem Traum, der gerade in diesem Traum geträumt wird: Es fehlt die Kreuzigung, der allererste historische Schlüssel zur gemalten Apostelgeschichte! Mit dieser Zuspitzung des ›Image‹ eines frommen, empfindsamen Malers schreibt sich Willmann in das kirchliche Pantheon von Paleottis pictori christiani ein und untermauert mit der visionären Prägung seiner Bildproduktion die diskursive Fiktionalisierung der Geschichte. 81 Vor diesem Hintergrund lässt sich wohl präziser seine Position in der Kunstgeschichte erklären, die ihn zumeist unter dem Begriff eines autonomen und tief religiösen Genies betrachtet. Denn am Anfang seines Marterzyklus stand sicherlich vor allem seine Kooperationsbereitschaft mit dem programmatisch agierenden Freiberger, der die lokale Tradition des Ortes systematisch nutzte, um den antagonistischen Diskurs mitzugestalten, und nicht seine bisher in den kunsthistorischen Studien stets betonte persönliche geistige Wandlung als frommes Subjekt. Der 1663 vom Calvinismus konvertierte Willmann soll angeblich bei seinem expressiven Leubuser Ensemble durch die im Cherubinischen Wandersmann, dem Hauptwerk des schlesischen Barockdichters Angelus Silesius (Johannes Scheff ler), enthaltenen Züge der »Mystik von Licht und Dunkelheit« 82 inspiriert gewesen sein. 83 Die künstlerische Qualität des gesamten Œuvre von Willmann steht zweifellos außer Frage, solch eine ›mystische‹ Interpretation der Leubuser Martyrien folgt jedoch den Schemata, die in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts von den romantisch geprägten, emotionalen Modi der 79 Historia Domestica Lubensis 1759. Vgl. Kozieł 2010, S. 510; Kloss 1934, S. 136 – 137; Klossowski 1902, S. 39. 80 Vgl. Sander 2002, S. 71 – 81, hier: S. 76 – 81. 81 Vgl. Vácha 2014, S. 261 – 267, v. a. S. 261; Koziel 2013, S. S. 32 – 33. 82 Scheff ler 1657; erweiterte Neuausgabe unter dem Titel »Cherubinischer Wandersmann«: Scheff ler 1675. 83 Siehe: Nyga 2002, S. 52 – 56.

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kunstgeschichtlichen Formanalyse gestiftet wurden. Ernst Kloss, Autor einer 1934 verfassten und bis vor kurzem umfangreichsten Monografie Willmanns, schreibt mit Blick auf den Leubuser Marterzyklus: Nicht durch mildes Vertuschen der Schreckensakte, sondern durch eine fast wolllustige Versenkung in die Extreme der Qual soll die Seele zur Zerknirschung gefühlt werden, und Willmann stürzte sich in die Aufgabe mit der ganzen Animalität seines ungezügelten Temperaments. 84 Kein Zweifel: das Thema traf ins Innerste seines religiösen Empfindens, jenes Dranges nach dem aufwühlenden Erleben, zu dessen Befreiung er nach den Niederlanden gegangen war und zu dessen Gestaltung ihm die Wanderjahre so wenig Gelegenheit geboten haben. 85 In eine andere Richtung, jedoch immer noch im Sinne eines in seiner Sensibilität verschlossenen, geistig verletzten beziehungsweise von Gewalterinnerungen gepeinigten Künstlerindividuums, geht 60 Jahre später die Interpretation Hubertus Lossows, der in den Leubuser Martyrien einen Spiegel der eigenen Erfahrungen Willmanns mit extremen Qualszenen sieht: Diese das blutige Geschehen genau beschreibende bis zur letzten Deutlichkeit gesteigerte Darstellung solcher Martyrien mag uns Heutigen übertrieben und schrecklich erscheinen, die Zeit Willmanns jedoch kannte solche Szenen durchaus aus eigener Anschauung. Es wäre daher denkbar, daß Willmann so etwas mit eigenen Augen gesehen hat. 86 Würde man heutzutage Willmann im Kontext seiner gemalten Martyrien immer noch als einen Maler betrachten, dessen Werk vor allem durch die eifrige Frömmigkeit eines engagierten Konvertiten und durch seine persönlichen Erinnerungen an die Grausamkeiten des Dreißigjährigen Krieges in seiner Jugendzeit beeinflusst wurde, hieße dies, auf der verzweifelten Suche nach einem Konnex zwischen Maler und Werk – nach einer ›Wahrheit‹ des historischen Sprechers –, deutlich zu ›psychologisieren‹. Man möchte sagen, dass solche Bildbetrachtungen, die die religiösen Gefühle des Künstlers aufgrund seiner Gemälde zu rekonstruieren vermögen, unreflektiert den Anweisungen der nachtridentinischen Bilderlehre folgen, wie etwa der von Federico Zuccaro, der den künstlerischen Schöpfungsakt wie die Person des kirchlichen Malers selbst vergöttlichte, indem er Talent mit Begnadung gleichsetzte. 87 In diesem Licht genügt es, an die ewigen Diskussionen um Caravaggio, den

84 85 86 87

Kloss 1934, S. 1. Ebd., S. 55. Lossow 1994, S. 55. Vgl. dazu Imorde 2000a, S. 147 – 168, hier: 160 – 168. Siehe auch Baxandall 1990, S. 167 – 170.

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Meister der Grausamkeiten der christlichen Geschichten, zu erinnern. 88 Im Kontext dieser seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts geführten Auseinandersetzungen um die »Legende vom Künstler« als einem psycho- und soziologischen Phänomen 89 bilden sie einen guten Hintergrund dafür, sich erneut kritisch mit der Person Willmanns als einem modellhaft ›frommen Schöpfer‹ auseinanderzusetzen. Die Interpretationsweise der künstlerischen Stellung Willmanns wurde wahrscheinlich durch die wörtliche Lesung einer chronikalischen Notiz verursacht, in der er posthum als »Lubae ex Calvinismo ad Salvificam Fidem conversus, posthac uti in arte sua famosissimus, ita Catholicus fortes in fide Zelosissimus« bezeichnet wurde. 90 Die Aussage dieser Quelle scheint zwar deutlich zu sein, jedoch zwingt schon alleine die markante Reihenfolge der kurzen Ausführungen zur Person des Malers in dieser Notiz zu einer kritischen Quellenlektüre. Ernst Kloss beschreibt – in seiner charakteristischen entwicklungsgeschichtlichen Art und Weise – einen Wandel in Willmanns Stilistik als einen Übergang von einer realistischen Sachlichkeit zur malerischen Verhüllung des Objekts hinter dem Abstraktum der Farbe: Alles, was pralle Substanz und organische Funktion ist, tritt zurück hinter den Schleier der Farbe, die sich weich und flüssig von den Körpern hebt, ihre Energien nur als zuckende Regung spiegelt und über ein ganzes Bild zu einem auf- und niedergehenden Fluidum zusammenströmt. 91 Diese im Kontrast mit der thematischen Konstante der christlichen Folter leicht definierbaren Ausdrucks- und Stilunterschiede zwischen den einzelnen, zeitlich voneinander entfernten Werken des gesamten Marterzyklus, von denen der Maler einige bereits vor seiner Konversion (1663) gefertigt hat, werfen, angesichts der von den Auftraggebern bevorzugten Formate und des allgemeinen Tenors der bildlichen Überzeugungspraxis dieser Zeit, die Frage nach der politischen beziehungsweise konfessionellen Flexibilität des Malers auf. 92 Und obwohl es bereits Versuche gab, das von Dagobert Frey etablierte national-mythologisierende Paradigma des »schlesischen Schwarmgeistes« in der Kunst, in dem die ›mystische‹ Prägung schließlich aus einer Konstante des »nordischen Geistes« resultierte, zu überwinden, 88 Siehe in diesem Kontext die klassische Abhandlung: Friedländer 1955, S. 117 – 130 (Kap. »Caravaggio’s character and religion«), wie auch die Kommentare: Brabant 2017, S. 221 – 226; Puttfarken 2007, S. 183 – 195; Morel 2005, S. 70 – 75; Levy 2004, S. 64 – 65; Wilkens 1999; Varriano 1999a, S. 191 – 207; Varriano 1999b, S. 317 – 332; Brehm 1992, insbes. S. 231 – 237; wie auch darüber hinaus: Imorde 2000a, S. 160 – 168. Vgl. Büttner 2018, S. 99 – 109). 89 Kris / Kurz 1995, v. a. S. 37 – 86. 90 Historia Domestica Lubensis 1759, S. 102. 91 Kloss 1934, S. 131 – 132. Steinborn schreibt in diesem Kontext über die Vielfalt der modi: Steinborn 1994, S. 9 – 30, hier: S. 20. 92 Zu Strukturen und gesellschaftlichen Mechanismen des barocken Mäzenatentums siehe in diesem Kontext v. a.: Haskell 1996, v. a. S. 17 – 39. Vgl. auch die Marktverhältnisse als Faktoren der Bildproduktion, die von Michael Baxandall in seinem Interpretationsmodell des »skeptischen Intentionalismus« betont wurden: Baxandall 1990, hier: S. 118, 164.

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funktionieren die Werke Willmanns für die schlesische Kunstgeschichte immer noch als Elemente eines selbstständigen und hermetischen Kulturkreises. 93 Durch die Annahme solch eines dichten Mikrokosmos, der durch eine natürliche, angeborene Selbstreferenzialität der lokalen Genies und eine formale Autonomie ihrer Auftraggeber gekennzeichnet ist – eines Mikrokosmos, der nur auf den rekonstruierenden Historiker wartet –, bildet sich in der Forschung eine bestimmte Interpretationslogik, die den Werken des Künstlers zu wenig Raum gibt, um – abgesehen von seiner europäischen Bildungsreise und seiner breiten stilistischen Wirkung – in einem wirklich europäischen oder gar globalen Kontext als Teil einer diskursiven Praxis betrachtet werden zu können. Diese Tatsache hat bislang auch eine Interpretation der hervorragenden Leubuser Werke von Willmann hinsichtlich der Normen der Kunst im Narrativ der kämpfenden römischen Kirche verhindert. Allein anhand des oben analysierten Verhältnisses zwischen dem Maler und dem Abt als Auftraggeber lässt sich jedoch zeigen, dass für Willmann das Diktat der autoritären kirchlichen Propaganda auch eine motorische Kraft darstellte, die gar die Tätigkeit anderer berühmter europäischer Künstler beeinflusste, die ihre Manier und ihre schöpferische Leistung mit konkreten Normvorgaben der Kunst verbinden mussten oder wollten. Die Kunst war in diesem Zeitraum längst zu einem politischen Werkzeug der historischen Selbstrepräsentation einer nach ihren eigenen Wurzeln suchenden und damit ihre Macht sichernden Glaubensinstitution geworden. 94

Exkurs Die systematische Selbstvermarktung des Künstlers, der sein Profil innerhalb des Machtdiskurses der nachtridentinischen Kirche entwickelt, kann in diesem Kontext anhand der Geschichte des Pietro Berrettini da Cortona exemplarisch illustriert werden. Er hatte seit 1634 das ehrenvolle Amt des Principe der römischen Accademia di San Luca inne. Die als modellhaft zu beschreibende Geschichte seines Aufstiegs zum gefragten Maler im pontifikalen Milieu wirft ein interessantes Licht auf die Karrierewege der späteren Künstler, die sich wie Willmann im Zeitalter der konfessionellen Krise ihre Positionen erarbeiteten und somit die Überzeugungspraxis der Kirchenmacht in Form der Kunst grundierten. Mit dem Beispiel Cortonas lässt sich zugleich eine weitere Bedeutungsschicht des auf Idolensturz fokussierten frühneuzeitlichen Bilddiskurses verfolgen. Die Tatsache, dass er um ca. 1650 das Thema der frühchristlichen Märtyrerin Martina, die sich dem Kult der Idole widersetzt, in mehreren 93 Frey 1938, S. 12 – 45. Siehe dazu kritisch Kozieł 2006, passim; dort ebenfalls die Besprechung der neueren Literatur zur ›mystischen‹ Prägung Willmanns. 94 Über die gegenreformatorischen Voraussetzungen Willmanns siehe die kurze Erwähnung von Swoboda 1943, S. 9; vgl. auch S. 5; wie auch eine Analyse der lokalen Verhältnisse: Kozieł 2000c, S. 549 – 555. Eine generelle Analyse der Rolle Willmanns im System der Gegenreformation anhand seiner Grüssauer Josephsfresken: Grimkowski 2005, S. 46 – 54 (dabei ein kurz gefasster Vorschlag der Verbindung der Leubuser Martyrien mit der römischen Bildpropaganda: S. 50); vgl. Kozieł 2000a, S. 141 – 153.

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Abb. 55: Pietro da Cortona, Hl. Martina widersetzt sich dem Kult der Idole, um 1655 – 1656, Öl auf Leinwand, Florenz, Palazzo Pitti, Galleria Palatina e Appartamenti Reali.

Versionen gemalt hat (Abb. 55), lässt einen bestimmten Faden in seinem Œuvre erkennen, der ihn als kirchlichen Künstler etablieren sollte. 95 In der römischen Kirche S. Martina, die laut mittelalterlicher Tradition an der Stelle eines Marstempels gestiftet wurde, ließ sich auch Cortona begraben, nachdem er in diesem 1588 zur Kirche der Accademia erhobenen und später von ihm selbst gründlich umgestalteten Bauwerk 1634 eigenhändig die Reliquien dieser Märtyrerin gefunden haben soll. Der Name der mysteriösen Heiligen könnte mit einer mittelalterlichen Tradition eines angeblichen Forum Martis mit einem dem Mars Ultor geweihten Tempel im Zusammenhang stehen. Dieser onomatologische Bezug, der als einziger ursprünglicher ›Nachweis‹ für die Existenz der frühchristlichen Märtyrerin dienen musste, war Auslöser einer der interessantesten künstlerischen Fiktionalisierungen und Aktualisierungen der Geschichte im 17. Jahrhundert. Die frühneuzeitliche Tradition der hl. Martina wurde unter anderem anhand einer sich in der Kirche vor ihrem Umbau befindenden Inschrifttafel aufgebaut: »Martyrii gestans Virgo

95 Merz 2003 (2004), S. 84 – 104. Die Heilige soll sich je nach Überlieferung gegen das Idol von Mars, Apollon, Diana oder Jupiter gewendet haben.

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Martina coronam / erecto hinc Martis numine, Templa tenet«. 96 Dieses alte Bauwerk, auf dem im 15. Jahrhundert immer noch antike (?) militärische Symbole samt eines Motivs des vexillifer labarum zu sehen waren, wurde mit der monumentalen Liegefigur des sogenannten Marforio, eines Flussgottes, in Verbindung gebracht, dessen Fama als angebliches Idol des altrömischen Kriegsgottes Mars auf dem Forum Martis bereits zur damaligen Zeit durch literarische Quellen verbreitet wurde. 97 Die Wiederauf findung des corpus der Martina als erfolgreiche Gegnerin des Mars spiegelte dementsprechend die Bedürfnisse wider, die bereits in der früheren Geschichtsschreibung signalisiert worden waren. Das Fehlen eines historisch bewiesenen Heiligenkörpers im kirchlichen Repertoire der an diesem Ort aufgefundenen Relikte antiker Kulte war sicherlich eine Leerstelle. Um diese zu füllen, reichte jedoch im 17. Jahrhundert nicht mehr lediglich ein Akt der tatsächlichen archäologischen Enthüllung im Stil des Kardinals Paolo Sfondrato aus, der um 1600 für den neu entdeckten Leichnam der Märtyrerin Cäcilie ihre confessio-Anlage als eine archäologische Bühne in Trastevere kreierte. 98 Vielmehr war dafür eine mediale Kampagne nötig, die durch einen rhetorischen und visuellen Impetus das Ereignis der ›Entdeckung‹ zuerst zu ent-gegenwärtigen und dann sofort in die institutionalisierten res gestae zurückzuprojizieren vermochte. Der Fund muss in der Zeit nicht nur zelebriert und verewigt werden, er muss ebenfalls eine Vorgeschichte haben, die seine Relevanz für die kirchliche Mission zukunftsorientiert festigt. In der Martina-Kampagne wird vor allem eine medienorientierte, politische Ausbalancierung zwischen der chronikalisch rezipierbaren Vergangenheit und der dinglich erfahrbaren Gegenwart geschaffen; Erstere wird durch archäologische Funde in eine Aktualität umgewälzt, Letztere mithilfe eines Bildes demonstriert. Somit erscheint die Gegenwart selbst als eine bereits mit der historischen Aura der institutionellen Autorität gesegnete und direkt erfahrbare Wirklichkeit. Hinter dieser Konstruktion der Geschichte steht in diesem Fall die Instanz des Künstlers, der den ihm gegebenen Rahmen planmäßig zu sprengen und die Kunst zum höchsten Träger der historischen Aktualisierung zu erheben versucht. Die barocke Tradition präsentierte Cortona – spiritus movens hinter der medialen Wiedergeburt der Martina als vermeintliche Verweigerin vor dem ›heidnischen‹ Idolenaltar – als einen großen Verehrer dieser Heiligen, und entsprechend wurde auch sein posthumes Bild konstruiert: Er erscheint dem nachtridentinischen Kanon gemäß als ein gesegneter, frommer Künstler im kirchlichen Milieu. Die Inschrift auf seiner Grabplatte (Abb. 56), zentral platziert

96 Die Inschrift wird zitiert in: Pancirolli 1600, S. 427; Martinelli 1644, S. 197; später u. a. von Parker 1876, S. 18. Siehe auch Noehles 1969, S. 41. Vgl. zur martyrologischen Andeutungen und der Inschrift »S. VIRG. / ET MARTYRI / MARTINAE / VRBANVS VIII. / P. Max.« auf der neuen Fassade von 1638 u. a.: Teuscher 2011, S. 117 – 118, 129. Vgl. Cardulo 1588, S. 45 – 46. 97 Siehe dazu La Monica 2010, S. 130, Anm. 5: »Nanti Sancta Martina, templum Martis, là dove iace lo suo ydolo. Ad lato ad esso templum Fatale, sie ène Sancta Martina«. Dort auch einige andere Quellen zu den Ursprüngen der Martina-Kirche auf dem vermeintlichen Forum Martis. 98 Zu Stefano Madernos Figur der Cäcilie siehe: Kämpf 2014, passim; Economopoulos 2013, S. 161 – 249; Kämpf 2004, S. 98 – 141. Vgl. van Gastel 2014b, S. 244 – 246; Krüger 2001, S. 197 – 200.

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Abb. 56: Grabplatte von Pietro Berettini da Cortona, 1659, Rom, SS. Luca e Martina, Hauptschiff.

im Hauptschiff der Kirche, genau auf der Achse zwischen dem Hochaltar und dem Eingang, verwandelt den Künstler in einen frommen Stifter und verkündet sein Engagement: [. . . ] charissimo divae Martinae cultori eximio cuius sacris cineribus asservandis sepulcrum suis impensis magnificentissime extruxit eiusq cultui opes suas omnes templo affabre delineato tabulis supremis addixit [. . . ]. Darüber hinaus informiert eine mit seiner Büste versehene Tafel in einem Nebenraum der Krypta der Märtyrerin unter dem Altar, die im Modus der mittelalterlichen confessio-Anlagen gestaltet wurde, über seine Stellung zu Martina. Die Tafel zitiert die testamentarische

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Abb. 57: Gedenktafel von Pietro Berettini da Cortona, 1659, Rom, SS. Luca e Martina, Krypta.

Verfügung des Künstlers zugunsten der jährlichen Anniversarien der Martina (Abb. 57). 99 Die Authentizität der aufgefundenen Reliquien dieser Heiligen wurde durch die im 20. Jahrhundert entdeckte und wahrscheinlich durch Cortona selbst präparierte beziehungsweise gekaufte Fälschung ihrer paläochristlichen Epigrafen (Abb. 58) in Frage gestellt. 100 Historische Tatsache bleibt jedoch, dass gerade die angeblichen ›Partikel‹ dieser Heiligen nicht nur den nachtridentinischen Pantheon der alt-neuen Heiligen vergrößerten, sondern auch zu einem starken Argument für die erfolgreiche Einwerbung der päpstlichen Finanzmittel für

99 Siehe dazu Noehles 1969, S. 97 – 99, 110 – 113. Vgl. Merz 1998, S. 240 (über das Schicksal der Memoria Berrettinis in der Kirche, die – von der Accademia eher ungewollt – schließlich auf Veranlassung des Papstes vervollständigt wurde). 100 Siehe Sparti 1998, S. 243 – 255, wie auch Merz 2008, S. 60 – 61, 294 (Anm. 33); Merz 1998, S. 233 – 234; Noehles 1969, S. 97 – 99. Vgl. zur gängigen Fälschungspraxis in der christlichen Archäologie: Sgarlata 2009, S. 57 – 60.

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Abb. 58: Pietro Berettini da Cortona, Epigrafen der hl. Martina, um 1634, in: Marsilio Honorato, Historia di Santa Martina Vergine, 1634.

den Neubau der vernachlässigten Akademie-Kirche wurden. Das Werk des ›frommen Künstlers‹ stellte also genauso ein visuelles Instrument des Machtdiskurses der triumphierenden ecclesia dar, wie der Künstler selbst von diesem ›Image‹, das ihm verschiedene Türen öffnete, profitierte. Es steht zu vermuten, dass es sich bei dieser markanten Inversion – einer Umwandlung der angeblich auf einem Marstempel gestifteten Kirche S. Martina in die Künstlerkirche SS. Luca e Martina – nicht um einen Zufall handelte. Zwar galt die Umbenennung als Ersatz für die alte, abzureißende Kapelle der Accademia bei der Basilika S. Maria Maggiore, die Wahl des neuen Ortes wie auch die mediale Fusion der beiden heiligen Patronen zogen jedoch weitere gravierende Konsequenzen nach sich. Denn gerade das zum politisierten Prinzip gewordene frühchristliche Lebensopfer einer Heiligen für Gott und gegen den Kult der Idole ermöglichte mit seiner kathartischen Kraft eine Umorientierung und Klarstellung der ewigen Bilderfrage und schuf zugleich eine neue Definition des Künstlers als einem für die Mythologisierung der historischen Ereignisse beauftragten beziehungsweise sich selbst damit so positionierenden Spieler auf dem Künstlermarkt. 101 Bezeichnend ist jedenfalls die aussagekräftige Inszenierung, die mit dem 1635 von Cortona entworfenen Hochaltar der Kirche SS. Luca e Martina vorgenommen wurde (Abb. 59). 102 Das aus der alten Vorgängerkirche der Martina als deren einziges Relikt stammende, gemäß der Tradition jahrelang Raffael als Idealkünstler zugeschriebene und in einer archaisierenden Manier wahrscheinlich durch Federico Zuccaro oder einen seiner Schüler 1593 gemalte Bild des die Madonna malenden Evangelisten Lukas wurde genau über der skulptierten Darstellung des wiederaufgefundenen Leichnams der Martina von Niccolò Menghini von 1635 – 1640 platziert (Abb. 60). 103 Ein Bildmotiv, das seit dem Mittelalter zu höchster Allegorisierung der zweidimensionalen Bildmedien provozierte, wurde als Kommentar zum dreidimensionalen Bild einer enigmatischen, wenn nicht gar fiktiven Märtyrerin verwendet, deren Leistung lediglich im Widerstand gegen die falschen 101 Interessant sind in diesem Licht der Selbstvermarktung auch die protestantischen Aufträge des katholischen Konvertiten Willmann: vgl. dazu Kozieł 2000b, S. 339 – 349. 102 Der Altar wurde zwischen 1674 und 1678 auseinander- und wieder zusammengebaut; siehe Merz 2008, S. 74. 103 Zu Menghinis Skulptur: Noehles 1969, S. 101. Vgl. van Gastel 2014b, S. 246 – 249.

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Abb. 59: Federico Zuccaro (Schule), Hl. Lukas malt die Madonna, 1593, und Niccolò Menghini, Hl. Martina, 1635 – 1640, Rom, SS. Luca e Martina, Hochaltar (Entwurf: Pietro da Cortona, 1635).

gemeißelten Körper der ›heidnischen‹ simulacra bestanden haben soll. 104 Es ist demgemäß auch die Kunst der Malerei, die hier mit ihrer spezifischen incarnazione in die Überzeugungsmaschinerie miteinbezogen wurde und somit ein neues Licht auf die Frage der Körperlichkeit und Lebendigkeit der Bilder zu werfen vermochte. Es ist die anerkannte Kunst des ›frommen Malens‹ nach dem Vorbild des ersten ikonischen Porträtisten Marias, eine rein vermittelnde, gar neoplatonische Aktivität, welche die Animierung des gemarterten Körpers der Martina in Form einer kunstvollen skulpturalen Inszenierung legitimiert: Die dritte Dimension wird erst durch die argumentative Kraft einer visionären Projektion auf die Leinwand als entwaff-

104 Vgl. Wa´zbi´nski 1985, S. 27 – 37. Im gleichen Jahr 1640 hat Menghini das Quarant’ore für die römischen Jesuiten gefertigt, siehe Kap. 1, Anm. 209.

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Abb. 60: Niccolò Menghini, Hl. Martina, 1635 – 1640, Marmor, Rom, SS. Luca e Martina, Hochaltar.

nender Kommentar beziehungsweise mediale Unterdrückung gerechtfertigt. 105 Es ist also die von der Materie abstrahierende Kunst des Malens, so wie sie in ihren allerersten Ursprüngen in den Wandmalereien der römischen Katakomben entdeckt wurde und als reine Urform des christlichen Abbildens erneut zu Bilddiskursen geführt hat. Pietro da Cortona war selbst an der groß angelegten archäologischen Bearbeitung dieser als Kontrollinstrument eingesetzten ersten christlichen ›Ikonologie‹ beteiligt, und zwar nicht nur im Fall der von ihm selbst aufgefundenen beziehungsweise erfundenen Martina, sondern auch bei der Edition von Bosios Roma Sotterranea, für die er 1632, zwei Jahre bevor der Körper der Märtyrerin ›aufgefunden‹ wurde, ein Frontispiz in Form eines historischen Triumphbogens des Christentums vorbereitete. 106 In diesem Kontext kann die in SS. Luca e Martina manifestierte rhetorische Rückkehr zur allerersten Malerei, die als Speicherkunst der direkten Vision vorgestellt wird, als eine propagandistisch historisierende Taktik der Entmündung des Bildes angesehen werden. 107 Die einseitig verlaufende Korrespondenz der Medien in diesem Altar geht jedoch weiter und belichtet erneut die ewige Frage nach dem Status der Idole. Die in der Altarnische 105 Im ursprünglichen Projekt von 1635 wurde die Skulptur sogar durch die Malerei ›erdrückt‹, indem das Gemälde des die Madonna malenden Lukas mit seiner vertikalen Rahmung einen Triumph manifestierte – direkt über der unten liegenden Figur der Martina. Zu dieser Phase siehe Noehles 1969, S. 101 – 102. Zur systematischen Verbindung der Idolatrie mit der Bildgattung der Skulptur vgl. Weinshenker 2005, S. 485 – 507. 106 Merz 2003, S. 229 – 244. Weiter zu den Interessen da Cortonas an den antiken Artefakten: Fusconi 1997, S. 60 – 73; Merz 1991, S. 35 – 41. 107 Die Platzierung des Bildes, welches das letzte Relikt der alten S.-Luca-Kirche bildete, im Hochaltar der neuen Kirche kann man auch als politische Geste in Richtung der Accademia verstehen.

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liegende tote Heilige präsentiert selbst ihren abgetrennten Kopf direkt vor den Augen der Betrachter. Sie veranschaulicht dadurch die Ambivalenz von sich selbst als Skulptur: Ihre Aussage ist schließlich auf das Hinweisen auf den Tod der Dargestellten beschränkt, und doch wird das Medium zu diesem Zweck durch eine animierte Selbstreferenz ausgezeichnet. Diese Geste, mit der die Martina sich selbst als toten Körper vorstellt, könnte also als ein Akt des Autoikonoklasmus bezeichnet werden, indem die Trennung zwischen Kopf und Körper die rohe, unbearbeitete Materie des Steins sichtbar macht (Taf. 21). Damit findet eine programmatische Enthüllung der natürlichen, inneren, unbearbeiteten Materie der Skulptur statt. Worauf hingewiesen wird ist also die Zerbrechlichkeit des Bildmediums, der Tod des materiellen Bildes. Wichtig ist dabei, dass die Skulptur ihre Fragmentarität innerhalb des Rituals demonstriert, auf einem Altar, mit einem direkten Verweis auf den reliquienartigen Charakter des toten caput, das durch den immer noch – oder ewig – agierenden corpus der Märtyrerin in eine Schale gelegt wird. Somit soll sich die Skulptur definitiv durch die Macht dieses institutionellen Rahmens, trotz formalen Selbstbezugs, allen eventuellen Vorwürfen der idolatrischen Verlebendigung entziehen. Die mediale Verbindung von Menghinis Altarfigur mit dem ursprünglichen goldenen Reliquiar der hl. Martina, das 1861 nach dem Entwurf Cortonas in vergoldeter Bronze und Silber erneut gefertigt und weitgehend ergänzt wurde (Taf. 22), 108 scheint diese gezielt auf der Differenz der Bildmedien aufgebaute Dimension der Präsenz der Idolenbekämpferin im Altar zu bestätigen. Die testa d’argento des Reliquiars macht einen unmöglichen Blick möglich: den Blick in den durchgeschnittenen Hals der Heiligen. In diesem Hals wurde ein kreisförmiges Repositorium platziert, durch dessen Scheibe die Reliquien des verehrten Schädels zu sehen sind. Cortona, der selbst seine anatomischen Interessen in Form eines Traktats für Maler veröffentlicht hatte, 109 wählt damit ein Evidenzverfahren, das der Autopsie, der Untersuchung eines Leichnams, ähnelt: Der leblose Kopf erweist sich zum einen ausdrücklich als ein Objekt, in dessen Inneres geschaut werden kann, zum anderen dient er lediglich als bildliche Hülle für die formlosen, aber ›echten‹ Partikel. Dies ist zwar eine mediale Grundlage für die ganze Reliquiarkultur: Wäre die fenestella traditionellerweise in der oberen Partie des als stehend konzipierten Kopfes angebracht worden, wäre dies lediglich eine Wiederholung der mittelalterlichen Kopfreliquiarmodi gewesen. Die programmatische Vergegenständlichung des Kopfes durch seine horizontale Stellung animiert jedoch die Martergeschichte selbst, indem statt an eine Wiederbelebung der Präsenz eher direkt an den Vorgang der Enthauptung der Märtyrerin und an die Autonomie des Kopfes als historisches Objekt und Träger von Spuren erinnert wird. Der unmögliche Blick in das Innere des toten, aber inhaltsreichen heiligen Kopfes wurde zudem nur einmal im Jahr auf performative Art und Weise dem Betrachter preisgegeben – während einer Prozession am 30. Juni, dem Festtag der Martina, die von dem Conservatorio di Santa Eufemia zur Kirche SS. Luca e Martina 108 Lo Bianco 1997, S. 450 – 451 (Kat.-Nr. 102). 109 Duhme 1980.

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Abb. 61: Spadarino, Hl. Valerie von Limoges bringt ihren Kopf zu hl. Martialis, 1629 – 1632, Öl auf Leinwand, Vatikan, Petersbasilika, Fabbrica di S. Pietro.

führte. 110 Mit diesem festlichen Umzug ereignete sich die symbolische coniunctio des zwar durch seinen Inhalt als ›wahr‹ zu betrachtenden, aber fragmentarischen und entstellten Reliquiarbildes – mitsamt seiner großformatigen, ganzfigurigen und dennoch in ihrer Aussagekraft paradoxen marmornen Extension im Altar, womit diese Extension eben von jeglichen Funktionen eines Idols befreit war. Die fenestella des Reliquiars macht, sozusagen, den rohen Stein in der Halsöffnung der Skulptur umso sichtbarer. 111 In diesem Kontext der semantischen Freisprechung der Bildwerke von der apriorischen Anklage wegen Idolatrie durch ein anerkanntes Ritual drängen sich einige Vergleichsbeispiele aus dem Bereich der Hagiografie als mimetisches Vorbild auf: unter anderem die Bemühungen der frühchristlichen Märtyrerin Valerie von Limoges, die selbst ihren Kopf als Reliquie am Altar zu verorten versuchte. Laut Legende war sie eine durch Martialis, den 110 Lo Bianco 1997, S. 450 (Kat.-Nr. 102). 111 Cortona hatte ursprünglich bereits 1636 geplant, das Kopfbild der Martina als Reliquiar für die angeblichen Reste des Schädels der Heiligen in einem sargähnlichen Altaraufsatz in der Krypta zu platzieren; ein Entwurf, der nie realisiert wurde; siehe: Merz 2008, S. 60 – 61; Merz 1998, S. 236. Vgl. Noehles 1969, S. 100.

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Abb. 62: Pietro da Cortona, Papst Urban VIII. vor dem Hochaltar in SS. Luca e Martina, 1635, Zeichnung, Ascoli Piceno, Museo Civico.

ersten Bischof von Limoges, im 3. Jahrhundert getaufte Jungfrau, die einen Römer nicht heiraten wollte und daraufhin getötet wurde. Anders als bei den meisten Cephalophoren wie Dionysius von Paris oder Aphrodisius von Alexandria, die ihre Köpfe als Attribute in den Händen halten, hat Valeries verstümmelter Körper einen außerordentlich starken Drang zur Selbst-Vervollständigung am Ort des christlichen Altars gezeigt: Nach der Enthauptung soll ihr Körper das Haupt eigenhändig zu Martialis, der gerade eine Messe las, zurückgebracht haben, damit die Fragmentierung vor Ort und während des Offiziums zurückgenommen werden konnte. Die Szene der Begegnung am Altar hat Spadarino in einem seiner Gemälde von 1629 bis 1632 auf eindrucksvolle Art dargestellt (Abb. 61). 112 Eine interessante Zeichnung von Cortona aus dem Jahr 1635, die heute im Museum in Ascoli Piceno aufbewahrt wird, macht darüber hinaus deutlich, inwieweit in dieser als eine hagiografische Rekonstruktion geplanten memorialen Anlage der Martina die Anerkennung des wichtigsten Betrachters – der pontifikalen Autorität – im Voraus bereits einkalkuliert wurde (Abb. 62). 113 Sie zeigt Papst Urban VIII. samt Kardinal Francesco Barberini und anderen kirchlichen Würdenträgern kniend im Gebet vor dem bereits fertigen Altar der Martina. Die Figur der Märtyrerin liegt hier nicht wie heute in der Nische, sondern direkt

112 Papi 2003, S. 143 – 145. 113 Noehles 1997, S. 135 – 137.

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auf der Mensa, vor dem Altaraufsatz, belichtet von mehreren dabei aufgestellten Kerzen. Diese Darstellung kann man entweder als einen nicht realisierten Entwurf 114 oder eventuell als eine Art Dokumentation des ursprünglichen Zustands des Altarwerks vor seinem Umbau deuten, möglicherweise für eine Tapisserie. In beiden Fällen schafft die Präsenz des Papstes eine Grundlage für die Anerkennung der gesamten Wiederherstellungsinitiative der Kirche – unter dem Zeichen der frühchristlichen Idolenbekämpferin. Der päpstliche Betrachter wurde von Cortona in eine zeichnerische Vision des von ihm vollkommen neu gestalteten Raumes projiziert, der sich wie ein modernes Pendant zum neuen Bau von S. Pietro auf antike Wurzeln stützt. 115 Der Papst als Patron der Bauinitiative wird zum wichtigsten Adressaten dieser Inszenierung: Die Martina besiegelt mit der medialen Präsenz ihres eigenen ›archäologischen‹ Körpers – ihrer Leidensgenossin Cäcilie von Trastevere ähnlich – die triumphalen Züge der christlichen Leidensgeschichte, und zwar direkt vor Ort. 116 Ist diese Zeichnung als Entwurf zu betrachten, dann zeigt sie mit ihrer belebenden Staffage der betenden Würdenträger deutlich, inwieweit die Anerkennung vonseiten des Kirchenoberhauptes eine conditio sine qua non für die Strategie der Selbstpositionierung als ›frommer Künstler‹ darstellte. Wie Georg Martin Merz konkludiert, kann diese Zeichnung kurz als »an appeal to the Pope not to forget poor Martina« betrachtet werden 117 – eine Aussage, die im Kontext dieser groß angelegten Kampagne eher als ironisch verstanden werden müsste. Dabei steht der Name der Heiligen vor allem als Logo der gesamten Wiederaufbauinitiative. In diesem Sinne würde es sich bei dieser Skizze um eine von Cortona rein geschäftsmäßig entworfene Vorausprojektion eines für prominent erklärten Ereignisses handeln: Die Szene suggeriert eine symbolische zweite ›Grablegung‹ der Heiligen in dem als liturgisches Grab fungierenden Altar. Die Präsenz des Papstes bei diesem außerordentlichen, rituell-archäologischen Vorgang lässt unausweichlich eine Anspielung auf die historische Präzedenz solch einer privilegierten Teilnahme erkennen: die von Antonio Bosio ausführlich beschriebenen Feierlichkeiten am Grabe der Cäcilie in praesentia des Kardinals Paolo Sfondrato, die ca. 30 Jahre früher stattgefunden hatten. 118 Eine nachträgliche Krönung des auf die normierte Macht der Bilder und die normkonforme Position des Künstlers fokussierten Bildprogramms der SS. Luca e Martina erfolgte 1681 mit der Stiftung der Lazaruskapelle. 119 Dieser Raum wurde dem konstantinopolitanischen, aus dem Kaukasus stammenden Lazarus Monachus als Patron der frommen Künstler 114 So Noehles 1969, S. 101 – 102. 115 Ebd., S. 152 – 160. 116 Zu der medialen Dimension der imitatio der Skulpturen früherer Märtyrerinnen wie Cäcilie von Maderno oder Bibbiana: Merz 1997, S. 64; Prosperi Valenti Rodinò 1997, S. 77. Wenig später, im Jahr 1646, konzipierte Cortona den Schrein für den tatsächlichen Körper der Margherita da Cortona, der mit einem Gitter anstatt einer vorderen Wand eigentlich einen Schaukasten bildet und in seiner Medialität der offenen Nische der der Martina ähnelt; siehe Merz 2008, S. 94 – 95. 117 Merz 1998, S. 237. 118 Siehe Kap. 3, Anm. 100. Vgl. Kapustka 2012, S. 256 – 259. 119 Noehles 1969, S. 114, 359 – 360.

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Götzen, Gräber und Auftraggeber

Abb. 63: Lazzaro Baldi, Martyrium des hl. Lazarus Monachus, 1681, Öl auf Leinwand, Rom, SS. Luca e Martina, Capella S. Lazzaro.

gewidmet. Lazarus als Ur- beziehungsweise Modellkünstler wird in der katholischen Historiografie selbst zu einem Märtyrer erklärt, der seine Kunst trotz aller Verfolgungen fortsetzt. So wird er von seinem in der Martina-Kirche tätigen Biografen und Namensvetter, Cortonas Schüler Lazzaro Baldi beschrieben, 120 der den Maler-Märtyrer dazu in einem sich bis heute in der Kapelle befindlichen Gemälde darstellte (Abb. 63) und – Cortonas Beispiel folgend – sich in der Kirche beisetzen ließ. 121 Nicht unbedeutend ist dabei, dass der Lazarus bereits vor dieser Kampagne in Baronios Annales als eine hervorgehobene Vorzeigefigur des Widerstands inmitten der Geschichte des byzantinischen Ikonoklasmus platziert wurde. 122 Der sich gegen christliche Bilder genauso wie gegen christliche Maler wendende byzantinische Kaiser Theophil bereitet dem Lazarus extreme Torturen, nachdem dieser sich gegen die Bilderzerstörung ausgesprochen hat. Verfolgt und gefoltert, erlebt der byzantinische christianus

120 Baldi 1681. 121 Noehles 1969, S. 114. 122 Baronio 1588 – 1609, Bd. IX (1600), S. 799.

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pictor eine schmähende Qual: Ihm wird die rechte Hand, das Werkzeug seiner gesegneten Übertragungskunst, durch die Henker mit eisernen Stäben bis zu den Knochen durchbohrt und deformiert. 123 Lazarus, diese Qual mit der Ruhe eines Märtyrers erduldend, wird später geheilt und greift unter dem neuen Kaiser Michael III. sein Handwerk wieder auf, malt zuerst ein Bildnis Johannes des Täufers, dann ein Christusporträt, das zur Verehrung auf einer Säule ausgestellt wird, wird zum kaiserlichen Gesandten an den Papst ernannt und beendet schließlich sein Leben in Frieden im Jahr 870 – nach dem Ende der ikonoklastischen Welle. So wird der Maler auch in der erhaltenen Stiftungsinschrift der Kapelle als Patron der Künstler-Märtyrer und frommer Widerstandskämpfer im ikonoklastischen Kaiserreich bezeichnet: D.O.M. / IN HONOREM INCLYTI MARTYRIS / SANCTI LAZARI MONA CHI / CELEBRIS PICTORIS / QUI SUB THEOPHILO IMPERATORE / SACRA RUM IMAGINUM EARUMQUE PICTORUM / ACERRIMO PERSECUTORE / QUOD SACRAS IMAGINES PINGERET / DIRIS SUPPLICIIS EX CRUCI ATUS / MANIBUS CANDENTI FERRO EXUSTIS / SED DEI VIRTUTE SANATIS / AD PINGENDAS SANCTI IOHANNIS BAPTISTAE / ALIO RUM QUE SANCTORUM SACRAS IMAGINES / AD FELICEM USQUE MORTEM SANCTE USUS / IN DOMINO OBIIT / FESTUM EIUSDEM SANCTI PICTORIS / DIE VIEGESIMA TERTIA FEBRUARII CELEBRATUR / SACELLUM HOC IN EIUS HONOREM POSUIT / LAZARUS BALDUS / PISTORIENSIS PICTOR / ANNO DOMINI MDC. LXXXI 124 In diesem Sinne wird die Inszenierung des Altars und des ganzen memorialen Raumes in SS. Luca e Martina zu einem architektonisch-künstlerischen Traktat über die neue anerkannte Bildlichkeit als Mittel der Selbstkontrolle, die sich, trotz medialer Unterschiede, aufgrund ihrer anti-idolatrischen Züge in allen Künsten manifestieren kann und zum Ruhm des christianus pictor als »cooperatore di Dio alla saluezza dell’anime« beiträgt. 125 Ein Schlüsselmoment bei der Bewahrung dieser Balance bleibt schließlich trotz aller offiziellen Sicherungsmaßnahmen die geistige Konstitution des Künstlers, der durch sein Bewusstsein, seine Autorität, Position und nicht zuletzt durch seine Fähigkeit, die Geschichte in Bilder umzusetzen, der Idolatrie von sich aus keine Chance geben sollte. Verglichen mit der Situation Tommaso Lauretis in der vatikanischen Sala di Costantino, der die verführende 123 Die Verwundung und Verformung der Hand eines christlichen Künstlers als Märtyrer lässt sich als ein konstanter Topos betrachten: Paleotti, kurz bevor er die Geschichte des Lazarus Monachus erzählt, zitiert eine Geschichte, in der ein junger Maler, ebenfalls in Konstantinopel, nachdem er ein auf einer Wand gemaltes Bildnis von Venus vernichtet hatte, um selbst Heiligenbilder darauf zu malen, von einem Dämon angegriffen worden sei, welcher das ›heidnische‹ Bild schützte und die Hand des »giovane esperto nella pittura« schwer verwundete: Paleotti 2002, VIII, 4; vgl. 7. 124 Merz 1998, S. 239; Noehles 1969, S. 369. 125 Ottonelli / da Cortona 1652, S. 68.

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Abb. 64: Pietro Berettini da Cortona, Konstantin der Große ersetzt ein Idol durch eine Christusfigur, 1636, Entwurf für eine Tapisserie, Rom, Galleria Nazionale dell’Arte Antica.

Ikonizität des Idols durch die schlichte Zeichenhaftigkeit des Kruzifixes austauschte, um die ›Götzen‹ zu verbannen, signalisiert Cortona einen weitergehenden Aspekt des Kampfes gegen die ›heidnische‹ Verführung durch die Sinne. Er tut dies in einer Konzession an die urchristlichen Grundlagen der Bildlichkeit. Als er selbst die Szene der Idolenabschaffung durch Konstantin den Großen 1636 auf seinen Tapisseriekartons komponierte (Abb. 64), ersetzte er das Kruzifix durch die Gestalt des segnenden Christus – eine wahrscheinlich aus Bronze gefertigte Plastik, die den Platz des gefallenen, zertrümmerten und bereits kopf losen marmornen Idols auf dem Postament einnimmt und in ihrer Geste die herrschaftliche Körperhaltung des ihr gegenüberstehenden Kaisers deutlich widerspiegelt. 126 *

126 Richter 2009, S. 115; Merz 2008, S. 232 – 233; Bertrand 1998, S. 65 – 66.

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Bei der Strategie Cortonas handelt es sich also – ähnlich wie ein Jahrhundert später im Leubuser Fall von Michael Willmann – um eine klare Manifestation des Sieges über die ›falschen Bilder‹, über die tatsächlichen und imaginierten Idole. Sichtbar wird dabei aber gleichzeitig ein dem christlichen Künstlertum angeblich eingeborenes Zeichen der Loyalität der neuen historisierenden Bilder, die zwar auf der körperlichen ›Wahrheit‹ der archäologisch konservierten Reste fundiert waren, deren Wert vor allem jedoch mit dem Gewinnpotenzial für die aktuelle konfessionelle Selbstbehauptung der Kirche und für die entsprechende Selbstpositionierung des Künstlers in der medialen Prägung des Machtdiskurses messbar war. Die Kohärenz solcher Inszenierungen, die nicht nur der kirchlichen Politik des Bilderkultes Genüge taten, sondern die Tätigkeit des Autors auf dem Markt fest verankerten, scheint im Fall Cortonas dem Grad seiner im archäologischen Eifer oder durch realistische Kalkulation getätigten Fälschung der historischen Relikte zu entsprechen. Diese marktorientierte, normkonforme und zugleich normschaffende Stellung im konfessionell geprägten Milieu, die von dem »in fide Zelosissimus« Leubuser »Dorfmaler« Willmann, ähnlich wie früher von dem römischen »charissimus divae Martinae cultor« Cortona, vertreten wird, könnte man gewissermaßen mit Blick auf die Bildertheologie Gabriele Paleottis strukturell als eine Selbstrettung vor den Dämonen bezeichnen. Denn in den Auslegungen des Kardinals von Bologna ist gerade eine Umwertung des christlichen Schöpfungstopos zu finden: Die Tätigkeit des kirchlichen Künstlers beschrieb er als einen riskanten Kampf mit den Dämonen, die den Maler und den Bildhauer bei der Fertigung ihrer Marterbilder ständig zu einer anstößigen Idolatrie veranlassen und auf den falschen Weg des ›Heidentums‹ führen, indem sie die geplante Christusgestalt in eine Figur des Apolls umwandeln oder die laszive Nacktheit der dargestellten Körper akzentuieren: Allo stesso modo il demonio cerca di deviare il corretto e vero uso delle immagini verso direzioni sbagliate e illecite, e così fa in modo che un pittore, invece di dipingere un Christo, finisca per dipingere un Apollo, e che uno scultore, invece di scolpire la statua di un martire, finisca per fare una favolosa metamorfosi, e fa anche in modo che le figure vengano dipinte perlopiù nude e in pose lascive. 127 In seinem eigenen Bildertraktat Trattato della pittura e scultura, uso et abuso loro von 1652, der im Wesentlichen ein Verzeichnis verschiedener tatsächlicher und potenzieller Missbräuche der Sitten darstellt, anstatt praktische Empfehlungen zu geben, übernimmt Pietro da Cortona zusammen mit seinem Mitautor, dem Jesuitenpater Giulio Ottonelli, die gleiche prüde Rhetorik und weist selbst auf die kanonisierten Gefahren der Künste hin. Der Künstler wird seiner Meinung nach stets von einem Dämon verführt, der die Hand des Künstlers zu quälen und auf Abwege der Obszönität zu bringen versucht. 128 Durch die unachtsame

127 Paleotti 2002, II, 1; vgl. I, 27. 128 Ottonelli / da Cortona 1652, S. 35.

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Vernunft und Hand des Künstlers kann eine Heiligengestalt sehr schnell selbst zu einem lasziven Idol werden, das ferner alle Betrachter in die Verdammnis führt: Il Demonio procura, che l’immagini il più delle volte si dipingano ignude, e che in loro si vegga vn’apparenza lasciua: e se la piglia anche contro i Santi di Dio; e però se qualche Pittor esprimesse la figura d’vna B. Maddalena, ò d’vn S. Giovanni Euangelista, ò d’vn Angelo Custode, il Demonio procura, che v’aggiunga ornamenti, e venni tanto lasciui, che non sarebbero tollerabili nel viso d’vna femmina impura, ò Comediante: ouer fà, che fingendo di dipingere vna Santa, dipinga l’immagine d’vna donna da altri amata lasciuamente, E queste figure fatte con tal’abuso veloni Sono, preparatiui di morte spirituale à molti, tutto che si cuoprano col velo della simulazione. 129 Die kirchlich anerkannte Richtigkeit des Bildes wurde somit offiziell durch den Faktor der gewünschten Stärke der geistigen Konstitution des ›frommen Künstlers‹ bestimmt. Durch seine Fähigkeit, eine Offensive gegen das Verführerische und Obszöne in Gang zu setzen, und ferner auch generell gegen die Materialität der Bilder soll die historische Idolatrie endgültig abgeschafft werden – so wie sie in der Geschichte der Konflikte des Christentums mit allen anderen Religionen ein Problem darstellte, soll sie durch den Künstler mit den seiner Kunst zu eigenen Mitteln medial hinterfragt und bewältigt werden. Die Überwindung des schwierigen etymologischen Erbes des Begriffs der veneratio, der sich von der antiken Liebesgöttin Venus und ihrer anziehenden Kraft, der Erotik, ableiten lässt und zur pygmalionischen Verzauberung durch selbst erschaffene Bildnisse führen kann, kann also als Auftakt zu einer offensiven, breit angelegten Bekämpfung der autonomen Fähigkeiten der schließlich in ihrer Materie gebannten imagines verstanden werden – bis sie schließlich als bloße Projektionen der Macht ihre Dienste erweisen. Die gleiche panische Angst vor der Entblößung der wahren Affekte angesichts der erotisch angelegten Darstellungen des nackten weiblichen Körpers – ein in den Augen der Normgeber lasziver Anstoß zum Ehebruch – zeichnete bereits die Bilderfeindlichkeit der frühchristlichen Apologeten aus. 130 Auch die ersten Mönche und Wüstenväter sollen in ihrer gewollten asketischen Einsamkeit direkt durch die teuf lischen Kräfte mit elaborierten Sexvisionen verführt worden sein. Beispielsweise berichtet Athanasios, der bereits zitierte Autor der ausführlichen anti-heidnischen Apologie Contra Gentes, in einer Schrift über den jungen Einsiedler Antonios en détail, wie dieser auf den Rat des Dämons hin, »sein Vertrauen auf die Waffen am ›Nabel seines Bauches‹« zu setzen, »gleichsam errötend, seinen Leib durch den Glauben, durch Gebet und Fasten schirmte«. 131 Die gleiche Gefahr sahen wohl 129 Ebd., S. 180 – 181. Vgl. Lecercle 2005, S. 155 – 165 wie auch Pfisterer 2011b, S. 329 – 330 (zu Versuchungen der männlichen Pictura durch erotische Erscheinungen von Frauengestalten). Zu diesem Typus von Literatur siehe darüber hinaus: Loh 2012, S. 91 – 112; Bianchi 2008, S. 215 – 221; Steinemann 2006, S. 427 – 434; Hecht 1997, S. 266 – 290; Freedberg 1971, S. 229 – 245. Vgl. Biancani 1997, S. 204 – 215. 130 Siehe u. a. Clemens von Alexandrien, Protrepticus ad Graecos, 58 – 61. 131 Athanasios, Vita Antonii, 5.

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Carlo Borromeo und seine männlichen Zeitgenossen als Protagonisten einer post-tridentinischen Kirchengeschichte in den sich modisch kleidenden Frauen, denen sie es 1573 mit der Macht des Mailänder Konzils und in Anlehnung an biblische Quellen und die Schriften Tertullians untersagten, unverhüllt die Kirchen zu betreten. Auf der Basis einer maskulinen Selbstüberzeugung vermochten sie es zudem, eine restriktive, frauenfeindliche Separation der Geschlechter beim officium einzuführen: entweder durch die zeitliche Limitierung der Teilnahme oder durch entsprechende textile oder hölzerne Abgrenzungen im Kircheninneren. 132 Insbesondere durch diesen Rückbezug auf Tertullian als Autor der frühchristlichen Apologien, der sowohl die ›heidnischen‹ Idole als auch die weiblichen Kosmetika zu teuflischen Werkzeugen (ianua diaboli) der großen ontologischen Lüge erklärt hatte, 133 wird in diesem Kontext klar, inwieweit die primordiale Angst vor dem Versagen angesichts der Versuchung durch eigene Leidenschaften eine Projektion der Weltverachtung hervorrief. In diesem Verständnis der Bildwirkung erhalten die nackten Idole, die vermeintlich normverstoßend ›lasziven‹ Bilder des nach dem Menschen gedachten olympisch-göttlichen Korpus genauso wie die sich nicht an kirchliche Keuschheitsvorschriften haltenden Frauen einen gemeinsamen Nenner. Es zeigt sich, dass die Limitierung der Sexualität mittels bildlicher Normen nicht nur als moralisierender Aufruf zum Entzug zu verstehen ist, sondern, in einem breiteren Kontext, als Ausdruck einer von der ›Wahrheit‹ des göttlichen Schöpfers ausgehenden Disziplinierung. Die Negativität des Entzugs wird hier als Positivität der Rückkehr im Sinne einer Herausforderung der Natur, der eigenen Diesseitigkeit konzipiert. Je restriktiver die Normen selbst werden, desto mehr wird die Fleischlichkeit des Menschen als eine ihre eigene Natur verspottende, mimetisch veranlagte Qualität gefestigt. Es kann dabei an Foucaults Auffassung von den Machtdispositiven der Sexualität erinnert werden, so wie sie von François Caillat zusammengefasst wurden: »Die Sexualität, von der man fälschlicherweise annahm, dass sie zensuriert, verdrängt und mit einem Tabu belegt worden war, scheint eher gefördert zu werden. Die Macht untersagt Sexualität nicht, sie ermutigt deren Formulierung in der Beichte oder dem Geständnis, sie fördert ständiges Sprechen über Sexualität und produziert Wahrheitsbehauptungen. Macht schließt nicht aus, sie konstituiert.« 134 Es verwundert folglich kaum, dass unter der gleichen, die natürlichen Sinne programmatisch verachtenden und sie zugleich ex negativo zur Schau stellenden Prämisse auch die christlichen Künstler im Barock zu Meistern der seelischen Enthaltsamkeit diskursiv deklariert wurden. Die einzige Möglichkeit für den auf dem damaligen kirchlichen Markt tätigen Schöpfer war es unter diesen Umständen, selbst in die Fußstapfen der anerkannten heiligen Märtyrer und historischen Idolenbekämpfer zu treten, die derart übersexualisierte Körperlichkeit eigenhändig zu transzendieren, die irdische Welt sichtbar zu verachten und sich entschieden in die zeitlose neoplatonische Kunstlehre einzuschreiben, welche die ›innere 132 Schofield 2012, S. 187 – 205. 133 Tertullian, De cultu feminarum; Tertullian, De idololatria. 134 Caillat 2017, S. 11 – 22, hier: S. 14.

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Schau‹ und die ›Vorbilder in der Seele‹ zu sicheren Werkzeugen und den Künstler selbst zu einem begnadeten Vermittler Gottes machte. Abschließend lässt sich dazu eine passende Bemerkung von Giovanni Pietro Bellori zitieren, der noch vor der Veröffentlichung seiner berühmten Le vite de’ pittori, scultori et architetti moderni (1672) im Jahr 1664 einen Vortrag in der römischen Akademie gehalten hat, in dem er die Grundlagen einer solch weltentrückten, affektvermittelnden Mission des einer ständigen Versuchung ausgesetzten Künstlers als normkonformer Seelenbildner auslegte: Weiter müßen wir bedenken, dass die Malerei die Darstellung menschlicher Handlungen zum Ziele hat, und dass der Maler demgemäß in seinem Geist die Vorbilder der Leidenschaften bereit halten muss, die in den Bereich dieser Handlungen fallen [. . . ]. Wenn also ein Maler oder Bildhauer es unternimmt, seelische Vorgänge zu schildern, die aus den Leidenschaften erwachsen, kann er sie nicht vom Modell ablesen, das sich ohne eine besondere Leidenschaft vor ihm aufstellt [. . . ]. 135

135 Bellori 1939, S. 19 – 20. Vgl. dazu Leinkauf 2014, S. 47 – 75, v. a. S. 54 – 57, 63 – 65.

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Zeit und Leid Bilder der verletzten Gemeinschaft im medialen Wettstreit

Das panoramatische Leidenstheater der Zisterzienser als Fortsetzung der ecclesia primitiva Um 1733 – 1735 malte Georg Wilhelm Neunhertz, Neffe des Malers Michael Willlmann, in der neu erbauten Klosterkirche der Zisterzienser im schlesischen Grüssau (Krzeszów) ein Fresko, das die Geschichte des Martyriums der 70 Grüssauer Zisterziensermönche zeigt, die dort 1426 angeblich von Hussiten brutal ermordet wurden. Die jahrhundertelang im Kloster kultivierte historische Tradition dieses Ereignisses basierte in der Barockzeit auf einer mittelalterlichen chronikalischen Überlieferung, die jedoch innerhalb der neuzeitlichen Historiografie auch einen durchaus fiktionalisierenden Charakter erhielt, insofern die Zahl und die Namen der Ermordeten im Laufe des 17. Jahrhunderts beliebig geändert wurden. Die historischen Tatsachen wurden inzwischen genauer verifiziert: Für die Geschichte eines gewaltsamen Überfalls durch böhmische Revolutionäre lassen sich keine Belege finden; sie bezieht sich höchstwahrscheinlich auf einen Konflikt des Grüssauer Abtes mit einem der lokalen Herren, dessen drei Diener vor dem Kloster (vielleicht auf Initiative des Abtes) verbrannt wurden. Dies zog als Rache die Plünderung des Klosters nach sich. 1 Die tatsächlichen Details dieses Konflikts sind für die hiesige Untersuchung der Sprache der Geschichte irrelevant. Sie wurden spätestens im 17. Jahrhundert durch historiografische Medien effektiv verschleiert, und erst über ihre Mythisierung fand diese Geschichte Eingang in die lokale Ikonografie. Für den Grüssauer Abt Bernard Rosa (1660 – 1696), den eifrigen Häretikerbekämpfer der Gegenreformation, wie auch für dessen Nachfolger und Erbauer der neuen Klosterkirche Innozenz Fritsch (1727 – 1734) stellte die Legende ein Propagandamittel dar, um den Orden im protestantisch gewordenen und nun zu rekatholisierenden Schlesien zu legitimieren. Das erste Kloster wurde in Grüssau im Jahr 1242 durch den lokalen Piastenherzog Heinrich II. den Frommen gestiftet, allerdings zuerst für den Benediktinerorden – die Mönche

˙ 1 Zerelik 1993, S. 90 – 103.

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Abb. 65: Zisterzienserkloster Grüssau, 1727 – 1735, Fassade der ehem. Klosterkirche Mariä Himmelfahrt.

Abb. 66: Zisterzienserkloster Grüssau, 1727 – 1735, ehem. Klosterkirche Mariä Himmelfahrt, Grundriss, nach Hans Lutsch.

kamen aus dem böhmischen Konvent in Opatovice. 1289 erfolgte durch den Herzog Bolko I. von Schweidnitz-Jauer eine Übergabe an die Zisterzienser aus dem schlesischen Heinrichau und drei Jahre später eine Konsekration. Diese Stiftungsereignisse unter der Ägide der Herzöge bildeten eine feste historische Referenz, auch während der weitgehenden Barockisierung der Kirche und des Klosters unter Bernhard Rosa in den Jahren 1660 – 1667, bei der die ganze mittelalterliche Ausstattung beseitigt wurde, wie auch im Zuge des Neubaus der Kirche und des Klosters als barocker Residenz unter Innozenz Fritsch 1727 – 1735 (Abb. 65, 66). 2 Im Rahmen dieser endgültigen Barockisierung der gesamten Anlage wurde die auf einem neuen Grundriss gebaute Kirche um ein östlich angelegtes Mausoleum der Piastenherzöge erweitert, ein triumphales Denkmal, mit dem die historische Tatsache des Aussterbens der schlesischen Piastendynastie im Jahr 1675 – durch eine sich in der gesamten Ausstattung ausdrückende Legitimierungsrhetorik – relativiert wurde. 3 Zum Zeitpunkt der Neuweihe der

2 Zu Details der Klostergeschichte siehe weiter Dziurla 1974, S. 7 – 45. 3 Hołownia 1997, S. 272 – 312.

Das panoramatische Leidenstheater der Zisterzienser

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barocken Kirche 1735 war im Rahmen dieser rhetorischen Verlängerung allerdings nicht nur die Stiftungsgeschichte als ein Dokument der kirchlich-weltlichen Allianz von Bedeutung. Es war gerade die Legende des Grüssauer Martyriums als ein zu diesem Zeitpunkt mehrfach durch Schriftmedien transportierter und übersetzter Stoff, der eine alternative Stiftungspropaganda im Sinne einer lokalen Erfüllung der Heilsgeschichte ermöglichte. Das vermeintliche Ereignis von 1426 ermöglichte es, die Entstehung des Klosters aus den Verdiensten der Leidensgemeinschaft mit dem memorierten offiziellen Stiftungsakt propagandistisch gleichzusetzen. In diesem Kapitel wird jedoch den inzwischen gut bekannten Details dieser konfessionell geprägten historiografischen Fabrikation nicht gefolgt, wie auch nicht denen der ebenfalls erforschten Baugeschichte des Grüssauer Klosters. Stattdessen wird hier das Fresko als ein Teil des von Neunhertz breit angelegten Bilderprogramms in der Klosterkirche in seinen diskursiven Zusammenhängen als Aussage innerhalb der barocken Kultur des heiligen Leidens und Sterbens besprochen. An diesem konkreten Beispiel wird erläutert, inwieweit die Geschichte selbst in ihrer Vielschichtigkeit in subjektbildende zeitlose Aktualität umschlagen konnte. Es wird vor allem der Frage nachgegangen, inwiefern – kompositorisch und räumlich – diese Auf lösung einer zeitlichen Differenz zwischen dem Mittelalter als einer Ära des Heroischen und dem Barock als dem Zeitalter der medialen Würdigung dieser Ära als ein Beitrag zur Gemeinschaftsbildung durch Selbstunterwerfung geplant war. Das durch Neunhertz expressiv gestaltete Bild der mittelalterlichen Geschichte wurde bisher lediglich entweder inhaltlich mithilfe der historischen Quellenuntersuchung verifiziert oder in Bezug auf die lokale Legende mit anderen barocken Marterbildern in böhmischen Ländern ikonografisch verglichen, unter anderem mit dem von Michael Willmann 1703 gemalten Bild des Karthäuseropfers in Sedletz (Sedlec). 4 Neunhertz hat zwar in der Tat sein Grüssauer Bild direkt aus Versatzstücken von Willmanns martyrologischen Gemälden komponiert, vor allem aus den Leubuser Apostelgeschichten. Im Folgenden soll jedoch von den Details der künstlerischen Kopierpraxis abgesehen und eher das Problem beleuchtet werden, inwieweit das Mittelalter als ein typologisch komponierbares, in mehreren Deutungsschichten entwickeltes Argument genutzt wurde. Dies hängt allerdings mit der Frage zusammen, in welchem Maße allein die medial bedingte frühneuzeitliche Vielfalt der Marterdarstellungen – die Sprache der Leidenskultur mit ihren auf Verbreitung zielenden mimetischen Strukturen – den monumentalen Grüssauer Auftrag von Neunhertz bestimmt hat. Damit gehen auch die Betrachtung des durch Neunhertz gewählten Bildformulars und die funktionelle Einordnung des Gewölbefreskos über die bisherige historische, ikonografische oder werkstatttechnische Verifizierung des Inhalts hinaus. Das Fresko stellt eine äußerst drastische Szene der Qual der Mönche dar, die durch die Hussiten erstochen, aufgespießt, durchgesägt, geschlachtet, gekreuzigt, enthauptet, verbrannt und schließlich auch ertränkt werden (Taf. 23 – 25). Obwohl einige Akteure dieses 4 Vácha 2008, S. 393 – 399.

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Gemetzels in den Vordergrund gerückt werden, vor allem um die erfundenen Folterungsund Hinrichtungstechniken zu demonstrieren, fungieren die Mönche als ein fluider Kollektivkörper, der sich in seinen weiß-grauen Tönen über das ganze Bild ausbreitet. Die Expressivität dieses Panoramas wird dementsprechend nicht nur durch eindrucksvolle, theatralisierte Gesten der Henker und die stille Passivität der Opfer erzeugt, sondern auch durch den farblichen Kontrast der Gewänder der Mönche mit der Omnipräsenz des spritzenden Blutes und der abgetrennten Körperteile. Die Darstellung entspricht grundsätzlich, im Sinne einer Berichterstattung, den zahlreichen chronikalischen Notizen, die, wie etwa Samuel Leopold Hahn in seiner Schrift zur Weihe des neu erbauten Klosters Das wieder lebende Grüssau, knapp und verallgemeinernd folgendes Szenario des Massakers darstellen: »Das gantze Closter, zusambt dem Gottes=Hause war besprenget mit dem Blutte, worinnen die Geistliche erbärmlich ermordet lagen«. 5 Das Martyrium kann als Pendant zum Martyrium des im Kloster spätestens seit dem 15. Jahrhundert aufbewahrten Marienbildes angesehen werden. Dieses Gnadenbild, im Typus der byzantinischen Eleusa (Abb. 67), soll laut Augustin Sartorius vor den Hussiten unter dem Fußboden versteckt und erst im Jahr 1622, im Laufe einer provisorischen Erneuerung des Kirchengebäudes nach dem katholischen Sieg am Weißen Berg, zufällig wiedergefunden worden sein. Im Rahmen der Neugestaltung der Kultstätte fand das Marienbild, das seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges auf Veranlassung des Abtes Bernhard Rosa in einer kleinen Wallfahrtskapelle vor der Basilika aufbewahrt worden war, einen würdigen Platz auf dem spätbarocken Hochaltar von ca. 1735. 6 Die Zeitspanne zwischen der hussitischen Revolution und dem Dreißigjährigen Krieg – die Zeit der gesellschaftlichen Absenz des Bildes – markiert somit historiografisch gewünschte Zäsuren in der Lokalgeschichte. Die mit diesem Kultobjekt im Voraus projizierte Sakralpräsenz wurde durch seinen ›Selbsterhaltungswillen‹ erklärt. Seine bewusste und planmäßige Erscheinung in günstigen Momenten konnte damit gestärkt werden, so wie dann auch die Geschichte des Klosters selbst in Form von zeitlichen Abschnitten ›vor‹ und ›nach‹ der Wiederauf findung des verehrten Bildes geschrieben werden durfte. Obwohl es sich in diesem Kontext um kein Martyrium, keine Verletzung des Bildes handelt – die Schändung bestand alleine in der kriegsbedingten Vertreibung beziehungsweise notwendigen Entfernung des Bildes aus der Öffentlichkeit und in der Vergessenheit, in die es geraten war –, bleibt diese Tatsache, wie die folgenden Erwägungen zeigen werden, nicht ohne Bedeutung für die Kultivierung der mittelalterlichen Martermemoria der Ordensbrüder im Kloster. Inwieweit verwandelt sich in Grüssau die aus den historischen Quellen, wenn nicht nur aus der mündlichen Tradition, bekannte Geschichte in ein Theater des Grauens? Als Panorama des Leidens wird es horizontal auf einer sparsam gemalten, illusionistischen Architektur des Joches aufgebaut und vermittelt somit zwischen der Realität des Betrachters und dem 5 Hahn 1735, S. 18 – 19, 53 – 54. 6 Sartorius 1708a, S. 438 ff., 683 – 684; Sartorius 1700, S. 721 ff., 1124. Vgl. Koˇrán 1993, S. 17 – 25.

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Abb. 67: Hochaltar mit dem Gnadenbild der Eleusa (13. Jh.), um 1735, Grüssau, ehem. Zisterzienserkirche Mariä Himmelfahrt.

durch den aufsteigenden Rauch teils bedeckten blauen Himmel, der sich im Hintergrund des Freskos öffnet. Obwohl in den archivalischen Notizen immer über einen Angriff im Inneren der Klosterkirche berichtet wird, wurde die Szene durch Neunhertz unter freiem Himmel lokalisiert, um vor dem Betrachter das Geschehen im Sinne eines umfassenden Leidensszenarios besser entfalten zu können. In der bühnenartigen Ausdehnung spiegelt sich ein Anspruch auf die Totalität des erbrachten Opfers, indem die storia des Martyriums quasi selbst zu einer Landschaftsformel umgebaut wird, in der die natürlichen Merkmale durch eine den Horizont verhüllende Reihe von gewaltvoll sterbenden Zisterziensern ersetzt werden, durch ein Panorama des schmerzvollen Grenzüberschreitens, das gewissermaßen selbst – im teleologischen Sinne – zum beanspruchten neuen Horizont wird. Diese Verlagerung ermöglichte im Fresko ebenfalls das Arrangement einer sofortigen Erwiderung vonseiten des Himmels, indem die mit Spiegelschildern bewaffneten, fliegenden Engel den sterbenden Mönchen die Märtyrerpalmen aus der Luft überreichen. Die äußerst qualvolle Aufopferung der Ordensmänner erscheint dabei zugleich als ein

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Erfüllungsmoment, da die Folter der Brüder als Schaustück direkt der Maria und dem jungen Christus gewidmet werden. Erstere wird in diesem Bild im Zentrum dargestellt, als der mit Schildern versehene feste Turm Davids (turris davidica) aus dem Hohen Lied. 7 Der Turm nimmt eine hybride Gestalt an. Mit seinem massiven Unterbau erinnert er an moderne Wehrbauten. Zwischen den monumentalen Eckpfosten dieser Sockelzone ist eine Inschrift zu sehen, die die Identität der Maria als Kämpferin bestätigt: »Mille clypei pendent ex ea, omnis armatura fortium« (HL 4,4). Zugleich aber öffnet sich diese Festungsarchitektur über dem Sockel und wird zu einem Baldachin, unter dem die thronende Gottesmutter zur Zeugin und Empfängerin des blutigen Geschehens wird. Positioniert als bewaffnete Braut und nicht zuletzt auch als Mutter, zeigt sie dem kreuztragenden jungen Christus an ihrer Seite die Treue der zahlreichen Nachfolger seines Erlösungsopfers vor. Sie wird zur autoritären Herrscherin stilisiert, die den allumfassenden Blick bewahrt und dank ihrer Position die historische Bedeutsamkeit eines Ereignisses im Rahmen der Heilsgeschichte als Erfüllungswerk einschätzen kann. Eine Gruppe der bereits als beati zu bezeichnenden, Märtyrerpalmen und Märtyrerkronen tragenden Mönche direkt unter dem massiven Bauwerk bestätigt diese Interpretation, da sie im Anschluss an das grausame Geschehen auf die himmlische Zukunft mit ihren strukturierten Hierarchien hinweist. Die Präsenz dieser Gruppe entspricht wiederum der vertikal am oberen Rande des Wandbogens unter dem Fresko angebrachten, dem biblischen Buch der Weisheit entnommenen Inschrift: »Etsi coram hominibus tormenta passi sunt. Spes illorum immortalitate plena est« (Weish 3,4). Das Textfragment verweist auf einen ausgesprochen transitorischen Charakter des Martyriums, das auf eine andere Herrschaft, die nicht von dieser Welt ist, vorbereitet und eine Erlösung von allen irdischen Qualen verspricht. So wurde Maria auch in der Kirchweihschrift von Samuel Leopold Hahn dargestellt, wo sie in einer poësis mit der Autorität einer Kaiserin ausgestattet wurde. 8 Die gewöhnliche herrschaftliche Stilisierung Marias als Regina coeli kann also anhand dieser Erwähnung präzisiert werden. Da Hahns Schrift erst 1735, also direkt nach der Vollendung der Ausmalung der Klosterkirche durch Neunhertz, herausgegeben wurde, ist sie vielleicht keine direkte Quelle der Entstehung des Bilderprogramms, zumindest aber ein maßgebliches Zeugnis der ersten Rezeption dieses Programms nach der feierlichen Neuweihe. In der Komposition des Freskos kommt es zu einer interessanten Spiegelung zweier Blicke über das ausgebreitete Szenario der Marter: des Blickes von Maria und des Blickes

7 Vgl. Kapustka 2011, S. 97 – 102. 8 Hahn 1735, S. 53 – 54.

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des Betrachters des Freskos. Dabei wird der Letztere durch eine künstliche Ausdehnung des Sichtfeldes in ein Panorama ebenfalls zum Augenzeugen der gesamten Bühne, so wie sie auch durch die oben im Turm sitzende Gottesmutter als allsehende Kaiserin wahrgenommen wird. Dadurch wird kompositorisch mittels einer versteckten Horizontlinie, die dazu durch die tatsächliche architektonische Wölbung der Bildfläche nach unten verschoben wird und einen Diorama-Effekt hervorruft, eine parallele Zeitlichkeit der Anschauung im Bild und vor dem Bild erzeugt. Das Panorama des Geschehens ist jedoch kein vollständiges Rundbild, sondern erstreckt sich nur auf 270 Grad, die vierte, ›obere‹ Seite der Komposition enthält keine narrativen Szenen. Das Gesamtbild bewahrt dementsprechend seine frontale Orientierung und richtet sich mit seinem künstlich beinahe umkreisenden Rundblick zugleich direkt an den idealerweise an der Schwelle zwischen Hauptschiff und Querschiff beziehungsweise unter der Vierung verbleibenden Betrachter. Von diesem Standpunkt aus ist auch die oben genannte Inschrift am Rand am besten zu lesen. Verortet in diesem punto stabile, erfährt der Betrachter nicht einen Ausschnitt der Geschichte, so wie sie üblicherweise durch einen rechteckigen Rahmen des Joches eingeschränkt wird, sondern erlebt das Geschehen dynamisch in einer fiktiven Rundumperspektive und wird auf einer Blick-Diagonale mittendrin positioniert. Der Evidenzcharakter des Bildes wird somit verstärkt durch die Projektion der eigenen Teilnahme, durch die Auf lösung der zeitlichen Distanz, wobei dem Betrachter zugleich immer noch der ›objektivierende‹ Blick auf die Ganzheit des mit dem Pinsel als historische Reportage dargestellten Ereignisses gewährt wird. Die strahlende Taube des Heiligen Geistes, die als Krönung der kleinen, glockenartigen cupola des Marienbaldachins erscheint und deren Glanz dem der Sonne gleicht, verleiht wiederum der Präsenz von Maria und Christus einen Charakter der wundersamen Theophanie. Die kunsthistorische Position des Grüssauer Bildes lässt sich in Bezug auf frühere Vorbilder der Ordensmartyrologie untersuchen. Als Vergleichsparameter bietet sich dafür auf den ersten Blick wieder die Bildpropaganda der Jesuiten an, die mit ihrer Strategie der Visualisierung des heiligen Leidens bereits im ausgehenden 16. Jahrhundert neue Maßstäbe im Bereich der Bildmedien gesetzt hatten. Wegbereitend waren in dieser Hinsicht wieder die Vorbilder der frühchristlichen Martyrien von Niccolò Circignani, genannt Pomarancio, im römischen S. Stefano Rotondo (1582 – 1583). Im Kontext der Verortung des Grüssauer Freskos in der barocken Kultur des Martyriums sind jedoch – trotz der Anlehnung an den zur Zeit Neunhertz’ zum gegenreformatorischen Topos avancierten römischen Fundus – eher andere, hier zu erläuternde Bildimpulse von Bedeutung, die mit dem neuen Verständnis der geistlichen Gemeinschaft, die sich durch die Lokalgeschichte als idolenfeindliche Adoptivfamilie definiert, zusammenhängen. Der Status des Grüssauer Martyriumbildes erschließt sich zuerst aus der bewussten Wahl des monumentalen Mediums Deckenfresko und aus den in dieser Zeit divergierenden Ansprüchen an die historische Evidenz. Zieht man die Bildlösungen der Jesuiten in diesem Kontext in Erwägung, kann man feststellen, dass sie, nach der Entstehung des Ordens, zuerst aus der synkretistischen Aneignung der frühchristlichen Thematik resultierten, aber spätestens

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seit dem 17. Jahrhundert größtenteils der Propaganda und Missionierungstätigkeit, auch in Übersee, dienten. 9 Im Gegensatz zu diesen dokumentarisch-memorierenden Bildformularen werden im Fresko von Neunhertz die Akzente eher auf das heroische Leiden der historisch direkt vor Ort verankerten communitas der Zisterzienser gesetzt. Die Wahl eines großformatigen, als Fresko gestalteten Panoramas für das Leidensbild der Ordensangehörigen kann man dabei durchaus als monumentales Evidenzmittel betrachten, da es sich im Fall der angeblichen Ermordung der siebzig Grüssauer Mönche um eine lediglich lokal kultivierte Tradition handelte, die über keine entsprechende Anerkennung vonseiten der kirchlichen Autoritäten höheren Grades verfügte. Ihre durch die Historiografie transportierte Wirkung war vor allem einem dünnen Schleier der historischen Verallgemeinerung zu verdanken. Die Berichterstattung über das angebliche Martyrium nahm eine fiktionalisierende Form an – schon die überwältigende Breite des Bildformats führt zu einer Expressivität, die historische Leerstellen füllt. 10 Das Fresko von Neunhertz lässt sich in diesem Licht als ein konstitutives Element der von Bernhard Rosa bereits seit ca. 1660 propagierten missionierenden Rolle des Klosters verstehen, die – als eine feste historische Tatsache in das ausgearbeitete Programm der Kirchenausmalung eingefügt – die historische Identität und den Status quo nicht des Ordens, sondern des lokalen Konvents hervorheben sollte. Dieses retrospektiv verschleiernde Bildformular ermöglicht es, die konfessionelle Formung der lokalen Gemeinschaft auf der Universalisierung und Heroisierung des Märtyrertodes aufzubauen. Im Grüssauer Bild wurde dementsprechend das Leiden in eine Leidenschaft transformiert, um das ›große Sterben‹ zu inszenieren – ein Bildformular, das den nahen Tod des Kollektivkörpers als Ekstase präsentieren soll –, in Anlehnung an den in ihren leidenschaftlichen Zügen idealisierten Tod der großen barocken Individuen wie beispielsweise der Teresa von Ávila von Bernini. Die grausamen tormenta der Gemeinschaft werden zu einem Versprechen, wie es auch die unter dem Fresko angebrachte Inschrift verkündet. Die gewählte Bildstrategie besteht hier also darin, nicht die einzelnen historischen, namentlich bekannten Opfer retrospektiv zu memorieren, sondern sie als anwendbare Modelle des glorreichen Sterbens und als musterhafte, vorbildliche Haltungen bzw. Ent-Haltungen darzustellen. Neunhertz bedient sich in diesem Fall nahezu des gleichen Konstrukts wie Antonio Gallonio in seinem Trattato De Gli Instrumenti Di Martirio, das 1660 immer noch herausgegeben wurde: einer deutlichen Universalisierung und Anonymisierung des konkreten historischen Opfers. 11 Wie bereits erwähnt, verwandeln sich die in den für Gallonios Buch von Antonio Tempesta gefertigten Kupferstichen gezeigten frühchristlichen Märtyrergestalten – so wie sie vorher in Pomarancios Bildern noch als historische Individuen präsentiert worden waren – in anonyme, anwendbare Modelle, die in ihren Idealkörpern keine Symptome des Leidens zeigen und durch ihre geistige Konstitution 9 Siehe zusammenfassend u. a. Romano 2011, S. 45 – 69. 10 Vgl. Ganz 2003, u. a. S. 105 – 107. 11 Gallonio 1591; Gallonio 1660.

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Abb. 68: Antonio Tempesta (Entwurf), Martyrium der ersten Christen, in: Antonio Gallonio, Romani de SS. Martyrum Cruciatibus liber, 1660.

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Abb. 69: Antonio Tempesta (Entwurf), Martyrium der ersten Christen, in: Antonio Gallonio, Trattato degli Instrumenti di Martirio, 1591.

sich dem Schmerz entziehen können. Somit werden ihre Körper selbst zu bereits leblosen, entrückten Figuren, deren Sinn sich nicht im Körperlichen erschöpft und deren zerstörbare Gestalten eigentlich nur äußere Hüllen darstellen. Die Verachtung des eigenen Fleisches – die von der Subjektgeschichte her gesehen äußerste Konsequenz des contemptus mundi – lässt den sterblichen Körper eines Christen als eine relative Passage ansehen, die vor allem auf höhere Prototypen hinweisen soll. Auf einigen der Bilder Tempestas wird diese Unterscheidung zwischen dem transzendierenden Subjekt und seiner irdischen Form indirekt angesprochen, indem beispielsweise ein komplett verstümmelter, vor antiken Tempeln auf dem Boden liegender Märtyrerkörper an die Situation eines gefallenen und zertrümmerten Idols erinnert (Abb. 68). Einige Märtyrer werden dabei zu stehenden Figuren stilisiert, die die Henker mithilfe verschiedener Werkzeuge zu zerreißen versuchen (Abb. 69). Es scheint eine kunstvolle rhetorische Antithese des Bildersturms zu sein, die als Demonstration der seelischen Konstante des Märtyrers dient, der wiederum bis zum Zeitpunkt der eigentlichen Qual, bis zu diesem Erfüllungsmoment, in der vorübergehenden Hülle der eigenen Materialität gefangen bleibt. So wie die negativ konnotierten Figuren der Idole aus einem Material gefertigt wurden und folglich zerstört werden können, so sind auch ihre Spiegelungen in den Figuren der Märtyrer, und damit ihre Qual, lediglich irdisch. Während jedoch die Idolenvernichtung

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sich durch die Endgültigkeit der Auslöschung auszeichnet, ist die Intensität und Brutalität der Folter der Märtyrer, die in einem auf den eigenen Körper bezogenen Autoikonoklasmus mündet, nur dann von Relevanz, insofern sie produktiv zu der zu erwartenden himmlischen Genugtuung beiträgt. Daher kann die Qual im Rahmen dieses die Sinnlichkeit verachtenden Konzepts weder nur in emphatischen noch nur in drastischen Zügen gezeigt werden, weil sie schließlich vor allem einen prospektiven Sinn hat. 12 Diese Szenen des ›anästhetischen‹ Leidens der geistig unberührten, obgleich körperlich zu Tode gefolterten Christen, die gewissermaßen den Blick Lessings auf die Laokoon-Gruppe von 1766 vorwegnehmen, sind daher konsequent als Ausdruck einer poetischen Generalisierung zugunsten der christlichen Idee der Weltverachtung zu verstehen. Sie dienen, vor allem im Sinne einer universalhistorischen Evidenz der Heilsgeschichte, einer ausführlichen Präsentation der ›Mechanik des Martyriums‹, der erbarmungslosen Foltertechniken, so wie es auch im Titel von Gallonios Werk formuliert wurde. Solch ein Anspruch wird in Gallonios Buch durch eine Darstellung von künstlich arrangierten Werkzeugen des Leidens vermittelt, durch das durch Gabriele Paleotti in seinem Bildertraktat definierte semantische Konstrukt der insegne eroiche. 13 Diese wurden zu einem Tropaion stilisiert, das von Natur aus eine Generalisierung ist, da es in seiner ursprünglichen Bedeutung die von den Feinden nach der von ihnen verlorenen Schlacht zurückgelassenen Waffen triumphal bündelt. In diesem Kontext verwandeln sich jedoch die instrumenta passionis in ein martyrologisches Monument des Sieges, auf dessen Spitze das Kreuz – der christliche Inbegriff eines Tropaions – den errungenen Triumph besiegelt. Diese Rhetorik wird im Zeitalter Cesare Baronios den eigentlichen martyrologischen Traktaten entnommen und stilisiert das historische Kreuz samt anderen Folterwerkzeugen zu einem Identitätszeichen der Kirchenrestauration. Im ausgehenden Cinquecento führt die neue Ikonografie der Fassaden von römischen Kirchen wie Ss. Quirico e Giulitta, S. Vitale oder schließlich von Baronios Titularkirche Ss. Nereo e Achilleo diese neue Zeichenhaftigkeit des Martyriums deutlich vor Augen. 14 Die gleichzeitige Historisierung und Semantisierung der Gewalt durch derartige Zeichen ermöglichte eine ästhetische Betrachtung der äußerst gewalttätigen Foltertechniken und die Anwendung von Brutalität als Mittel der poetischen Überzeugung. Im Grüssauer Fresko wird zwar die Erbarmungslosigkeit der blutrünstigen Henker zu einem deutlich dominierenden Faden der Narration, die Vielfalt der dargestellten Folter wie auch die äußerste Präzision beim Schildern des grausamen Vorgehens werden jedoch in diesem Sinne als Mittel der Anonymisierung, Idealisierung und Kollektivierung der Opfer verwendet. Das übergreifend Mediale gewinnt dabei gegenüber dem strikt Historischen und verankert die andauernde Aktualität des christlichen Leidens durch die Hände der häretischen Henker:

12 Burschel 2004a, Burschel 2004b, S. 91 – 104, Burschel 2002, S. 139 – 181, wie auch andere Publikationen dieses Autors zum Thema des Martyriums. 13 Vgl. Mansour 2005, S. 170. 14 Zuccari 2009, S. 182 – 197, hier: S. 187 – 190; Richter 2009, S. 157 – 158.

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als Prinzip der kämpfenden Kirche des gegenreformatorischen Zeitalters, ähnlich wie in Gallonios und Tempestas Bildkonzept. Um die spezifische lokale Dimension des martyrologischen Gedankens im Grüssauer Fresko zu erläutern, müssen jedoch zuerst weitere Fragen zum räumlichen Kontext aufgeworfen werden. Das gesamte Bilderprogramm des Gewölbes der Klosterkirche mit seinen in den Vordergrund gerückten Darstellungen in den Jochen des Hauptschiffes basiert auf einer typologischen Zusammensetzung von Szenen aus dem Alten und Neuen Testament, die sich auf die Person von Christus als Immanuel (in wörtlicher Übersetzung: »Gott mit uns«) beziehen. 15 Diese Deutung des Gottessohnes wurde dem Buch Jesaja entnommen, in dem das prophetische Zukunftsbild des als Kind auf die Welt kommenden Christus dem Ahas, dem König von Judäa und Sohn von David, als Garantie des göttlichen Schutzes vor den erwartbaren Angriffen aus Syrien und Israel erscheint: Darum wird der Herr selbst euch ein Zeichen geben: Siehe, die Jungfrau hat empfangen, sie gebiert einen Sohn und wird ihm den Namen Immanuel geben. Er wird Butter und Honig essen bis zu der Zeit, in der er versteht, das Böse zu verwerfen und das Gute zu wählen. Denn noch bevor das Kind versteht, das Böse zu verwerfen und das Gute zu wählen, wird das Land verlassen sein, vor dessen beiden Königen dich das Grauen packt. (Jes 7,14 – 16). Die Abbildungen des Christus als inkarnierter Immanuel wurden im Grüssauer Freskenprogramm mit verschiedenen Fragmenten aus der Geschichte der Zisterzienser gekoppelt. Die übergreifende Exegese dieser alttestamentlichen Überlieferung auf die Ebene der Lokalität zu überführen, bedeutete jedoch, mehr als nur nach einer thematischen Übereinstimmung von Bibel- und Ordensgeschichte zu suchen. Bei der Ausmalung des neuen Kircheninterieurs wurde auf eine wenig ältere Komponente der Ausstattung selbst zurückgegriffen: Im Chorumgang war bereits vor 1703, also noch in der alten gotischen Kirche, ein Altar der Nativitas gestiftet worden, in dessen Aufsatz eine kleine hölzerne Figur des Christkindes als Immanuel ihren Platz fand (Abb. 70). Diese Statue des segnenden Kindes mit einem Reichsapfel als Herrscherattribut lässt sich auf die italienischen Vorbilder des BambinoGesù-Kultes zurückführen, als ein direkter Impuls für die Grüssauer Einsetzung des neuen figürlichen Bildfokus neben dem Marienbild im Chor ist jedoch eine andere Figur spanischer Herkunft in der Prager Karmeliterkirche der Siegreichen Maria anzusehen. In dieser Kirche wurde seit 1628 der barocke Kult der »Jezulatko«-Figur als ein Pendant zur Verherrlichung des dort bereits seit 1622 aufbewahrten Bildes aus der Schlacht am Weißen Berg praktiziert und durch zahlreiche Stiftungen und Voten enorm popularisiert. 16 Nachdem die Grüssauer Klosterkirche 1735 bereits neu gebaut worden war, wurde für die Figur des Immanuel im 15 Kobielus 1987, S. 159 – 212. 16 Zur Figur des »Jezulatko« im Grüssauer Kontext: Kozieł 2006, S. 249 – 251 (dort weitere Literatur zum Bambino-Kult).

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Abb. 70: Grüssauer Immanuel, Grüssau, ehem. Zisterzienserkirche Mariä Himmelfahrt (im Altarschrank von 1744).

linken Arm des Querschiffs ein neuer steinerner Altar gestiftet. Im Jahr 1744 wurde das Christuskind in einen verglasten Schrank gestellt, in dem es bis heute aufbewahrt wird. 17 Somit hatte sich die ganze Anrufung des Immanuel materialisiert, die in jedem Fresko des Hauptschiffes in einer bebilderten Apostrophe ihren Ausdruck findet, 18 und war auf eine direkt am Altar des Querschiffes erfahrbare ›Reliquie‹ zurückzuführen. 19 Die Platzierung der Immanuel-Figur wie auch ihre Einarbeitung in das Freskenprogramm bleibt nicht ohne Bedeutung auch für das Marterfresko. Der in der kleinen Statue ansetzende Fokus wird mithilfe der Deckenmalerei von Neunhertz in eine erzählerische Monumentalperspektive umgewandelt. Zuerst fällt dabei ins Auge, dass im letzten Joch vor der Vierung, wo vor den Augen des Betrachters eine fiktive, gemalte Kuppel erscheint, eine Szene dargestellt wird, die einen thematischen Übergang leistet: von der seitlich im nördlichen Arm des Querschiffs aufgestellten Figur des Immanuel als inkarniertem Wort durch das Hauptschiff zu dem im südlichen Arm des Querschiffs gemalten Martyrium der

17 Ebd., S. 231 – 244; Niedzielenko / Vlnas 2006, S. 348 – 350. 18 Die bebilderten Invokationen: Admirabilis, Consiliarius, Deus, Fortis, Pater futuri saeculi, Princeps pacis; siehe dazu Kobielus 1987, S. 159 – 212. 19 Vgl. Jurkowlaniec 2011, S. 200 – 217; Jurkowlaniec 2008, S. 342 – 378.

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Zisterzienser. Es ist eine Invokation: Fortis, bebildert mit der zentralen Szene der Rückkehr der Heiligen Familie aus Ägypten und ihrer Ankunft in Judäa (Taf. 26). 20 Das Thema wurde in Anlehnung an die gewöhnliche Ikonografie der Flucht nach Ägypten dargestellt, auch wenn dabei vielmehr ein Szenario des triumphalen Übergangs die wichtigste Rolle spielt: Im Moment der Heimkehr in das Land, das sich bald als Passionsstätte Christi erweisen sollte, fallen die letzten ›heidnischen‹ Idole der Ägypter im Laufe einer ausgedehnten bzw. anachronistisch projizierten Zeitsequenz immer noch von ihren Postamenten, da sie der Macht des inkarnierten Wortes unterliegen; so wie die ersten durch das Christkind zerstörten Figuren in Heliopolis. In der Grüssauer Version wurde dieser Kontext der Machtübernahme durch die Anbringung einer hölzernen Brücke verstärkt, über die Joseph und Maria mit dem Kind auf einem Esel gehen und somit das Wasser überqueren, an dessen Ufer auf einem steinernen Obelisk das Idol platziert wurde. Somit visualisiert die Brücke auf eine topografischsymbolische Art und Weise den faktischen Anfang der Mission Christi als Erlöser noch in seinem Kindesalter. Die von Neunhertz angewendete, künstlich gekippte Perspektive dieser zentralen Szene, welche die Figuren sowohl stark verkürzt von unten als auch gleichzeitig von der Seite, mit dem Himmel im Hintergrund, sehen lässt, verstärkt nur den Eindruck, dass der Betrachter, der das Ganze von unten sehen kann, sich zwischen den beiden Ufern befindet, in einem undefinierten Raum, dessen Leere gerade durch diese Brücke überwunden wurde. Mit diesem Übergangsmoment wird eine deutliche Anspielung auf die Figur des Immanuel-Christkindes im Querschiff geschaffen, die – vom Standpunkt des ankommenden Betrachters im Zentrum des Hauptschiffes gesehen – direkt zur linken Seite des Fortis-Freskos auf ihrem Altar exponiert wird. Diese Figur wird durch das verhüllende Panorama des Einzugs ins Heilige Land animiert: Das im Fresko von Maria gehaltene Kind erweist sich als eine historische Narrativierung einer direkt anschaubaren ›Reliquie der Inkarnation‹. Die hellen Strahlen der Glorie, die im Fresko vom Kopf des Kindes wie eine Energiewelle ausgehen und den strahlenden Nimbus der Immanuel-Figur erneut in einem anderen Medium erscheinen lassen, töten wortwörtlich das beflügelte Idol, das sich mit einem exotischen Schirm aus großen Blättern davor zu schützen versucht und dessen eigene Lebenskräfte jedoch wie ein Blitz aus seinem Mund austreten. Damit wird auch eine ikonografische Anomalie sichtbar, da das Wesen des ›Götzen‹ sich nicht nur, wie seit der mittelalterlichen Vorstellung des Idols üblich, in seiner Körperlichkeit erschöpft. Seine ›Seele‹ wird als genauso täuschend und schwach dargestellt wie es selbst: Ihre blitzartigen Ströme verlieren Energie und fallen aus seinem Mund direkt auf zwei teuf lische Ungeheuer, die sich unter dem Postament wälzen. Es sind die fallenden Verkörperungen der Häresie und des ›Unglaubens‹, die wahrscheinlich dem Idol als negative Energien innewohnen und gerade in dem Moment, in dem das

20 Mt 2,15; vgl. Hos 11,1. Siehe auch Jurkowlaniec 2011, S. 213 (die Autorin geht nach dem Wortlaut des Evangeliums des Pseudo-Matthäus, 22 – 24 und identifiziert die sich im Fresko auf der Brücke ereignende Szene als den Fall der 365 Idole im Tempel der Stadt Sotinen während der Flucht nach Ägypten).

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letzte Idol durch das nach Judäa wandernde Christkind besiegt wird, sich außerhalb ihres Trägers materialisieren, um dann gleich aus dem Bild herauszutreten und zu verschwinden (Taf. 27). Im Hintergrund des Postaments ist der riesige Schwanz eines weiteren Ungeheuers zu sehen – es geht also um kein gewöhnliches Duell zwischen Christus und Idol; das vom Sohn Gottes bezwungene Land der an die Naturkräfte gebundenen ›Heiden‹ verwandelt sich inzwischen eher in ein Kriegsszenario des qualvollen Massensterbens seiner in Skulpturen versteckten hybriden Gegner. Obwohl das kleine Kind nicht selbstständig ist, von seiner Mutter als corpus infantile 21 gehalten werden muss und sich als wehrloser Säugling nur im Akt seiner bedingungslosen kindlichen Liebe verwirklicht, vermag es, eine Horde von geflügelten und mit riesigen Krallen bewaffneten Monstern der Dunkelheit allein durch die Präsenz des körpergewordenen Wortes zu besiegen. Das Kind tritt mit seiner Familie auf die Bühne der Heilsgeschichte, und allein damit schlägt es eine neutestamentliche Brücke: Es wird zur Verwirklichung des neuen Bildes, dessen Macht sich über alle Länder ausbreitet, in denen bisher die verführerischen ›falschen Bilder‹ ihr Unwesen getrieben haben sollen. Der erneute Einzug der Familie in das Heilige Land wird im historischen Sinne zu einem andauernden, teleologisch verewigten Ereignis der automatischen idolomachia, mit der auch eine neue Art von Zeitlichkeit beginnt. Der paulinische Gedanke eines »neuen Menschen« als ›neues Bild‹, das ursprünglich als eine Alternative zum sinnlichen Anthropomorphismus der vom Apostel zu bekehrenden Griechen konzipiert worden war, kommt in dieser Auffassung mit dem von Paulus verfassten 2. Brief an die Korinther zusammen, in dem eine christliche Vision der sich in der Schwäche zeigenden Stärke dargestellt wird. 22 Die substanzielle Autonomie des »neuen Menschen«, seine Unabhängigkeit von der eigenen körperlichen Existenz, so wie sie durch Paulus entworfen wurde und zum allgemeinchristlichen Grundsatz des eigenen Transzendierens vom irdischen Dasein geworden ist, lässt sich von der allerersten Inkarnation des Gotteswortes in Christus als ›Abstieg Gottes‹ ins Diesseits ableiten. 23 Sie bedeutet ferner, dass einerseits Unschuld, Wehrlosigkeit und Ergebenheit jede körperliche Qual durch die feste Konstitution der Seele ertragen lassen und dass andererseits die Qual selbst als ein gewolltes Zeichen der höheren Dimension zu verstehen ist, da man sich gerade durch das eigene körperliche Leiden in seiner Demut vor Gott vergewissern kann. In diesem Sinne war auch für Bernhard von Clairvaux das ganze Leben von Christus ein ›vorweg entworfenes‹ Martyrium, zu dessen ersten Elementen der Kontrapunkt der Idolenvernichtung in Ägypten gehört. 24 An dem im Grüssauer Fresko lediglich als ein felsiger Brocken skizzierten rechten Ufer warten bereits die Engel, um dem mit seiner Familie ankommenden kleinen Erlöser die Instrumente seiner

21 Benke 1991, S. 77. 22 Vgl. Dürig 1952, S. 12 – 13. 23 Zum christozentrischen Profil der Gedanken Bernhards von Clairvaux und zur incarnatio als Abstieg Gottes in die Welt siehe: Benke 1991, S. 68 – 94. 24 Benke 1991, S. 81.

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Passion zu überreichen. Das Leiden Christi als Lehrer und Anführer wird hier also nicht nur zur Erfüllung der Mission des Gottessohnes, sondern gewissermaßen auch zur historischen Konsequenz seiner ersten Auseinandersetzung als kleines Kind mit den letzten verbleibenden Dämonen auf der Brücke, des transzendenten eikon mit den immanenten eidola – an der Grenze zwischen dem an ›heidnischen‹ ›Naturgötzen‹ reichen Land der Pharaonen und dem von den Römern besetzten jüdischen Boden, auf dem die göttliche Inkarnation bald zur sichtbaren königlichen Realität werden sollte. Wie die Zisterzienser ihre Rolle bei der Nachahmung dieser später in ihrem Martyrium resultierenden ›Macht der Schwäche‹ verstehen, lässt sich zuerst anhand der beiden Eckbilder im gleichen Fortis-Joch verfolgen. Zur linken Seite wird eine Szene mit Bernhard von Clairvaux dargestellt, wie er 1134 auf der Burg von Parthenay eine konsekrierte Hostie vor dem exkommunizierten Wilhelm X. von Poitou, dem Herzog von Aquitanien, hält, um ihn vom Gegenpapst abzubringen und die Güter der vom Herzog vertriebenen Bischöfe zurückzuerlangen (Taf. 28). Die direkt auf den Gegner strahlende Hostie, die als Ausdrucksmodus einer unteilbaren Existenz des christlichen Gottes eine ähnliche Macht gezielter Konzentration von Energie besitzt wie die Glorie des Christuskindes auf der Brücke, erscheint in diesem Streit als Garant der Integrität der Kirchengemeinschaft in der Zeit des Schismas. Als ein explizit leibliches Argument für die absolute Wahrheit der göttlichen Inkarnation wird sie zum Beschwörungsmittel und besitzt eine Macht der Bekehrung, für die der aquitanische Herzog als exemplarische Figur dienen kann, indem er für eine Gegenbewegung zur rechtgläubigen römischen Kirche steht, die an den ungenügenden inneren Bindungen und am Führungsmangel scheitert. 25 Der rechte Abschnitt des Freskos verkündet wiederum das Interesse der Grüssauer Mönche an einer geistigen Teilnahme an der autoritären Restitution des Christentums in dem inzwischen durch Muslime besetzten Heiligen Land. In der Darstellung treiben mehrere reitende Kreuzritter zwei bewaffnete Ureinwohner Amerikas (sic!) vor ihrer Festung in die Ecke (Taf. 29). Fast scheint es, als würden die beiden Feinde aus dem Bild, aus dem historischen Geschehen gestoßen, was als ein Widerhall der mittelalterlichen Bildpraktiken der Exklusion des Bösen aus dem Rahmen, so wie sie etwa in der Buchmalerei vorkommt, interpretiert werden kann. Die amerikanischen ›Heiden‹ lassen sich somit als Nachfolger der Dämonen auf der in dem mittleren Abschnitt gezeigten Brücke lesen, als ungewollte Protagonisten der Geschichte, die ebenfalls umgestürzt werden. 26 Mit der ihnen zugemuteten religiösen Ignoranz stellen die mit Federschmuck gekennzeichneten ›Heiden‹ ein neues Sinnbild des Nichtkatholischen dar, das bisher durch gezielte polemische Bildnisse der Reformatoren

25 Die Inschrift unter der Szene in der Kartusche (»Plenus gratia et fortitudine«, Apg 6,8) unter der Szene bezieht sich auf Stephanus als werdendem erstem Märtyrer kurz vor seinen Disputationen mit den Mitgliedern der Synagoge. 26 Die Inschrift in der Kartusche (»Requievit super eos spiritus consilij et fortitudinis«, Jes 11,2) lässt den zisterziensischen Kreuzzugseinsatz mit der messianistischen Rhetorik verbinden.

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beziehungsweise durch Verkörperungen der Häresie und des ›Unglaubens‹ besetzt worden war. Im Kontext der Rückkehr des Christus und seiner Familie von Ägypten nach Judäa überrascht diese Überlappung kaum, bildeten doch seit dem Mittelalter gerade die Darstellungen der ägyptischen Kultfiguren einen ikonografischen Anstoß für die Kreuzzugspropaganda. 27 Da es sich jedoch im Grüssauer Fresko gerade um die topografisch-zeitliche Ausdehnung der Missionsperspektive bis nach Übersee handelt, werden die Ureinwohner Amerikas zu neuen Platzhaltern für alle fremden, aggressiven und zu bekämpfenden Gegner der weltweiten Mission. Der militante Kreuzzug wird dementsprechend auch zur christlichen Aufopferungsform angesichts der angeblichen feindlichen Landübernahme durch die allgegenwärtigen ›Heiden‹ stilisiert. Somit vollzieht sich diese Inszenierung des globalen Kampfeinsatzes entlang der von Bernhard von Clairvaux am Vorabend des 2. Kreuzzugs vorgegebenen Richtlinien, laut denen die werdenden Kreuzritter alle Feinde des Kreuzes aus allen Ecken des Heiligen Landes vertreiben sollen. Dieser historische Aufruf des doctor mellifluus zur religiösen Gewaltaktion, mit dem die Berufung des Menschen zu einer lebenslangen Auseinandersetzung mit den Verführungen der eigenen irdischen Natur zusammenhängt, visualisiert die mögliche Umsetzung der Idee der Weltverachtung, laut der das ganze menschliche Leben zu einer andauernden Zeit des Leib-und-Seele-Konflikts erklärt wird, zu einer tempus militiae. 28 Der Kreuzzug soll laut seiner Programmschrift De laude novae militiae nicht nur christliche Kultstätten in Judäa als Orte der Geschichte vor den Händen der Muslime bewahren. Der Aufruf hat eher den Charakter eines Appells zur Verteidigung der Grundsätze der monotheistischen Transzendenz des christlichen Gottes, indem er sich zum Beispiel auf die Etymologie des Ortsnamens Bethlehem bezieht, der im Hebräischen »Haus des Brotes« bedeutet und somit eine im Entwicklungsrahmen der Heilsgeschichte vorweg angedeutete eucharistische Dimension gewinnt. 29 Die kindliche Schwäche von Christus muss also als Topos im Zeitalter der neuen Häresien und der aktuellen katholischen Kirchenpolitik offensichtlich umgesetzt wie auch an die organisatorische Struktur und die politischen Ziele der Ordensgemeinschaft angepasst werden. Sie lässt sich durch die historisch bewiesene Wirkung der eucharistischen Akzidenz auf die Feinde der Gemeinschaft genauso wie durch den mittelalterlichen Kreuzzug zugunsten einer militärischen Mission im Namen Gottes versinnbildlichen. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass es sich bei dem zweiten Bildfragment sogar um eine symbolische Darstellung des zweiten Kreuzzugs handelt, der, zum großen Teil persönlich wie politisch durch Bernhard von Clairvaux und seine Predigten inspiriert, 1147 unter dem Oberkommando Ludwigs des Heiligen nach Osten aufbrach, um Edessa aus den Händen der Muslime zu befreien. Bernhard erscheint in diesem Sinne im Grüssauer Fresko als Vollstrecker der unbegrenzten

27 Camille 1989, S. 135 – 142. 28 Bernard, De laude novae militiae, 1.1, 142. Vgl. zu den apologetischen Grundlagen der christlichen Haltung zur militärischen Gewalt: Gero 1970, S. 285 – 298. 29 Bernard, De laude novae militiae, 6.12, 143.

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Abb. 71: In choro et foro, in: Augustin Sartorius, Cistercium bis-Tertium, 1700.

Macht des inkarnierten Gottessohnes. Er tritt hier als ein Bevollmächtigter hervor, der mit seiner unbestrittenen Autorität sowohl das Ursprungsland des Ordens während der heimischen Konflikte um die Integrität des kirchlichen Kollektivkörpers verteidigt als auch zur Rückeroberung der christlichen Festungen im fernen Heiligen Land inspiriert, eben an den Orten, wo Christus geboren wurde und sein einmaliges Opfer vollbracht hat. Der Ordensgründer wird hier als derjenige dargestellt, der die Macht der Unschuld und Verwundbarkeit des ersten ›Götzenzerstörers‹ Christus umzuleiten und selbst anzuwenden vermag, um in der Ordensgemeinschaft die inneren Strukturbindungen anhand eines auf die Macht des Familiären verweisenden Musters gestalten zu können. Er tut es gleichzeitig für die in der ganzen Welt verstreuten Christen, geografisch übergreifend. Im XI. Kapitel von Augustinus Sartorius’ Cistercium bis-Tertium von 1700, in dem die größten Verdienste der Ordensmänner als viri apostolici und mallei haereticorum aufgezählt werden, wird die Formulierung »in choro et foro« (im und jenseits des officiums) im Sinne einer flächendeckenden Verbreitung der Gemeinschaft umgedeutet (Abb. 71). Es ist zugleich bedeutsam, dass die aufgelisteten Verdienste der Zisterzienser wie folgt charakterisiert werden: »conversas Gentes, eversos idolorum cultus, triumphatas haereses, composita schismata, propagatam fidem, vindicatam Romam«. 30 Diese Setzung der Missionsziele als Vision eines permanenten Konflikts der Zisterzienser mit der Außenwelt stimmt mit dem Grundgedanken Bernhards von Clairvaux in seiner einflussreichen Stiftungsschrift Exodium Parvum überein, in Filiationen der neuen

30 Sartorius 1700, S. 287. Die Geschichte der Auseinandersetzung Bernhards mit Wilhelm von Aquitanien wurde gleich auf der zweiten Seite dieses Kapitels knapp erwähnt: »[. . . ] Guillelmo Aquitania Duce verborum fulminibus ad sanctiora compulso [. . . ]« (ebd., S. 288). ˘

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Klöster neue Posten für Ordensangehörige, die »neue[n] Soldaten Christi«, zu sehen. 31 Der Einsatz der Mönche in der Verbreitung der rechtgläubigen Lehre wird demgemäß bereits durch den Ordensgründer lokal und global verstanden und rekurriert zugleich auf die Bezeichnung ecclesia peregrinans, die im augustinischen Gedankenfundus, wo die beiden Begriffe peregrinatio und militia für die aktuelle Auslegung der Natur christlicher Glaubensinstitutionen stehen, ihren Ursprung zu haben scheint. 32 Die erste Auseinandersetzung auf der Brücke ist also im Grüssauer Fresko vor allem als ein Gründungsmoment zu verstehen, wobei die Macht der Inkarnation Christi künftig durch Übung, Hingabe, Organisation, Entschiedenheit und Opferbereitschaft seiner Nachfolger tradiert werden soll. In diesem Sinne entspricht auch das christliche Martyrium dem allerersten Sieg des kleinen Christuskindes, das am jüdischen Ufer gleich die Leidenswerkzeuge als Attribute seiner Macht von den Engeln übernehmen wird. Bei diesen kann infolgedessen das römische Kreuz in der Mitte als sein endgültiges Tropaion verstanden werden; zugleich kann man in dieser Erscheinung eine verhüllte Antizipation der konstantinischen Vision auf der Milvischen Brücke vor den Toren Roms vermuten. Der nächste Schritt in dieser typologisch aufgebauten, zwischen der Kindheitsgeschichte Christi und der Entwicklung der Ordensmission changierenden Narration führt unmittelbar in den südlichen Arm des Querschiffes, in dem sich das Fresko mit dem Martyrium der Grüssauer Zisterzienser befindet. Die skizzierte Genealogie von Christus, oder präziser: die Genealogie seiner Macht als inkarnierter Gott auf Erlösungsmission, wurde mit dem in Grüssau in den sechziger Jahren des 17. Jahrhunderts von Bernhard Rosa propagierten populären ›mystischen‹ Konstrukt der trinitas terrestris gekoppelt. Während jedoch in diesem die Akzente auf die Süße der mütterlichen Liebe und die didaktischen Werte der väterlichen Verpflichtung gesetzt wurden, um mithilfe einer Joseph-Bruderschaft dem lokalen Wallfahrtswesen ein ausgesprochen volksnahes Gesicht zu verleihen, 33 garantierte dagegen im martyrologischen Kontext die unmittelbare Verbindung zwischen dem süßen Christkind und dem Gräuel des Gemetzels die gewünschte Überzeugungskraft. Auf der oben beschriebenen typologischen Achse führt der rote Faden von der Tatsache der Inkarnation über das Schicksal der Familie und die Strategien der Nachfolger hin zur Idee der imitatorischen Gemeinschaft, die sich selbst als Adoptivfamilie begreifen soll, als ein Kollektivkörper der Aufgenommenen, dessen Integrität gerade durch gemeinsame Akte von compassio und imitatio garantiert wird. Das Martyrium der Grüssauer Zisterzienser lässt sich in diesem Sinne als eine direkte Konsequenz der Macht der Unschuld verstehen, die innerhalb der ›Familie‹ des Ordens durch die Zurschaustellung ihrer eigenen Verwundbarkeit und Opferbereitschaft weitertradiert wird. In der Szene des 1426 durch die Hussiten 31 Bernard, Exordium Parvum, XV, 9. 32 Bruun 2007, S. 50 – 52, 261 – 264. 33 Siehe Kozieł 2006, passim. Zur barocken ›Revitalisierung‹ der Figur Josephs als Hausvater, der den Zweifel an seiner Teilnahme an der Zeugung Christi durch seine familiäre Opfer- und Sorgebereitschaft tilgt, siehe Koschorke 2001, S. 168 – 174; vgl. Sloterdijk 2014, S. 278 – 311 (v. a. S. 282 – 282).

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im Kloster angeblich verübten Massakers werden konsequent die Schwerter der Engel in Märtyrerpalmen umgewandelt und bilden somit eine himmlische Antwort auf die im Fresko mehrfach wiederholten Hiebe der Henker. Die verstümmelten Leichen der Ordensmänner sind als ultimative Zeichen ihrer Verbundenheit mit der ›Familie‹ ihrer Kongregation zu lesen, deren Zweck sich in der weitgehenden Nachahmung der Unschuld Christi erschöpft. Dabei ist gerade die kindliche Unbeflecktheit des die Idole vernichtenden Erlösers und nicht seine Aufopferung am Kreuz der direkte Bezugspunkt, denn anders als die gefallenen und entseelten Idole, die kein Jenseits erfahren und unumgänglich in den Abgrund stürzen, werden die brutal ermordeten Zisterzienser bald eine andere Dimension wahrnehmen und zusammen im himmlischen Gesang die unmittelbare Nähe zur Heiligen Familie genießen können (Taf. 30). Das Martyrium als ein vollbrachter contemptus mundi wird also selbst als gewollter Bildersturm vorgestellt, indem durch das Opfer des eigenen Körpers gerade der Makel der irdischen Körperlichkeit – das eigene Dasein – auf eine heroische Art und Weise für immer überwunden werden soll. Aus dem Chaos des Gemetzels entsteht also unter dem Turm Davids schließlich eine himmlische Ordnung, eine Ordnung der im Jenseits wiedergeborenen Gemeinschaft. Haben die Mitglieder des Konvents während des Massakers geschwiegen und in Ruhe die kompliziertesten Foltertechniken geduldet, für die ihre Körper im Sinne Gallonios als ›Modelle‹ dienten, so finden sie sich nachher im Lobgesang zu Ehren Marias wieder zusammen. Es handelt sich dabei um eine neue Gründung des Kollektivs im Sinne eines postmortalen Abbilds seines Zusammenlebens im Grüssauer Konvent. Diese Widerspiegelung wird bestärkt durch die Tatsache, dass der Bezug der gemalten Realität auf die räumliche Lokalität des Klosters ein direkter ist. Es handelt sich nämlich bei der Darstellung des Turms David, in dem Maria als Kaiserin sitzt, um eine ziemlich klare Anspielung auf die im 17. Jahrhundert entstandene Eingangshalle der mittelalterlichen Grüssauer Klosterkirche vor deren barockem Umbau im 18. Jahrhundert. Wie diese architektonische Struktur in Detail aussah, lässt sich heutzutage nicht mehr genau rekonstruieren. Anhand der vorhandenen, lediglich summarisch das alte Bauwerk wiedergebenden Bildquellen ist jedoch ersichtlich, dass sie als ein offener, an das Mauerwerk der Fassade der gotischen Basilika angebauter Baldachin konzipiert war, in dessen Innerem die drei Monumentalskulpturen der irdischen Dreifaltigkeit – Maria, Joseph und Christus – ihren Platz fanden, die sich heute in direkter Nähe, an der Fassade der im 17. Jahrhundert gebauten Josephskirche, befinden (Abb. 72, 73). 34 Diese überlebensgroßen Figuren waren möglicherweise in einen rhetorischen Dialog miteinander verwickelt: Der zentral platzierte und frontal zum Betrachter gewendete junge Christus erschien dabei als eine Herrschergestalt, mit einem Reichsapfel in der Hand. Es lässt sich vermuten, dass diese Variante der Heiligen Familie ähnlich wie im Leubuser Kloster auf die von Willmann ins Leben gerufene Ikonografie der trinitas terrestris rekurrierte

34 Siehe Kutzner 1993, S. 134 – 135.

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Abb. 72: Johann Tscherning nach Michael Willmann, Ansicht des Grüssauer Zisterzienserklosters vor der Barockisierung 1727 – 1735, Ausschnitt mit der Ansicht der ursprünglichen Klosterkirche, Illustration des philosophischen Thesenblatts mit der Widmung an den Grüssauer Abt Bernhard Rosa, 1678, Kupferstich, SMPK Berlin, Kupferstichkabinett, KdZ/SD/Inv. No. 938 – 132.

Abb. 73: Trinitas terrestris, Figuren der alten Vorhalle der Grüssauer Klosterkirche, heute Grüssau, Josephskirche (Fassade).

und somit an den kämpferischen Einsatz des jungen Christus als Dämonenbekämpfer erinnerte. 35 Das Fresko von Neunhertz, mit dem dieses Bauwerk als ein Erinnerungsstück, das kurz vor Beginn des Neubaus noch direkt vor Ort gesehen werden konnte, in die im Bild verlaufende mittelalterliche Geschichte eingegliedert und narrativiert wurde, nivelliert die zeitlichen Unterschiede zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und lässt die Lokalität des Klosters selbst als Ort einer andauernden Theophanie verstehen. Zwar fehlt der im Portikus präsente Joseph im gemalten Turm Davids, dies lässt sich jedoch durch die exklusive Verbindung zwischen dem Bräutigam und der Braut im Hohen Lied erklären, von dem die turris davidica übernommen wurde, eine Verbindung, die hier vor allem im Sinne der gegenseitigen Liebe von Mutter und Sohn an Relevanz gewinnt. Der junge Salvator,

35 Siehe Kap. 3.

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dem seine Mutter mit einer Hand selbst die Märtyrerpalme überreicht, sucht mit seinem im Gesicht Marias kindlich versenkten Blick eine Bestätigung der mütterlichen Liebe; dabei trägt er allerdings bereits das Kreuz auf seinen Schultern. Er verwandelt sich also gerade durch die Anerkennung vonseiten seiner Mutter von einem kleinen Kind in einen Missionar und Märtyrer. Seine Erscheinung in dem als Turm Davids fiktionalisierten Grüssauer Portikus – der in diesem Kontext wohl eine Versinnbildlichung des von Bernhard von Clairvaux als castellum bezeichneten uterus Mariä darstellt 36 – verleiht dem Martyrium der Zisterzienser einen überzeitlichen und zugleich lokalen Sinn. Dargestellt wird hier eine permanente Geburt der Gemeinschaft. Damit zeigt sich eine historisch bewiesene Zugehörigkeit der Ordensmänner zur großen Familie der Christen als Imitatoren des allerersten Leids und als Nachkommen der biblischen unschuldigen Kinder aus Bethlehem, die in ihrer absoluten Entschiedenheit oder als geplanter Kollateralschaden der Heilsgeschichte und zugleich notwendiger Baustein der Marterkultur kollektiv für die Einzigartigkeit des Erlösers als Hohepriester ihr Opfer tragen. Zwischen dem Immanuel-Kult und dem ersten teleologischen Opfer für Christus – dem bethlehemitischen Kindermord – bestand darüber hinaus in Grüssau eine direkte Verbindung. Um 1735, anlässlich der Neuweihe der Klosterkirche (?), in der die Figur des Christus Parvulus ihren Platz am Altar fand, hatte der Augsburger Stecher Johann Andreas Pfeffel d. Ä. eine Grafik gefertigt, in der die kleine Statue auf einem Weihnachtsstern dargestellt und mit alttestamentlichen Bezeichnungen, darunter Immanuel, Adonai und – besonders interessant in diesem Kontext – König der ›Heiden‹ (Jer 10,7), versehen wurde (Abb. 74). 37 Unter dem in der Luft hängenden leuchtenden Stern ist die Szene des bethlehemitischen Kindermordes zu sehen, ohne dass sie in den Inschriften in irgendeinem Kommentar erwähnt wurde. Dieser Zusatz rekurriert auf die biblischen Geschehnisse im Rahmen einer axiomatischen Verbindung zwischen der Geburt des Immanuels und dem Opfer der Wehrlosen. In diesem kleinen Andachtsdruck ist jedoch lediglich ein Reflex der Bildstrategie zu sehen, mit der die Neuweihe der Klosterkirche als eine Neugründung der Leidensgemeinschaft vollzogen wurde. Denn gerade in Verbindung mit dem Topos der Inkarnation und dem bethlehemitischen Kindermord als erstem Opfer für die Macht des kommenden Erlösers wurden die 1426 gefolterten Ordensmitglieder im Rahmen der als biblisch typologisierten Klostergeschichte selbst zu santi innocenti stilisiert, die für die Würde der in die Welt hineingeborenen Transzendenz ihr Leben opferten. Die typologische Deutungsachse im Querschiff der Klosterkirche erhält dadurch in ihren narrativen Sequenzen einen kohärenten Charakter, so dass die Angleichung des zeitlich Nahen der Lokalgeschichte an das historisch Ferne der Evangelien diese Fresken von Neunhertz als eine Reihenfolge von strikt historischen Bildern erscheinen lässt: Die Typologie verwandelt sich in eine historische Entfaltung. Der

36 Bruun 2007, S. 52 – 58 (augustissimum uteri diversorium). 37 Niedzielenko / Vlnas 2006, S. 350; Koziel 2006, S. 237 – 238; vgl. ebd. 215 – 259; Kozieł 2002, S. 153 – 169.

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Abb. 74: Johann Andreas Pfeffel, Grüssauer Immanuelfigur und der bethlehemitische Kindermord, 1735, Druckblatt, Kupferstich, Breslau, Ethnografisches Museum, Inv.-Nr. EG – 275.

Martertod der Mitglieder der Kongregation erscheint in diesem Kontext als Konsequenz und inhärenter Teil des Abstiegs Gottes in die Welt und ist in seinem teleologischen Wert genauso apriorisch wie das allererste Opfer der – in ihrem heilsgeschichtlich vorbestimmten Schicksal vollkommen anonymisierten – Kinder, die von Söldnern des Herodes ermordet wurden. Die Grüssauer Zisterzienser argumentieren jedoch nicht nur mit der Poetik der überhistorischen, als Geschichte verkleideten Typologien. Neunhertz’ Bild zeigt darüber hinaus das historische Ereignis an seinem tatsächlichen Ort. Ähnlich wie die visuelle Dokumentation der Entdeckungen in den römischen Katakomben kommt es dem Wunsch nach materieller Greifbarkeit und Verifizierbarkeit nach. Die Aktualität der mittelalterlichen Geschichte, so wie sie im barocken Grüssauer Marterbild inszeniert wurde, drückt sich folglich in Verbin-

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dung mit einem zusätzlichen Element aus, das im rhetorischen Abschluss das angebliche Ereignis von 1426 ›materialisiert‹, und zwar als eine lesbare Konsequenz der figurativen Erscheinung des Immanuel in seiner Grüssauer Altarstatue am Anfang dieser Bilderreihe. Hier zeigt sich am deutlichsten die Rolle der Freskotechnik als Medium, das über die im Kircheninneren zu findenden leiblichen Reste der Vergangenheit ein verhüllendes velum der sich panoramatisch entfaltenden Geschichtsdarstellung spannt. Direkt unter diesem Bild des Leidens wurde nämlich vor der Neuweihe der Kirche ein Relikt im Altar ausgestellt, und zwar als ein deutliches Pendant zur Immanuelfigur. Es handelt sich bei diesem Arrangement jedoch nicht um Körperpartikel aus einem Grab der angeblich ermordeten Brüder – dieses war nicht (mehr) zu lokalisieren. Als eine lokale Reliquie wurde unter dem gemalten Gewölbe ein angeblich durch einen Häretiker geschändetes mittelalterliches Kruzifix aus dem nahe liegenden Dorf Würben (Wierzbna) zur Schau gestellt, das bereits 1617 in die Klosterkirche durch den Abt Martin Clavaei, ein Jahr nach dessen Amtsantritt, überführt worden war. Diese Bildreliquie befand sich zuerst hinter dem Hochaltar der gotischen Basilika und wurde bei der ersten Barockisierung in den sogenannten Mönchschor in der Mitte der alten Klosterkirche verschoben, um dann 1735 seinen bis heute aktuellen Ort zu finden (Abb. 75). 38 Das geschändete Kreuz – ein gemartertes Marterzeichen – wurde unmittelbar nach seiner ersten neuen Translation in ein lokales Heiligtum verwandelt, indem es nicht nur an den protestantischen Bildersturm erinnern sollte, sondern darüber hinaus mit einem neuen ›Martyrium‹ – dem leiblichen Eigenopfer vonseiten der Kongregation – in Verbindung gebracht wurde. Direkt vor diesem Kreuz wurde nämlich Abt Clavaei als erster Ausführer der Rekatholisierung im Grüssauer Stiftsland beigesetzt, nachdem er am 29. Dezember 1620 in ´ askie) Schömberg (Chełmsko Sl ˛ durch seine Landsleute ermordet worden war. Der Mord war eine direkte und sofortige Konsequenz seiner Rekatholisierungspolitik. Clavaei hat kurz zuvor die konfessionellen Freiheitsgarantien des Majestätsbriefes Rudolfs II. von 1609 gebrochen und den lutherischen Pfarrer in Schömberg durch einen katholischen Priester ersetzt, was die protestantische Bevölkerung der Stadt empörte. 39 Die katholische Tradition würdigt jedoch seinen Tod als ein beim Verhindern der anti-kaiserlichen Revolte erbrachtes katholisches Opfer. Laut der lokalen Überlieferung soll er aus dem Fenster im ersten Stock eines Hauses geworfen worden sein, was an sich eine Art ›poetische‹ Wiederholung des zwei Jahre zuvor geschehenen Zweiten Prager Fenstersturzes vom 23. Mai 1618 darstellt, der den Dreißigjährige Krieg auslöste. Diese ›Angleichung im Tode‹ bedarf an dieser Stelle einer kurzen Darlegung der bestimmungspolitischen Bildtopik des katholischen Opfers im 17. Jahrhundert, damit die Signifikanz des programmatisch in eine Märtyrerarena umgestalteten Ortes in der Grüssauer Klosterkirche noch deutlicher zum Vorschein kommt. Die spezifisch ›böhmische‹ Art und Weise, politische Gegner aus dem Fenster zu werfen, war damals bereits zu einem konfessionellen Leitbild geworden. Dies bezeugt unter anderem 38 Zi˛etara 1993, S. 9 – 12; Koˇrán 1993, S. 17 – 25. 39 Herzig 2002, S. 41. Vgl. Hahn 1735, S. 23 – 24.

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Abb. 75: Das Kruzifix aus Würben, Grüssau, ehem. Zisterzienserkirche Mariä Himmelfahrt (im Altarschrank von 1744).

ein außerordentliches Votivgemälde, in dem die Errettung der Opfer des Prager Fenstersturzes von 1618 – der beiden kaiserlichen Statthalter Wilhelm von Slawata und Jaroslav Boˇrita von Martinic 40 wie auch des Kanzleisekretärs Philipp Fabricius – durch die wundersame Intervention Marias dargestellt wird (Abb. 76). Das Bild, gestiftet von Slawata selbst als politisches ex voto, zeigt die drei Unglücklichen, die übrigens den Sturz durch die Landung auf einem Misthaufen tatsächlich überlebt haben, im Moment des Fallens, dessen symbolische Flugbahn im Bild auch markiert wird. 41 Es ist eine Momentaufnahme, kurz bevor die durch ihren Sturz berühmt gewordenen Opfer der protestantischen Gewalt durch drei jugendliche, engelähnliche Gestalten mithilfe von Sprungtüchern aufgefangen werden. Diese drei Engelsboten stehen wiederum auf drei Glas- oder Kristallkugeln, die von Maria und dem auf ihrem Schoß sitzenden Christuskind gehalten werden. Somit erweisen sich die Helfer eher als

40 Die beiden sollen einige Zeit zuvor gewusst haben, dass sie Märtyrer werden: Sie haben eine Vision in der Wenzelskapelle des Veitsdomes erlebt, indem ihnen ihre Gesichter in den Bildern und Edelsteinen der Kapelle erschienen sind, was damals einen baldigen Tod bedeutet haben soll. Siehe Dvorský / Chadraba 1990, S. 128 – 140, hier: S. 131 – 132; vgl. Louthan 2009, S. 71 – 75. 41 Dvorský / Chadraba 1990, S. 136, schreiben über »super-windsurfing«.

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Abb. 76: Ex voto von Wilhelm von Slawata, nach 1618, Öl auf Leinwand, Telˇc, Schloss.

Botschafterinnen der Fortuna, 42 die den Beamten mit ihren aufgespannten Segeln das Leben retten, von denen das mittlere dazu mit einem bequemen Kissen ausgestattet ist. Maria, die am Ende dieser Kette wunderbarer Rettungsdienste erscheint, wird durch eine Inschrift als Charitas gedeutet, in deren Schoß die drei katholischen Opfer aufgenommen werden sollen. Hinter Marias Thron liegen zwei monumentale Kreuze, versehen mit Marterwerkzeugen, Totenschädeln und zwei großen Konsekrationshostien. Diese Darstellung problematisiert das historische Ereignis als Topos und stellt das Schicksal der katholischen Amtsträger als entwicklungsgeschichtlich und zweckbedingt gesichert dar, indem Fortuna und Charitas sich ausgesprochen mütterlich um ihre Sicherheit als Kinder auf dem Spielplatz der Geschichte kümmern. Dadurch aber, und obwohl oder gerade weil solch ein teleologisches Konstrukt dem eigentlichen Sinn des Schicksals widerspricht und obwohl die Opfer den Angriff überlebt haben, werden sie als auserwählte Akteure der politischen Heilsgeschichte zu ›Märtyrern‹ stilisiert. Schicksal, Glück und Zufall erweisen sich lediglich als Werkzeuge innerhalb 42 Vgl. Schäufele 2006, S. 23 – 28; Meyer-Landrut 1997, passim.

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eines Drehbuchs der konfessionellen Tragödie, das in seiner zielbewussten Konsequenz über die einzelnen historischen Ereignisse hinausragt. Die antike Fortuna als Herrin über den unvorhersehbaren Gang der Dinge, als die oberste Natur der in die unbekannte Zukunft laufenden Welt, so wie sie beispielsweise aus den Schriften von Boethius bekannt ist, 43 muss sich also der katholischen Charitas unterordnen, die als einzige mit dem exklusiven Instrument der consolatio den verfolgten Glaubensgenossen eine positive Versprechung bereitet. Dieses Vertrauen in den katholischen Heilsplan hat sich für Slawata übrigens sehr gelohnt: Weil er – so wie auch seine herausgeworfenen Begleiter – den Fenstersturz überlebte, wurde er nachträglich mit Ehren wie dem Amt des Großkanzlers von Böhmen und des Reichsgrafen oder dem Orden des Goldenen Vlieses ausgezeichnet, ganz abgesehen von der durch Quellen belegbaren persönlichen Zuneigung des Kaisers Ferdinand III. Dem Überlebenden und somit wichtigen triumphalen Symbolträger der katholischen Liga wurde – als Sinnbild der Beständigkeit – vonseiten der höchsten Majestät persönlich eine Ehre erwiesen, die bislang nur dem 1630 in Wien verstorbenen Domenico à Jesu Maria, dem karmelitischen Mitstreiter auf dem Weißen Berg, zuteil geworden war. 44 Das fiktive Opfer der Botschafter bei ihrem Flug aus dem Burgfenster war dementsprechend nur eine Dimension ihres Todes, ein vergleichsweise radikal prosaisches Ereignis. Vielfältig überboten wird diese Dimension im Sinne einer apriorischen Sinngebung oder während der Ausführung des geplanten Akts des Herauswerfens. Und sie wird auch darüber hinaus überdeckt von der sinngeschichtlichen Hülle des zentralisierten Erinnerns. Man kann sagen, dass sogar die Möglichkeit besteht, dass die Memoria dieser potenziellen Opfer geplant gewesen war, bevor ihr ›Tod‹ eintrat. Die märtyrologische Vorlage für dieses Geschehen, das 1618 sowieso als Wiederholung des mittelalterlichen Schmachakts von 1419 anzusehen ist, als Ratsherren durch Hussiten aus dem Fenster geworfen wurden, gab ihm als einem historischen Schwellenereignis umso mehr eine neue narratologische Kraft. Der allein biologische Tod, der sowieso nicht eintrat, verliert weitgehend an Plausibilität und wird nebensächlich im Diskurs. Einerseits bildhafte imitatio, andererseits Evidenzversuche im Bildbereich – dies ist die zerrissene Dimension dieses modellhaften ›Opfers‹, das als eine faktische Realisierung der Staatsverletzung medial propagiert wurde. Für Eingeweihte war sie in Slawatas Schloss auch in Form einer vom Überlebenswunder erzählenden bildlichen Danksagung zu erfahren: Slawatas Votivbild ist als eine auf dem korrektiven Kurs gegenüber der laufenden, medial aufgebauten Mordnarration entworfene Bewahrheitung des Wunders zu verstehen beziehungsweise kann auch als eine Erklärung der Erscheinung von einem, der längst für tot erklärt wurde, gedient haben – für diejenigen, die der Erzählung zum ›Todesereignis‹ treu gefolgt sind. In diesem provinziell und doch zentral verankerten, mit Bildern unterstützten Gesamtnarrativ zum Fenstersturz und seinem Nachleben manifestiert

43 Vgl. Meyer-Landrut 1997, S. 30 – 36. 44 Hengerer 2011, S. 140 – 141.

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sich gerade die Vielschichtigkeit von diskursiven Verknüpfungen diverser Zeitdimensionen, die erst die Relevanz der Ereignisse als historische Schwellen ausmachen. In diesem prospektiven Sinne wird durch eine Anknüpfung an den Beginn der konfessionellen Auseinandersetzung in Prag 1618 der Tod des Grüssauer Abtes durch Fenstersturz von 1620 als Teil der zweckmäßig-kausalen Natur der Geschichte kultiviert. Somit wurde auch der Anfang der Rekatholisierung im Stiftsland Grüssau – noch bevor die systematische böhmische Geschichtsschreibung im Prager Clementinum nach 1650 notwendige Grundlagen für die lokale Etablierung solch universeller Topoi schuf – mit einem geografisch und historisch nahen Martyrium in einem leicht erkennbaren und politisch konnotierten Format ausgewiesen. Mithilfe solch einer Spiegelung als Argument konnte schließlich das Schicksal des ersten Grüssauer ›Rekatholisators‹ als eine logische und historiografisch erklärbare Folge der mittelalterlichen Martergeschichte erscheinen, in welcher der lokale Status der Zisterzienser als entschlossene Glaubensverteidiger im ewigen Krieg der Konfessionen ersichtlich wird. Das geschändete Kruzifix aus Würben wurde somit posthum zu einem ›persönlichen‹ Kreuz des gemarterten Oberhauptes der Kongregation, kurz vor der erfolgreichen habsburgischen Umwandlung des ganzen Landes infolge der Schlacht am Weißen Berg. Die Relevanz dieser memorialen Inszenierung kommt noch deutlicher zum Vorschein, wenn man beachtet, dass das Grüssauer Gnadenbild – die absente Muttergottes – erst einige Jahre danach, 1622, wiederentdeckt worden ist. Die starke Zentralisierung der Blicke und Kultobjekte, so wie sie seit 1735, seitdem dieses Marienbild auf dem Hochaltar steht, in der neuen barocken Basilika vorgenommen wurde, war in der alten gotischen Kirche noch nicht vorhanden. 45 Der aktualisierende Sinn der gerahmten Themenachse zwischen dem Fresko mit den gegen die amerikanischen Ureinwohner im Heiligen Land kämpfenden mittelalterlichen Kreuzrittern im Hauptschiff und dem sich direkt im rechten Joch des Querschiffs anschließenden Marterpanorama wird anhand dieser einhundert Jahre älteren Inszenierung des Abtgrabes umso verständlicher. Es handelt sich dabei um einen Vorgang, der als Verwischung beziehungsweise Verschleierung der Grenzen zwischen der historischen Genealogie und der überzeitlichen Typologie bezeichnet werden kann. Die Grüssauer Zisterzienser werden selbst zu Rittern des Glaubens, die Bernhard von Clairvaux bereits 1204 auf einen Kreuzzug schickt. Sie erlangen allerdings diesen Status nicht durch eine formal-institutionelle Ermächtigung, sondern durch eine vor den Augen des Betrachters entwickelte Kette von bildlichen Angleichungen und lokal-historischen Parallelen. Diese wurden durch die Darstellung der Aktivierung der Hostie als polemisches Kampfmittel durch Bernhard von Clairvaux in Gang gesetzt, eine Szene, die den Anfang des aus zeitlich unterschiedlichen Erzählstoffen gewo-

45 Jurkowlaniec 2011, S. 200 – 217, erstellt eine Deutungsachse zwischen Immanuelfigur, Gnadenbild und Kruzifix (S. 203), sodass laut ihrer Interpretation der ganze Grundriss der neuen Kirche zusammen mit dem Querschiff pauschal der Zurschaustellung der drei »verletzten« Bilder in dem »blendenden Licht der Offenbarung« (S. 208) dienen sollte.

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benen Narrativs markiert. Solche überzeitlichen Verwandtschaften werden schließlich als treibende Kraft der konfessionellen Geschichte am Ende der Kette dieser logisch aufeinander folgenden ›historischen Ereignisse‹ von Maria anerkannt. Als biblische Braut und Turm Davids, die als christliche Gottesmutter wieder am Anfang aller Typologien steht, macht sie mit ihrer eindeutig empfehlenden Geste den jungen kreuztragenden Christus, den werdenden Märtyrer, der für die ganze Menschheit verantwortlich sein wird, auf die vor ihrem eigenen Kreuz für die lokale Gemeinschaft gerade hic et nunc sterbenden Grüssauer Märtyrer von 1426 als seine treuen Leidensgenossen aufmerksam. Das Martyrium kann hier sogar als ein Impetus für die Vereinigung von Braut und Bräutigam gelesen werden, indem sich gerade im Moment der gemeinsamen Bezeugung des Massakers durch Maria und Christus der Sinn der gegenseitigen Sehnsucht (desiderium) erfüllt: Die Mutterschaft wird abermals und nun auf einem neuen Boden mit heilsgeschichtlichen Zügen ausgedehnt, und die ecclesia wird wieder als das Zusammentreffen der Leidensgemeinschaft der unschuldigen Kinder evoziert. 46

Die barocke Freude am contemptus mundi und die urchristlichen Grundlagen der kollektiven Unschuld Anlässlich der Neuweihe der Kirche 1735 wurde das in einen Meilenstein der lokalen Konfessionsgeschichte umgewandelte profanierte Kreuz aus Würben an seinen jetzigen Standort in den südlichen Arm des Querschiffs gebracht und auf einem Altar sowie 1744 in einem verglasten Schrank platziert, ähnlich dem gegenüber im nördlichen Arm des Querschiffs aufgesetzten Immanuel. 47 Das Marterfresko von Neunhertz war zu diesem Zeitpunkt bereits ausgeführt; es handelt sich bei diesem Wechsel des Aufbewahrungsortes der geschändeten und inzwischen auch politisch aufgeladenen Kreuzreliquie um eine bewusste Zusammensetzung der gemalten und der leiblich durch Relikte verkörperten Leidensgeschichte. 48 Es entsteht dabei eine Art typologisch erzeugter Evidenz, die nicht auf Ausführlichkeit und Detailliertheit der Berichtsmedien beruht, sondern durch die visuelle Inszenierung verschiedener Stufen der sinnlich erfahrbaren körperlichen Präsenz definiert wird. Mit diesem Schritt wurde der im Fresko dargestellte historische Tod der Grüssauer Ordensbrüder mit dem Christusopfer nicht nur typologisiert, sondern auch synchronisiert. Die Opferbereitschaft der Zisterzienser wurde durch den direkten Bezug einiger Bildfragmente auf die Kreuzreliquie als ein aktives exemplarisches Bild präsentiert: Die Gestalt eines gekreuzigten Zisterziensers genau oberhalb des ausgestellten Kruzifixes ist als eine Wiederholung

46 Zur Theologie der ecclesia als Braut bei Bernhard siehe: Benke 1991, S. 265 – 269. 47 Lutterotti 1962, S. 19 – 26. 48 Ebd., S. 6, 67 – 71.

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Abb. 77: Andrea Commodi, Die Kreuztragung Christi und das Martyrium des hl. Gervasius und hl. Protasius, 1601 – 1603, Fresken, Rom, San Vitale.

und Nachahmung Christi zu deuten, seine Gestalt erinnert sogar an den guten Schächer Dismas. Ein anderer, vor seinem gekreuzigten Ordensgenossen auf dem Boden liegender Bruder schlägt seine Arme auf, um die gleiche Stellung einzunehmen, bevor er mit dem Dolch erstochen wird, und bildet somit ein Verbindungsglied zwischen orans und martyr. Mit solchen Angleichungen folgt diese Vision thematisch anderen damaligen typologischen Konstruktionen, die sich aber visuell lediglich im Medium des monumentalen Bildes ausdrückten. Als Beispiel wären in diesem Kontext die von Andrea Commodi 1601 – 1603 gemalten Apsisfresken in San Vitale in Rom zu nennen, in denen die monumentale Kreuztragung Christi mit großem Gefolge in der Kalotte mit den in der unteren Zone angebrachten, figurenarmen Marterszenen von Gervasius und Protasius in ein imitatorisches Verhältnis gesetzt wurde (Abb. 77). 49 Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass dem schreinartigen

49 Bailey 2003, S. 166 – 186. Siehe eine detaillierte Fotodokumentation der Fresken in: Papi / Petrioli Tofani 2012; Papi 1994, S. 15 – 23.

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Grüssauer Retabel mit dem Kruzifix die Figuren der biblischen Konvertiten Longinus und Dismas hinzugefügt wurden, um gerade diesen bereits angedeuteten imitatorischen Bezug zu verstärken. Somit wurde insgesamt der durch die Grüssauer Zisterzienser auf typologischer Basis formulierte, gemeinschaftsbildende Appell zur geistigen Nachahmung mit dem unschlagbaren Argument der erhaltenen Substanz der leibhaften Reliquie gekoppelt, die selbst imstande ist, weitere Bildtypologien vor Ort zu erzeugen. Eine Evidenz, die sich im Verweis erschöpft. Gleichzeitig wurde das Sterbenspanorama interessanterweise mit einer Art wissenschaftlichen Überprüfung von historischen Foltertechniken markiert. Direkt hinter dem als Kreuzgenosse Christi positionierten Zisterzienser ist im Fresko ein weiterer Ordensbruder zu sehen, der auf einen Spitzpfahl aufgespießt wurde. Diese Darstellung, in ihrer Statik eher untypisch für die barocke Ikonografie des Martyriums als Leidenschaft, knüpft an eine der Illustrationen an, die in den gedruckten Debatten um die Technik der Kreuzigung Christi und die Mittel der Verfolgung der ersten Christen publiziert worden waren. Es handelt sich in diesem Fall um einen Druck mit dem Titel De Cruce Christi von 1670, eine bebilderte Archäologie des Schlüsselmoments der Passion, in der die berühmte Frage der Zahl der Nägel am Kreuz behandelt wird (Abb. 78). 50 Mit diesem Einschub wurde die Rekonstruktion der lokalen Geschichte im Grüssauer Fresko nicht nur mithilfe einer Parallelisierung verschiedener Dimensionen der Geschichte mit Abb. 78: Tod am Spitzpfahl, in: Thomas der lokalen Reliquie des geschändeten Kruzifixes Bartholin, De Cruce Christi: hypomnemata IV, 1670. gestaltet, sondern diese wurde ebenfalls auf einer vermeintlich kritischen, historisch-archäologischen Untersuchung und ihrem zirkulierenden Bildfundus gegründet, auch wenn dieser Bezug vor Ort im Bilde lediglich als fragmentarisch zu lesen ist. Der Wechsel des Aufstellungsortes ermöglichte also eine neue Semantisierung des geschändeten Kreuzes im Sinne seiner historischen und typologischen Zuordnung. In Grüssau scheint damit der alte Topos der ecclesia primitiva, der im gegenreformatorischen Zeitalter mithilfe der christlichen Archäologie eine neue Blütezeit erlebte, hervorgerufen worden zu

50 Bartholin 1670. Vgl. Hecht 1997, S. 384 – 391.

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sein. Dieser Bezug ist nicht mit den stilistischen Archaismen gegeben, sondern wird eher in der Art und Weise sichtbar, wie eine Gemeinschaft durch einen an Kampf und Opferbereitschaft mahnenden Einsatz von Bildern kreiert wurde. Der heroische Tod der Mitglieder des Grüssauer Konvents als eine communitas, so wie er durch Neunhertz dargestellt wurde, rekurriert dabei natürlicherweise selbst auf ein nachtridentinisches Interesse an frühchristlichen Martergeschichten, das sich bekanntlich in der Tätigkeit des römischen Kardinals Cesare Baronio und seiner Nachfolger ausdrückte. Dieser pflegte nicht nur die Ursprünglichkeit der katholischen Kirche in seinen berühmten, zwölfbändigen Annales Ecclesiastici von 1588 – 1593 detailliert zu beweisen, sondern auch die tatsächlichen Spuren am Ort zu bewahren und die christlichen Tempel Roms zu rekonstruieren. In seiner römischen Titularkirche SS. Nereo e Achilleo hat er unter anderem das alte frühchristliche Mosaik der Apsiskalotte erhalten beziehungsweise wieder herrichten lassen. Dieses wurde mit der neuen, synkretistisch archaisierenden Ikonografie in einem Fresko mit den um die croce gemmata versammelten Märtyrern in der Apsiskalotte konfrontiert, welches das verloren gegangene altchristliche Mosaik mit den unter dem Kreuz dargestellten Schafen ersetzen musste (Abb. 79). 51 Damit bezweckte Baronio, die monumentale Stärke der communitas der Märtyrer mit dem zentral figurierten Opfer des Kreuzes mithilfe eines anachronistisch eingesetzten, aber doch neuen Bildmediums visuell zu betonen und somit auf die Reinheit, Würde und vor allem Beständigkeit der ursprünglichen Gemeinschaft der ersten Kirche durch die Demonstration einer kontrollierten antiquitas restituta hinzuweisen. 52 Dieses Paradigma, das auf Neuentdeckung und visueller Rekonstruktion derjenigen Körper- und Bildreste basierte, die eine Aufrechterhaltung der katholischen Identität garantierten, hatte dementsprechend nicht nur die Ver-

Abb. 79: Heilige und Märtyrer unter dem Kreuz Christi, 1597 – 1600, Fresko, Rom, SS. Nereo e Achilleo.

51 Turco 2009, S. 87 – 107; Turco 1997; Herz 1988a, S. 590 – 620. Vgl. Röttgen 2009, S. 33 – 48. 52 Zu den Restaurierungsarbeiten vor Baronio: Banchini 1988, S. 3 – 18. Vgl. zur Originaldekoration: Richter 2009, S. 137 – 161, hier insbes. 142 – 143; Curzi 1993, S. 21 – 45.

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teidigung des ›alten Glaubens‹ mithilfe eines ›alten Bildes‹ zum Ziel, sondern demonstrierte das Fortdauern der institutionalisierten Urformen der katholischen Religion gerade trotz der sich in der Zeit manifestierenden medialen Differenzen und palimpsestartigen Schichtungen. Damit wurde konsequent nicht die zeitliche Distanz, sondern die zum Axiom gewordene Permanenz der aktuellen liturgischen und kollektive Identität bildenden Funktionen der katholischen Kirche aufgezeigt, die dem ursprünglichen Kommunitätsgedanken der ersten Christen direkt entsprachen. 53 Vergleicht man in dieser Hinsicht das historisch gemeinschaftsbildende Programm der Grüssauer Fresken mit den allerersten Bildarchetypen der christlichen communitas, wird die subjektbildende Rolle der Marterdarstellung von Neunhertz umso deutlicher. So werden, wie etwa im Mosaik in S. Apollinare in Classe bei Ravenna (Taf. 31), in Grüssau die Mitglieder der Glaubensgemeinschaft in einem ähnlich monumentalen Bild super corpus (corpora) versammelt und analog von einem durch das geschändete Kruzifix verkörperten Anführer ins Heil des Kreuzes geleitet. Die in ihrer Passivität zu unschuldigen Schafen Christi stilisierten Ordensmitglieder erreichen durch ihr Leiden und ihren Tod, das heißt typologisch durch den wiederholten Weg des Kreuzes, Zugang zu den Reihen der Märtyrer. Apollinarius, in Ravenna laut den frühesten Quellen aus dem 5. Jahrhundert als confessor verehrt, der in seinem Eifer und seiner Aufopferung einem martyr glich und darüber hinaus als ein Begleiter des Petrus galt, steigerte in der Basilika in Classe seine leibliche Präsenz aufgrund der politischen Intentionen der lokalen Gemeinde, die durch einen Kult super corpus an Status zu gewinnen beabsichtigte. 54 Das bisherige Patrozinium der Kirche – wahrscheinlich die des Heiligen Kreuzes – wurde bald zugunsten des neuen Patrons geändert. Erst zehn Jahre nach der Stiftung der Basilika soll auch der Sarkophag des Apollinarius in die werdende Kultstätte gebracht worden sein. 55 Eine erfolgreiche Entwicklung dieser Heiligenpersönlichkeit machte mit der Zeit auch entsprechende Akzessorien des institutionell zu verbreitenden und steuernden Kultes erforderlich, wie etwa einen Stein mit den Fußabdrücken des Heiligen, die indexikalisch und zugleich christomimetisch den Moment, in dem der neue Anführer und geistige Stifter der Gemeinde getauft wurde, memorieren – einen sichtbaren Beweis der eigenen erfolgreichen Konversion und folgenden Karriere also. 56 Als modellhafter Gründer der Gemeinde wurde Apollinarius in der Hagio- beziehungsweise Historiografie ebenfalls die Rolle eines frühchristlichen Bilderstürmers und Dämonenbe-

53 Ähnlich Richter 2009, S. 144. 54 Jäggi 2013, S. 274 – 278; Jeffery 2011, S. 128. 55 Longhi 2013, S. 278. Vgl. Jäggi 2013, S. 279 – 282 (zur Basilika S. Appollinare in Classe als Grablege der ravennatischen Bischöfe). 56 Dinkler 1964b, S. 118 – 119: »In basilica beate Eufemie que vocatur Ad Arietem, primitus baptismum fecit, et ubi pedibus stetit, liquefactus est ille lapis et vestigial quasi signum inpresa sunt.«

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kämpfers zugewiesen, die er vorbildlich erfüllt haben soll: »templa deorum subvertit et simulacra cumminuit, [. . . ] demones efugavit [. . . ]«. 57 Die ursprüngliche Staurophanie wich also in der Basilika in Classe gewissermaßen einem neuen, an die apologetischen Standards angepassten Personenkult, mit dem der imitatorische Trieb der christlichen Gemeinde intensiviert und bildlich bereichert werden konnte. Schließlich, wie man heute vermutet, erschien die Gestalt des Bischofs von Ravenna als bildliche Ergänzung in der bereits früher vorhandenen, mithilfe der himmlischen Kreuzeserscheinung auf die biblische Transfiguration verweisenden Komposition des Chormosaiks erst, als seine Mission als Hüter der lokalen Christenseelen erfüllt worden war. 58 Das Mosaik modifiziert mit diesem Schritt die übliche Ikonografie der Transfiguration, wie sie beispielsweise in dem nur aus schriftlichen Quellen bekannten Mosaik in S. Paulino in Nola vorhanden war, wo unter dem Gemmenkreuz ein mystisches Lamm stand. 59 Die Ergänzung animiert die bildliche Präsenz des Patrons als Leiter der beim kosmischen Gemmenkreuz sich versammelnden Schafe und erklärt ihn zum eindeutigen Sinnbild der lokalen Gemeinde. 60 Die Führung dieser Gemeinde in einem einheitlichen Bild zur sich im Kreuz manifestierenden Transzendenz Gottes scheint seine Verdienste als confessor zu bestätigen und fungiert als Synonym beziehungsweise als eine Konsequenz der vermeintlichen Vernichtung der antiken simulacra und der Vertreibung der Dämonen. Mit solchen Zügen der frühchristlichen Ikonografie im Prozess der produktiven Umwälzung des rein apologetischen Verfahrens in ein gemeinschaftsbildendes Gedankengut sind Präzedenzen oder Modelle erschaffen worden, die nach mehreren Jahrhunderten in ihrem Grundsatz auch in der wiederholten Gründungszeit der selbst zur Notwehr getriebenen Christengemeinde ihre Gültigkeit keineswegs verloren haben. Im Grüssauer Kloster, in dem der barocke Geschichtsdiskurs die staurophanische Ausrichtung des lokalen Kultes mit einem Überschuss an transzendenter Affektrhetorik des Leidens strukturell gekoppelt hat, haben wir es mit einer der späteren Folgen solcher auf Bildkonflikten aufgebauten frühchristlichen Identitätskonstrukte zu tun. Der Ort, an dem sich in Grüssau das Szenario des Schreckens abspielt, scheint – architektonisch gesehen – ebenfalls nicht zufällig gewählt worden zu sein. Das Querschiff war bei den christlichen Basiliken in ihrem frühen Entwicklungsstadium ein geeigneter locus für die Opferung der Weihgaben durch die Gemeinschaft, für die Aufstellung der ersten Märtyrergräber, die Exposition ihrer Reliquien und die Kultivierung ihrer Memoria. 61 Als 57 De sancto apolenario, S. 21. Zu Apollinarius als Bilderstürmer vgl. Voragine, Legenda aurea, S. 521 – 523. 58 Longhi 2013, S. 278. Vgl. Jäggi 2013, S. 271 – 273; Michael 2005, S. 82, 129, 130, 176, 183, 187; Casartelli Novelli 2000, S. 63 – 72; Pelà 1970, S. 146 – 150; Dinkler 1964b, S. 72 – 76, 100 – 103. 59 Ebd. S. 52 – 54. 60 Jeffery 2011, S. 128 – 135, 135 ff. (zur Bedeutung des einfallenden Morgenlichts für die Praxis des Gebets). 61 Vgl. u. a. Krautheimer 1969, S. 59 – 68, insbes. S. 59 – 60, 61, 62 – 64.

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eine architektonische Grenze bildete es sicherlich bereits in der frühchristlichen Zeit einen Bruch innerhalb des liturgisch bestimmten, nach Osten ausgerichteten Raumes der Kirche. Ausgezeichnet mit einer dezidierten Frontalität der Wandexposition, bildete die Achse des Querschiffes mit ihren Wandflächen auf dem Weg des Betrachters in Richtung Altar und Bischofsthron (unter Berücksichtigung verschiedener Abweichungen vom einfachen durchgehenden Typus) eine räumliche wie auch optische Unterbrechung. In der barocken Grüssauer Klosterkirche, deren neuer Grundriss zugunsten der anachronistischen, in ihrer Basis wohl eher mittelalterlich anzusehenden Disposition eine sichtbare Kreuzform kultiviert, bildet das geräumige, mit zwei östlichen Nischen ausgestattete Querhaus eine auch in diesem Sinne autonome Kommunikationslinie oder eher dem Blick ausgestellte Projektionsfläche. Durch die Anbringung des Kreuzes in einer der Nischen, parallel zu der Figur des Immanuel in einer anderen Nische – direkt unter dem Bild des Martyriums –, wurde durch den durchgehenden gegenseitigen Bezug der Fresken und materiellen Relikte im Querschiff ein autonomer, mit erzählerischen Kontinuitäten und gegenständlichen Analogien ausgestatteter Raum geschaffen: eine Schauwand von Bildern und Objekten. Das monumental ausgeführte Thema des Martyriums, das die Zugehörigkeit zur Gruppe der hier und jetzt notleidenden Bekenner versinnbildlicht, macht das Leiden zur Folge einer freiwilligen Kollektiventscheidung. Damit wird sein stärkstes Ebenbild aufgerufen, in dem sich eine andere Zugehörigkeit, die Treue gegenüber dem ewigen Dienst der Institution, manifestiert: Das Leiden der Gemeinschaft spiegelt sich in dem Bild des institutionalisierten eucharistischen Kultes als Abschaffung der ›falschen‹ Ordnung zugunsten des ultimativen Opfertriumphes. Wirft man einen Blick auf die barocken Chorschranken von 1730 bis 1735, direkt unter der fiktiven zentralen Kuppel der Grüssauer Kirche, findet man einen ausdrücklichen Beweis dieser gezielten Bildpolitik. Eine der an den reich dekorierten, hölzernen Chorschranken angebrachten Relieftafeln zeigt das mittelalterliche Martyrium der Grüssauer Zisterzienser in einer schlichteren, jedoch sehr markanten und auch aus der Entfernung erkennbaren Auffassung (Abb. 80). Die Mitglieder des Konvents werden nämlich in diesem Bild während der eucharistischen Adoration vor der auf dem Altar stehenden Monstranz durch die plötzlich in den Kirchenraum eindringenden Hussiten ermordet. Hiermit wurde ein umfassendes Leitbild kreiert, welches das Martyrium als Akt einer neuen Einsetzung des Sakraments stilisiert, einer Institutionalisierung der höchsten Verkörperung, die sich vor allem mit der Fähigkeit auszeichnet, die hiesige Realität sichtbar als Punktum transzendieren zu können. Die Präsenz der ›wahren‹ Eucharistie als Inbegriff der Bekämpfung der ›falschen‹ Körperlichkeit, die seit jeher durch die im Dienst der ›heidnischen‹ Staatskulte stehenden Idole versinnbildlicht war, situiert den Mord an den Grüssauer Mönchen als ein Ereignis, das als endgültige Gemeinschaftsgründung durch gemeinsames Opfer im Namen der Transzendenz verstanden werden sollte. Ähnlich wie der mythische erste schlesische Bischof Gottfried, der laut der barocken Propaganda an der Stelle des von ihm persönlich gestürzten ›heidnischen‹ Idols die Eucharistie als neues Modell eingesetzt und damit die Institution der

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Abb. 80: Das Martyrium der Grüssauer Zisterzienser, 1730 – 1735, Relief der Chorschranken, Grüssau, ehem. Zisterzienserkirche Mariä Himmelfahrt.

Breslauer Diözese ins Leben gerufen haben soll, 62 so soll es den Grüssauer Zisterziensern gelungen sein, mit ihrem kollektiven Leid eine entscheidende historische Schnittstelle der lokalen Kirchenhierarchie zu markieren beziehungsweise deren Zweck zu erfüllen. Die auf dieser Tafel dargestellte Verbindung des Martertodes mit der Eucharistie geht einerseits auf die zu der Zeit bereits vorhandenen typologischen Bildmotive des anonymen Feindes, der zum negativen Spiegel der Opfer wird, zurück, 63 andererseits finden sich konkrete Textvorlagen, die als Quellen für diese Modifikation der üblichen chronikalischen Überlieferung gedient haben mögen. Es handelt sich dabei wieder um Cistercium bis-Tertium von Augustin Sartorius, diesmal jedoch um die 1708 herausgegebene deutsche Ausgabe. Der Ossegger Historiograf beschreibt in seinem Buch eine Geschichte aus dem Zisterzienserkloster Magio in Irland, nach der sich im Jahr 1591, während der Vigil des Festes der Himmelfahrt Mariä und während vierzig Ordensbrüder vor dem ausgestellten Sakrament ihr Gebet hielten, der Abt (Frater Provisor) vom Kloster entfernt hatte. Als er zurückkam, musste er feststellen, dass die Mönche inzwischen alle durch Häretiker getötet worden waren. Somit gab es niemanden mehr, um gemeinsam die Vesper zu singen. Seine Sorge löste folgende Ereignisse aus:

62 Siehe Kap. 2. 63 Kapustka 2007, S. 281 – 315.

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Unter währenden Wehklagen fiengen sich die todte Cörper / samt dem abgeschlagenen Häuptern alle an zuregen / und verfügten sich / wie sie zu einander gehörten / wiederum zusammen und in deme gleich die Stunde der Vesper zugegen ware / giengen die zu Ehren der Himmels=Königin wiederum von Todten erweckte heilige Martyrer zu Chor / ein jeder in seyn Stallum, sangen die Vesper auff das alleranmüthigste / zu desto höherer Verwunderung des Zuhörenden und Zuschauenden überbliebenen Fraters, beförderist / weilen ein jeder um seinen Hals zum Zeichen des empfangenen Schwerdt=Streichs / einen rothen Zirkul hatte. Nach abgesungener Vesper legten die heilige Martyrer ihre Häupter wiederum nieder / und ihre Seelen celebrirten hierauff die Himmelfahrt mit der allgemeinen Ordens=Patronin Maria folgenden Tag in der ewigen Glorie [. . . ]. 64 Nicht nur die Präsenz der Eucharistie lässt also diesen Passus als Quelle der Grüssauer Darstellung erscheinen, sondern auch die Vision der sich gerade in den Chorschranken zum Gebet erneut versammelnden Märtyrerleichname, die nach der Erfüllung der ›dienstlichen‹ Verpflichtung als Kongregation ihre Köpfe wieder abgeben, um im Himmel in Marias Schoß aufgenommen zu werden. Dabei kann auf die ekphratischen Qualitäten der apologetischen Erzählung zum bethlehemitischen Kindermord hingewiesen werden, so wie dieses Ereignis im 5. Jahrhundert durch Basil von Seleukia dargestellt wurde. Indem der griechische Kirchenvater sich in seiner Predigt nicht wie gewöhnlich auf die ermordeten Kinder, sondern eher auf die radikale Spannung und Entfremdung zwischen ihren Müttern und den Söldnern Herodes’ konzentriert, deutet er die Aktion der Mütter, welche die fragmentierten Leichname ihrer Kinder wieder aufsammeln und aus den Stücken die Körper ›rekonstruieren‹, als ein festes Sinnbild der ecclesia in ihrer fürsorglichen Schutzfunktion trotz oder gerade wegen der extremen Aufopferung als notwendiges Element der gemeinschaftlichen Teleologie. 65 Zwischen der Relieftafel der Grüssauer Chorschranken und dem dortigen Marterfresko bestehen in diesem Sinne sogar narrative Ausdehnungen und Überlappungen verschiedener Sequenzen. Es genügt zu sagen, dass das im Vordergrund der Tafel am Anfang der Erzählung stehende, aus dem Gedränge herausgelöste, herabfallende Haupt eines Mönchs seine direkte narrative Entsprechung im Fresko findet: in den wieder an die corpora aufgesetzten Häuptern der bereits getöteten und im Himmel singenden Mönche. Bei diesen »mit diesem schoenen Blut=Purpur als Märtyrer Christi bekleideten« und »das Apostolische Ambt« 66 beginnenden Zisterziensern sind auch die roten Striche am Hals zu sehen, genau wie Sartorius diese Evidenzspuren des gewaltsamen Todes in seiner irischen Geschichte beschrieben hat. Der Betrachter, mit dem hier vor allem jedes einzelne Mitglied der Kongregation gemeint ist,

64 Sartorius 1708a, S. 204. 65 Vgl. Hendrix 2009, S. 166 – 169; Maguire 1981, S. 22 – 34, insbes. S. 26. Zur patristischen Interpretation des Kindermordes: Mans 1997, S. 92 – 102. 66 Sartorius 1708a, S. 202.

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wird dabei in die Position eines zeitlosen Zeugen versetzt, etwa in die Stellung des absenten und jetzt zurückkehrenden Abtes, der die Gemeinde trotz des unermesslichen Unglücks wieder zusammenbringen muss. Denn entscheidend für die beiden auswechselbaren und dadurch auch universell einsetzbaren Geschichten, die aus dem irischen Magio und die aus dem schlesischen Grüssau, ist die Tatsache, dass das Martyrium unter Abwesenheit des Oberhauptes stattgefunden hat. Der Chronist Ephraim Ignatius Naso beschreibt im Jahr 1667 die Grüssauer Ereignisse auf folgende Art: Das gantze Kloster / zusampt des Gottes=Hause war besprenget mit dem Blute / worinnen die Geistliche erbärmlich ermordet lagen. Nicolaus V. damaliger Praelat / der dem Fürstl. Gestifft 28. Jahr lob=würdig vorgestanden / war gleich in nothwendigen Kloster=Geschäfften auf der Reise / wodurch er diesem Blut=Bade entronnen / gleichsehr aber der verwercklichen Marter=Cron entbehren müssen. Da nun die Hussiten das Gestifft meistentheils zerstöret / und gantz beraubet / zogen sie weiter ihrem Raube nach. 67 Das Martyrium braucht also einen Zeugen, und dieser findet sich in der Person des Provisors, der allein wegen seiner institutionellen Autorität als Oberhaupt der Gemeinschaft die Ereignisse anhand ihrer grausamen Spuren rekonstruieren und sie als Teil der Heilsgeschichte tradieren kann. Der Betrachter, der mit dem Panorama des Sterbens in allen seinen typologischen Facetten konfrontiert wird, ist gezwungen, in seine Fußstapfen zu treten, und gleicht mit seinem übergreifenden Blick einem Historiografen, der die Geschehnisse nicht nur in ihrer historischen Singularität wie ein Universalgelehrter umfasst, sondern imstande ist, sie mithilfe einer teleologischen Perspektive in einen kohärenten, wenn auch synkretistischen Erzählrahmen einzufügen. Die Bildbetrachtung gleicht in dieser Auffassung sogar einem persönlichen Beistand und versetzt den Schauenden in eine Situation der bewussten, zwischen den Zeiten aufgespannten historischen Präsenz im Affekt. Die Ausdehnung und die ewige Aktualität der Geschichte kann somit nicht mit einem einfachen Label des Anachronismus als Unangepasstheit versehen werden. Es ist kein ›Revival‹ der statischen Vergangenheit, sondern eine dynamische Zeitschiene, die dem Betrachter mithilfe der Affektsteigerung angeboten wird. Somit gleicht er denen, die durch ihr Bekenntnis und die Bereitschaft, die gemeinschaftlich zu gestaltende Historizität anhand der eigenen persönlichen Erfahrung im Sinne der Aktualität zu betrachten, in die Reihe der confessores aufgenommen werden, welche die martyres geistig nachahmen können. 68 Mit dieser Strategie der individuellen Teilnahme am kollektiven Geschichtsverlauf zeichnet sich in diesem übergreifenden und doch lokal verorteten Panorama

67 Naso 1667, S. 282 – 283. 68 Zu den confessores siehe Kelhoffer 2011, S. 589 – 599; Nevile 1994, S. 29 – 37; Kötting 1976, S. 7 – 23.

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des Leidens die ursprüngliche Bedeutung des Wortes martyrium umso deutlicher ab: als Zeugnis (gr. μαρτύριον). 69 Der im Schmerz befreiende wie grausame Tod der Grüssauer communitas, die ›zusammen‹ mit dem geschändeten Kruzifix gemartert wurde, wird dadurch gewissermaßen zu einem erneuten Idolensturz. Dieser wird durch die kollektive Selbstaufopferung vor der strahlenden Eucharistie vollzogen, deren exklusive transzendente Macht als überzeitlicher Körper Christi den leiblichen Qualen seiner Nachfolger erst den Sinn verleiht und sie die Nachteile der irdischen Körperlichkeit bis zur endgültigen Befreiung erdulden lässt. Die erhobene Monstranz mit der Hostie, dem in einem kleinen Punkt komprimierten Leib Christi, auf den der Blick aller Mönche gerichtet ist, verwandelt sich in diesem Bild in eine Spiegelung oder eher in einen perspektivischen Fluchtpunkt für alle Glieder des gerade gemarterten Kollektivkörpers. Das Schaugerät wird dabei beinahe mit einer Macht des schauenden Subjekts ausgestattet und scheint somit das sich direkt vor der Monstranz abspielende Massaker, ein durch die Zisterzienser gewolltes Opfer, willkommen zu heißen, so wie Maria mit Jesus im Turm Davids oben auf dem Fresko die blutige Gabe mit Stolz empfängt. Hier kommt wieder die Etymologie ins Spiel. Der Sinn der Hostie als ›Opfer‹ (lat. hostia), die allein durch ihre relativ geringe Größe als geometrischer Punkt die uneingeschränkte Macht des absolut Wehrlosen verkörpert, materialisiert sich damit nicht nur in dem am Altar liturgisch reaktivierten Bedeutungsursprung, sondern wird im Martyrium als historische Wiederholung des allerersten erfüllten Vorgangs des vorbildhaften contemptus mundi am Kreuz Christi sichtbar. Durch die Verachtung der eigenen Körperlichkeit durch die märtyrerische Hingabe und Freude an der Folter des eigenen Leibes realisiert sich die Fortsetzung der von Bernhard von Clairvaux formulierten Aufgaben der nova militia Christi. Die Zisterzienser fühlen beim Sterben keinen Schmerz, denn dieser ist auch ein Zeichen der Vergänglichkeit – der dolor in passione wird vom Ordensgründer Bernhard zu einem Relikt des »alten Adam« erklärt. 70 Inspiriert vom paulinischen Gedanken zur menschlichen Vergänglichkeit, die zur irdischen Natur der Dinge gehört und die verachtet werden soll, entwirft der Ordensgründer eine Vision der himmlischen Ewigkeit, die vor allem mithilfe der arma spiritualia zu erlangen ist. Die antiken Vorlagen zum Kampf der Tugenden mit den Lastern – wie sie in Prudentius’ Psychomachie vorhanden waren – wurden dabei anhand der Neuauslegung der Affekte im Kontext der Menschwerdung des Gottessohnes 71 und als Effekt der darauffolgenden, theologisch unterstützten Konflikte zwischen Leib und Seele in eine Apologie des Martyriums

69 Über die religiöse Erstdeutung des Martyriums als Tod der Verfolgten wie auch über die Teleologisierung der Leidensfähigkeit und der Selbstaufopferung als gottgewollt und rühmend in der kaiserlichen Politik des konstantinischen Zeitalters siehe Baumeister 2016, S. 377 – 389. Vgl. zum Zeugnis an der Schwelle zwischen dem juristischen und historiografischen Bereich: Ricœur 2004, S. 247 – 254. 70 Benke 1991, S. 75. 71 Zu Bernhards Auslegung der via affectiva: ebd., S. 41 – 45.

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als Kampf gegen die eigene Natur umgewandelt. 72 Es ist allerdings ein süßer, liebes- und hoffnungserfüllter Kampf, wie Sartorius in seinem Cistercium bis-Tertium schreibt: »Mille in martyribus vulnera sunt mille Amoris signacula«. 73 Diese transitorisch-eucharistische Dimension des mit einem zukunftsorientierten und vor allem teleologischen Sinn ausgestatteten Opfers, mit dem das Martyrium der Zisterzienser ausgezeichnet wird, bildet somit eine deutliche Antithese zum Sinn der endgültigen Vernichtung eines Idols. Es geht dabei jedoch nicht nur um einfache visuelle Gegenbilder im Dienste des Bildkultes, wie die Darstellung eines der Mönche im Fresko, der eine kleine Marienfigur vor dem tödlichen Hieb des Henkers mit seinem eigenen Körper verteidigt. Der Absturz eines ›Götzen‹ kann darüber hinaus, aus ontologischer Perspektive, nicht als Opfer betrachtet werden, denn er ist im Voraus zum Scheitern verurteilt. Er nimmt lediglich seinen historischen Platz als ein durch ewige Verdammnis gestrafter Akteur ein, dessen durch den Sturz entstandene Leerstelle viel relevanter ist als seine tatsächliche, durch das Material begrenzte körperliche Präsenz. 74 Das Idol wird also in diesem Sinne ›animalisiert‹: Weder sein Leben noch sein Tod haben einen Zweck. Es kann – so wie vermeintlich die karthesianischen Tiere, deren lateinischer Name im Lichte der planmäßigen Subordination durch den Menschen eigentlich von einer grundsätzlichen Widersprüchlichkeit zeugt – keinen Schmerz bewusst erleben, verstehen oder rationalisieren, ihm kann kein bewusstes Leid zugefügt werden, es kann keine Trauer evozieren, denn es hat keine Vorfahren oder Nachkommen, die sich um seine Memoria kümmern könnten. Seine Vernichtung ist unabdingbar, sie ist lediglich ein logischer Vorgang der notwendigen Auslöschung einer ›falschen‹ Realität, eben eine konsequent automatische Aktion der Beseitigung von politischen Gegnern zwischen der Geburt und der Machtergreifung Christi. So wie bereits Tertullian das den Zuschauer auf kathartische Höhen führende antike Theater als eine logisch falsche und daher definitiv abzuschaffende Maßnahme der pompa diaboli betrachtete, als einen ›Götzendienst‹, der vom ethischen Wert der christlichen Unerfülltheit ablenkt, 75 und so wie Clemens von Alexandrien den Begriff mimesis zur Beschreibung der pygmalionischen Verewigung der Lüge nutzte, 76 so dient der unvermeidliche Idolensturz als Leitfaden der Geschichte le72 Bruun 2007, S. 61, 213 – 215; Hiss 1964, S. 99 – 110. 73 Sartorius 1700, S. 284. 74 Dabei realisiert sich die gleiche Leerstelle nach dem Absturz des Idols, die im Bild von Joachim Patinir (siehe Kap. 2) wortwörtlich dargestellt wurde. 75 Tertullian, De Spectaculis, 28: »Wenn du in der Welt Vergnügen begehrst, mein Christ, so bist du ein Diener der Sinnlichkeit, oder vielmehr du bist ein Tor, wenn du so etwas für ein Vergnügen hältst! Die Philosophen haben diesen Namen wenigstens noch der Ruhe und Gleichmütigkeit beigelegt; in ihr finden sie ihre Freude, Erheiterung, Zerstreuung und sogar ihren Ruhm. Du aber willst nur nach der Rennbahn, der Bühne, dem Staube und der Arena schmachten? Ich wollte, du sagtest es nur heraus: Wir sind nicht imstande, ohne Vergnügen zu leben, während wir doch mit Freuden sterben sollen! Denn was ist anders unser Begehr, als das des Apostels, aus der Welt hinaus zu gehen und vom Herrn aufgenommen zu werden? Vergnügen findet man nur beim Gegenstande seiner Sehnsucht.« 76 Vgl. Finney 1994, S. 42 – 43.

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diglich zur Bereitung des Bodens für die neue legitime Ordnung, die eine feste Zukunft im Jenseits vor sich hat. Das Ende des einzelnen Idols ist in diesem Sinne dem Anfang einer neuen Transitus-Gemeinschaft gleich; der klare Antagonismus wird zu einer produktiv umgesetzten Erzeugung von Identität der um die Einheit des Glaubens geistig kämpfenden peregrines. Sartorius beschreibt im Kontext einer anderen zisterziensischen Martergeschichte diese logische Ausdehnung der diesseitigen Historizität in die himmlische Dimension als einen Immatrikulationsakt – eine institutionell anerkannte familiäre Rückkehr zur alma mater –, der alle historischen Versuche, die Gemeinschaft auszulöschen, durch seinen Bezug auf ahistorische Ewigkeit übersteht: So haben denn so wohl die Ungläubige / als Irrgläubige hauptsächlich dahin abgeziehlet / so viel tausend Nahmen der heiligen Cistertzer Märtyrer mit unter die Rudera, und Steinhauffen der verwüsteten Clöster zu vergraben; welche dennoch im Gegentheil der treüeste Belohner alles Guten / an statt dieses sonst bey der Nach=Welt zeitlichen Andenckens / nicht allein in das Buch des Lebens auff ewig immatriculiret / sondern auch ihre Seelen mit der unsterblichen Glorie gekrönet / und ihren in der Asche ruhenden Cörpern die unfehlbare Anwartung ertheilet / der ebenfalls in Zukunft zu genüssen = habenden ewigen Glückseligkeit. 77 Vor diesem Hintergrund drängt sich die Feststellung auf, dass im 17. wie 18. Jahrhundert bei den Zisterziensern auch in weniger monumentalen Medien eine diskursive Kollektivierung des märtyrerischen Opfers stattfindet. In der lateinischen Ausgabe von Sartorius’ Cistercium bis-Tertium von 1700 wird die kurze Auf listung der mittelalterlichen Märtyrer des Ordens und der einzelnen Massakergeschichten lediglich mit einer Anfangsgrafik versehen, die von vornherein ausdrücklich die visuelle Anonymität der im Text erwähnten Glaubensgenossen bewahrt und die Faktografie der einzelnen Opfer mit einem papsttreuen Prinzip »Pro uno Mille« zusammenfassen lässt (Abb. 81). In diesem Bild bewahren die dargestellten abgetrennten Köpfe der weltweit ermordeten Zisterzienser ihre Fähigkeit, gerade durch ihre fragmentarische Form zu sprechen. Versammelt quasi in einem postmortalen concilium, ähneln sie als eindeutige körperliche Beweise der stattgefundenen Martyrien dem ultimativen Bild der kirchlich-institutionellen Präsenz: der zu einem ewigen Reliquiar stilisierten, auf dem zentralen Tisch stehenden, ewig strahlenden päpstlichen Büste. Dieses extreme Kompressionsmodell zeigt die Gemeinschaft als fokussiert auf einen überragenden, amtlichen clypeus des Konfliktzeitalters, in dem sich alle ihre Glieder einheitlich und für alle Ewigkeit wie in einer Hostienmonstranz widerspiegeln sollen. Die Grüssauer Chorschranken gewinnen damit als Ort der sich im Leiden und in der Not zusammenfindenden Gemeinschaft besondere Relevanz (Abb. 82). Die sich im gemeinsamen Gesang versammelnde Kongregation erfährt in der mitfühlenden Wahrnehmung des

77 Sartorius 1708a, S. 210.

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Abb. 81: Pro uno Mille, in: Augustin Sartorius, Cistercium bis-Tertium, 1700.

Abb. 82: Chorschranken, 1730 – 1735, Grüssau, ehem. Zisterzienserkirche Mariä Himmelfahrt.

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historischen Martyriums lediglich einen im kollektiven Gedenken gefestigten Übergang ins Überzeitliche, indem die in den Chorschranken formierte Struktur sich in den himmlischen Reihen der singenden beati wiederholt. Eine andere Geschichte aus den austauschbaren Lokalerzählungen von Sartorius, diesmal aus dem Mosteiro de Santa Maria im portugiesischen Alcobaça, wo 1195 ein Martyrium von 999 Ordensbrüdern – unter der Abwesenheit des Prälaten als Nummer 1000 – durch einen Gewaltakt der ›Sarazenen‹ stattgefunden haben soll, scheint diese überdauernde, kollegiale Diszipliniertheit der Ordensmitglieder in Diesseits und Jenseits zu beweisen. Die Mönche wurden ermordet als sie »Tag und Nacht ein ewiges Chor hielten«: [. . . ] allwo sie / den Tod mit Freueden erwartende / sich in schöne Ordnung / und verschiedene Chor=Reihen eingetheilet / und unter hellklingenden Göttlichen Lob=Schall ihre Glückselige Geister mit denen Marter=Kränzlein gen Himmel geschickt. 78 »Felix Ecclesia!«, konstatiert dazu Sartorius an einem anderen Ort. 79 Interessanterweise markieren die Grüssauer Chorschranken in ihrem – regional gesehen – relativ neuen Typus an sich eine stilistische Zäsur, indem die Sitze sich von der noch gotisch-klaren Struktur der voneinander linear getrennten Einheiten befreien und einen gemeinsamen synthetischen Hintergrund für autonome Bildfelder schaffen. 80 Diese formale Eigenschaft der Relieftafeln, die eine eigene Narration entfalten und sie an die architektonische Perspektive anbinden können, wirft erneut die interessante Frage auf, inwieweit der Raum zwischen den Chorschranken mit einem gewissen punto stabile der Bildanschauung im Querhaus ausgestattet wurde. Durch ihre komplette Vergoldung erscheinen die Relieftafeln vor den Augen des Betrachters im Gegensatz zu ihrem kleinarchitektonischen hölzernen Träger als prächtige, in ihrer Kostbarkeit gar jenseitige Einschübe und fungieren gewissermaßen als Öffnungen im Baukörper der Chorschranken. Solch eine ›Öffnung‹ lässt im Falle der erwähnten Tafel mit dem Martyrium in ihrer durch Gold angedeuteten, fensterähnlichen Transparenz gerade den Raum ›sehen‹, in dem sich zwischen Objekt und Bild das große Panorama des Martyriums abspielt: den sich direkt dahinter befindenden rechten Arm des Querschiffs. Weitere detaillierte Analogien der tatsächlichen und der abgebildeten Blicke lassen in der Relieftafel eine Fensterfunktion vermuten, wie beispielsweise die Anspielung des in einem fragmentarischen Schnitt gezeigten Altars auf den realen, im Raum dahinter befindlichen Aufsatz, wie auch die bildliche Fortsetzung des architektonischen Gesimses des tatsächlichen Vierungspfeilers auf der linken Seite des Reliefs. Es wäre dann ein ›Fenster‹, das sich zur im architektonischen Raum stattfindenden historischen beziehungsweise überzeitlich-teleologischen Realität hin öffnet. Es handelt sich dabei insgesamt also nicht um die

78 Ebd., S. 205 – 206. 79 Sartorius 1716, S. 275. 80 Dziurla 1974, S. 72.

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Verewigung des Ereignisses mithilfe von Spolien, sondern um eine dynamische Aktivierung eines konkreten Moments als eine raumtechnische Aufgabe. Das Ereignis wird zu einer bis in die Gegenwart ausgedehnten und aus der Perspektive des erfüllten Jenseits anschaubaren Geschichte. Durch diese animierende Folie wird der Betrachter zu einer Akkommodation gezwungen, zu einer Zeitreise, auf der er das Geschehen(e) direkt erfahren kann, um seine gegenwärtige Position aus dieser entwicklungsgeschichtlichen Perspektive wahrzunehmen. Da dieser Betrachter, der einen Teil der communitas bildet, gleichzeitig vor diesem sowohl räumlich transitorischen wie auch zeitlich verflochtenen Hintergrund seine Kommilitonen sehen kann, wie sie in den Sitzen der Chorschranken im gemeinsamen Gesang die Kongregation bilden – ein Theater, in dem die Zuschauer sich selbst gegenseitig anblicken –, wird die Aktualität des Historischen zu einer Bedingung des Gemeinschaftlichen. Die Kongregation wird der Familie gleich, der Familie der schwachen Kinder, die ihre Schwäche in martyrologische Stärke umwandeln. Das Stiftungsmoment, dessen Sinn und Zweck sich spätestens im gemeinsamen Leiden der Kongregation manifestiert, wird in anderen ähnlichen ›Fenstern‹ der Chorschranken widergespiegelt, wie in der Bildtafel direkt gegenüber derjenigen mit dem Martyrium, auf der die Entstehungslegende des Klosters dargestellt wurde. Dem schlesischen Herzog Bolko I. von Schweidnitz-Jauer, dessen Grabmal sich im Grüssauer Piastenmausoleum hinter der Klosterkirche befindet, 81 erscheint hier gerade im Traum ein Ort, an dem er während seiner Jagd nach Wasser gesucht und folglich das Kloster gestiftet haben soll. Zu dem Zeitpunkt waren die Zisterzienser noch in Heinrichau ansässig, und erst die visionäre Lokalisierung dieser Quelle soll ein Impetus für deren Übersiedlung nach Grüssau gewesen sein. Und wiederum hinter der goldenen ›Folie‹ dieser abgebildeten Gründungslegende befindet sich in architektonischer Perspektive die an die Kirche angeschlossene Loreto-Kapelle, die das ganze nördliche Joch des linken Arms des Querhauses einnimmt. 82 Damit kann der Betrachter wieder seine typologischen Fähigkeiten im Rahmen der Bildanschauung aktivieren, denn die Loreto-Legende kann als Urtyp der Stiftungspropaganda angesehen werden: 83 Nachdem die Kreuzritter das Heilige Land 1291 verloren hatten, ließen der Legende nach die Engel das Haus Mariä von Nazareth über Kroatien nach Ancona an der Adria tragen. Auch Kaiser Ferdinand II. legte noch vor seiner Thronübernahme während seiner Wallfahrt nach Loreto im Jahr 1598 das Gelübde ab, in allen Ländern des Reiches die Häresie auszurotten und einen monokonfessionellen Staat zu entwickeln. 84 Die Translokation und Neustiftung der monumentalen Reliquie der santa casa angesichts einer Kriegsgefahr funktioniert in diesem Kontext als ein Topos der übertragbaren Kompetenzen im Rahmen der missionarischen

81 Dziurla 1974, S. 74 – 79. 82 Zum Grüssauer Loretohaus siehe: Czechowicz 2012, S. 13 – 22; Czechowicz 2008, S. 352 – 366, hier: S. 356 – 358; Kozieł 2006, S. 393. 83 Vgl. u. a. Kunz 2014, S. 668 – 672. 84 Herzig 2000, S. 39 – 40.

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Ermächtigung. Die Grüssauer Lokalisierung der Abtei erscheint in diesem Kontext als die letzte auf einem langen Weg der Filiationen: von den ersten Zisterzienserklöstern bis zum günstigsten, optimalen Ort. 85 Als Bestätigung dieser vernetzten Korrespondenzen möchte man dann die zweite Paarung der Motive in den Bildtafeln der Chorschranken ansehen, die das Motiv der Gründung mit dem Motiv der Fortsetzung zusammenbringt. Die Szene der Investitur von Alberich von Cîteaux, einem der allerersten Gründer des zisterziensischen Reformordens Cîteaux bei Dijon im Jahr 1098, auf der südlichen Tafel, rechts von der mit dem Martyrium, wirkt in ihrem Aufbau ähnlich wie die Letztere mit dem Altar zur rechten Seite des Bildes. Darüber hinaus aber spiegelt sie sich auch in dem Aufruf Bernhards von Clairvaux zum Kreuzzug in der gegenüber angebrachten nördlichen Tafel, links von der Darstellung des herzoglichen Traumes. 86 Die Verflechtungen zwischen diesen markant fiktionalisierten Identitätsstoffen – Gründung, Filiation, Mission und Opfer – verlaufen kreuzweise zwischen den einzelnen vier Tafeln im inneren Leerraum zwischen den Chorschranken. Das Grüssauer Martyrium von 1426 wird auf dieser genealogischen Rekonstruktionsachse, die bei der translatio Loretos beginnt und ferner das Lokale mit dem Überregionalen verknüpft, als eine logische Konsequenz der durchgeführten mittelalterlichen Reform und als eine Erfüllung der missionarischen Ziele des gesamten Ordens durch die Zeitgenossen präsentiert. Es erscheint am Ende aller Ereignisse als eine Kulmination der Geschichte. Der gleiche Bernhard von Clairvaux markiert schließlich über dem zentralen Durchgang in der südlichen Partie der Chorschranken den christologischen Sinn dieser Mission: Mit seiner Figur, die das Kreuz und die instrumenta passionis in den Händen hält, heißt er die nach dem Gesang in Richtung Kreuzgang fortschreitenden Mitglieder der Kongregation genauso willkommen, wie im Fresko oberhalb dieser Topografie der irdischen Ursprünge der lokalen Kircheninstitution die Engel den ankommenden Christus-fortis mit den vorbereiteten arma Christi auf der rechten Seite der Brücke begrüßen. Die Chorschranken erweisen sich demnach als ein Ort des kollektiven Geschichtsbewusstseins, an dem verschiedene Zeitschienen durch ihre teleologischen Verhältnisse aktuell werden. Diese Übertragung der historisch bewiesenen Ziele der Institution auf die einzelnen Mitglieder der lokalen Gemeinschaft wird zusätzlich dadurch untermauert, dass die Zahl der auf den Schranken angebrachten Vorbilder in Form von Propheten-, Heiligen- und Märtyrerfiguren der Anzahl der Sitze für die Mitglieder der Kongregation entspricht: 48. 87 Während sich aber die Kongregation in den Chorschranken noch in ihren historischen Anfangsbildern analog und horizontal widerspiegeln kann, bietet die direkt unter dem Marterfresko angelegte Empore bereits eine weitgehend vereinheitlichende Perspektive der historischen Angleichung. Die Empore wiederholt in ihrem Grundriss die

85 Vgl. Bernegger 1619. 86 Dziurla 1974, S. 73. 87 Ebd., S. 72.

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Umrisse des Freskos, die oben wie auf einer Bühne stehenden singenden Mönche werden somit in einer vertikalen Übertragung zu Teilnehmenden an dem direkt über ihren Köpfen dargestellten Geschehen der martyrologischen Transgression ins Jenseits. Dies erfolgt unter der Ägide der zwei an der Stirnwand, direkt über den Türen zur Sakristei und zum Kreuzgang gemalten Ordensgründer Benedikt und Bernhard, die mit aufnehmenden Gesten sich an die ›kommenden‹ Märtyrer wenden. 88 Die Geschichte von 1426 wird so mithilfe einer bewegten menschlichen Staffage auf einer Bühne animiert. * Die Darstellung der grausamen Vergangenheit als andauerndes Argument aus der glorreichen Ewigkeit für die erfahrbare Gegenwart hängt darüber hinaus mit der Betrachtung des Martyriums als stets aktualisierbares Vorbild einer christlichen Haltung dem Anderen gegenüber zusammen. Das bekämpfte Idol wird nicht einfach durch eigenleiblich verteidigte Marienfiguren ersetzt. Die Darstellung der Inkarnation des Schwachen als fortis bewirkt ein spezifisches Bildverständnis: Sie lässt den Sinn der Endgültigkeit der Idolenvernichtung durch die Differenz zwischen einem singulären Bildwerk und einer panoramatisch memorierenden Kollektivvision als Grundlage der Erinnerung erkennen. Das Leid der Grüssauer Mönche wurde dementsprechend von dem durch Jesuiten erzogenen Konvertiten Ephraim Ignaz Naso in seinem poetischen Bericht von der Begebenheit von 1426 als ein übergreifendes Gemälde, als ein Bildnis (effigies) bezeichnet, das direkt mit dem Blut der Ermordeten gemalt worden sei: In Grissovienses Martyres. Non opus est tingant alii monimenta colores, Sanguine ab effuso quae rubuëre prius. Martyrii vobis peperit vis effera laurum, Munus tale ferens dextra, benigna fuit. Concedit vobis nomen Laurentius*, omnes Quos proprio pinxit sanguine dira manus. Pulchra est effigies, nunc gloria cedat Apellis, Effigiem pictam sanguine pellis habet. *Laurentius, Anagr. In te laurus. 89 In dieser poësis handelt es sich eindeutig nicht um eine künstlerische Darstellung des Martyriums, so wie sie mit Neunhertz’ Fresko gegeben ist, sondern um das Martyrium selbst als Darstellung, deren malerische, kompositorische Richtigkeit durch die purpurne Intensität

88 Vgl. mit der in Kap. 2 beschriebenen Situation des Eingangs ins claustrum im Leubuser Zisterzienserkloster. 89 Naso 1667, S. 283.

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des vergossenen Blutes bestimmt wird. Das vermeintlich historische Ereignis schlägt selbst in eine andauernde Imaginationsform um. Diese Art der mentalen Bildfindung zeichnet sich durch eine autonome Ästhetik aus, da der Ruhm der ›konventionellen‹ Kunst des Apelles, des antiken Meisters der Täuschung, durch nichts anderes als gerade die neue poetische Schönheit des Grauens übertroffen wird, die nicht erschreckt, sondern in ihrem Wahrheitsgehalt vereint und die auf diese Art und Weise den von Aristoteles in seiner Poetik beschriebenen Nutzen der abscheulichen Anblicke für das ästhetische Empfinden nivelliert, indem sie es ad absurdum führt. 90 Das poetische Gestaltungsmittel Märtyrerblut wird – so wie Naso es beschreibt – zu einem Äquivalent der Farbe, das aber selbst die schnell trocknende Farbe übertrifft. Die Kunst der Malerei wird dabei lediglich als ein Modus der Realisierung bestimmt, mit dem der Maler seine neoplatonische Vermittlungsmission in der durch Kohärenz der Imaginationswelten konsolidierten Gemeinschaft erfüllen kann. Das Leidenskunstwerk des Grüssauer Martyriums – so wie es durch die Mönche selbst geleistet worden war – übersteigt folglich die künstlerische Virtuosität, so wie sie bis dato durch die gemalten Weintrauben des Apelles und den Vorhang des Parrhasios auf der aufgespannten Leinwand verkörpert war. Denn das Ereignis wird selbst zum Bild, dessen Wahrheit durch teleologisch gezügelte Wahrscheinlichkeit erzeugt wird. Mit Nasos Bezeichnung des Martyriums – ein mit Blut gefertigtes Gemälde – wird ebenfalls deutlich, inwieweit die Selbststilisierung der Zisterzienser als eine nachahmende Gemeinschaft der Wehrlosen auf den biblischen Einsatz der bethlehemitischen santi innocenti zurückgeht. Diese Verherrlichung erklärt, warum es gerade Apelles sein musste, dessen Kunst durch die treuen Mitglieder der gemarterten Kongregation übertroffen worden sei. Der nach der Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten von Herodes veranlasste Massenmord der jüdischen Kinder war bereits im 16. Jahrhundert zu einem erzählerischen pièce de résistance künstlerischer Virtuosität geworden, so wie es anhand der Schriften von Giorgio Vasari oder Carel van Mander rekonstruiert werden kann. 91 In solchen Bildern, vor allem dem von Cornelis van Haarlem von 1590 (Taf. 32), 92 kann eine eindrückliche Demonstration der eigenen künstlerischen Fähigkeiten gesehen werden. Obwohl die beunruhigende Kluft zwischen der historischen Dramatik dieses Ereignisses und dem ästhetischen Genuss des Betrachters in der Kunstliteratur des 16. Jahrhunderts nicht ohne Erwähnung blieb, löste doch gerade die Intensität des Gräuels höchste Emotionen aus, so wie auch der bestialische Charakter der Mission der Henker den besten Erzählstoff für malerische Virtuosität lieferte. Im Extremen konnten die Farbbalance, die Formschwingungen, die Perspektive, die Körperdynamik und schließlich auch die Affektkontrolle als Leistung des Künstlers dargelegt werden. Als Nachweis eines perfekt beherrschten disegno und auch Karrierebewusstseins war die Darstellung eines Massenmordes als Schaustück besonders geeignet. Und doch sollen sich 90 Vgl. Aristoteles, Poetik, 4, 1448b, 10 – 12. 91 Kepetzis 2006, S. 169 – 193. 92 Van Thiel 1999, S. 306 – 307, Kat.-Nr. 41.

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die Zisterzienser von dieser malerischen Paragone-Debatte distanzieren, indem sie selbst mit ihrem Leid ein transzendierendes Bild ›malen‹ und dem Freskanten Georg Wilhelm Neunhertz lediglich die Rolle des Berichterstatters überlassen. Als leidende Familie der Christen, die in einem Übertragungsraum der Typologie zwischen dem Evangelium und der vermeintlichen historischen Realität ihren Platz sieht, entzieht sich die Grüssauer Kongregation den diesseitigen Versuchungen, die zum seelischen Leid der Künstler beitragen. Die listigen Idole, deren bösartiges Geflüster während der Fertigung eines Bildes den christianus pictor auf die Irrwege der ›heidnischen‹ lascivitas führen sollte – so wie es von Giovanni Bellori oder Pietro da Cortona und Padre Ottonelli beschrieben wurde – wurden mit dieser ›Kunst des Sterbens‹ beseitigt. Das mit dem unschuldigen Blut gemalte Bild übertrifft daher alle Bemühungen des Apelles und seiner Nachfolger im Dienst der Imitation. Das Blut, mit dem gemalt wird, wird zu einem Grenzwert zwischen der visuellen vivacità und der historischen Nachpräsenz. Die Verlebendigung des Bildes findet damit paradoxerweise erst durch die Darstellung des Todes statt und gehört nicht mehr zu den Kompetenzen der Idolenmacher. Da es sich um einen historischen Tod handelt, der aufgrund seiner historiografischen Heroisierung als Ereignis mit evangelischen Leidvorbildern verschmelzen kann, ändert sich auch die Perspektive der Verkörperung. Die Vergangenheit wird leiblich und hört auf, Vergangenheit zu sein, indem das spritzende Blut in seiner affektiven Auf ladung doch immer ein direkt erfahrbares praesens hervorruft, eine momentane Selbstfindung angesichts des Schreckens. Die Zisterzienser entziehen sich dieser lauernden Versuchung, Idole herzustellen, genauso anonym, wie die biblischen innocenti ihr Schicksal erfahren – ohne es rationalisieren zu können. Damit wird ein endgültiger Idolensturz vollzogen, da die gefährlichen Leidenschaften der Seele eines der Verlockung ausgesetzten Individuums in eine affektvolle Manifestation namenloser gemeinschaftlicher Entschlossenheit umgearbeitet werden. Der Sturz des Idols von seinem Postament und das Opfer im Sinne von Gallonios zerstückelten Märtyrerfiguren, ein gewisser Entzug von Affekt im Dienste der Normsetzung, kommen in diesem anästhetischen Rahmen noch stärker zusammen. Sogar beim Anblick einiger kunstvoller barocker Darstellungen des bethlehemitischen Kindermordes wird man mit dem künstlerischen Versuch konfrontiert, die erzählerische und kompositorische Konstante der gewaltvollen Bewältigung des Anderen, die im ikonografischen Fundus der Darstellungen des Idolensturzes seit dem Mittelalter verankert war, für die figurenreichen Szenen des Kindermordes effektiv zu nutzen. Mit solch einem Versuch haben wir es wahrscheinlich in dem Bethlehemitischen Kindermord von Pieter Paul Rubens zu tun (Taf. 33). 93 In diesem 1609 – 1610 gemalten Bild, in dem sich wohl alle oben erwähnten Nachweise der Virtuosität eines Künstlers finden lassen, wird das biblische Massaker kompositorisch an die Entfernung der Idole angeglichen. Das Szenario, eingebettet in das stimmungsvolle altrömische Ruinenambiente, zeigt einen verzweifelten Kampf, in dessen Getümmel die kleinen Kinder

93 Jaffé / Bradley 2003, S. 11 – 20.

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als werdende Proto-Märtyrer ihren Müttern gewaltsam entrissen und auf grausame Art und Weise getötet werden. Während einige von ihnen bereits leblos auf dem Boden liegen, wird auf der rechten Seite einer der Säuglinge von einem Henker hochgehoben, um trotz der verzweifelten Abwehrgeste seiner knienden oder fallenden Mutter, auf die Erde niedergeworfen zu werden. Eine schlichte Allusion markiert beziehungsweise verschleiert dabei den bildtopischen Übergang zwischen Martyrium, Proto-Martyrium und Idolensturz: Das vom athletischen Henker hochgehobene Kind wird zu einer Statue, die er gerade vom blutbespritzten Sockel entfernt hatte, hinter dem erst die in ihrer Machtlosigkeit bestürzte Mutter erscheint. Das wehrlose Kind wird auf die gleiche Art und Weise auf den Boden geworfen wie die Idole, die in ihrer Zerstückelung neben ihren eigenen Sockeln dem ›Heidentum‹ das endgültige Ende bereiteten. Eine andere, zur linken Seite des Sockels auf dem Boden liegende Mutter hält den leblosen, blau gewordenen oder gebleichten und bereits wie im rigor mortis versteiften Leichnam ihres Kindes im Arm, als ob sie eine kleine Skulptur anschauen oder sogar sich selbst im Spiegel betrachten würde. Es muss dabei erwähnt werden, dass gerade die Figur des hochgehobenen und in die Luft geschleuderten Kindes seit den frühchristlichen Anfängen der entsprechenden Ikonografie für das ganze Szenario des biblischen Massakers bezeichnend und häufig auch stellvertretend war – und nicht etwa die blutigen Stiche der Henker, die in der frühneuzeitlichen Malerei bei dieser Gelegenheit eher eine choreografische Übung der figura serpentinata vollziehen, um ihre Waffenkunst und Mordlust in einem ästhetischen Schwung zu demonstrieren. 94 In der unschuldigen Seele eines ermordeten Kindes, so wie in der geistigen Konstitution eines Märtyrers, soll jedoch anscheinend gerade die Differenz zum seelenlosen Idol liegen. Die Bewältigung des Diesseits zugunsten der himmlischen Glorie realisiert sich mithilfe eines Todes von Unschuldigen. Dieser – und nicht der Tod eines Sünders oder die durch einen gesetzlichen Machtkörper begründete und durchgeführte Exekution eines Schuldigen – wird zum Markenzeichen der Märtyrer und zum Sinn und Zweck des programmatisch durchzuführenden contemptus mundi. Somit zeigt sich, wie tief die bereits von Jacobus de Voragine angedeutete hagiografische Notwendigkeit, die spiegelbildliche Parallele zwischen dem ägyptischen Idolensturz Christi als Bewältigung von Schuld und dem bethlehemitischen Kindermord als Einführung der Unschuld im heilsgeschichtlich-teleologischen Sinne durchzuführen, 95 in der Kultur der christlichen Aufopferung zugunsten der Gemeinschaft verankert blieb. In einem wenig bekannten, großformatigen Bild von Mattia Preti von 1660/1661 (Taf. 34) erscheint die Szene des bethlehemitischen Massenmordes der kleinen Wehrlosen gerade in Form eines vorprogrammierten Theaters. 96 Während der Betrachter im Vordergrund, zusammen mit zwei Müttern, die direkt vor seinen Augen wie in einem

94 Vgl. Kötzsche-Breitenbruch 1968/1969, S. 107, 112 – 114 (hier zu möglichen antiken Quellen dieser waffenlosen Extremgewalt im sog. »palästinensischen« Typus der Szene). 95 Siehe Kap. 2. 96 Sgarbi 2013, S. 214; Spike 1999, S. 268 – 269; Kat. Neapel 1999, S. 166 – 167.

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Close-up-Modus aufeinander liegenden kleinen verblassten Leichname mit abgeschnittenen Händen und durchstochenen Bäuchen entdecken und beweinen kann, versuchen andere Mütter im Bild, die noch am Leben gebliebenen Kinder vergeblich zu retten, indem sie sie von einem architektonischen Sockel herunterreichen. Alles umsonst, denn von der rechten Seite des Bildes her nähert sich ein dunkler Henker, um ausnahmslos und ausdrücklich alle Kinder in Proto-Märtyrer zu verwandeln. In dem für Preti typischen erhellten Hintergrund, wie in einer aufgehängten Tapisserie, einem Bild im Bild, realisiert sich die unabdingbare Fortsetzung des Mordes in seiner narrativen Entfaltung: Auf das Zeichen des Herodes, des auf einem Balkon stehenden historischen Dirigenten, verüben seine Söldner, die notwendigen Musiker im heilsgeschichtlichen Orchester, das Massaker in der vollen Pracht eines malerischen Getümmels. Die Szene ereignet sich wie auf einer Bühne, die eindeutig die architektonische Gestalt einer Brücke hervorruft. Diese anspielungsreiche Komposition lässt keinen Zweifel: Es handelt sich um ein teleologisches Theater des Proto-Martyriums, um die gleiche transitorische Fiktionalisierung des Ereignisses, die auch der historisch gleichzeitigen Idolenvernichtung in Ägypten die Funktion einer zeitgeschichtlichen Brücke verlieh. Eine dynamische Spiegelung beziehungsweise wortwörtliche Synchronisierung der Geschehnisse mit malerischen Mitteln. Bei dieser Angleichung geht es jedoch nicht um eine kunstvolle Metapher aus dem Bereich des neuzeitlichen Paragone. Denn möchte man gerade diesen Faden weiterverfolgen, mit dem ein Ausgleich zwischen den Idolen und den Unschuldigen durchgeführt werden sollte, stößt man auf mittelalterliche Bildzeugnisse, die einen Nachweis darüber liefern, dass die von Jacobus de Voragine in seiner zum Kanon gewordenen Legende suggerierte Zusammenstellung der Kindesopfer und der Idole keine ephemere Erscheinung war. In dem sogenannten Purpurevangeliar, einer Prachthandschrift der Reichenau-Schule vom Anfang des 9. Jahrhunderts, befindet sich beispielsweise direkt vor dem Matthäus-Evangelium auf der verso-Seite eine ganzseitige, kreuzförmige Miniatur, in der die grundlegende Bedeutung des bethlehemitischen Kindermordes mit bildlichen Mitteln erläutert wird (Taf. 35). 97 Der Ablauf des Ereignisses wurde direkt in das Kreuz eingebettet – ähnlich der ersten, auf der recto-Seite des gleichen Blattes direkt nach den Kanontafeln auftauchenden Kreuzminiatur mit der Epiphanie. 98 Die gewöhnliche Darstellung der manus Dei im oberen Balken des Kreuzes wurde hier durch die befehlende Geste des Herodes ausgetauscht, die üblichen Assistenzfiguren von Maria und Johannes zu beiden Seiten des Kreuzes, wie auch die der Magdalena unter dem Kreuz, die für evangelische Evidenz, Apostolizität und geistige Hingabe sorgen, wurden durch klagende Mütter ersetzt. In der Mitte, wo sich die Balken kreuzen und sonst immer der gekreuzigte Christuskörper erscheint, was in der Ikonografie die Alleinherrschaft Christi als Erlöser bedeutet, wurde die Szene der Kindertötung dargestellt. Die im

97 Beuckers 1999, S. 85. Vgl. Kötzsche-Breitenbruch 1968/1969, S. 108 – 109. 98 Die Blätter wurden nachträglich zusammengebunden.

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eigenen, spritzenden Blut gebadeten und ihre Arme kreuzförmig ausbreitenden Kinder werden durch die Söldner von einem Sockel beziehungsweise Säulenstumpf oder einer Plinthe gestürzt und in die Luft geschleudert. Diese gewaltsame Mission benötigt keine Waffen: Die Unschuldigen werden von den Henkern mit bloßen Händen zerrissen, hochgeworfen oder zu Boden geschmissen. Es ist kein militärischer Einsatz, keine übliche Schlachtszene, keine mit der Ästhetik des Schwerthiebs geschmückte sadistische Soldateska. Es ist ein gewaltiger Sturz.

Geografie und Gründungstopoi: Der jesuitische Entwurf einer Bildevidenz aus der Ferne Im 17. Jahrhundert wurden die Ursprünge der weltweiten Idolatrie immer noch in Ägypten lokalisiert. Den neu entdeckten ›Heiden‹, die bereits früher auf den immer noch zu missionierenden Kontinenten Amerika, Afrika und Asien lebten, wurden folglich Praktiken zugesprochen, die der europäischen Historiografie seit langem bekannt gewesen waren. Mit ihren einheimischen Traditionen avancierten beispielsweise die amerikanischen Ureinwohner im Lichte ihrer katholisch aufgeklärten ›Entdecker‹ zu Akteuren einer ›verlängerten Geschichte‹. Die alten, der ›heidnischen‹ Antike – vor allem dem archaischen Ägypten und dem christenfeindlichen Rom – entnommenen Muster der Rituale und Opferpraktiken der Staatsreligionen wurden auf die neuen, immer noch fremden und daher aus katholischer Sicht zu konvertierenden Subjekte der Anderen projiziert. Ihnen, darunter auch die ›unzivilisierten Wilden‹, die – wie in Brasilien – durch den Vorwurf des Kannibalismus pauschal der Menschenwürde beraubt worden waren, 99 wurde in der konstruierten Kontroverse die Rolle der verformten, im Polytheismus degenerierten Erben der ›heidnischen‹ Antike zugewiesen. 100 Die den damaligen Forschern bereits bekannten Systeme Sonnenkult und Theokratie trafen in diesem Fall auf die natürlichen Ursprünge der zahlreichen göttlichen personae im Land der Pharaonen – so entstand eine ›heidnische‹ Melange im Dienste der diesseitigen Kosmologie der Macht, die aus missionarischer Sicht dezidiert das Pantheon der idolatrischen Abnormalitäten zu öffnen geholfen hat. Schließlich ging es dabei im Lichte der aktualisierenden Bibelexegese um historische Überbleibsel jener Praktiken, die durch die Flucht Christi nach Ägypten bereits endgültig überwunden sein sollten. Die Evidenz der fremden Kulturen animierte beinahe automatisch den Missionsgedanken, da historische Grundlagentexte zu vergangenen Kulturen durch neue Funde bezeugt werden konnten. Die ägyptische Idolatrie zeichnete sich durch eine zeitlich unvergleichbar zurückversetzte Patina aus und gehörte zu den Interessenfeldern der sich in statu nascendi befindenden

99 Vgl. Jurt 2002; Scholz-Hänsel 1998, S. 21 – 34. 100 Von Wyss-Giacosa 2012, S. 81.

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Archäologie. 101 Die im Dienste der teleologischen Objektivität erbrachte historische Einsatzbereitschaft der aufgefundenen und systematisch zugeordneten ägyptischen Funde als leibliche Nachweise des einstigen Konflikts zwischen der christlichen Transzendenz und dem ›heidnischen‹ Diesseits spiegelte sich sogar in den späteren christlich-apologetischen Schriften des Missionszeitalters wider, die sich eine weitgehende Klassifizierung der idolatrischen Phänomene zum Ziel gesetzt hatten. Das antiquarische Interesse für alte und fremde Kulturen verblieb dabei jedoch größtenteils im Schatten der anti-idolatrischen Propaganda der katholischen wie auch der protestantischen Kirchen. Die ägyptische Antike bewahrt in diesem Rahmen allerdings mit bewundernswerter Konsequenz ihr idolatrisches Gesicht, um sich durch einen deutlichen Unterschied innerhalb der erfüllungsgeschichtlichen Vision der siegreichen monotheistischen Apologien als Inbegriff des ›Heidentums‹ zu bewahrheiten. Allein das Überleben des ›heidnischen‹ Ägypten in Form von lauernden Relikten, die den nach erkenntnisreicher novità suchenden Forscher und Künstler zu einem Bilderglauben verführen, hätte bereits für eine durch Bilderfeindlichkeit aufklärende Mission reichen können. Und so gewährt beispielsweise der ehemalige Benediktiner und Hugenotte Maturin Veyssière de La Croze, am Berliner Hof tätiger Antiquar, der ursprünglichen brahminischen Religion in Indien einen ›Vorzug‹ vor den alten Griechen und Römern und verhöhnt zugleich die bereits bildorientierten Kulte von Brahma, Shiva und Vishnu, da diese gerade durch die Vermittlung von Pythagoras und den Persern die ursprüngliche monotheistische Reinheit des Unbegreif lichen bei den Brahminen – den ältesten Kindern Noahs – mit der Makel der ägyptisch verwurzelten Idolatrie verdorben sein sollen: »Inzwischen kan doch der Ursprung des Indianischen Aberglaubens nirgends hergeleitet werden, als aus der Quelle des Aegytischen Gottes-Dienstes, als mit welchem jener noch heutiges Tages eine wundernswürdige Gleichheit hat [. . . ]«. 102 Die shivaitische Verehrung des Linga wird von ihm demnach von den bacchischen Formen der phallischen Kulte ägyptischen Ursprungs abgeleitet genauso wie auch die brahminische Seelenlehre, die Tiere wie v. a. Kühe honoriert und zur vegetarischen Lebensart veranlasst, in seiner Sicht von der griechischen Metempsychosis als Überbleibsel des ägyptischen ›Heidentums‹ abstammen solle: »Ausserdem so beteten sie die schlechtsten Thiere an, wie auch einige Pflanzen und Hülsen-Früchte ihres Landes. Dieser Aberglaube gründete sich vornehmlich auf die Metempsychosin oder Lehre von der Wanderung der Seelen aus einem Cörper in den andern; Welche Lehre sich in ganz Europa ausbreitete, nachdem Pytagoras solche in Aegypten gelehret hatte und womit die heutigen und alten Jüden ihrer Väter Religion beflecket haben, worüber man sich billig wundern muß.« 103

101 Zu den Anfängen dieser Disziplin ausführlich: Schnapp 2009, v. a. S. 135 – 237. 102 de La Croze 1727, S. 550 – 570, hier: S. 554. Vgl. ebd., S. 585 – 596. 103 Ebd., S. 555 – 556, vgl. S. 563, 568, 619.

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Diese providentielle Genealogisierung wird deutlich gegenüber östlichen ›Verformungen‹, die einer christlichen ›Reparatur‹ unterzogen werden müssten: »Aegypten ist die Mutter und Quelle alles alten Aberglaubens, aller alten Irrthümer und Abgötterey.« 104 Aus römischkatholischer Sicht der Missionare verblieb allerdings die gesamte sogenannte ›Neue Welt‹ noch in der Dunkelheit des idolatrischen ›Heidentums‹. 105 Diese mit unzähligen, noch nicht erkannten Idolen angefüllte Welt erschien den neuen, globalen katholischen Bilderstürmern als Aufgabe – gerechtfertigt durch die Annahme, es handele sich im Fall der östlichen und amerikanischen Idolatrien um einen Irrweg historischer Natur. So argumentierte jedenfalls der Jesuit Joseph-François Lafitau, der die Kultur der kanadischen Irokesen erforscht hatte und 1724 in seiner Schrift Moeurs des sauvages amériquains eine Degenerationstheorie der damaligen Kulte Amerikas formulierte. 106 Sie bildeten seiner Meinung nach lediglich eine mit der Zeit zustande gekommene Verfälschung einer monotheistischen Urreligion. 107 Solch ein Verfallsparadigma ist bereits im Frontispiz dieses Werkes zu sehen (Abb. 83): die raumund zeitentrückte himmlische Hostienmonstranz, begleitet durch die Immacolata, Johannes den Täufer, die Engeln und die Szene des Sündenfalls, wird hier zum Wegweiser für die Geschichtsschreibung zur ›Neuen Welt‹. Auf sie zeigt der mitten im Bild vor der schreibenden Historia stehende Chronos, zusammen mit zwei Putten, die antike und amerikanische Attribute wie Hermesstab und Friedenspfeife vorzeigen, während auf dem Boden die neben einem Globus und mehreren Büchern lieblos zerstreute ägyptische und amerikanische Artefakte – darunter Hermen, dekorierte Schilde, animalisch-hybride Figuren und eine Statue der Diana von Ephesos – von einem programmatischen Verfall der ›falschen‹ Dinge in einem vergänglichen, entfremdeten ›Stilleben‹ zeugen. 108 Der kosmologisch begründete Heliozentrismus der kultischen Praktiken resultierte laut Lafitau aus der ursprünglichen Ehrfurcht der Indianer vor der höchsten Idee, vor dem Weltschöpfer und -herrscher, in dem die anfängliche Instanz eines singulären exklusiven Gottes zu lokalisieren sei. Dementsprechend sollen sich die ›heidnischen‹ Idole aus den primitiven, gar rudimentären Formen der Natur herausgebildet haben. Am Anfang aller Ido-

104 Ebd., S. 566. Als Protestant schreibt de La Croze auch die Ursprünge des Mönchtums und den »schädlichen Irrthum« der mittelalterlichen Transsubstantiationslehre dem fatalen ägyptischen Einfluss zu (S. 566 – 567). 105 Das Licht der Bekehrung wurde in der jesuitischen Bildpropaganda der Missionierung in eine geografisch-kosmologische Dimension eingeführt, indem das Solarlicht Christi auf immer neue Flächen des Globus übertragen wurde. Siehe dazu u. a. kartografische Illustrationen des jesuitischen Missionseinsatzes in: Scherer 1703. 106 Lafitau 1724. 107 Ebd., S. 52 – 209 (v. a. S. 53 – 64, 68). Siehe auch Von Wyss-Giacosa 2012, S. 88; Mulsow 2012, S. 36 – 47. Vgl. Kohl 1981, S. 77 – 100, wie auch zum Thema Zeit und sozialer Habitus im Kontext von Lafitaus Schrift: Elias 1984, S. 133 – 144. Zur Lafitaus Dogmatisierung der Geschichte siehe grundlegend: de Certeau 1980, S. 37 – 64. 108 Siehe Fries 1992, S. 5 – 24, hier: S. 9 – 11. Zu medialen Strategien der Einführung von Eucharistie bei den amerikanischen Einwohnern vgl. Dean 1999.

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Abb. 83: Joseph-François Lafitau, Mœurs des sauvages américains, Paris 1724, Frontispiz.

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latrien stehe eigentlich die gleiche Anikonizität, die sich von Pyramiden über Obelisken und Hermen bis hin zum Paradigma der hybriden Verformungen der Naturwesen in den ›wilden‹ Kulturen ›falsch‹ entwickelt habe. In diesem Sinne hätten sich die Bewohner der ›Neuen Welt‹ in ihrem Glauben mit der Zeit genauso verloren wie die Menschen der Antike, in deren Kulten die naturgebundenen Lokalgottheiten und die verstaatlichten Vergötterungen den Grundsatz des frühesten transzendenten und gerade daher undarstellbaren göttlichen Alleinherrschers schrittweise in den Schatten gerückt und so dessen Verehrer mit dem ›Makel‹ der Idolatrie gekennzeichnet hätten. 109 In diesem Sinne beschreibt Lafitau, der die ägyptischen Ursprünge der bacchisch anmutenden Rituale der amerikanischen Ureinwohner nachzuweisen versucht, 110 sogar die Irokesen als Nachkommen der kleinasiatischen Lykier, Skythen und Thraker. 111 Durch solch eine Lokalisierung der menschlichen Bedürfnisse nach einer göttlichen Instanz im indisputablen Urgeist des übergreifenden Monotheismus und durch eine Definition der conditio humana durch das Prisma der Einheit von Vorstellungswelten, die in der Anerkennung der Ersten Ursache (primum movens) ihren Ursprung haben, ließ sich auch die ›Neue Welt‹ in die teleologische Konstante der geschichtlichen Erfüllung miteinbeziehen. Anders als auf den Trümmern der erodierten griechisch-römischen Antike, musste diese Erfüllung jedoch erst aktiv mit einem anti-idolatrischen Einsatz wiederhergestellt werden, nachdem sie in den dunklen Jahrhunderten vor ihrer ›Entdeckung‹ 1492 ›verloren gegangen‹ war. Die Länder Amerikas, die von Columbus und seinen Nachfolgern auf ihrem Weg nach Indien betreten worden waren, avancierten, im Sinne solch einer Historiografie des Verderbens, in der Tat zu einer ›Verlängerung‹ des ›heidnischen Ostens‹; in dieser Welt seien die ursprünglichen Praktiken des Urmonotheismus bis zur Unkenntlichkeit verformt, vergessen, verloren gegangen in einer ›anderen‹ Zeitlichkeit. Die Benennung der karibischen Insel Guanahani als »San Salvador« durch Columbus als christoferens 112 wie auch die Bezeichnung von Hernan Cortés als »neuer Mose« durch die im 16. Jahrhundert auf ihrer anti-idolatrischen Mission im Reich der Azteken tätigen Franziskaner 113 sind Symptome, denen eine die Eroberung systematisch rechtfertigende Einspannung der gesamten

109 Désy 1987, S. 83 – 121, hier: S. 88. 110 Lafitau 1724, u. a. S. 4, 59, 88 – 89, 133. 111 Ebd., u. a. S. 34 – 37, 98 – 99, 213. Vgl. McMurran 2016, S. 110 – 135 (hier insbes. S. 116 – 117, 122 – 123 – zum Bacchus als Osiris); McNiven / Russell 2005, S. 94 (dort auch zu früheren christlichen Ansätzen zur ›Degeneration‹ als geschichtlichem Trieb der Kulturen amerikanischer Ureinwohner) und Mulsow 2006, S. 708 – 710. 112 Siehe u. a. Kiening 2006, S. 80 – 84. 113 Mendieta 1870, Lib. III, Cap. I. Hier soll Cortés auch seit 1519 die ›Neue Welt‹ parallel zu der Zerstörung der ›Alten Welt‹ durch Martin Luther christlich gestaltet haben, der im gleichen Jahr den Papst zum Anti-Christ erklärte. Neben den mosaischen wurden dem Eroberer ebenfalls christomimetische Züge zugesprochen, in der Art und Weise wie er 1524 in Mexico-City zwölf franziskanische ›Apostel‹ begrüßt hätte. Vor ihnen bei ihrer Ankunft kniend, verzichtet er auf die Manifestation eigener Größe und entzieht sich somit einer personenbezogenen Idolatrie vonseiten der Azteken. Vgl. Phelan 1970, S. 29 – 38, v. a. S. 30 – 33. Siehe auch Kubler 1991, S. 44, 53.

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›Neuen Welt‹ in die neutestamentliche Teleologie der heilsgeschichtlichen Reparatur folgte. Laut der 1596 geschriebenen Historia eclesiástica indiana von dem Franziskaner Gerónimo de Mendieta wurden 1485 am Tag der Geburt von Cortés im neugebauten Tempel des Kriegsgotts Huitzilopochtli im aztekischen Tenochtitlán 80000 Menschen geopfert. Dieser Parallelisierung, die mit einer Erfassung der aztekischen Kulte als idolatrische Domäne der dämonisch-diabolisch-pharaonischen Versklavung des Volkes zusammengeht, 114 ist die gleiche providenzielle Macht der Typologie eigen, die seit dem Vergleich der Idole mit den Erstgebornenen Ägyptens und den bethlehemitischen Kindern bei Jacobus de Voragine im 13. Jahrhundert den soteriologischen Gedanken bestimmte 115 – die aztekischen Geopferten verwandeln sich damit in neue innocenti einer neuen amerikanischen Erlösungsgeschichte. Im Rahmen der fortschreitenden Missionierung, auch über ein halbes Jahrhundert nach der Veröffentlichung der China illustrata des Jesuiten Athanasius Kircher (1667), eines für seine Zeit relativ kulturoffenen Werkes, 116 wird die Welt gemäß der auf solchen Grundlagen aufgebauten Degenerationstheorien, wie dieser von Lafitau, entlang der Vorstellung eines feindlichen Exils wahrgenommen: die außereuropäischen Länder verwandeln sich immer wieder in Altes Ägypten und können ihrem ›neuzeitlichen‹ Schicksal der bilderstürmerischen Konversion nicht entgehen. Das aktuelle hybride Anderssein der für Idole gehaltenen Kultfiguren Asiens und Amerikas – wie etwa der vierarmige Vishnu und der sechsarmige Shiva im Hinduismus, der tausendarmige und elfköpfige Bodhisattva Avalokiteshvara im Mahayana-Buddhismus oder der durch animalische Mischformen repräsentierte aztekische Regengott Tla¯ lo¯ c und viele andere – übertraf jedoch die früheren, imaginär bereits gezähmten zookefalischen Gestalten der ägyptischen oder babylonischen Kulte ebenso wie die inzwischen schon domestizierten Gottheiten der Römer. Diese neue Hybridität ging auch über die bisherigen Vorstellungen des Westens von den gestalterischen Möglichkeiten der alten Idole hinaus, die zwischen dem antiken Anthropomorphismus der Idealgötter und den personifizierten Naturkräften des Nordens zu lokalisieren waren. 117 Im Moment der geografischen Ausdehnung zeigte sich eine bisher ins westliche Bewusstsein nicht eingedrungene Vielfalt der religiösen Ausdrucksformen, die den bekannten Negativspiegel zerbrechen ließen und neue Ängste vor einem Verlust der Kontrolle über die Natur in den Vordergrund rückten. 118 Im Sinne eines Entfrem114 115 116 117

Mendieta 1870, S. 175. Vgl. Kap. 2, Anm. 34. Kircher 1667. Vgl. zu der Frage der Idolatrie im Kontext von Kirchers Werk: Odell 2009, S. 267 – 288. Zu den Bildern »con soggetti mostruosi e prodigiosi«, darunter zu den Darstellungen der ägyptischen Götter: Paleotti 2002, XXXV. Vgl. zur Bezeichnung der ›Götzen‹ als Mischwesen bei Origenes: Ginzburg 1999, S. 144 – 167, insbes. S. 145 – 146. Claire Farago zeichnet in einem ähnlichen Kontext eine Kontaktfläche zwischen der präkolumbianischen Visualität und dem barocken Begriff der Groteske: Farago 2011, S. 99 – 122. 118 Siehe u. a. Cummins 2009, S. 77 – 104. Vgl. das klassische Studium zur ›Monströsität‹ des Ostens: Wittkower 1942, S. 159 – 197, wie auch das umfassende Werk zur Geschichte der europäischen Entfremdung von indischen Bilderwelten: Mitter 1977.

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dungsmoments kann dies gewissermaßen mit dem Charakteristikum der mittelalterlichen Weltkarten verglichen werden, hinter deren Rändern die noch verbliebenen geografischen weißen Flecken an anderen Ufern der Wässer von einfüßigen oder einäugigen Bewohnern gemäß dem Motto hic sunt dracones besiedelt gewesen seien. 119 Im katholischen Diskurs lässt sich eine Form der Reaktion auf diese verunsichernde Sichterweiterung erkennen, bei der sich die ›heidnischen‹ Idole, die bis dato als Wächter der anachronistischen Altertümlichkeit der alten, vergangenen Welt ihren Willen durch Blitz und Donner ›klassisch‹ zu manifestieren versuchten, in der sich angeblich öffnenden ›Neuen Welt‹ vor allem in entartete Monster und listige Ungeheuer verwandeln. Sie verkörpern nicht mehr das phantomatische Subjekt des zum Scheitern verurteilten ›Götzen‹ im großen Plan der überzeitlichen teuf lischen Versuchung der wahren Christen, sondern stellen eine reale Gefahr dar, weil sie in deren Augen eine Entstellung der faktischen Natur, darunter der humanen Gestalt, bilden. Für die Missionare bezeugen die neu entdeckten, teilweise mit einer antiken Genese der Verderbung pauschalisierten Idole in Asien und auf den amerikanischen Kontinenten mit ihrer neuen Hybridität, ihren metamorphotischen Verwandlungen zwischen Ding, Pflanze und Tier, dass sich die Natur doch noch nicht gänzlich kontrollieren lässt und dass sie eigenwillig wachsende Mischformen erzeugen kann, die als Figuren des Übergangs, der Vermittlung zwischen Mensch und Umwelt, des noch immanenten Einklangs mit der Natur fungieren (Abb. 84). 120 In diesem Sinne gab die Entdeckung der fremden Kulte einen neuen Impuls für die Idee der Missionierung als Bestellung eines neuen, rohen Ackers, da sich die Idolatrie als tatsächlich vorgefundene Verkörperung dessen erwies, was vorher als eine ständige Projektion der Bedrohung für die staatskonforme Stabilität der christlichen Weltanschauung mit ihrem Transzendenzbezug funktionierte. Es ging um die Angst vor dem Verlust der Kontrolle über die natürlichen Kräfte, vor dem Verlust der schriftlichen Rationalisierung des Glaubens, die eine wesentliche Grundlage für die Religion des jenseitigen, planenden Schöpfergottes lieferte. Die Situation der seit jeher in der ›Neuen Welt‹ wie auch in Asien präsenten Idolatrie erschien im Sinne der missionarischen Degenerationstheorie als die Umkehrung des ersten, primordialen Idolensturms Christi in Ägypten, als eine faktisch verlorene Chance des Monotheismus. Diese vermutete Faktizität der historischen ›Verderbung‹ in der Ferne machte die seit langem kultivierte typologische Vision der res gestae, die auf einer Kontinuität des ersten Sieges über die irdische Immanenz im Sinne einer ständigen Erneuerung und Aufrechterhaltung des Gründungsmoments aufgebaut wurde, zu einem relativen, weil durch Entdeckung der faktischen Differenz gefährdeten Konstrukt. Auf diese Art und Weise realisierten und potenzierten sich sogar im globalen Kontext die alten Bilder des immer zu schmähenden Feindes des Christentums. Auf der Ebene der interkontinentalen Aktualität ließ sich allerdings die vertraute anti-idolatrische Fiktionalisierung des im Legendären eingebetteten Antagonismus zwischen Bild und Idol nur schwer aufbauen; die 119 Vgl. Cosgrove 2012, S. 104 – 118. 120 Siehe v. a. Lafitau 1724, S. 140. Vgl. Logemann 2012, S. 117 – 130.

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Abb. 84: Die antikisierenden Typen von Götterstatuen Asiens als Vorläufer von amerikanischen Kultbildern, in: Joseph-François Lafitau, Mœurs des sauvages américains, Paris 1724.

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historische Entfernung des frühchristlichen Konflikts und die geografische Entfernung der aktuellen transozeanischen Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Bildkulturen bewirkte eine neue, die Aktualität ethisch mit Alternativlosigkeit verschärfende Dimension des superioritätsbezogenen Anachronismus. 121 Der ethnografische Exotismus bewahrte dadurch sein zweites Gesicht: Die lustvolle Faszination am Fremden, die Hand in Hand mit dem hegemonialen Anspruch der Entdecker und Missionare ging, enthüllte zugleich, wenn auch subversiv und unausgesprochen, ein mögliches tödliches Spiegelbild des Christentums. In diesem zeigte sich, dass das Bestehen der ›wilden‹ Kulte, die sich durch ihr mythisiertes, naturgebundenes Alter, aber auch mit einer idolatrischen Alterität auszeichneten, eine faktgewordene – wenn auch ›falsche‹ – zeitgenössische Alternative zum Christentum, eine Umkehrung des Paradieses bildete. 122 In diesem Sinne wurde für die Anhänger von ›Degenerationstheorien‹ sichtbar, in welchem Maße der ursprüngliche Monotheismus auf idolatrische Wege geraten konnte und dass das Christentum als Religionssystem der ›zivilisierten‹ Welt mit seiner historischen Nachweisbarkeit der rekonstruierbaren, politisch-historischen Anfänge schließlich als eine eingeführte und nicht schon immer präsente Religion zu bezeichnen war. Es kann an dieser Stelle daran erinnert werden, dass gerade diese zeitliche Differenz zwischen der ewigen Natürlichkeit und der historischen Instandsetzung bereits in den Anfängen des Christentums zum Argument der römischen und hellenistischen ›Heiden‹ gegen die christliche Weltverneinung geworden war. So weist beispielsweise der syrische Neoplatoniker Porphyrios von Tyros in seiner Nymphengrotte aus dem 3. Jahrhundert anhand eines kritischen Kommentars zu einem Fragment von Homers Odyssee auf die natürlichen Wurzeln der traditionellen Religion und in diesem Kontext auf die kosmischen Ursprünge der Symbolik wie auch auf den Sinn einer Namensgebung der Dinge hin. In einer anderen Schrift, Contra Christianos, kritisiert er die Unstimmigkeiten und Inkohärenzen in den synoptischen Evangelien, um das Christentum als eine neu eingeführte Religion unter rein logischen Prämissen zu dekonstruieren. Er bemängelt zum Beispiel, dass trotz der Versicherungen des Paulus bisher niemand in den Himmel aufgenommen worden sei (obwohl diese christliche Vorstellung wiederum im römischen Ritus des kaiserlichen prodigium als konsekrierende Aufnahme des toten Herrschers mit Leib und Seele in den Himmel verankert bleibt, die somit einen Grundstein für die christliche Idee des leeren Grabes als historischer Nachweis des göttlichen transitus im Sinne von Auferstehung und Himmelfahrt lieferte). 123 *

121 Vgl. Rancière 2015, S. 35: »Je mehr man sich der Gegenwart nähert, umso weniger kann man erfinden, umso mehr nähert sich die fiktionale Erfindung einer Grenze, die die überprüfbare Lüge ist.« 122 Zu systemischen Unterscheidungen zwischen Religion und Idolatrie angesichts der Kulte der amerikanischen Ureinwohner vgl. den religionsanthropologischen Ansatz: Bernard / Gruzinski 1988. 123 Porphyrios, Nymphengrotte und Contra Christianos.

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Die globale Mission der Jesuiten erforderte ein alternatives Verständnis der Temporalität, und zwar lange vor solchen subversiv hegemonialen Degenerationsansätzen, wie sie vor allem mit Lafitaus historischem Universalismus des Einen präsent waren. Die eigene Historizität ließ sich aus der Zeit lange vor den verwissenschaftlichten Axiomen der kulturellen Überlegenheit, vor der Überzeugung der jesuitischen Gemeinschaft, politisch fortschrittlich zu sein, herleiten. Die Mission benötigte jedoch vor allem eine andere, neue Art von Geschichtsauffassung, die sich im Sinne eines zukunftsorientierten Gründungsansatzes direkt aus der Gegenwart konstruieren ließ. Im Gegensatz zu den oben beschriebenen historischtypologischen Rückprojektionen der seit Jahrhunderten als communitas vor Ort auf dem europäischen Boden verankerten Zisterzienser bedurfte aus Sicht der neu gegründeten Societas Jesu die endgültige Erfüllung des Topos Ägypten – als Ort des allerersten, nachzuahmenden Idolensturzes – keiner strikt historischen Suche nach dinglichen Spuren einer einstigen monotheistischen Universalkultur. Diese Spuren wären im brasilianischen Dschungel auch nicht zu finden gewesen. Stattdessen zählte vor allem eine Autonomie der anti-idolatrischen Bestimmung der aktuell im Zeichen des Konflikts stattfindenden Missionen, die gerade durch ihre organisatorische Stringenz zur Gründung der neuen Gemeinschaft beitragen konnten. Die Erschaffung solch einer neuen Geschichtlichkeit ließ sich mit zirkulierenden Bildern vergleichsweise schnell durchführen, indem diese Bilder die publizistische Temporalität als Alternativmodell zur heroischen Aktualisierung des Archaischen in Monumentalmedien in Gang zu setzen verhalfen. Der neue Anfang, mit dem in Bildern ein affektives Gründungsmoment der Kongregation vollzogen worden ist, ging in diesem Sinne mit einer klaren Definition des Missionsziels einher: Mithilfe der zwischen den Kontinenten kursierenden Medien ließ sich effektiv den ausgewählten Ereignissen aus der nur einhundert Jahre langen Geschichte der jesuitischen Societas eine monumentale, stiftende Dimension zuweisen. Das Muster der Bewältigung des Anderen in der Ferne wird durch die Jesuiten dementsprechend im Sinne eines geografischen Exports des alten Gründungstopos propagiert. Die Idole in Übersee – auch wenn sie weitaus ›monströser‹ sind – fallen genauso, wie einst auf römischem Boden die archaisch gerüsteten Mars-Statuen und die Figuren der Venus pudica gefallen waren, die dort mit ihrer dezidiert vorparadiesisch schamlosen vivacità des weiblichen Körpers die männliche Tugend der Betrachter verführten. Sie werden genau wie die griechisch-römischen Figuren zu Gegenstücken der sakramentalen Realität des Altars und der christlichen Erbauungsbildlichkeit als Mittel der göttlichen consolatio in der Not. In ihrem Fall ersetzt ihre ethnografische Besonderheit und irrational-listige Naturgebundenheit – sie werden als anders ›beseelte‹ Artefakte unter den botanisch inspirierenden, reizvoll exotischen Blättern der Kokospalmen aufgefasst – die bisherige ikonografisch gezähmte Patina der altrömischen Tempelruinen und ihrer marmornen Bewohner. Die animalische Grausamkeit der ›unzivilisierten Heiden‹ in Übersee entspricht in diesem Gesamtbild den staatskonformen und opportunistischen Positionen von Pilatus; mit ihr wird das Werk seiner vielen, durch die christliche Mythenbildung in den Vordergrund gerückten spätrömischen Henker-Nachfolger fortgesetzt. Dieses Modell resultiert in diesem Sinne aus dem Konflikt

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zwischen dem christlichen Bewusstsein der Nachträglichkeit einerseits und der tatsächlich vorhandenen oder durch christliche Interpreten nur zugemuteten Ahistorizität der außereuropäischen Kulturen andererseits, einem einseitig durch autoritäre Selbstbehauptung geförderten Konflikt zwischen unterschiedlichen Zeitfasern, um diese Differenz unter den bereits zitierten Gedanken von George Kubler als Erforscher der amerikanischen Urkulturen zu subsumieren. 124 Solch ein Konflikt hatte auch einen essenziellen Charakter, denn gerade von dem Erfolg der Idolenbeseitigung und von der Einführung der neuen christlichen Ordnung der göttlichen Übernatürlichkeit auf dem neu entdeckten Boden war die Idee der civitas terrena mit ihrem überzeitlichen Bezug zur geschichtsumfassenden Transzendenz abhängig. Sie setzt auf platonische Art und Weise der Zeit den Sinn und der Endlichkeit die grenzenlose Erkenntnis entgegen. 125 Die christliche Darstellung der Idole in Asien und in Übersee als in ihren konvulsiv-hybriden Gestaltungen lauernde Dämonen, als aggressive Missgeburten der entarteten Natur (ungeachtet der dezidiert anderen Funktionen der vorgefundenen Bildwerke als Darstellung einer Gottheit, wie beispielsweise die Figuren des Buddha im Buddhismus oder die des Tirthankara im Jainismus als menschliche Vorbilder für die zum Erwachen führende Meditation) 126 entsprach der Strategie der organisatorischen Überlegenheit des eine Bezugskonstante bietenden Glaubens gegenüber der sich angeblich in sich selbst ausschöpfenden Idolatrie, der imperialen Zivilisation gegenüber der archaischen Stammeshierarchie und schließlich auch der zeit- und raumsteuernden, fortschrittsorientierten Technologie gegenüber der in ihrem Kreislauf verbleibenden und sich seminal entwickelnden Natur. Nicht zuletzt resultierte diese ethische Degradierung des projizierten Anderen aus dem christlichen Urtopos des Exils: Auch in der amerikanischen Ferne ließ sich die feindliche Fremdheit der aktuellen Umwelt bestätigen, die bereits im ersten Jahr der historischen Inkarnation des christlichen Gottes im Automatismus der Zerstörung der ägyptischen Bilder ein Identitätsmerkmal der Gemeinde zu etablieren erlaubte. 127 Es ist also verständlich, dass sich in den globalen Kontexten der Missionstätigkeit der Jesuiten auch frühchristliche Anspielungen im Sinne einer vermeintlich bis zu den Anfängen der römischen Kirche reichenden Genese des Ordens finden lassen. Ein Prachtexempel solcher Bezüge ist der von Cornelis Bloemaert nach Jan Miel 1659 gefertigte grafische Frontispiz zur zwei124 Kubler 1962, S. 122, siehe auch Kap. 1, Anm. 61. Vgl. MacCormack 2006b; Eschmann 1976, S. 23 – 57. 125 Vgl. Kreuzer 2012, S. 145 – 159. Vgl. umfassend zur Bildlichkeit der Zeit- und Ewigkeitskonzepte bei Platon und Augustinus: Ricœur 2004, S. 15 – 53; Günther 1993, S. 17 – 68; wie auch Gloy 2008, S. 37 – 57, 97 – 122. 126 Zur fehlerhaften Pauschalisierung der asiatischen Bildwerke als polytheistische Götterfiguren siehe u. a. Mitter 1977, S. 60 – 64. Zum amerikanischen Kontext der Dämonisierung von einheimischen Kulten und ihren Bildern siehe McCormack 2006a, S. 623 – 648. 127 Vgl. Blumenberg 1979a, S. 244: »Die Größe des unsichtbaren Gottes ist hier nicht das Thema, sondern seine Fähigkeit, sogar unabhängig vom Kult und von Kultstätten rein durch das Wort ›real‹ und dadurch, wenn man den Ausdruck verzeiht, unbegrenzt transportfähig zu werden. Dauerfähigkeit über Exile hinweg und Missionsfähigkeit über exotische Distanzen sind nur zwei Aspekte derselben Bestimmung.«

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Abb. 85: Daniello Bartoli, Historia della Compagnia di Giesu, 1659, Frontispiz.

ten Edition des Werkes von Daniello Bartoli Historia della Compagnia di Giesu (Abb. 85). 128 Dieses Bild spiegelt die Einteilung des gesamten Buches wider, einer Monumentalausgabe der Geschichte des Ordens von seinen Anfängen bis zum Jahr 1640 – neben dem Imago primi saeculi eine der zwei großen historiografischen Initiativen der Societas Jesu zu ihrem hundertjährigen Jubiläum. 129 So wie sich der Text ›geografisch‹ nach Erdteilen strukturiert, um schließlich ›historisch‹ in der Vita des Ordensgründers Ignatius zu münden, 130 so wurden auch in der Grafik die Allegorien aller vier Kontinente – zumindest die beiden ›zivilisiert‹ gekleideten Frauen Europa und Asien – in demütigen Posen um den Globus herum dargestellt, 128 Bartoli 1650 – 1673. 129 Imago Primi Saeculi 1640. Vgl. Salviucci Insolera 2004. 130 Vgl. ein umfassendes Studium zur symbolträchtigen Bildlichkeit in den historischen, geografischen und kosmologischen Überlegungen Bartolis wie auch zu seinen Kontakten mit Athanasius Kircher: Arnaudo 2008, S. 217 – 253.

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der, selbst auf einem Postament platziert, zu einem Denkmal der jesuitischen Allpräsenz und unbegrenzten Wirkungskraft stilisiert wurde. Diese Allpräsenz im Sinne einer geografischen Ausbreitung gleicht jedoch einer historischen Allgegenwärtigkeit, denn über dem Globus, auf den Wolken reitend, erscheint Ignatius selbst als Verwalter der leuchtenden Kraft der göttlichen Sonne, die ihr Licht der Bekehrung auf die Erde sendet. Die typisch ignazianische Metaphorik, welche die Kraft der solaren Omnipräsenz und Erleuchtung ins Onomastische zu wenden versucht, indem der erste Ordensgeneral als ignis seine Kraft global verbreitet, wurde hier um einen unübersehbaren Bezug bereichert. Das Licht der Sonne fällt auf die zu transformierende Erde nicht direkt aus den Händen des Ignatius, sondern wird durch ein von zwei Putten wie ein Spruchband gehaltenes velum mit der Inschrift »Coelo affixus sed terris / omnibus sparsus. / Minut. Fel. in Octa.« gefiltert. Damit wird der geografische Einsatz der jesuitischen Körperschaft mit einem der berühmtesten frühapologetischen Statements ausgestattet, das in der aus dem Ende des 2. Jahrhunderts stammenden polemischen Schrift Octavius von Minucius Felix enthalten war: Bilderlosigkeit, Unerkennbarkeit und Omnipräsenz des christlichen Gottes als eine wahre Alternative zu den Irrwegen des ›heidnischen‹ Platonismus. In diesem Dialog, der zwischen den Vertretern der beiden Seiten geführt wird – den zwei Christen Minucius Felix und Octavius und dem Römer Cäcilius – und unabdinglich mit einer Konversion des Letzteren endet, der seine ›heidnische‹ Identität als ein Trugbild eingesteht, erscheint der Aspekt der Sichtbarkeit der himmlischen Wirkungskraft Gottes auf Erden und seiner Bildlichkeit als eine rudimentäre Reibungsfläche zwischen den beiden Kulturen. Cäcilius argumentiert zuerst für die römische Macht, die sich unter anderem deswegen »über den ganzen Erdkreis ausdehnen« konnte, da die Römer auch »die Götter der Besiegten« verehrten, und wirft den Christen vor, dass »kein freies Volk, kein Königreich« ihren Gott kenne, der alle Menschen und deren »geheimsten Gedanken« verfolgen könne, ohne dabei selbst sichtbar zu werden, da er »allerorten umher irrt«. 131 Diese Asymmetrie der Beobachtungssituation, in der der Beobachtende selbst unsichtbar bleibt – anders als die römischen Götter, die in ihrer staatlich anerkannten Rolle der territorialen Ordnungsbringer, verkörpert durch unterschiedliche Figuren, nach dem Muster von Gabe und Gegengabe ihre durchaus sichtbaren und mantisch lesbaren Leistungen erbringen konnten –, wird durch Octavius nicht verneint. Stattdessen führt er diese Asymmetrie auf den christlichen Grundsatz der göttlichen Einheit zurück und überzeugt schließlich seinen adversarius, indem er seine eigenen Vorwürfe rhetorisch untermauert und positiv ausbaut: In seiner Erwiderung bekräftigt er die gesteigerte Alterität des allpräsenten Gottes, indem er für eine streng rationalisierte und kompromisslose Vereinheitlichung der Gottesvorstellung plädiert und sich dezidiert gegen die geografische Erscheinungsvielfalt von unterschiedlichen göttlichen Instanzen in ihren diversen Namen und lokal abweichenden Darstellungen wendet. 132 131 Minucius Felix, Octavius, 6.2, 10.5, 11.1. 132 Ebd., 22. 1 – 5. Zur Relevanz dieser apologetischen Schrift für die frühneuzeitliche Betrachtung von antiken und außereuropäischen Idolatrien siehe: Sheehan 2006b, S. 561 – 570.

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Das Werk des Minucius Felix, das im Jahr 1543 in Rom im Druck erschienen war, wurde wahrscheinlich aufgrund seiner rhetorischen Qualitäten aus der ganzen Reihe der damals zugänglichen apologetischen Texte ausgewählt und in die jesuitische Missionspropaganda eingebettet. Diese Schrift bot jedoch mehr als eine solide Grundlage der anti-heidnischen Argumentation. Die Bilderfrage kommt im Kontext der empirischen Beobachtungen der solaren Kraft zur Geltung, die in mehreren Passagen des Octavius nach und nach zu einem Inbegriff der göttlichen Kontrolle über die menschliche Seele und das menschliche Tun wird: Freilich den Gott, den wir verehren, können wir weder sehen lassen noch selbst sehen. Gerade deswegen gilt er uns als Gott, weil wir ihn wahrnehmen, aber nicht schauen können. Denn in seinen Werken und in allen Bewegungen der Welt schauen wir immer seine Macht gegenwärtig, im Donner, Blitz und Wetterleuchten wie bei heiterem Himmel. Darüber brauchst du dich gar nicht zu wundern, daß du Gott nicht siehst. Durch die wehenden Winde kommt alles in Bewegung, Schwingung und Antrieb, und doch kommt der Hauch des Windes nicht unter unsere Augen. In die Sonne, die doch allen das Sehen ermöglicht, können wir nicht schauen; durch ihre Strahlen wird die Schärfe des Auges geschwächt, der Blick des Anschauers wird verdunkelt, und wenn man länger hinsieht, wird die Sehkraft ganz zerstört. 133 Wie kann denn Gott weit weg sein, da doch der ganze Himmel und die ganze Erde und alles außerhalb des Erdkreises von Gott erfüllt ist. Überall ist er nicht nur uns ganz nahe, sondern sogar in uns. Betrachte nur noch einmal die Sonne. Sie steht am Himmel und doch ist ihr Licht über alle Länder ausgegossen; allerorts ist sie gleichmäßig gegenwärtig, dringt in alles ein und nirgends wird ihr Glanz getrübt. Um so mehr ist Gott, der alles erschafft und schaut, vor dem nichts verborgen bleiben kann, gegenwärtig in der Finsternis, gegenwärtig in unseren Gedanken, gleichsam einer Finsternis anderer Art. Wir handeln nicht bloß unter seinen Augen, sondern leben, möchte ich fast sagen, mit ihm. 134 Der zeitliche Faktor des allumfassenden Blicks, der dem transzendenten Gott zugeschrieben wurde, zeichnet laut jesuitischer Jubiläumspropaganda ebenfalls seinen Verwalter Ignatius aus – wenn auch vermittelt. Die Bezeichnungen ubique praesens und omnia videt, die in dem einführenden argumentum des zitierten Kapitels als Grundlagen der göttlichen Transzendenz erwähnt werden, erscheinen als Kategorien der Subordination innerhalb des Ordens, dessen Initiator, so wie er in Bloemaerts Frontispiz verherrlicht wird, dazu fähig ist, die ewig leuchtende Sonne eigenhändig zu einem Objekt und zur strukturellen Grundlage seiner Mission zu erklären. Das Fehlen an eigener Vorgeschichte im Sinne einer ›antiken Dunkelheit‹ und einer ›mittelalterlichen Gründerzeit‹ wird anhand dieser geografisch-apologetischen Rückprojektion ausgeglichen: mit einem unzweideutigen Verweis auf die praesens133 Ebd., 32. 4 – 5. 134 Ebd., 32. 7 – 9.

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Dimension der laufenden historischen Zeit, in der die Aktualität im Raum spürbar wird und sich in der Zeit der konfliktvollen Begegnungen – auf dem Kanon der axiomatischen Kontroversschriften des frühen Christentums basierend – auf vier Erdteilen aufbauen lässt. Allpräsenz bedeutet hier also eine Allgegenwärtigkeit und Kontinuität. 135 In diesem Kontext lassen sich wichtige Fragen stellen: Inwieweit wurde mit dem unter diesen Prämissen geführten jesuitischen Missionseinsatz das Narrativ der neuen, diesmal geografisch ausgedehnten Gründerzeit aufgebaut? In welchem Ausmaß waren Bilder wirklich daran beteiligt, die Aufopferung der Societas Jesu für die Reinheit des katholischen Glaubens im Osten und in Übersee in eine neue visuelle Marterkultur der verfolgten Gemeinschaft umzuschmieden? Wie die folgenden Passagen zeigen werden, gab es zwischen den beiden etablierten Polen einer akribischen historischen Narrativierung der Folter und einer allegorisierten Metapher der religiösen Opferbereitschaft, die in der heutigen Forschung als festes ikonografisches Muster des frühneuzeitlichen Marterbildes gelten, Raum für abweichende Diskursprägungen. Ein solches, im ausgehenden 17. Jahrhundert sich von bisherigen Vorbildern entfernendes Modell der Martyrologie als Gründung und Befestigung der Ordensgemeinschaft aufgrund einer unter geografischen Prämissen neu entwickelten Bildevidenz der Geschichte liegt mit der monumentalen Prager Ausgabe der Societas Jesu usque ad sanguinis et virae profusionem militans von Matthias Tanner, dem Leiter der böhmischen Jesuitenprovinz und Rektor des Prager Clementinums, vor. 136 Diese bisher in den Untersuchungen zu Martyrienbildern der Frühen Neuzeit kaum ernsthaft wahrgenommene Publikation 137 wurde mit mehreren qualitativ hochwertigen Grafiken des Augsburger Stechers Melchior Küsell nach Vorlagen von Karl Škreta ausgestattet. 138 Der lateinischen Edition folgte acht Jahre später eine deutsche Ausgabe. 139 135 Zur Kontextualisierung des Frontispiz-Bildes von Bartolis Buch im Sinne einer Beschwörung der frühmodernen Globalität durch subjektivierende Missionstätigkeit siehe: Kapustka 2018, S. 137 – 156. 136 Tanner 1675. 137 Die Erwähnungen in der Literatur sind eher gelegentlicher Natur und behandeln nur wiederholend einige ausgewählte Bilder anstatt das Buch als Ensemble: Lang 2012, S. 91 – 95, 465 – 470; Stolaˇrová / Vlnas 2010, S. 404 – 411; Oy-Marra 2007, S. 253 – 254; Burschel 2004a, S. 224, 229, 233 – 244; Bailey 1999, S. 160. Vgl. eine kurze literaturhistorische Bearbeitung, in der die Details dieser Buchedition aufgelistet werden: Svatoš 1995, S. 288 – 305. Die folgenden Passagen stellen eine überarbeitete Version meines Beitrags zu diesem Thema dar: Kapustka 2013, S. 57 – 73. 138 Eine enge konzeptionelle Zusammenarbeit von Tanner und Škreta bei der Entstehung des Buches kann durchaus vermutet werden, denn dieser Band – wie im Folgenden dargestellt wird – wurde als ein medial durchdachtes Ensemble von Text und Bild gestaltet. Zu der künstlerischen Tätigkeit Škretas siehe u. a.: Stolaˇrová / Vlnas 2010 und Neumann 1974 (hier auch eine kunsthistorische Analyse der Entwürfe für die Illustrationen zu Tanners Societas Jesu: S. 251 – 254). 139 Tanner 1683. Diese Edition beinhaltet zusätzlich einige neue Stiche von dem in Prag tätigen Maler Johann Georg Heinsch, die jedoch qualitativ ihren Vorgängern nicht gleichkommen. Die älteren Vorlagen von Škreta werden in dieser Ausgabe auch mithilfe der inzwischen sehr verbrauchten Matrizen reproduziert.

Geografie und Gründungstopoi

Abb. 86: Melchior Küsell nach Karl Škreta, Martyrium von Edmundus Donatus, in: Matthias Tanner, Societas Jesu, 1675.

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Abb. 87: Melchior Küsell nach Karl Škreta, Martyrium von Jacobus Basile, in: Matthias Tanner, Societas Jesu, 1675.

Die Illustrationen dieses Buches sind als ein deutliches Signum des Einsatzes einer neuen Art der Bildargumentation jenseits der strikt sakralen Repräsentation des Transitus zu bezeichnen, die als subjektbildender Faktor für die jesuitische communitas im späten 17. Jahrhundert diente. Im Folgenden ist daher zu untersuchen, inwieweit dieses ikonografische Novum zu der Re-Etablierung des konkreten leidenden Subjekts als Exponent der Gemeinschaft in einer geografisch ausgedehnten Zeit beigetragen hat. Dabei zeigt sich die Gewalt als eine gemeinschaftsbildende, ästhetische Kategorie, die durch die Einbettung des Individuums in die strukturierte Organisation die singuläre Zeit der alten Märtyrer in eine Aktualität der kollektiven Einsatzkräfte umschlagen lässt. Jedem der 169 getöteten Missionare, deren Tätigkeit auch in diesem nach Kontinenten gegliederten Buch jeweils in einem eigenen Textabschnitt ausführlich beschrieben wird, ist eine Grafik gewidmet, die den Moment des Sterbens oder die Ansicht des Leichnams wiedergibt. In mehreren Illustrationen tendieren die Todesbilder zu einer asketisch stilisierten, denkmalhaften Auffassung – der Betrachter wird dabei größtenteils mit einem alleingelassenen und des Öfteren massakrierten Leichnam des getöteten Märtyrers konfrontiert (Abb. 86, 87). Auch in den Bildern, in denen die Aktion der Folter visualisiert wird, funktionieren die aus der christlichen Marterkultur durchaus bekannte Passivität und das Sich-Ergeben des

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Märtyrers gegenüber dem gewalttätigen Anderen als programmatischer Topos der jesuitischen Propaganda deutlich unter dem neuen Stichwort der stillen Einsamkeit des Opfers im fernen Land. 140 Besonders sichtbar ist solch eine Position der Bilder in der Societas Jesu in Bezug auf andere Bildmedien der Ordensmartyrologie. Betrachtet man in diesem Kontext frühere Werke der jesuitischen Bildpropaganda vom Ende des 16. Jahrhunderts, wie zum Beispiel die in dieser Studie als stetiger Vergleichsparameter funktionierenden Fresken in S. Stefano Rotondo, fallen die strukturellen Unterschiede sofort ins Auge. Die von Circignani gemalten Fresken der Nachfolger Christi aus den frühen Jahren des Christentums sollten den Novizen des Collegium Germanico-Hungaricum als Vorbild für ihr mögliches Schicksal während ihrer Missionen dienen – ihre programmatische Rezeption wurde als eine innerhalb einer architektonischen Schaubühne geleitete Bild-Meditation gedeutet. Der in einem Zyklus dargestellte historische Tod der ersten Märtyrer wurde in diesem wie auch in anderen Fällen dem singulären Christusopfer am Kreuz – dem Rex Gloriose Martyrum – als Vorbild untergeordnet. Die Zugehörigkeit der Gefolterten zu dem vom gekreuzigten Christus gegründeten corpus mysticum erwies sich in diesem Sinne als eine historisch erprobte, geistig verbundene Leidensgemeinschaft. 141 Im Rahmen einer genealogisch arbeitenden Archäologie des christlichen Martyriums wurde dabei gerade den frühchristlichen Märtyrern ein Vorrang garantiert, der durch zahlreiche zeitgenössische Reliquienfunde in den römischen Katakomben leiblich untermauert worden war. 142 Die Societas Jesu usque ad sanguinis von Matthias Tanner macht vor diesem Hintergrund deutlich, dass die in ihren entfernten Missionen agierenden Jesuiten im 17. Jahrhundert in ihrer organisatorischen Autarkie an keine Muster der Nachahmung mehr gebunden waren. Es kann sogar festgestellt werden, dass sie in dieser Zeit durch ihre Einsamkeit in fremden Ländern und durch ihre oftmals unglückliche Zusammenkunft mit den ihnen fremden Völkern bereits ihre eigenen Wege des Sterbens kreierten, jenseits der aktuellen Mode und der üblichen hagiografischen Stilisierung. Das Systemische des Opfers drückt sich in diesem Buch zuerst durch die Tatsache aus, dass mehrere Ordensbrüder als Zerstörer der Idole und gleichzeitig als Propagandisten des katholischen Bilderkultes dargestellt wurden. So wird beispielsweise ein gewisser Antonius Sociro 140 In diesem Kontext kann das Problem der Ausdruckslosigkeit angesichts der Gewalt generell als ein relevanter, wenn auch ambivalenter Topos erwähnt werden, auch in Hinsicht auf die ästhetische Codierung von Gewalt und die Nicht-Darstellbarkeit des Schmerzes. Vgl. dazu Hermann 2000, S. 45: »Wo er Sprache werden soll, da entzieht sich Schmerz. Man kann ihn nicht sprechen. Das Nichtsprechenkönnen des Schmerzes macht ihn im Text unauf findbar [. . . ]. Ein Extrem, ein Grenzfall für Kommunikation und Darstellbarkeit, ist Schmerz, der sich vor allem zu widersetzen scheint: der Integrität des Körpers und der des Artikulierens. Wo Schmerz zur Darstellung kommt, wird er gezeigt, erduldet, von ihm gesprochen und immer wieder an ihm gescheitert. [. . . ] Schmerz wird erst hergestellt, er ist nicht vor dem Artikulieren da, er wird ausgedrückt, indem er sich bereitliegender Konventionen bedient, die eine Sprachgemeinschaft zur Verfügung hält und die man beim Sprechenlernen erlernt. Schmerz ist kein Phänomen, das ohne seinen Gebrauch in der Sprache denkbar wäre.« 141 Gregory 1999, S. 290. 142 Ebd., S. 303 – 305.

Geografie und Gründungstopoi

Abb. 88: Melchior Küsell nach Karl Škreta, Martyrium von Antonius Sociro, in: Matthias Tanner, Societas Jesu, 1675.

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Abb. 89: Melchior Küsell nach Karl Škreta, Martyrium von Antonius Lopez, in: Matthias Tanner, Societas Jesu, 1675.

aus Portugal in seinem 61. Lebensjahr von den Einheimischen auf Ceylon im Jahr 1637 tödlich angegriffen, kurz bevor er seine bilderstürmerische Tat an einer vierarmigen ›heidnischen‹ Gottesfigur ausüben kann (Abb. 88). Zu den Attributen dieser Gottheit gehört interessanterweise außer Krone, Zepter, Säbel und Pfeil auch ein Lacrosse-Schläger, also das Instrument eines in Ceylon nie präsenten Gemeinschaftsspiels der nordamerikanischen Ureinwohner (hier: Cherokees), die das gemeinsame Spiel als Übung vor bevorstehenden Auseinandersetzungen, also als Kriegsvorbereitung, und den Schläger als Attribut ihres Kriegsgottes betrachteten – ein deutlicher Hinweis auf propagandistischen Synkretismus. Ein anderer Jesuit, Antonius López aus Spanien, soll 1596 durch die Inkas vergiftet worden sein, nachdem er eine Gottesfigur vernichtet hatte (Abb. 89). Diese Statue, dargestellt als eine monströse, teuflische Gestalt, eine animalische Entstellung der gestalterischen Kräfte der Natur, liegt im Bild bereits zerstückelt auf dem Boden vor einem Opferaltar, daneben ist im Hintergrund ein umgekippter, riesiger Opferkelch zu sehen. Auf seinem gehörnten Kopf hatte das Idol eine päpstliche Tiara ›getragen‹, die jetzt ebenfalls auf dem Boden liegt – in diesem Kontext ein mehr als deutlicher Inbegriff des Betrugs, wenn auch im Rahmen einer interessanten Rückprojektion der westlichen Insigniensemantik. In Škretas Illustration verwandelt sie sich gleichzeitig in eine versteckte polemische Anspielung auf die aus dem vorherigen Jahrhundert bekannte protestantische Bildrhetorik

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Abb. 90: Mattia Preti, Die Versuchung des hl. Nicola da Tolentino, ca. 1680, Öl auf Leinwand, La Valetta, S. Agostino.

der satirischen, anti-papistischen Flugblätter, in denen die Verkleidung oder gar Verkörperung des Teufels als Papst eins der Leitmotive der Polemik darstellte. Die Vernichtung solch einer mit Tiara gekrönten Figur in Peru, wo sie zur Verwirklichung des durch die Reformatoren potenzierten alten Traumas geworden ist, dass der Teufel sich doch als Papst zeigt, gehörte dementsprechend zum Ehrenkodex eines Missionars, der, so wie Bruder López, mit entsprechenden anti-idolatrischen Gegenbildern – dem Kruzifix und dem eucharistischen Kelch – ausgestattet ist oder allein mit einer Messe das Zeichen für christliche Transzendenz gegen die Idolatrie setzen kann. Dieser argumentative Bildmodus wäre als eine ikonografische Spiegelung der Versuchungsszenen aus den Vitae der europäischen Heiligen und Märtyrer anzusehen, wie beispielsweise die Versuchung des Nicola da Tolentino während seines Purgatorio-Gebets vor dem Altar mit einem Kruzifix durch Teufel und Dämonen, so wie sie auf dem Gemälde von Mattia Preti aus dem Jahr 1680 dargestellt wurde (Abb. 90). 143 Mit diesen Vorzeigefiguren, die im Kampf mit allen anderen Kulten aller Kontinente ihr Lebensopfer bringen, realisiert sich der bereits im Titel des Buches geäußerte Vorsatz Tanners, den jesuitischen Missionseinsatz nicht

143 Sgarbi 2013, S. 332.

Geografie und Gründungstopoi

Abb. 91: Melchior Küsell nach Karl Škreta, Martyrium von Antonius Rubinus und seinen Gesellen, in: Matthias Tanner, Societas Jesu, 1675.

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Abb. 92: Melchior Küsell nach Karl Škreta, Martyrium von Franciscus Buldrinus, in: Matthias Tanner, Societas Jesu, 1675.

nur generell als Kampf gegen den ›Unglauben‹, sondern vor allem konkret als Beseitigung der Idole zu beschreiben. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bedeutete diese deutliche Distanzierung von bisherigen historischen Mustern der christlichen Marter bereits eine neue etablierte Ikonografie der individuellen Aufopferung von Gemeinschaftsmitgliedern in der Ferne, die nicht auf den gewöhnlichen Apparat der Analogie und der christoformitas angewiesen war. Die jesuitische Neuerung wird beispielsweise anhand des isolierten, am Galgen gehängten, im Kerker angeketteten, ins Meer geworfenen oder in der Wüste liegengelassenen Leichnams des Ermordeten deutlich, dessen Bild ein visuelles Leitmotiv in Tanners Buch bildet (Abb. 91). In einigen Bildern des Buches sind die Protagonisten der Erzählung sogar fast gar nicht zu sehen, was ihre Einsamkeit im Tod rein kompositorisch als Prinzip zu betonen scheint (Abb. 92). Die Verlassenheit des Märtyrers im fernen Land in Übersee führt dabei einerseits zu seiner Subjektivierung und zu einer gezielten Individualisierung seines schmerzhaften Todes, allerdings im Rahmen des strukturierten Missionseinsatzes. Andererseits ist in diesem Buch eine Wiederholbarkeit der dabei genutzten Darstellungsmodi ersichtlich. Dank der strengen Verankerung in den vorgeplanten Gewaltszenarien oszilliert der Status des jesuitischen Märtyrers als leidendes Subjekt deutlich und bewusst zwischen dem selbstständig agierenden Individuum und der uniformierten communitas. Die innere Spannung zwischen den

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beiden Polen scheint einen Fokus von Tanners Publikation zu bilden. Die äußerst qualvolle Erniedrigung vor dem Tod, die einige der von Škreta abgebildeten Brüder der Societas Jesu erfahren müssen, fällt teilweise sogar mit ihrer bewusst kreierten, rein visuellen Anonymität zusammen, wie zum Beispiel bei dem Martyrium einiger japanischer Missionare, deren mit den Köpfen nach unten aufgehängte Körper vollständig in Tücher eingewickelt und in eine Grube gesetzt wurden (Abb. 93). Dem Subjekt wird nur in dem begleitenden Text der Vita und der knappen Bildunterschrift eine namentliche Präsenz garantiert, das Bild setzt allerdings in diesem Fall jeglichem Ausdruck ein definitives Ende. Sicherlich stellen diese Bilder kein »archäologisches Theater« mehr dar, wie es Leif Holm Monssen sehr treffend in Bezug auf die Bühne der historischen Gewalt in S. Stefano Rotondo genannt hat. 144 Bei Tanner sind die üblichen, aus den römischen Martyrienbildern bekannten Zuschauer der Folter nicht mehr präsent. Der Schwerpunkt jedes einzelnen Bildes liegt einzig auf dem sterbenden oder toten Menschen in seiner aktuellen Verlassenheit. Damit scheinen diese Bilder einen der ersten Präzedenzfälle des kulturellen Wandels von der Frühen Neuzeit zur Moderne zu bilden, in dessen Rahmen das Bild des Sterbens den Akzent auf das reflexive Individuum und seine soziale Prägung durch die kommunitarische Ordnung jenseits der glorifizierenden Mythologie setzte. Das Theater des Todes ist in den Bildern von Škreta vollkommen nivelliert, dem Zuschauer wird in mehreren Illustrationen der gewaltsam dem Leben entrissene und bewegungslose, konkrete corpus präsentiert, womit sich neben der deutlichen Abkehr vom Heroischen gleichzeitig ein wachsender Anspruch auf Aktualität und zugleich Authentizität der Evidenzbilder abzeichnet. 145 Mit diesem Schritt ändert sich ebenfalls das Spektrum der Artikulation der Gewalt im visuellen Medium. Eines der vielsagendsten Bilder in dieser Hinsicht zeigt den Bruder Jacobus de Mesquita aus Portugal, der 1614 in Japan ums Leben gekommen ist (Abb. 94). Sein diagonal platzierter, liegender Leichnam vermittelt einen Ausdruck der absoluten Verlassenheit im fremden Land der ›Heiden‹ und zeigt das endgültige Ende eines einst agierenden Subjekts. Einen Hinweis auf seine frühere Tätigkeit gibt die auf der Erde liegende Decke mit dem auf ihr aufgestellten Kruzifix und zwei immer noch brennenden Kerzen. Der Priester hat also noch vor kurzem sein Gebet gesprochen oder die einsame Feldmesse in einer fremden Umwelt gehalten. Die Präsenz der Utensilien des Missionierenden korrespondiert in diesem stillen Szenario mit der beunruhigenden Abwesenheit der Henker. Der Märtyrertod ist jedoch in diesem Fall nicht mit einer sichtbaren Glorie verbunden – das Leben des hier vor unseren Augen liegenden toten Rektors des Kollegiums in Nagasaki wurde mit einem schmerzhaften Hungertod beendet, der ein direktes Resultat der Verfolgung der Brüder der Societas Jesu durch die japanischen Statthalter war. Es ist also ein tödlicher und lange andauernder Akt

144 Monssen 1981, S. 137. 145 Vgl. Burke 2003a, S. 273 – 296. Zu der spezifischen Art der wissenschaftlichen Argumentation und Evidenz in den frühneuzeitlichen Bildern der Marter, darunter auch in Tanners Societas Jesu, siehe: Kapustka 2014, S. 109 – 123.

Geografie und Gründungstopoi

Abb. 93: Melchior Küsell nach Karl Škreta, Martyrium von Johannes de Acosta und seinen Gesellen, in: Matthias Tanner, Societas Jesu, 1675.

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Abb. 94: Melchior Küsell nach Karl Škreta, Martyrium von Jacobus de Mesquita, in: Matthias Tanner, Societas Jesu, 1675.

der Gewalt, dessen Prozess im Bild nicht darstellbar ist. Erst im Rahmen einer kontextuellen Rekonstruktion wird dem Betrachter bewusst, dass es sich überhaupt um einen Akt der Gewalt handelt. Mit diesem Beispiel können die Bildformeln angesprochen werden, in denen Gewaltanwendung nicht als drastisches Geschehen zu sehen ist. Stattdessen sind Spuren nachvollziehbar, die den Prozess als eine bereits abgeschlossene Tatsache präsentieren und gleichzeitig – anstatt eine transzendierende Glorie des Gefolterten zu signalisieren – das zuvor handelnde Subjekt vor den Augen des Betrachters noch während der Mission erlöschen lassen. Diese mediale Konstruktion scheint zum Zweck der Dokumentation die bisherige Tradition des Martyriumsbildes zu transformieren, in deren Rahmen vom Mittelalter bis in die nachtridentinische Kunst hinein eher ein Augenblick vor oder kurz nach dem Akt des Tötens visualisiert wird – dabei wird die Szene eines über das Haupt des werdenden Märtyrers erhobenen Henkersschwertes zum Leitmotiv. 146 Der eigentliche Akt des Tötens selbst bildet

146 Vgl. den Modus des Gewaltbildes als konstruierte Momentaufnahme innerhalb der ›aufgehobenen Animation‹, wie es Robert Mills im Kontext der mittelalterlichen Visualisierungsmodi der Gewalt nannte: Mills 2005. Darüber hinaus eine grundlegende Bearbeitung zur Wahrnehmung der Gewaltbil-

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eine Leerstelle und kann durch den Betrachter prospektiv imaginiert beziehungsweise retrospektiv anhand der gezeigten Indizien rekonstruiert werden. 147 Es handelt sich in solchen Fällen um eine visuelle Gestaltungsprozedur, welche die Reihenfolge der Ereignisse erst im Kopf des Betrachters entwickeln und mithilfe solch einer Evidenz als andauernd und immer aktuell speichern lässt. Diese Bilder verfügen über eine Technik, den Gewaltakt in seiner Intensität mit eigenen gattungsspezifischen Codes der visuellen Reminiszenz zu übermitteln, ohne ihn als wiederholende Narration der Gräueltaten vorstellen und die bildliche Evidenz als Simulierung der Augenzeugenschaft gestalten zu müssen. Vergleicht man das Bild von Jacobus de Mesquita, der mit seiner Feldmesse einen Versuch des Neuanfangs im Land der ›Heiden‹ verkörpert, mit einem viel späteren Werk, das ebenfalls den einsamen Tod zeigt – wenn auch im Rahmen einer quasi-theatralischen Vorführung –, nämlich mit dem Toten Torero von Edouard Manet aus dem Jahr 1864/1865, offenbart sich ebenfalls deutlich die Modernität des von Škreta konzipierten Bildformulars. Die Ikone des neuen französischen Realismus des 19. Jahrhunderts, die zunächst Teil des später geteilten und übermalten, größeren narrativen Gemäldes Unfall beim Stierkampf war 148, zeigt ebenso einen allein gelassenen Leichnam als eine gewisse Inversion des Subjekts. Diesmal ist es der energievolle Torero, der noch vor kurzem die bewegten Massen mit seiner geschmeidigen Choreografie beeindruckte. Im einsamen Tod ist er jedoch – möchte man anhand des Bildes sagen – dem portugiesischen Missionar gleich. 149 Bereits der Titel des Prager Buches – Societas Jesu usque ad sanguinis et virae profusionem militans –, der sich auf einen ständigen und immer noch aktuellen Kampf der Gesellschaft Jesu für den christlichen Glauben in der ganzen Welt bezieht, signalisiert die Intention, der Körperschaft des Ordens eine neue Form von visueller Memoria im Sinne einer andauernden Erinnerung an den aufopferungsvollen und inzwischen zu einem Markenzeichen der Jesuiten gewordenen Missionierungseinsatz zu verleihen. Die Gewalt bildete dementsprechend einen ausgesprochen planmäßigen Faktor bei der korporativen Identitätsbildung und einen unentbehrlichen Bestandteil der neuen, internen Memorialkultur, der nicht zuletzt ein entscheidender Anteil an der Bewahrung der Ordensstruktur zukam. Die einzelnen Körper der gemarterten Jesuiten können in diesem Sinne als temporär abgetrennte Glieder des verletzten Organismus des Ordens angesehen werden, die systematisch durch entsprechende vollwer-

der im Mittelalter: Tammen 2005, S. 307 – 339 (dabei auf S. 335 – 338 zu einer ähnlich ›aufgehobenen‹ Narration der Gewalt im Simultanitätsmodus des Bildes). 147 Vgl. u. a. einen zusammenfassenden Beitrag: Darian 2007, hier: S. 175. 148 Zu diesem Bild und als frühes Werk von Velázquez zugeschriebenen Toten Soldaten aus dem 17. Jahrhundert als dessen möglichem Vorbild siehe: Fried 1996, S. 97 – 99. 149 Vgl. in diesem Kontext auch die modernen Bildformulare der Historienmalerei des 19. Jahrhunderts, in der mit nahezu kriminalistischer Detailhaftigkeit die Akzente auf den Exekutionsort gesetzt wurden, wie z. B. in Jean-Léon Gérômes Le 7 décembre 1815, neuf heures du matin. L’exécution du Maréchal Ney von 1867 (siehe dazu Lüthy 2000, S. 131 – 132).

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tige ›Prothesen‹ ersetzt werden mussten. 150 Die fortgesetzte Vorbereitung der Novizen und die Aussendung immer neuer Missionare nach Übersee funktioniert in diesem Licht als ein andauernder Vorgang der Selbstheilung durch Ergänzung und Vervollständigung – ein unendliches Verfahren, das den Kreislauf unterstützt und die Funktionsfähigkeit garantiert. So wie sich die abgeschlagenen Köpfe der Zisterzienser mit ihren Körpern wieder vereinen, um dem lokalen Ritus eine volle Gestalt zu verleihen, so ergänzt sich auch der in seiner Effektivität automatisierte Organismus der jesuitischen Körperschaft 151 durch neue Berufungen und weltweite Konversionen. Mit dieser anti-idolatrischen Überwindung der Singularität vervollständigt sich die jesuitische Missionsgeschichte, noch bevor das Werk beendet wird: Die publizistische Aktualität lässt die geografische Distanz zu einem Ersatz der historisch aufzufassenden Vergangenheit werden. Die relativ kurze Zeitspanne zwischen dem fernen Martyrium und seiner Rezeption bei den europäischen Betrachtern nivelliert das Bedürfnis der historiografischen Patina und lässt die dargestellten Ereignisse als eine Gegenwärtigkeit der gerade dort und jetzt für die Einheit des Glaubens global sterbenden Ordensbrüder rezipieren, insbesondere im Kontrast zu der gängigen frühchristlichen Martertopik der damaligen Ikonografie. Durch diesen kunstvollen Griff erschien das ferne Missionswerk als eine Sache der Tagespolitik, die einen Neuanfang, trotz Hürden, fortschrittlich umzusetzen versucht, und nicht als Sache der glossierten Geschichte, die antike Ruinen mühsam in christliche Heiligtümer verwandelt. Die in den Missionen auf der ganzen Welt verstreuten und sterbenden Jesuitenmärtyrer, so wie sie Tanners Buch systematisch darstellte, wurden im Voraus zu tragischen Figuren stilisiert: Ihre Art des Sterbens stellte ein Problem für die jesuitische Propaganda dar, weil sich ihr Tod nicht auf ›traditionelle‹ Art mithilfe von Reliquien inszenieren ließ (um dabei diejenigen nicht zu vergessen, die gar keine Chancen auf einen glorreichen Transitus hatten, da sie laut Berichten entweder von Kannibalen gegessen oder einfach den wilden Tieren zum Fraß überlassen worden waren). Der zirkulierenden, reproduzierbaren Grafik kommt daher eine der Missionierungstätigkeit parallele Rolle zu, Informationen über den Tod einzelner Ordensbrüder so schnell wie möglich und in kompakter Form zu verbreiten. Das Bild wird in Tanners Buch also zu einem ausdrücklichen Beweis und Träger der durch den Orden gesteuerten Memoria der getöteten Jesuiten – so wie die echten Partikel des Körpers übernimmt es die Rolle des ausdrücklichen Zeugnisses des gewollten gewaltsamen Todes für die gesamte Institution. So wie die Reliquie ihren Authentizitätsbeweis als Teil eines corpus bewahrt, so wird auch der Körper des Missionars in diesen Bildern in seiner physis verstümmelt und vernichtet. Dargestellt sind in Tanners Buch vor allem Momente der rein menschlichen Annihilation des Körpers und ihre Konsequenzen jenseits der hagiografisch modellierten Verherrlichung. Die Bilder avancieren in diesem Sinne zu dynamisch aufgebauten und argumentierenden ›medialen Reliquien‹, die katalogisiert und verwaltet werden können. 150 Zu diesem Begriff im Rahmen der zeitgenössischen Körperdiskurse vgl. Berr 1989, S. 245 – 264. 151 Friedrich 2011, S. 41.

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Das Buch von Tanner könnte man auf den ersten Blick als eine Form des Gruppenepitaphs bezeichnen, da hier mit ähnlichen Gestaltungsmerkmalen wie in der Sepulkralkunst argumentiert wird: Dem gedruckten Text wird wie einer Inschrift die Rolle zugewiesen, von dem Leben und den Werken der verstorbenen Missionare zu erzählen, während das Bild das Faktum des Todes – ähnlich wie bei einem Gisant – anhand eines exponierten Körpers dokumentiert und visualisiert. Diesmal jedoch – und hier liegt der große Unterschied – wird der Akzent nicht nur auf den sozialen, sondern gleichzeitig ausdrücklich auch auf den natürlichen Körper gesetzt, der in Škretas Bildern des Öfteren als ein fragmentierter oder bis zur Unerkennbarkeit massakrierter Leichnam präsentiert wird, was als eine Inversion des traditionell transitorisch positionierten Gisant – einer symbolischen Figur zwischen Diesseits und Jenseits – bezeichnet werden kann. Innerhalb dieser Konstruktion erscheinen die Märtyrer nicht als vordergründige ikonische Prototypen, so wie zum Beispiel Ignatius von Loyola nach seiner Heiligsprechung 1622 stilisiert wurde, sondern eher als Glieder einer verletzten und aktuell zu heilenden Körperschaft. Ihre Todesbilder sind keine historischen verae effigies, sondern eher ausdrückliche Beweise der erfolgreichen Erfüllung der zentral zugewiesenen Aufgaben. Diese Art der visuellen Historiografisierung der Jesuitenmissionare als Jetzt-Märtyrer nutzt also nicht die gewohnte Ikonografie der wunderbaren Erscheinungen: Die Protagonisten der Bilder werden nicht als kultische Individuen der Vergangenheit auratisiert, sondern argumentieren auch mit dem programmatischen Verlust ihrer natürlichen Körperlichkeit für den gerade laufenden konfessionellen Einsatz der weltverachtenden Selbstaufopferung. Wie wird jedoch der Gemeinschaftssinn des Opfers generiert, ohne dass gerade das heroische Narrativ – so wie bei den Zisterziensern – für eine entsprechende Distanzierung und mediale Auratisierung des Geschehenen als Vorstufe des glorreichen Transitus sorgt? Die in den Marterbildern im Buch von Matthias Tanner dargestellte Gewalt impliziert im Prinzip keinen üblichen Schuldgedanken im Sinne eines Täter-Opfer-Schemas. Denn es handelt sich hier um eine systematische und Identität stiftende Gewalt, die gewissermaßen ein verständlicher Effekt des im Voraus gewählten imitatio-Weges vonseiten der Ordensmitglieder war. Sie wird in diesem Rahmen als eine sichtbare Konsequenz vorgestellt: Ziel ist eine neue Konsolidierung durch Opferbereitschaft angesichts der durch Fremde ausgeübten Gewaltakte und die Aufstellung einer dauerhaften, überzeugenden Regel. In diesem Vorgang lässt sich wohl eine auf interne Organisationswege umgeleitete Verwirklichung der Anweisungen von Ignatius von Loyola über die Tugend des Gehorsams und die daraus folgende Notwendigkeit der absoluten Selbstverneinung und Askese im Akt des Martyriums erkennen. 152 Es ist also eine gewollte Gewalt als stiftende Verletzung, die direkt zur Etablierung der Gewalt als Macht, Autorität und Obrigkeit der kirchlichen Institution führt. Es handelt sich dabei gewissermaßen um eine Umkehrung der gewöhnlichen Relation, in deren Rahmen die Anwendung der

152 Vgl. Gregory 1999, S. 279.

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Gewalt eine Ordnung bricht und definitiv als anti-systematischer Vorgang zu betrachten ist. In der Auffassung von Tanner gründet gerade Gewalt die Ordnung: Die geistige Struktur der Gemeinschaft entsteht erst mit dem Sich-Ergeben ihrer überzeugten Mitglieder gegenüber den im Voraus für gewalttätig erklärten Aggressoren. In diesem Sinne wird der Gewalt eine eindeutig konstitutive Rolle in der Subjektbildung zugeschrieben: In Bezug auf die Überlegungen von Jean-Luc Nancy, der die Gewalt jenseits des Systems verortet, indem sie behauptet, selbst Wahrheit zu sein, 153 kann festgestellt werden, dass diese Relation durch die Propaganda der Jesuiten als ein festes Konfrontationsmuster genutzt wurde, um strukturelle Differenzen bei den Gewaltakten zu zeigen und dementsprechend eine innerliche Bindung der neuen Ordnung leiblich zu visualisieren. Das kathartische Element dieser von mehreren Schicksalsfiguren bevölkerten Tragödie lag demgemäß in der zu erwartenden Nachfolge wie auch in der Bekräftigung weiterer Konversionen, in der Vermehrung der aufnahmebereiten Familie. Der zeitliche Faktor oszillierte zwischen der geografisch beglaubigten Aktualität und der strukturbezogenen, rein institutionell gesicherten Zukunft im Rahmen des memorialen Tableaus. Die faktische Vergangenheit wurde durch die Autarkie des Neuanfangs ausgeklammert. Mit dieser Propaganda offenbart sich der Anspruch, in den Jesuitenkollegien, in die die Exemplare des Buches geschickt wurden – unter anderem in die Novizenschmiede in Landsberg am Lech, möglicherweise auch nach Übersee –, 154 mithilfe der neu konstruierten visuellen Medien eine neue konfessionelle Gemeinschaft des Leidens zu erwecken. Diese argumentiert nicht mehr mit dem historisch zu verankernden Mythos, sondern mit den nachahmbaren Biografien der Ordensmitglieder als Ausdruck der in das Kollektiv eingeschriebenen Jetzt-Zeit. In der Vorrede des Buches heißt es: Hiemit lasset euch nicht schrecken / O unüberwindliche dieser Helden in der Societat Jesu Nachkömlinge / sondern greiffet kühner zum Gegen-Gewehr. Meynet nicht ihr seyt von was besserer Beschaffenheit [. . . ] dann die beydeß Gesatzes Abgesandte gewesen seynd. Gleicher Gestalt wird es euch ergehen: dann viel werden weder euch noch euere Lehren annehmen; sondern werden euch verfolgen und umbs Leben bringen darfür haltende dass sie daran Gott einen Dienst thun: nicht nur die glaubenlose Heyden und wilde Leuthe und die sich in neuen Inseln wider den Christlichen Nahmen feindlich auffbaumen sondern auch jene die sich mit uns ins gemein dess Christlichen Nahmens ruhmen. 155

153 Nancy 2006, S. 32 – 38. Vgl. Staudigl 2005, S. 53 (»Gewalt tritt [. . . ] in Form von erlittenen, intendierten und angedrohten Verletzungen auf, die nicht nur die Register der Konstitution übersteigen, sondern den Logos selbst zerteilen. Als verletzende erhebt Gewalt keinen Anspruch auf Antwort, da sie deren Gabe selbst verweigert«), wie auch Müller-Koch 2006, S. 243 – 259. 154 Svatoš 1995, S. 304 – 305. 155 Tanner 1683, unnummerierte S. 5 der Vorrede.

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Diese auf junge jesuitische Enthusiasten zielende Apostrophe wurde mit einer der ganzseitigen Grafiken im Buch direkt visualisiert, die das vergossene Blut der asiatischen Märtyrer eindeutig zukunftsorientiert als »Samen der Christen« auf kultiviertem Boden auffasst: »Sanguis martyrum semen Christianorum« (Abb. 95). 156 Der individuelle, sterbende Körper wird in diesem wachsenden Personalgarten dementsprechend zu einem Teil des gesamten Kollektivs, das sich nicht mehr als abstrakte Institution, sondern als durch ihre absolute Erkennbarkeit, leibliche Verbindung und persönliche Nähe gekennzeichnete Gesellschaft versteht. Der Zweck des durch Škreta konzipierten Bildformulars ist also die weitgehende Verinnerlichung des Gewaltbildes im Rahmen einer persönlichen Buchlektüre. Diese dient jedoch weniger einer emotionalen Selbststeigerung angesichts der archaischen Geschichte im Sinne der durch Sixtus V. vor den grausamen Marterfresken in S. Stefano Rotondo vergossenen und zum affektiven Rezeptionsmodell gemachten Tränen 157 als vielmehr einer Zweckbestimmung, Ermutigung und folglich auch Bestätigung der bereits getroffenen Wahl im Rahmen der eigenen Missionierungstätigkeit. Ziel ist Aufbau einer Schmerzästhetik, die der programmatischen gegenreformatorischen Strategie der Aktualisierung von Vergangenheit zugrunde lag. So wie in solch einer Berichterstattung Akzente auf die zeitentrückte Ebene der Aktualität gesetzt wurden, so spielt auch die Alterität eine wichtige Rolle: Ähnlich wie im Fall der Differenz zwischen den christlichen Kultbildern und den ›heidnischen‹ Figuren, die von Missionaren ungeachtet ihrer Funktionen – beispielsweise Lehrer- und Ahnenporträts – pauschal für Idole gehalten wurden, lässt sich in Tanners Buch die konstruierte Distanz der Jesuiten gegenüber den ›heidnischen‹ Folterern feststellen. Diese werden in den Bildern nicht nur durch ihre ethnografisch markierte fremde Ausrüstung, sondern auch in ihrer menschlichen Konstitution durch die ruhige Durchführung der von ihnen angeblich als ›Normalität‹ erfassten Folterprozeduren gekennzeichnet. Gerade diese ›Normalität‹ des menschlichen (Selbst-)Opfers, die für die Ureinwohner Amerikas eine gesellschaftliche Dimension hatte, etwa bei den Azteken im Kult der Ahnen und im kosmogonischen Sühneritual, 158 evozierte bei den ihr eigenes Martyrium ersehnenden Jesuiten ein Bild von höchstem Grauen. Dieser Normalität wurde die Solidarität mit den in Tanners Buch einheitlich und schlicht gestalteten Opfern der Missionare entgegensetzt, zu der, als einer natürlichen Reaktion, die Leser animiert werden sollen. In diesem Bilddiskurs ist kein Platz mehr für die subordinierende Verherrlichung der ästhetisierten historischen Vorbilder, wie es beispielsweise in der nachtridentinischen Ikonografie der frühmittelalterlichen Märtyrer der Fall war. Es ist eher ein Moment der aktuellen Identitätsbildung durch Pflichtgefühl angesichts des zeitlich nahen und tatsächlich

156 Neumann 1974, S. 253 – 254, Kat.-Nr. 203. 157 Horsch 2005, S. 65 – 92 (»ein wenig vor Rührung weinen und sich mehrfach die Augen trocknen«). Vgl. Largier 2002, S. 171 – 186 und Imorde 2000b, S. 1 – 14. 158 Zu Differenzen zwischen Europa und Amerika in Bezug auf die Figur des Opfers – konkret zwischen dem Kreuzopfer und dem Menschenopfer – siehe v. a. Kern 2013. Vgl. Graulich 2000, S. 352 – 371.

Geografie und Gründungstopoi

Abb. 95: Melchior Küsell nach Karl Škreta, Sanguis martyrum semen christianorum, in: Matthias Tanner, Societas Jesu, 1675.

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geschehenen Unglücks. 159 Diese kollektive Gestaltung des Bewusstseins durch Spaltung und Verfremdung angesichts der zeitlich nahen Gewaltakte und die Betonung einer radikalen Ungleichheit gegenüber dem Fremden scheint in diesem Kontext eine besonders überlegte Taktik gewesen zu sein: Tanner weist in der Vorrede seines Buches sogar verbittert darauf hin, dass mittlerweile alle – sogar die Christen und unter ihnen auch die Katholiken – sich mit Hass gegen die Jesuiten wenden und sie verfolgen: Dann ihr viel Leuthe dergestalt abhold seynd dass sie die Heyden und Ketzer auffs äusserste verhassende alle andere Geistliche Ordens-Stande umb sich dulden die Jesuiten aber als eine Weltpest und Auffwickler alles Übels verfluchen. So ermanglet es ihr auch am Hasse unter den Catholischen gar nicht [. . . ]. 160 Die europäischen Feinde werden also ebenfalls zu Fremden, gleich den asiatischen oder amerikanischen ›Heiden‹, denn sie verbleiben jenseits der geschlossenen und durch strenge, intern regulierte Nachahmungsmuster gekennzeichneten Körperschaft. Dies drückt sich am deutlichsten in einem der bekanntesten Marterbilder aus dem asiatischen Missionsaum aus, einer Flugblattillustration aus dem Jahr 1628, in der die Opfer der anti-christlichen Verfolgungsaktion in Nagasaki am 5. Februar 1597 dargestellt werden, die dreißig Jahre später seliggesprochen wurden (Abb. 96). 161 Vor dem Hintergrund mit mehreren gekreuzigten Franziskanern wurden im Vordergrund des Bildes dezidiert die drei ebenfalls gekreuzigten Jesuitenbrüder dargestellt und als Hauptakteure des Martertheaters positioniert. Ihre visuelle Hervorhebung gegenüber dem historischen Geschehen der Massenkreuzigung der Missionare durch japanische Statthalter führt einerseits zu einer propagandistischen Verabsolutierung des spezifisch jesuitischen Missionseinsatzes und zeugt andererseits von einer christomimetischen Regie der Erfüllung, die sich aber nicht aus den bisherigen gängigen bildtypologischen Mustern, sondern vielmehr aus dem internen Selbstbewusstsein der autarken Organisation herleiten lassen. Resultat einer solchen Bildstrategie ist ein von den Jesuiten an allen Fronten geführter globaler Krieg um die Bewahrung der eigenen Identität. Die Welt der jesuitischen Märtyrer wurde durch Einsamkeit und permanente Einsatzbereitschaft im globalen Kriegszustand gekennzeichnet, durch einen Konflikt, dessen Dimension die einführenden, großformatigen Illustrationen zwischen den ›kontinentalen‹ Kapiteln des Buches mehr als deutlich visualisieren (Abb. 97). In diesen Bildern wird ersichtlich, dass die anti-jesuitische Aggression

159 Julia V. Iribarne konstatiert in Bezug auf das selbstgeschriebene Recht auf Gewalt als Akt der definitiven Ausgrenzung: »The act of violence does not only contradict the sense and the functioning of intersubjectivity but it also disables the symbolization of the pronoun ›us‹. From the point of view of violence, the universality expressed by the pronoun, collapses and leads to a restricted singular form of an individual or a group« (Iribarne 2005, S. 96). 160 Tanner 1683, unnummerierte S. 2 der Vorrede. 161 Siehe u. a. Burschel 2002, S. 166 – 169.

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Abb. 96: Wolfgang Kilian nach Johann Matthias Kager, Die Märtyrer von Nagasaki 1597, 1628, Flugblatt, Kupferstich, Bayerische Staatsbibliothek München, Inv.-Nr. Einbl. VII, 24.

einen universalen und andauernden Charakter hat: Die Träger der Glaubenswahrheiten und Ordensgesetze werden von allen möglichen Wesen angegriffen, unter ihnen hartnäckige Häretiker, mit teuf lischen Flügeln ausgestattete, böse indianische Putten, brüllende antike Seemonster, Leoparden und Alligatoren, die schließlich als Tiere zu Verlebendigungsformen dessen werden, was die Missionare in den von ihnen zerstörten ›heidnischen‹ Figuren der zooanthropomorphen Gottheiten sahen. Damit bestätigt sich nochmals ein totaler Kampfeinsatz gegen die Natur als Verkörperung der anti-christlich positionierten Unordnung, ein globaler contemptus mundi auf allen Kontinenten. Der Status des Martyriumbildes in der Frühen Neuzeit erschließt sich also nicht nur aus dem Grad der dargestellten drastischen Gewalt an der Schwelle zwischen Drama und Allegorie, sondern ebenfalls, wenn nicht größtenteils, aus der bewussten und zweckbedingten Wahl eines Mediums. Diese Tatsache ist im historischen Sinne umso mehr von Bedeutung, als es sich im Fall der vielen im Ausland sterbenden Jesuitenmissionare um keine Heiligen handelt. Im barocken Konkurrenzkampf der ›neuen‹ und ›alten‹ Orden, etwa der Zisterzienser, um die Zahl und den Status der neuen Märtyrer waren damals die Wege der Informationsverbreitung und vor allem die Attraktivität der selbst entworfenen Bildformulare – und nicht die offizielle kirchliche Bestätigung – von größter Relevanz für die institutionelle Macht der sich etablierenden Ordenspropaganda. Denn die Bürokratisierung und Formalisierung des päpstlichen Kanonisierungsverfahrens in der Zeit der Gegenreformation, wie sie von Peter

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Abb. 97: Melchior Küsell nach Karl Škreta, Titelblatt zum Kapitel Societas americana, in: Matthias Tanner, Societas Jesu, 1675.

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Burke beschrieben wurde, gab keine Hoffnung auf eine zügige offizielle Anerkennung der neuen Märtyrer als Heilige. 162 Eine gute Vorstellung von diesem Defizit stellt bereits die Ausstattung von Il Gesù dar, der römischen Hauptkirche der Jesuiten, in der die am Ende des 16. Jahrhunderts beim Chor gestiftete Kapelle Franziskus von Assisi geweiht wurde, der vor der Heiligsprechung von Ignatius von Loyola 1622 als Hauptheiliger des Ordens galt – zusammen mit dem im gleichen Jahr heiliggesprochenen Franz Xaver – und als historisches Vorbild des ersten Ordensgenerals die Wege der asketischen imitatio bestimmte. 163 Neue nachahmbare Gestalten der kämpfenden Kirche, die keine historischen Parallelen finden konnten oder in ihrem Leiden als autark zu erscheinen vermochten, wurden also vor allem durch Bilder erschaffen und waren nur durch Bilder überhaupt wahrnehmbar, im Rahmen einer medialen Vermittlung und Reproduktion in Realzeit. Die Relevanz der martyrologischen Publikation von Matthias Tanner resultiert jedoch nicht nur aus der Programmierung des christlichen Opfers mithilfe eines neuen Bildparadigmas der Aktualität von Gewalt. Von Bedeutung sind dabei ebenfalls mediale Komponenten, die erst bei der konsequenten Lektüre des Bandes in Erscheinung treten. Auffallend ist, dass die einzelnen Bilder in dieser monumentalen Sammlung von Märtyrerfiguren gleichzeitig eine exklusive, strikt publizistische Rolle bei dem eigentlichen Marternachweis der ermordeten Missionare der Societas Jesu spielen, denn in ihren angegebenen Vitae wird ihr Tod lediglich ganz am Ende kurz erwähnt. Diese rhetorische Konstruktion erklärt der Autor in der Vorrede selbst: »Umb dieses desto augenscheinlicher vorzustellen hab ich mir beliebig seyn lassen bey Erzehlung auf was für Weisse diese Kämpffer Christi hingerichtet worde¯ [. . . ]«. 164 Der Text der Vita entfaltet sich in diesem Kontext als ein konsequent gestalteter Prozess. Die in Tanners Buch stark medialisierte, stufenweise gestaltete Überlieferung der entsprechenden Fakten und Daten zu jesuitischen Missionswerken in Übersee, die erst durch mehrfache Korrespondenzen und Korrekturen als koordinierte Daten verwendbar waren, 165 hat im Endeffekt einen standardisierten biografischen Wahrheitsanspruch: Hier bildet die steigernde Produktivität des Missionars einen deutlichen Leitfaden. Die Fortsetzung dieser Vita-Texte in Form einer ausführlichen Erzählung über die grausamen Todesarten der Märtyrer wäre als ein künstlicher Versuch der Ekphrase zu verstehen gewesen, eine eher auf Scheitern angewiesene Evokation eines einmaligen Aktes, dessen Relevanz vor allem durch visuelle Artikulation der Gewalt bestimmt wird. Über die historischen Werke der Missionare kann man durch Texte erfahren, deren Tod muss man jedoch sehen. Das Bild des Todes scheint somit in dieser Konfiguration als eine ›augenscheinliche‹ Zurschaustellung im Rahmen einer dynamischen Lektüre der multiplizierten Missionen jeweils die unterbrechende Funktion zu übernehmen. Mit seiner Fähigkeit, jenseits der historischen Sprache zu

162 163 164 165

Burke 1986, S. 54 – 66. Vgl. Russo 2001. Tanner 1683, unnummerierte S. 5 der Vorrede. Clossey 2008, S. 45 – 50. Vgl. Friedrich 2011, S. 80 – 123.

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sprechen, präsentiert sich das Bild in diesem Verhältnis als eine neue Erfindung, mit deren Hilfe der gewaltsame Tod, das plötzliche Ende und das endgültige Erfüllungsmoment des Missionswerks erst als solche erfahrbar werden und darüber hinaus dank ihrer Wiederholung auf der Ebene der andauernden Aktualität wahrgenommen werden können. Tanners Begriff des ›Augenscheinlichen‹ kann also mit einer gezielten Konfrontation medialer Art von Text und darauffolgendem Bild verglichen werden, so wie sie auch bei der Lektüre dieses Buches im zeitlichen Sinne der Plötzlichkeit als Modus der Aufhebung zustande kommt, und nicht mit einer literalen ›Augenzeugenschaft‹ mithilfe des Bildes. Es handelt sich hier um die übertragende Macht der medialen Schwelle der Darstellung, die auf Anhieb den Text ersetzt und die Zeit der Narration auf löst. Die Frage der Verletzung lässt sich dementsprechend aus dem ikonografischen Bereich des buchstäblichen körperlichen Verstummens herausziehen und auf eine Ebene des Diskurses zur medialen Effizienz des Bildes einführen. Gewalt kann in dieser Konstellation als eine spezifisch bildimmanente, wirkungsästhetische Kategorie der Marterdarstellung betrachtet werden: In dieser wird Gewalt nicht nur gezeigt, sondern das Bild vermittelt auch selbst Gewalt – bereits im Prozess der Zurschaustellung, der Re-Präsentation und der plötzlichen Bewältigung der zeitgebundenen Narration. Jean-Luc Nancy erklärt die Bildproduktion selbst als einen gewalttätigen Akt, der die Kraft der Formen und die Dynamik ihrer Umwandlung in der Darstellung wiedergibt und dadurch eine Konstitution der Dinge durch eine andere – die Metamorphose durch Imagination – zu ersetzen versucht: »Das Bild muß eingebildet werden, d. h. es muß aus seiner Abwesenheit die Krafteinheit schöpfen, die das schlicht dastehende Ding nicht darstellen kann. Die Einbildungskraft ist weniger die Fähigkeit, Abwesendes darzustellen, als eher die Kraft, die Form aus der Abwesenheit in die Präs-enz zu ziehen, also in die ›Vorstellungskraft‹.« 166 Unter diesen Prämissen definiert er auch die gewalttätige Natur der Repräsentation: »Die Gewalt der Kunst unterscheidet sich nicht dahingehend von der Gewalt der Schläge, daß die Kunst im Schein verbliebe, sondern im Gegenteil dadurch, daß die Kunst an das – bodenlose – Reale rührt, während der Schlag immer sich selbst angehört und sein eigener Grund ist.« 167 Will man diese Denkpassagen auf die Bilder der Gewalt zurückprojizieren, kommt man wieder zu der Feststellung, dass es gerade die Überquerung der Schwelle der Darstellung ist, die eine autonomisierende Umformung der tatsächlichen historischen Gewalt in eine mediale Aktion ermöglicht und die Rezeption solcher Bilder von einer spontanen und emotionsbedingten Einfühlung auf eine aisthetische Ebene der rationalen Systematisierung überführen kann. Es ist schließlich die visuelle Präsentation selbst, die zum gewalttätigen Ereignis wird: Erst durch die ästhetische Distanzierung können die tatsächlichen Akte der Gewalt als nutzbare Begriffe und nicht als historische Einzelfälle der Aggression erfasst

166 Nancy 2006, S. 43. 167 Ebd., S. 48.

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Abb. 98: Melchior Küsell nach Karl Škreta, Martyrium von Henricus Enriquez, in: Matthias Tanner, Die Gesellschafft Jesu, 1683.

werden. 168 Die Darstellung der bilderstürmerischen Missionare in der Societas Jesu von Tanner scheint somit die Rolle der nur aus den Texten hervorgehenden tödlichen, auf ewig gehaltenen Schüsse beziehungsweise endgültigen Schläge oder Stiche gegen die handelnden Protagonisten der Erzählungen zu übernehmen (Abb. 98). Im Rahmen des reproduzierten und zirkulierenden illustrierten Martyrologiums bewahrt der gewaltsame Tod des Märtyrers im fremden Land, der meistens von niemand anderem als den Mördern gesehen wurde, seine überhistorische Aktualität – und zwar durch eine rein visuelle Ausprägung und konstruierte mediale Erscheinung. Er tritt erst im Bild als eine wahrnehmbare Realität auf. 169 Diese übertragende und verhüllende Rolle der Gewaltbilder in der Frühen Neuzeit ist besonders stark zu betonen, denn in bisherigen Studien, dabei auch in den wenigen bisherigen Bemerkungen zu Tanners Societas Jesu, herrschen entweder psychologisch beziehungsweise psychoanalytisch geprägte Interpretationsmodelle oder sozio- und ethnologisch motivierte Analysen vor. In den ersten werden die drastischen Ereignisse der dargestellten Folter mit dem Stichwort des Sadismus beziehungsweise mit den stilistischen Inklinationen des Künstlers zu Gewalt in Verbindung gebracht 170 – als ob sich nicht nur die Intention des Künstlers

168 Vgl. Seel 2000, S. 295 – 323, v. a. S. 302 – 303. 169 Vgl. ebd., S. 297 (durch die »schauenden Abwesenden« ausgeübte Gewalt). Vgl. Kapustka 2014, S. 118 – 122. 170 Siehe z. B.: Puttfarken 2007, S. 183 – 195 (Gewalt als schockierende Fähigkeit des Bildes, den poetischen Ausdruck des Dramatischen durch verisimilitudo steigern zu können); Lang 2001, insbes. S. 61 – 74; wie auch die viel kommentierte These Karl Heinz Bohrers, die Gewalt würde durch die Stilistik des Bildes bzw. durch die eingeborene Affinität des Künstlers selbst zum Ausdruck kommen: Bohrer 1990, S. 25 – 42, insbes. 27, 40 – 42. Ein direkter Kommentar zu Bohrers Interpretation: Seel 2000, S. 313 – 314.

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und des Missionars, sondern auch die des Täters als historische Aussagequelle bestimmen ließe –, in den anderen wird die dargestellte Grausamkeit der fremden Völker in christlichen Marterbildern lediglich als eine an die Emotionen der Betrachter appellierende Bestätigung der bereits existierenden Heidenstereotype gedeutet. 171 Der heutige Blick auf Gewalt als individuelle (Selbst-)Erfahrung, die als ein Überschuss des gesteigerten Affekts angesehen werden kann, wird in solchen Interpretationsmodellen direkt auf die Rezeption der historischen Bilder der Gewalt übertragen. Ihre Betrachter, motiviert durch den drastischen Inhalt, sollen demzufolge auf einer genauso intensiven, individuellen Emotionsebene des Schocks die geistige Abfolge von compassio und imitatio bei sich selbst animieren. Mit dieser Auffassung, die sich von der Abkehr von Gewalt in der aufgeklärten Gesellschaft ableiten lässt, leidet das Thema Gewalt im Bild selbst an dem ahistorisch psychologisierend fesselnden Gedanken, dass vor allem der Anteil der Brutalität über die Wirkung des Bildes entscheidet: je mehr direkt und veristisch dargestellte Gewalt, desto mehr emotionale Erschütterung beim Betrachter. Die Ebene der Darstellung bildet jedoch eine Schwelle, die zum einen eine mimetische Distanz und einen ästhetischen Genuss wie auch eine Lehre aus Gewaltbildern, etwa im klassischen aristotelischen Sinne, ermöglicht 172 und zum anderen eine produktive Funktion der visualisierten Gewalt als programmatische Praxis garantiert – im Dienst der wissenschaftlichen Evidenz, der politischen Argumentation und der konfessionellen Überzeugungstaktik, und damit also jenseits des Schreckens. Im Fall der Gewaltbilder haben wir es zudem generell mit einem anderen Medium und einem anderen Diskurs zu tun als bei der real stattfindenden Gewalt der ausgeübten Schläge, wie auch vor allem mit einem sehr differenzierten Repertoire unterschiedlicher umgestaltbarer Bildmuster, deren gezielte Anwendung – vor allem im Kontext der regulären gewalttätigen Machtausübung in der Frühen Neuzeit – zur systematischen und strategischen Steuerung der Rezeption der tatsächlichen Gewaltakte beiträgt. Mit dem neuen Bildformular der gefolterten Missionare in der monumentalen Edition von Societas Jesu usque ad sanguinis wie auch mit einer dynamisch auf Wiederholungen aufgebauten Lektüre dieses Buches selbst scheinen sich die Jesuiten von der gesamten generalisierenden und heroisierenden Bildpolitik der christlichen Marter vollkommen distanzieren und ein neues Zeitempfinden des Leidens etablieren zu wollen. Dank einer neuen, planvoll gestalteten Medialisierung der als aktuell dargestellten Gewalt in einem reproduzierbaren und wahrscheinlich auch über die Grenzen der ›Alten Welt‹ wirkenden Kompendium wurde innerhalb des Ordens ein neues Verständnis des zweckmäßigen Todes im Namen der Organisation vorgeschlagen. Der alternative Weg zur modernen Bildauffassung des individuellen Subjekts in seiner gesellschaftlichen Dimension war mit diesem Schritt offen, da die Relevanz dieses Subjekts aus einer vollkommen internen Bildstrategie des Kollektivopfers im Rahmen

171 Oy-Marra 2007, S. 249 – 274, v. a. S. 254 und 263 – 264. 172 Aristoteles, Poetik, 4, 1448b, 10 – 12.

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des auf neuem Boden wiederholten, aktualisierten Anfangs und nicht aus der bloßen Heroisierung des Mittelalters als ein historisch entfernter Gegenpol zur Antike resultierte. Diese Spanne zwischen der Ausdehnung des Historischen, der Erschaffung einer Aktualität des durch Bildevidenz gekennzeichneten Individuums und der angestrebten Uniformität der Gemeinschaft, die zwischen den ›alten‹ und ›neuen‹ Orden präsent war, wirft einige sozialkritische Fragen auf. Diese betreffen die Modi der Etablierung der westeuropäischen Traditionen von kollektiver Identität und erweisen sich dazu als besonders aufschlussreich im Kontext der kategorialen Zuschreibungen und Ausschlusskriterien als Faktoren der gemeinschaftlichen Subjektbildung. Vor allem die vereinfachte Sicht auf die Organisation der jesuitischen Identität im Sinne einer oberflächlichen Parallele mit ordnungsbringenden Militärstrukturen bleibt gefangen im Bann einer dokumentarisch-denunziatorischen Auffassung der Geschichte und verhindert die kritische Analyse der grundlegenden Bausteine der frühmodernen Kultur der arrangierten Kollektivität. 173 Nicht nur die durch Quellen nachweisbaren innerlichen Dependenzen von Ordensgenerälen, Provinzialen oder Professhäusern und auch nicht nur die auf globalen Korrespondenzen aufgebaute Bürokratisierung 174 bestimmten die Art und Weise, wie die Jesuiten ihr Gemeinschaftsdenken und ihre Neuformulierung des Geschichtlichen – gar eine geografische Versetzung der immer aktuellen Stiftungszeit Mittelalter – in Gang setzten. Es war größtenteils die durchdachte Diskursivierung der kollektiven Selbstaufopferung angesichts des Fremden, die das Zusammensein der Societas Jesu mit der Zeit, das heißt im Laufe ihres langfristig angelegten Missionseinsatzes in den Ländern der Idole, definierte: für das erstrebte göttliche Jenseits genauso wie für die diesseitige Ordensstruktur als dessen effizientes Werkzeug. Wenn man sich abschließend eine kurze epochenübergreifende Reflexion zu diesem Grundproblem der Teilung und Entfremdung als Kriterien des Gemeinschaftlichen erlauben darf, kann man wieder auf den Gedanken Jean-Luc Nancys zurückgreifen, der über die Relevanz des ›Vorher‹ der in ihren Grundlagen kommunitarisch gestalteten, autarken Gemeinschaft schreibt: Wenn sich eine Kollektivität mit sich selbst ins eins gesetzt fühlt – in ihrer Sprache, in ihrer politischen und kulturellen Verfasstheit etc. –, hat sie nicht das Bedürfnis, sich zu bekennen. Wenn sich im Gegensatz dazu die Selbstverständlichkeit ihres Bestehens, ihrer Natur und reellen Existenz abschwächt oder verloren geht, kommt das Bedürfnis auf, sie einzufordern. Der Kommunitarismus ist die im Grunde genommen aussichtslose ideologische Forderung einer phantasmatischen »Gemeinschaft« [. . . ]. Der Grund ist der Verlust der Fixpunkte vorheriger Gemeinschaften, die viel weniger identitär ausgerichtet waren, wenn man so sagen will. 175

173 Vgl. Kapustka 2018, S. 139 – 140. 174 Siehe Friedrich 2011. 175 Nancy 2009, S. 220 – 222.

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Verortung und Aneignung Jesuitische Inszenierung der Memoria des Ernst von Pardubitz

Barocke Folie des Geschehens: Aktivierung der Grabfigur im mittelalterlichen Visionsraum Anders als die neuen medialisierten Körper der katholischen Missionare stellten die als posthum agierend und kommunizierend angesehenen Herrscher- und Heiligenkörper im 17. Jahrhundert kein Novum dar. Schwitzende, blutende beziehungsweise wohlriechende und intakt erhaltene, nicht verweste Leichname, die verehrt und verbildlicht wurden, haben bereits seit dem Mittelalter mehrere Heilig- und Seligsprechungen motiviert – so etwa im Fall der hl. Zita in Lucca (gest. 1276) oder später der hl. Theresa von Ávila in Alba de Tormes (gest. 1582) oder des hl. Philippo Neri in Rom (gest. 1595). 1 Nach dem Tridentinum gehörten wunderbare Wiederauf findungen und mirakulöse Körpererscheinungen zum festen Repertoire der systematischen und oft durch religiöse Orden gesteuerten Heiligsprechungspolitik. Die Unversehrtheit des heiligen Körpers – an sich ein Signum oder eher Symptom der postulierten Zeitlosigkeit – wurde schließlich um 1600 auf das Medium des Bildes selbst übertragen, als der Bildhauer Stefano Maderno im Auftrag des Kardinals Paolo Sfondrato die berühmte Skulptur der hl. Cäcilie in seiner römischen Titularkirche S. Cecilia in Trastevere (Abb. 99) in einem beispiellosen, ›archäologischen‹ Modus gestaltete. 2 Ab diesem bedeutsamen Zeitpunkt konnte die Narrativierung der Leben der Heiligen, für die bisher vor allem das Auf finden der beinahe intakten Körper der frühchristlichen Märtyrer einen Ausgangspunkt darstellte, auf Bilder der Heiligenkörper konzentriert werden. Im Rahmen der barocken Umformulierungen der mittelalterlichen Topoi des unversehrten Leibes ist es zu einer weiteren, bedeutsamen Verschiebung gekommen. Die sepulkrale effigies, dem leblosen Körper des Verstorbenen im Grab ähnlich, wurde selbst zur Aktion befähigt und vermochte darüber hinaus ihre eigene Reaktion auf aktuelle politische Ereignisse zu manifestieren. Es handelt sich dabei – anders als bei dem gezielt als Dokument neu abgebildeten und schließlich als eine historische Bildprojektion zu betrachtenden Leichnam der Cäcilie – um eine propagandistisch unterstützte und zugleich rhetorisch aufgebaute

1 Vgl. Kämpf 2014, S. 379 – 391. 2 Siehe Kap. 3, Anm. 98 und 116.

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Verortung und Aneignung

Abb. 99: Stefano Maderno, Hl. Cäcilie, 1600, Rom, S. Cecilia in Trastevere.

Aktivierung eines tatsächlichen historischen Bildnisses, das durch seine der Skulptur eigene Materialität im Namen des Verstorbenen zum Sprechen befähigt wurde. Als repräsentativ für ein solches Engagement des Körperbildes und gleichzeitig des Bildkörpers wird in diesem Kapitel das gotische Tumbengrabmal mit dem steinernen Gisant des ersten Prager Erzbischofs Ernst von Pardubitz (gest. 1364) in der Marienkirche im böhmischen Glatz (Kłodzko) analysiert (Abb. 100 – 102). 3 Es wurde in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts von den Jesuiten zu einem Sinnbild der prohabsburgischen Rekatholisierung in den Ländern der Krone Böhmens erhoben. Im Rahmen der Historiografie des Ordens wurde dabei eine alte Tradition aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts aufgegriffen: Die in einer besonderen, seltenen Art des kalksteinähnlichen Marmors (tschechisch: opuka) 4 gemeißelte Figur des Erzbischofs soll bereits zur Zeit der ›ungewollten‹ hussitischen Herrschaft in Böhmen im 15. Jahrhundert, durch die physikalisch nachweisbare Aktivität des Steins, einen Widerstand gegen die Ketzer manifestiert haben. Dieser Rückgriff auf die lokale Tradition mittelalterlichen Ursprungs kann als Teil einer strategischen Planung der Jesuiten verstanden werden, die in diesem Fall in der Wiederherstellung, Aktualisierung und nachträglichen Narrativierung der mittelalterlichen Überreste dieser Nekropole eine einmalige Chance sahen, sich programmatisch in die Geschichtsschreibung eines bis vor kurzem protestantischen Landes einschreiben zu können. Die jesuitische Aktualisierung der Glatzer Memoria-Anlage kann als ein deutliches Zeichen der Bemühungen um eine Verortung und Aneignung der chronikalisch und im Bild überlieferten Lokalgeschichte interpretiert werden. Somit ist in diesem Verfahren ein Versuch der Verwurzelung der eigenen kollektiven Identität zu sehen, der in seiner Komplexität aus der jesuitischen Bildpropaganda herauszuragen vermag. Mit der Würdigung von Lokalität blieb dieser historische Griff jenseits der für diesen Orden typischen Entwicklungstaktik 3 Zum Grabmal siehe v. a.: Mikołajczak 2005, S. 243 – 259; Czechowicz 1997, S. 187; Zr˚ubek 1985, S. 33 – 38; K˛ebłowski 1970, S. 96 – 98; K˛ebłowski 1969, S. 81 – 85. 4 Siehe Šura 2008, S. 129 – 133.

Barocke Folie des Geschehens

Abb. 100: Glatz, ehem. Jesuitenkirche Mariä Himmelfahrt, Innenansicht mit dem Hochaltarbereich, 15. Jh./1673 – 1729, Archivaufnahme von 1933.

Abb. 101: Glatz, ehem. Jesuitenkirche Mariä Himmelfahrt, Grundriss, 15. Jh./1673 – 1729, nach Hans Lutsch.

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Verortung und Aneignung

Abb. 102: Grabmal von Ernst von Pardubitz, nach 1364, Glatz, ehem. Jesuitenkirche Mariä Himmelfahrt, aktueller Zustand.

der Bildpropaganda, mit der die Akzente auf den Aufbau eines flächendeckenden, globalen Netzwerks gesetzt worden waren. Die Grafschaft Glatz zählte im 17. Jahrhundert zu den Regionen der Krone Böhmens, die von der Schutzmacht des Majestätischen Briefes Rudolfs II. von 1609 und den mit ihm verbundenen Garantien der Glaubensfreiheit enorm profitierten. Im 16. Jahrhundert weitgehend lutheranisch geworden, blieb Glatz bis zur Schlacht am Weißen Berg eine Hochburg des Protestantismus, sodass im Jahr 1618, zum Anfang des Dreißigjährigen Krieges, sogar die Jesuiten aus der Stadt vertrieben werden konnten. Die katholische Gemeinde der gesamten Grafschaft war im Kontrast unproportioniert klein und musste sich mit einem einzigen Priester zufriedengeben. Mit der Macht der Rekatholisierung kamen die Jesuiten jedoch 1623 zurück und übernahmen die Pfarrkirche Mariä Himmelfahrt in Glatz, um sie in der Folge in ein Denkmal der Kontinuität – mit dem Mittelalter wie auch mit der Zeit vor der Vertreibung – zu verwandeln. Damit wurde gleichzeitig ein anti-häretisches Manifest des katholischen Bilderkultes als gemeinschaftsbildende Maßnahme in der Situation der konfessionellen Entfremdung erschaffen. 5

5 Zur geschichtlichen Situation in Glatz im Hinblick auf die Kunststiftungen siehe: Galewski 2012, v. a. S. 27 – 43, 210 – 218; Kaczmarek / Witkowski 1998, S. 187; Herzig 1996, S. 101 – 102, 131 – 132; Broniewski 1963, u. a. S. 46. Vgl. Baumgarten 2004, S. 173 – 202.

Barocke Folie des Geschehens

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Abb. 103: Carl Dankwart, Spes, Invokation der Salve Regina, 1693, Fresko, Glatz, ehem. Jesuitenkirche Mariä Himmelfahrt, Empore des Hauptschiffes.

Die in den Jahren 1673 – 1729 durchgeführte umfassende Barockisierung der gotischen Glatzer Kirche mit der sich inmitten des Hauptschiffes befindenden mittelalterlichen sepultura Arnesti wurde durch die Jesuiten als eine im Raum groß angelegte Inszenierung des Salve-Regina-Gebets des späteren Erzbischofs vor dem Altar mit dem darin stehenden Kultbild Marias gestaltet. Ziel war eine Wiederholung des Moments, in dem Ernst von Pardubitz als Kind kurz am Bilderkult zweifelte und dafür mit der Ungnade des Marienbildes bestraft wurde, indem dieses sich von ihm abwendete. 6 Die Rekonstruktion dieser Szene wurde nicht nur mittels des Grabmals und der Figur im Altar vollzogen, sondern darüber hinaus wurden auch im Chor narrative Bilder der Vision und der Marienadoration platziert und im Hauptschiff auf den Emporen einzelne Invokationen der Antiphon Salve Regina in Fresken dargestellt (Taf. 36 – 37, Abb. 103). 7 Dieses Szenario wurde allerdings nicht in einem neu konzipierten theatrum sacrum, sondern im tatsächlichen historischen Raum des visionären Erlebnisses aufgebaut. Die Vision, von der der Erzbischof selbst erst zum Ende seines Lebens erzählt haben soll, wurde bereits im späten Mittelalter zum Gegenstand der historiografischen Überlieferungen, ausgehend von der ersten Biografie des Ernst von Pardubitz, verfasst von Wilhelm von Lest-

6 Kapustka / Kozieł 2005, S. 229 – 242. Vgl. Jurkowlaniec 2008, S. 336 – 342. 7 Siehe dazu: Kozieł 2011, S. 87 – 101; Kapustka / Kozieł 2005, S. 234 – 238.

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kov, und ihren späteren Redaktionen. 8 Im Kontext der jesuitischen Wiederbelebung dieser Geschichte für die Erneuerung der Glatzer Kirche sind jedoch vor allem zwei Druckschriften von Relevanz, die in mehreren Exemplaren in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts herausgegeben und wiederholt nachgedruckt wurden. Das erste Buch, eine ausgearbeitete Vita des Ernst von Pardubitz, die als Grundlage für die von den Jesuiten angestrebte Seligsprechung dienen sollte, hat Bohuslav Balbin geschrieben. 9 Das zweite Buch ist eine Monografie über das Glatzer Gnadenbild, verfasst von dem Glatzer praepositus Johannes Miller, 10 in der die Person des Prager Erzbischofs in eine enge Verbindung zum Altarbild gebracht wurde. Beide Jesuiten schöpften aus der Böhmischen Chronik (Kronyka c´zeska) von Wenzeslaus Hagacius (Hagek) von Libotschan (Václav Hájek z Libocan) aus dem Jahr 1541. 11 In allen Editionen findet sich folglich mehr oder weniger die gleiche Beschreibung der Vision: Laut Hagek soll Ernst von Pardubitz, nachdem er als ein kleiner Junge zur Glatzer Johanniterschule gebracht worden war, in der dortigen Marienkirche – wie er es später selbst rekonstruiert haben soll – gleich nach dem Magnificat oder kurz nach der Vesper, wahrscheinlich beim Singen der Antiphon Salve Regina, eine wunderbare Erscheinung gehabt haben. Die am Hochaltar aufgestellte Marienfigur soll plötzlich ihren Kopf von ihm abgewendet und ihm den Rücken zugekehrt haben, 12 was den Jungen geängstigt haben soll. Die kleine Christkindfigur soll sich jedoch nur leicht abgewendet und »über die Schulter« 13 immer noch den Blickkontakt zu Ernst gehalten haben. Nachdem der in Furcht erstarrte Junge wieder angefangen hatte, intensiv zu beten, soll die Marienfigur zu ihrer Ursprungsposition zurückgekehrt sein. 14 Solch eine Bewegung der hölzernen Figur hatte im 17. Jahrhundert zweifellos einen ›Evidenzwert‹ schon allein dadurch, dass sie in der Tat – im Sinne von: ›wieder‹ – vom Altar nach vorne zum Betrachter schaut. 15 Die Geschichte der Statue, die ihren eigenen Willen zeigt, bot natürlich in diesem Sinne den geeigneten Stoff für effektvolle und untypische bildliche Darstellungen, so wie sie auch in den bereits erwähnten Bucheditionen zu finden sind. Eine Grafik von Matthäus Küssel nach dem Entwurf von Lucas Georg Šícha, die in

8 9 10 11 12

Siehe u. a. Mrozowicz 2008, S. 31 – 41. Balbin 1664, S. 25 – 35. Miller 1690, S. 53 – 65. Hájek 1541, S. CCCXXXVIII; vgl. Hagek 1596, S. 28 – 30. »twarz obrazu (. . . ) welmi hniewinie se odemnie odwratila / a tak zadkem neb hˇrbetem / ten obraz se ke mnie obratil« (Hájek 1541, S. CCCXXXVIII). Die spätere deutschsprachige Version: »da wandte es sein Antlitz von mir zorniglich / und kerete mir den Rücken zue« (Hagek 1596, S. 29). 13 »Da ward ich gewahr / das er sich ein sehr wenig abgewandt / gleich als ob er mich etwas ober die Achsel angesehen« (ebd.). 14 »[. . . ] zdali gest se také odemne odwratil: Y uzˇrel sem z˙e se odemne mali´cko odwratil« (Hájek 1541) / »Si etiam facies Imaginis Jesu Christi se a me avertisset: aliter est in Bohemico, additurq: & vidi, quod ad me nonnihil se se (Jesus puer) converterit, ac si me ejus sancta Maiestas respiceret« (Balbin 1664, S. 25 – 35, hier: S. 33). 15 Obwohl die Statue, die sich wahrscheinlich bereits seit der Barockisierung im Altar befindet, auf die Mitte des 15. Jahrhunderts zu datieren wäre.

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Abb. 104: Matthäus Küssel nach Lucas Georg Šícha, Die Vision des jungen Ernst von Pardubitz, in: Bohuslav Balbin, Vita Venerabilis Arnesti, 1664.

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Abb. 105: Die Vision des jungen Ernst von Pardubitz, in: Johannes Miller, Historia Beatissimae Virginis Glacensis, 1690.

Balbins Buch von 1664 integriert wurde, zeigt die Vision im Inneren einer reich dekorierten, frühbarocken Kirche (Abb. 104). 16 In einem einer Ädikula ähnelnden Hochaltar ist die Marienfigur zu sehen, umgeben von sechs Engeln mit Passionsinstrumenten in kleinen separaten Nischen. Die Marienfigur ist gerade in dem Moment erfasst, in dem sie ihren Kopf von dem gegenüber knienden kleinen Ernst abwendet. Die Begleiter des Jungen zur linken Seite des Altars singen die Antiphon weiter, des wunderbaren Ereignisses unbewusst. Bei Miller wurde diese Darstellung von Johann Tscherning modifiziert und stark vereinfacht, indem die Madonna, ähnlich wie in Küssels Stich, den kleinen Christus auf dem linken Arm haltend und in einem undefinierten Raum auf einem simplen Altar stehend, der einem Postament gleicht, ihren Kopf von dem jungen Ernst abwendet (Abb. 105). Interessanterweise tut sie das in eine andere Richtung als in Küssels Version, sie schaut also hinter den Kopf des Christkindes. Ernst von Pardubitz steht hier vor dem Altar, jedoch immer noch mit anderen Schülern zusammen, und wird lediglich durch seine Geste der Zuwendung zur Figur und eine knappe Benennung durch die Inschrift »Ernestus« gekennzeichnet. 17 Diese etwas asketisch 16 Ebd., zwischen den Seiten 24 und 25. 17 Miller 1690, zwischen den Seiten 56 und 57.

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komponierte Szene wurde nicht als historische Narration, sondern eher als das Bild eines intimen Kontakts zwischen Ernst und der Figur gestaltet, zugespitzt als der reine Vorgang der Vision, was die Inschrift des Bildes zu betonen scheint: »U.L.F. wendet ihr gesicht ab von Ernesto«. Entscheidend für die Rolle des Grabmals des Erzbischofs im Rahmen des gesamten Glatzer Ensembles, sowohl zu der Zeit seiner Entstehung wie auch zu jener der barocken Umformung, war jedoch vor allem seine Platzierung in der Mitte des Hauptschiffes direkt vor dem Chor. 18 Dieser ursprüngliche Ort der Beisetzung wurde eindeutig durch die räumlichen Bezüge der Vision des jungen Ernst von Pardubitz bestimmt. Für die Jesuiten, die mit visuellen Mitteln die Geschichte zu rekonstruieren vermochten, funktionierte diese Situierung der Tumba nach dem Tod des Erzbischofs 1364 – wie es in den Monografien von Balbin und Miller mehrmals betont wurde – exakt an dem Ort, an dem er in seinem Jugendalter die Marienvision erlebte, also dem Hochaltar gegenüber, 19 als Garant der Lesbarkeit des ganzen neuen ikonografischen Programms und seiner Kompatibilität mit der liturgischen Praxis im Kirchenraum. 20 Sowohl den jesuitischen Interpretationen als auch anderen indirekten Quellen aus dem 17. Jahrhundert gemäß ließ sich der Erzbischof selbst vor der Altarfigur begraben und stiftete zu Lebzeiten den täglichen Gesang der Salve-Regina-Antiphon bei seinem zukünftigen Grab. 21 Diese durch die Tradition sanktionierte Stiftung wurde durch die Lektüre des im 19. Jahrhundert aufgefundenen Testaments des Erzbischofs von 1352 bestätigt. 22 Balbin zitiert in seinem Buch eine Glatzer »missa de B. Virgine, & Antiphona Salve Regina ante statuam ejusdem Virginis quotidie canenda« 23 und das regelmäßige Singen der Antiphon »ante Divae statuam [. . . ] ex institutione Arnesti«. 24 Die Antiphon galt als ein

18 Das gotische Original des Grabmals wurde um 1870 von dem Hauptschiff in das nördliche Seitenschiff verschoben, an seine Stelle kam ein von Johann Janda in weißem Marmor geschaffenes Denkmal für Ernst von Pardubitz in einer Gebetsstellung. In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde auch dieses zum ersten nördlichen Pfeiler des Hauptschiffes verschoben. Der ursprüngliche Ort der gotischen Tumba ist bis heute leer geblieben. Zur Geschichte dieser Änderungen siehe Czechowicz 1997, S. 177 – 202. 19 Der Ort des Hochaltars »im Zentrum der Kirche« wurde von Balbin ebenfalls als ursprünglich bezeichnet: Balbin 1664, S. 21. Vgl. Miller 1690, S. 63. 20 »longe ante obitum sibi, ac sepulchrum Glacij in Parochiali S. Mariae Ecclesia Arnestus elegerat, quo ipso in loco aspectabilem se puero praebuit Diva Virgo« (Balbin 1664, S. 324); »Das Grab Ernesti stehet in der Glätzischen Pfarrkirche eben an dem Ort / wie gesagt / an dem Ernestus ein Knab gestanden / da das Gnaden=Bild sich von ihm abgewendet«; »also / längst vor seinem Hintritt hat Ernestus ihm ein Ort / und Grab zu Glatz / in der Pfarrkirchen U. L. Frauen Mariae, erwiesen / an welchem Ort nemlich U. L. Frau sichtbarlich dem Knaben Ernestus erschienen« (Miller 1690, S. 119 – 120). 21 »huic Divae Virgini seipsum moriens donavit, & ultima voluntate in hoc Templo ante eam Imaginem condi voluit« (Balbin 1664, S. 45). 22 Albert 1928, S. 81 – 86. 23 Balbin 1664, S. 46 – 58. 24 Ebd., S. 294.

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Schlüssel für die Aktivierung des Ensembles von Grabmal und Hochaltar und bildete wiederum für die Jesuiten ein zusätzliches Argument dafür, dass die Sepultur im 17. Jahrhundert immer noch an dem Ort stand, der von Ernst von Pardubitz selbst gewählt worden war und an dem er bereits 1352 das regelmäßige Singen der Salve Regina angeordnet hatte: zwar bei seinem Grabmal, aber »zu Ehren unsers Gnadenbildes«. 25 Das Grabmal und die Stiftung der Gesänge konditionieren sich also gegenseitig und zeichnen sich demnach durch eine zweckgebundene historische Plausibilität aus. Dieses Verhältnis galt für Balbin rhetorisch als zusätzliche Bestätigung der Wahrhaftigkeit der gesamten neuen Inszenierung der Vision, die somit nicht an einem neu adaptierten, sondern am ursprünglichen und durch den Ablauf der res gestae ›geheiligten‹ Ort aufgebaut werden konnte. Diese Direktheit der zeitlichen Übernahme der einzelnen Objekte – der Figur und der Sepultur – aus der Geschichte bedeutet für die Jesuiten allerdings eine Legitimation für die komplette Umgestaltung ihrer architektonischen Hülle, da die gesamte gotische Kirche mit dem Fokus auf dem Grabmal barockisiert wurde. Damit wurde eine neue Hülle für den alten Kern geschaffen, ein historiografisch geprägter Behälter für den mittelalterlichen Zeitzeugen. Es herrscht allerdings Unklarheit in Bezug auf den ursprünglichen Kontext des Grabmals und des Grabes selbst, denn die Gründung und die Baugeschichte der Glatzer Kirche kann nicht genau rekonstruiert werden. Es bleibt offen, ob die figürliche Ausstattung der erzbischöf lichen Sepultur, die kunsthistorisch auf 1370 – 1375 zu datieren ist, bereits in der ersten Johanniterkirche, der Vorgängerin des heute an diesem Ort stehenden Bauwerks, gestiftet wurde. Diese erste Kirche wird von Balbin jedenfalls als ein hölzerner Bau erwähnt, dessen Umgestaltung in Stein erst durch Ernst von Pardubitz selbst in Auftrag gegeben worden sei. 26 Ob dieses erste Grabmal eine einfache Grabplatte war, die später am gleichen Ort mit dem bis heute erhaltenen steinernen Tumbengrabmal mit der effigies ersetzt wurde, lässt sich wahrscheinlich nicht mehr verifizieren. Allerdings weisen die stilistischen Merkmale des Gisants, die mit den Eigenschaften der Grabfiguren der Pˇremysliden und Luxemburger im Prager St.-Veits-Dom aus den siebziger Jahren des 14. Jahrhunderts übereinstimmen, darauf hin, dass die jetzige Ausstattung der gesamten Sepultur einige Jahre nach dem Tod von Ernst von Pardubitz 1364 entstanden ist. 27 Angenommen, dass die Rekonstruktion Balbins die richtige ist, wäre in solch einem Fall die Situation der Memoria jedoch etwas untypisch gewesen: Eine in Marmor gemeißelte Tumba mit einem vollfigurigen Gisant aus Kalkstein wäre in einer hölzernen Kirche gestanden beziehungsweise in einer bereits begonnenen 25 Miller 1690, S. 83. Der protestantische Chronist Georg Aelurius zitierte zwar »nach einer Handschrift« eine alternative Erklärung für die Wahl des Bestattungsortes, nämlich dass die Ochsen, die den Leichnam von Ernst auf einem Wagen zogen, an diesem Ort plötzlich angehalten haben und nicht weiter gehen wollten. Diese Erwähnung weicht jedoch von der allgemein anerkannten beziehungsweise durchgesetzten Version der Geschichte ab, und die Wahrhaftigkeit dieser Quelle bezweifelt Aelurius selbst. Vgl. Aelurius 1625, S. 289. 26 Balbin 1664, S. 85 – 86. 27 Vgl. den Forschungsstand in Mikołajczak 2008, S. 83 – 96.

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fabrica ecclesiae des neuen Bauwerks. Denn die ersten Erwähnungen zu den Bauarbeiten in der östlichen Partie der steinernen Kirche, die bis heute erhalten ist, stammen erst vom Ende des 14. Jahrhunderts (1395 und 1399). Der Bau wurde wegen der Unruhen in der Hussitenzeit eingestellt, erst im Laufe des 15. Jahrhunderts – ab 1432 – fortgesetzt und dauerte bis nach 1500. Die Option der Holzkirche ist also eher unwahrscheinlich, da sonst das Grabmal früheren Datums sein müsste als das heute an diesem Ort stehende Gebäude, in dem, laut Überlieferung, bereits die Marienvision zu Jugendjahren des Erzbischofs erfolgt sein soll. 28 Nimmt man die Vision nicht als Quelle ante quem für die Datierung der Bauarbeiten, scheinen die bisherigen Vermutungen plausibel, die ihren Anfang in den letzten Lebensjahren des Ernst von Pardubitz situieren, also in der Zeit, in der unter seiner Aufsicht auch der neue Prager Dom durch Matthias von Arras und Peter Parler samt seiner Bauhütte erbaut wurde. 29 Für die jesuitische Geschichtsschreibung waren jedoch diese Detailfragen zur Baugeschichte der Kirche ohne größere Bedeutung, ähnlich wie die exakte Datierung der im Barock und heute immer noch erhaltenen gotischen Marienfigur im Altar. Für Balbin war die ursprüngliche Platzierung des Grabmals vor dem mit einer Marienfigur ausgestatteten Hochaltar sowie die Erhaltung dieses Szenarios die wichtigste Tatsache. Entscheidend ist in diesem Kontext, dass Balbins Werk (1664), in dem die jesuitische Interpretation dieser Verbindung ausführlich dargelegt wird, etwa ein Vierteljahrhundert vor der Barockisierung der Glatzer Kirche (ab 1673) gedruckt erschienen ist. Es muss also vor allem die strukturelle Klarheit der gotischen Anlage der direkt vor dem Hochaltar situierten erzbischöf lichen Memoria gewesen sein, die den Jesuiten den Impuls dazu gegeben hat, diese Visionsstätte zu erneuern, in der – wie die Autoren es mit Emphase, aber historisch falsch darstellten – die Figur des Verstorbenen mit dem Gesicht nicht zum Volk, »wie bei anderen Bischofsgrabmälern«, sondern zum Altar gewendet wurde. 30 Die im Zentrum des Hauptschiffes situierte gotische Tumba bildete somit auf physische Art und Weise einen notwendigen Knotenpunkt, der zuerst die zwei Grundelemente des barocken Programms verband: die historische Projektion (die visuelle Evokation der Vision des Stifters während des Gesangs) und die gegenwärtige Kommemoration (der Gedenkgottesdienst für den Stifter). Diese zeitliche Klammer, die das durch den Betrachter erfahrbare Bildszenario sowohl in die fernere als auch in die nähere Vergangenheit projizieren lässt beziehungsweise zwei Arten der visuell erzeugten Historiografie evoziert – die der Vita und

28 Siehe zur Baugeschichte der Kirche: Kaczmarek / Witkowski 1998, S. 187 – 188; Broniewski 1963, S. 39 – 43; Neumann 1927, S. 7 – 10. Zur Geschichte und Typus des Glatzer Grabmals u. a.: Mikołajczak 2005, S. 243 – 259; Zr˚ubek 1985, S. 33 – 38; K˛ebłowski 1970, S. 96 – 98; K˛ebłowski 1969, S. 81 – 85. 29 Kuthan 2005, S. 182 – 183. 30 Balbin 1664, S. 326; Miller 1690, S. 120 (»[. . . ] das Gesicht / nicht wie sonst die Bischöffe pflegen / gegen dem Volk / sondern gegen dem Altar wendend / damit er also im Stein sein wehrtes / und allzeit geliebtes Gnaden=Bild U. L. Frauen könte stets anschauen«); vgl. ebd., S. 112 (»[. . . ] das Mausoleum oder Grabstein / und Leichnam Ernesti, welcher vor dem Angesicht unsers Gnaden=Bildes ruhet [. . . ]«).

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die der posthumen Verehrung –, erweist sich in diesem Fall als Grundlage für die Technik der Aktualisierung und Entzeitlichung, deren einzelne Komponenten im Folgenden erläutert werden sollen. Eine Verbindung der Darstellungen von Toten beziehungsweise Sterbenden mit den von ihnen noch zu Lebzeiten verehrten Bildern, wie sie im Glatzer Fall von Ernst von Pardubitz deutlich zu sehen ist, war im Barock zu einem wesentlichen Merkmal der Sepulkralkunst geworden, allerdings lassen sich Vergleichsbeispiele eher erst ab dem 18. Jahrhundert finden. Dabei kann unter anderem die bekannte Figur des erst 1726 heiliggesprochenen Jesuiten Stanislaus Kostka von Pierre Legros in San Andrea in Quirinale in Rom von 1702 bis 1703 (Taf. 38) erwähnt werden. Platziert in seinem im Konventsgebäude inszenierten Sterbezimmer, zeigt die Figur, wie Kostka in Devotion zu dem in der rechten Hand mit letzter Kraft gehaltenen Kruzifix versunken ist. 31 Eine derartige Zuwendung des Verstorbenen zum Andachtsobjekt erscheint nicht nur bei neuen memorialen Liegefiguren wie im Falle Kostkas. Sie führt mit der Zeit auch zu einem ausdrucksvollen, affektiven Typus des sepulkralen Gisants oder Demi-Gisants im Kontext der barocken Bearbeitungen von mittelalterlichen Grabanlagen. Ein bemerkenswertes Beispiel solcher Rhetorik kann mit der ca. 1750 gefertigten liegenden sepulkralen effigies der hl. Hedwig – der Schutzpatronin Schlesiens – in der von ihrem Gatten Herzog Heinrich I. dem Bärtigen 1202 gestifteten Zisterzienserinnenabtei Trebnitz (Trzebnica) in Schlesien genannt werden. 32 Aufgrund seiner Komplexität, die sich teilweise im Hinblick auf die Ähnlichkeit mit der Grundstruktur der Glatzer Nekropole erläutern lässt, soll dieses Grabmal näher betrachtet werden. Vor diesem Hintergrund wird die These bekräftigt, dass die Inszenierung der Glatzer Sepultur als eine dezidiert präzedenzlose und gleichzeitig folgenreiche Umsetzung des historiografischen Gedankenguts in visuellen Medien des Barocks angesehen werden kann. Situiert in einem älteren, aus Schwarzmarmor konstruierten Gehäuse von 1679 bis 1680 (Abb. 106), auf einem erhöhten, als Sterbebett inszenierten Sarkophag, unter einem mächtigen, auf mehrere Säulen gestützten Baldachin und begleitet von zahlreichen Heiligenfiguren im andächtigen Kondukt, liegt die lebensgroße Alabasterfigur der in ihren letzten Stunden dargestellten Hedwig in einem eher intimen, wenn auch monumentalisierten Ambiente. Die Heilige richtet ihren letzten Blick auf die von ihr in der linken Hand gehaltene kleine Marienfigur, während die rechte Hand auf dem Modell der von ihr 1268 – 1269 bei der Klosterkirche gestifteten Trebnitzer Kapelle ruht, in der sich auch das Grabmal selbst befindet (Abb. 107). Die Sterbende ist im Blick auf ihr chronikalisch überliefertes, tägliches Andachtsobjekt erstarrt und wird somit als Protagonistin der sepulkralen Darstellung selbst zu einem Vorbild der musterhaften frommen Versenkung in Adoration eines Bildes – bis zum oder sogar im

31 González-Palacios 2007, S. 48 – 52; Krüger 2001, S. 200 – 201; Levy 1997, S. 88 – 114; Haskell 1955, S. 287 – 291. Vgl. van Gastel 2014b, S. 252 – 255. 32 Kaczmarek 1993, v. a. S. 15 – 55; Kaczmarek / Witkowski 1988, S. 145 – 194; Kaczmarek 1986, S. 69 – 91 (hier auch auf S. 89 ein kurzer Bezug auf die römische Figur von Kostka).

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Abb. 106: Grabmal der hl. Hedwig, 1679 – 1680 / um 1750, Trebnitz, ehem. Zisterzienserinnenkirche St. Hedwig und St. Bartholomäus, Archivaufnahme von 1940.

Tod. 33 Diese ›aktivierte‹ Figur der Sterbenden ersetzte an diesem Ort eine für den Baldachin zuerst entworfene Liegefigur von 1679 – 1680, die als ein stilistisch archaisierendes Gisant im Modus der frontal gestalteten, gotischen effigies in Kalkstein komponiert worden war (Abb. 108). 34 In der Komposition von 1750 lässt sich ein neuer Typus der barocken Historisierung erkennen, dessen monumentale Vorform sich in Glatz finden lässt. In diesem Rahmen trägt nicht die archaische Stilistik, sondern die kunstvoll gestaltete Distanz zwischen der angedeuteten Passivität des historischen Bildobjekts und der sichtbaren Aktivität der Schauenden zur Vergegenwärtigung der Letzteren bei. Die Hedwig wird in ihrem Bildnis durch ihre Handlung als präsentes Subjekt dargestellt, ihre Marienfigur dagegen als ein ›mittelalterliches‹ Objekt aus der Vergangenheit. Während dieses in seiner Wirkung ›historisch‹ bleibt, wird Hedwig dem linearen Verlauf der Geschichte entzogen und zu einer mit Affekt gekennzeichneten barocken Persönlichkeit umgearbeitet. Die – obwohl sterbend – als agierend

33 Kaczmarek / Witkowski 1988, S. 177; Kaczmarek 1986, S. 89. 34 Ebd., S. 77 – 79.

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Abb. 107: Grabfigur der hl. Hedwig, um 1750, Trebnitz, ehem. Zisterzienserinnenkirche St. Hedwig und St. Bartholomäus, Archivaufnahme von 1933.

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Abb. 108: Grabfigur der hl. Hedwig, 1679 – 1680, Trebnitz, ehem. Zisterzienserinnenkirche St. Hedwig und St. Bartholomäus, Archivaufnahme vor 1945.

dargestellte Protagonistin gibt in diesem Sinne durch ihren Blick auf eine kleine mittelalterliche Skulptur ein deutliches Muster für den Betrachter vor, der durch die Bilderverehrung darin seine historische Konstitution im rechten Glauben erlesen sollte. Die Hervorrufung der durch ein materielles Objekt verkörperten Vergangenheit erfolgt in diesem Fall durch die für die Gegenwart quasi in einem letzten ›Schnappschuss‹ erhaltene und auf das Objekt konzentrierte Aufmerksamkeit der effigies der Sterbenden. Der Wirkungsraum zwischen dem Bild und dem Betrachter, in dem das Bild seine geschichtete Historizität erlangt, seine eigene Bildlichkeit attestiert, und in dem der Betrachter wiederum sich selbst in seiner Aktualität widerspiegeln kann, ist also ein Amalgam aus zwei historischen und einer gegen-

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Abb. 109: Pilger am Grabmal der hl. Hedwig von ca. 1267, Illustration aus der Legende der hl. Hedwig (Vita beatae Hedwigis) im sog. SchlackenwertherKodex, 1353, Zeichnung, Los Angeles, The J. Paul Getty Museum, Inv.-Nr. Ms. Ludwig XI 7 (83.MN.126).

wärtigen Zeitdimension. Mit dieser Regie wird ein Bewusstsein des Vergangenen, ein Sinn für die zeitliche Distanz beziehungsweise für die Techniken zu deren Überwindung evoziert und nicht zuletzt auch ein partizipatorischer Antrieb bei dem konfessionell subjektivierten Betrachter animiert. Dabei gilt eine ähnliche Strategie der historisch vereinheitlichenden Bildanschauung, wie sie bereits in der jesuitischen Rekonstruktion der Glatzer Vision des Prager Erzbischofs beansprucht wurde. Der Trebnitzer Fall liefert darüber hinaus noch weitere Einsichten in die Kulissen dieser Praxis, die sich für den Glatzer Fall als relevant erweisen. Die Ausstattung der neuen Grabanlage der Patronin Schlesiens mit einem Baldachin lässt eine Anknüpfung an die ursprüngliche mittelalterliche Grabstätte der Heiligen an dem gleichen Ort aus der Zeit nach ihrer Heiligsprechung 1267 deutlich erkennen (Abb. 109). Dieses Manöver kann nur als Akt der konkret auf die Lokalität der Nekropole bezogenen Historisierung angesehen werden, denn solch eine Struktur des barocken Baldachins entspricht keinem gängigen Formrepertoire aus der Zeit seiner Entstehung im 17. Jahrhundert. Im Endeffekt wird ein Betrachter aus der Mitte des 18. Jahrhunderts durch die Darstellung der verstorbenen Heiligen während ihres letzten Aktes der Zuwendung zum Marienbild in dieser mit barocken Mitteln reaktivierten, ›mittelalterlichen‹ Grabarchitektur zum historischen Gedenken angeregt. Diese Substitution geht sogar noch weiter, denn die Architektur des barocken Grabmals, wie auch der frühgotischen Vorgängerversion, wirkt zugleich wie eine symbolisch miniaturisierte Form des Bauwerks, in dem sich aber die ganze Sepultur findet: die Trebnitzer Kapelle, das größte Stiftungswerk von Hedwig. Diese in einer Inklusion aufeinander geschichteten, bildlichen und räumlichen Anspielungen tragen zur Verschmelzung der mittelalterlichen Vergangenheit mit der barocken Gegenwart bei, auch wenn es sich dabei eher um eine symbolische Abstufung und Angleichung der architektonischen Dimensionen des abschließbaren Raumes als Container handelt und nicht um die direkte Übernahme der konkreten Bauformen der

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Kapelle. Dabei lässt sich eine ähnliche Intention wie in der Glatzer Memoria erlesen, da der ursprüngliche Kern der Inszenierung – die historische Handlung zwischen Subjekt und Objekt – mit neuen bildlichen und architektonischen Hüllen bedeckt wird, deren Historiziät sich nicht durch eine stilistische Zuschreibung, sondern gerade durch einen aktualisierenden Übergang vom Bild zum Raum und umgekehrt definieren lässt. Diese mehrschichtigen Verhüllungen des repräsentativen beziehungsweise attributiv historischen Raumes lassen in ihrem Kern – im Inneren des Grabmalbaldachins Hedwigs als dem Nukleus der sichtbar werdenden, sich kontinuierlich entfaltenden Geschichte – eine äußerst intime Situation erblicken: die sterbende Stifterin in ihrem privaten Bett, mit dem Rücken an eine Kissenrolle gelehnt, in Devotion in ihr privates Andachtsobjekt versunken. Dieser Blick hinter die Kulissen des noblen Sterbens, der dem Betrachter gewährt wird und der lediglich durch den memorialen Charakter dieser Inszenierung möglich ist, gleicht beinahe einer exklusiven Vision. Die heilige Herzogin wendet sich somit in dem privatesten, ausgesprochen einsamen Moment des Transitus an den Betrachter als Individuum. Damit zeichnet sich gerade ein Unterschied zu der ursprünglichen Variante des barocken ›gotisierenden‹ Gisant der Trebnitzer Herzogin von 1679/80 ab. Denn in dieser älteren Auffassung der Figur sind die Kapelle und die Marienfigur als statisch vor die Brust gehaltene Attribute der Verstorbenen zu beschreiben, deren Erscheinung somit einen lediglich archaisierenden, hieratischen Ausdruck gewinnt. Anstatt einer Aktivierung haben wir es in diesem Fall mit einer Zusammenstellung der heterogenen symbolischen Objekte zu tun, ohne dass sie zu sprechenden Erscheinungen werden. Platziert auf der erhöhten Tumba des Grabmals unter dem Baldachin, konnte die alte Figur durch den Betrachter zwar im Ganzen für eine mittelalterliche Skulptur gehalten werden (wenn sie von der Ebene des Fußbodens aus überhaupt zu sehen war) – eine Art historiografische ›Fälschung‹ im Bild –, 35 anders aber als ihre Nachfolgerversion von 1750 war sie nicht dazu fähig, diesen Betrachter ›aktiv‹ anzusprechen und durch eine eingeschriebene überzeitliche Handlung die historischen Dimensionen miteinander verschmelzen zu lassen. In Glatz wurden diesem neuen Modell der Aktivierung der Figur, die an diesem Ort eine monumentale und vor allem eine durch die tatsächliche Topografie der historischen Handlung beglaubigte Form annimmt, um 1730 neue Elemente hinzugefügt. Die gesamte barocke Gestaltung des Kirchenraums zusammen mit seinen gotischen Spolien verrät eine Intention der Jesuiten, die Geschichte nicht nur zu zitieren und zu wiederholen, sondern darüber hinaus eine Umkehrung der Situation vom mahnenden Bildnis zu kreieren, das sein Gesicht von dem jungen Ernst von Pardubitz abwendet – und dies trotz der Überzeugung, dass die Rekonstruktion dieser Vision den überlieferten historischen Ereignissen treu bleibt. Es handelt sich also um eine Kompensation post mortem als Teil derselben Geschichte: 35 So wurde auch die erste barocke Grabplatte mit der Relieffigur der Heiligen zuerst in der Kunstgeschichte als mittelalterlich eingeschätzt; siehe die entsprechende Literatur in: Kaczmarek 1986, S. 77, Anm. 32.

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Die Hauptidee dieser Memoria ist die Perpetualisierung eines Moments, in dem Ernst von Pardubitz und Maria sich nach der Verweigerung des Blicks vonseiten der Gottesmutter bereits wieder gegenseitig anschauen können: »[. . . ] sic collocatum esse, ut Altare summum (In quo illa clara Arnesto DEI Matris Statua honoratur) etiamnum aspiciat, illucque vultu toto conversus, velut Memnon Auroræ Filus, vel in saxo laetari, & oblectari Materno aspectu videatur«. 36 Die Verewigung des erzbischöf lichen Blicks im Moment seiner erneuten Kontaktaufnahme – bereits als Verstorbener im Grabmal – mit dem Altarbild kann als eine modellhafte Ambivalenz der nachtridentinischen Bildlehre im Sinne der Subjektkontrolle bezeichnet werden. Die physische Bewegung des Altarbildes, das sich abwendende Gesicht als eindeutiges Zeichen des eigenständigen Willens der Marienfigur, erfolgt als Reaktion auf den Zweifel an ihrer Macht – es handelt sich in diesem Fall also um eine Aktion, die eine rhetorische Schleife in Gang setzt und deren Ziel es ist, vergangene Verlegenheit in aktuelle Ergebenheit zu verwandeln. Um die historische Verbindung zwischen dem Grabmal des Erzbischofs und seiner historischen Anwesenheit vor Ort noch stärker zu betonen, brachten die Jesuiten eine zweite Marienfigur ins Spiel. Es handelt sich um eine 1,5 Meter hohe gotische Statue der sogenannten Maria mit dem Spatz / Zeisig, vermutlich ein Werk der Parlerwerkstatt 1360 – 1365, das aber laut Tradition von Ernst selbst in Holz gefertigt wurde, angeblich als eine der vielen Kopien (»Contrafee, oder Ebenbild« 37) der ursprünglichen Glatzer Altarfigur. 38 Die Skulptur verblieb zuerst in dem von Ernst von Pardubitz gestifteten Glatzer Augustinerkloster, für das sie ursprünglich bestimmt gewesen war. Als dieses 1627 zerstört wurde, fand sie schließlich in der Pfarrkirche ihren Platz. Nach einem Jahrhundert wurde sie dort, im Laufe der Barockisierung des gesamten Innenraumes, um 1730 im rechten Seitenschiff auf einer Konsole aufgestellt, mit barocken Kronen und Assistenzfiguren in Form von Leuchter tragenden Engeln mit Rankenwerk ausgestattet und zu einem barocken Andachts- bzw. Kultbild aus der Zeit des Ernst von Pardubitz erklärt (Abb. 110). 39 Als solche wurde sie aber zuerst in der unmittelbaren Nähe beziehungsweise in ›Sichtweite‹ des Grabmals, wie Miller schreibt, »ein paar Schritte« von der Sepultur entfernt platziert. 40 Diese Lokalisierung der zweiten Marienfigur wurde durch den Glatzer Präpositen mit Ernst von Pardubitz’ eigener Entscheidung kommentiert, der laut Legende die Sünde seiner Jugend wiedergutmachen und Maria stets anschauen wollte: »Welches vielleicht Gott also verordnet damit beyde Bilder U. L. Frauen / welche Ernestus in seinen Lebszeiten sonderlich verehret / und bey ihnen stets zu wohnen / zu ehren / und zu bedienen begunte / auch nach dem Tod könten allzeit beysammen seyn / und einander stets anschauen«. 41 Ein zusätzliches Argument für diese Situierung 36 37 38 39 40 41

Balbin 1664, S. 326. Vgl. Miller 1690, S. 108. Miller 1690, S. 105 – 111. Siehe dazu u. a. Bartlová 2005, S. 215 – 228. Vgl. Wiese 1923, S. 83. Miller 1690, S. 105 – 111. Siehe auch u. a. Kaczmarek / Witkowski 1998, S. 190. Miller 1690, S. 108.

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Abb. 110: Madonna mit dem Spatz / Zeisig, 1360 – 1365, Glatz, ehem. Jesuitenkirche Mariä Himmelfahrt, Zustand vor der Entfernung der barocken Zutaten von ca. 1730, Archivaufnahme von 1923.

der Figur unweit des Grabmals lieferte für die Jesuiten auch die Nähe zum damals neuen Altar des Ignatius von Loyola: Das Marienbild wurde ursprünglich im 17. Jahrhundert an einen Pfeiler zwischen dem Chor und der dem Heiligen geweihten Kapelle in einer Apsis am östlichen Ende des südlichen Nebenschiffs angebracht. 42 Die monumentale Rekonstruktion des wunderbaren Ereignisses wurde also um eine neue Bildreliquie und zugleich um eine zusätzliche Blickachse im Kirchenraum bereichert. 43 Damit wurde der auf Evidenz der reinen Wiederholung zielende, direkt in die ausgedehnte Vergangenheit geworfene Blick auf die ›ursprüngliche‹ Figur im Altar weitgehend enthistorisiert – da eine neue, fiktive Perspektive eingezogen wurde –, ohne dass aber die Topografie der Vision selbst ihren Dokumentationswert verloren hätte. Die zweite Glatzer Madonna wurde demgemäß als ein letzter Garant der

42 Ebd. S. 108. Vgl. Monse 1925, S. 42 – 43, 70 – 71. Erst später, wahrscheinlich zur Zeit ihrer Barockisierung, wurde sie an der Wand neben der alten Sakristei bei dem südlichen Nebenschiff platziert. 43 Miller 1690, S. 105 – 108. Vgl. Monse 1925, S. 42 – 43.

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Verortung und Aneignung

optischen Kontaktaufnahme mit dem in seinen steinernen Gisant gebannten Verstorbenen inszeniert, als eine Sicherungsmaßnahme für den kurzen Moment des visionären Erlebnisses, in dem das Marienbild am Hochaltar sein Gesicht von ihm abwendete. Anders als das autonom handelnde historische Marienbild konnte die zweite Figur die ganze Zeit im optischen Kontakt mit dem Gisant verbleiben. Es geht also bei dieser Vernetzung beziehungsweise Spaltung der Blicke nicht nur um eine gewöhnliche Inanspruchnahme, Sicherung und Bearbeitung der ›archaischen‹ lokalen Geschichte. Darüber hinaus haben wir es in diesem Fall mit einer überhistorischen Synthese oder eher einer palimpsestartigen Fusion zu tun, die den historisch überlieferten Verlauf des visionären Geschehens mit der Macht der verstärkten Bildpräsenz im aktuell gegebenen Schauraum des Betrachters modifiziert und dadurch propagandistisch eine Art Stabilisierung für die in ihrem Glauben Zweifelnden bietet. In diesem Kontext wurde sowohl die angebliche Produktion der Marienbilder als auch die Förderung von deren Verehrung durch den Prager Erzbischof zu einer universellen Dimension erhoben. Die Kopien der Glatzer Marienfigur, die Ernst von Pardubitz selbst gefertigt oder persönlich in Auftrag gegeben haben soll, sollten es dem während seiner Missionen auf vielen Höfen Europas weilenden kirchlichen Amtmann ermöglichen, sich immer in die Adoration des Marienbildes und in die Kommemoration seines wunderbaren Visionsereignisses zu versenken. 44 Diese Adoration hatte den selbstquälerischen Zweck, sich für die eigene ›Ursünde‹ des Zweifelns am Bilderkult durch Maria immer wieder mahnen zu lassen (»ut velut quotidie ex imagine admoneri videretur«). 45 Eine dieser Kopien, die berühmte Madonna vom Heiligen Berg in Pˇribram bei Prag, die ursprünglich in der Privatkapelle der dortigen Burg des Erzbischofs aufbewahrt worden sein soll, wurde später durch die auf dem Berg residierenden Jesuiten zu einem der wichtigsten Kultbilder Böhmens erhoben und am 22. Juni 1723 gekrönt. 46 Diese Kopie soll die Geste des Glatzer Originals sogar wiederholt haben, als sie laut lokaler Tradition ihr Gesicht mehrmals von den Sündern abwendete. 47 Ernst von Pardubitz wird demzufolge in den devotionalen Bildmedien der Barockzeit nicht nur als marianischer Visionär und frommer Bildschöpfer stilisiert, sondern zugleich auch als ein geistiger Asket, der im Zeichen des Glatzer Marienbildes sein Leben und sein Werk gestaltete. So wurde er etwa auf einer Grafik dargestellt, auf der er, inspiriert durch den Heiligen Geist, sein Mariale, eine Sammlung von Mariengebeten, direkt unter den Auspizien der drei angeblich von ihm persönlich hergestellten Marienskulpturen komponiert: der beiden Madonnen aus Glatz und jener vom Heiligen Berg (Abb. 111). 48 Wie der aus Balbins Werk schöpfende Johannes Miller erwähnt, ließ der Erzbischof selbst regelmäßig Kerzen »vor dem Marienaltar« anzünden. Im Laufe der Zeit wurden diese direkt 44 45 46 47 48

Miller 1690, S. 82, 98, 101 – 102. Balbin 1665, S. 133. Vgl. Royt 1999, S. 133 – 150. Balbin 1666, S. 195 – 196. Vgl. dazu Royt 2005, S. 172 – 173 (darüber hinaus zur Ikonografie von Ernst von Pardubitz und der Marienfiguren, u. a. als Bildhauer der Madonna vom Heiligen Berge, S. 159 – 174).

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Abb. 111: Bartholomäus Strahowsky, Ernst von Pardubitz als Autor des Mariale und die Marienbilder, um 1730/1740, Flugblatt, Kupferstich, Breslau, Ossolineum.

am Grab platziert und an jedem Sonntag und allen Wochentagen, an denen das Salve Regina gesungen wurde, angezündet. An diesen Tagen wurden beim Grabmal des Erzbischofs aus Messing gefertigte Kronleuchter aufgestellt. Laut Balbin wurden die Kerzen zwar direkt am Grabmal Ernst von Pardubitz’, jedoch für Maria gezündet. 49 Diese ›Feuerwache‹ hatte also eine transitorische Bedeutung und galt eher als Anspielung auf die Intention einer posthumen Adoration des Bildes, auf ein demütiges Schuldbekenntnis aus dem Jenseits: »simul cerea fax ad ejus sepulchrum accenditur, quae ab eo, ad cujus tumulum vigilat ignis, etiam post mortem, coeli & terrae Reginam Virginem adorari significat«. 50 Interessanterweise, wie 49 »[. . . ] facis perpetuae fundatione, quae sex cerea libris constans, ad tumulum quotidie dum sacra canuntur, accenditur, & honori Virginis ardet« (Balbin 1664, S. 45). 50 Ebd., S. 294. Vgl. Horch 2001, S. 59 – 67 (zur Gabe als verpflichtende Maßnahme im Mittelalter und zu den erwarteten Wirkungen der Schenkung im memorialen Kontext).

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Verortung und Aneignung

Miller erinnert, ließ Ernst von Pardubitz selbst die Kerzen zuerst »vor dem Marienaltar« aufstellen. Trotzdem fanden sie mit der Zeit ihren Ort direkt am Grabmal: Eben deßgleichen ist es beschaffen mit der Ernestischen Kertzen / welche auf einem hohen Leuchter von Messing bald daneben dem Grab Arnesti stehet. Diese Kertz zu verschaffn hat Ernestus die Probstey verbunden / wie dann das Instrument in originali darüber noch vorhanden / und was die Kertze belangt / auf Teutsch also lautend ist: ›Wir werden auch / daß der Probst zu ehren der glorwürdigsten Jungfrauen / aus unserer besonderer Anordnung / zu jeglichem Fest U. L. Frauen / als Himmelfahrt / Geburt / Reinigung / und Verkündigung / eine wichsene Kertze / so 6. Pfund Glätzischen Gewichts wieget / welche Kertze in gemeldten Fest=Tagen in der Pfarrkirch vor dem grossen Altar U. L. Frauen brennen soll / alle Jahr / ewig / und ohne allen Widerspruch verschaffe.‹ Mittler Zeit / und biß dato wird diese Kertze nicht allein an berührten Fest=Tagen U. L. Frauen / sondern auch täglich unter der Matur / Sonn= und Feyertag unter dem gesungenem Amt / und dann so offt als ein Antiphon von U. L. Frauen Alma, Ave, Regina Coeli, oder Salve Regina, nach des Jahrs Gewohnheit / abgesungen wird / beständig angezündet. 51 Dabei wurde das Grabmal im Rahmen der mittelalterlichen Anniversarienpraxis selbst mit einem roten Tuch bedeckt, das sich wahrscheinlich auf einem dreieckigen, dachförmigen Eisengerüst über die gesamte sepultura erstreckte. 52 Es hatte vermutlich die gewöhnliche

Abb. 112: Grabmal des Preczlaus von Pogarell, nach 1361, Breslau, Dom St. Johannis, Marienkapelle, Archivaufnahme von 1926.

51 Miller 1690, S. 130. 52 Vgl. Kroos 1984, S. 285 – 353 (hier insbes. S. 299 – 304 zu Grab- und Anniversartüchern auf Scheinsärgen, die als Spiegelbilder der Decken über dem Leichnam fungierten, und S. 310 – 315 zu den Tüchern auf faktischen Gräbern, die auch (S. 300) pallium genannt wurden). Vgl. ebd., S. 315 – 320, 339 – 340.

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Form des Schutzhäuschens, wie sie beispielsweise am Grabmal des Breslauer Bischofs Preczlau von Pogarell (nach 1361) im Breslauer Dom (Abb. 112) zu finden ist. 53 Das sepulkrale Bildnis des Ernst von Pardubitz verschwand also zur Zeit der aktiven Kommemoration aus den Augen der Betrachter. Der figürlich ausgestattete Ort seiner Beisetzung verwandelte sich temporär in einen Ort der wiederholten symbolischen Zurschaustellung der bedeckten Truhe mit dem darin verborgenen Leichnam während der Exequien. Die körperliche Präsenz des Verstorbenen wird demgemäß zeitweise direkt durch die effigies gewährleistet, die den faktischen Körper substituiert, der wiederum vor allem dank seiner Unsichtbarkeit während der Feierlichkeiten eine Rolle spielen kann. Der rote Stoff des Tuches wird von Balbin in seiner historischen Beobachtung der einstigen Rituale »pallium« genannt, was einerseits gewiss an die mittelalterliche Bezeichnungen derartiger Tücher erinnert, andererseits aber in diesem speziellen Kontext eine offensichtliche Anspielung auf das vestimentum darstellt, das auf die höchste Würde des Verstorbenen als Erzbischof hinweist: Tegitur sepulchrum panno rubeo, cui insuper, cum festi Beatissimæ Virgini dies coluntur, pretiosum quoddam & vetustum pallium, paludamenti instar, ad ornatum inijcitur. Pependisse ad sepulchrum illam, ab Arnesto descriptam Visionem, Chronicon Glacense manuscriptum significat; hodie nihil hujusmodi videas. 54 In diesem Sinne wurde die Einbettung des Grabmals in die Aktion bereits im Mittelalter zu einer Ex-post-Bestätigung des erzbischöf lichen Amtes des Verstorbenen. Wie Miller später schrieb, ging diese Zeremonie ähnlich vor sich »wie bei Heiligengräbern«. 55 Die Antiphon wurde demgemäß bereits in der gotischen Inszenierung der Sepultur zu einem Ersatzanniversarium, bei dem das Begräbnis und das officium defuncti mithilfe der verhüllenden Stoffe und des temporär unsichtbar gemachten Bildnisses als eine symbolische Verkörperung wiederholt wurden (Abb. 113). Die effigies blieb dann nur als gespeicherte, visuelle Projektion in der Erinnerung, um dem in diesem Moment gerade aus dem Blick verschwindenden Leichnam im Rahmen des Zeremoniells virtuell Platz zu machen. Dieser Vorgang könnte also mit den Begriffen von Substitution und Imagination erklärt werden, da gerade diese zwei Vorgänge der Stellvertretung gleichzeitig den Status der medialisierten Vergegenwärtigung des historischen Subjekts bestimmten: Erst durch die vorherige Annahme der Rolle des Körpers kann der Gisant auf eine bedeutsame Art und Weise aus der Sicht verschwinden. Dieses Paradigma, möglich durch die zentrale Topografie der Memoria im Kirchenraum, lieferte für die Jesuiten im 17. Jahrhundert die Voraussetzung, um die Glatzer Inszenierung als polemisches Modell der Geschichtsdarstellung zu gestalten. Und dies trotz der Tatsache, dass diese Form der auf Salve Regina konzentrierten ›Anniversarien‹ in der Zeit der Jesuiten wahrscheinlich nicht mehr praktiziert wurde. Unbeachtet der möglichen Gefahr der Profanation 53 Miller 1690, S. 120. Vgl. Mikołajczak 2003, S. 474 – 483; Kogler 1841, S. 259. 54 Balbin 1664, S. 326. 55 Miller 1690, S. 144.

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Verortung und Aneignung

Abb. 113: Officium defunctorum, um 1460, Miniatur in einem französischen Stundenbuch, Baltimore, The Walters Art Museum, Inv.-Nr. Ms. W. 274, fol. 118.

des in der Mitte des Hauptschiffs als Reliquie ausgestellten und leicht zugänglichen Grabmals wurde dieses in ein figurales, gar mit subjekthaften Qualitäten ausgestattetes Zentrum der ›Aktion‹ verwandelt. Für die Jesuiten, die im 17. Jahrhundert die Person von Ernst von Pardubitz als Schutzpatron des gegenreformatorischen Kampfes um die Rückgewinnung katholischer Seelen propagierten und ferner beabsichtigten, ihn als einen Kandidaten für die Seligsprechung vorzuschlagen, 56 galt der Erzbischof ebenfalls als Gründer des lokalen böhmischen Reliquienkultes. Laut Balbins Überlieferung hat er gerade mit seiner prophetischen Auslegung

56 Vgl. zu den bereits im Mittelalter unternommenen Versuchen: Kubín 2005, S. 93 – 106.

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Kaiser Karl IV. von der Notwendigkeit der Einführung der Reliquienfeste überzeugt. 57 Dies stimmt mit den in den Quellen überlieferten Erwerbungen verschiedener Reliquien durch Karl IV. überein: Ein Stück vom Heiligen Kreuz oder vom Markus-Evangelium, abgesehen von zahlreichen heiligen Körperpartikeln, wurde unter der Leitung von Ernst von Pardubitz der Schatzkammer des St.-Veit-Doms übergeben. 58 Die Glatzer Grabanlage übernimmt in diesem Sinne im realen Raum die Rolle, die Präsenz des historischen Kirchenstifters zu verkörpern, der im Rahmen seines biografischen Szenarios sein ganzes ekklesiastisches Amtswerk der Maria widmete und sie auch post mortem um Schutz für die Schafe der Gemeinde bittet. Die Kirche als ›persönliches Bauwerk‹ des hohen Amtsträgers, der als Erzbischof innerhalb seines Jurisdiktionsbereichs für die ganze Glaubensinstitution verantwortlich ist, erscheint als ein geschichtetes System, als eine geordnete Vernetzung. In diesem Sinne wird die mittelalterliche Kombination von Grab und Altar als Element einer historischen Rekonstruktion in die visuelle Geschichtsschreibung inkorporiert, indem die symbolische Kontinuität der Weihe und die Erinnerung an den Stiftungsakt durch die Zusammenfügung der legendären Vergangenheit und der im amtlichen Sinne geltenden Gegenwart erzielt wird. In diesem Kontext kann sicherlich an den weitgehend künstlichen Versuch erinnert werden, im Leubuser Zisterzienserkloster eine ultimative kollektive Memoria der lokalen kirchlichen Amtsinhaber an einem abgelegenen Ort jenseits des Bischofssitzes zu kreieren – an einem Ort, der laut der barocken Geschichtsschreibung als Ursprungsstätte des lokalen Christentums propagiert wurde. 59 Im Unterschied jedoch zu solch einer Komposition der Memoria, die sich wie in Leubus durch einen relativ passiven, denkmalhaften Charakter auszeichnet und in der die Bildnisse der Bischöfe eine ex post konzipierte Ahnengalerie bilden, wird in Glatz der Fokus auf die Narrativierung des einzelnen Stifters in seiner amtlichen Laufbahn gesetzt wie auch auf dessen persönlichen Einsatz bei der vormodernen Gründung der rechtgläubigen und bildorientierten Religiosität. Genauer gesagt findet in Glatz die Entfaltung eines argumentativen Entwurfs statt, in dem die dialogische Situierung des Grabmals direkt vor dem Altar für die Jesuiten den neuen Aufbau der gesamten memorialen Anlage rechtfertigt und die Kirche in ein Mausoleum und zugleich in einen Schauraum verwandelt. In diesem Sinne wird die Geschichte nicht zitiert, sondern erzählerisch vergegenwärtigt. Als ein typisch barockes Beispiel einer historisierenden Narration, in der diese beiden Aspekte der Personalisierung und der Kollektivierung der res gestae zum Vorschein kommen, kann zum Vergleich unter anderem eine Darstellung des Bischofs Otto von Bamberg auf einem universitären Thesenblatt aus dem Jesuitenkolleg in Linz vom Ende des 17. Jahrhunderts, angeführt werden, das auch als Illustrationsblatt zur Geschichte des Stifts verwendet

57 Balbin 1664, S. 156: »Ad eandem virtutem referri potest Sanctorum Corporum summa in Carolo Caesare veneratio, quam excitavit Arnestus«. Vgl. ebd., S. 222 – 450. 58 Bobková 2005, S. 54 – 55. 59 Siehe Kap. 3.

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Verortung und Aneignung

Abb. 114: Bartholomäus Kilian nach Johann Wolfgang Dallinger, Die Weihe des Stifts Spital am Pyrhn an Maria durch Bischof Otto (Origo et Progressus Insignis Collegiatae Ecclesiae . . . ), Ende 17. Jh., Kupferstich, Stift Göttweig, Inv.-Nr. Tom. XII Nr. 23.

wurde (Abb. 114). 60 Auf diesem wird gezeigt, wie das oberösterreichische Stift Spital am Pyhrn von Otto als Stifter einer auf einem Altar stehenden Marienfigur im Jahr 1190 geweiht wird. Diese Szene bildet eine universalistisch-ekklesiologische Ausdehnung des einmaligen Weihungsaktes – man beachte etwa die auf einer Wolke herabsinkende ecclesia und die zwölf Apostelsäulen des als eine römische Exedra komponierten klassischen Säulenaltars, auf dem Maria als Regina Apostolorum ihren Platz einnimmt. Diese Nivellierung der Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart wurde zusätzlich mit einer genealogischen Zusammenfassung verbunden, in der die späteren Pröbste des Stiftes, dargestellt als Büsten auf dem Altar oder in persona im Vordergrund des Bildes, in ihrer Tätigkeit als Kirchenbeamte die historische Stiftung und die Marienweihe in Anlehnung an den allerersten Stifter aus der Zeit der Kreuzzüge immer wieder aktualisieren.

60 Appuhn-Radtke 1988, S. 231 – 234.

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Das Grabmal als memoriales Werk kann generell als Inbegriff der Standhaftigkeit bezeichnet werden. Eingebettet in die ›Aktion‹, entzieht sich jedoch das sepulkrale Monument Ernst von Pardubitz’ seiner primären Funktion als individuell geprägter historischer Informationsspeicher für die Nachwelt und zeigt eher die ausgedehnte Gegenwärtigkeit der Würde des Stifters und kirchlichen Beamten als ein aktuelles Bindeglied der institutionalisierten Gemeinde. Damit lässt es sich auch mit allen Abweichungen einer spezifischen Gattung der Grabdenkmäler zuordnen, die in ihrer Ikonografie die Genealogie des Amtes oder das ›amtliche‹ Wappen zum Vorschein bringen. Mit solchen memorialen Werken konnte bereits im Fall der mittelalterlichen Sepulturen der Päpste oder der Gräber der Kardinäle jenseits von Rom die pontifikale Topografie im Sinne von »Ubi Papa ibi Roma«, vor allem im Zeitalter des Schismas, symbolisch erweitert werden. 61 Das Grabmal von Ernst von Pardubitz wird demgegenüber jedoch nicht nur mithilfe der visuellen Attribute wie Wappen oder Würdezeichen, sondern vor allem im Rahmen einer zeitlich begrenzten Performanz während der SalveRegina-Feierlichkeiten dieser Verwandlung unterzogen, die als eine symbolische ›Investitur‹ bezeichnet werden kann. Das rote Pallium erklärt den verbleibenden Protagonisten exklusiv zum höchsten Würdenträger, der lokal präsent ist, obwohl gerade in diesem Moment das Bildnis aus dem Blick verschwindet und als verhüllt den Leichnam imaginieren lässt. Danach nimmt das Geschehen erneut seinen zyklischen Gang: Nach der Entblößung der effigies wird die Vision des jugendlichen Ernst von Pardubitz wieder perpetuiert, die räumlich vernetzten Marienfiguren ›reagieren‹ auf die Skepsis wie auch auf den nachträglichen, entsühnenden Wunsch der Kontaktaufnahme. Der Weg zur Erneuerung und amtlichen Verfestigung der marianischen Gelübde des zweifelnden Jünglings während seiner nächsten ›Anniversarien‹ als Erzbischof ist jedes Mal wieder offen. Die Kirche wird auf diese Art und Weise als ein sich selbst heilender, zu einer Selbst-Reparatur fähiger strukturierter Organismus versinnbildlicht, in dem für die Schuld des ›Unglaubens‹ zwar gebüßt werden muss, die Selbsterkennung und die darauffolgende Ergebenheit aber zur endgültigen Integration in die ecclesia und schließlich zum Heil führen sollen. Umso mehr ist es von Bedeutung, dass es sich bei der Glatzer Kirche um keine große, auf eine längere Tradition zurückblickende Nekropole handelt, einen Ort, an dem seit jeher kirchliche Würdenträger beigesetzt wurden wie etwa im Prager Dom, sondern eher um einen durch den Verstorbenen persönlich bestimmten Bestattungsort in der Provinz, im selbst gewählten Exil. Die Individualität des Programms und der symbolischen Topografie bestimmt also den Rang der Anlage, die deutlich jenseits des Zuständigkeitsbereichs des Prager Erzbischofs bleibt. Das Grabmal wird in diesem Kontext zu einem autonomen Rangzeichen erhoben: Als ein ultimativer Beweis des natürlichen Todes direkt am Ort der Bestattung platziert, signalisiert es zugleich andere, frühere transitorischen Momente im Leben eines kirchlichen Würdenträgers. Zu denen gehört vor allem die offizielle Erlangung der Würde;

61 Vgl. Gardner 1992, S. 133 – 164.

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Verortung und Aneignung

Abb. 115: Battista Agnolo del Moro, Entwurf eines Bischofsgrabmals, 1560/1570 (?), Kupferstich, Privatsammlung.

im Fall von Ernst von Pardubitz ist es seine Weihe als Erzbischof durch die inszenierte Glatzer Investitur. Mit diesem symbolischen Vorgang wird die Glatzer Pfarrkirche gewissermaßen dem Prager Dom gegenübergestellt, in dem 1344 die faktische Weihe des Ernst von Pardubitz, des Dekans des Domkapitels und Domherrn und seit 1343 Prager Bischofs, zum höchsten Kirchenamt erfolgte. Es lassen sich einige Beispiele solch einer symbolischen Visualisierung der Amtseinführung in der funeralen Ikonografie finden. Ein Kupferstich von Battista Agnolo del Moro aus den sechziger Jahren des 16. Jahrhunderts (?) (Abb. 115), 62 der eine modellhafte Lösung für ein anonymes Bischofsgrabmal zeigt, verbindet die Elemente miteinander, die für die performative Dimension der Glatzer Memoria entscheidend sind. Es ist einerseits die Präsentation des Leichnams – hier in Form eines Demi-Gisants – auf einem vor Maria und Christus situierten Sarg und andererseits die narrative Szene der Konsekration des Bischofs durch den Papst, begleitet von einer Reihe von Kirchenmännern, 62 Vgl. Bartsch 1979, 184 (S. 287).

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im unteren Bereich, auf der Stirnseite des Sockels. Die von del Moro entworfene Sepultur scheint in diesem Sinne nicht nur eine Information über den Rang des Verstorbenen zu liefern, sondern darüber hinaus eine doppelte Grenze im Lebenslauf eines Kirchenbeamten zu markieren. Sie zeigt die Einführung des Protagonisten in die Glaubensgemeinschaft bereits als deren Funktionär sowie den definitiven Abgang seines natürlichen Körpers, dessen symbolische Sozialpräsenz aber in effigie fortgesetzt wird. Wenn solch ein bildlicher Nachweis der kirchlichen Laufbahn in die Dynamik einer performativen Aktion eingebracht und so wie in Glatz mit einem Altar als liturgischem Ort kombiniert wird, entsteht ein räumliches Szenario, in dem die führende Rolle des Verstorbenen nicht als historische Tatsache zitiert wird, sondern sich im Rahmen der Handlung als aktueller, gemeinschaftsbildender Impetus offenbart.

Der historische Würdenträger und die institutionalisierte Gemeinschaft Der durch sein Glatzer Grabmal repräsentierte Prager Erzbischof wurde im Barock von der lokalen Gemeinschaft als Heiliger angesehen. Wie Balbin feststellt: »Corpus in claustrum intulit; ipse in caelum abijt«, 63 die körperliche Präsenz des »Heiligen« vor Ort wurde dementsprechend als eine treibende Kraft für die lokal orientierte katholische Mission begriffen. Der auf diese Präsenz fokussierte Kult führte jedoch in diesem Fall zu keiner gewöhnlichen Verherrlichung wie bei den kostbaren Heiligenreliquien. Das Grabmal des Ernst von Pardubitz wurde durch die Jesuiten eher in ein Musterbild der kollektiven Erfahrung für die Gemeinschaft umgewandelt. Entscheidend ist in dieser Hinsicht, dass es sich bei diesem einleuchtenden Erlebnis des späteren Erzbischofs nicht um eine Traumvision oder einen Einblick ins Jenseits handelte, sondern eher um eine außerordentliche Erfahrung der diesseitigen Aktivität eines Marienbildes, das auf Gedanken des Betenden reagiert und dabei entsprechende Zeichen setzt. In den Chroniken wurde die Glatzer Vision jedenfalls als eine eindeutig individuelle Perspektive überliefert. Dabei kommen die gleichen Muster der wunderbaren, visionären Erlebnisse ins Spiel wie beispielsweise bei der Gregorsmesse, bei der die Exklusivität der Erscheinung eine entsprechende »topologische Organisation des Visionsgeschehens« determiniert. 64 Georges Didi-Huberman spricht im Kontext der Gregorsmesse-Darstellung von Albrecht Dürer (1511) über eine »Heuristik der guten Orientation«, die es dem eingeweihten Protagonisten als Teilnehmer am Ereignis erlaubt, durch den gezielten, konzentrierten und erfolgreichen Blick auf die Akzidenzien der eucharistischen Verwandlung sich von den Nicht-Schauenden als Nicht-Sehenden im gleichen Raum zu distanzieren und in eine andere

63 Balbin 1664, S. 327. 64 Vgl. Ganz 2007, S. 209 – 257 (publiziert auch in: Ganz 2008, S. 352 – 387).

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Dimension der Wahrnehmung heben zu lassen. Dabei ist die absolute Frontalität gegenüber der sich offenbarenden Instanz als Garant des Mit-Erlebens zu bezeichnen – es ist das direkte (Hinein-)Schauen, das einen Visionär verrät. 65 Durch die jesuitische Aufarbeitung des tatsächlichen historischen Visionsraumes wird dieser exklusive Einblick für alle Teilnehmer perpetuiert und im realen Raum für alle zugänglich gemacht: Die »gute Orientation« wird somit im Voraus vorbereitet als Grundsatz für eine kollektive Erfahrung. Beide ursprünglichen Subjekte dieses visionären Kontakts – der in seinem sozial-amtlichen Körper präsente Erzbischof und das Marienbild im Altar – sind in dem gleichen Raum präsent wie der Betrachter. Die Vision muss daher durch den Letzteren nicht imaginiert oder selbst anhand einer Beschreibung rekonstruiert werden – sie vollzieht sich vor seinen Augen. Die Zugänglichkeit und Greifbarkeit des Glatzer Grabmals, so wie sie durch die Jesuiten gewährleistet wurde, verstärkt seine Objekthaftigkeit und Materialität. Es wird nicht als Kunststück, sondern explizit als ein aktiviertes Bildobjekt ins Geschehen miteingeführt. Damit erfüllt es die Funktion eines historischen Fokus der sozialen Gemeinschaftskonsolidierung. In der Zeit nach der Etablierung der Fragilität als Eigenschaft eines Kunstwerks bei Bernini und Algardi, als die höfische Skulptur sich infolgedessen durch einen Distanzzwang auszeichnete und ihre ästhetische Wirkung im Sinne der überzeugenden Repräsentation durchaus von Unantastbarkeit bestimmt war, 66 wird die mittelalterliche effigies von Ernst von Pardubitz direkt in der Mitte des andauernden historischen Geschehens für die Massen gesichert. Das Mittelalter ist in diesem Fall nicht fremd oder archaisch, es wird vielmehr zu einem ausdrucksvollen Beweis der historischen Wahrhaftigkeit des ›agierenden‹ Bildes und dessen überhistorischer Kontinuität gemacht. Somit stellt das inmitten des Volkes animierte mittelalterliche Grabmal die symbolische Repräsentation als Begriff generell in Frage – zugunsten der übergreifenden Zeitlichkeit des zugänglichen Bildes als eines interaktiven ›Akteurs‹, der nicht imaginiert werden muss und direkt wahrgenommen werden kann. Den Kern der Vision bildet in diesem Fall die konkrete Positionsänderung in einem Bild – dem im Hochaltar skulptierten Marienbildnis –, also in einem Medium, das von seiner Natur aus zur Schau gestellt wird. Es handelt sich bei der Vision demgemäß um keine transzendente Erscheinung einer bisher verborgenen Instanz, die sich auf einer vertikalen Achse im Rahmen einer Theophanie offenbart. Es ist keine innere Schau, sondern eine Teilnahme an der Modifizierung des Gegebenen, eine Erfahrung des Eingriffs des Bildes in die diesseitige Sphäre. Wichtig ist in diesem Fall, dass das Bild nicht mit einer übernatürlichen Kraft und Aura ausgestattet oder als sichtbarer Vermittler des höheren, unsichtbaren Prototyps animiert wird, sondern sich gerade als Bild offenbart,

65 Didi-Huberman 1993, S. 223, 226. 66 Vgl. Hall 2006, S. 145 – 160, hier: S. 150 – 152 (S. 145: »In some cases, it seems, viewers believe themselves to be in the presence of a real, rather than a represented person or object, and they decide to take advantage of their imagined proximity: the artwork is thus a ›real presence‹, until it is touched and the spell is broken«).

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indem es auf den Zweifel am Sinn des Bilderkults reagiert und ›für seine eigene Sache kämpft‹. In diesem Sinne realisiert sich die Horizontalität der Vision, indem das Bild und der Schauende zu Kontaktpersonen werden. Auch zeigt das Bild seine eigene verletzbare ›Persönlichkeit‹, eine Art Würde als interlocutor des Betenden. Darin besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Glatzer Marienbild und den gewöhnlichen ›weinenden‹ oder ›sich bewegenden‹ gemalten Bildern oder dreidimensionalen Bildwerken, die seit dem Mittelalter als Antreiber der affektbeladenen, auf mimetische Reaktionen zielenden Devotion ins Spiel kamen. Indem der Betrachter der Glatzer Memoria in ein räumlich-architektonisches Gefüge eingeführt und zu einem bestimmten, idealerweise zentralen Blickwinkel geleitet wird, entfällt folglich das Grundproblem, das für malerische Darstellungen der visionären Einblicke und Erscheinungen so bestimmend ist: die hieratische Vertikalisierung und die künstliche Grenzziehung zwischen der Ebene der Erscheinenden und der der Schauenden. Victor Stoichita bezeichnete diese Inkohärenzen bei der Teilnahme an der dargestellten visionären Erscheinung als ikonische und narrative Verdoppelungen. 67 Durch die auf Materialität und Lokalität des historischen Ereignisses konzentrierte Perspektive wird in Glatz der Betrachter dazu eingeladen, den Verlauf der Vision und deren Konsequenzen ausdrücklich körperlich mitzuerleben, indem er dem Beispiel des zentral platzierten Erzbischofs folgt. Diese Erfahrung wird nicht mehr in esoterische und exoterische Erkenntnis aufgespalten, sondern anhand eines vorgegebenen Musters in Form eines gemeinsamen Mit-Schauens kollektiviert. Das Phänomen der visuellen Zeugenschaft einer Vision wird daher in diesem Fall einer kompletten Reformulierung unterzogen: Die Erscheinung ist nicht als in ihrer historischen Entwicklung abgeschlossene Tatsache zu begreifen, sondern wird durch die Teilnahme der Gemeinde zu einem andauernden Phänomen. Die Skulptur des erzbischöf lichen Gisants entzieht sich sowohl dem stationären, einseitigen Anschauen der Vorderseite als auch dem typischen Theater des Trauerns in dem von den Figuren der pleurants angedeuteten Kondukt, wie es bei gotischen Tumbengrabmälern häufig vorgesehen war. Die Glatzer Grabfigur wurde ebenfalls nicht für das dynamische Umkreisen neu arrangiert, für einen ästhetischperformativen Modus, der als Vorgabe für die kirchlich-höfischen Betrachter von barocken Skulpturwerken in Berninis Kreis entwickelt worden war. 68 Die Figur des Prager Erzbischofs vor dem Marienaltar fungiert eigentlich lediglich als ein mittendrin agierendes Vorbild für das statische, aber dafür konzentrierte und gemeinsame Sehen, als ein Mittel der horizontalen Kommunikation und Nachahmung. Es erfolgt also im Endeffekt sogar eine kuriose Umkehrung der neuen Ästhetik des dreidimensionalen Mediums der Skulptur: Es ist diesmal das betrachtete Bildwerk – die Marienfigur –, das sich umdreht, der Betrachter selbst bleibt

67 Stoichita 1997, S. 29 – 46. Vgl. zum Bild im Bild bei visionären Erscheinungen: Krüger 2001, S. 133 – 143, wie auch zu Schwellenüberbrückungen in mittelalterlichen Visionsdarstellungen: Ganz 2008, passim. 68 Siehe dazu: van Gastel 2014a, S. 77 – 98; Reuter 2012, S. 141 – 153.

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dagegen, zusammen mit seinem in Stein gebannten Schutzpatron, erstarrt in seinem mit dem Kollektiv geteilten Wunsch nach Kontaktaufnahme. Damit waren die Voraussetzungen erfüllt, die für die jesuitische Vorstellung von Gemeinschaftsbildung als maßgeblich zu bezeichnen sind. Während in den chronikalischen Überlieferungen der Vision des jungen Ernst von Pardubitz in der ersten Person berichtet wird, findet in der Illustration dieses entscheidenden Moments in der Grafik von Matthäus Küssel, die dem Werk Balbins beigefügt wurde, eine interessante, wenn auch kleine Verschiebung statt. Der vor dem Altar kniende Knabe fleht das erbitterte Marienbildnis – die »Maria Advocata« – mit den Worten der Salve-Regina-Antiphon um Gnade an: »Illos tuos misericordes oculos ad nos converte«. Der Wechsel von der privaten Relation, so wie sie in den Quellen immer zitiert worden war, zu einer nachträglichen Abbildung eines Visionärs, der gerade im Moment seines exklusiven Einblickes im Namen der Gemeinschaft agiert (»ad NOS converte«), scheint nicht ohne Bedeutung zu sein. Die Antiphon bezeichnet Maria als lehrende Autorität und als Ernährerin der Gläubigen, die im Exil verbleiben (»Ad te clamamus, exsules filii Evae«). 69 Daher war sie, als ein gemeinsam für mehrere Stimmen gesungenes Werk und durch die vielschichtigen Schwankungen zwischen festlichen und emotional aufgeladenen Tönen musikalisch bestens geeignet, eine geistige Emporhebung und Stärkung der bedrohten communitas der verlorenen »Kinder Evas« zu erzeugen. 70 Dass Ernst von Pardubitz gerade in seinen Jugendjahren eine Vision erlebte, war für die Jesuiten eindeutig ein Zeichen dafür, dass er als unschuldiger Knabe beim Singen durch einen Dämon zum Zweifeln am Sinn des Bilderkultes verleitet wurde: »[. . . ] der böse Geist seine Gedanken habe etwa mit Unglauben angefochten / besonders in jenem Artikul / welcher in Anruffung der Heiligen / in Verehrung ihrer / und dero Bilder besteht«. 71 Die Strafe für den kurzen Moment der Skepsis war zwar nicht allzu hoch, doch soll sie laut der Legende die kirchlichen Wege und das ganze Leben des späteren Würdenträgers bestimmt haben. Das sich von dem irrenden Sünder abwendende Bildnis der Gottesmutter kann in diesem Sinne als gezielte Übertreibung angesehen werden. Es handelt sich dabei um ein geschicktes Manöver, das Eltern-Kind-Verhältnis vorzuspielen: Die Empörung wegen eines kleinen Vergehens wird zwar deutlich gezeigt, jedoch will die Mutter durch ihre überzogene Reaktion nur die Liebe des Kindes stärken und dessen Gehorsam durch Einsicht in das Delikt erwecken. 72 Der kleine Christus scheint durch seinen immer noch bestehenden Blickkontakt im Moment der Bestrafung seine kindliche Solidarität mit dem betroffenen Knaben zu zeigen. Dadurch wird

69 Vollständiger Text der Antiphon: »Salve, Regina, mater misericordiae; vita, dulcedo et spes nostra, salve. Ad te clamamus, exsules filii Evae. Ad te suspiramus, gementes et flentes in hac lacrimarum valle. Eia ergo, advocata nostra, illos tuos misericordes oculos ad nos converte. Et Jesum, benedictum fructum ventris tui, nobis post hoc exilium ostende. O clemens, o pia, o dulcis Virgo Maria.« 70 Buskirk 2012, S. 59 – 97, hier insbes. S. 68 – 69, 80. 71 Miller 1690, S. 71. 72 Ebd., S. 65 – 72.

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gleichzeitig die Macht des Bildes als handelndes Subjekt demonstriert: Der Säugling kann sich der emotionalen Reaktion der Mutter zugunsten des Betrachters widersetzen. 73 Das Salve Regina, das den narrativen Rahmen der Glatzer Geschichtsvision lieferte, wurde öfters bei Trauerfeiern und an den Gräbern der Priester gesungen. Dass es im Fall von Pardubitz mit der Zeit zu einem symbolischen Ersatz für seine Anniversarien geworden ist, bezeugt eigentlich seine übergreifende Rolle im funeralen Bereich, die möglicherweise strukturell mit der vermuteten Funktion der frühchristlichen Eucharistiefeier an den Gräbern der ersten Märtyrer in den Katakomben zu vergleichen wäre. 74 Dies wirft die Frage auf, ob die Legende der Glatzer Vision des Prager Erzbischofs nicht zum Teil als Resultat gerade von den tröstenden und gemeinschaftsbildenden Tönen der Marienantiphon zu lesen wäre. Dafür spricht paradoxerweise auch die Tatsache, dass das ursprüngliche Marienbild als Objekt der Vision, an dem sich angeblich plötzliche Aktivität hat beobachten lassen, heute als verschollen gilt und nicht mehr zu rekonstruieren ist. Wenn man dazu beachtet, dass das einzige Bild, dass sicherlich aus Glatz stammt und auf die Lebenszeit des Ernst von Pardubitz zurückzuführen ist, die bekannte gemalte Tafel der Glatzer Madonna von 1343/1344 ist (Taf. 39), 75 kann in diesem Kontext auf die Ursprünge der Glatzer Tradition der erzbischöf lichen Vision vielleicht ein neues Licht geworfen werden. In Anbetracht dessen, dass auf diesem Bild die Kopfhaltung und die Blickrichtung der Madonna eine byzantinische Prägung aufweist, die eine Abwendung vom Betrachter suggerieren kann, dass aber das Christkind einen stummen Dialog mit dem Betrachter zu führen versucht, scheint es durchaus plausibel, dass gerade diese vom Erzbischof persönlich in Auftrag gegebene Bildtafel Auslöser der imaginierten und nachträglich in verschiedenen Medien weitertransportierten Vision war. Die gemalte Glatzer Madonna zeigt Ernst von Pardubitz in seiner amtlichen Würde: Als frisch ernannter Erzbischof präsentiert er sich vor Maria mit der Pracht des gerade erworbenen Palliums. 76 Die Vision, die nachher als historiografisches Konstrukt anhand einer knappen Erwähnung im Testament erschienen sein mag, hatte möglicherweise

73 »twarz obrazu (. . . ) welmi hniewinie se odemnie odwratila / a tak zadkem neb hˇrbetem / ten obraz se ke mnie obratil« (Hájek 1541, S. CCCXXXVIII). In der deutschsprachigen Version: »da wandte es sein Antlitz von mir zorniglich / und kerete mir den Rücken zue« (Hagek 1596, S. 29). »Da ward ich gewahr / das er sich ein sehr wenig abgewandt / gleich als ob er mich etwas ober die Achsel angesehen« (ebd.). Balbin vergleicht auch verschiedene Versionen der Visionsbeschreibung miteinander. Wenn in Hageks deutschsprachiger Überlieferung das Kindlein nur sein Gesicht zu Ernst wendet, soll es einer älteren böhmischen Version gemäß seinen ganzen Körper gedreht haben: »zdali gest se také odemne odwratil: Y uzˇrel sem z˙e se odemne mali´cko odwratil«). Der Jesuit betont zugleich deutlich den bemerkten Unterschied: »Si etiam facies Imaginis Jesu Christi se a me avertisset: aliter est in Bohemico, additurq: & vidi, quod ad me nonnihil se se (Jesus puer) converterit, ac si me ejus sancta Maiestas respiceret«; Balbin 1664, S. 25 – 35, hier: S. 33. 74 Siehe dazu Deichmann 1970, S. 144 – 167. Vgl. Diefenbach 2007, v. a. S. 167 – 168. 75 Suckale 2003, S. 119 – 150; Royt 1998, S. 51 – 60. 76 Die Weihe von Ernst zum ersten Prager Erzbischof am 30. April 1344 war Anlass zu einer Datierung des Bildes anhand des darin dargestellten Palliums; siehe dazu ebd.

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zum Ziel, den bereits früher gewählten Bestattungsort des Erzbischofs im Voraus in seinem Rang zu erheben und dadurch die Zugehörigkeit der Glatzer Provinz zu der Prager Administration der Erzdiözese zu stärken. Ernst von Pardubitz mag dies selbst als einen politischen Entwurf ins Leben gerufen haben – man erinnere lediglich an seine jahrelangen Bemühungen, die Breslauer Diözese von dem polnischen Erzbistum Gnesen zu lösen, an die neue Prager Erzdiözese anzubinden und im Endeffekt alle Länder der böhmischen Krone unter deren legislatorische Kompetenzen zu bringen. 77 Die Zusammenarbeit von Ernst von Pardubitz und dem proluxemburgisch orientierten Breslauer Bischof Preczlaus von Pogarell, mit dem von Pardubitz freundschaftliche Beziehungen pflegte, war eine gute Grundlage, um diesen Plan durchzuführen – auch wenn er schließlich misslang. 78 Dabei hätte die politische Stärkung der an der Grenze zwischen Böhmen und Schlesien gelegenen Grafschaft Glatz eine wichtige, wenn auch eher symbolische Rolle in dieser Aneignungskampagne spielen können. Die Person des Prager Erzbischofs, der in seinen Provinzialstatuten von 1349 die erste Kodifizierung des kirchlichen Rechts innerhalb der Krone Böhmens durchführte, 79 eignete sich aus administrativer Sicht der bald durch die hussitische Unruhe bedrohten Prager Erzdiözese bestens für einen politisierten, posthumen Kult im Zeichen der Anti-Häresie. Die Ironie der Geschichte bleibt, dass – wie im Folgenden gezeigt wird – dieselbe Person gerade im Zeitalter der hussitischen Regierung in Prag in der Mitte des 15. Jahrhunderts durch die Glatzer Katholiken instrumentalisiert wurde, um sich unter der Ägide der Breslauer Diözese von Prag zu lösen und einem päpstlichen, anti-hussitischen Interdikt zu entkommen. Durch das Singen der Antiphon wurde also die ganze im 17. und 18. Jahrhundert rekatholisierte Glatzer Kirche als Bauwerk zur Inkorporation der lokalen ecclesia der im reformatorischen Zeitalter ›verlorenen Kinder‹. Der Prager Erzbischof als Anführer der Gemeinde wurde dabei zur institutionellen Verkörperung der Kirche erhoben, und auch der Kirchenbau verwandelte sich durch die an den Wänden angebrachten emblematischen Illustrationen der einzelnen Strophen und Symbole aus der Salve-Regina-Antiphon in eine interaktive Figura der communitas. Dieses visionäre Realtheater scheint demgemäß als eine bildbezogene Kultmaschine für Jugendliche intendiert gewesen zu sein. Man kann sich gut vorstellen, dass für die Novizen des Glatzer Jesuitenkollegiums, das sich direkt neben der Kirche befand, solch eine lehrhafte Vorstellung von Sünde, Strafe und Buße als ein Musterbeispiel gedacht war und in einer monumentalen Form propagiert wurde. Darüber hinaus galt Ernst von Pardubitz als der Gründer des Prager Carolinums, des unter den Auspizien Karls IV. ins Leben gerufenen universitären studium generale, das spätestens seit 1616 unter der Ägide der Jesuiten massiv zur historischen Verankerung der gegenreformatorischen Initiative beitrug – nicht zuletzt durch die Geschichtsschreibung von Ernst von Pardubitz’ Biograf Bohuslav Balbin. 80 Daher

77 78 79 80

Bobková 2005, S. 47. Pobóg-Lenartowicz 2005, S. 73 – 81, insbes. S. 74 – 76; vgl. Barciak 2005, S. 65 – 71. Krafl 2005, S. 59 – 64. Bobková 2005, S. 48.

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kann man in der Person des Glatzer Stifters durchaus einen Patron der studierenden jesuitischen Jugend sehen, die an einem greifbaren historischen Beispiel über mögliche Irrwege, Auswege und Bußwege innerhalb der neuen Ökonomie des Heils belehrt wurde. Auch andere Beispiele der bildhaften Didaktik der Angst in jesuitischen Lehrstätten bezeugen die mediale Wirkung solch einer narrativen Taktik und derartiger affektiver Bildanwendungen in Jugendanstalten, wie etwa durch die in den vorangegangenen Kapiteln angesprochenen Fresken der frühchristlichen Märtyrer von 1582/1583 im Kollegium von S. Stefano Rotondo in Rom. Die Propagierung eines Personenkults, der sich direkt an Adepten richtete, war in dem Jesuitenorden ebenfalls kein Einzelfall und kein Novum. Ein Beispiel dafür ist die schnelle, posthume Karriere des bereits erwähnten jungen Stanislaus Kostka, eines polnischen Jesuiten, der zu einem musterhaften Aufsteiger stilisiert wurde. Durch Maria angeregt, dem Jesuitenorden beizutreten, wurde er schließlich, nach einem zwar nicht durch grausames Martyrium, sondern eine angeborene Körperschwäche und andauernde Krankheit ausgelösten musterhaften Tod zum Patron der zur Ausdauer aufgeforderten Novizen erklärt. Zwischen diesem neuen Vorbild der jesuitischen Jugend und dem barocken Konstrukt des durch seine ›persönliche‹ Buße als Anführer der Glatzer Gemeinde auftretenden Prager Erzbischofs lassen sich einige systematischen Ähnlichkeiten beobachten. Kostka starb beinahe zweimal: Als er noch vor seinem Ordensantritt bereits schwer krank im Sterbebett lag, heimsucht durch einen bestialischen Dämon, erschien ihm die Gottesmutter in einer Vision und empfahl ihm, Jesuit zu werden. Als Zeichen des Vertrauens ließ sie ihn das kleine Christuskind im Bett in die Arme nehmen. Der leidende Jüngling wurde daraufhin angeblich sofort geheilt und ließ den Orden seine Zukunft in die Hand nehmen. 81 Eine Zeichnung aus der Serie von Kostkas Vita, gefertigt um 1700 von Giovanni Battista Lenardi nach einer grafischen Vorlage Giacopo Lauros von 1606, zeigt diesen intimen Empfang mit der Kuppel der römischen Il Gesù im Hintergrund. Maria lässt ihr Kind im Bett auf dem Schoß des zukünftigen Jesuiten liegen und zeigt dafür mit ihrem Finger auf die Kuppel als unverkennbares institutionelles Zeichen der römischen Genealogie und der zentralistischen Organisation des neuen Ordens (Abb. 116). 82 In einer der späteren Darstellungen innerhalb dieses Zyklus wird Kostka als Verehrer der Maria und Propagator der Salve-Regina-Antiphon präsentiert – eine Szene, zu der sich übrigens in der Vita selbst keine direkte Entsprechung findet. 83 Dass er im Moment seines Todes in der Adoration eines kleinen Marienbildnisses beziehungsweise eines Kruzifixes versunken war, so wie wir es in Pierre Legros’ Skulptur sehen können, ist also als eine Konsequenz der lange zuvor durch die visionäre Erscheinung geprägten geistigen Entscheidung zu betrachten. 84 Die unter dem Motto »Qui sine uxore es 81 Bartoli 1670, S. 50 – 65. 82 Spengler 1997, S. 204 – 213, hier: S. 206 – 207. Vgl. die entsprechende Ikonografie der affektiven Zuneigung des im Bett liegenden Kostkas zum Christkind u. a. in: Zetl 1727, S. 54 – 55. 83 Spengler 1997, S. 208 – 209. 84 Siehe González-Palacios 2007, S. 48 – 52.

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Abb. 116: Giovanni Battista Lenardi, Die Vision des sel. Stanislaus Kostka (eine Szene aus der Vita), um 1700, Zeichnung, Köln, Wallraf-Richartz-Museum, Graphische Sammlung, Inv.-Nr. Z 3140.

Abb. 117: Martin Engelbrecht, Der sel. Stanislaus Kostka als Verehrer des Christkindes, um 1730 – 1740, Flugblatt, Breslau, Ossolineum.

Cogitat quae domini sunt, quomodo placeat Deo« (1 Kor 7,32) – dem apostolischen Aufruf zur maskulinen Ehelosigkeit und zum Verzicht auf die Berührung von Frauen – stattfindende Apotheose Kostkas als einem für ewig jung bleibendem intimem Verehrer, der nach dem nackten Christkind greift, die auch auf unterschiedlichen, ebenfalls auf böhmischem Boden zirkulierenden Andachtsblättern zu sehen ist (Abb. 117), situiert ihn als katholisches Vorbild der affektiven gottgefälligen Neigung zu Kindern – eine auf andere Leidenschaften verzichtende Ergebenheit innerhalb der ›christlichen Familie‹. Die barocke Version der Vita des Ernst von Pardubitz, so wie wir sie in der Glatzer Memoria erfahren und in der das Christkind trotz der Empörung der Mutter mit dem Erzbischof in Kontakt bleibt, also den eindeutigen Wunsch des das Kind begehrenden Kirchenbeamten im Sinne eines ›geteilten Geheimnisses‹ erfüllt, wird auf der gleichen Basis der Intimität aufgebaut. 85 Diese Biogra85 Vgl. zu dem Phänomen der Nachahmung als Kriterium für Heiligsprechung: Burke 1986, S. 63 – 64.

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fie bezeugt die Flexibilität der Versatzelemente der medialen Verherrlichung innerhalb des jesuitischen Themenrepertoires und trägt zugleich zur nachhaltigen Legitimierung und sittlichen Beweihräucherung des kirchlich sanktionierten Verhältnisses zwischen begehrlicher Priesterschaft und begehrenswerter Kindheit bei. Dass es sich im Fall des Ernst von Pardubitz um eine inszenierte Anführergestalt handelt, die den jesuitischen Rekatholisierungsplan lokal-historisch untermauern sollte, bezeugen weitere Parallelen und Typologien, die sich in der figürlichen Ausstattung der Glatzer Kirche beobachten lassen. Als Beispiele der erfolgreichen Karriere innerhalb des jesuitischen Ordens wurden dort Ignatius von Loyola und Franz Xaver vorgestellt. Eine gewöhnliche Zusammenstellung der beiden Heiligen in zwei Altären in separaten Kapellen zu beiden Seiten des Presbyteriums gewinnt durch die Verbindung mit dem mittelalterlichen, barockisierten Visionsraum in der Mitte der Kirche eine neue, spezifische Dimension. Die Kapelle des Ignatius von Loyola an der südlichen Seite des Chors wurde am Ende der Barockisierung in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts mit einem bühnenartigen Altar ausgestattet, in dem zwischen den gedrehten Säulen unter einer Engelsglorie eine schlichte figurale Darstellung der historischen, von Loyola neben der Kapelle in La Storta auf seinem Weg nach Rom im Jahr 1537 erlebten Vision zu sehen ist (Abb. 118). Vor dem kreuztragenden und eine einladende Geste machenden Christus gebeugt, erscheint der baldige Ordensgeneral als privilegierter Vermittler und Gründer der Gemeinschaft. Er ist nicht mehr der Soldat, der seine Rüstung und seine Waffen als Kriegsattribute ablegt und die erste geistige Verwandlung vor dem Marienbild auf einem Altar erlebt, sondern wird bereits als derjenige dargestellt, der sich gerade für den geistlichen Weg entschlossen hat: als demütiger Diener Gottes im schwarzen jesuitischen Habit. Es handelt sich also um die Befestigung der von Loyola und seinen Genossen bereits begonnenen Mission. Weil die Wallfahrt nach Jerusalem aufgrund der damaligen politischen Verhältnisse nicht möglich war, wählte Loyola Rom als Ziel seiner

Abb. 118: Michael Kössler, Die Vision des hl. Ignatius von Loyola in La Storta, um 1730, Glatz, ehem. Jesuitenkirche Mariä Himmelfahrt, Altar der Ignatiuskapelle.

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geistigen Pilgerschaft. In La Storta, wie man es nach biografischen Schriften und nach dem 1553/1555 von Loyola selbst verfassten Bericht des Pilgers rekonstruieren kann, kam es zu einer Erscheinung, in der Christus sich zu dem werdenden Jesuiten mit folgenden Worten wandte: »Ego vobis Romae propitius ero« (Ich werde Euch in Rom gnädig sein). 86 Loyola, der in diesem Moment das Schicksal seiner Gruppe in Rom vorausahnt und sich darauf geistig vorbereitet, folgt Christus, so wie es Petrus getan hatte, nachdem er Christus in Rom auf der Via Appia begegnet war und die Entscheidung getroffen hatte, sich wie sein Meister für seinen Glauben in der Stadt der Cäsaren kreuzigen zu lassen. Die Glatzer Skulpturengruppe im Loyola-Altar – in ihrer Inszenierung deutlich orientiert an der in den Petrusakten aus dem 9. Jahrhundert überlieferten Frage des Petrus an den kreuztragenden Erlöser: »Quo vadis, Domine?« und dessen Antwort: »Venio Romam iterum crucifigi« – visualisiert die Relevanz der inneren Entscheidung und Selbstaufopferung. Sie ist jedoch gleichzeitig als ein zielbewusstes Pendant zu der fortdauernden mittelalterlich-barocken Kontaktlinie zwischen Ernst von Pardubitz in seinem Grabmal und dem Marienbild anzusehen. Wie bereits früher erwähnt wurde, fand auch das zweite Marienbild zwischen der Ignatiuskapelle, dem Altarraum und dem Grabmal seinen Platz als ein optisches Bindeglied zwischen den Blickachsen und verband die mittelalterliche Vergangenheit mit der Szene der origines des neuen Ordens im Loyola-Altar. Die musterhafte Figur des Prager Erzbischofs funktioniert in diesem Kontext quasi als ein lokaler Vorläufer beziehungsweise Double des ersten Ordensgenerals, als ein greifbares historisches Zeugnis der immer wieder nachweisbaren Bekehrung und lebenslangen Aufopferung innerhalb einer Institution. Durch diese Kombination gewinnt die jesuitische Agenda der Suche nach der historischen Selbstverwurzelung durch antiquarische Aneignung und Anwendung der mittelalterlichen Artefakte an rhetorischer Stärke. Der Legende der Vision von Ernst von Pardubitz selbst wird dadurch auch eine aktuelle Bedeutung zugesprochen, denn sie wird auf diese Art und Weise nicht nur einfach erneut erlebt, sondern auch planmäßig institutionalisiert. Bei dem Erlebnis Loyolas in La Storta, während er auf dem Weg nach Rom war, handelte es sich um einen topografischen Ersatz, da Jerusalem mit dem echten Passionsweg Christi zu dieser Zeit nicht zugänglich war. Der historische locus Jerusalem wird also mit dem institutionellen locus Rom im Sinne der dynamischen Ökonomie des Heils gleichgesetzt. Eine ähnliche topografische Montage könnte man in diesem Sinne auch zwischen Prag und Glatz vermuten, den zwei Orten, an denen Ernst von Pardubitz sein Leben der marianischen ecclesia widmete. Der kirchliche Berater des luxemburgischen Kaisers Karl IV., den er zuvor 1347 selbst zum böhmischen König gekrönt hatte, und der in politische Allianzen mit dem habsburgischen Globalherrscher Karl V. verwickelte Ordensgeneral der Neuzeit bilden in Glatz ein durch überzeitliche Präfiguration der katholischen metanoia gekennzeichnetes Paar. 87 Die gemalte 86 Loyola, Bericht des Pilgers, 96. 87 Ernst von Pardubitz fungierte in diesem Sinne möglicherweise als eine lokale Präfiguration von Ignatius von Loyola, ähnlich dem ersten schlesischen Bischof der Rekatholisierung, Sebastian Ignatius

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Darstellung des Franz Xaver als Missionar im Asien auf dem Zwillingsaltar in der nördlichen Kapelle im Chor der Glatzer Kirche liefert dazu das Beispiel einer konsequenten Umsetzung der erlebten Konversion ins eigene Tun im Dienste der expandierenden Gesellschaft: die Bekehrung von denen, die das Licht des ›wahren Glaubens‹ noch nicht erkannt beziehungsweise bisher verweigert haben. Interessanterweise sind es in Glatz nicht die direkten Sukzessoren im Amt des verewigten Stifters, sondern Repräsentanten einer neuen Organisation, die als neue Apostel im Dienst der staatstreu geprägten Konfession die historische Genealogie der übernommenen Lokalität für sich beanspruchen. Die aktivierte Sepultur des Prager Erzbischofs erhält in diesem neuen Zusammenhang die Rolle eines räumlichen Knotenpunkts innerhalb des beinahe dramaturgisch vernetzten Kirchenraumes, in dem die Geschichte nicht linear, sondern typologisch verläuft. Laut dieser Inszenierung sind es Präfigurationen, geografische Vernetzungen und die darauffolgende Institutionalisierung der Gemeinschaft, welche die Geschichte des Heils und die Entwicklung der christlichen Mission auf Dauer über die Epochengrenzen hinweg bestimmen. Der zwischen der aktualisierten Vergangenheit und der zukunftsorientierten Gegenwart rhetorisch eröffnete Raum der Glatzer Kirche lässt sich dementsprechend symbolisch als eine monumentale ›altarartige‹ Konstruktion lesen, welche die historische Genealogie der Mission offenbart: Mit dem akzentuierten marianischen Hochaltar im Zentrum, dem Grabmal des Erzbischofs als einer in der ›Predella‹ vor dem Presbyterium gezeigten Reliquie und den zwei ›Flügeln‹ der jesuitischen Kapellen mit exemplarischen Assistenzbildern der Heiligen zu beiden Seiten entsteht eine einfache und sichtbare bild-architektonische ›Schaumaschine‹ der überhistorischen Korrespondenz. Diese Aneignung und Systematisierung sollte eine historiografische Lücke füllen: Laut den Überlieferungen konnte Ernst von Pardubitz selbst seine Vision weder genau beschreiben noch deren zeitlichen Rahmen rekonstruieren und verschwieg auch die ganze Geschichte bis zu seinem Tod. Nach der jesuitischen Übernahme dieses Erbes wurde durch Miller dieses bedeutsame Schweigen des Visionärs ›institutionalisiert‹. Der Historiograf argumentiert, der Prager Erzbischof habe angeblich diese Enthaltsamkeit bewusst bewahren wollen, um sein Amt nicht zu missbrauchen, um nicht als derjenige, der imstande war, von seiner Position aus höchste Regulierungen von Bildkulten zu veranlassen, eine eventuelle kollektive Verherrlichung des Glatzer Marienbildes anhand der Erzählung seiner privaten Vision in Gang zu setzen. 88 Die jesuitische Inszenierung war demgemäß auch als eine posthume Kompensierung der nie geäußerten Intention des Erzbi-

Rostock, der durch die Jesuiten zu einem »zweiten Ignatius« gemacht wurde (vgl. Fama Posthuma 1665, S. 95 (unnummeriert)). 88 Miller 1690, S. 64 – 65.

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schofs zu verstehen, der selbst mit seinem ganzen Leben, wie Miller betonte, das Beispiel einer musterhaften Dankbarkeit geliefert und nach einer ersten Mahnung das Bild stets verehrt haben soll. 89

Politische Körperphysiologie und Selbstverneinung der effigies Eine besondere Interpretationsebene des Glatzer Grabmals lieferte für die Jesuiten darüber hinaus ein Ereignis, das bereits in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts für die enorme, überregionale Popularität der sepultura Arnesti sorgte: Die effigies des Erzbischofs habe 1468 angefangen, enorm zu schwitzen und eine Menge wohlriechender, ölähnlicher Flüssigkeit abzusondern. 90 Das Grabmal aktivierte sich selbst, ähnlich wie rund hundert Jahre später der mit einem lächelnden Gesicht gekennzeichnete Leichnam Kostkas bei der Öffnung des Grabs 1570, also zwei Jahre nach dem Tod des giovane incorotto, einen süßen, ›paradiesischen‹ Geruch von sich gegeben haben soll. 91 Die angebliche Handlungskraft des Glatzer ErzbischofGrabmals kann jedoch deutlich als ein akutes Politikum angesehen werden – anders als die für die Bestärkung der Novizen erwünschte ›ewige Jugend‹ des römischen Jesuitenheiligen, der nur achteinhalb Monate lang Jesuit war, dafür aber bereits 1605 seliggesprochen wurde. Bei dem wundersamen Glatzer Ölausfluss im 15. Jahrhundert handelte es sich um ein taktisches Manöver: Die Stadt Glatz wollte der anti-hussitischen Exkommunikation entgehen, die durch den in der schlesischen Bischofsstadt Breslau residierenden päpstlichen Legaten Rudolf von Rüdesheim gegen die gesamte Region als Teil der Krone Böhmens ausgesprochen worden war. Dies belegen auch Ausführungen Balbins, der in diesem Kontext über die »Tränen« schreibt, die Ernst von Pardubitz wegen der Übernahme des böhmischen Königsthrons durch den hussitischen König Georg von Podiebrad 11 Jahre zuvor und wegen der damit verbundenen Übertragung der häretischen Herrschaft auf das zu Böhmen gehörende Glatz vergossen habe. 92 Durch diese wunderwirkende Intervention via Grabmal soll der Prager Erzbischof sich um die Interessen seiner ›privaten‹ Kirche und der dazugehörigen Gemeinde gekümmert haben. 93 Eine derartige physiologische Animierung des Bildnisses des Erzbischofs, das als Bildmedium mit existenziellen Merkmalen einer agierenden Person versehen wurde, trug zum Erfolg und zur historischen Beständigkeit dieses lokalen politischen Mythos vom katholischen

89 Ebd., S. 79 – 87 (»Was hingegen Ernestus für Ehr / Dienst / und Dankbarkeit U. L. Frauen / und dann in specie unserem Gnaden=Bild erwiesen«). 90 Siehe u. a. Mrozowicz 2002, S. 202 – 203; Hledíková / Zachová 1997, S. 96 – 99. 91 Vgl. Bartoli 1670, S. 200 – 201. Kostkas Bildnisse sollen auch geweint und geschwitzt haben, siehe ebd. S. 371 ff. 92 Vgl. Kubín 2005, S. 93 – 106; Czechowicz 1997, S. 180 – 181. 93 Czechowicz 1997, S. 179 – 181.

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Widerstand gegen die Häresie bei. Sie stellte einerseits einen Bezug zur älteren Tradition der süßlichen Körpergerüche und -flüssigkeiten dar: Beispielsweise soll 24 Tage nach dem Tod der Leichnam von Bernhardin von Siena im Jahr 1444 durch die geschlossene Truhe ununterbrochen geblutet haben, obwohl 27 Jahre später festgestellt wurde, dass der Leichnam unversehrt geblieben war. 94 Andererseits lassen sich die genealogischen Züge der Aktivität des Glatzer Grabmals auf einer weiteren Ebene verfolgen, denn es zeigt sich eine Verwandtschaft des Ölausfluss-Phänomens mit dem katholischen Topos des politisch ›sprechenden‹ Leichnams. Die mit ihrer erschreckenden Physiologie ›mahnenden Gräber‹ der römischen Basiliken, so wie sie Agostino Paravicini Bagliani beschreibt, hatten mindestens seit dem 12. Jahrhundert Einfluss auf die aktuelle Kirchenpolitik, indem sie den nahen Tod des aktuell regierenden Papstes verkündeten. 95 Zu einem der Hauptprotagonisten dieser Geschichten wurde Silvester II. in der Basilika San Giovanni al Laterano, der in solchen Fällen mit seinen Knochen für Lärm sorgte und durch den Stein seines Grabmals intensiv Wasser sickern ließ: »[. . . ] sepultusque est in Lateranensi ecclesia. Et in signum misericordie consecute sepulchrum ipsius tam ex tumultu ossium, quam ex sudore presagium est morituri pape, sicut in eodem sepulchro est litteris exaratum«. 96 Solch eine Animierung des Leichnams oder der effigies ist übrigens als ein instrumentalisierter Widerhall uralter Praktiken der Wahrsagerei anzusehen. Gerade das ›Schwitzen‹ der Figuren wie auch ihre Autodestruktion angesichts der (nicht nur) dem Dargestellten drohenden Gefahr angesichts des kommenden Krieges waren zu einem festen Topos der antiken und mittelalterlichen Bilderwelt geworden. Erinnert sei unter anderem an die in Zypressenholz gemeißelte Figur des Orpheus am mythischen Bestattungsort des berühmten Sängers im makedonischen Leibethra, die angesichts der Kriegskampagne Alexanders des Großen, wie Plutarch beschreibt, sich große Sorgen gemacht hat und anfing enorm zu schwitzen. 97 Wie wir jedoch im Glatzer Fall sehen, war laut der historiografischen Überlieferungen nicht nur eine Figur als Mittel der Repräsentation oder ein Leichnam im Grabe als leibliches Überbleibsel, sondern auch das gesamte Objekt des sepulkralen Monuments dazu fähig, als ein eigenständiges Subjekt mit seiner übertragenen, körperähnlichen Physiologie die aktuellen Ereignisse zu kommentieren und die kommenden zu prophezeien. Somit wurde Ernst von Pardubitz bereits 1468 auch im physikalischen Sinne nach seinem Tode aktiv und bestätigte nachträglich den Zweck seiner Memoria. Dass die aus dem steinernen Grabmal ausgeflossene Flüssigkeit damals sorgfältig mit Löffeln gesammelt und im Nachhinein Rudolf von Rüdesheim als Reliquie präsentiert wurde, ist als Konsequenz einer 94 Vgl. Krass 2012, S. 104 – 109. Auf dieses Wunder berief sich später Bernhardins Freund Johannes von Capestrano, Leiter der anti-hussitischen Mission in Schlesien, in seinen zugleich anti-jüdisch ausgerichteten Predigten von 1453. 95 Paravicini Bagliani 1997, S. 34 – 37. 96 MGH SS, S. 598. Der Leichnam von Silvester II. soll 1684 als intakt im Grab entdeckt worden sein: Gardner 1992, S. 33. 97 »[. . . ] simulacrum orphei cupressinum per istos ipsos dies multo sudore fluxit«; Plutarch, Vitæ, XIV, 4.

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modellhaften Verschmelzung beider Aspekte der posthumen Erscheinung im Grabmal des Prager Erzbischofs im Mittelalter anzusehen – in der sepulkralen effigies und in Reliquien. Die rein physikalischen Eigenschaften des Körpers oder des Leichnams als Heiligtümer wurden in diesem Fall auf das Bildnis als agens übertragen. Die ölartige Substanz, wie alle Quellen übereinstimmend betonen, hatte nicht zufällig von sich aus einen dem menschlichen Schweiß ähnlichen Geruch, bereichert um eine Note der Süße, die für viele exhumierten Leichname der Märtyrer und Reliquien von Heiligen ein fester Bestandteil der translatioProgramme war. In Übereinstimmung mit dieser Verherrlichungsstrategie erwähnte Johann Miller 1690 das Grabmal Ernst von Pardubitz’ in einer Reihe mit verschiedenen Reliquien frühchristlicher Märtyrer, die in der Glatzer Kirche aufbewahrt blieben und die schließlich unter anderem in den Loyola- und Franz-Xaver-Altären ihren Platz fanden. Als eine Bild-Reliquie wurde das sepulkrale Bildnis des Erzbischofs folglich zum Sprecher seines letzten Willens gerade durch den süßen Ausfluss aus seinem steinernen Bildkörper. Dieser wurde infolgedessen – wie Balbin 1664 emphatisch feststellt – zu einem Träger der von Maria als Opfergabe gewünschten öl- und honigartigen Süßigkeit: »ante Ejus effigiem mellificavit«. In dieser »mellificatio« – einem interessanten Pendant zur lactatio – lässt sich eine erotische Komponente der Süße erkennen, für die sich tief verwurzelte Präzedenzen finden lassen. Einerseits kann man darin ein Überbleibsel frühchristlicher Opferpraktiken sehen, in denen die forma der Eucharistie – des Sakraments der Gabe und Gegengabe – mit Verwendung von Honig und Milch als Akzidenzien gestaltet wurde. Dafür finden sich wiederum Vorbilder in den antiken Riten der dionysischen Opfergaben, in denen Honig neben Milch, Mark und Nektar als ›Speise der Götter‹ und kulinarisches Verbindungsmittel zum Jenseits fungiert. 98 Andererseits bestimmte die durch den Körper eines Visionärs fließende honigartige Welle der Süße bereits seit den mystischen Erscheinungen der mittelalterlichen Klosterfrauen die innige Verbindung zum erst ersehnten und dann plötzlich auch gesehenen heiligen ›Zielobjekt‹. Zu einem späten Erben dieser Tradition wurde natürlich der doctor mellifluus, Bernhard von Clairvaux. Er wird traditionell dank der rhetorischen Kraft seiner Lehre zum christlichen Nachfolger der großen ›heidnischen‹ Dichter und Denker wie Platon oder Pindar, denen die Bienen seit der Geburt den Honig auf die Lippen setzten. 99 In der berühmten Inszenierung von Joseph Anton Feuchtmeyer in der Wallfahrtskirche Neu-Birnau am Bodensee von 1748 bis 1750, wo in einer Rokoko-Auffassung Bernhard von Clairvaux zusammen mit dem ›Honigschlecker‹ dargestellt wird, wurde diese Tradition jedoch umgeleitet. Wie David Ganz beschreibt, wird Bernhard in diesem Bild nicht wegen der rhetorischen Gabe, sondern gerade wegen der dezidiert kulinarischen Dimension des alten Topos der honigartigen »Dulcedo Dei« im Akt der Erkenntnis Gottes ausgezeichnet. 100 In

98 Usener 1902, S. 177 – 195. 99 Ebd., S. 179. 100 Ganz 2004, S. 172 – 218.

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Glatz scheint dieser durch die mittelalterlichen Mystikerinnen bekannte Modus der erleuchtenden Erkenntnis durch sinnliche Erfahrung ebenfalls, so wie später in Neu-Birnau, auf das männliche Subjekt übertragen worden zu sein. Oder genauer gesagt: auf das jugendliche, denn der Prager Erzbischof tut doch in seinem Grabmal nichts anderes, als sich als kirchlicher Würdenträger durch die stiftende Macht seines Amtes im Rahmen einer inszenierten posthumen Kompensation wieder in ein gehorsames Kind zu verwandeln. 101 Die Jesuiten, die sich bekanntlich bereits am Anfang des 17. Jahrhunderts in ihrer Kollektivität als ein von Rom ausgehender, sich selbst reproduzierender und nach vorne ausdehnender fleißiger Bienenschwarm begriffen, 102 scheinen sich hier einer ähnlichen Allegorese des Honigs zu bedienen, wie sie zeitgleich durch die Zisterzienser wieder aufgegriffen wurde. Augustin Sartorius fügte in seinem in Prag 1706 herausgegebenen Apiarium Salemitanum, einer Jubiläumsschrift zur Zisterzienserabtei Salem (Salmansweyl), dem Patronatskloster der Birnauer Wallfahrtskirche, noch eine Bedeutung der Honig-Topik hinzu. Wenn er die Dependenzen der Filialen aller Zisterzienserkloster im Rahmen der Familia Cisterciensis gleich in der Vorrede seines Buches beschreibt und Bernhard von Clairvaux selbst als einen »allerweisesten Regulus oder Bienen-Weisel« bezeichnet, definiert er folglich alle Zisterzienserklöster als »Apiaria oder Bienen-Stöcke«, die nach der Regel der Obrigkeit und Subordination ihre Filialrechte wie »Kindes-Nahmen« annehmen. Dadurch wurde der Begriff ›mellifluus‹, der sich ursprünglich auf die geschickte Redeweise Bernhards bezog, in einen Urtyp der fließenden Entwicklung der Genealogie des gesamten Ordens umgedeutet: »Wo der Vater mit Hönig fliesset, müssen die Kinder Honig saugen und folgsam Bienlein seyn.« 103 Die mystische Erfahrung wurde im Rahmen der Ordensfamilie in die kindliche Unschuld als ein christliches Ideal des organisierten Zusammenseins im Gehorsam umgearbeitet. 104 Die Idee einer auf lokale Begebenheiten projizierten, vom göttlichen Honig durchströmten Gemeinschaft unter der Leitung eines mittelalterlichen Erzbischofs muss den Glatzer Jesuiten aufgrund dieser bereits vorhandenen Schichten der Bienenmetaphorik sehr attraktiv erschienen sein.

101 Balbin 1664, S. 382. Usener 1902, S. 191 – 193, schreibt über Milch und Honig als übliche Speisen für Säuglinge; in diesem Kontext sind die Täuf linge als Kinder in der Gemeinschaft zu bezeichnen: »Der Christ gewinnt durch die Taufe die Sohnschaft Gottes; geboren von sterblichen Eltern, streift er im Wasser der Taufe das Irdische ab und wird wiedergeboren zu einem Sohne Gottes, zu einem göttlichen und zur ewigen Seligkeit berufenen Wesen. Dessen zum Zeichen wird der Täuf ling mit Milch und Honig gespeißt nicht nur symbolisch sondern auch sacramental, indem die göttliche Speise unmittelbar das göttliche Wesen des Neugeborenen bekräftigen hilft« (S. 193). 102 Vgl. Grinda 2002, S. 959 – 995. Zum berühmten Flugblatt Jesuitischer Bienenschwarm von 1623 siehe Sawilla 2013, S. 150 – 156 (der Autor verkennt allerdings den offensichtlichen Sinn dieses Blattes als scharfe protestantische Satire aus der Zeit des Friedrich von Pfalz und leitet aus dem dem Text beigefügten Bild, in dem dieser als Löwe die Jesuiten nach Rom vertreibt, den Sinn der jesuitischen ›Selbstkonstitution‹). 103 Sartorius 1708b, Vorrede, S. 1 unnummeriert. 104 Zur Bienengesellschaft als Sinnbild und Denkmodell des Staatlichen vgl. Peil 1983, S. 166 – 301.

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Um die ›mystische‹ Genese des Ausflusses aus dem Grabmal zu untermauern, haben die Jesuiten schließlich den süßen und angenehmen Geruch dieser Substanz für einen festen Beweis dafür gehalten, dass der im Grabmal verborgene Leichnam von Ernst von Pardubitz nicht verwest – wie etwa die hier anfangs erwähnten undiskutierbaren reliquienartigen Heiligenkörper. Wie Balbin im Kontext des schwitzenden Grabmals schreibt: »Mira in hoc sepulchro Dei opera latere affirmant Glacenses, & fortasse aliquando sacri corporis incorruptio apparebit.« 105 Hier wird auch der Unterschied zu allen bisherigen heiligen Erfahrungen mit Honig sichtbar: Er besteht im Fall von Pardubitz darin, dass die süßliche Substanz direkt von seinem eigenen ›Körper‹ stammt, das heißt, sie wurde nicht während einer Vision rezeptiv oder imaginativ erfahren, sondern ist als ein produktiver Faktor der Leibesextension anzusehen. Sie floss aus dem sozialen Ersatzkörper aus und sollte somit als eine Gabe aus dem innigsten Leib des im Stein gebannten Verstorbenen verstanden werden, der wiederum auf diese Art und Weise, physikalisch, seinen Willen zu verkünden vermag. Die eigenständige Aktivität des sepulkralen Bildnisses dient also dazu, die Episode des sich abwendenden Bildnisses von Maria Advocata als eine tatsächliche Geschichte nachträglich glaubhafter zu machen. Präsentiert wurde dadurch eine Kette von sich gegenseitig bedingenden und aufeinander reagierenden Bildern, die schließlich den Betrachter zum Bilderkult anregen sollen. Die Grenzen zwischen dem bewussten Subjekt, dem sichtbaren Körper und dem repräsentierenden Bildnis verschwimmen, so dass sich am Ende dieser Kette der Betrachter selbst, geleitet durch den gemeinsamen Gesang während der visionären Perpetuierung der Geschehnisse, innerhalb eines kollektiven homogenen Körpers der Glaubensgemeinschaft als Subjekt eines in Liebe und Gehorsam ergebenen Kindes auf lösen sollte. In diesem Kontext kann auch die zweite wunderbare Erscheinung am Grabmal des Erzbischofs interpretiert werden, nämlich der ungewöhnlich lange dauernde Prozess des Zerfalls des Monuments, der zu seinem jetzigen, höchst fragmentarisch erhaltenen Zustand beigetragen hat. Diesen haben die Jesuiten in der Zeit ihrer Administration der Glatzer Kirche sorgfältig zu dokumentieren versucht (Abb. 119, 120). 106 Der Zustand der Tumba und der effigies in Balbins Zeiten lässt einen früheren Akt des Bildersturms vermuten – abgebrochen sind vor allem der Kopf und die Arme, es fehlen auch die heraldischen Insignien, wie in diesem Fall der Kopf des Löwen zu den Füßen der Figur. Es sind also typische Merkmale einer gewaltsamen Aktion, die auf eine Entfernung der mit Ausdrucksmacht ausgestatteten Körperteile eines Bildes zielt – was deutlich auf eine bewusste Zerstörung hinweist. 107 Bevor die Jesuiten 1625 die Glatzer Kirche übernahmen, verblieb sie in den Jahren 1562 – 1591 in den Händen der Protestanten. Sie wurde zudem im Dreißigjährigen Krieg beschädigt; es wäre

105 Balbin 1664, S. 325. 106 Die erste Erwähnung des Zerfalls: Aelurius 1625, S. 283, 290. Vgl. Mikołajczak 2005, S. 243 – 259; Kubín 2005, S. 93 – 106; Czechowicz 1997, S. 187; Zr˚ubek 1985, S. 33 – 38; K˛ebłowski 1970, S. 96 – 98; K˛ebłowski 1969, S. 81 – 85. 107 Siehe Freedberg 1985, S. 33 – 35.

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Abb. 119: Grabmal von Ernst von Pardubitz (Dokumentation des Zerfalls), in: Bohuslav Balbin, Vita venerabilis Arnesti, 1664.

Abb. 120: Grabmal von Ernst von Pardubitz (Dokumentation des Zerfalls), in: Johannes Miller, Historia Beatissimae Virginis Glacensis, 1690.

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also durchaus denkbar, dass damals auch die Grabfigur teilweise zerstört wurde. Zwar ist der Kopf der Figur auf dem Bild in Balbins Buch im Jahr 1664 – anders als 26 Jahre später bei Miller – noch an seinem richtigen Ort zu sehen, die Glaubwürdigkeit dieser letzteren grafischen Überlieferung muss jedoch angesichts des leidenschaftlich aufgebauten Narrativs des missionierenden Geschichtsschreibers kritisch hinterfragt werden. Für eine Identifizierung des Lesers mit dem mittelalterlichen Helden bildete jedenfalls sein monumentales, immer noch mit einem schauenden Gesicht ausgestattetes Bildnis eine gute Grundlage. Ein Zerfall des Grabmals lieferte wiederum ebenfalls ein geniales Argument gegen eventuelle Vorwürfe der Idolatrie, waren doch in der Glatzer Inszenierung insgesamt die historische Aktion, der Dialog der Bilder und schließlich deren schwindende Materialität und nicht nur ihr Eigenwille von Bedeutung. Die Aufmerksamkeit war in diesem Arrangement nicht nur auf eine zentral positionierte, kostbare Kultfigur oder ein prächtig ausgestattetes Stiftergrabmal fokussiert, sondern auf eine Interaktion zwischen den beiden Bildern. Laut der jesuitischen Auslegung zerbricht also der Stein von selbst, ganz anders als der darin verborgene Leichnam, der laut Balbin gerade wegen der süßen Flüssigkeit einen corpus incorruptus gebildet haben soll. Die Allegorese dieses Phänomens wurde mit der Zeit erweitert und universalisiert. Der Zerfall wurde durch katholische und auch protestantische Geschichtsschreiber als Zeichen des von Ernst von Pardubitz auf diese Art und Weise angekündigten Weltuntergangs gesehen: Im Moment seiner vollkommenen Selbstzerstörung sollte eine religiöse Wandlung nach der großen Krise stattfinden und folglich das Ende dieser Welt kommen, mitsamt der parousia von Christus und der endgültigen Berechnung von guten Taten und Sünden. 108 Durch diesen angeblichen Selbstabbau soll sich wieder, so wie im Fall des Ausflusses, die Reaktion des Bildes auf die historischen Ereignisse manifestieren: Die Sorge um das Schicksal der sich in einem kritischen Moment befindenden katholischen Kirche muss der verstorbene Stifter in einer Form äußern, die die Krise des Kollektivs sichtbar macht. Dies tut er gerade durch den Zerfall seines eigenen Grabbildnisses, seines für die posteritas als Garant der Einheit dienenden repräsentativen Ersatzkörpers, der seit jeher eine Legitimierung für den Status der Glatzer Kirche lieferte. Der durch das Grabmal bildlich substituierte Bischofskörper gilt somit als eine komprimierte Formel der Welt, ihre sagenhafte Kondensation. Die Kirche bricht auseinander, weil ihr steinerner Patron auseinanderfällt. Der endgültige Abbruch des Steins als ein definitiv transitorisches Moment stellt eine Parallele zu der Finsternis und dem zerrissenen Vorhang im Moment der Kreuzigung Christi (Mt 27,45; Mk 15,33; Lk 23,44) dar. In diesem Sinne erhält Ernst von Pardubitz als Würdenträger seine letzte ›Investitur‹ durch eine absolute ›Devestitur‹: Das ersetzende Bildnis wird als eine Hülle auseinanderfallen, das Bedürfnis der körperlichen Substitution wird endgültig verschwinden, die Zeit wird zu ihrem Ende kommen und die ewige incorruptibilitas konsequent ohne Hüllen erscheinen lassen. Insofern weicht die jesuitische Interpretationsweise dieses Grabmals mit ihrer politischen und eschatologisch-endzeitlichen Aussage 108 Balbin 1664, S. 380 – 381 (hier eine Diskussion mit Aelurius 1625, S. 289).

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beträchtlich von den späteren sepulkralen Darstellungsmustern des 18. Jahrhunderts ab, bei denen Grabmäler oder Epitaphien mithilfe des Motivs vom zerbrechenden Stein als scheinbar ephemere Werke erscheinen, deren auf die Materialität des Diesseits konzentrierte funerale Dialektik entweder auf die Darstellung der barocken Unsterblichkeit der als Phönix aus der Asche über dem Stein aufsteigenden Seele zielte oder als ein Mittel dazu diente, das aufgeklärte transzendente Dasein eines Individuums zu manifestieren. 109 Der Selbstabbau des Glatzer Grabmals lässt sich dagegen als Ausdruck, als eine Idee der Kollektivität verstehen, die in einem Zerfallsprozess die gefährdete christliche Gemeinschaft symbolisch darstellt. Durch die Kuriosität dieser Selbstaufopferung – eines Martyriums des Bildes in seiner Auseinandersetzung mit der Zeit – soll umso mehr die Stärke der Botschaft des Verstorbenen zum Vorschein kommen. Im Endeffekt wird diese Memoria irgendwann schließlich zu einer Inversion von sich selbst, da die Bildlichkeit der effigies sich vollkommen auf löst und die steinerne Gestalt des Erzbischofs überhaupt nicht mehr erkennbar sein wird – am Ende der Zeit ist keine Erinnerung mehr nötig. Daher erhält der Selbstabbau, oder eher der Übergang von der Figur in das rohe Material, eine Legitimation aus erster Hand: Es ist eine Selbstlegitimation, die den Prager Erzbischof in seiner Entscheidungsmacht sogar noch post mortem würdigt. In diesem Rahmen ähnelt die effigies wieder einem Körper, denn die Geschichten von fragmentierten Körpern gehören zum festen Repertoire der mittelalterlichen Märtyrervitae und des institutionalisierten Reliquienkultes. Ein bewusster Einfluss auf eigene Fragmentation kommt in diesem Kontext jedoch relativ selten vor. Die Determination der Märtyrerkörper, sich posthum eher gegen die Fragmentierung zu verteidigen beziehungsweise nach der Fragmentierung sich wieder effektiv zusammenzusetzen, ist in solchen Fällen durch das Ritual oder eine anderweitige Verpflichtung konditioniert. Als ein Beispiel des selbstbewussten Märtyrerkörpers könnte der bereits thematisierte Leichnam der Valerie von Limoges oder jener der von Niccolò Menghini im Altar der römischen Kirche SS. Luca e Martina inszenierten enthaupteten Martina zitiert werden. 110 Obwohl es sich bei den Körpern dieser beiden frühchristlichen Märtyrerinnen natürlich, im Sinne einer Antithese, um verkehrte Spiegelungen des Grabmals von Ernst von Pardubitz handelt, da sie den gewaltsamen Vorgang der Enthauptung durch das Halten des eigenen Kopfes gerade umkehren wollen, wird die durch den fragmentierten Körper des Verstorbenen geäußerte Verfügungsmacht über sich selbst ähnlich sichtbar. In der Glatzer Memoria zerfällt also der steinerne soziale Körper vor dem Hochaltar, um – paradoxerweise – als eine Verkörperung der Gemeinschaft im vollen Sinne anerkannt zu werden und dem Ort selbst eine historische Legitimation zu verleihen.

109 Siehe z. B. das Epitaph der protestantischen Familie Hohenlohe-Pfedelbach im fränkischen Öhrenbach von 1728 oder das Epitaph der Maria Magdalena Langhans von 1751 im Schweizer Hindelbank, dazu: Gampp 1995, S. 343 – 368. 110 Siehe Kap. 3.

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Auch anhand eines Ereignisses aus dem Leben des Erzbischofs kann der Unterschied zwischen der legitimierten und der nicht legitimierten Fragmentierung eines heiligen Körpers deutlich gemacht werden. Der Biograf des Ernst von Pardubitz, Valentin Krautwald, erzählt eine interessante Episode: Kaiser Karl IV. soll ein Stück von dem im Prager Domschatz aufbewahrten Finger des hl. Nikolaus, der zuvor von Papst Alexander IV. an Agnes von Böhmen nach Prag als Reliquie übersandt worden war, mit einem Messer abgeschnitten haben. Dieser Akt der divisio der verehrten Partikel – ein Akt privater Natur, denn die ganze Aktion wurde durch den Kaiser geheim gehalten – erwies sich als ein dezidiert unautorisierter Vorgang, denn der angeschnittene Finger fing zu bluten an und das Blut ließ sich nicht vom Messer wegwischen. Der Kaiser versteckte die Reliquien in einem silbernen Behälter und entfernte sich aufgewühlt vom Tatort. Ernst von Pardubitz war jedoch kurz nachher imstande, die Spuren dieser Willkürtat zu beseitigen, indem er den abgesonderten Teil der Reliquie eigenhändig wieder an den Rest ansetzte und beide Teile zusammenwachsen ließ, sodass die Partikel, die ihre Aktivität in Form eines Protests gegen die unerlaubte Fragmentierung zeigten (das Bluten), wieder in ihrem Originalzustand erschienen. 111 Diese Geschichte gibt eindeutig einen Eindruck von der Relevanz der amtlichen Befugnis im Bereich der Verehrung der heiligen Körper und lässt vermuten, dass dieser Aspekt bei der Etablierung der Legende vom Selbstzerfall des Glatzer Grabmals des höchsten lokalen Würdenträgers eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt hat. Die Autofragmentierung des Körperbildes von Ernst von Pardubitz wäre aus einer bildanthropologischen Perspektive als bedeutsames Moment der Überschreitung von Mediengrenzen zu betrachten. Das Grabmal als gewöhnlicher Ersatz oder mediale Verlängerung des Körpers und Abbild seiner sozialen Dimension, wie auch als Mittel der posthumen Verherrlichung der Person, wird im Glatzer Fall als durchaus körperähnlich-ephemeres, jedoch gerade dadurch ebenso ›agierendes‹ Werk vorgestellt. Seine memoriale Funktion als Bildnis in Stein kommt somit erst im Rahmen einer einzigartigen und individuell geprägten AntiRepräsentation deutlich zum Sprechen. 112 Denn der Bildkörper als gewöhnlicher Träger der Memoria wird dabei nicht zum passiven – und wie Hans Belting im Kontext der TransiGrabmäler schreibt: permanenten – Attribut der Überwindung des natürlichen Todes durch Bildmacht, sondern selbst zu einem sterbenden beziehungsweise programmatisch vergehenden und dadurch bewussten Subjekt oder Sprecher. Im Rahmen dieser Autorhetorik wird dem Leichnam eine Lebenskraft zugesprochen, da er seine eigene Botschaft verkünden kann. Diese ist allerdings eine konstruierte Lebendigkeit des Bildnisses, das lediglich durch seine Physiologie und folglich Selbstverneinung oder sogar organische ›Verwesung‹ animiert wird. Möchte man die Gedanken von Hans Belting zu Transi-Grabmälern und den steinernen Verewigungen der verwesenden Leichname in diesem Kontext paraphrasieren, könnte man

111 Hledíková / Zachová 1997, S. 94 – 97. 112 Siehe Belting 2002, S. 44 – 52.

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sagen, dass in diesem Fall, umgekehrt, dem Bild selbst durch den Verlust an eigener Körperlichkeit eine lebensähnliche Aktivität zugesprochen wurde. 113 In Anbetracht dessen, dass das Glatzer Grabmal des Ernst von Pardubitz im Barock mithilfe verschiedener Narrativierungen und Parallelisierungen einer künstlichen Verlebendigung unterzogen wurde, ohne dass seine mittelalterliche Form dabei verändert werden musste, kann es sogar selbst als ein barockes Werk bezeichnet werden. Selbst der Fakt der Zerstörung wurde durch die jesuitische Poetik in eine produktive Tat verkehrt. Johannes Miller sieht das Grabmal in diesem Kontext als die einzige Reliquie in der Glatzer Kirche, die nicht durch Häretiker profaniert und zerstört wurde. 114 Diese Feststellung sollte nicht nur den selbst eingeleiteten Zerfall des Gisants für den Leser plausibler machen, sondern auch von der Tatsache ablenken, dass das Grabmal aller Voraussicht nach durch die Hände der Protestanten im 16. Jahrhundert zerstört worden war. Auch das Gnadenbild im Altar zeichnete sich, laut Geschichtsschreibern, durch Dauerhaftigkeit und Beständigkeit aus und überdauerte sowohl die Hussiten und ›Sarazenen‹ als auch die mit ihnen propagandistisch gleichgesetzten Anhänger des neuen böhmischen Aufstandes von 1618. 115 Somit wurde der Gisant des Erzbischofs, der sich dem Bildersturm entzieht, um dann den Zerfall seiner selbst eigenwillig in Gang zu setzen bzw. fortzuführen, zu einem unerschütterlichen historischen Pendant der sich bewegenden Marienfigur stilisiert. Diese mediale Konstruktion verblieb jenseits der gewöhnlichen Modi des Bilderkults und etablierte den seit den römischen Baukampagnen des 16. Jahrhunderts präsenten Gedanken zur »Produktivität der Zerstörung«. 116 Das nostalgische Bewusstsein dafür, was das Verfallen einer memorialen Anlage mit sich bringt, wuchs bereits am Anfang der Frühen Neuzeit in Konfrontation mit den drucktechnisch medialisierten Überresten der antiken Welt und führte zu diversen Sicherungs- und Erhaltungsmaßnahmen der Ruinen und der abzureißenden Nekropolen – überliefert etwa im berühmten Fall der Inventarisierung der alten römischen Basilika San Pietro. 117 Der planmäßigen Beseitigung der historischen Ruinen folgte ihre Medialisierung in Bildern als ästhetische und propagandistische Ideale. Im Kontrast dazu entschieden sich die Glatzer Jesuiten für die Variante einer ›naturbelassenen‹ Memoria, ohne das Grabmal des Erzbischofs zu sichern, zu erneuern oder wenigstens mit einem neuen Baldachin zu versehen – um eben den Kampf des Bildes mit der Natur und der Zeit zu versinnbildlichen. Insofern haben sie das ›Historische‹ der Sepultur, ihr eigenes Vergehen, ihre eigene Geschichte, gerade durch eine gezielte Enthaltsamkeit zum Sprechen

113 Belting 2002: »Die Permanenz des Bildes wird strapaziert, wenn der Stein ausgerechnet die Impermanenz der Leiche zum Ausdruck bringt« (S. 46); »Warum also ein Bild, das nicht nur den Verlust des Lebens, sondern sogar den Verlust des Körpers im Prozess der Verwesung darstellt?« (S. 47). 114 Miller 1690, S. 143. 115 Ebd., S. 111 – 113 (»Dauerhafftigkeit des Gnadenbildes«). 116 Vgl. zum Begriff: Bredekamp 2000. 117 Richardson 2008, S. 191 – 207.

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in der Jetzt-Zeit gebracht. Verhüllt durch die monumentale Folie der architektonisch inszenierten Vision, wurde das mit seiner sichtbaren Historizität (und nicht wie sonst üblich nur mit einer neuen archaisierenden Stilistik) ausgestattete Grabmal dadurch zu einem Zeugnis der heilsgeschichtlichen Homogenität der vergehenden Zeit umgearbeitet, die im Endeffekt als das immer noch andauernde katholische Zeitalter verstanden werden sollte. Das dem Zerfallen überlassene Bildnis funktionierte als eine standhafte Verkörperung dieser postulierten Universalgeschichte, als ein leibhaftiger Prüfstein ihres kontinuierlichen Verlaufs zwischen den Epochen. Diese Interpretation wird durch die Deutung eines zusätzlichen Elements bekräftigt, das von den Jesuiten als Teil der rekonstruierten Memoria geplant war. Die körperphysiologische Eigenschaft des agierenden sepulkralen Bildkörpers wurde von Balbin durch ein gereimtes epitaphium – in seinem ursprünglichen Sinne als Inschrift – unterstützt, das an der gotischen Tumba nachträglich angebracht werden sollte. In seiner Intention sollte diese Ergänzung die originale gotische Inschrift ersetzen, die – wie Balbin vermutet – durch die »impia manus« der Protestanten zerstört worden war. Diese Idee wurde jedoch nie umgesetzt, der Text blieb lediglich auf den Seiten von Balbins Biografie des Erzbischofs überliefert. 118 Die neue Inschrift fasst verschiedene Lebensphasen des Ernst von Pardubitz zusammen und bezeichnet ihn eindeutig sowohl als »Pater Patriae«, als auch als »Summi pontificatus Romae candidatus«. Diese Benennungen stimmen mit Balbins Interpretation der Mängel an der informativen Funktion des Grabmals überein: Das Fehlen der figuralen, narrativen res gestae, jeglicher Motive der Glorie oder der Machtembleme deutete der Jesuit nicht nur als Zeichen der Bescheidenheit des ersten Prager Erzbischofs. Die Schlichtheit und die in seinen Augen scheinbar gezielte Anonymität des Grabmals ließ ihn ebenfalls die einzigen Markenzeichen des Verstorbenen in den »Bohemiae antiquae faelicitas & opulentia« sehen, also in den geschichtlichen Zügen des Landes selbst, die mit ihrer Deutungshoheit alle anderen Embleme als unwürdig erscheinen ließen. 119 Die Inschrift selbst wurde allerdings nicht im gewöhnlichen Modus der kurzen Epigraphen am Rande der Tumba komponiert, sondern eher als ein ausführliches literarisches Epitaphium, das, wie Balbin betont, sich deutlich durch Einfachheit eines antiken Stils auszeichnen sollte: Arnestus mitis, durus Lapis esse recusat; Rumpitur, atq oleum Civibus esse cupit. Semper oliva fuit; nunc vitae cortice rupto, Ah! Patriae sanet vulnera crudae suae! Mira fides! Sacri curru(n)t per saxa Liquores; Qui bene olet moriens, quam bene vivus olet!

118 Balbin 1664, S. 327 – 328. 119 Balbin 1664, S. 362, bezeichnet die Wappenschilder des Königreichs Böhmen als geeignete Embleme für die Memoria des ersten Prager Erzbischofs.

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Sed vivit, fortique, probat dulcedine vitam; At tumulus qui non vixerat, hic moritur. 120 Das kurze Stück erzählt vom Erzbischof in dritter Person und enthält gleichzeitig eine deutliche Invokation zum (vorausgesetzten) Betrachter des Grabmals, der mit der Tatsache der ersehnten Wiederkehr des Patrons konfrontiert wird. Zu den Füßen des Gisants war eine kurze Aufschrift geplant, welche die Intentionen des zu belebenden Kultes ersichtlich machte: »Vtinam viveres!« Obwohl also jede Zeile im ersten Teil des Epitaphiums am Ende das Akrostichon »MORS« bildet, endet die ganze Inschrift mit einer Vision der Bekämpfung des Todes durch den Triumph über die Leblosigkeit des Grabmals selbst. Die Inschrift kann als ein Zeugnis für eine untypische Art von Transgression und Animation eines Bildnisses betrachtet werden. 121 Sie sollte an dem Grabmal angebracht werden, erzählt jedoch sowohl von dem Verstorbenen als auch von dem Grabmal selbst. Das Objekt – das Grabmal – wird ›verlebendigt‹ lediglich durch die Erinnerung an seine Teilnahme an der lokalen Geschichte; es handelt sich also um dessen Animation durch eine historischnarrative und nicht objektbezogene Ekphrasis. Der MORS-Faden, der sich durch den Text zieht, kann als Andeutung der Inversion oder der Verneinung des Lebens bezeichnet werden, die eventuell dem Bild zugeschrieben werden könnte: der Tod. Es kann die Frage aufgeworfen werden, inwieweit es sich dabei nicht nur um den Tod des Erzbischofs, sondern auch um den bevorstehenden ›Tod‹ seines Grabmals handelt. Die innere Bindung des Steins als Material und Form, die eventuell eine Animation ermöglichen würde – so wie Kolorit und Farbe als Mittel der incarnazione in der Malerei –, wird durch den bewusst und geplant herbeigeführten Zerfall verleugnet. In diesem Werk ist also eher eine Anti-Kohäsion der bildnerischen Mittel der Repräsentation und Verlebendigung zu sehen: Durch die (vermeintliche) Selbstzerstörung, durch den Verlust der inneren Bindekräfte des Bildlichen driften Form und Material auseinander, indem der repräsentierte Körper zerfällt und sich langsam der mimetischen Wiedererkennung entzieht. Die Aktivität der Glatzer effigies findet also jenseits des Phänomens der einfach simulierten ›Lebendigkeit‹ des Bildes statt. Wenn die Transgression in dreidimensionalen Bildmedien eine Überwindung der äußeren Hülle bedeuten sollte, 122 kann sie genealogisch als Effekt des kunsthistoriografischen Topos der naturtreuen Lebendigkeit in der italienischen Skulptur im Zeitalter Vasaris begriffen werden. 123 Die effigies des ersten Prager Erzbischofs befindet sich dagegen in einem Zwischenzustand und oszilliert auf

120 Balbin 1664, S. 327: »Nos ei hoc breve Epitaphium, non ostentatione ingenii, sed imitatione simplicis antiquitatis, & antiqua simplicitatis, scripsimus«. 121 Vgl. u. a.: van Eck / van Gastel / van Kessel 2014; van Eck 2011; Mitchell 2005. 122 Fehrenbach 2005, S. 18: »Das Bild springt aus seinem Rahmen, die Skulptur schlägt die Augen auf – und Künstler und Betrachter müssen die Bilanz ausgleichen«. 123 Ebd., S. 23 – 24. Vgl. in diesem Kontext zu mittelalterlichen Beschreibungen der antiken Skulpturen in Rom von Magister Gregorius, als ob sie ›lebendig‹ wären: Nardella 1998, S. 83 – 89; Camille 1989, S. 82 – 84.

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Dauer zwischen einer eher rhetorisch aufgebauten Animation und einer deutlich sichtbar gemachten Vergegenständlichung. Das Bild, das an einer Mahnung wegen des Zweifels am Bilderkult teilnimmt, verdankt also seine Rolle dem sich in einem selbst herbeigeführten Zerfall, in einer Selbstverneinung manifestierenden Gehorsam. Deshalb war in der Inschrift, außer für die Auf listung von res gestae des Erzbischofs, ebenfalls für die Erwähnung der res gestae des Grabmals Platz vorgesehen. Hier wurden durch die Jesuiten beide Ebenen der Geschichte – zwei voneinander unabhängige Fakten: der ölartige Ausfluss und die Selbstfragmentierung – im Sinne einer auf Parallelen und Kontinuitäten basierenden Universalgeschichte dargestellt und im politischen Sinne direkt in eine teleologische Verbindung gebracht. Balbin interpretierte das erste Motiv als »Tränen« des Erzbischofs, die in der Zeit vergossen wurden, als »das Vaterland von den blutigen Wunden leiden musste«. Damit ist im strikt chronikalischen Sinne die hussitische Revolution gemeint; diese Zuschreibung bestätigte jedoch gleichzeitig den tieferen Sinn der langen Aktivität des Grabmals zwischen der Hussitenzeit und der Wendeepoche des zweiten böhmischprotestantischen Aufstandes 1620 wie auch die Relevanz der darauf folgenden habsburgischen Zwangsrekatholisierung. Ernst von Pardubitz wird in dieser Auffassung direkt durch die »moerens Bohemia« beweint, durch sein eigenes Land, das selbst kurz zuvor nach der Schlacht am Weißen Berg auf den Weg der konfessionellen Auferstehung gebracht worden war. Es handelt sich dabei um die bereits beschriebene Aktualisierung der mittelalterlichen Geschichte des süßen Ausflusses aus dem Stein und der Selbstzerstörung des Bildnisses im Sinne einer Anspielung auf die Unruhen des Dreißigjährigen Krieges und auch davor. 124 Der Erzbischof wurde in der Inschrift – er selbst als Verkörperung des wiedergewonnenen Staates der katholischen Bürger – zwar als »der Milde« (mitis) bezeichnet; paradoxerweise konnte er jedoch gerade durch die selbstzerstörerische Macht, die sich bildkritisch allein in seiner effigies gezeigt hat, welche die Eigenschaften des toten und harten Steins verneinte, schließlich sogar »das Grabmal besiegen«. Dies befähigte ihn – laut jesuitischer Allegorese – zu einem anerkannten historischen Träger der kollektiven Identität. Zusammen mit anderen, in Balbins Buch auf der dem Text der Inschrift folgenden Seite erwähnten frühchristlichen Märtyrern konnte er so zu einem siegreichen intercessor der alten Konfession stilisiert werden. 125 Das sepulkrale Bildnis des Ernst von Pardubitz lässt sich also in Bezug auf seine ›Aktivität‹ jenseits der Unterscheidungen zwischen solchen Begriffen wie ›Totem‹, ›Fetisch‹ und ›Idol‹ analysieren, so wie sie die heutigen Diskurse zu den ›lebendigen Bildern‹ und zur image agency größtenteils bestimmen. 126 Bei dem Glatzer Konstrukt handelt es sich eher

124 Vgl. Piechoci´nska 1990, S. 37 – 46. 125 Balbin 1664, S. 329. 126 Mitchell 2005, S. 76 – 106. Siehe den zusammenfassenden Kommentar zur Entwicklung der von David Freedberg und Alfred Gell initiierten Debatten: Gaiger 2014, S. 340 – 359. Vgl. u. a. van Eck 2015, S. 46 – 66.

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um einen sichtbaren Prozess, der das Bild scheinbar sprechen lässt, und nicht um lebensähnliche Fähigkeiten, die der effigies autonom zugeschrieben werden. 127 Der Gisant erweist sich gerade durch seine Aktivität als Grabdenkmal; er instrumentalisiert sich selbst als ein zerstörbares Ding, als materieller Gegenstand, als vergehendes Objekt, dessen Zerfall nicht als singuläre Entropie, sondern als eine universelle Botschaft interpretiert werden sollte. Wenn Horst Bredekamp in den Ausführungen seiner Idee des Bildakts schreibt: »Offenkundig sind Bilder mehr als nur die Summe verschiedener auf sie gerichteter Perspektiven«, 128 scheint die Glatzer Inszenierung diesen durch Bilder selbst angebotenen Überschuss an Dialektik in Anspruch zu nehmen und durch den Selbstzwang den Bilderkult zu fördern, um den Betrachter dabei nicht in eine idolatrische Position zu versetzen. Das Bildnis des Prager Erzbischofs agiert durch seine Materialität, die interessanterweise mit der beinahe an Anikonizität grenzenden Unerkennbarkeit des Dargestellten zusammengeht, die konsequent eine agency auf der gewöhnlichen Repräsentationsachse: Künstler – Index – Prototyp ausschließt. 129 Dieses Bildnis wird zwar animiert, aber nur indem es mit einer auffälligen Differenz versehen wird und sich zwischen Unähnlichkeit und Unvollständigkeit auf löst. Somit führt es sozusagen eine Autopsie an sich selbst durch; es demonstriert vor den Augen des historischen Betrachters eine postmortale Anatomie des durch seine eigene Ergebenheit aus dem Jenseits ›sprechenden‹ Subjekts. In gewissem Sinne der anfangs erwähnten ›archäologisch‹ gestalteten Figur der hl. Cäcilie im römischen Trastevere ähnlich, wird in diesem Fall das Handeln lediglich dem auf seine mediengesteuerte Rezeption angewiesenen Bildnis überlassen, ohne dass eine höhere Instanz eines Prototyps diese Handlung bestimmen kann. Das ganze Konstrukt dient interessanterweise dennoch einer Rechtfertigung des Bilderkultes, indem das Bild sich selbst rechtfertigt. Die effigies des Erzbischofs will sich ebenfalls aus diesem Grund im Voraus gegen die Vorwürfe der Idolatrie verteidigen: Einerseits agiert sie im Sinne des Körpers, indem sie eine ›Körperflüssigkeit‹ von sich gibt, andererseits soll der unsichtbare Körper selbst unbeschädigt geblieben sein und seine organische Kohäsion und Beständigkeit bewahrt haben. Der darauffolgende Zerfall des Bildes ist also als eine konträre Aktion anzusehen, die wiederum doch, gemäß einem heilsgeschichtlichen Plan, eine Verneinung der körperphysiologischen Emergenz demonstriert und die Möglichkeit einer objektbezogenen Verehrung kritisch ablehnt. Die Tatsache, dass der Stein eigenwillig zerbricht, unterscheidet diese Konstruktion wieder deutlich von den italienischen Topoi der Verlebendigung der Skulptur, in denen die vivacità viva als Kreierung eines lebendigen Objekts unter anderem durch das Faszinosum der Ähnlichkeit mit dem konkreten Prototyp oder durch die Perfektionierung des Körperbaus begriffen wird, die zum Antasten als entzauberndem Prüfungsakt provoziert. 130 Wenn

127 128 129 130

Vgl. Mitchell 2005, S. 188 – 196. Bredekamp 2010b, S. 20 – 23. Vgl. Stewart 2007, S. 158 – 178; Tanner 2007, S. 70 – 94. Herman Jacobs 2005, S. 108 – 112. Vgl. Stoichita 2011, S. 75 – 87.

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Verortung und Aneignung

die Ähnlichkeit eines Bildnisses mit dem Modell erst durch den Betrachter festgestellt werden kann, entzieht sich das Bildnis des Prager Erzbischofs diesem Verfahren der Wiedererkennung, indem es sich im Voraus als ein ›geöffnetes‹, ›zerrissenes‹ Bild in einem vergehenden Material präsentiert, inklusive der Enthüllung seiner steinernen Substanzialität. 131 Hier gibt es keinen Platz für eine idolatrische Verzauberung und auch nicht für eine ästhetische Enttäuschung, denn die Evidenz der bedeutsam gemachten Objekthaftigkeit wird durch das Bild selbst geliefert, wie in dem bereits besprochenen, in rohen Stein gebannten enthaupteten Körper der Martina in ihrer römischen Kirche. Das zerbrochene Bildnis agiert jenseits der Ähnlichkeit, und somit erscheint seine Bindung an den historischen Prototyp lediglich durch die narrativ-symbolische Bildausstattung des ihn beherbergenden Raumes und durch die sphärische Hülle der anderen, rhetorisch eingesetzten Bild- und Schriftmedien. Das Bild kreiert dadurch seine eigene Geschichte und zugleich seine eigene Metaphorizität. Umso intensiver wird jedoch dadurch seine Rolle als greifbarer, reliquienartiger Gegenstand und ›archäologisch‹ fundierter Fokus des kollektiven Erlebens durch Reminiszenz innerhalb der lokalen Gemeinschaft. Die Glatzer Jesuiten bemühten sich nicht, die Vision des Erzbischofs theatralisch mit mechanisch agierenden Bildern in Gang zu setzen, die Akteure der mittelalterlichen Vision künstlich zu aktivieren oder das Marienbild tatsächlich in Bewegung zu bringen (was nicht so unüblich und sicherlich interessant auch hier gewesen wäre: ein Bildnis aus Holz, das seine eigene Gesichtsabwendung mittels eingebauter Mechanik wiedergibt). Es gab zu der Zeit auch keine wunderbaren Ereignisse, die in diesem barockisierten Visionsraum auf eine übernatürliche Kraft des Grabmals hinweisen würden. Diese erschien eher infolge eines Rückbezugs auf die vergangenen Wunder. Die Vision selbst wurde als Ereignis nicht am Objekt selbst, sondern mithilfe von anderen Mitteln narrativiert. Die in der Kirche angebrachten Bilder, die zirkulierende Grafik und weitere Bildmedien, welche die ungewöhnliche Kontaktaufnahme mit dem Bild aus den Jugendjahren des späteren Erzbischofs darstellen, lassen das Grabmal als Relikt ungestört in seiner Aura der historischen Authentizität und zugleich der andauernden Objekthaftigkeit statisch und monumental erscheinen. Die Handlung realisiert sich in der Übertragung. Die einstigen Herausforderungen des Michelangelo, dem Verstorbenen in seinem sepulkralen Porträt möglichst überzeugende Gesichtszüge zu verleihen und dieses Porträt zusätzlich durch eine am Grabmal angebrachte fiktive literarische Apostrophe des Verstorbenen zu einem ihn darstellenden Stein zu animieren – so wie in seinen Epitaphien für Cecchino Bracci (gest. 1544) –, 132 finden im Glatzer Fall keine Entsprechung. Die durch Balbin konzipierte, fiktive Inschrift des Glatzer Grabmals changiert zwischen zwei Dimensionen der Geschichte – der des Subjekts und der des Steins –, erwähnt jedoch mit keinem

131 Zur autothematischen Dialektik des Risses und Zerfalls im Bild vgl. Kapustka 2015, S. 7 – 17, wie auch andere Beiträge in diesem Band. 132 Cranston 2000, S. 168 – 191, insbes. S. 175 (»the speaking tomb«).

Politische Körperphysiologie und Selbstverneinung der effigies

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Wort den Aspekt einer repräsentativ-mimetischen Relation zwischen den beiden. 133 Diese Differenz zu den humanistischen Modi der Sepulkralpoetik lässt sich nicht nur wegen der offensichtlichen Unterschiede im Paradigma der Verewigung zwischen dem michelangelesken Humanismus und dem jesuitisch-barocken Katholizismus feststellen. Der Tod, der in der Renaissance dem eigenständigen Tun eines Individuums ein ultimatives Ende setzte, das von nun an lediglich retrospektiv kommemoriert werden konnte, wurde im Rahmen der systematischen konfessionellen Historisierung der katholischen Frühen Neuzeit durch eine prospektive, heilsgeschichtlich definierte Verlebendigung des politisierten Subjekts ersetzt. Diese Perspektive ist eine teleologische: Durch die Kollektivierung der historischen Identität weist das in seiner Mission aktive Bild vor allem auf das immer noch zu erreichende Missionsziel hin. Die Unterscheidung zwischen dem aktiven Diesseits des Kommemorierten und seinem entfernten passiven Jenseits verlor in diesem Sinne an Relevanz. Im Hinblick auf die kirchliche Subjektbildung entzieht sich das gesichtslose Bild des Prager Erzbischofs der singulären Ähnlichkeit, die stets eine idolatrische Gefahr birgt, und es tut dies, um einen Kollektivkörper aufbauen und kontinuierlich bewahren zu können. 134 Die Sprache dieses gesichtslosen Bildes ist die der Selbstkontrolle.

133 Zu dieser Relation vgl. van Gastel 2012, S. 193 – 205. 134 Der römische Pasquino wäre hier mit allem Vorbehalt als ein Vergleichsbeispiel zu erwähnen, da seine Fragmentarität durch die direkt an seinem Bildkörper angebrachten und ihn zu einem ›sprechenden Werk‹ machenden Aussagen nivelliert wurde (vgl. Bredekamp 2010b, S. 89 – 91).

6

Ausdehnung und Akkommodation Johannes von Nepomuk und die historischen Flechtwerke der habsburgischen Staatsräson

Flächendeckende Projektionen: Landschaft und Herrschaft Im Jahr 1725 hat der am Ende des römischen Barocks tätige Bildhauer Agostino Cornacchini eine monumentale Reiterstatue Karls des Großen im historisierenden Stil an der südlichen Wand der Vorhalle von S. Pietro im Vatikan ausgeführt (Abb. 121). Wie bereits zur Zeit ihrer Entstehung genau registriert wurde, fand diese Statue direkt am Ort der Krönung des fränkischen Königs als Kaiser ihren Platz. 1 Dieses Werk ist als Teil eines Ensembles zu sehen, durch das eine Kontinuität der seit dem Frühchristentum bestehenden kirchlichherrschaftlichen Allianz visuell besiegelt werden sollte. Die neue Figur bildete nämlich ein Pendant zu der früheren Reiterstatue Konstantin des Großen von Gianlorenzo Bernini von 1670 (Abb. 122), die sich noch heute direkt gegenüber an der nördlichen Wand seitlich der Vorhalle, am Treppenabsatz der ebenfalls von Bernini erbauten Scala Regia, befindet. 2 Diese beiden Reiterstatuen flankieren den Eingang zur St.-Petri-Basilika. Ihre Monumentalität wird zusätzlich durch quer schwingende beziehungsweise gelüftete und den Betrachter überragende skulptierte Vorhänge im Hintergrund hervorgehoben, mit denen die beiden mythisierten Herrscher auf theatrale Bühnen gestellt werden. Hinter den Vorhängen sind gemalte Landschaften und Architekturelemente zu sehen, hinter Karl dem Großen lassen sich auf dem Boden zudem Waffentrophäen bemerken. Durch den dramatischen Schwung der sich wölbenden Monumentalfalten dieser schweren textilen Behänge hinter den Figuren wird einerseits die zeremonielle Enthüllung der autoritären Präsenz inszeniert. Andererseits aber wird mit diesen Denkmälern narrativ eine Zeitlichkeit suggeriert, da die beiden Kaiser auf ihren Rössern vor den Vorhang beziehungsweise aus dem Bild herauszutreten scheinen, um in ihrer kolossalen Erscheinung die Aktualität ihrer Herrschaft zu demonstrieren: Durch die körperliche Überwindung dieser ästhetischen Grenze und die entsprechende Lichtregie fügen die Reiter den Raum hinter dem Vorhang mit dem Raum des Betrachters zusammen. 3 1 Simonato 2005 (2006), S. 23 – 63; Poeschel 2003, S. 673 – 703; Faccioli 1968, S. 431 – 445; Wittkower 1961, S. 464 – 473. 2 Fehrenbach 2006, S. 120 – 121; Dombrowski 2003a, S. 102 – 106; Kauffmann 1970, S. 278; Rossacher 1967, S. 2 – 11; Previtali 1962, S. 55 – 58; Wittkower 1955, S. 251 – 254. 3 Vgl. zum dargestellten Vorhang als Indikator eines Überganges: Michalski 1996.

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Ausdehnung und Akkommodation

Abb. 121: Agostino Cornacchini, Karl der Große, 1725, Vatikan, Petersbasilika, Vorhalle.

Abb. 122: Gian Lorenzo Bernini, Konstantin der Große, 1670, Vatikan, Petersbasilika, Vorhalle.

Durch die kompositorische Verwandtschaft der beiden Denkmäler und die sich zwischen ihnen abspielende, aufeinander aufbauende historische Typologie verbinden diese beiden Figuren die Basilika mit dem päpstlichen Palast. Sie visualisieren die permanente Anwesenheit der christlichen Herrscher an der Urstätte der kirchlichen Institution, am Ort ihrer höchsten Verwaltung, im Bereich zwischen Sakralraum und Residenzraum. Beide Reiterstatuen vermitteln auf eine monumentale Art und Weise die ewige Botschaft der gegenseitigen Konditionierung des institutionalisierten Glaubens und des kaiserlichen Imperiums in ihren allerersten karolingischen Anfängen der Machtentfaltung. Sie legen den Grundstein einer einheitlichen und modernen Regierungsform, da sie diese Botschaft innerhalb und für eine christlich dominierte Region intern aussenden, gleichzeitig aber extern in die ›heidnische‹ idolatrische Ferne, die immer noch unter dem prospektiven Zeichen der Konversion steht. 4

4 Vgl. den Verweis von Kauffmann 1970, S. 288 – 289, auf den königlichen adventus (siehe dazu Kantorowicz 1944, S. 207 – 231).

Flächendeckende Projektionen

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Konstantin der Große wurde von Bernini, der 1654 von Papst Innozenz X. mit der Fertigung der Statue beauftragt worden war, idealisierend und archaisierend auf einem dramatisch aufsteigenden, ungezügelten und sattellosen Pferd im Moment seiner Vision des Kreuzes dargestellt. Oder besser gesagt: Er wurde als ein von Gottesmacht überragter Visionsempfänger dargestellt und zu einer weltlichen Spiegelung des durch einen Sturz vom Pferd erblindenden und dabei augenblicklich zum Apostel Christi werdenden Saulus stilisiert. Diese Reiterdarstellung zeigt also einen nicht durch staatliche Gewalt, sondern explizit durch religiöse Erkenntnis, Hingabe und Bekenntnis erstarkenden Herrscher. Es handelt sich dabei um eine Konvergenz zweier Bildtraditionen. Einerseits wird der Topos des vom Kreuz träumenden und andererseits der Topos des bereits unter dem Kreuzzeichen die Schlacht gegen seinen Rivalen Maxentius führenden Konstantin aufgerufen. Letzterer ist in einem möglichen vatikanischen Vorbild für die Statue Berninis, dem Fresko von Raffael in der Sala di Costantino im vatikanischen Palast, zu erkennen. 5 Das Datum der Auftragserteilung für die Konstantinfigur Berninis, 29. Oktober 1654, wie auch das der Enthüllung des fertigen Monuments, 29. Oktober 1670, gehen deutlich auf das historische Ereignis des Sieges auf der Milvischen Brücke zurück, das auf den 28. Oktober 312 datiert wird. 6 Dagegen markiert der von Cornacchini 70 Jahre später statisch, auf seinem ordentlich dressierten und zeremoniell voranschreitenden Ross dargestellte Karl der Große mit seiner herrschaftlichen Pose einen deutlichen Wandel. Diese Figur zeigt einen Übergang von der ersten Konversion eines Staatsgründers zur endgültigen Stabilisierung des von Gott erteilten Machtgefüges, und zwar im Rahmen der mittelalterlichen translatio imperii jenseits des geografisch zu verstehenden römischen Bodens. Mit seiner statischen, an die Statue des Markus Aurelius erinnernden Ponderation und sparsamen Gebärdensprache verkörpert die Figur des fränkischen Kaisers, anders als die des in sichtbarer Unruhe und mit Dramatik der Wandlung dargestellten Konstantins, die Zeit der bereits etablierten und gefestigten christlichen Macht: Der Kaiser wird als Herrscher gezeigt, der die Grenzen seines Imperiums nicht erst ziehen, sondern eher im Sinne der bereits nach außen gerichteten conversio anderer Völker ausdehnen, erweitern und mit entsprechenden Streitkräften sichern muss, um den imperialen Frieden zu garantieren. Die Aufstellung dieser zweiten, wegweisenden Figur des hochmittelalterlichen Herrschers, mit dem das Ende der Gründungszeit des Christentums und ein Übergang vom Aufbruch in die Konsolidation manifestiert wurde, ist 1725 als eine symbolische Besiegelung der erfüllten Historizität der päpstlich-kaiserlichen Allianz zu einem wichtigen Element der Zelebrierung des durch Papst Benedikt XIII. ausgerufenen Heiligen Jahres geworden. 7 Die zeitliche Dimension des frühen und des hohen Mittelalters wurde bis in die barocke Gegenwart verlängert, indem die Person des fränkischen Königs und römischen Kaisers Karl des Großen auf die zeitgenössische Idee des christlich5 Vgl. Kap. 2, Anm. 157. 6 Kauffmann 1970, S. 289. 7 Quinza 1725. Vgl. Kauffmann 1970, S. 281; Keutner 1958, S. 37 – 42.

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Ausdehnung und Akkommodation

kaiserlichen Imperiums projiziert wurde. Entscheidend ist dabei allerdings nicht nur die historiografische Steuerung der Geschichte, sondern auch die bildliche Praxis der Historisierung des erfahrbaren Raumes, und zwar im Sinne einer Übertragung des Lokalen auf das Globale im Zeichen der zeitlosen Vereinheitlichung der theokratischen Machtverhältnisse. * Diese Ausdehnung der Vergangenheit, die nicht nur historiografische Modelle lieferte, sondern eine konkrete Auswirkung auf die Territorialpolitik hatte, wird hier anhand der Karriere einer medialisierten Persönlichkeit aus dem 14. Jahrhundert verfolgt, die im Barock zum Zweck der durch die Kirche unterstützten kaiserlichen Expansionspolitik aufgewertet wurde: Es ist die Geschichte der Instrumentalisierung des böhmischen Heiligen Johann von Nepomuk (um 1350 – 1393) durch habsburgische Herrscher im 18. Jahrhundert. Nepomuk wurde am Ende des 14. Jahrhunderts, in der Zeit des abendländischen Schismas, zum Opfer kirchlich-herrschaftlicher Kompetenzstreitigkeiten zwischen dem böhmischen König Wenzel IV. von Luxemburg und dem Prager Erzbischof Johann von Jenstein. Nachdem er 1393 als Generalvikar des Prager Doms sein Amt ausgeübt und im kirchenrechtlichen Konflikt um das in Westböhmen neu zu errichtende Bistum Kladrau im Interesse des Erzbischofs agiert hatte, wurde er auf Anordnung Wenzels verhaftet, gefoltert und schließlich im Zentrum der Stadt von der Karlsbrücke in die Moldau geworfen. 8 Umgeben von fünf Flammen auf der Wasseroberfläche, die sich in der frühneuzeitlichen Ikonografie in fünf Sterne umdeuten ließen und zum Emblem des im Jahr 1721 selig- und 1729 heiliggesprochen Märtyrers geworden sind, wurde im Barock der im Strom des Flusses treibende Leichnam Nepomuks zur populären Bildfigur der an einem historischen Ereignis orientierten Devotion. 9 Obwohl ein Echo der politischen Ereignisse um Nepomuks Tod im Barock in den typologischen Darstellungsmodus des kirchlich-herrschaftlichen ›Duells‹ der historischen Akteure Eingang fand, 10 wurde der böhmische Proto-Märtyrer durch seine in den habsburgischen Ländern beinahe omnipräsente Ikonografie vor allem als Patron contra infamiam gewürdigt, eine Ikonografie, die auf einer populären Legende aufbaute, nach der der spätere Heilige das Beichtgeheimnis der Königin nicht verletzen wollte und daraufhin vom zornigen Herrscher getötet worden sei. 11 In der vorliegenden Abhandlung wird jedoch nicht der inzwischen seit Dekaden gut erforschten barocken Nepomuk-Ikonografie gefolgt. Eher ist hier ihre gezielte Instrumentalisierung und ihre markante Neukontextualisierung von Interesse: Die Geschichte des Proto-Märtyrers, so wie sie in einen bildlichen Diskurs umgesetzt wurde, wird

8 9 10 11

Siehe zusammenfassend: Seibt 1971, S. 16 – 24. Baumstark / von Herzogenberg / Volk 1993, S. 196 – 197. Vgl. Kap. 1. Daher wurde die Zunge des Heiligen zu einer verehrten Reliquie und seinem ikonografischen Emblem; siehe Seibt 1971, S. 16 – 24.

Flächendeckende Projektionen

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Abb. 123: Agostino Cornacchini, Johannes von Nepomuk, 1731, Rom, Milvische Brücke.

in den folgenden Abschnitten als ein politisches Kapital im Zeitalter der territorialen Selbstausdehnung eines absolutistischen Staates untersucht, der im Rahmen der Rekatholisierung eines der eigenen Kronländer auf Aneignung lokaler Traditionen setzte. Dabei erweist sich die Persönlichkeit von Nepomuk als ein nicht nur lokal, sondern bereits global einsetzbarer historischer Agent der symbolischen Legitimierung der kaiserlichen Landespolitik. Als 1731 in Rom von dem jesuitischen Kardinal Juan Álvaro Cienfuegos Villazón, einem Botschafter Karls VI. im spanischen Erbfolgekrieg, eine Statue des böhmischen Brückenheiligen Johann von Nepomuk enthüllt würde (Abb. 123), war die zwei Jahre davor erfolgte Heiligsprechung des böhmischen Märtyrers sicherlich nicht der einzige, wenn auch der sichtbare Anlass dazu. Die Skulptur, ausgeführt durch Agostino Cornacchini, wurde gestiftet von dem in Glatz geborenen Kardinal Michael Friedrich von Althann, der als kaiserlicher Gesandte beim päpstlichen Hof tätig und selbst an dem Heiligsprechungsprozess Nepomuks beteiligt war. Sie wurde im Norden aufgestellt, am Rande des heutigen historischen Stadtkerns Roms, zur damaligen Zeit zwei Meilen nördlich der Stadt und jenseits aller ze-

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Ausdehnung und Akkommodation

Abb. 124: Giambattista Piranesi, Milvische Brücke in Rom, 1762, Kupferstich.

remoniellen Prozessionsstrecken. Der Ort allein war jedoch mehr als symbolträchtig: Die Statue fand ihren Platz an der zu dem Zeitpunkt mit keinen anderen Figuren geschmückten Milvischen Brücke am Anfang der antiken Via Flaminia (Abb. 124). 12 Dies mag zunächst nicht ungewöhnlich erscheinen, wurden doch Statuen des böhmischen Heiligen vor allem auf Brücken aufgestellt, da sein Martyrium im Ertränken in der Moldau ein Ende fand. Anders als die anderen Brücken in Europa mit Figuren Nepomuks stellte diese in Rom jedoch den ersten Gedächtnisort des institutionalisierten Christentums dar. Denn gerade der an dieser Brücke im Kreuzeszeichen erlangte Sieg Konstantins des Großen über Maxentius 312 und das darauffolgende Toleranzedikt 313 ermöglichten den staatspolitischen Aufstieg des Christentums als eine katholische Religion im ganzen römischen Westreich. Der in der Verehrung des Kreuzes versenkte böhmische Heilige markierte als Opfer eines ›proketzerischen‹ böhmischen Königs über 1400 Jahre später – gleich einer historiografischen Klammer – den teleologisch zu interpretierenden Erfolg des politischen Katholizismus in ewiger Allianz zwischen Kirche und Monarchie. Es war eine erneute Bestätigung des am Anfang des Kreuzeskonzepts stehenden katholischen labarum 13 und somit ein endgültiges

12 Volk 1993, S. 31 – 32. Vgl. Faßbinder / Brückler 2006/2008, S. 93 – 128; Kultzen 1979, S. 121. Die Statue wurde 1840 auf die andere Seite der Brücke versetzt. 13 Vgl. Einf., Anm. 4.

Flächendeckende Projektionen

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Zeichen der Erfüllung des konstantinischen IHS als »in hoc signo (vinces)« direkt vor Ort. Insofern es sich bei dem Kreuz um ein dem Nepomuk nachträglich zugeschriebenes Attribut eines mittelalterlichen Märtyrers handelt, ein symbolisches Zeichen der Wiederholung des Schicksals Christi, kann die Rückführung seiner sekundären Bedeutung an den Ursprungsort des konstantinischen Kreuzsieges als staatspolitisches Emblem im Sinne einer Andeutung der Erfüllung von Universalgeschichte verstanden werden. Das Kreuz, ein Attribut des Märtyrers aus der Provinz, wurde damit als Signum der konsequent fortschreitenden christlichen Heilsgeschichte inszeniert, die im Einklang mit der herrschaftlichen Erfolgsgeschichte der imperialen Staatsausdehnung zwischen Rom und dem Rest Europas steht. Wie wir in diesem Kapitel sehen werden, wird dieser Anspruch mithilfe von Nepomuk auch interkontinental übertragen. Das Einschreiben des ursprünglichen politischen Kontexts des mittelalterlichen Märtyrers aus Böhmen in die sakrale Topografie der Ewigen Stadt erfolgte im Zuge einer generellen Anbindung der christlichen Geschichte an die Topografie Roms und mithilfe der sich auf konkrete Orte beziehenden öffentlichen Monumente. Die beiden hier signalisierten Aspekte – die Neuentdeckung der Historizität der lokalen Topografie und die Universalisierung der globalen Netzwerke der Macht in der Welt der frühmodernen Diplomatie – scheinen in der Figur des Nepomuks an der Milvischen Brücke gleichzeitig ihren Ausdruck zu finden. Sie fungiert als ein Beweis der Etablierung eines böhmischen Landeszeichens, das trotz seiner ostmitteleuropäischen Genese und dank der supraregional forcierten politischen Geltung in der Habsburgerzeit erfolgreich auf den historischen Ursprungsort der christlichen Machtergreifung bezogen werden konnte und somit eine neue Dimension des ausdehnbaren und beherrschbaren Raumes der Frühen Neuzeit versinnbildlichte. Sie beweist in ihrer Historizität die europäische Spannbreite der Vernetzungen der staatlichen Bildpropaganda der katholischen Herrschaft der Habsburger in Ostmitteleuropa – einer Region, in der zu der Zeit von Karl VI. die bildpolitischen Texturen genauso viele politische Zentralbindungen wie konfessionelle Risse aufweisen konnten. Die Anbringung einer Statue des böhmischen Märtyrers an der Milvischen Brücke in Rom kann als Beweis der Allianz zwischen der kirchlichen Diplomatie und den Ansprüchen des Reiches gesehen werden. Weil das Reich unter dem Zeichen der christlichen Konversion zu expandieren versuchte und unter historischem Legitimationszwang stand, musste es folglich nach seinen religiösen Wurzeln suchen. Staatsreligion und Missionsstaat zeigen sich als zwei Seiten der theokratischen Medaille. Die Brücke als einer der »Nervenpunkte im Funktionieren eines Staatswesens« 14 bot sich naturgemäß an, um das Transitorische solch einer Bildpropaganda zu betonen. Die römische Figur Nepomuks, an einer sichtbaren Grenze implantiert, kann in diesem Sinne als Spiegelung der 1711 durch die Jesuiten auf der Prager Karlsbrücke platzierten Ignatius-

14 Eder 1979, S. 55 – 57.

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Ausdehnung und Akkommodation

Abb. 125: Ferdinand Maximilian Brokof, Die Figur Ignatius’ von Loyola an der Prager Karlsbrücke, 1711, in: Augustin Neuräutter, Statuae Pontis Pragensis, 1714.

von-Loyola-Statue gesehen werden (Abb. 125) – auf eben der Brücke, von der aus Johannes von Nepomuk in die Moldau geworfen worden war und die bereits seit 1680 mit seiner direkt am Ort des Martyriums angebrachten Statue geschmückt war. Die Figur von Loyola wurde zusammen mit der von Franz Xaver (als die zwei größten auf der Brücke) und der von Franziskus Borgia durch den Bildhauer Ferdinand Maximilian Brokoff ausgeführt und zwischen anderen skulptierten Gestalten des bisher typisch böhmischen Pantheons, etwa dem heiligen Staatsprotoplast Wenzel, auf der Brücke über der Moldau aufgestellt, die insgesamt als eine barocke, mit entsprechenden Gebetsanweisungen ausgestattete via sacra verstanden werden sollte (Abb. 126). 15 Die Brücke verband das jesuitische Kolleg auf der altstädtischen Seite mit dem Professhaus auf der Kleinseite und bildete zugleich eine Achse zwischen dem jesuitischen Clementinum und der kaiserlichen Burg Hradschin. Sie war also eine künstliche und symbolträchtige topografische Prothese über den Fluss direkt zur böhmischen via regia.

15 Louthan 2009, S. 166 – 178. Die Statuengruppe ist bei der Überschwemmung 1890 in die Moldau gefallen, die Reste weden im Lapidarium des Nationalmuseums in Prag aufbewahrt.

Flächendeckende Projektionen

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Abb. 126: Elias Bäck, Prager Karlsbrücke, um 1729, Kupferstich, Prag, Museum der Hauptstadt Prag.

Sie markierte somit nicht nur die jesuitischen Ansprüche auf visuelle Neuformulierung der Stadttopografie, sondern bestimmte mit ihrem Übergang auch politisch das Zentrum des habsburgischen Territoriums Böhmen als Knotenpunkt der römisch geprägten Rekatholisierung. 16 Die Entstehung und Platzierung der Loyola-Figur wurde weniger durch die lokalen Jesuiten als viel eher durch die römische Ordensleitung gefördert, also durch eine im Rahmen der internen Ordensstruktur überlegene Superiorität. Sie stellt eine gezielte Nachbildung der als paradigmatisch anzusehenden römischen Statue vom Altar in Il Gesù dar (entworfen von Andrea Pozzo; Abb. 127) 17 und wurde zusätzlich mit einem neu interpretierten, konstantinischen IHS-Monogramm versehen. In diesem Sinne kann sie als eine Manifestation der weitreichenden Netzwerke der Jesuiten gelesen werden. Darüber hinaus manifestierte sie in ihrer Topik des offensiven Siegesbildes die herrschaftlichen Weltmachtansprüche des staatlich privilegierten, von den Habsburgern favorisierten Jesuitenordens und die angedeutete globale Militarisierung der christlich missionierenden Streitkräfte. Diese Aspekte der Jesuitenpolitik wurden in der Skulptur des ersten Ordensgenerals attributiv dargestellt durch eine Weltkugel mit Trophäen, durch die Figuren der Kontinente sowie diejenigen eines Spaniers und eines Polen direkt zu Füßen des Heiligen oder durch eine Kartusche mit der Darstellung der drei

16 Zu den aus zahlreichen erhaltenen Quellen bekannten Details dieser wegen der Kostenfrage mehrere Jahre in Anspruch nehmenden Initiative und zu dem Verlauf der Arbeiten siehe v. a.: Šronˇek 2006, S. 119 – 140 wie auch Šronˇek 2018, S. 268 – 272. Vgl. Vácha 2014, S. 253 – 255; Louthan 2009, S. 166 – 178; Šefcuo 2007, S. 177 – 178, 190 – 209. 17 Vgl. zu der Stiftungsgeschichte der Ignatiuskapelle und ihres Altars in Il Gesù: Pecchiai 1952, S. 139 – 196.

402

Ausdehnung und Akkommodation

Abb. 127: Pierre Legros nach dem Entwurf von Andrea Pozzo, Ignatius von Loyola, 1695 – 1699, Rom, Il Gesù, Altar der Ignatius-Kapelle.

bekannten jesuitischen Märtyrer in Japan von 1597. 18 Die im Laufe der Geschichte mehrfach tatsächlich zum Kampfort gewordene Prager Karlsbrücke, deren strategische Funktion für die Altstadt besonders nach dem Angriff der Schweden am Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 geschätzt wurde, 19 bekam somit ein neues Identitätszeichen, das ihre militärische Rolle zugleich durch eine Figuration verkörperte. In diesem Sinne ist die Prager Figur Loyolas als ein bildliches Implantat aus Rom mit einem enormen Argumentationspotenzial zu sehen, durch das die Ansammlung lokaler Träger der christlichen Tradition in ihrer Hierarchie umgestaltet und eine globale Dimension des Lokalen verdeutlicht werden sollte. Wenn die Einsetzung der Figur Nepomuks von Cornacchini in Rom 1731 eine historiografisch-geografische Klammer darstellt und als symbolische Besiegelung einer theokratischen Allianzpolitik verstanden werden kann, dann ist die Einführung Loyolas und seiner

18 Vgl. Kap. 4, Anm. 161. 19 Šefcuo 2007, S. 235 – 242, 285 – 287.

Flächendeckende Projektionen

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Ordensgenossen von Brokoff auf der Prager Karlsbrücke 1711 eindeutig als propagandistisches Manöver zu bezeichnen, das vor allem zukunftsorientiert ist und auf expansionistische Züge hinweist. Nepomuk in Rom und Loyola in Prag sind in ihrer Topik unterschiedlich; jedoch gerade durch ihre markante Verortung auf den Brücken und ihre reziproke Wirkung im globalen Kontext können sie – geografisch gesehen – als zwei Vektoren auf der Karte des triumphierenden, staatskonformen Katholizismus angesehen werden. Es handelt sich dabei nicht nur um ›Monumente der Frömmigkeit‹ und auch nicht nur einfach um Orte oder symbolische Punkte in der neuen Topografie der siegreichen Konfession. Zum Sprechen kommt in diesen Fällen ebenfalls die mediale Relevanz der Landschaft selbst, die durch diese Figuren vereinnahmt wird und eine geeignete Projektionsfläche für die Historisierung des geografischen Raums bildet, so wie er sich dem Blick offenbart. Die monumentalen Figuren stellen argumentative Bilderfolien dar, die auf den Brücken jeweils vor dem panoramaartigen Hintergrund gesetzt werden. Im physischen Moment des dynamischen Überquerens der Brücke wird somit die Botschaft der sich vor den Augen des Betrachters erhebenden Skulptur direkt in die sichtbare und historische städtische Landschaft eingeschrieben. Gerade dort, wo sich diese Landschaft mehr oder weniger unerwartet öffnet und perspektivische Brüche aufweist, wo Nähe und Ferne ins Spiel miteinbezogen werden, wo die Grenze zwischen den topografischen Referenzpunkten selbst eine flüssige ist, dort wird eine Figur zum sprechenden Begleiter und subordinierenden Wegweiser für den vorbeigehenden Betrachter. Dies gilt genauso für eine isolierte Figur im dichten Stadtgewebe wie – mehr noch – für eine Skulpturenreihe, die eine offene Landschaft rastert. Zeitgleich zu den jesuitischen Figuren auf der Karlsbrücke entstand in Böhmen ein anderes Beispiel einer ähnlichen Strategie der medialen Historisierung der Landschaft: die exponierte Heiligen- und Herrschergalerie auf der künstlichen Terrasse vor dem monumentalen Jesuitenkolleg in Kuttenberg (Kutná Hora) von 1703 bis 1716 (Abb. 128). 20 Das Kolleg befindet sich auf einem Hügel, auf dem der Verbindungsweg zwischen der Stadt und der neben dem Kolleg angelegten gotischen Barbarakirche, dem wichtigsten Heiligtum und Identifikationsmerkmal der gesamten Region, verläuft. Die Galerie wurde direkt vor der langen und monotonen Fassade des monumentalen Kolleggebäudes, direkt am Rande des Hügels gebaut. Dadurch fungiert sie als die äußere Begrenzung der Passage, deren enger Weg zu einem einseitigen Ausblick in die Ferne zwingt, wo die Stadt endet und die Fläche als solche visuell erfahrbar wird. Die bis zum Horizont reichende Landschaft wurde durch die heiligen Vollstrecker der böhmischen Rekatholisierung samt der weltlichen Herrscher optisch in Besitz genommen: Dargestellt wurden etwa Karl der Große (mit einer Inschrift: »DIVo CaroLo sVperna et terrestri gLorIa Magno«), Ignatius von Loyola, Franz Xaver wie auch der hl. Ludwig als Verteidiger des alten Glaubens und Sieger über die Türken (Abb. 129). In Letzterem kann man übrigens ein Porträt eines habsburgischen Kaisers vermuten – Rudolfs II. oder Ferdinands II. –, da diese

20 Siehe Vlˇcek 2005, S. 214 – 220; Altová 2005, S. 28 – 31.

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Ausdehnung und Akkommodation

Abb. 128: Franz Baugut, Figurengalerie vor dem Jesuitenkolleg in Kuttenberg, 1703 – 1717.

Herrschergestalt nicht mit den üblichen Attributen des Heiligen präsentiert wird, sondern mit der Reichskrone ausgestattet ist, die Rudolf II. 1602 in Prag anfertigen ließ. 21 Somit wird der Anspruch auf Aktualität der historischen Träger des gegenreformatorischen Gedankens durch eine Anspielung auf die direkt erfahrbare kaiserliche Ausführungsmacht gefestigt. Es handelt sich jedoch bei dieser monumentalen Blickinszenierung nicht nur um eine bloß attributive Aktualisierung der Protagonisten der christlichen Geschichte des Landes, sondern eher um die Einführung einer allumfassenden Perspektive – im Sinne einer Blickregie – auf die Topografie der bisher auch nach der Schlacht am Weißen Berg protestantisch gebliebenen Stadt. 22 Die natürliche Landschaft, die freie Landesfläche, wird in Kuttenberg mithilfe der ursprünglich weiß gestrichenen und teils vergoldeten Figuren der bekannten historischen Akteure der lokalen und universellen Geschichte durch den gesteuerten Blick des Betrachters kontextualisiert und – da sie ein frontales Koordinatennetz erstellen – als politisches Bild in Anspruch genommen. Damit erfolgt eine Rahmung des als Einheit postulierten Landes, und zwar mithilfe einer aneignenden Projektion, die apriorisch eine

21 Siehe zur Rudolfskrone: Fillitz 1971, S. 22 – 23 (Kat.-Nr. 55). 22 Zur Rekatholisierung in Kuttenberg siehe: Altová 2005, S. 13 – 36; Štroblová 2005, S. 197 – 204.

Flächendeckende Projektionen

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Abb. 129: Franz Baugut, Hl. Ludwig in der Figurengalerie vor dem Jesuitenkolleg in Kuttenberg, 1703 – 1717.

autoritäre Gesetzgebung visueller Art simuliert. Deswegen kann die exponierte Galerie als künstlich gesetzter Schwellenwert eines natürlichen Höhepunktes – des durch die Kirche und das Jesuitenkollegium ›autorisierten‹ Hügels – bezeichnet werden, der die beiden Perspektiven – Nähe und Ferne – mithilfe eines figuralen Rasters verbindet. Dies ermöglicht eine politisch gesteuerte Akkommodation des Blicks. Es geht dabei jedoch nicht nur um die Landschaftsgestaltung: Eher sind die besprochenen Beispiele als Elemente eines systematisch modifizierten Raumverständnisses von Bedeutung, mit dem die durch Bilder zu verortende Geschichte deutlich gemacht und durch historische Gestalten verkörpert wird. Die Erhöhung nivelliert mit ihrem inszenierten Ausblick in die Ferne die natürlichen Grenzen des Terrains – in diesem Fall auch die Grenzen des katholischen Reiches. 23 Wenn man dabei im Sinne der ›räumlichen Modalitäten‹ des Handelns von Michel de Certeau argumentieren möchte, wäre in dieser bildlichen Inszenierung die Geschichte mit ihren monumentalisierten

23 Siehe Warnke 1992, S. 47 – 55. Vgl. Louthan 2009, S. 146 – 178; Forster 2007, S. 64 – 83; Horyna 2001, S. 249 – 255; wie auch im Kontext des frühmodernen Perspektivenwechsels: Asendorf 2006, S. 19 – 49. Vgl. Asendorf 2017, S. 229 – 236.

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Ausdehnung und Akkommodation

Repräsentanten als programmierte Oberfläche der ubiquitären Norm und nicht als Werkzeug der Lesbarkeit des historischen Diskurses zu verstehen. Mit einer eigenen Art der gerasterten Landesperspektive werden dabei zwei von de Certeau erwähnte essenzielle Modi der Erfahrung des bewohnten Raums untrennbar in einem Blickmodell verbunden: die Karte mit ihrer topografischen Ausrichtung an einer Vogelschau und der Parcours mit seinem Prinzip der prozessualen Überschreitung der Bodensequenzen im Gewirr der Koordinaten. 24 Dadurch wird eine Totalität und eine Homogenisierung des Raumes kreiert. Eine Passage mit dem Blick auf die von oben historisch ›kartografierte‹ reale Landschaft ist demgemäß, medial gesehen, eine Zwischenzone der Raumerfahrung. In dieser wird vor allem die andauernde Aktualität der res gestae angedeutet, und zwar durch ihre Implementierung in die sich vor den Augen des Betrachters zeigende, direkt sichtbare Ferne des mit symbolischen loci befüllten Landes. 25 Dieses Land verwandelt sich so zu einem sich quasi ›natürlich‹ vor den Augen des Betrachters entfaltenden Bild der Geschichte.

Netzwerke der Befehlsgewalt: Der mittelalterliche Märtyrer als globaler Staatsverwalter Das Reich der global expandierenden habsburgischen Monarchie in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts – zur Zeit Karls VI. – war kein Raum der festen Grenzen, sondern wies aufgrund der politischen Auseinandersetzungen im europäischen Mächtespiel ständige Veränderungen auf. 26 Auch die klare West-Ost-Dichotomie zwischen dem Frankreich der Bourbonen und dem ottomanischen Imperium war weitgehend obsolet geworden. Die Politik der kaiserlichen Expansion konzentrierte sich eher auf Interventionen in Italien und Polen, auf anti-türkische Verteidigungsstrategien entlang der sogenannten Militärgrenze (confinium militare) zwischen dem habsburgischen und Ottomanischen Reich in Slawonien, Kroatien, Banat und Siebenbürgen 27 wie auch auf die Stärkung der traditionellen geografischen ›Pufferzonen‹ der Monarchie wie Böhmen, Schlesien und Ungarn. Vor allem jedoch kümmerte sich der Kaiser um die Sicherung der eigenen dynastischen Interessen in den Kronländern an der Donau nach dem Aussterben der spanischen Linie der Habsburger mit Karl II. im

24 De Certeau 1988, S. 215 – 226. Vgl. Lazardzig / Wagner 2007, S. 134 – 137. Zur längeren Tradition solch einer Raumbesetzung in zwischenkonfessionellen Polemiken siehe im lokalen Kontext: Ohlidal 2008, S. 207 – 217. 25 Die durch Bilder gedeuteten Orte bilden in diesem Sinne der Flächendeckung ein mehrschichtiges Palimpsest; vgl. Belting 1998, S. 38. Vgl. die diesbezügliche Stellung der Anthropogeografie: Cosgrove 1998, S. 13 – 38. 26 Hochedlinger 2003, insbes. S. 174 – 203. 27 Ebd., S. 83 – 92. Vgl. Matsche 1981, S. 263 – 266.

Netzwerke der Befehlsgewalt

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Jahr 1700. 28 Anstatt eines klaren, dualistisch konstruierten Feindbildes bildete die allseitige Verflechtung verschiedener politisch-militärischer Antagonismen eine Gefahr für die Stabilität der imperialen Hegemonie. Die traditionelle triumphale Bildrepräsentation des Kaisers im Reich der ›nie untergehenden Sonne‹ benötigte daher entsprechende Korrekturen unter Berücksichtigung der neuen Realität von differenzierten mikropolitischen und im Endeffekt doch global wirkenden Standpunkten. Dabei kommen besonders historisch bedeutsame Persönlichkeiten des Landes ins Spiel, die als Träger der Tradition, an die es anzuknüpfen gilt, und als Vollstrecker der visuellen Legitimierungstaktik des Reiches fungieren konnten. Das Karl VI. von Habsburg und seiner Gemahlin Elisabeth Christine von BraunschweigWolfenbüttel gewidmete philosophische Thesenblatt von Johann Baptista Franz Anton von Thurn-Valsassina und Taxis aus dem Jahr 1724 (Abb. 130) 29 kann in diesem Kontext als ein typisches Bildbeispiel für den sich vollziehenden politischen Wandel betrachtet werden: Einerseits wird mit dieser komplexen Darstellung die Strategie des allumfassenden Blicks deutlich, die der historisierten, politisch bebilderten Landschaft eigen ist. Andererseits führt dieses Werk zurück zu der herausragenden Rolle Johann von Nepomuks als lokaler Konvergenzfigur mit deutlichem Anspruch auf eine überregionale Geltung. Dass der Heilige auf diesem Blatt dem in autoritärer Cäsarenpose dargestellten und durch die Fortuna mit einem Lorbeerkranz gekrönten Kaiser die fiktive Weltkugel in Form einer beschrifteten, flachen Scheibe mit frontal dargestellten Erdteilen als ultimatives Machtzeichen via Allegorie der Hoffnung überreicht, überrascht nicht, insbesondere wenn man sich mit den von Franz Matsche gründlich untersuchten grenzenlosen Propagandakonstrukten dieses Kaisers auseinandersetzt. 30 Ebenso kann in diesem Kontext an die treffende Beobachtung von Brigitte Wormbs erinnert werden: »In der Nachahmung vorgestellter Struktur des Alls tritt kosmologische Begründung von Herrschaft noch greifbar in Erscheinung.« 31 Es frappiert jedoch, dass diese historische Bestimmung der allumfassenden theokratischen Befehlsgewalt im Thesenblatt bewusst aus sich gegenseitig ergänzenden Gewaltbildern als ikonologischen Versatzstücken komponiert wurde. Johannes von Nepomuk wird zu einem überhistorischen Agenten der Machtverleihung, indem er kompositorisch im zentralen Punkt zwischen zwei parallelen Kampfszenarien erscheint. Zur rechten Seite des Bildes ist eine Kampfszene vor dem Hintergrund des sich öffnenden Kirchenraums, wahrscheinlich eines Presbyteriums, zu sehen. Der Erzengel Michael, unterstützt durch die erleuchtete Personifikation des Glaubens, vertreibt die Häresie und den ›Unglauben‹. 32 Der katholische Glaube stellt zusammen mit dem Erzengel ein Sinnbild 28 Ingrao 1982, S. 49 – 50. Zur Idee der Pufferzonen in ihrem späteren Status vgl. u. a. den Sammelband: Maner 2005. 29 Lechner 1985, Kat.-Nr. 49; Baumstark / von Herzogenberg / Volk 1993, S. 240 – 241. 30 Siehe z. B. Matsche 1981, Abb. 8. Vgl. Polleroß 1993, S. 35 – 50. 31 Wormbs 1978, S. 59. 32 Vgl. zur politischen Verknüpfung der Figur vom kämpfenden Erzengel mit der Pietas Austriaca: Telesko 2014, S. 169.

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Ausdehnung und Akkommodation

Abb. 130: Gottlieb Heuss nach Franz Georg Hermann, Allegorie der Weltherrschaft des Kaisers Karls VI., 1724, Thesenblatt Theses ex universa philosophia von Johann Baptista Franz Anton von Thurn-Valsassina und Taxis an der Ritterakademie zu Ettal, Schabkunstblatt, Stift Göttweig.

Netzwerke der Befehlsgewalt

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Abb. 131: Pierre Legros nach dem Entwurf von Andrea Pozzo, Allegorie des Glaubens, 1695 – 1699, Figurengruppe, Rom, Il Gesù, Altar der Ignatius-Kapelle.

des religiösen Antagonismus und Exklusivismus dar. Es handelt sich um eine Verbildlichung der ewigen Verteidigung der alten Konfession vor der idolatrischen und häretischen ›Fremdheit‹ im Sinne einer unentbehrlichen Grundlage des christlichen Staatswesens der Monarchie. Beide Gestalten funktionieren zugleich als sichtbare Identitätsmarken: Die an das Kreuz gelehnte Personifikation des Glaubens mit einem brennenden Herzen und einem aufgeschlagenen Buch in den Händen wurde erkennbar der markanten und polemischen Figurengruppe am bereits angesprochenen Loyola-Altar Andrea Pozzos in der römischen Jesuitenkirche Il Gesù entlehnt. Diese, von Andrea Pozzo entworfen und 1695 – 1698 von Pierre Legros realisiert (Abb. 131), hatte den Topos der siegreichen kriegerischen Macht auf der Ebene der ekklesiologischen Auseinandersetzung aufgegriffen und wurde als solche vielfach wiederholt, um am Anfang des 18. Jahrhunderts bereits als visuelles Leitmotiv der gegenreformatorischen Propaganda zu funktionieren. 33 Der den listigen ›Unglauben‹ stürzende Erzengel Michael gilt wiederum in diesem Kontext wohl als Markenzeichen und Patron der ersten nicht-italienischen Jesuitenkirche St. Michael in München, der ›Il Gesù 33 Eine grundlegende Bearbeitung der räumlichen und medialen Situation des Altars samt der Figuren, v. a. der Ignatiusfigur, im Hinblick auf deren propagandistische Wirkung und auch geografische Diffusion bietet Levy 2004, S. 84 – 109, 160 – 183, 205 – 232.

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Ausdehnung und Akkommodation

Abb. 132: Erzengel Michael vertreibt den Teufel, in: Jacob Gretser, Trophaea Bavarica, 1597.

Mitteleuropas‹. Die an deren Fassade angebrachte Bronzefigur des Erzengels von Hubert Gerhard (1588), die in verschiedenen Medien, unter anderem als Leitbild im katholischen Druck Trophaea Bavarica reproduziert wurde (Abb. 132), 34 kann hier als Ausgangsmodell späterer Variationen, so wie der im Thesenblatt von Thurn-Valsassina und Taxis, betrachtet werden. 35 Interessanterweise wird in diesem das Kreuz beziehungsweise die kreuzähnliche Lanze als apotropäisches Werkzeug Michaels durch eine ritterliche Kopie mit der Inschrift »Constantia et Fortitudine« – dem Motto des Kaisers – ausgetauscht. Die Tatsache, dass

34 Gretser 1597. 35 Leuschner 2011, S. 190 – 195; Richter 2009, S. 271 – 292, insbes. 273 – 279; Hoffmann 2005, S. 472 – 478 (vgl. ebd., S. 574 – 576, über eine ähnliche Situation an der Augsburger Zeughausfassade von 1607); Chipps Smith 1999, S. 568 – 599, insbes. S. 568 – 577; Schneider 1997, S. 171 – 198. Darüber hinaus vgl. zur Kopierbarkeit der von Maerten de Vos konzipierten Version Michaels als Bekämpfer des Unglaubens im globalen Kontext: Porras 2016, S. 55 – 78.

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auf der Waffe des Erzengels die Devise des Kaisers erscheint, kann in diesem Kontext als ein Aneignungsmanöver beziehungsweise eine Ausbalancierung zwischen der geistlichen und der als Garant der effektiven gegenreformatorischen Vollstreckung dienenden säkularen Macht verstanden werden. Auf jeden Fall wirkt die Gestalt des Michael durch diese Inschrift wie ein Pendant zu der auf Trophäen, Waffen und römischen Abzeichnungen knienden und auf das entfernte Schlachtfeld direkt hinweisenden Gestalt der Victoria im Vordergrund der Szene. Bei ihr wurde die kaiserliche Devise auf einer Märtyrerpalme aufgeschrieben, was möglicherweise darauf hinweist, dass die tatsächlichen militärischen Auseinandersetzungen der kaiserlichen Truppen als bereits abgeschlossener Teil der aufopferungsvollen Heilsgeschichte gelesen werden sollen. Diese Paarung des Glaubens mit der militärischen Stärke wird hier dadurch ausgedrückt, dass der durch die bezwungene Personifikation des ›Irrglaubens‹ unternommene Profanierungsversuch sich gegen das Land und gegen die Dynastie, also gegen die weltliche Macht, richtet. Diese medusenartige Ungestalt am rechten unteren Rand des Thesenblattes wendet sich nicht explizit gegen sakrale Werte, sondern gegen die Staatsräson: Sie versucht, das österreichische Wappen vom Baumstamm zu reißen. Ein heraldischer Bildersturm also. Ihr zur Seite ist ein von hinten dargestellter alter Mann zu erkennen, der als Verkörperung der Häresie auf einem nicht wie bei der fides offenen, sondern geschlossenen und einer Inkunabel ähnlichen Buch liegt. Das Wappen selbst ist mit einem Palmen- und einem Olivenzweig versehen, die direkt aus dem dynastischen Baum herauswachsen und an einer Kartusche angebracht wurden, die in ihrer Form an einen Spiegel erinnert, in dem sich die zentrale Szene der ultimativen Autorität widerspiegeln soll. Dies evoziert erneut den Gedanken der beinahe märtyrerhaften Aufopferung des Staates in der Gewährleistung der Stabilität der christlichen Werte Europas und des Schutzes seiner Grenzen als limina der Zivilisation. Dadurch wird ebenfalls die Zeitlichkeit beziehungsweise das Fortschreiten der Mission angedeutet. Eine geografisch übergreifende Unterstützung der kämpfenden Kirche durch den Monarchen als supremus ecclesiarum advocatus 36 wird als Sicherung der eigenen dynastischen Interessen auf der Bühne permanenter Konflikte dargestellt. Diese Szene ist somit durch die Genealogie der angeeigneten Bildtopik zwischen Rom und München genauso analytisch-topografisch zu verorten wie Karls eigener Kampf um die faktische territoriale Erweiterung und Verteidigung des Reiches zur linken Seite der ganzen Komposition, wo historische Schlachtszenen zu sehen sind. Im Vordergrund wird die 1717 durch Prinz Eugen gewonnene Schlacht mit den Türken bei Belgrad dargestellt, dahinter die 1716 eroberte Stadt Temesvar (Timis, oara). Die Schlachten führen zwar Beauftragte, diese werden jedoch, wie es in der Komposition kunstvoll gezeigt wird, direkt durch den Kaiser zu dieser Rolle berufen: Der Generalstab des im Vordergrund stehenden Imperators, gehalten in seiner ausgestreckten rechten Hand und deutlich vorgezeigt, animiert – bildhermeneutisch gesehen – die habsburgischen Truppen, die im Hintergrund bei Belgrad die Türken 36 Vgl. Matsche 1981, Abb. 95 (Kupferstich von Adolf Müller).

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Ausdehnung und Akkommodation

angreifen. 37 Die Sicherung der Grenzen und die Einsetzung der kaiserlichen Herrschaft in den Pufferzonen des Imperiums werden zusätzlich durch acht Kronen im Sack der Fortuna visualisiert, von denen sich die böhmische Krone Rudolfs II. und die ungarische Stephanskrone leicht identifizieren lassen. Am Horizont sind zudem die zerbrochenen Herkulessäulen in Gibraltar als Pforte zur Eroberung Amerikas zu sehen. Sie waren als die Plus-ultraDevise des Kaisers zur Zeit seiner Krönung um 1711/1712 von seinem Vorgänger Karl V. übernommen worden, für den diese symbolische Grenze beziehungsweise ihre Relativierung im Zeitalter der geografischen Entdeckungen eine faktische Aufbruchsperspektive bedeutet hatte. 38 Die Säulen fallen, weil der habsburgische Adler sich von den an ihnen befestigten Ketten befreit und in die weite Ferne Richtung Übersee fliegt. Unten im Bild sieht man die Personifikation des brasilianischen Silbernen Flusses Rio de la Plata, wie sie in kollegialer Pose mit jener der Donau einen freundschaftlichen Pakt schließt. Damit wird im Thesenblatt die Priorität der interkontinentalen Bindung zu dem in der Zeit Karls VI. nicht mehr neuen, aber immer noch aus angeblichen ›Niemandsländern‹ bestehenden und zu erobernden Raum Amerika verstärkt. Es ist ein Moment der – geografisch gesehen – rein fiktiven Bindung, die nicht nur auf der Sprache der Allegorie basiert, sondern den Fluss einerseits als Inbegriff einer naturlichen Grenzziehung auffasst und andererseits zugleich als Ebene der territorialen Kommunikation und der geografisch-strategischen Überbrückung aufzunehmen versucht. Diese Komposition, in der sich deutlich zwei erkennbar politische Bildsysteme im Rahmen der kaiserlichen Herrschaft – der jesuitischen Filiation einerseits und des habsburgischen Heerwesens andererseits – idealtypisch decken, geht also weit über die Grenzen der üblichen hypertrophen Sprache der barocken Körperlichkeit der Allegorie hinaus. Die vereinigende, frontale Vogelperspektive des ganzen Bildes, das wie ein offenes, schematisches Diagramm der Machtverhältnisse des christlichen Imperiums wirkt, 39 zwingt zu einem analytischen Blick auf das gesamte Staatswerk. Seine Effizienz wird einerseits von der energetischen Auf ladung durch die himmlischen Befürworter bedingt, andererseits gründet es auf internen Übertragungen der Befehlshaber-Kompetenz. Es zeigt sich damit eine pragmatische Wendung in der historisch fundierten herrschaftlichen Repräsentationsstrategie, für die eine geografische Rationalisierung des einerseits holistischen und andererseits lokal differenzierten und strategisch kontrapunktierenden Blicks auf die fiktive und dennoch real ›sprechende‹ Landschaft des Geschehens an Relevanz gewinnt. In diesem Sinne kann dieses Bild auch als

37 Der Kontrapost des Kaisers ist einerseits eine repräsentative Darstellungskonvention, andererseits aber simuliert er in dieser Zusammensetzung ebenfalls sein Hervortreten aus dem Gewirr des Gefechts. Zu der Kompetenzverteilung im habsburgischen Heerwesen siehe u. a. eine Zusammenfassung: Hochedlinger 2010, S. 33 – 39. 38 Matsche 1981, S. 244 – 246, 298 – 299, 343 – 358, 394 – 395. Vgl. Asendorf 2017, S. 103 – 107. 39 Buchanan 2007, S. 182 (zu einer »mentalen Vogelperspektive«).

Netzwerke der Befehlsgewalt

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Modell für das barocke Verständnis der politischen Verknüpfung von Blick, Landschaft und Raum dienen. 40 Der im Bild deutlich zentral platzierte Chronos zeigt auf die in der Ferne durch den befreiten habsburgischen Adler gebrochenen Säulen mit den Worten: »nec metas rerum nec tempora pono« (»ich setze dir weder räumliche noch zeitliche Grenzen«). 41 Dies sind an die Römer gerichtete Worte Jupiters aus dem ersten Buch der Aeneis von Vergil, mit denen der hervorgehobene Status des römischen Volkes begründet wurde: »Dann führt, prangend im bräunlichen Pelz der ernährenden Wölfin, / Romulus weiter den Stamm. Er wird die mavortischen Mauern / Gründen und Romas Volk nach dem eigenen Namen benennen. / Diesem bestimm ich kein Ziel im Raum, kein Ziel in den Zeiten: / Herrschaft hab ich ohn End’ ihm verliehn.« 42 Es handelt sich um einen Gründungsmoment, in dem nicht explizit die institutionelle Herrschaft, sondern die geistige, durch die Macht des Mythos verschleierte Genese des ewigen territorialen Besitztums des Volkes zum Vorschein kommt. Die Präsenz des alten Chronos verkörpert hier auf paradoxe Art und Weise die unbegrenzte Zeitlichkeit der Herrschaft; er visualisiert mehr als deutlich sowohl deren geschichtliche Fundamente, in die die Gegenwart selbst miteingeschlossen wurde, als auch eine zukünftige Perspektive der Ausdehnung. Dabei wendet er sich interessanterweise gar nicht an den Kaiser, sondern nur an Johannes von Nepomuk als denjenigen, der gerade mit historischer Plenipotenz ausgestattet worden und nun berechtigt ist, den gesamten Globus zu verwalten. Die zentrale Platzierung der Figur des böhmischen Proto-Märtyrers als Schlüssel und Knotenpunkt der modernen Netzwerke der Realherrschaft findet damit ihre inhaltliche Begründung. Mit dieser Verschiebung wurde eine leichte, obwohl markante Modifikation in der bisherigen Nepomuk-Ikonografie vorgenommen. Der Globus, der für den mittelalterlichen Märtyrer bis dato als Attribut der sich mit der Natur der irdischen Welt beschäftigenden Philosophie in Frage kam – eine unzureichende Alternative zu der meditativen Versenkung in der Anbetung des Kreuzes –, 43 verwandelt sich hier in ein unabdingbares Attribut eines Landesverwalters, der die Erdkugel dem Kaiser überreicht. So besiegelt der Imperator seine Allherrschaft mit der Macht des Bestehenden und evoziert durch die körperliche Präsenz eines mittelalterlichen Akteurs eine nachweisbare Historizität als Zukunftsgrundlage. Durch die geschichtliche Legitimierung in der Person des Nepomuk, dessen Schicksal als Märtyrer durch die unrechtmäßige Herrschaft des luxemburgischen Königs Wenzel IV. bestimmt worden war, wird der aktuelle expansionistische Drang des habsburgischen Imperiums nicht 40 Vgl. zum Verhältnis zwischen Kartographie und Allegorie: Buci-Glucksmann 1997, S. 67 – 91. 41 Die Inschrift wurde auf dem Kopf gestellt, was ihren Sinn als eine direktionale Aussage verstärkt. Der Doppelpunkt nach dem Zitat lässt dazu den Text quasi offen, sein Ziel wird jedoch in der direkt hinter dem Doppelpunkt erscheinenden Darstellung der Herkulessäulen visuell konkretisiert. 42 »[. . . ] inde lupae fulvo nutricis tegmine laetus / Romulus excipiet gentem et Mavortia condet / moenia Romanosque suo de nomine dicet. / his ego nec metas rerum nec tempora pono: /imperium sine fine dedi«; Vergil, Aeneis, I, 275 – 279 (Hervorhebung im obigen Zitat M. K.). 43 Vgl. Zelenková 2009, S. 94 – 95.

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Ausdehnung und Akkommodation

nur im Sinne der militärischen Landbesetzung ausgedrückt, sondern auch als Einführung der legislativen Strukturen der sich selbst ausdehnenden Monarchie. Im Rückgriff auf die Verse aus Vergils Aeneis erscheint die Gründung des grenzenlosen Imperiums als bedingt durch die historische Einführung des Rechts: Die Römer wurden durch Jupiter als die »Togaumwällten« (togati) bezeichnet: »Selbst Iuno, die harte, / Welche durch Meer und Land und Himmel Entsetzen verbreitet, / Wird zu besserem Rat sich verstehn, mit mir noch beschützen / Romas Volk, die Beherrscher der Welt, die togaumwällten.« 44 Die Inkorporation der neuen Länder in das Reich wird als gleichbedeutend mit der historisch legitimierten Gesetzgebung dargestellt, welche die bereits seit der Propaganda Leopolds I. fest etablierte Position des Kaisers als Friedensstifter zusätzlich untermauerte – und zwar durch die permanente Beherrschung der Kriegsmaschinerie seiterseits. 45 Die gewöhnlichen Titulierungen Karls VI. als nicht nur Fortissimus, sondern auch Justissimus, Temperantissimus und Prudentissimus finden hier ihre handlungsbezogene Entsprechung. 46 Wie die Person des Johann von Nepomuk zu der symbolischen Ebene der habsburgischen Gesetzgebung direkt beitragen konnte und inwieweit sie zu einem Identität stiftenden Merkmal der kaiserlichen Inanspruchnahme des Landes werden konnte, zeigt die Geschichte der Wiederherstellung von Nepomuks Prager Grabmal durch Karl VI. Mit der 1736 erfolgten radikalen Umgestaltung der alten Sepultur des inzwischen seit sieben Jahren heiliggesprochenen Nepomuk im Prager St.-Veits-Dom gibt der habsburgische Kaiser als persönlicher Auftraggeber ein deutliches Zeichen für die Aneignung eines der wichtigsten Orte Böhmens. 47 Die Vorläuferversionen dieser bisher seit dem Mittelalter kollektiv durch den böhmischen Adel gepflegten und 1692/1694 sowie 1721/1725 barockisierten Grablege (Abb. 133, 134) 48 vermochten es, barocke Allegorien auf dem gotischen Typus des monumentalen Tumbengrabmals aufzubauen und bevorzugten dabei eine visuell-taktile, horizontale Bilderfahrung. Diese mit mehreren symbolischen Bezügen überladenen Werke wurden durch den kaiserlichen Architekten und Hofbaumeister Joseph Emanuel Fischer von Erlach gegen eine klare, durch die einheitliche Materialsprache des Silbers betonte Manifestation der neuen Bildpräsenz ausgetauscht (Abb. 135, Taf. 40). Anders als die früheren, reich dekorierten Tumben mit Baldachinen, die den Bestattungsort des Märtyrers traditionell markierten, wird das neue, vom Kaiser gestiftete Grabmal zu einer Darstellung des bereits vom Boden abgesetzten, erhöhten und somit schwebenden Sarges. Der Körper des Heiligen

44 »[. . . ] quin aspera Iuno, / quae mare nunc terrasque metu caelumque fatigat, / consilia in melius referet, mecumque fovebit / Romanos, rerum dominos gentemque togatam«; Vergil, Aeneis, I, 279 – 282. Siehe die Untersuchung der Aeneis im Sinne von Benjamins und darauffolgend Derridas Kritik der heroisch mythisierten gesetzesstiftenden Gewalt von Ursprungsmomenten: Lowrie 2007, S. 81 – 108. 45 Vgl. Lechner 1985, S. 81. 46 Siehe: Telesko 1996, Kat.-Nr. 23. 47 Matsche 1993, S. 36 – 50; Matsche 1981, S. 205 – 212; Matsche 1976, S. 92 – 122. 48 Baumstark / von Herzogenberg / Volk 1993, S. 168 – 171.

Netzwerke der Befehlsgewalt

Abb. 133: Andreas Matthias Wolfgang nach Christian Dittmann, Grabmal des hl. Johannes von Nepomuk im Prager St.-Veits-Dom, 1692/1694, Kupferstich, Prag, Nationalarchiv, Inv.-Nr. APA 61/1.

Abb. 134: Anonym, Grabmal des hl. Johannes von Nepomuk im Prager St.-Veits-Dom, 1721/1725, Kupferstich, Prag, Nationalarchiv, Inv.-Nr. APA 61/1.

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Ausdehnung und Akkommodation

Abb. 135: Joseph Emanuel Fischer von Erlach (Entwurf), Antonio Corradini (Modell) und Joseph Würth (Ausführung), Grabmal des hl. Johannes von Nepomuk, 1736, Prag, St.-Veits-Dom.

wird verklärt im Moment seiner glorreichen Offenbarung in der ewigen Verehrung des Kreuzes. 49 Darin kann möglicherweise wieder eine imitatorische Modifikation des konstantinischen Gründungstopos in hoc signo vinces im Zeitalter der imperialen Machterfüllung durch Karl VI. gesehen werden. In diesem Rahmen bewirkt die Erhebung der Präsentationsebene vor dem Hintergrund des Chorinneren des mittelalterlichen Doms eine deutliche optische Dominanz und Subordination des Betrachters angesichts einer Erscheinung des Märtyrers. Zum neuen Aufbau des Grabmals von 1736 gehören – so wie es auch bei den beiden barocken Vorgängerversionen der Fall war – zwei Altäre an den beiden Schmalseiten. In der Mitte wird jedoch der reale Körper des Märtyrers, der früher durch die noch im mittelalterlichen Modus gebauten fenestellae (1692/1694) und in der Realität des versenkten Grabes (1721/1725) sichtbar beziehungsweise als Objekt immer noch erfahrbar war, gegen eine autoritäre Form der ikonischen Erhöhung getauscht. Der im Sarg eingeschlossene Körper schwebt auf einer Rauchwolke samt einer aktivierten Figur als signum der permanenten 49 Vgl. Bruhns 1940, S. 253 – 432.

Netzwerke der Befehlsgewalt

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Abb. 136: Joseph Emanuel Fischer von Erlach (Entwurf), Bundesladen-Denkmal, 1731, Györ.

Indienstnahme des Heiligen. Durch diese distanzierende Erhebung bewahrt das Grabmal wenig von der üblichen Grabtopik der die Vergangenheit ›konservierenden‹ Tumba – es ist eher ein Thron, der über dem Volk seine Aura ausbreitet, ein unzugänglicher Ort der ihre Macht zeigenden märtyrerischen Transzendenz. Die Einführung dieser neuen Bildformel des Grabmals als Akt visueller Aneignung des historischen Raumes im Prager Dom kann mit der Interpretation einer früheren, ähnlichen Inszenierung in Verbindung gebracht werden, die in der bisherigen Forschung nur im Rahmen einer vergleichenden Formanalyse im Kontext der Grablege Nepomuks behandelt wurde: des Bundesladen-Denkmals im ungarischen Györ, ca. 100 Kilometer östlich von Wien (Abb. 136). 50 Eine eingehende Analyse dieses einzigartigen Ensembles macht die politische Relevanz des neuen Nepomuk-Grabmals als Andeutung einer herrschaftlichen Gesetzgebung deutlich. Es wurde 1731 persönlich durch Karl VI. als ›Versöhnungswerk‹ zwischen Volk und Gott nach einer Hostienschändung, die sich an diesem Ort 1729 im Tumult zwischen Jesuiten und Soldaten ereignet hatte, in Auftrag gegeben, nach einem Entwurf von Johann 50 Pötzl-Malikova 2010, S. 627 – 646; Matsche 1981, S. 119 – 123.

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Ausdehnung und Akkommodation

Emanuel Fischer von Erlach als eine monumentale Bundeslade gestaltet und an einer hinter der bischöf lichen Basilika von Györ liegenden Straßenkreuzung platziert. 51 Bisher wurde es in der Kunstgeschichte lediglich ikonografisch in einem linear-systematischen Modus der Geschichte in Bezug auf das singuläre Ereignis der Profanation interpretiert – als ein klares Signum der als axiomatisch zu betrachtenden kaiserlichen Pietas Eucharistica, eines Aspekts oder gar Synonyms der Pietas Austriaca, 52 im Sinne einer Wiedergutmachung der Schändung. Nimmt man jedoch den Zusammenhang zwischen der Wiederverwendung einer eher seltenen ikonografischen Tradition und der Bedeutsamkeit des öffentlichen Raumes wahr, in dem das Denkmal gestiftet wurde, birgt dieses Bildensemble eine viel weiter reichende Botschaft. Die alttestamentliche Bundeslade wird durch ihre öffentliche Zurschaustellung jenseits der Kirche und vor allem durch eine explizite ›Signatur‹ des Kaisers neu kontextualisiert: Der Kaiser wird in der beigefügten Inschrift an der hinteren Wand der Sockelzone des Denkmals als sein Stifter erwähnt. 53 Getragen und offenbart auf einer Rauchwolke durch die Engel, visualisiert die Lade ihre dingliche Mobilität nicht nur in Bezug auf ihre biblische Geschichte der Wanderung, sondern auch im Hinblick auf ihr autoritäres Bildformular der Ortsbesetzung. Wenn die Bundeslade, so wie sie in der (spät-)barocken Kleinarchitektur im Altarbereich öfters den Ort des die Hostien bergenden Tabernakels anzeigte, eine sakramentale Dimension hervorruft, dann bedeutet ihre Herausführung aus dem strikt kultischen Raum in den öffentlichen Bereich der urbanen Kommunikation eine bedeutsame Differenz. Diese ist kenntlich sowohl – ganz banal – durch Erhöhung und Monumentalisierung als auch durch den Rückgriff auf ihre ursprüngliche Funktion nicht nur im kirchlichen Ritual, sondern auch in der biblischen Überlieferung. Die im öffentlichen Raum erhöhte und von allen Seiten sichtbare Bundeslade ist ein Als-ob-Tabernakel, da sie als Zeichen einer Strategie der Topografisierung des Allerheiligsten und dessen Verbindung mit der Idee einer herrschaftlichen Landmarke zu lesen ist. Angebracht im Altarraum, funktioniert sie im Zentrum des liturgischen Handelns, dabei ist sie zugleich lediglich frontal einzusehen, als ein typologisch auf den Vorgang der Eucharistie deutendes ikonisches Zeichen. 54 Situiert im Rahmen eines monumentalen Denkmalensembles hinter dem Bischofssitz, zeichnet sie sich dagegen mit einer anderen Art von autoritärem Zentralismus aus, der vor allem durch Koordinaten des offenen Stadtgewebes bestimmt wird. Allein der Akt der räumlichen Herausführung der

51 Zur Situation siehe: Pötzl-Malikova 2010, S. 627 – 646. 52 Zum Begriff siehe Matsche 1981, S. 112 – 119; Coreth 1959, passim, wie auch kritisch: Telesko 2014, S. S. 159 – 180. 53 »PANI / ANGELORUM / INCORRUPTIBILI / CAROLUS VI. / ROMAN. IMPER. AUSTRIUS / REGNI. APOSTOLICI / CONSERVATOR, ET VINDEX / LAESAM ADORATIONIS CAUSAM / CORRECTIS SEDUCTORUM / AUDACIIS / PERPETUAE DEPRECATIONIS / MONUMENTO / AD EXPIANDAM / OFFENSI NUMINIS IRAM / EX AVITA PIETATE / RESTITUI IUSSIT / AN. SAL. / MDCCXXXI«; zit. nach Matsche 1981, S. 119. 54 Mehr dazu im Kontext des Sakralraumes: Noehles 1995, S. 331 – 352.

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Bundeslade aus der Kirche durch den Kaiser als Stifter wäre als eine Anspielung auf den alttestamentlichen König David zu deuten, der im Moment ihrer Einführung nach Jerusalem, auf den Berg Zion (2 Sam 6), seine bereits befestigte königliche Macht über das israelitische Volk in seinem Heimatland sichtbar gemacht hatte. Die Ausführung der Bundeslade auf die Straßen der barocken Stadt ist zwar ein Akt der räumlichen ›Befreiung‹ des Bildes des Tabernakels aus seinem kultischen Rahmen, gleichzeitig jedoch wird dies durch ein anderes typologisches Verhältnis konditioniert: die Gleichsetzung mit der Figur des gerechten Herrschers, dem die Tugenden der alttestamentlichen Könige zugesprochen werden sollen. Die Darstellung der tragenden Engel gehört dabei einerseits zu dem gängigen Repertoire von Denkmalmotiven in dieser Zeit. Andererseits suggeriert in diesem spezifischen transitorischen Kontext das Hinaustragen eines in eine monumentale Größe überführten verehrten Objekts – ähnlich wie das Emporheben im Fall des Nepomuk-Denkmals im Prager Dom – eine befehlshabende Autorität, die hinter dieser neuen Offenbarung steht. Die Inschriften auf dem Györer Denkmal und die Details zum Auftraggeber deuten darauf hin, dass dabei nicht nur die göttlich-transzendente Gewalt angesprochen wird, sondern die kaiserliche Verwaltungs- und Stiftungsmacht, die diese Gewalt ausübt. Das Bundesladen-Ensemble ist also, so wie die letzte Version des Nepomuk-Grabes, ein Denkmal, das nicht nur kommemorativ ex post wirken soll, sondern mit einem aktuellen Sinn der politischen Aneignung versehen wurde. Es ist jedenfalls markant, dass in Györ gerade die explizit durch den Kaiser in den öffentlichen Raum eingeführte Topik der Arche mit Gesetztafeln propagiert wurde – und nicht der nach den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Fällen des Hostienfrevels gewöhnlich geltende, evidenz- und wunderschaffende Bilder- und Reliquienkult. 55 Die Typologie der Györer Bundeslade spielte sich auf zwei Ebenen ab. Zum einen sollen im Inneren des Denkmals angeblich die faktischen Überreste der geschändeten Kommunikanten von 1729 untergebracht worden sein, was eine Fusion der alttestamentlichen Fundamente des Gesetzes und der neutestamentlichen Erfüllung in Gnade versinnbildlicht. 56 Darüber hinaus ist jedoch mit der Konstruktion des Denkmals eine Vereinheitlichung der ›visuellen Gesetzgebung‹ in der kaiserlichen Territorialpolitik zu sehen, da dieses objektgewordene Gesetz ähnlich wie im Prager Sarg des böhmischen Proto-Märtyrers in einem geschlossenen mobilen Gefäß seinen Platz findet. In der biblischen Bundeslade war es durch die beiden Gesetztafeln aus dem Berg Sinai verkörpert, zusammen mit dem Mannakrug als Zeichen des Schutzes durch Gott und dem grünenden Stab von Aaron als prophetischem Instrument gegen die ägyptische Unterdrückung und zugleich Signum der priesterlichen Auserwähltheit. 57 Im Fall des Grabes von Nepomuk wird die Gesetzlichkeit durch die körperlichen Reliquien des aufgrund seines Widerstands gegen den luxemburgischen Herrschaftsmissbrauch gemarterten und als solcher bereits durch die Tradition anerkannten 55 Siehe dazu u. a. Kapustka 2006, S. 573 – 594; Faensen 1997, S. 237 – 255. 56 Pötzl-Malikova 2010, S. 631 – 632. 57 1. Mose 16,33; 4. Mose 17,25. Vgl. Hbr 9,4.

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Ausdehnung und Akkommodation

Heiligen präsent gemacht. Durch den Einsatz des Kaisers als irdischer Bevollmächtigter wird das Gesetz bewahrt und implementiert, und zwar dort, wo die Netzwerke der Macht neu eingesetzt oder verstärkt werden müssen. In diesem Sinne tritt die durch herrschaftliche Autorität legitimierte Gesetzgebung in Form eines körperlichen Zeichens in die Länder des habsburgischen Imperiums – die zentralistischen Machtgefüge des in Wien residierenden Herrschers erhalten lokal in der Hauptstadt Böhmens wie auch in der ungarischen Provinz ihre sichtbare Substanz. Die gezielte eucharistische Konnotation wird erst dadurch erklärbar, dass die Bundeslade als Sinnbild des Gesetzes verstanden wird, das mit dem Volk verbunden bleibt – des auf dem Berg Sinai erhaltenen Gottesgesetzes, das nach der Wanderung des Volkes durch die weltliche Autorität eingeführt wurde. Somit inszeniert sich im Stiftungsakt der Kaiser selbst als neuer David oder neuer weiser König Salomo, der die Bundeslade nach einem unsicheren Zeitalter auf den Jerusalemer Tempelberg zu dem von ihm selbst erbauten Tempel – dem Ursprungstopos der sakralpolitischen Erneuerung – zurückbringt (1 Kön 8,20 – 21) und seine von Gottesgnaden erteilte Macht der Jurisdiktion demonstriert. Es handelt sich dabei um eine sichtbare Andeutung der justitia als eine der kanonischen habsburgischen Herrschertugenden. In diesem Sinne avanciert die Bundeslade, die als Vermittlungswerkzeug der Präsenz des Machthabers gegenüber seinem Volk gesehen werden kann, zu einem Emblem der postulierten gerechten Landesherrschaft. 58 Schaut man auf den Sockel des gesamten Györer Monuments, kann man den Eindruck gewinnen, dass dieser an einen Opferstock erinnert, eine Inversion des architektonischen Säulenkapitells. Diese Assoziation wäre etwas vage, wenn sie in diesem dokumentierten Fall der intendierten Deutung des Monuments nicht entsprechen würde. Bereits in der Planungsphase des Denkmals äußerte Conrad-Adolph von Albrecht, der Concettist am Wiener Hof, 1731/1732 den Wunsch, dass die Bundeslade möglichst auf einem Opferaltar stehen solle. 59 Die Györer Bundeslade erscheint in diesem Licht als urchristliches – obwohl dem Judentum entlehntes – Motiv der Subordination, der gegen das ›Heidentum‹ gerichteten damnatio memoriae, da auf dem bisherigen ›heidnischen‹ Opferaltar nun eine Versinnbildlichung des allein geltenden göttlichen Gesetzes Platz nimmt. Verglichen mit dem Moment der Instauration der eucharistischen Ordnung, das durch Rubens in seinen Tapisserie-Entwürfen zum Triumph der Eucharistie für die Descalzas Reales in Madrid von 1626 in einer der Tafeln visualisiert wurde (Taf. 41), 60 gewinnt das Bundesladen-Denkmal eine polemische Bedeutung. Die eindeutige Richtung des einfallenden Lichts der christlich-göttlichen Offenbarung, dessen Quelle in der durch einen Engel im Kelch hochgehaltenen strahlenden 58 Vgl. zu einer ähnlichen Politisierung des Motivs von der Arche Noahs: Telesko 1996, S. 149 – 153. Zur Verherrlichung Karls VI. als Salomo und David: Matsche 1981, S. 283 – 291. Darüber hinaus zu Komplexitäten der eucharistischen Typologien zwischen dem Alten und dem Neuen Testament als heilsgeschichtlichen Entwürfen einer neuen Zeitlichkeit im 18. Jahrhundert: Telesko 2001, S. 189 – 197. 59 Pötzl-Malikova 2010, S. 632. 60 Vgl. zum gesamten Zyklus: Scribner 1982; de Poorter 1978; Scribner 1975, S. 519 – 528.

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Oblaten verkörpert wird und von der also der Anfang der neuen Ordnung ausgeht, wird in Rubens’ Bild mit der Auf lösung des ›heidnischen‹ Opfervorgangs vor einer monumentalen Jupiter-Statue kontrastiert. Die Hostie bildet mit ihrer punktuellen Ausstrahlung einen klaren Gegenpol zur inszenierten Verhüllung im fremden Ritual und lässt es unabdingbar zerfallen. Der umgekippte Sockelaltar in Form eines umgekehrten trapezförmigen Kapitells, der im Bild beinahe den zentralen Platz einnimmt, weicht der gleichen, gewaltigen Kraft, welche die ›heidnischen‹ Priester der Idolatrie blendet, überwältigt und zum Abbruch ihres Zeremoniells zwingt. Wenn es sich aber bei Rubens um eine klare Entgegensetzung zwischen Christentum und ›Heidentum‹ mithilfe der der neuen purifizierenden Hostie weichenden Attribute eines alten idolatrischen Opferrituals handelt, fungiert das Györer BundesladenDenkmal allerdings eher als eine visuelle, landesbezogene Vermittlungsinstanz zwischen Gesetzgeber und Volk. Die Eucharistie, die damit gemeint wird, gilt als eine einzusetzende Ordnung, nicht als neues rituelles Opfer. Sie vermittelt die übergreifende Allpräsenz der herrschaftlichen Superiorität, eine Art politische Transzendenz, die sich aber dennoch als ein landesweites und dadurch sichtbares Mittel der Konsolidierung der absolutistischen Staatsräson verstehen lässt. In diesem Sinne ist übrigens auch die Inschrift in Rubens’ Werk lesbar, die nicht nur über den Vorgang der Vernichtung ›heidnischer‹ Opferriten und deren Altäre berichtet, sondern den Grundkern der Macht des christlichen Gottes beinahe im Sinne einer ontologisch-geografischen Ausdehnung skizziert: »Cede Deo mala turba Deum; falsum ille Tonantem / Aras ille Iovis subruit, ille focos, / Ille popas mystasque evertit et ethnica quicquid / Impiestas fictae religionis habet. / Tanta potest minimus specie, re maximus: orbis / Conditor exili qui latet orbe DEVS«. 61 Die Hostie wird hier nicht nur als Verkörperung des christlichen Gottes dargestellt, sondern vielmehr als ein punktuell kumuliertes und sich trotzdem universal offenbarendes Machtgefüge desjenigen, der als omnipotenter unsichtbarer Schöpfer der ganzen Welt anerkannt werden sollte. 62 Der ikonografische Faden des in eine Basis des Gesetzes umgedeuteten idolatrischen Altars kann in diesem Sinne weiter verfolgt werden. Eine direkte Anspielung auf diesen religionsgeschichtlichen Topos der christlichen Gründerzeit unter den Auspizien des gerechten Herrschers findet sich auch in einem Werk, das eine Zusammenfassung der Regierung Karls VI. bietet: den Augusta Carolinae virtutis monumenta seu aedificia des Jesuiten Anton Höller. 63 In dem Fragment dieses Buches, in dem der Pater die Verdienste des Kaisers im Bereich der Sakralarchitektur – aedificia sacra – auf listet, wurde in der Schautafel in

61 Zit. nach: de Poorter 1978, Bd. 1, S. 221 (Hervorhebung im obigen Zitat: M. K.). 62 Vgl. auch die rhetorisch der triumphalen Hostie entgegengesetzten Figuren des Bilderstürmers, des Reformators (Luther) und des ›Heiden‹ in den anderen Bildern des gleichen Bilderzyklus. In einem der Bilder, dem Triumph des Glaubens über Natur, Philosophie und Wissenschaft (Valenciennes, Musée des Beaux-Arts de Valenciennes), werden antike Philosophen und Astronomen durch die Personifikation des Glaubens unter dem Zeichen des Kreuzes als Gefangene geführt. 63 Höller 1733.

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Ausdehnung und Akkommodation

Abb. 137: Aedificia sacra, in: Anton Höller, Augusta Carolinae virtutis monumenta seu aedificia, 1733.

der zentralen, größten Kartusche das erste ›architektonische‹ Werk des Monarchen dargestellt (Abb. 137). Wie die dabei angebrachte Inschrift »Religioni ab aras Hungar. redditas« verkündet, ist damit der Wiedereinzug der christlichen Religion auf die inzwischen ›heidnisch‹ (d. h. protestantisch) besetzten Altäre in Ungarn gemeint. Das Bild zeigt eine schlicht gestaltete Szene im freien Raum einer offenen Landschaft: Vor einer Kirche, geleitet von einer Personifikation des Glaubens mit Kreuz in der Hand, beten die Adligen das Feuer auf einem sockelartigen Altar an. 64 Bei einer näheren Betrachtung erweisen sie sich mit ihren auf dem Boden abgelegten Kronen als Personifikationen der Länder Ungarn, Dazien, Serbien, Walachei und Comitat Temeswar. Franz Matsche hat diese Szene zu Recht als eine 64 Vgl. Matsche 1981, S. 397 – 403, insbes. 397 – 398.

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Huldigung beziehungsweise eine Danksagung angesichts der ins Land zurückkommenden religio gedeutet. 65 Dargestellt zwischen anderen Kartuschen mit attributiven Abbildungen verschiedener Bauwerke, wie der Karlskirche in Wien, und Denkmäler, wie der Wiener Josephssäule auf dem Hohen Markt, funktioniert dieses hervorgehobene schlichte Bildnarrativ nicht nur historisch als Berichterstattung, sondern auch auf eine reziproke Art und Weise a-chronologisch als eine Darstellung der Ur-Bildung aller Kirchen, der Memoria und aller Denkmäler im habsburgischen Reich. Die Szene der erneuten Anbetung des christlichen Feuers kann als eine strukturell rudimentäre Voraussetzung der architektonisch-landschaftlichen Neuformung des wiedergewonnenen Landes gesehen werden, die anhand der in der Illustration daneben angebrachten monumentalen Muster von aedificia fortgesetzt werden soll. 66 Ein sorgfältig ausgesuchtes Fragment aus dem populären Fond der Zitatstoffe der barocken Poetik, den Silvae von Publius Papinius Statius aus dem 1. Jahrhundert, das sich auf die Würde des Cäsars als eines im Zeichen der Religion triumphierenden Friedensstifters bezieht, besiegelt in der zweiten Inschrift die Deutung des Bildes als Darstellung der historischen Ansprüche einer erfolgreichen Territorialpolitik: »Aspicis ut templis alius nitor, altior aris ignis« (»Du siehst darauf, dass die Kirchen neuen Glanz, die Altäre höhere Opferflammen erhalten«). 67 In dem zum großen Teil protestantisch gebliebenen und teils durch die Osmanen besetzten Ungarn bildete solch eine Deklaration der kaiserlichen Gesetzgebung unter der Prämisse der Gründerzeit der anti-heidnischen und anti-idolatrischen Religion den triumphalen Diskurs der flächendeckenden Rekatholisierung. Man kann sie aber auch als ein notwendiges Element der Erhaltung der staatspolitischen Stabilität zwischen der vom Militär unterstützten Krone, der Aristokratie und der Kirche ansehen, eine Stabilität, die zu jener Zeit unter anderem durch die lokale kirchliche Finanzpolitik gegen die Nicht-Katholiken in den unteren sozialen Schichten bereits gefährdet wurde. 68 In solch einem Land mit rebellischen Traditionen gegen die politisch gesteuerten Rekatholisierungsmaßnahmen der Habsburger, die diese Region dem militärischen Etablissement des neuen Adels zur administrativen Eigenregierung überlassen hatten – man erinnere hier vor allem an den andauernden, durch französische Diplomatie unterstützten Rákóczi-Aufstand von 1703 – 1711 69 –, war zur Zeit Karls VI. eine neue Staatsrhetorik sicherlich von Vorteil. Charles Ingrao hat in diesem Kontext eine noch weitergehende Schlussfolgerung gewagt, als er feststellte, dass die verspätete

65 Ebd. Vgl. historisch zu Jesuiten in diesem Kontext: Craˇciun 2006, S. 37 – 61. 66 Das Motiv des auf einem Altar brennenden Huldigungsfeuers erscheint in der politischen Ikonografie bereits früher im Kontext der Übernahme eines Landes durch einen fremden Herrscher; siehe z. B. eine von Christian Wermuth 1698 angefertigte Medaille Augusts II. von Sachsen mit einer Personifikation Polens: Górska 2005, S. 505, Kat.-Nr. III.5, Abb. 86. 67 Statius, Silvae, IV, 23 – 24. 68 Ingrao 2001, S. 87. 69 Hochedlinger 2003, S. 187 – 193.

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Ausdehnung und Akkommodation

Aufnahme des Barocks in Ungarn als Signal des »Beginns eines neuen Zeitalters der Versöhnung und Zusammenarbeit mit der Krone« zu interpretieren sei. 70 Diese Einschätzung lässt den Barock weniger als kunstgeschichtlichen Stil denn als von einer sich etablierenden politischen Kraft instrumentalisiertes Moment deuten, das mit dem deutlichen Statement zur Rekatholisierung als Erneuerung beziehungsweise Neugründung einer ›zivilisatorischen‹ Ordnung zusammenfällt. Ein ähnlicher Denkrahmen kann auch für das im 18. Jahrhundert immer noch katholischkaiserlich zu missionierende Land Böhmen gelten. Der Unterschied liegt jedoch darin, dass man, anstatt das Feuer der Altäre erneut zünden zu müssen, sich weitgehend auf historische Aneignungsprozesse und bereits etablierte Diskurse stützen konnte. Es erscheint also logisch, dass Johannes von Nepomuk selbst quasi zu einem Altar werden konnte. Auf der Rückseite der 1721 anlässlich der Seligsprechung des Proto-Märtyrers in Rom geprägten Medaille, auf deren Vorderseite sich traditionell die Szene der Verherrlichung des Märtyrers mit seinem Leichnam in der Moldau befindet, ist eine außerordentliche Figuration zu sehen (Abb. 138): Von zwei stehenden Personifikationen flankiert – der des Papsttums (oder der durch Tiara gekrönten ecclesia) links und der des Königreichs Böhmen im Kurfürstenhut mit dem heraldischen Löwen rechts –, erscheint ein Altartisch mit einem oktogonalen Aufsatz in Form eines reliquiarartigen Behälters. Aus ihm taucht ein kleines ovales Porträt Nepomuks hervor.

Abb. 138: Medaille auf die Seligsprechung Johannes von Nepomuks (verso), 1721, Privatsammlung.

70 Ingrao 2001, S. 93 – 94.

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Auf dieses fallen von einem oberhalb platzierten Wappen des Papstes Clemens XI. mehrere Gnadenstrahlen herunter, oder präziser gesagt: von dessen heraldischer Sternfigur. 71 Dabei haben wir es mit einer propagandistischen Formel der kirchlichen Genealogie der Kompetenz zu tun, da der durch seinen Sternennimbus als Emblem erkennbare Nepomuk seine ›heraldische‹ Macht in Form der symbolischen Sterne ex post durch die päpstliche Autoritätsverleihung während der Seligsprechung erwirbt. Diese Aussage auf der Medaille wird durch die Kombination mit den angebrachten Inschriften bekräftigt: der ersten, die auf der Vorderseite eine sich auf das Martyrium beziehende Erklärung der Sternenpräsenz bildet: »SIDERE NON UNO IOANNES FVLSIT IN VNDIS« (»Nicht nur durch einen Stern hat Johannes in den Fluten gestrahlt«), und der zweiten auf der Rückseite, die als eine politische Umdeutung der bekannten Sternenlegende zu lesen ist: »UNO IS CLEMENTIS SUB SIDERE FULSIT IN ARIS« (»Unter dem Clemens-Stern hat er auf den Altären gestrahlt«). Mehrere Sterne vereinigen sich also zu einem Stern des Missionsvertreters. Die neue Macht Nepomuks im böhmischen Land ist demnach – vom römischen Stuhl her gesehen – als die Macht eines stigmatisierten Exponenten zu verstehen. Der seliggesprochene Protagonist wird in dem Medium der festlichen Medaille zu einem authentisch bestrahlten Repräsentanten, der hier auch durch den juristischen Status des päpstlichen Wappens als Verlängerung des obersten Funktionskörpers bevollmächtigt wird. Als solcher soll er die Idee der theokratischen Allianz zwischen Kirche und Krone unterstützen und jenseits von Rom vertreten. Die Erscheinung des Märtyrers in der römischen Skulptur Cornacchinis aus dem Jahr 1735 war, in diesem Licht besehen, gar nicht so ungewöhnlich und scheint sogar eine Form der visuellen Bestätigung einer erfüllten staatlichen Mission gewesen zu sein. Schaut man unter diesen Prämissen genauer auf die Entstehungsgeschichte des neuen Nepomuk-Grabmals im Prager Dom, werden die Aspekte der symbolischen Gesetzgebung durch den Herrscher umso ersichtlicher. Die Planung der letzten Version dieses Monuments begann wahrscheinlich noch im gleichen Jahr, in dem das Bundesladen-Denkmal in Györ vollendet wurde: 1731, zwei Jahre nach der Seligsprechung des Märtyrers. Nach weiteren zwei Jahren wurde auf der Grundlage des Entwurfs Fischer von Erlachs durch Antonio Corradini ein Modell gefertigt, nach fünf Jahren wurde das neue Grabmal im St.-Veits-Dom feierlich aufgestellt. 72 In der fast identischen autoritären Präsentationsformel der beiden Werke in Györ und Prag lässt sich die Intention einer herrschaftlichen Appropriation des Raumes durch öffentliche, zentral hervorgehobene Bilder erkennen. In Györ wurde ein lokales Ereignis der Profanation der Eucharistie ad hoc als Impetus zur Manifestation der autoritären Präsenz genutzt. Johannes von Nepomuk war dagegen zu dem Zeitpunkt bereits

71 Matsche 1971, S. 182 – 183, Kat.-Nr. 140 (hier falsch beschrieben als das Wappen Innozenz’ XIII.; Clemens XI. war am 19. März 1721, also kurz vor der seit 1715 vorbereiteten Seligsprechung Nepomuks am 19. April, gestorben). Vgl. Baumstark / von Herzogenberg / Volk 1993, S. 144 – 145, Kat.-Nr. 61. 72 Baumstark / von Herzogenberg / Volk 1993, S. 175 – 177; Matsche 1981, S. 208.

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Ausdehnung und Akkommodation

zu einem böhmisch-katholischen ›Gemeingut‹ geworden, da sein barocker Kult als ›Rache‹ für den calvinistischen Bildersturm im Prager Dom zu Weihnachten 1619 galt, der für große Empörung in der katholischen Welt sorgte. Dieser hatte einige Meter weiter im Dom stattgefunden, der Vorfall wurde direkt neben dem Grabmal Nepomuks abgebildet, in den monumentalen Holzreliefs von Caspar Bechteler auf den Chorschranken, die bereits in den ersten Monaten von 1620 geschnitzt worden sind. 73 Die auf der hinteren Wand des Grabmalsockels dargestellten Szenen der Folterung Nepomuks in einem geschlossenen Raum und diejenige mit dem Brückensturz an dessen Stirnseite scheinen sogar den calvinistischen Missbrauch von 1619 im Rahmen einer typologischen Politisierung der mittelalterlichen Vergangenheit widerzuspiegeln: Bilder werden zu Märtyrern, der Märtyrer wird zum Bild. 74 Der als skandalös empfundenen Vernichtung der Bildwerke im Jahr 1619 im Prager Dom entspricht die programmatische Erhöhung des mit körperlicher Präsenz aufgeladenen Bildes des inzwischen heiliggesprochenen Nepomuks. Diese Erhöhung kann als ein Akt der triumphalen Wiederkehr, einer erwarteten Wiedereinsetzung des natürlichen Ganges der Geschichte unter den Auspizien des machtvollen kaiserlichen Stifters interpretiert werden. Die ästhetische Grenze zwischen dem mehrfarbigen steinernen Sockel des Grabmals und dem erhobenen silbernen Sarg mit der Figur – ein Schnitt zwischen dem eigentlichen Grab und der Ebene der himmlischen Verherrlichung – bildet also zugleich eine metahistorische Zäsur zwischen dem linearen Verlauf der aufzählbaren res gestae und deren Konsequenz in der zeitlosen Erfüllung. Der radikale Formwechsel des Prager Monuments im Jahr 1736 erweist sich in diesem Sinne als eine gezielte Strategie der Fiktionalisierung durch typologische Zeitklammern. Die im Fußboden des Doms eingesenkte ursprüngliche mittelalterliche Grabplatte des Märtyrers, eine schlichte Markierung seines Bestattungsortes, so wie sie auch 1620 in den Reliefs der Chorschranken und nachher in devotionalen Bildmedien abgebildet wurde, 75 wird am gleichen Ort im Rahmen der neuen Präsentation durch den dreidimensionalen, fassbaren Gegenstand des erhobenen Sarges ersetzt. Durch diese Veränderung erscheint das neue Grabmal im freien Raum des Ambitus als Inbegriff der historiografischen ›Auferstehung‹. Der Ort des Grabes selbst wird inszeniert als ein zurückgewonnenes Heiligtum, das nach dem Zeitalter der Krise augenblicklich – in der Jetzt-Zeit – in die Erzdiözesankirche zurückgebracht wird. Diese prosaische kompositorische Wirkung entspricht den gleichen historiografischen Prämissen der Inversion, die einige Jahre zuvor in Györ zur Geltung gekommen waren. Wenn die Reliefs der Chorschranken neben dem Grabmal noch die langsam heilende Wunde des calvinistischen Bildersturms darstellen, wird der Ort des Grabes, 73 Zum Bildersturm siehe: Louthan 2009, S. 156 – 157. 74 Eine frühere, als typisch etablierte Zusammensetzung dieser Szenen befindet sich beispielsweise in einem Altar in St. Kajetan in Salzburg von ca. 1730, in dem die auf einem böhmischen Löwen platzierte Mensa in ihrem Antependium ein ähnliches Nepomuk-Narrativ von Beichte, Folterung und Brückensturz auf der Stirnseite beinhaltet; siehe Matsche 1971, S. 176 – 177, Kat.-Nr. 115. 75 Siehe dazu Matsche 1993, S. 36 – 50 (hier: S. 36 – 38).

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nun vom Kaiser in Anspruch genommen, durch die neue Stiftung der Bohemia enteignet und erst als Ort der Ausstrahlung von neuer, herrschaftlicher Autorität wieder zugänglich gemacht. Es ist ein radikaler Schnitt, mit dem die beiden früheren barocken Formen des Nepomuk-Grabmals ihre Prägnanz augenblicklich verloren haben. Ein sichtbares, für die böhmische Identität gar schmerzhaftes Zeichen des Wandels wird mit der deutlichen Absenz der Wenzelskrone im neuen Projekt ausgedrückt, die bisher an den Spitzen der Konstruktionen von 1692/1694 und 1721/1725 angebracht war und das Paar der Lokalheiligen Wenzel und Nepomuk als signum der ungestörten inneren Integrität des Landes erscheinen ließ. 76 Der inzwischen heiliggesprochene Nepomuk löst sich 1736 auf eine symbolische Art und Weise von Wenzel und wird durch die neue Bildform an seinem Bestattungsort als ein neuer, autonomer, geistlicher Staatsverwalter der Monarchie in seiner permanenten Indienstnahme animiert. In diesem Kontext ist auch eine frühere Quelle zum Grabmal von Interesse: Johann Schmidl, der um die Mitte des 18. Jahrhunderts eine monumentale, mehrbändige Ausgabe der Geschichte der böhmischen Jesuitenprovinz verfasst hat, schreibt über den 1619 verübten Bildersturm im Prager Dom und über einige gegen die calvinistischen Bilderschänder gerichtete Wunder, die sich am Grabmal des Nepomuk ereignet haben sollen. So zitiert er die Beschwerde eines »vir sacrilegus«, der sich über die Annexion des Raumes durch die Grabanlage beschwert haben soll, so als ob der »papistische« Märtyrer ein König oder ein Prinz wäre: »Itáne papista iste tantum hic locum occupet: & quasi Rex aut Princeps tam operosè septem habeat sepulchrum?« 77 Man beachte, dass es sich in dieser Zeit immer noch um eine einfache, in den Boden des Doms eingelassene Grabplatte handelte, deren Platz lediglich mit einem abgrenzenden Gitter markiert wurde – und doch erschien dieser locus schon damals als Ort der herrschaftlichen Würde, wenn auch in der parteiischen Einschätzung eines bilderfeindlichen Nicht-Katholiken. Eine weitere Bedeutungsschicht wurde dem Grabmal im Jahr 1763 hinzugefügt, als eine monumentale steinerne Skulptur der Auf findung des Leichnams Nepomuks durch die Engel von Ignaz Franz Platzer an der Außenwand des Doms aufgestellt wurde, direkt an der Fensterachse zwischen zwei Strebepfeilern, hinter denen sich das Grabmal befindet (Abb. 139). 78 Mit diesem Eingriff wurde einerseits eine topografisch motivierte Historisierung des Körpers des Heiligen zum Vorschein gebracht. Das Grabmal zeigt die Glorie des selbstständig agierenden, ewigen Adoranten nach seinem endgültigen Transitus in die himmlische Sphäre im Inneren des Doms; es ist eine Visualisierung der übergreifenden Kompetenz 76 Baumstark / von Herzogenberg / Volk 1993, S. 168. Mit der ursprünglichen Kopplung von Nepomuk und Wenzel, der den ›ketzerischen‹ König Wenzel IV. von Luxemburg ersetzte, kam es zu einer reconciliatio der kirchlichen und herrschaftlichen Macht; vgl. in diesem Kontext eine nach der Seligsprechung des Märtyrers herausgegebene Medaille mit Nepomuk auf der Vorder- und Wenzel auf der Rückseite: Baumstark / von Herzogenberg / Volk 1993, S. 148 – 149. 77 Schmidl 1754, S. 206 (weitere Berichte: S. 205 – 209). 78 Baumstark / von Herzogenberg / Volk 1993, S. 204.

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Ausdehnung und Akkommodation

Abb. 139: Ignaz Franz Platzer, Die Auffindung des Leichnams des Johannes von Nepomuk, 1763, Prag, St.-Veits-Dom.

des Heiligen. Dieser endgültigen Erhöhung wurde durch die von Platzer gefertigte Darstellung eine ankündigende Formel hinzugefügt, die die leidvolle Geschichte Nepomuks aus der Zeit vor seiner Verherrlichung zeigt und dadurch die gemeinschaftlichen Gefühle der compassio im Voraus evoziert. Während an dem durch den überwältigenden Silberschein verklärten Sarg des Grabmals die vordere Plakette den vermeintlichen Grund des glorreichen Martyriums darstellt (die unglückliche Beichte der Frau von Wenzel IV. bei Nepomuk), informiert in Platzers Skulptur eine analog in den Vordergrund gerückte Kartusche an der sargähnlichen Bahre über den gewalttätigen Vorgang des Brückensturzes. Mit der sichtbaren Verbindung dieser zwei unterschiedlichen, sich jedoch im Sinne der Verherrlichung eines Mitglieds der Gemeinde gegenseitig programmatisch ergänzenden Monumente konstruiert sich eine ikonografische Melange. In Platzers Figurengruppe, die übrigens weder ein Kenotaph noch ein Denkmal bildet, erinnert die gleichzeitige Wiederauf findung und zeremonielle Aufbahrung an die gängige Simultanformel der Beweinung und Grablegung Christi. Darüber hinaus wird die passive, ostentative Körperponderation des toten Hauptprotagonisten der hypertrophen Sprache der zeitgenössischen Heldengrabmäler entlehnt. 79 Im Endeffekt erscheint die oben angedeutete ›Auferstehung‹ des Märtyrers im Inneren 79 Matsche 1981, S. 206.

Netzwerke der Befehlsgewalt

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des Doms als die Konsequenz seiner Nachahmung des Leidens Christi im Sinne eines sich selbst gegen ungerechte Herrschaft aufopfernden miles christianus. 80 Andererseits kann diese Inszenierung als ein Kommentar zur Martergeschichte selbst begriffen werden. Durch die räumliche Verknüpfung der Skulptur Platzers mit dem Grabmal wird eine Antithese zum Brückensturz in die Moldau erzielt, da der 1393 aus den Gewässern geborgene Leichnam, geschändet wie das 1619 profanierte Grabmal selbst, im Inneren des Doms durch imperatorische Stiftungskraft einer vertikalen Transformation zu einem ewig agierenden Heiligenkörper unterzogen wird. Platzers Entwurf, in dessen ursprünglicher Version zusätzlich ein Obelisk oberhalb des Märtyrerkörpers vorgesehen war (Abb. 140), 81 wird demgemäß zu einem nachträglich angebrachten, strikt historischen Prisma, durch das, wie durch das reale Fenster direkt dahinter, die überzeitliche, ultimative Erhebung des neuen geistigen ›Staatssekretärs‹ am revitalisierten Ort der theokratischen Wiedergutmachung Abb. 140: Ignaz Franz Platzer, Die der Geschichte betrachtet werden sollte. Auffindung des Leichnams des Bei der Neugestaltung der Nekropole Nepomuks Johannes von Nepomuk, 1763, handelt es sich – ähnlich wie in Györ – um eine bildlichunrealisierter Entwurf, Modello, Privatsammlung. autoritäre Gesetzgebung durch einen kunstvollen Griff ad origines. Ein bekanntes und leicht erkennbares Bild wird entweder neu verortet und damit dekontextualisiert, oder seine Form wird am gleichen Ort auf eine Art und Weise geändert, dass dem Ort selbst eine neue Qualität zugesprochen werden muss. Im Fall von Nepomuks Grab wird diese neue Dimension des Ortes sowohl durch die Finanzierung des neuen Grabmals durch eine kaiserliche Sammelaktion und die Ausführung durch Wiener Hofkünstler als auch durch den radikalen Formwechsel deutlich zum Vorschein gebracht. 82 Der feudale Landespatriotismus wurde so in ein Obrigkeitssystem im Sinne einer zentralistischen habsburgischen Staatsräson mit eingesetzten, subordinierten Repräsentanten umgeleitet. Dabei ist es nicht unwichtig, dass Nepomuk für Karl VI. eine programmatisch nach außen gerichtete ›Schildfigur‹ des Imperiums darstellte – sowohl in den Ländern der böhmischen Krone: Böhmen, Mähren, Schlesien und Lausitz, als auch in Ungarn und bereits in Spanien

80 Vgl. Wang 1975. 81 Baumstark / von Herzogenberg / Volk 1993, S. 202 – 205. 82 Matsche 1981, S. 208 – 209. Vgl. dazu Pötzl-Malikova 1992, S. 365 – 355.

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während des habsburgischen Erbfolgekrieges gegen Frankreich. 83 Die in den Grenzländern und umstrittenen Gebieten einsetzbare Person des böhmischen Proto-Märtyrers machte zu Lebzeiten des Kaisers direkt an der Donau, an der Wiener Hofburg und generell in Österreich jedoch nie eine große Karriere. 84 Wenn man die dramatis personae des barocken böhmischen Heiligenhimmels zum Ende des 17. Jahrhunderts im Kontext des gesamthabsburgischen Pantheons betrachtet, stellt Nepomuk immer noch eher eine Randfigur dar. Diese Tatsache verwundert insbesondere, da er am Ort seines Martyriums – direkt auf der Prager Karlsbrücke – bildlich durch die von Johann Brokoff angefertigte und 1683 – zum dreihundertjährigen Jubiläum des Martyriums – enthüllte Statue präsent blieb 85 wie auch landesweit programmatisch die Brücken und Wege der böhmischen Provinz in Schutz nahm und somit offensichtlich bereits seit jeher einen gewissen Kultstatus genoss. 86 Es handelt sich also um eine bestimmte politische Konjunktur am Anfang des 18. Jahrhunderts, die den zunehmenden Exportkult um den böhmischen Proto-Märtyrer auf die Agenda der visuellen Machtdiskurse setzte und ihn als medial günstiges, lokal anziehendes Propagandamittel zur Zeit des neuen Kaisers Karl VI. nützlich werden ließ. Als »Novus Carolus V« sah Karl VI. sich als würdigen Erben des triumphierenden Kaisers Karl V. aus der Zeit der größten geografischen Entdeckungen und territorialen Erweiterungen des Reiches an. Die Genealogie der Herrschaft ging allerdings auch weiter: Als solcher war Karl VI. wiederum durch die mythisierten und geheiligten Gründungstaten Karl des Großen, des Urvaters aller christlichen Kaiser des Westens, der die Kreuzmission Konstantins fortsetzte, vorbestimmt. 87 Die Idee der Inszenierung Nepomuks als neuer Landmarke unterstützte die systematische kaiserliche Investition in strategische Pufferzonen des dynastischen Imperiums an deren geografischen limina. Die Figur dieses Märtyrers erlangte dank des Rückgriffs auf das attributiv instrumentalisierte Mittelalter – einen Bereich der durch Tradition anerkannten Argumentationsstoffe – eine geschichtsverwaltende Funktion. Karl VI. vermochte es, sich mithilfe solcher Bildattribute, konkret: anhand ihrer Genealogie, als Bauherr in einer Balance zwischen Krieg und Frieden darzustellen und eine übergreifende Netzwerkstruktur seiner Herrschaft zu pflegen. 88 Nepomuk, der zwischen der Milvischen Brücke und dem Prager Dom eine ›Reparatur der Geschichte‹ vornimmt, ist auf diese Art und Weise zu einem visuell einsetzbaren, die Natur- und Stadtlandschaft gestaltenden Machtinstrument geworden.

83 Zur Idee einer beschützenden ›Schildfigur‹ eines Helden, so wie sie u. a. im 1745 von Josef Emanuel Fischer von Erlach geschaffenen Epitaph des Rüdiger Graf von Starhemberg, des Stadtkommandanten von Wien, direkt ins Bild übersetzt wurde, siehe Kempe 2014, S. 170 – 176. 84 Kovács 1979, S. 75 – 76. 85 Volk 1993, S. 27 – 35, hier: S. 27 – 29; Royt 1993, S. 86. 86 Eine Grafik aus dem Jahr 1695, die eine Apotheose der habsburgischen Herrscher Böhmens zeigt, lässt diese Absenz erstaunlich deutlich in Erscheinung treten; siehe Zelenková 2009, S. 144 – 145. 87 Matsche 1981, S. 242 – 253. 88 Siehe eine Darstellung bei Höller zu Karl VI. als Bauherr: Matsche 1981, Abb. 155.

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Aneignung und eucharistisches Handeln Durch die Verleihung von Kompetenzen an lokal verankerte Figuren der historischen Ordnung wie durch die Erteilung militärischer Befehle an die Feldherren auf den Schlachtfeldern bleibt der Kaiser selbst gleichzeitig präsent und unsichtbar als eine allgegenwärtige Übermacht. Er wird im Lichte seiner visuellen Propaganda zu einem Puppenspieler, der die Fäden seiner Repräsentanten zieht. 89 Eine Anspielung auf das Wesen des eucharistischen Handelns ist hier leicht zu erkennen. Es geht dabei jedoch eher um die ontologische Dimension der Substanz der Eucharistie als Ebene der ubiquitären Präsenz und nicht um die äußere Form des liturgischen Opferrituals. Die eucharistische Konnotation erweist sich als durchaus kompatibel mit dem herrschaftlichen Ansatz der Gesetzgebung auf Distanz, denn in beiden Bereichen gelten die Grundzüge der seit dem Mittelalter entwickelten Repräsentationstheorien, inklusive der Frage zur Erteilung von Plenipotenz bei der Machtausübung. Carlo Ginzburg analysierte in seinem oft zitierten Aufsatz zum Begriff der Repräsentation die Eucharistie als Urform des westlichen Substitutionsverfahrens und deren Konsequenzen im Bereich der Visualisierungsstrategien von herrschaftlicher Instanz. Laut seiner These war es die Einführung des Dogmas der eucharistischen praesentia realis 1215, die der Legitimierung der königlichen Porträts als Repräsentationen und folglich ihrer Miteinbeziehung in die Praktiken der Substitution, etwa in Form der Bestattung einer herrschaftlichen effigie, den Weg ebnete. 90 Dabei war die Macht des realiter der Transsubstantiation ausschlaggebend, die – so Ginzburg – eine stellvertretende Funktion des Bildnisses eines Monarchen im Rahmen der politischen Theologie ermöglichte. In dem hier zu analysierenden Fall der kaiserlichen Selbstermächtigung ist es dagegen eher der modus operandi des eucharistischen Verfahrens, der propagandistisch eingesetzt wird, um die Allherrschaft des Monarchen zu versinnbildlichen. Nicht das transgressive realiter, sondern das auf eine Ebene der räumlich übergreifenden und zeitlich allpotenten Wirksamkeit hinweisende ubique personaliter des geheiligten staatlichen Leibes ist hier von Bedeutung. Es ist beinahe die gleiche Präsenzform, die im Falle der Ubiquität Christi in der Eucharistie für die mittelalterlichen Liturgiker eine ›harte ontologische Nuss‹ der unlösbaren göttlichen Phänomenologie darstellte. 91 Die Politik der Selbstverherrlichung von Karl VI. kann in diesem Kontext mit anderen ritualisierten Erscheinungsmodi der Herrscherfigur in Form einer Spiegelung beziehungsweise Verkörperung der Eucharistie verglichen werden. Eine Parallele bildet sicherlich der

89 Ein in diesem Kontext interessanter Ansatz in der historischen Rechtswissenschaft, fundiert auf Niklas Luhmanns gesellschaftlicher Semantik, verbindet das Verfahren der Legitimation mit dem Phänomen der Selbstreferenz und der Annahme von Rollenspielen im juristischen Kontext: Seibert 2010, S. 253 – 268. 90 Ginzburg 1999, S. 97 – 119, hier insbes. S. 111 – 113. 91 Vgl. zum eucharistischen Phänomen des ubique personaliter u. a. Gerson, Conclusiones, S. 475 – 478, wie auch zahlreiche Passagen aus der Summa theologiae des Thomas von Aquin.

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Abb. 141: Altarbereich in der Sakristei der Klosterkirche, El Escorial, in: Andrés Ximénez, Descripcion del real monasterio de San Lorenzo del Escorial, 1764.

Fall des spanischen Habsburgers Philipp II., der sich 1685 – 1690 in der Sakristei der Klosterkirche in El Escorial im Moment der feierlichen Translation einer wunderwirkenden Hostie (la Sagrada Forma) am 19. Oktober 1684 als ihr staatliches Ebenbild porträtieren ließ (Taf. 42). Das großformatige Bild (ca. 500 × 300 cm), gemalt von Claudio Coello, funktioniert wie eine monumentale Bilderklappe, die bei feierlichen Anlässen hochgehoben werden kann, um den eigentlichen Schauraum mit der Hostie im Tabernakulum und einem Kruzifix zu enthüllen (Abb. 141). Diese Hostie, die bereits 1572 durch Protestanten in Holland angeblich geschändet worden war, nachher geblutet haben soll und als Wunderobjekt nach Wien geschickt worden ist, um schließlich in El Escorial ihren Platz zu finden, wird zu einem wandernden Siegel der territorialen Politik der Habsburgerdynastie. Durch ihre erneute Erhebung zu einem Staatssymbol direkt nach der Befreiung Wiens von den Türken 1683 erlaubte sie somit dem spanischen König, sich als ein sakramentaler dispositarius der höchsten Macht zu positionieren. 92 Die Idee von Karl VI. als ›eucharistischem‹ Herrscher erinnert allerdings in diesem Sinne mehr noch an die Strategie der Manifestation des französischen Sonnenkönigs Ludwig XIV., dessen staatlicher Leib laut Louis Marin durch die omnipräsente ›Hostie‹ der königlichen Medaille auf einem Territorium ausgedehnt wurde (Abb. 142). 93 Der gelungene Einsatz Nepomuks als verwaltender Priester des Staates im Dienst einer flächendeckenden politischen Landschaftsmarkierung – so wie er auch im besprochenen Thesenblatt von Johann Baptista Franz Anton von Thurn-Valsassina und Taxis positioniert wurde –

92 Wellen 2015, S. 153 – 208; Ortiz-Iribas 2001, S. 643 – 674; Martínez Ripoll 1999, S. 277 – 283; Sullivan 1985, S. 243 – 259. Vgl. Ximenez, Descripcion, S. 294. 93 Marin 2005, S. 197 – 270. Zur solaren Ikonografie der Medaillen Ludwigs XIV. wie auch zu ihrem Nachleben vgl. Ziegler 2010, S. 21 – 42.

Aneignung und eucharistisches Handeln

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Abb. 142: Jean Mauger, Wahlspruchmedaille Ludwigs XIV., 1663, Privatsammlung.

bleibt im Verhältnis dazu jedoch eine pragmatische Taktik der triumphalen Aneignung und Assimilierung, jenseits des typischen absolutistischen Narzissmus. Die bekannten barocken, anagrammatischen Entschlüsselungen des Wortes Eucharistia mit Hic Austriae / Hec Austria / Cie Austria 94 können in diesem Licht jedenfalls in einem neuen Interpretationsmodus betrachtet werden. Der visuell geprägte und flächendeckende Aneignungsprozess des böhmischen Proto-Märtyrers Nepomuk durch Karl VI. verläuft im Rahmen einer augenscheinlich vergegenwärtigenden und sich doch im begehbaren, zentralistisch verfassten Raum entfaltenden Narration. 95 Dieser Prozess wird mit einem eucharistischen System der verhüllten Plenipotenzen gekoppelt, der sich dynamisch, in Bezug auf den Raum und seine permanente Erweiterung manifestiert. Wenn von dem königlichen Porträt gesagt werden kann, es sei gleichbedeutend mit dem Auftreten königlicher Majestät, so wie aus juristischer Sicht das Wappen als genealogisches Porträt Stellvertreter des Königs sein kann, 96 wird unter der eucharistisch als Urtyp der erteilten Vollmacht gedeuteten figura des mittelalterlichen Märtyrers die Taktik der imperialen Landesaneignung verschleiert. Die starke ikonische Präsenz des Nepomuk in Böhmen wird wie eine landesweite Bewilligung der Kompetenz konstruiert: Im eucharistischen Sinne der Gemeinschaftsbildung durch gegenseitiges Versprechen könnte diese Taktik sogar mit der flächendeckenden autoritären Verteilung der Hostien gleichgesetzt werden. Erinnert man sich in diesem Kontext nochmals an das oben besprochene Thesenblatt, könnte man hier, von den rein visuellen Assoziationen ausgehend, in der dargestellten Übergabe der Weltscheibe von Johannes Nepomuk an Karl VI. direkt eine liturgisch konnotierte eucharistische Gebärde sehen. Es wäre ein Akt, der an der Grenze zwischen dem durch den jesuitischen Orden bewahrten Presbyterium der katholischen ecclesia und dem zeremoniellen habsburgischen Hauptschiff der Kirche stattfindet und dessen Früchte in den sich in die Ferne öffnenden, durch Schlachten eingenommenen Raum im Rahmen einer globalen Kommunion getragen werden sollen. Bei der näheren Betrachtung dieser

94 Siehe Coreth 1959, S. 17 – 30, insbes. S. 29. Dazu Preiss 1997, S. 369 – 395. 95 Vgl. Marin 1994, S. 204 – 218. Vgl. u. a. Cavalle 2006, S. 80 – 83. 96 Vgl. Seitter 1982, S. 299 – 312.

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Geste wird man auch feststellen können, dass geografische Umrisse und Beschriftungen auf dieser ungewöhnlichen Globus-Scheibe in ihrer Ausführung sehr detailliert sind, so detailliert, dass man sie fast nicht sehen kann, ohne das Gesamtbild aus den Augen zu verlieren. Als solche sind sie den beinahe unsichtbaren Darstellungen auf einer Hostie ähnlich; auch diese lassen sich schwer entziffern, und wenn, dann nur aus unmittelbarer Nähe. Im Falle des Thesenblattes gelingt eine Entzifferung nur, wenn sich der Betrachter wie ein Gläubiger bei der Kommunion etwa direkt vor der Mitte des Bildes befindet und seinen Blick auf das entsprechende Detail richtet (Abb. 143). Mit diesem ›Hineinsehen‹ wird das Zentrum der Darstellung, der Knotenpunkt des szenischen Diagramms, unmittelbar zwischen dem Kaiser und seinem kirchlichem Verwalter erfahrbar. Nepomuk wird zum historischen Garanten der monarchischen Gesetzgebung; die geografische Verbreitung seiner ikonischen Präsenz ergibt in diesem Sinne ein eucharistisches Schema der staatlichen Territorialpolitik. Dabei ist es wiederum nicht unbedeutend, dass die Eucharistie nicht nur mit dem ritualisierten Opfer konnotiert wird und auch nicht nur mit der substanziellen Präsenz Gottes, sondern auch vonseiten des Rezipienten als eine Danksagung verstanden werden kann, die mit Verpflichtung, Hin- und Gegengabe und schließlich mit der subordinierenden Transzendenz untrennbar verbunden bleibt. 97 Als solche wurde die Idee der Danksagung – vom griechischen eucharistia – bereits durch antike Autoren verwendet, wie beispielsweise von Statius, von denen aus sie in die frühmoderne Rhetorik übergegangen ist. Statius’ Schrift Silvae IV bildet eine Form der dankenden Apostrophe – eucharisticon – an den Kaiser Domitian, in der die Mythologie untrennbar mit der topografischen Dimension der Herrschaft und mit den Errungenschaften des allpräsenten Kaisers verbunden wird. 98 In dieser Bedeutung taucht der Terminus ebenfalls bei der Institutionalisierung der gegenseitigen Verpflichtung zwischen dem Geber und den Empfängern während des Letzten Abendmahls in den Evangelien auf. 99 Durch Tertullian wurde das Sakrament der eucharistischen Kommunikation darüber hinaus in der römisch-juristischen Nomenklatur unter dem Stichwort pignus gefasst, einer Verpfändung, eines Verfahrens des gegenseitigen Vertrauens also, in dem die platonisch geprägte idealistische Verkettung der Welten durch Teilhabe (methexis) und Anwesenheit (parousia) in einem standardisierten rechtlichen Kontext erneut ins Spiel kommt. 100 Als solche war Eucharistie wenig später, im Jahr 313, also im Moment der konstantinischen Neugründung der christlichen Herrschaft, zum einzigen Staatsopfer, zu einer Maßnahme der kultischen, verpflichtenden Selbstsubordination unter die Reichsinstanz geworden – und dies nicht ohne den grundlegenden theologischen Einsatz des Bischofs Eusebius von Cäsarea

97 Vgl. zur Sinndeutung des eucharistischen Opfers als verpflichtende Selbsthingabe und Gegengabe, auch im Kontext der griechischen und jüdischen Präzedenzen und Vorlagen: Lang 1998, S. 233 – 310. 98 Statius, Silvae, IV.2. 99 Mt 26,27. Vgl. zu den staatstheologischen Konsequenzen des christlich fundierten Aktes der Verpflichtung: Prodi 1997. 100 Zum tertullianischen pignus: Dürig 1952, S. 60 – 65.

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Abb. 143: Gottlieb Heuss nach Franz Georg Hermann, Allegorie der Weltherrschaft des Kaisers Karls VI. Ausschnitt, 1724, Thesenblatt Theses ex universa philosophia von Johann Baptista Franz Anton von ThurnValsassina und Taxis an der Ritterakademie zu Ettal, Schabkunstblatt, Breslau, Ossolineum.

und seiner staatlichen Allegorese des neuen Opfers als gewaltlose figura der Herrlichkeit. 101 So wurde Kultpraxis zur Gesetzgebung. In diesem Licht ist auch die auf Landesaneignung bezogene habsburgische ›Eucharistie‹ eine beidseitige Verpflichtung struktureller Art, in der die Vorrangigkeit des Herrschers, die Plenipotenz seiner Vollstrecker und die Obedienz seiner Untertanen eine komplexe Struktur der gegenseitigen Konditionierung bilden. Ein Opfer 101 Lang 1998, S. 265 – 267; vgl. Mattingly 1942, S. 171 – 179.

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erfordert jedoch die Vermittlung durch einen anerkannten Priester. In diesem Sinne übergibt Johannes Nepomuk im oben analysierten Thesenblatt Karl VI. die globale Herrschaft: Sie ist so global wie die eucharistische Botschaft, die den Jüngern durch Christus erteilt wurde und mit der sie in die ganze Welt auf eine Evangelisierungsmission verschickt wurden. Der Märtyrer übergibt dem Kaiser einen greifbaren Globus, ganz so wie ein Staatspriester oder Verwalter der Idee des universellen monarchischen Leibes. Dabei agiert er aber selbst nicht vom Himmel aus, sondern tritt horizontal als ein organischer Teil dieses sakralisierten Gebildes des habsburgischen Staates auf, damit die Gabe der Kommunion durch die kaiserliche Allherrschaft weiter in der Welt verteilt und verteidigt werden kann. Nepomuk ist ein Heiliger, der nicht transzendent vom christlichen Pantheon herab, sondern durch seine historische Legitimation bereits direkt auf staatlichem Niveau tätig ist. Es lohnt sich nun, noch einmal einen Blick auf die beschriftete ›globale Hostie‹ im Thesenblatt zu werfen. Der dem Kaiser in diesem Thesenblatt überreichte Globus ist mit zwei Inschriften versehen. Die erste, am äußeren Rand der flachen Scheibe, beinhaltet die typische biblische Segnung eines aufsteigenden Herrschers: »Dominaberis Nationibus Plurimis Et Tui Nemo Dominabitur« (5. Mose 15,6). Die zweite, angebracht direkt am Äquator, der allumfassenden Kontur der globalen Vollkommenheit, bezeugt den Gedanken einer dynastischen Zukunftssicherung durch Bewahrung des Friedens: »Implebo Domum Istam Gloria«. Dies kann dementsprechend retrospektiv und prospektiv zugleich interpretiert werden als eine Form der Danksagung für die Aufnahme Böhmens und anderer durch die Monarchie angeeigneter Länder unter den kaiserlichen Schutzmantel – als Vorbild für die Sicherung der Grenzen und weitere friedliche Eroberungen in Europa und der Welt. 102 Es ist in diesem Zusammenhang durchaus plausibel, dass die himmlischen Doppelstrahlen der Glorie, die von dem von Maria gehaltenen kleinen Christus ausgesendet werden, sich als Strahlen der Mission erweisen. Denn sie fallen sehr präzise auf den Erzengel Michael, den Globus und den Kopf Karls VI. In diesem Sinne lässt sich diese Inszenierung eines Herrschers als Missionar als Fortsetzung oder Konsequenz der Idee der Theokratie ansehen, die in den beiden anfangs erwähnten Reiterfiguren in der Vorhalle der vatikanischen Basilika – Konstantin als Kaiser der Gründungszeit und Karl der Große als Initiator der translatio imperii – ausgedrückt wurde. Die bipolare Konstruktion von der ersten konstantinischen Gesetzgebung einerseits und deren karolingischer Restauration auf neuem Boden andererseits wurde hier wieder aufgegriffen, und diese beiden Aspekte wurden gleichzeitig unter dem gemeinsamen Nenner der durch traditio und auctoritas berechtigten globalen Expansion subsumiert. Dem Netzwerk der Macht, so wie es im Thesenblatt dargestellt wurde, entspricht jedoch interessanterweise keine typische Darstellung des großen militärischen Triumphes, kein Bild

102 Vgl. in diesem Sinne den altrömischen Topos der securitas beziehungsweise der im globalen Sinne zu interpretierenden securitas publica, einer durch pax, den Frieden im Reich, konditionierten und juristisch bestimmten Tugend des divinisierten Kaisers, deren staatliche Natur mittels Abbildungen auf Münzen im Land verbreitet wurde: Manders 2012, S. 205 – 211.

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der zwanghaften Appropriation, sondern eher eine Manifestation der horizontalen Emergenz und politischen Hypostasierung, auf der die Macht des Kaisers fundiert wird. Diese rhetorische Verhüllung kann ebenfalls als Feigenblatt des Absolutismus bezeichnet werden, in dem der Rückgriff auf lokale Traditionen lediglich Zweck der Selbstlegitimierung und politischen Stabilisierung war. Johannes von Nepomuk als ein Mensch, der sich aufgrund der höfischen Intrigen Wenzels IV. gegen die skrupellose Tyrannei wendet, eignete sich wie kein anderer Heiliger zur Umformung in die landesbezogene Visitenkarte der habsburgischen Macht. 103 Das Kaiserpaar Karl VI. und Elisabeth Christine wird in diesem Sinne zum historischen Gegenbild vom böhmischen König Wenzel IV., der als Henker Nepomuks gilt, und dessen Frau Johanna von Bayern. Denen, die an einer Wiedergutmachung interessiert sind, kommt der Märtyrer entgegen und überreicht die Herrschaft über das Land als der wiedergeborene Staatsmann. 104 Durch solch eine Sichtbarmachung der kaiserlichen Disposition über die kirchlichen Traditionsgüter – eine sich in der Globus-Hostie manifestierende ekklesiastischherrschaftliche communio – entsteht eine historische Klammer. Der Konflikt des Nepomuk als mittelalterlicher Kämpfer mit dem böhmischen König als Verkörperung der Ungerechtigkeit und folglich der Ungültigkeit der herrschaftlichen ratio wird überwunden. In diesem Licht kann der Akt der Übergabe der Globus-Hostie nicht nur als eine typische Intervention eines Heiligen, sondern auch als eine Besiegelung der gegenseitigen Verpflichtung angesehen werden. Das damalige Opfer der böhmisch-luxemburgischen Gewaltherrschaft überreicht dem Kaiser das Symbol der Macht im Rahmen einer Opfergabe: Es ist eine Geste des endgültigen globalen Anvertrauens, ein Ausdruck der bedingungslosen Selbstempfehlung für die Aufnahme des Landes unter den kaiserlichen Schutz. So wie die von Mose durch Jahwe erhaltene Bundeslade den Bund Gottes mit dem Volk verkörperte, so erlaubt die verpfändende und beiderseitig verpflichtende eucharistische Bindung dem Herrscher, die Kommunion der Welt anzunehmen und sich infolgedessen anhand des vorausgesetzten Vertrauens als von seinem Gott gesegneter, legitimer Anführer und Gesetzgeber zu sehen. Auf dieser Interpretationsebene besteht zwischen der Bundeslade und der Kommunion wieder eine enge Verbindung. Der in der christlichen Exegese präsente Gedanke der Eucharistie als Ankündigung der Rückkehr Gottes, der Parusie, wird im Rahmen einer staatlich-absolutistischen Offenbarung genutzt, um die Idee einer theologisch fundierten, autoritären Wiedereroberung des Landes – in unserem Fall sowohl Böhmens als auch Ungarns – durch das kaiserliche Gesetz zu etablieren. 105 Als neue Verkörperung des ewigen kirchlich-herrschaftlichen Bundes legitimiert der Märtyrer Nepomuk, der staatliche sacerdos, die positive Wirkung der aktuellen habsburgischen Weltpolitik von der Donau bis zum Rio de la Plata als Staatsräson und somit die Machtansprüche des Imperium sine fine.

103 Eder 1979, S. 52 – 57. 104 Kovács 1979, S. 74. 105 Vgl. eine quellenbasierte Untersuchung: Keller 1989.

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Die Ausstattung der Figur des Nepomuk mit der Würde eines historischen Staatsverwalters bringt ähnliche archäologisch-historiografische Diskurse ins Spiel, die dem Bund des Herrschers mit der institutionalisierten Glaubensgemeinschaft in seinen allerersten Anfängen seit 313, dem Jahr der Mailänder Vereinbarung, ein solides Fundament verliehen. Es ist alles andere als Zufall, dass laut der frühneuzeitlichen Historiografie Konstantin der Große seine Bestimmung vor dem in Rom entdeckten Grab von Petrus mit einer ›aktivierten‹ segnenden Figur des kirchlichen Protoplasten fand. Hier soll er als Kaiser den Grundstein für die historisch legitimierte, hierarchisch strukturierte und gesetzlich organisierte Staatsreligion gelegt haben, und so würdigte ihn auch die frühneuzeitliche pontifikale Historiografie, welche die Stiftung der ersten christlichen Basilika als Akt der Huldigung des plenipotenten Herrschers gegenüber den institutionellen origines des als historisch überlegenen Glaubens darstellte (Abb. 144). 106 Die Gestalt des Johannes von Nepomuk, wohl die letzte barocke Erscheinung eines starken Politheiligen, schließt den Kreis der uralten Gründungstopoi der Monarchie als Obrigkeits- und Regierungsform. Seine anfangs besprochene Präsenz an der Milvischen Brücke – am ersten Siegesort eines Kaisers, der selbst einer christlichen Kultur des öffentlichen Denkmals als Zeichen des Triumphes den Anfang gab, wie bei seinem Biografen Eusebius von Cäsarea zu lesen ist 107 – hat also in diesem Kontext eine doppelte Bedeutung. Einerseits scheint es ein kulturelles Derivat zu sein und andererseits zugleich ein konsequentes Echo der sich durch supraregionale Netzwerke ausbreitenden Macht des christlichen Kaiserreiches. In diesem Punkt treffen sich die als Topoi der kirchlichen Gemeinschaft zu bezeichnenden Erörterungen von Eusebius von Cäsarea zur Funktion des öffentlichen Herrscherdenkmals und zum Sinn des – kosmologisch gesprochen – vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang unter den Völkern zu verbreitenden eucharistischen Opfers – ein Treffen eben an der Schnittstelle zwischen Danksagung, Memoria und Gesetz. Anders als die bisherigen regionalen Staatsheiligen von eher statischer, nach innen gerichteter Wirkung – Leopold und Joseph in Österreich, Stefan in Ungarn, Adalbert und Wenzel in Böhmen – eignete sich die im medialen Sinne verhältnismäßig neue Gestalt des mittelalterlichen Märtyrers Nepomuk ideal als länderübergreifend agierender Patron. 108 Dank seiner künstlich animierten Dynamik zwischen den Jahrhunderten wird er im Rahmen dieser sichtbar werdenden Topologie der habsburgischen Herrschaft zu einer koordinierenden Figur, welche die permanent wechselnden Raumkonstellationen der kaiserlichen Macht zusammenfasst, artikuliert und somit die gesamte Landschaft des Politischen auf einer ›elastischen‹ Basis der vielseitigen Verknüpfungen kreiert. Dabei handelt es sich um keine klaren Entitäten des geografischen Raumes, sondern eher um eine Dynamik der Raumproduktion mithilfe der körperbezogenen Zuwendung des positionierten Betrachters, der an einem konkreten Ort einen konkreten historischen Bezug wahrnimmt. Diese Konstruktion wird nur dadurch 106 Chacon 1677, Sp. 53 – 54. 107 Eusebius, Vita Constantini, I, 40. 108 Kovács 1979, S. 75, vgl. Mezler-Andelberg 1979, S. 46.

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Abb. 144: Pieter van Lint (Entwurf), Konstantin der Große gründet die erste Basilika, in: Alfonso Chacon, Vitæ, et res gestæ Pontificvm Romanorum et S. R. E. Cardinalivm, 1677.

ermöglicht, dass es sich dabei nicht um einen kartografischen Raum mit seiner abstrakttopologischen Diagrammatik, sondern um einen gelebten beziehungsweise bewohnten, mit historischen Ortszeichen gefüllten, ›realen‹ Raum mit seiner Realtopologie handelt. 109 Die Effizienz der historischen Figur des mittelalterlichen Märtyrers erklärt sich aus den affektiven Komponenten der in diesem Raum bereits bestehenden kollektiven Identität. Der zum Autoritätszeichen umgearbeitete Erinnerungsort der Grablege Nepomuks ist in diesem Sinne kein Gegenstand der Geografie, sondern Teil einer Verbildlichung und symbolischen Vernetzung der wahrnehmbaren und ab jetzt mnemotechnisch durch bekannte Bilder erfahrbaren Kult- und Kulturlandschaft. Loci werden zu imagines, reale Orte schlagen in imaginäre Topoi um. 110 Der Raum ist abstrakt, da er konstruiert werden muss, Orte dagegen nicht, indem

109 Zum Begriff des abstrakt-topologischen in der Karte als Diagramm siehe in einem übergreifenden Kontext Deleuze / Guattari 1980, u. a. S. 20. 110 Belting 1998, S. 40, 50.

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sie lokalisierbar und direkt durch Selbstverortung im fokussierten Sehen erfahrbar sind. Der gesteuerte Blick auf die herrschaftlich geprägte Landschaft, so wie sie von der Brücke oder Terrasse aus zu sehen ist oder selbst auch im Inneren eines Heiligtums mithilfe des Magnetismus von loci sacrae radial gestaltet wird, wird selbst zu einer bildlichen Projektion, die im Gedächtnis gespeichert wird und sich von dem Erfahrungspanorama nicht mehr trennen lässt. 111 Dabei sind es gerade die als bildliche Palimpseste geschichteten und doch mit neuen sprechenden Oberflächen bedeckten Orte, deren Vernetzung eine homogenisierende Sicherheitsstrategie zugunsten der geistigen Stabilität des Landes angesichts seiner konfessionellen Hybridität kreiert. Der mit vervielfältigten und vereinheitlichten visuellen Landmarken konfrontierte Betrachter befindet sich sozusagen jeweils am gleichen Ort. 112 Einerseits wird also die kaiserliche Raumauffassung im 18. Jahrhundert durch das explizit geäußerte globale Machtbewusstsein und durch den Zwang zur Expansion determiniert. Andererseits findet jedoch im Sinne der sichtbaren Verortung eine Implosion in Form einer ›Inschutznahme‹ des Landes statt, und zwar durch die in die Landschaft eingeführte eucharistisch-ikonische ›Schildfigur‹ des aus dem Mittelalter berufenen und durch seine historische Bekanntheit sich dafür eignenden Staatsverwalters Johannes von Nepomuk. Der dadurch ubiquitär präsente Kaiser als von Gott gesegneter Friedensstifter bedient sich der kanonisch-sakralen Repräsentationsstrukturen wie auch der vorhandenen kulturellen Gedächtnisschichten, um sich das Land im Sinne der als legitim beanspruchten Reichserweiterung symbolisch anzueignen und auf Basis dieser hegemonialen Identität seine Relationen mit dem Außenraum zu gestalten: die flächendeckende Repräsentation eines absolutistischen Herrschers wird mit den zentralistischen Grundlagen der substanziellen und ubiquitären Verkörperung als ritueller Vorgang und Gegenstand des religiösen Glaubens gekoppelt. Diese Art der Vereinnahmung der Eucharistie – eine theokratische Selbstaufhebung im Kontext der zwischenkonfessionellen Polemik – hat auch eine diskursive Vor- und zugleich Nachgeschichte. Im Jahr 1938 – in dem gleichen Jahr, in dem der »Anschluss Österreichs« durch das deutsche NS-Regime erfolgte – weist Carl Schmitt in seiner Analyse von Hobbes’ Leviathan von 1651 gerade auf die absolutistischen Staaten des 18. Jahrhunderts als avancierteste Verwirklichungen des menschengemachten, maschinisierten Machtapparates, des ›gezähmten‹ Leviathan hin. 113 In der Verstaatlichung der sakramentalen Prozedur der Ritualisierung vom Wunder, nach der unter der Prämisse cuius regio, eius religio der Staat und nicht der private Glauben eines Einzelnen über die Aussagekraft beziehungsweise die Geltung eines Wunders entscheidet, sieht Schmitt allerdings zugleich einen Grund für den Niedergang der auf Einheit grundierten Staatsmaschinerie: mit dieser Verstaatlichung soll gerade eine Kluft

111 Vgl. zur zeitgenössischen Auffassung des relationalen Raumes: Filk 2010, S. 177 – 205. 112 Vgl. zu Landmarken als bildlichen Symptome der Grenzziehung und »politischen Besetzung der Ebene«: Warnke 1992, S. 13 – 18. 113 Schmitt 1938, Kap. 5.

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zwischen der religiösen Form des Staatskultes und der Privatsphäre des Glaubens entstanden sein. Ihren Ursprung lokalisiert Schmitt bereits bei Hobbes selbst, der dem private reason und somit dem Individualismus eine agnostische Konzession gewährt, indem er die staatliche Öffentlichkeit des Wunders zur Räson dessen Beglaubigung erhebt und den eventuellen Zweifel an seiner Wahrhaftigkeit den privaten Individuen überlässt. Diese Kluft ermöglichte dann im Barock, das Außen der staatlichen Verpflichtung von dem Innen des individuellen Denkens zu trennen. Als ein Auseinandergehen zwischen öffentlicher Bekenntnis und innerem Glauben sollte diese Kluft nach Schmitt einer der Impulse gewesen sein, mit denen im frühmodernen Staat zudem die für die Aufrechterhaltung der Herrschaft des Leviathan notwendige Verbindung zwischen staatlichem Schutz und bürgerlichem Gehorsam zerrissen wurde. In seiner antisemitisch geprägten Analyse bezeichnet Schmitt, bis vor kurzem noch NS-Jurist, diese frühmoderne Sprengung der maschinisierten Einheit des Staates als Trennung zwischen Form und Inhalt und fasst sie als eine jüdische Verschwörung, die noch in Spinozas monistischen Überlegungen zur Unbegrenztheit des menschlichen Denkens wurzelt und die für die Legalität des Leviathans eine Bedrohung, ein sich immanent im Rahmen des Staates entwickelndes, ihn zerstörendes Element darstellt. Für den Autor der Politischen Theologie, der die historische Niederlage von Hobbes’ Leviathan zugleich in der Entwicklung des englischen Parlamentarismus, dem Feind der damaligen Krone, betrauert, sollte sich aus dieser Trennung das auf der Vielfalt gründende liberale Gedankengut entwickelt haben. 114 Die Herrschaft des sich interkontinental ausdehnenden Absolutismus scheitert also im Licht dieser Analyse an der Unaufmerksamkeit angesichts einer die eigene Form von Innen zerreissenden Dynamik der unkontrollierbaren Vielfältigkeit des privaten, sich der staatlichen Öffentlichkeit entziehenden Urteilsvermögens – sie geht zugrunde in Konfrontation mit dem Behemoth der aus diesem resultierenden indirekten Gewalt, mit der Macht eines selbst im Innen hervorgebrachten Anti-Leviathan. Ein Aspekt der komplexen, in der kritischen Geschichte von politischen Staatstheorien genauso wie in der Philosophie, den Kunst- und Kulturwissenschaften und schließlich auch der Theologie bereits intensiven Debatte um das umstrittene Erbe Schmitts aus der Zeit vor, während und nach dem 2. Weltkrieg kommt in dem spezifischen Kontext dieses Buches als kommentierende Glosse hinzu: Das Buch Hiob (40 – 41) beschreibt den vom Antichrist beherrschten drachenartigen Leviathan als Bestie des Meeres, während sein Feind Behemoth, die Bestie des Landes, als Ochse visualisiert wird, auf dem der Teufel reitet – beide Monstra sind gekennzeichnet durch ihre seit dem Mittelalter, durch die Frühe Neuzeit hindurch gepflegte visuelle Animalisierung und auf ägyptische Vorbilder zurückgehende Dämonisierung. In diesem Zusammenhang ist es frappierend, dass während der ›zähmbare‹ Leviathan sich bei Hobbes bekanntlich von einem biblischen Seeungeheuer in die humanoide

114 Schmitt 1938, Kap. 5 – 6.

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Maschine eines »sterblichen Gottes«, ein mächtiges Kompositwesen des makros anthropos verwandelt, 115 der Behemoth, also die für Hobbes an jedem Ufer lauernde Figur des Chaos, des Bürgerkrieges, der Revolution, keine derartige Anthropomorphisierung erfährt. Er wird stattdessen weiterhin als Gottes animalisches Erstgeschöpf aus einer alten Zeit, einer vergangenen Welt, einer früheren, nicht gelungenen und verworfenen Schöpfung begriffen, so wie seine Bildgeschichte von Horst Bredekamp kritisch und »mit einer fortwährenden Unruhe« gegenüber dem dunklen Schatten über Schmitts Diagnostik skizziert wurde. 116 Die Frage, inwieweit diese ikonografische Resistenz sich damit implizit oder sogar eher explizit in die lange Geschichte der anti-idolatrisch verwurzelten Bildkonflikte einfügt, wird hier offen bleiben müssen: ist die bildliche Metapher vom ägyptisierten Ochsen als den unkontrollierbaren Naturzustand verkörpernden revolutionären Feind der mechanisierten, rechtsorientierten Staatlichkeit – des ›gezähmten‹ und anwendbaren Monsters der seit 1492 überwundenen Meere –, auch ein Baustein in dem hier beschriebenen Diskurs zu kategorialen Ausschließungen, verformenden Aneignungen und metaphorisch disziplinierenden politischen Anachronismen? Solch ein bildhistorischer Rückblick macht allerdings umso mehr deutlich, dass antagonistisch aufgebaute Identitätskonzepte und Staatstheorien, aus denen schließlich die Kriegskatastrophen des 20. Jahrhunderts hervorgegangen sind, den gleichen Sedimentationen von bildlich transportierbaren Geschichtsnarrativen angehören, in denen auch der Begriff der eigenen Modernität in anachronistischen Bildtechniken der Ausschließung stark verankert wurde: Die barocke Hyperbolisierung der auf den Trümmern der Idole aufgebauten christlichen Macht, die in ihrer Suche nach geschichtlichen Erfüllungskoordinaten immer noch genealogisch und apologetisch in der paradigmatischen sinaitischen Zerstörung des goldenen Bildes eines Kalbes verwurzelt war, ist nur eine der historischen Dimensionen dieser diskursiv kultivierten Verbindung. 117 In dieser gesetzmäßigen Vernichtung des ersten ›alten‹ Bildes als Reminiszenz der alten ägyptischen Gefangenschaft und als obskures Synonym für Diesseitigkeit spiegelt sich anachronistisch jedes exklusiv beanspruchte Normativ wider, die den ›Fremden‹ zu notwendigen Kollateralschaden eigener Fortschrittlichkeit erklärt. Vor diesem Hintergrund erscheint der längst diskreditierte, im industriellen Zeitalter exerzierte Gedankenfundus, in dem Geschichte als ein Feld des andauernden Antagonismus mit dem Feind der immanent oder transzendent, äußerlich oder innerlich idealisierten beziehungsweise sakramentalisierten ›Wahrheit‹ definiert wird, als ein historisches Erbe des kultivierten Anachronismus. Heutzutage in re-territorialisierenden Politiken nationaler Selbstbehauptung und in diversen Strömungen neuer ›konservativen 115 Bredekamp 2003, passim, v. a. S. 13 – 31. Vgl. Beiträge in Manow 2012. 116 Bredekamp 2016b, S. 6. Zur diesbezüglichen Unterscheidung zwischen der Form der zwei Monstra und zu ihren möglichen Konsequenzen in Schmitts staatstheoretischem Denken: ebd., passim, insbes. S. 39, 49, 54 – 55, 59, 60 – 64, 71 – 72, 86, 89. Siehe auch in Bezug auf diese Differenz: Bredekamp 2003, S. 16, 23. Vgl. Fricke 2013, S. 298 – 299. 117 Bredekamp 2016b, S. 76 – 78 (zu Schmittts Bemerkung über die »Fleischlichkeit« des Behemoth, der nie so wie Leviathan zu einer staatlichen »Fassade« werden kann).

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Revolutionen‹ immer wieder zur Geltung gebracht, entspringt dieses Denken der Einbettung europäischer Reichstraditionen in die als ursprünglich gedeutete Kategorialität von gesetzgebenden und durch die Definition der ›illegitimen‹ Fremdheit zur Aufhebung eigener Geschichtlichkeit führenden Unterscheidungen. 118 Solche zwischen Aneignung und Verwerfung oszillierenden Genealogien der Feindbildung sind also besonders alarmierend in einer medial geprägten Zeit, in der modernste Technik für anachronistisch legalisierte Geschichtserfüllungsdiskurse zu sorgen beginnt und in denen das Gespenstische des Idols – die apriorisch kultivierte Abwesenheit des abgelehnten animalisierten ›Fremden‹ – auf die neu-alten Fahnen eines postulierten Umbruchs geschrieben wird, der zugleich als Rückkehr ad origines zu verstehen ist. Ebenfalls diese, übrigens reziproken, Verbindungen sind es, die heute zu einer intensiven »Unruhe« verpflichten.

Exkurs Jede politische Aneignungsstrategie bedient sich ihrer Argumente und Begründungen in Bezug auf ein gezieltes Programm. Möchte man im Sinne solch einer kritischen Betrachtung der geschichtlichen Brüche die Wege der ungewöhnlichen Staatskarriere des Johannes von Nepomuk weiterverfolgen, könnte man im Rahmen eines kurzen historischen Exkurses an seine Rolle zur Zeit Maria Theresias erinnern, also in der Epoche der nachlassenden Bindungsenergie und politischen Gestaltungskraft der Herrschaft der Habsburger wie allgemein des Absolutismus. 119 Als das österreichische Imperium durch schmerzhafte Landverluste im andauernden Konflikt mit dem rationalisierten preußischen Staat unter der Regierung Friedrichs II. die Fragilität seiner Grenzen zu spüren begann, gewann der Nepomuk-Kult interessanterweise auch im Zentrum der Monarchie an politischer Gravität. Direkt nach dem Verlust Schlesiens im Ersten Schlesischen Krieg 1741 begann in Wien die Zeit der großen Verehrung des böhmischen Märtyrers, unterstützt durch Maria Theresia selbst, und zwar noch vor ihrer Krönung als Königin von Böhmen, die erst am 12. Mai 1743 erfolgte. In der Zeit der Krise zeigte sie persönliches Engagement: Im Nepomuk-Spital in Schönbrunn 118 Siehe Jan Assmans Kommentar zu Schmitts Politischer Theologie in Hinblick auf die sinaitische Gesetzgebung – die Unterscheidung Freund-Feind – und deren Folgen in der auf Gottes Zorn vor dem Goldenen Kalb zurückgehenden sakralpolitischer Totalität: Assmann 2016, S. 112 – 125. Zur katholischen Prägung von Schmitts patristisch inspirierten Gedanken zu Person, Amt und Recht, die sich auch im Titel seiner Schrift Römischer Katholizismus und politische Form von 1923 niederschlug, siehe Rissing / Rissing 2009, S. 62 – 79. Aus dieser polemischen Perspektive wird schließlich auch der von Evonne Levy in der kunsthistorischen Barockforschung stark definierte Begriff der Propaganda ersichtlicher, so wie sie ihn in einem strukturellen Vergleich zwischen der Bildsprache der Jesuiten und der des NS-Regimes darlegt, um der Kunstgeschichte lange inhärente diskursive »Neutralisierungen« der politischen Aspekte der Kunst der Frühen Neuzeit zu enthüllen: Levy 2004, S. 1 – 13. 119 Kovács 1979, S. 77. Zur Etablierung der politischen Ikonografie Maria Theresias siehe v. a. Telesko 2012a, S. 31 – 89. Vgl. auch Yonan 2011, S. 13 – 43.

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nahm sie am 20. September 1742 an zwei Messen teil. Dann am 16. Mai 1743, unmittelbar nach der Krönung in Prag, besuchte sie das Grab des Heiligen im Veitsdom, nahm an der Nepomuk-Prozession teil und manifestierte ihre Anerkennung durch die Berührung der Reliquien des Märtyrers. 120 Die ›Schildfigur‹ des Exportheiligen fand also schließlich ihren Weg in die habsburgische Mitte und wurde zum symbolischen Verbindungsglied zwischen den real bedrohten Pufferzonen der Monarchie und deren Kernland. Es war jedoch allem Anschein nach eine Strategie der Verzweif lung. Es blieb dabei wenig oder gar nichts von der triumphalen Befriedigung »des Bedürfnisses nach der dem menschlichen Glücksgefühl unentbehrlichen Selbstbestätigung«, wie Charles Ingrao die Stimmung zur Zeit Karls VI. beschreibt. 121 Verglichen mit den Bildzeugnissen der Popularität Nepomuks aus einer Zeit, als alle Grenzen des voranschreitenden Imperiums noch offen waren und nicht einmal der Horizont die Expansion aufzuhalten schien, bleibt die Visualisierung des böhmischen Märtyrers zur Zeit Maria Theresias ein Mittel der propagandistischen Aufrechterhaltung des unsicheren politischen Status quo. Eine Thesenblatt-Grafik aus dem Jahr 1775 (Abb. 145) scheint diese neue Positionierung des Kultes zum Ende der Regierung der Kaiserin nach dem Dritten Schlesischen (Siebenjährigen) Krieg mit Preußen visuell zusammenzufassen. 122 Maria Theresia, dargestellt mit ihren üblichen Machtattributen: der ungarischen Stephanskrone, der böhmischen Wenzelskrone und dem (in der Grafik schwer zu erkennenden) österreichischen Erzherzogshut auf einem Kissen in ihren Händen, bittet vor einem Tempeleingang den Johannes von Nepomuk – den Hüter der drei Kronen 123 – um die Vermittlung bei der Aufnahme ihrer Monarchie in den himmlischen Schutz von Maria und Christus. 124 Der böhmische Proto-Märtyrer, der früher imstande war, den Habsburgern die globale Herrschaft als Kommunion des Vertrauens anzubieten, wird hier als Garant der alten Ordnung in den Kernländern des topografisch schrumpfenden absolutistischen Imperiums dargestellt, dessen Position auf der Bühne der europäischen Machtspiele durch die Auseinandersetzung mit der preußisch-calvinistischen, radikal rationalisierten Modernisierung und Militarisierung des Staatswesens bereits deutlich an Relevanz verloren hatte. Anstatt des einstigen Globus nimmt Nepomuk eine Kartusche mit der Landkarte als himmlische Gabe der Kaiserin entgegen. Diese Karte weist lediglich die mitteleuropäischen Koordinaten der Monarchie auf: Es handelt sich um einen Raum zwischen Freiburg und Ungarn, Sachsen und Verona. 125 Der dem Betrachter zugewandte Chronos weist auf keine Raumöffnung mehr hin, sondern nimmt die Position des typisch am Rand des Bildgeschehens erscheinenden Denkers ein,

120 121 122 123 124 125

Kovács 1979, S. 79 – 80. Ingrao 2001, S. 92. Schemmel 2001, Kat.-Nr. 66. Vgl. Kovács 1979, S. 80 – 81. Baumstark / von Herzogenberg / Volk 1993, S. 162. Vgl. eine Grafik vom Anfang des 18. Jahrhunderts mit Johannes Nepomuk als Beschützer von Prag: Royt 1993, S. 80.

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Abb. 145: Werkstatt Klauber, Maria Theresia bittet Johannes von Nepomuk um Schutz, 1775, Thesenblatt an der Universität Bamberg, Kupferstich, Staatsbibliothek Bamberg, Inv.-Nr. GM 56/6.

einer distanzierten Renaissance-Figur. In diesem Kontext verkörpert er darüber hinaus das unüberwindliche Vergehen der Zeit nicht nur attributiv, sondern auch durch seine Darstellung in deutlicher Passivität und Abgelegenheit. Die oben am Thesenblatt angebrachte Inschrift, ein Zitat aus dem Buch Ester 10,3: »Quaerens bona populo suo«, verweist auf einen gängigen biblischen Topos: die Geschichte des unter persischer Knechtschaft lebenden Juden Mordechai, dessen Verdienste für das Volk betont werden. Die Inschrift fasst die hier kurz beschriebene Ikonografie zusammen und bezeugt die Intention dieses Bildes: Dargestellt

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Abb. 146: Florian Bartholomäus Strahowsky nach Franz Leopold Schmittner, Die Figur des Johannes von Nepomuk auf der Karlsbrücke in Prag wendet sich von den preußischen Truppen ab, 1744, Kupferstich, Breslau, Universitätsbibliothek.

wird hier kein Akt des Triumphes, sondern eine Selbstübergabe und Bitte um Schutz in der schweren Krise. Und dies entspricht den damaligen Machtverhältnissen auf der europäischen Konfliktbühne. In der direkten Auseinandersetzung mit der protestantischen Herrschaft, die als Wissenschaft konzipiert wurde und in der aufgeklärten preußischen Staatsmaschinerie ihren Ausdruck fand, 126 erlebte die barocke katholische Regierungsform, verstanden als überzeitlicher Triumph der prächtigen Tradition, ihre letzten Jahrzehnte, bevor mit dem revolutionären Zeitalter der dezidiert anti-absolutistischen Völkerbewegung den eucharistischen Zügen der herrschaftlichen Repräsentation ein Ende gesetzt wurde.

126 Ingrao 2001, S. 94 – 95; Ingrao 1982, S. 59 – 60.

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Die direkt am Marterort auf der Prager Karlsbrücke 1683 angebrachte Figur des Johannes von Nepomuk reagierte auf die damaligen Veränderungen in der Globalpolitik auf ihre eigene Art. Sie scheint von Anfang an eine übernatürliche Überzeugungskraft besessen zu haben – ihr Schöpfer, der aus dem ungarischen Zips stammende Barockbildhauer Johann Brokoff, soll vom lutherischen Glauben zum Katholizismus konvertiert sein, nachdem ihr Modell 1680 fertig war und er es anschaute. 127 Man könnte sagen, er funktioniert im Rahmen dieser Erzählung wie ein neuer Pygmalion des konfessionell geprägten Zeitalters, da die Wirkung der von ihm selbst erschaffenen Figur nicht wie im alten Mythos ein Liebesgefühl weckt, sondern ihn durch die Macht des dargestellten historischen Prototyps automatisch auf den ›richtigen‹ Weg des römischen Glaubensbekenntnisses setzt. Als die Dämmerung der habsburgischen Ära begann, scheint diese Brückenfigur die Gefahr bereits geahnt zu haben. Im Jahre 1744 soll sie ihr Gesicht von den angreifenden preußischen Truppen ab- und der kaiserlichen Residenz auf dem Hradschin zugewendet haben. Wie die auf einem Kupferstich von Bartholomäus Strahowsky unter der Statue angebrachte Inschrift verkündet, hat sie »den Rücken gegen feindl=preussische Troupen, wo Selbe gelagerdt, die gantze achsel, und gesicht aber gegen die so genannte Kleine Seithen, mithin gegen aldasige Metropolitan=Kirche, und Königl: Schloss gewendedt« (Abb. 146). Das Kreuz und die Märtyrerpalme in den Händen des mittelalterlichen Märtyrers – seine gewöhnlichen Attribute – werden in diesem Moment quasi zu Werkzeugen, die – wenn man dem Breslauer Stecher glauben kann – in Vorahnung, dass die Mission zu Ende sei, wie amtliche Insignien in Richtung des Doms abgelegt werden. Es war ein seltsames Wunder: eine Selbstaussage der Figur, die durch die calvinistische Profanierung des erzböhmisch-katholischen Bodens beleidigt wurde oder sich vielleicht schon im Moment der angehenden Krise nach der zum Verschwinden verurteilten alten Ordnung und deren traditionsreicher Bilderwelt sehnte. Es war also ein Wunder voll Trübsinn, durch das sich die dem Kultbereich eigene Wahrhaftigkeit des agierenden Porträts nicht mehr triumphal, sondern lediglich »zu Trost so woll aller treuen Vasallen« offenbarte.

127 Louthan 2009, S. 172.

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Zeitlosigkeit und Ubiquität Das barocke Bildkonzept der Geschichte als Transmission

Idolum, Ruina und Historia oder: Die Ohnmacht der sprechenden Steine Das Beispiel der sich nach der einstigen habsburgischen Pracht sehnenden Prager Figur von Johannes Nepomuk, die in die Position eines engagierten Agenten der Historizität gestellt wird, macht deutlich, dass die Bilder im katholischen Barock zu anerkannten ›Sprechern‹ der Gemeinde geworden waren, ohne sich Vorwürfen der Idolatrie ausgesetzt zu sehen. Der transzendente Bezug zur göttlichen Kraft der Gesetzgebung oder zur ausführenden Macht des omnipräsenten Herrschers löste die idolatrische Immanenz im Zwang zur subjektbildenden und vorbildhaften Metapher auf. Bilder, die sich in der historisch und territorial angelegten Politik der Rekatholisierung mit ihren medialen Aneignungskampagnen und Legitimierungswerkzeugen der konfessionellen Landesbesetzung ›aktivieren‹ ließen, stellten dementsprechend im 17. Jahrhundert keine Anomalie mehr dar. Das Ausmaß ihres Einsatzes als Triebkraft der Theokratie auf der Bühne der konfessionellen Antagonismen zeugt von der weitgehenden Akzeptanz der neuen katholischen Mitstreiter: Artefakte, die als leibliche Zeugen der vorreformatorischen Zeit dazu fähig waren, allein mit ihrer physischen Präsenz das Überdauern als Tatsache zu demonstrieren. Die Märtyrer, die die antiken Dämonen und Idole bezwungen haben, die durch die ›Heiden‹ verletzte Ordensgemeinschaft, die dank ihrer Bereitschaft, immer wieder wie die ersten Christen verletzt zu werden, fähig ist, zu expandieren und ›neue Welten‹ zu erobern, die an die lokalen historischen Träger der Autorität sich wendende, neue jesuitische Körperschaft und schließlich der verherrlichte katholische Herrscher selbst, der mit der von ihm gewünschten Realität des Mittelalters ein Bündnis schließt, um die Sakraltopografie seines Imperiums pragmatisch zu sichern – alle diese historischen Vordergrund-Akteure hätten ohne den Großeinsatz der politisch anwendbaren und dabei sich selbst disziplinierenden Bilder ihre Ziele nicht verfolgen können. Die Bilderfrage, die seit jeher die Debatten um die Differenz zwischen Gott und Mensch auf den Begriff der Repräsentation umzuleiten vermochte und dadurch auch innerhalb des monotheistischen Christentums selbst für blutige Kontroversen sorgte, wurde jedoch in diesem Zeitalter unter ganz anderen Prämissen aktualisiert, als jene es waren, die 1522 in Wittenberg zu bilderstürmerischer Unruhen geführt hatten. Die Ausstattung des Bildes mit einer aktiven Potenz, mit existenziellen Merkmalen eines Subjekts, seine Einberufung in den

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Zweikampf gegen den klar zu ortenden, wenn auch fiktiven Feind der Rechtgläubigkeit sind zwar auf den ersten Blick Zeugnisse einer Wiederkehr des alten mittelalterlichen Glaubens an die autonome, objektive Macht der Bilder. Diese Bilder aber versuchen, nach einer entsprechenden Ritualisierung oder narrativen Umhüllung durch zahlreiche Wunder, die den Menschen aus dem Alltag ausbrechen lassen, sich in das Leben der Gemeinschaft wieder einzumischen und ihre eigenen legendenumwobenen Schicksale mit der faktischen Ordnung zu verschmelzen. Dieser Sieg der postulierten historischen Autorität der Bilder über Idole und Häresien auf den konfessionellen Schlachtfeldern und in der Domäne der katholisch unterstützten Wissenschaft war jedoch bereits zu diesem Zeitpunkt – nach den Beschlüssen des Tridentinums von 1563 zur semantischen Bändigung der Bilderkraft – kein Zeichen des unreflektierten Aberglaubens mehr. Die Aktivität der zu neuen Palladien des Katholizismus ernannten Bilder resultierte im 17. Jahrhundert aus mindestens zwei Faktoren. Einerseits war im postmichelangelesken Italien die Frage des Paragone zu einem Standard der künstlerischen Manifestation geworden. 1 Die Virtuosität eines Kunstwerks wurde infolgedessen auch durch einen entsprechenden Grad von Überbietung sichtbar, durch das Überqueren von ästhetischen Grenzen, durch das bewusste Balancieren auf einem schmalen Grat zwischen dem intellektuellen Ingenium des gesegneten artifex und den autonomen Medienkompetenzen seiner künstlerischen Produkte. Der in diese systematische Spannung eingebettete Auftraggeber fungierte mit seiner Schirmherrschaft als Kontrollinstanz und sorgte für das notwendige Augenzwinkern, mit dem die medialen Exzesse der künstlerischen Virtuosen zu Strategien der Verherrlichung erklärt werden konnten. Andererseits aber wurde die Frage des Paragone – der wohl wichtigste Faktor der frühneuzeitlichen Bildproduktion –, wie die beschriebenen Fälle der Verherrlichung der römischen Märtyrerin Martina oder des Prager Erzbischofs Ernst von Pardubitz zeigen, durch eine moderne, gegen den vermeintlichen Eigensinn der Idole gerichtete Apologie auf andere Wege umgeleitet. Allein mit diesem kunstvollen strategischen Schritt der Produktion von Differenz, mit dem vor allem der Grad an Verachtung der ›häretischen‹ Lehre sichtbar werden sollte, wurde eine Frage aufgeworfen, die letztendlich den Diskurs um die Rolle der Bilder im katholischen Barock dominiert hat: die Frage nach der Aktualität des Historischen. Denn im Endeffekt waren die Bilder, die durch die römische Kirche als Kampfmittel auf die Vorderschranken gesetzt worden waren, eben die Bilder, deren historische Verneinung aus ontologischen wie sozialen Gründen bereits für die ersten reformatorischen Sezessionisten ein Argument, ein Postulat beziehungsweise eine Ersatzhandlung gegen die ›rechtgläubige‹ Partei darstellte. Unter diesen Vorzeichen konnten die Bilder gerade dann ihre ›Aktivität‹ als Überlebende legitimieren, wenn sie gegen die Widersacher und zum Zweck der inneren Konsolidierung der konfessionellen Gemeinschaft in einer fremden, feindlichen, zu rekatholisierenden oder gar (erneut) zu christianisierenden Welt – im Exil – eingesetzt werden konnten.

1 Vgl. Hesler 2002, S. 83 – 97.

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Bilder wurden damit zu aktiven Mitstreitern der postulierten katholischen Superiorität, weil sie gerade gegen die Idolatrie als Sinnbild und Projektion des ›Unglaubens‹, des ›Heidentums‹, der Häresie gerichtet werden konnten. Die Legitimität ihrer derart neu konzipierten Subjekthaftigkeit war mit ihrem gezielt prokurierten hegemonialen Einsatz gegen die Idole verbunden, so wie diese Kategorie sich auch von den antiken Torsi und anderen Destrukten auf beinahe alle nichtkatholischen Artefakte und Stellungnahmen wie auch neu erfundene exotische ›Hybriden‹ der ›Neuen Welten‹ übertragen ließ. Wenn also Idole nur selbstständig ›agieren‹ konnten und dadurch die eigene Illegitimität erzeugten, wurden katholische Bilder mit ihrer metaphysisch geleiteten und mehrfach medialisierten ›Sprechkraft‹ zu Instrumenten einer zentral geplanten Mission. Die programmatisch angenommene Produktivität dieses neuen Paragone der bildenden Künste, die mit dem in der Renaissance zu einem Topos entwickelten künstlerischen Streben nach der medialen Diskursivität der Bilder gezielt gekoppelt wurde, war eine Folge des Triumphalismus, mit dem die Tatsache, dass die Bilder von sich aus nicht sprechen können – es sei denn, sie werden selbst zu Idolen gemacht –, weitgehend aus dem Blick geriet. Das beste Beispiel dieser zielbewussten Umkehrung der ewigen Bilderfrage kann in dem bereits erwähnten, als Künstlermanifest gedachten Bildertraktat Pietro da Cortonas und des Jesuitenpaters Ottonelli gesehen werden. 2 In diesem Buch verwandelt sich die Bildlehre in eine extreme Apologie gegen die Idole, die sich in ihrer irdischen Materialität vor allem als laszive Versuchungen und sexuelle Provokationen für die Gläubigen begreifen lassen. Die Bildlehre wurde in diesem Buch, das in der Blütezeit des römischen Barocks, im Jahr 1652, in Florenz herausgegeben wurde, in eine katholische Theorie der visuellen Grenzziehung umgestaltet. Der Kampf gegen Idole erschien hier gleichwertig mit der Beseitigung aller künstlerischen Versuchungen und der Abschaffung aller Bildpraktiken, die aus der Sicht der katholischen Norm als Missbrauch klassifiziert werden konnten. Angesichts solcher ›Theorien‹ bestand der Einsatz der rechtmäßigen Bilder für den römischen Glauben darin, mit der ganzen Kraft der institutionell anerkannten und kontrollierten Bilderanimation die Macht der göttlichen Transzendenz zu demonstrieren, eine affektive Reaktion beim Betrachter zu verursachen und ihn zugleich gegen faktische Verkörperung durch Bilder zu formieren. Die Bilder, die auf diese Art und Weise den vergangenen, fiktiven oder auch tatsächlich entfernten Idolen entgegengesetzt wurden, haben in der Konsequenz selbst angefangen, äußerst aktiv für ihre eigene planmäßige Defizienz im Sinne von im Voraus semantisch gezähmten Instrumenten der Sichtbarmachung der übernatürlichen Prototypen zu werben. In diesem Sinne war die barocke Bildertheologie und die dementsprechende Normierung von der Natur der Bilder unausweichlich anachronistisch: Der alten religiösen Identitätsfrage aus der spätantiken Vorgeschichte des Christentums und den darauffolgenden ontologischen

2 Vgl. Kap. 3.

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Kontroversen der mittelalterlichen Gründerzeit, die in der katholischen Historiografie als historische Argumente für die Rechtmäßigkeit des institutionell eingeleiteten Bilderkults ihren Platz fanden, wurden die Zügel des neuen interkonfessionellen Kampfes mit realen und imaginierten Feinden angelegt. Die barocke Bilderfrage erweist sich demnach – angesichts dieses diskursiven und nicht nur form- oder substanzgebundenen Anachronismus der Bilder – als eine Zeitfrage oder, genauer gesagt, als eine Angelegenheit, bei der die theokratische Kontrolle über die Zeit politisch manifestiert werden konnte. In der Epoche, die gelernt hat, die Zeit nicht mehr nur nach dem Läuten der Kirchenglocken, sondern eher nach dem Ticken einer als Mechanismus perfektionierten Uhr zu messen, 3 entwickelte sich auch der visuelle Diskurs zum Status der Bilder als Werkzeuge der Zeitsteuerung. 4 Die Kontrolle über die Zeitlichkeit wurde auf diesem Wege zu einem Mittel des Erhalts der als ultimativ gedachten Institution der katholischen Kirche, der Verwirklichung des Traumes von der Einführung der idealen, spiegelbildähnlichen Kohärenz der civitas terrena mit der civitas Dei. Daher, wie bereits im ersten Kapitel dieser Studie angedeutet, erscheint es sinnvoller, anstatt die epochalen Zuschreibungen der Bilder zu verfolgen und sie als Kompositerscheinungen nach formalen Einzelteilen zu sezieren, auf einer anderen Ebene nach den sich wiederholenden diskursiven Schnittstellen zwischen Darstellbarkeit und Geschichtlichkeit zu fragen. So wie heutzutage die moderne Analyse der anachronistischen Anspielungen die sinusförmigen Züge der zitatfreudigen Geschichte samt der dialektisch über die Epochen aufeinander aufbauenden Themen und Formen aufzeigen kann, so erschwert möglicherweise solch eine erfüllte kunsthistorische Autopsie der Artefakte den Blick auf die Diskurse der barockpolitischen Hinterbühne. Es lohnt sich daher, einige seit dem 17. Jahrhundert stattfindende Veränderungen im Verhältnis zwischen Bild und Zeit oder eher zwischen Bild und Geschichte, Dauer und Vergänglichkeit hier noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen, um für die besprochenen Beispiele der politischen Aktualisierung des Mittelalters als Modus der theokratischen Dauer eine für sie alle gültige Erklärung ihrer Aktualität im barocken Denken des Zeitgenössischen zu finden. Die im vorigen Kapitel besprochene zugespitzte barocke Propaganda eines ›eucharistischen Herrschers‹, der über die Zeit und über den Raum regiert, chronologisch genauso wie geografisch seine Macht ausübt, verleitet zur grundlegenden Frage nach der Natur der christlichen Herrschaft im Zeitalter der global erfüllten christlichen Regierungsform, welche die antiken Herkulessäulen unter der Prämisse eigener Modernität längst hinter sich gelassen hatte. Die Umformulierung der Zeitfrage hing in diesem Sinne unmittelbar von dem frühmodernen Selbstverständnis der in ihrer Mission fortschreitenden Glaubensinstitution ab. Die beiden Staaten civitas Dei und civitas terrena waren bereits für Augustin trotz der Differenz zwischen aevum und aetas weitgehend hierarchisch miteinander verknüpft, 3 Zur ›quantitativen Zeit‹ vgl. u. a. Pomian 1984, S. 259 – 263 (zur Verbindung zwischen Uhr und Geld). Siehe auch Demandt 2015, S. 154 – 155 (zur Verbindung zwischen Uhrwerk und Staat). 4 Vgl. Skrine 1978, S. 151 – 152.

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sodass der erste in dem zweiten unterschiedliche Interventionen bewirken konnte. 5 Damit vermischt sich in dem Jetzt der christlichen Weltanschauung die lineare Zeit mit der unermesslichen Ewigkeit. Die christliche Gemeinde wird in dieser vom Zeitlosen durchdrungenen und somit zur wahrnehmbaren Fiktion gewordenen Aktualität als ein Fluchtoder Zukunftskörper im Kampf mit der äußeren, vergehenden Umwelt begriffen, als ein lebendiges Abbild der nach Ägypten fliehenden Heiligen Familie, dessen Schicksal nur einen prospektiven Sinn behält. Die Anhänger der leibgewordenen Transzendenz Gottes honorieren keine vergängliche Staatsräson, wie sie bereits mit dem alten Rom zu einem Synonym des historischen Niedergangs geworden war, und befinden sich seit ihrer allerersten Formierung im Zustand der ständigen peregrinatio. Alles, so Augustin, was sich auf der Erde ereignet, kann sich – strukturell gesehen – wiederholen; daher soll, um eine vollkommene Relativierung zu vermeiden, die Relevanz der irdischen Begebenheiten immer mit Bezug zur Konstante der civitas Dei gemessen werden. Erst solch ein Vorgang ermöglicht eine objektive Regelung und Prognostizierung. 6 Da die Heilige Familie aus dem römisch besetzten Judäa, einem Land des forcierten Staatskultes, in das Land der ihre Kulte heliozentrisch organisierenden ›Heiden‹ flieht, wird der anschließende Fall der Idole im Reich der Pharaos nicht zu einem Konflikt der Gesetze, sondern zu einem logischen Vorgang stilisiert, mit dem die Endgültigkeit der göttlichen Präsenz des zukünftigen Rex Judaeorum die Naturgewalt lediglich zu einer untergeordneten, sich in der Zeit abspielenden Akzidenz erklärt. Die Idole fallen also automatisch, diese Konfrontation benötigt keinen gezielten Akt des Bildersturms. Ihre autarke Anbindung an den geschlossenen Kreislauf der Natur, an die implizite Vergänglichkeit, bewirkt ihre schlagartige Deaktivierung und Zerstörung. Der Automatismus dieses Fallens macht aus der Natur eine subordinierte Instanz, die angesichts der Fakt gewordenen Unendlichkeit des logos in Eruptionen und konvulsiven Bewegungen schrumpft und mit dieser Selbstvernichtung der fallenden Idole – der konzentrierten, weil dinghaften und geformten Ausdrücke dieser Natur – ihr Gesicht verliert, auseinanderfällt und schließlich anonym wird. Die Idole fallen, und es spielt eigentlich gar keine Rolle mehr, wann sie fallen, denn dieser Fall ist eine unabdingbare Konsequenz der Zusammenkunft mit der anderen, höheren Natur, die nicht benennbar, nicht klassifizierbar und letztendlich – trotz Inkarnation – auch nicht darstellbar ist. Der Unterschied zwischen Zeitlichkeit und Zeitenthobenheit wird dadurch real und drückt sich aus in einem sichtbaren Bildkonflikt. Die Selbstaufopferung von Christus, gedacht als die zweite Zerstörung der Idole, fügt sich konsequent in diesen rhetorischen Rahmen ein: Durch seine Bestrafung als selbsternannter Judenkönig und seine zuvor angedeutete Heilsmission gegen den Tod soll die Vergänglichkeit des kaiserlichen Rom als irdisches Staatswerk, als eine Idolatrie der Macht des divinisierten Kaisers, mehr als deutlich vor Augen geführt werden. Durch die Aufopferung des eigenen Fleisches als König (Mt 2,1) wird die rein menschengebundene Genese der gerade deswegen 5 Günther 1993, S. 38 – 49. Vgl. Ricœur 1988 – 1991, I.1.4, S. 40 – 53. 6 Koselleck 1973a, S. 217 – 218. Vgl. Bernheim 1964 (1918), S. 10 – 62.

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vergänglichen kaiserlichen Macht in Rom sichtbar und bloßgestellt. Eine höhere Ordnung der über dieser Welt residierenden Ewigkeit hat die zeitlich begrenzten Idole der Natur und der staatspolitischen Ordnung besiegt, denn diese verbleiben in ihrer Ohnmacht: als Teile einer auf äußerem kultischen Ritus aufgebauten staatlichen Struktur, die nicht Teil einer Offenbarung ist, sondern gemacht wurde und daher einer Vereinnahmung und Neutralisierung unterzogen werden muss. Keine kirchliche oder auch weltliche Hierarchie auf Erden entspricht der himmlischen. Aus diesen Gründen avancierte der permanente Wandel oder die andauernde Notpilgerschaft zum modus vivendi der christlichen Gemeinde, die auf eine Permanenz der Veränderungen und Neubestimmungen angewiesen war. 7 Der barocke Kaiser des absolutistischen Zeitalters, der, so wie Karl VI., als eucharistischer Herrscher – ubiquitär und unsichtbar – seine autoritär expandierende Präsenz bewahrt, folgt demnach in seiner bekehrenden Militärmission im habsburgischen Reich den Spuren des allerersten Siegers über die ›heidnischen‹ Idole in Ägypten – noch bevor diese als ›heidnisch‹ bezeichnet werden konnten. Nur aufgrund dieser Position ist er imstande, die Herkulessäulen eigenhändig zu brechen, die Geografie in Geschichte umzuschlagen, die nahen und fernen Völker mithilfe der jesuitischen Körperschaft erfolgreich zu bekehren und somit die Schmach der ursprünglichen Flucht nach Ägypten im Rahmen seiner sich ausweitenden civitas terrena wiedergutzumachen: das Exil als Verlust in die Expansion als Gewinn umzuwenden. Mit dieser Rundung wird die Erfüllung der Geschichte beansprucht, die anstatt der apokalyptischen Katastrophe eine institutionalisierte Auf lösung der christlichen Gemeinschaft im Zeitlosen bedeutet. Um an das Konzept Augustins anzuknüpfen: Augustin geht es darum, das Ende der Welt als generell unerfahrbar zu deuten. [. . . ] Der ontologische Status des Nichtseins des Erwarteten macht es im Verhältnis zur Gegenwart bedeutungslos, mit welcher allein das Zeitlose in Beziehung stehe. Berechnung und Erwartung sind keine angemessene Weise, das Ende des Zeitlichen zu empfinden. Schwächlich und kraftlos ist diese Sehnsucht oder Furcht eines Künftigen im Vergleich schon zur Vision des Unvergänglichen oder zu dessen Wirkung in der Bekehrung. Die heftige Begierde und in der Zeitlichkeit nicht zu stillende Leidenschaft richten sich nicht auf ein Ende in der Zeit, sondern auf die immer schon vorhandene Zeitlosigkeit. 8 Da die kirchliche Geschichte im Barock nur als eigene Politinterpretation zugänglich war 9 – eine autoritäre Umbildung der hermeneutischen Verschmelzung der Horizonte, die im Fron-

7 Günther 1993, S. 42 – 43. Vgl. die Poetik der peregrinatio bei Bernhard von Clairvaux, die in dieser Studie im Kontext des Grüssauer Martyriums (Kap. 4) besprochen wurde. 8 Günther 1993, S. 48. Vgl. Löwith 1983, s. 240 – 279, hier v. a. S. 261 – 279. 9 »Augustin schreibt nicht Geschichte, er legt sie aus« (Günther 1993, S. 49).

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tispiz von Baronios Annales ihre wohl beste Verwirklichung findet 10 –, wurde dabei der Vorstellungskraft genauso viel Platz eingeräumt wie der archivalischen Rekonstruktion der vergangenen Ereignisse. In diesem Zusammenhang sei daran erinnert, dass das christliche Verständnis von Geschichtlichkeit sowieso nolens volens von Anfang an auf fremde Quellen angewiesen war: die der ›heidnischen‹ Antike. Die erste christliche Geschichtsschreibung, so wie sie vor allem im konstantinischen Zeitalter durch das Wirken des Eusebius von Cäsarea vorhanden war, befand sich in einer Situation der weitgehenden Entfremdung von der sichtbaren Aktualität des vor kurzem überwältigten und dennoch immer noch präsenten ›Heidentums‹ und der sich in statu nascendi erst medialisierenden christlichen Geschichte als eines die Identität prägenden Werkzeugs. Die wichtigsten Quellen für die christliche Historiografie verblieben daher die ersten Apologien, wie etwa die einflussreichen Schriften von Minucius Felix, Athanasios oder Tertullian. Sie waren als Reaktion auf die Realität der zu ihrer Zeit noch aktuellen, in das Staatswesen inkorporierten ›heidnischen‹ Rituale samt ihrer dinglichen Zeugnisse – darunter auch die immer noch verehrten Götter- und Herrscherfiguren – gegen die ›Heiden‹ des Imperiums gerichtet. Die eigene Geschichte stand in diesem Fall von Anfang an im Zeichen der Konversion und begann mit einem an Opfern reichen Konflikt genauso wie mit einer flächendeckenden Aneignung. Das Idol avancierte dabei mit seiner vereinsamten Singularität zu einem verräterischen Gegenmodell der neuen imperialen Regierungsform des postkonstantinischen Zeitalters, bei der das institutionelle Fortdauern auf der Mythologie der dynastischen Grundierung und Fortpflanzung beruhte, die wiederum das verwirklichte christliche Reich ad infinitum zu verlängern vermochte. Das Idol wurde zu einem phantomatisch sichtbaren Vertreter der Obsoleszenz innerhalb eines Geschichtsmodells, in dem die Beschleunigung in Richtung einer Singularität durch eine mimetische Verflechtung des anerkannten Herrschers mit dem herrschenden Alleingott als Garant des historischen Fortschritts konzipiert wurde. Diese klare Positionierung der Transzendenz mit ihrem staatspolitischen Apparat gegen die der Natur immanenten Zeitdimensionen benötigte ein alternatives Verhältnis zu dem Phänomen der Relikte, der Nachträglichkeit, gar der Geschichte selbst. In diesem Abschnitt sollen deshalb unterschiedliche visuelle Konzeptualisierungen der Historizität und der Memoria analysiert werden, um aufzuzeigen, inwieweit im Barock mithilfe eines bildlichen Diskurses im Dienste der Umsetzung der ursprünglichen Idee eines zeitlosen christlichen Reiches eine radikale Umformulierung der Zeitlichkeit vorgenommen wurde. Die folgende Passage zu den frühneuzeitlichen Bild-Reflexionen über Medien der Nachträglichkeit wird auch darlegen, in welchem Sinne humanistische Modellbegriffe und klassische Topoi der Vergänglichkeit zugunsten einer neuen barocken Triumphalpoetik der zeitlosen Bevollmächtigung umgearbeitet worden sind. Die bisher beschriebenen Einzelphänomene der Subjektbildung durch historische Bewältigung, Aneignung, Neutralisierung und Disziplinierung der 10 Siehe Kap. 2.

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Abb. 147: Giovanni Giustino Ciampini, Vetera Monimenta, In quibus praecipuè Musiva Opera Sacrarum, Profanarumque (. . . ) illustrantur, 1690, Frontispiz.

Bilder finden damit ihre Entsprechung in den Praktiken, die das Problem der Dauer als Faktum direkt ansprechen. Wenn in einem Kupferstich Giovanni Battista Lenardis in dem 1690 – 1699 herausgegebenen Werk Giovanni Giustino Ciampinis Vetera Monimenta (Abb. 147) 11 die Historia als eine der noblen Damen auftaucht – neben Pictura, Architectura und Typographia –, um das Erbe des antiken Roms vor dem Vernichtungswerk des gnadenlosen Chronos zu retten, handelt es sich um eine Gleichbewertung verschiedener Speichermedien. Die Geschichte, die in ihrem Buch Ereignisse festhält, wurde in dieser Illustration mit den Künsten in Verbindung gebracht, die versuchen, die Reste der einstigen Welt nachahmend im Bild für die posteritas festzuhalten. Auch wenn dabei nur die Historia ihre nackten Brüste demonstriert, um sich der medienspezifischen Verhüllung zu entziehen und die ›nackte Wahrheit‹ zu zeigen, bleibt sie doch gefangen in den Fesseln der Nachträglichkeit, im Konzept einer künstlichen Verewigung, nach dem Geschichte sich nur durch Erinnerung artikulieren kann. Die historische Wahrheit soll nur unverhüllt gegen den erbarmungslosen Chronos treten, und letztendlich 11 Ciampini 1690.

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Abb. 148: Cornelis Cort nach Franz Floris, Die Erinnerung (Memoria) (Die Tugenden, 2); 1560; Kupferstich auf Büttenpapier, Staatsgalerie Stuttgart, Graphische Sammlung, Inv.-Nr. A 13422.

wird sie auch scheitern, sobald die Erinnerungsmedien Bücher, Bilder, Bauten und auch der Ruhm selbst spurlos vergehen. Diese humanistische Idee – für diese steht Cesare Ripas ursprüngliche Vorstellung von der nicht nur eine Sonne oder einen Spiegel, sondern auch eine Sanduhr haltenden Verità – ist zutiefst der Überzeugung der Renaissance geschuldet, die in der Gegenwart des eigenen Handelns, in Lorenzo Vallas vita activa, den Sinn der menschlichen Existenz sah, und zwar in einem einflussreichen Leben des Individuums, dessen Taten, Werke und politische Entscheidungen zum Zweck der neoplatonisch aufgeklärten communitas archiviert werden sollen. 12 In diesem Sinne wird die an Medien gebundene Personifikation der Geschichte mit der Erinnerung selbst gekoppelt, was auf die Memoria als die eigentliche Herrin der Vergangenheit anspielt. In einem Stich von Cornelis Cort nach Frans Floris von 1560 (Abb. 148) 13

12 Zur Allegorisierung des Schreibens der Geschichte unter der Gestalt der Muse Klio siehe im Kontext von Nietzsches Geschichtsverständnis: Bann 1990, S. 100 – 121. 13 Kaulbach / Schleier 1997, S. 44.

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realisiert sich die Memoria im Schreiben für die Nachwelt, obwohl die Inschrift unter ihrer weiblichen Figur auf etwas Konträres verweist, nämlich dass die Vergangenheit zum praktischen Nutzen der Gegenwart umgewälzt werden soll: »Praeterios memori et prudens si respicis actus ad res praesentes hinc erit utilitas« (und dies als Inschrift!). Wenn sie den Verlauf der Geschichte mit ihrer Feder festzuhalten versucht, den unsichtbaren Gang der Dinge in einem Buch als Codespeicher dokumentiert, auf der Basis der ionischen Säule sitzend, zusammen mit dem Hund, ihrem treuen Begleiter, dann zerfallen mit dem Verlauf der Schreibzeit zugleich ihre eigenen Attribute: Die steinernen Architekturformen werden zu Zeugnissen des Vergehens. Die Ewigkeit dieses Archivs wird zwar deutlich angestrebt, indem das Buch mit dem Hintergrund eines tempelartigen Gebäudes konfrontiert wird, dieses wird aber dennoch Spuren der Zeit aufweisen, da es der Erosion ausgesetzt ist und, noch bevor die letzte, noch leere, ungeschriebene Seite des Buches der Erinnerung aufgeschlagen wird, zerfällt. Diese Unentschiedenheit und Ambivalenz der dokumentierenden Memoria, die sich im eigenen Tun von sich selbst entfremdet, indem sie die Bedingungen des eigenen Schreibens verhüllt, sich der Zeit enthoben wähnt und nie den letzten Satz schreiben kann, wird zu einem sich durch die ganze Frühe Neuzeit, das gesamte barocke Zeitalter hindurch ziehenden Bildtopos. Als solcher bestimmt er auch den Nachruhm des barocken Herrschers. Auch wenn dem mächtigsten der barocken Habsburger, Kaiser Karl VI., auf dem Höhepunkt seiner Herrschaft im Jahr 1732 ein schriftliches Monument seines Ruhms gefertigt wird (Abb. 149), 14 ist es Chronos persönlich, der in die steinerne Tafel die Buchstaben einritzt. Es ist der gleiche Chronos, der als tempus edax rerum im 15. Buch von Ovids Metamorphosen

Abb. 149: Chronos verewigt die Verdienste Karls VI., in: Gottfried Bessel, Chronicon Gotwicense, Tegernsee 1732, Widmungsblatt.

14 Polleroß 2000, S. 107.

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Abb. 150: Anton Martin Lublinsky, Historia, Entwurf eines Frontispiz, 1670/1680, Zeichnung (verschollen).

seinen saturnischen Hunger auf die Dinge nicht stillen kann und auch dem Sozialkörper des Herrschers, den er hier verewigen soll, ein definitives Ende bereitet – wenngleich in einer noch nicht absehbaren Zukunft. 15 Auch der rechteckige Monolith mit den aufgelisteten Verdiensten des Kaisers, der sich von der Entropie der sich dahinter verbergenden Architekturruinen wie eine zu Stein gewordene Buchseite strukturell unterscheidet oder wie ein neuer technischer Fremdkörper inmitten einer vergangenen und verwüsteten Umgebung wirkt, wird schließlich das Schicksal dieser memorialen Landschaft teilen müssen. Auch wenn die Geschichte eigenhändig die Genealogie eines Monarchen in den Stein eingraviert – eine solche Deutung ist im Fall des Entwurfs für ein Frontispiz von Anton Martin Lublinsky aus den siebziger Jahren des 17. Jahrhunderts wahrscheinlich (Abb. 150) 16 –, indem die lange genealogische Schleife der Vorfahren in der gekrönten Steinplatte ihren Höhepunkt der Faltung findet, ist es schließlich die Notwendigkeit eines Mediums, mit dessen Vergänglichkeit auch der beabsichtigte Ruhm zugrunde geht. Die in Stein gebannte Geschichte ist daher eine Realfigur der Verwirklichung, die sich jedoch deutlich von der

15 Siehe v. a. Panofsky 1967, S. 69 – 94, v. a. S. 83, wie auch Cohen 2011, S. 103 – 112; Macey 1978, S. 540 – 577. 16 Zelenková 2011, S. 58.

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nur poetisch möglichen Fortdauer unterscheidet. Sie unterliegt dem gleichen Fluch wie die bildenden Künste, die sich im Zeitalter des Paragone stets mit der eigenen Zeitlichkeit, dem Verderben der eigenen Substanz befassen müssen, über ihren intendierten Zweck als Medien der noblen Memoria hinaus. Der Zerfall eines Grabmals, mit dem wir es im Fall des Ernst von Pardubitz zu tun hatten, in dem sogar die natürliche Entropie teleologisiert wurde, kann dabei als eine ikonologische Leitfigur dieses Problems angesehen werden. Sobald die Geschichte versucht, den Verlauf der Zeit zu dokumentieren und ein Archiv der ihr untergeordneten Ereignisse, Objekte und Subjekte zu kreieren, verwandelt sie sich in eine künstlerische Persönlichkeit, die sich – auch wenn sie die historischen Stimmen treu zu vermitteln glaubt – der vergehenden ›Fleischlichkeit‹ eigener Produkte nicht widersetzen kann. Die von ihr niedergeschriebenen Worte, im Stein wie im Buch, werden jedes Mal zu einer Erfüllung der prima idea, die – sobald sie einen Abstieg in das zeichnerische, malerische oder bildhauerische Medium findet, auf Papier, auf Leinwand oder im Marmor – verborgen oder gefangen bleibt und mit dieser Fixierung auf eine listige Art und Weise das Leben unausweichlich in den Tod verwandelt. Interessanterweise, genauso wie Belloris und Carduchos Idea (Abb. 151), 17 scheint auch Lublinskys Historia auf ihrer steinernen tabula rasa vor allem ihren eigenen Schatten nachzuzeichnen. Somit beteiligt sie sich an dem zu damaliger Zeit bereits elaborierten künstlerischen Diskurs über platonische Ursprünge der Abbildung in ihrer intellektuellen und geistigen Dimension: als Schein, Betrug und Lüge. Das Verhältnis der materiellen Speichermedien zum Leben, die, obwohl zukunftsorientiert, für die Nachkommenschaft gedacht sind, um die ruhmreichen Toten in Wort und Bild zu verlebendigen, ist im Endeffekt durch Zerfall gekennzeichnet. Vor diesem Hintergrund zeichnet sich das bekannte Konzept der »Roma quanta fuit ipsa ruina docet« mit der Autonomie der produktiven Dynamik der Ruine aus, die selbst eine Abb. 151: Charles Errand, Idea, in: Giovanni Pietro Bellori, Vite, 1672.

17 Siehe Kap. 1, Anm. 23.

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ambivalente Geschichtlichkeit erzeugt. 18 Marten van Heemskerck formulierte diese Phrase auf seiner Zeichnung des römischen Septizoniums in seinem II. Skizzenbuch als Motto für die Renaissance-Künstler, die das Ideal der Antike anhand von zertrümmerten, von Ziegen und wandernden bamboccianti bevölkerten und durch hängende Wäsche rustikalisierten altrömischen Architekturresten besichtigen und ernsthaft studieren möchten. Sebastiano Serlio übernahm sie bereits als eine frontale Devise der Antiquita di Roma in sein III. Buch der Architektur. 19 Im Vergleich zu diesen sentimentalen Auffassungen verblüfft eine barocke Redaktion dieses Motivs in Joachim von Sandrarts Teutsche Academie der Edlen Bau-, Bildund Mahlerey-Künste 20 mit einer elaborierten Frage nach der Geschichte als dynamischem Gestaltungsprozess von materiellen Dingen. Eingeschrieben in das Gebälk eines zerfallenen Tempels mit der römischen Antiqua in Sandrarts eigenhändiger Grafik (Abb. 152), zeugt diese Inschrift nicht nur von der einstigen Pracht der durch Barbaren beendeten Antike, sondern verbindet in ihrer Materie des in der Architektur implizit vorhandenen metahistorischen Textes unterschiedliche Zeitebenen miteinander. Sie beweist auf diese Art und Weise, dass den Dingen selbst die Merkmale des Vergehens eingeschrieben sind. Rom erzählt mit dieser Selbstaussage der ruinierten Architektur über sich als Rom, und dennoch ist es jetzt nicht mehr das gleiche antike Rom, von dem diese Inschrift erzählt. Diese paradoxe Erklärung scheint die Geschichte selbst – jenseits ihrer politisch beanspruchten Monumentalität – als eine Art Prozess des Verschwindens mittels Verspätung zu denunzieren und zugleich als eine Ebene der sich durch diesen unhaltbaren Zerfall artikulierenden entropischen Beständigkeit darzustellen. Der Betrachter wird mit diesem Bild ins Innere eines einstigen römischen Tempels eingeladen, um mit einem Insider-Blick die Selbstreferenzialität der historischen Ruine als ihr produktives Merkmal erfassen zu können. Angefüllt mit gefallenen und zertrümmerten Figuren, Büsten und Gefäßen, kreiert die Szene durch ihre Suggestion eines Mikrokosmos der Verwüstung, eines zufälligen Archivs der Zeitlichkeit, zugleich ein Szenario der Intimität, in dem die noch stehende weibliche Büste die Rolle einer Randfigur des Denkers, wenn nicht gar eines Vorreiters der romantischen Melancholiker übernimmt und eine individuell didaktische, ›dozierende‹ Qualität bewahrt. 21 Es ist der Schauplatz der ruina Romae, über die der Besucher im Affekt, im Mitgefühl mit dem tödlich verwundeten Ideal seine Tränen vergießen soll, wie Sandrart mit seinem Zitat aus Petrarca dazu schreibt: »Quot sunt mihi templa, quot arces / vulnera sunt totidem; crebris confusa ruinis / moenia reliquias immensae & flebilis Vrbis / ostentant, lacrymasque movent spectantibus.« 22 Die zertrümmerten Figuren – die gefallenen Idole der altrömischen Träume von monumentaler Ewigkeit, die mit ihren raffiniert 18 Siehe dazu grundlegend Dacos 1995, darüber hinaus u. a. die Beiträge in Kaderka 2013. Vgl. philosophische und kulturhistorische Zugänge zur Problematik: Lacroix 2008; Assmann / Gomille / Rippl 2002. 19 Siehe dazu Thoenes 1989, S. 51 – 61. Vgl. auch Cañal 2008, S. 93 – 108. 20 Sandrart 1675, Abb. auf S. 64a. 21 Die Figur wurde bisher mit der antiken Venus Giustiniani identifiziert, die weibliche Büste hinter ihr als Hl. Susanna von François Duquesnoy (siehe http://ta . sandrart . net / - artwork - 963). 22 Sandrart 1675, S. 65.

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Abb. 152: Joachim von Sandrart, Roma quanta fuit ipsa ruina docet, in: ders., Teutsche Academie, 1675 – 1680.

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umgekehrten Posen die dramatische Bühne eines mittelalterlichen Jüngsten Gerichts füllen könnten – scheinen schon auf den ersten Blick vollkommen leblos zu sein und die materielle Vergänglichkeit des Steins, des besten und doch so fragilen Materials, zu verkörpern. Sowohl die Venusfigur, die ihren früher provozierenden Charakter als Spiegelbild der erotischen Fantasien bereits verloren hat, 23 als auch die männliche Statue, die ein Zerstörungsstadium des Torso Belvedere avant la lettre abzubilden scheint, sind zugleich gefallene Idole der alten Kunst, tote Vertreter ihrer klassischen natura rerum, die den Wärmetod dieses Mikrokosmos der Dinge andeuten. Während ein am Boden liegender, abgetrennter Kopf einer Figur wie auch ihr sprach- und gliederloser, aber immer noch stehender Körper traditionell zu bildlichen Synonymen der Nachträglichkeit avancieren und sich daher in abweichenden Kontexten immer für die typologische Visualisierung des Sieges der Religion über die Idolatrie eignen, erscheint ein markantes Detail von Sandrarts Inszenierung der Vanitas als eine beachtliche, weil nicht überhebliche künstlerische Reflexion über das rein Prozessuelle des Andauerns. Der abgetrennte, auf den Boden gefallene Arm einer weiteren Figur verwandelt sich in eine ›sprechende Hand‹ aus Traktaten Athanasius Kirchers und anderer barocker Wissenschaftler. 24 Diese Hand ›spricht‹, indem sie trotz der von Sandrart kunstvoll abgebrochenen und dennoch beinahe aktiv zusammengehaltenen Finger – eine anatomisch-ikonografische Anomalie – ihre deiktische Fähigkeit bewahrt. Sie verweist auf die zweite Inschrift des Blattes, die teilweise durch den Erdboden sowie Fragmente der zerbrochenen Figuren verdeckt ist und damit eine explizit archäologische Botschaft mit sich bringt. Sie zeigt auf das Wort »Augusto« auf einem Teil des gebrochenen Gebälks – und damit auf einen Namen und zugleich auch eine Bezeichnung, mit der die Ehrwürdigkeit und die Heiligkeit des kaiserlichen Patrons und damit die ganze klassische Pracht des antiken Roms verbunden ist. Eine Pracht, die trotz der vom demolitus barbarus, dem Gotenkönig Totila, im Jahr 549 verursachten Verwüstung und entgegen der Gnadenlosigkeit des Chronos für die Künstler als ein ewig geltendes Modell immer noch vorhanden bleiben sollte. 25 Dieser Akt der Deixis ist jedoch seinerseits ambivalent. Zwar ist der zeigende Arm als das einzige ›frontal‹ zum Betrachter gerichtete Element mit einer Souveränität des Handelns gekennzeichnet, insbesondere im Kontrast zu den beiden nach vorne gekippten und identifizierbaren Figuren der Venus und des kauernden Helden aus dem Belvedere, die als gefallene Idealvorbilder augenblicklich ihre ganze kunsthistorische ›Persönlichkeit‹ verlieren. Die Finger dieses in den Vordergrund gerückten zeigenden Arms sind aber inexistent, zertrümmert und vielmehr abgebrochene Teile eines abgebrochenen Glieds einer anonymen Figur, die im Bild selbst nicht mehr zu finden ist. Was in diesem Ruinenmikrokosmos spricht, ist demnach seine eigene Unfähigkeit, in dieser durch Chronos vorgenommenen Reduktion der Dinge die Geschichte zu bewahren und direkt zu vermitteln. 23 Vgl. Kap. 2, Anm. 162. 24 Burke 2003a, S. 273 – 296. Vgl. Kapustka 2014, S. 118 – 122, hier insbes. S. 119 – 122; Evers 2006. 25 Sandrart 1675, S. 65.

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Dies ist eine Einsicht aus der Zeit nach der Auslöschung der Memoria, aus dem letzten Stadium der Selbstauf lösung der Medien der Historia also. Dies ist das endgültige Ende ihrer prima idea. Der Status der Memoria kann nur aus der Perspektive nach der Überwindung von zwei zeitlichen Hürden – der Materialisierung und der Entformung – definiert werden. Diese zwei Schwellen sind es, die die Gegenwart unverzüglich zur Vergangenheit erklären: »Roma quanta fuit ipsa ruina docet«. Und dennoch wirkt diese Grafik, da die Geschichte durch das Fragmentarische der Dinge ersichtlich wird, wie ein Sehnsuchtsbild, das, anstatt nützliches Mittel der chronologischen Exaktheit eines Archivars zu werden, den Künstler – Joachim Sandrart, der in seiner Akademie die Kunst der Malerei mithilfe der Biografistik ihrer Hauptakteure in einem geschichtlichen Blick zu erfassen versucht – zu einer tiefen Reflexion über die Vergänglichkeit anhält. Diese Reflexion ist zugleich sowohl jenseits der Ansprüche auf politische Monumentalität angesiedelt wie sie über die für mehrere barocke Künstler gewöhnliche Melancholie der Ruine hinausgeht, wie etwa die von Charles Cornelisz. de Hooch oder Monsú Desiderio. 26 Der Künstler ist es, und nicht der Archivar, für den die Ambivalenz der anonymen Reste einen produktiven Stoff darstellt. Obwohl die Finger des ›zeigenden Subjekts‹ im Bild abgebrochen sind, vermögen sie es nach wie vor – sie schaffen es sozusagen mit letzter Kraft – auf die Pracht oder eher auf deren Einstigkeit zu verweisen, indem sie das Aufzeigen selbst thematisieren und in Frage stellen. Nur auf diese Art und Weise kann jedes einzelne ruinöse Element der Herrlichkeit des vergangenen Systems – des Ideals Rom, so wie es im Barock multimedial überliefert wurde – effektiv als pars pro toto wirken. Die Kunst ist somit beständiger als die Geschichte selbst, weil sie für sich spricht und nicht für die Dinge, die sie beschreibt. Sandrarts Beitrag zum Topos der Historizität der geformten Materie erweist sich als ein Manifest der Autonomie der Kunst, die keiner Historiografie bedarf. 27

Strahlende Präsenz: Die Realwerdung der Metapher Die Geschichte von katholischen Hauptakteuren der konfessionellen Auseinandersetzungen, die den theokratischen Topos produktiv auf die Spitze getrieben haben, musste unbedingt eine ultimative sein. Weder die memoriale Treue den alten Ordnungen und Dingen gegenüber noch der mediale Einsatz, die res gestae im Stein oder Buch zu verewigen, konnten der politischen Tatsache gerecht werden, dass es sich bei solchen Geschichtsvisionen um einen Anspruch auf die letzte, gar letztendliche Geschichte handeln musste, die zudem nie enden würde. In diesem Sinne bleibt Lublinskys Personifikation der Historia, die mit ihrer Ahnenschleife die eigene zeitliche Ausdehnung durch Genealogie und Fortsetzung zu definieren 26 Siehe Sary / Nappi 2004. 27 Siehe Kuhn-Forte 2012, S. 73 – 86. Vgl. in diesem Kontext zu den Konzepten der Selbstverewigung der Künstler mithilfe eigenhändig entworfener fiktiver Monumente: Springer 2002, S. 21 – 37.

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versucht, in ihrer Endzeitlichkeit und Mediengebundenheit dennoch eine sterbliche, sich selbst auslöschende Allegorie. Die Paradoxie der Darstellung von ruhmreichen Verewigungen findet in diesem Fall der sich selbst verneinenden und keine Kontinuität garantierenden Personifikation einen eher unbeachteten, selbstlimitierenden Höhepunkt. Als solche wird die Historia sogar selbst zu einem Idol, dessen sichtbare mediale Begrenztheit innerhalb eines scheiternden humanistischen Konzepts sich als mit den noblen Ambitionen der als rechtgläubig verherrlichten Protagonisten, die an der ontologisch deklarierten Ewigkeit teilzunehmen versuchen, wenig kompatibel zeigt. Indem sie schreibt, setzt sie ihrem eigenen Sinn ein Ende. Wenn die Geschichte wirklich eine göttliche werden soll – die eine, ubiquitär und monochrom verlaufende Geschichte des Reichs Gottes anstatt viele menschliche Geschichten –, muss sie entsprechend aus einer göttlichen, transzendenten Perspektive und unter der Prämisse der gesegneten, irdischen Plenipotenzen erfasst werden. Nur diese Perspektive macht die absolutistische Herrschaft – die kirchliche und die weltliche in einer organischen theokratischen Allianz – zu einer indisputablen und unantastbaren Empfängerform der transzendenten Übertragung als letzte civitas terrena. Damit verliert auch der Begriff der historisch etablierten Autorität, der für die spätscholastischen Kontroverstheologen eine feste Basis für ihre vortridentinischen Apologien lieferte, weitgehend an Bedeutung. Grund dafür ist unter anderem die Tatsache, dass im Rahmen der barocken Verherrlichungsmodi die individuellen Verdienste der Ruhmreichen anhand ihrer teleologischen Einrahmung durch die Mission eher mit Blick auf ihre aktuelle Zweckmäßigkeit und nicht nur wegen ihres Grades an historischer Plausibilität im Voraus bewertet werden. Die Autorität wurde vollkommen institutionalisiert, da die Institution der Kirche und der Herrschaft in diesem eigenhändig durchgeführten Stellungswechsel selbst zu einem direkten Empfänger der erleuchtenden göttlichen Gnade geworden war und sich als ein Gemeinschaftskörper präsentieren konnte, der keiner Legitimation bedarf. Dieses Verhältnis schien interessanterweise die alten, historischen Argumentationsverläufe im Sinne von »Ecclesia non errat, quodmodum enim posset errare?« 28 aus der Krisenzeit der zwischenkonfessionellen Disputationen der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit der Kraft einer neuen triumphalen Befürwortung auszustatten. Diese Institutionalisierung der göttlichen Bevollmächtigung wurde im Barock als abgeschlossen und uneingeschränkt dargestellt. Eine derartige Vollendung markiert die Horizonte der Theokratie, auch wenn die weltliche Herrschaft immer wieder mithilfe der Poetik des Duells, etwa dem des Papstes Leo mit dem Hunnenkönig Attila, davor gewarnt wird, die Sünde der irdischen Eigensinnigkeit zu begehen und sich gegen die Legitimität des kirchlichen Erbes zu wenden. 29 28 »Ecclesia non errat, non modo quia semper habet sponsum Christum, sed etiam, quia regitur magisterio spiritus sancti. / Ecclesia dei uiui coluna et firmamentum ueritatis: quomodo ergo erraret?«; Eck 1525, S. 2 (Kap. »De Ecclesia et eius authoritate«). 29 Interessanterweise werden diese ›Duelle‹ nur in der kirchlichen Ikonografie zu einem Topos, die herrschaftliche Bildpropaganda des Absolutismus sah ihre Protagonisten als Vollstrecker des göttlichen Plans und nicht in der Rolle der polemischen adversarii.

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Damit ihre eigene Geschichte nicht zu solch einem die Geschichte nur im Stein bewahrenden, vergänglichen Idol wird, vermochte sich im Barock die sich als rechtgläubig ansehende katholische Konfession samt der alliierten christlichen Herrschaft dem Zahn des Chronos durch die Einführung eines besonderen Bildkonzepts zu entziehen. Nach diesem Bildkonzept nimmt die Geschichte die Form einer andauernden Transmission an. Mit der bildlich effektvoll umsetzbaren Idee von einer durch Licht – durch die göttliche Kompetenz – bestrahlten Amtshoheit wird die historische Nachträglichkeit beseitigt, und die Herrschaft, genauso wie die ekklesiastische Vollmacht, entfaltet sich im ununterbrochenen, zeitlosen energetischen Strom der kosmologisch unterstützten, göttlichen Anerkennung. Diese Art von postulierter Gleichzeitigkeit von höchster göttlicher Autorität und den ihr untergeordneten, gesegneten Empfängern dieser Autorität war als Bildmodell bereits in einigen Werken zu sehen, die in dieser Studie besprochen wurden. An der Grafik in Juan Caramuel y Lobkowitz’ Biografie des Domenico à Jesu Maria von 1655, in der das Bild der Siegreichen Maria vom Weißen Berg zu einer bekehrenden Transmissionsfläche des göttlichen Lichts wurde, war bereits der Übergang vom emblematischen Bild in eine transzendierende Bühnenaufführung zu erkennen. Die gleiche Strategie der Bevollmächtigung dieses Bildes wurde 1671 in einer Darstellung von Karl Škreta (Abb. 153) angewendet, welche die spirituelle Genealogie des mittelalterlichen Palladiums der kaiserlichen Truppen am Weißen Berg durch eine direkte vertikale Verbindung erklären sollte: Mithilfe der kontinuierlich im Bildraum verlaufenden, diagrammatischen Strahlen wird die zu einer barocken Triumph-Ikone gewordene Tafel, die bereits als ein verletztes Bild dargestellt worden war, zu einem Sprecher des Heiligen Geistes. 30 Das Bild führt als Agent selbst die Feder der Karmeliterheiligen Johannes vom Kreuz und Theresa von Ávila und entpuppt sich somit als der hinter den Kulissen der mystischen Erlebnisse stehende Souffleur. Die Komposition, möglicherweise durch Karmeliter in Auftrag gegeben, die seit 1624 in Prag residierten, eliminiert jegliche Spuren der Nachträglichkeit. So wie die humanistisch geprägte Historia ihre Probleme mit den eigenen Medien zu bewältigen versuchte, so wird die mystische Narration – die höchste Form der christlichen Narration überhaupt, wenn sie wegen der Unaussprechlichkeit des mystischen Erlebnisses überhaupt möglich ist, wie bereits die Schriften Meister Eckharts aufzeigen konnten – von ihrer Natur aus mit dem ununterbrochenen Hauch der Ewigkeit gekennzeichnet. Die Medien, zu denen hier auch die heiligen Subjekte der Gnadenempfänger selbst gezählt werden müssen, werden zu Transmittern der göttlichen Energie, zu reflexiven und fokussierenden Prismen der beglaubigenden Lichtstrahlung, die nie ausgeschöpft werden kann. Mit einem solchen Schritt erreichte die Ikonografie der historischen Bevollmächtigung ihren absoluten interpretatorischen Höhepunkt; sie benötigte keine Interpretation mehr, außer der eigenen, im Voraus implizit vorhandenen und auf den ersten Blick erfassbaren eindeutigen Auslegung. Alles, was der Betrachter verfolgen kann, ist die Richtung der durch Energiestrahlen erschaffenen Ko-

30 Stolaˇrová / Vlnas 2010, S. 402 – 403; Zelenková 2009, S. 88 – 89.

Strahlende Präsenz: Die Realwerdung der Metapher

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Abb. 153: Karl Škreta, Das Marienbild vom Weißen Berg mit Johannes vom Kreuz und Theresa von Ávila, 1671, Zeichnung, Prag, Nationalgalerie, Inv.-Nr. K 1989.

ordinaten und Verknüpfungen, welche die Bühne des Geschehens in eine reale Räumlichkeit verwandeln, die aber jenseits der Zeit verbleibt. In den folgenden Passagen und zum Ende dieser Studie also soll dieser Bildpraxis der Autoritätsauslegung weiter gefolgt werden. Es wird von der Prämisse ausgegangen, dass die Hyperbel in diesem Rahmen jenseits der Anzweif lung steht und nur entlang der überaus deutlich gemachten Leserichtlinien als Faktum verstanden werden kann. Das Gesamtkonzept der zeitlosen Bevollmächtigung, mit dem das katholische Verständnis der Neuzeit politisch und rhetorisch über alle Grenzen geführt wurde, wird an einigen repräsentativen Beispielen aus der langen Reihe korrespondierender Abbildungen erläutert, um im Weiteren danach fragen zu können, welche Konsequenzen sich daraus für die Position des Mittelalters als einem barocken Argument im damals immer noch zeitgenössischen Kampf der Konfessionen ergeben. Die katholischen Bilder entziehen sich aufgrund ihrer ›neuen Natur‹ der Idolatrie. Wegen ihrer Mission, die gegen alle möglichen Idole gerichtet wird, vielleicht mit Ausnahme der von Francis Bacon definierten Idole des menschlichen Verstandes – der idola specus, die durch Produktion von Vorurteilen den Menschen wieder in die Eigenwelt der platonischen Höhle versetzen –, 31 werden sie auch zu aktiv bekehrenden Werkzeugen gemacht. Sie werden als Medien gedeutet, welche die in ihrem Selbstverständnis expandierende Konfession von 31 Dazu Blumenberg 1989, S. 285 – 299.

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Abb. 154: Matthäus Küsell nach Anton Martin Lublinsky, Hl. Katharina von Alexandrien bekehrt die heidnischen Philosophen, Thesenblatt Theses ex vniversa philosophia von Gregor Maria Signori im Franziskanerkolleg in Frain (Vranov nad Dyjí), 1681, Prag, Nationalgalerie, Inv.-Nr. R 58 116.

Anfang an, also bereits bei den apologetisch durchgeführten altrömischen Konversionen, maßgeblich unterstützen – trotz der ursprünglich postulierten Bilderlosigkeit und Idolenfeindlichkeit. Anerkannte Bilder sollen mit den Bildern der Anderen kämpfen. Der gleiche Strom der Bevollmächtigung, der dem verletzten Marienbild aus Prag seine Macht verlieh, kennzeichnete im Barock ebenfalls allegorisierte Projektionen der historischen Bekehrungen aus den Zeiten der ersten Christen. So wird die mit den ›heidnischen‹ Philosophen diskutierende hl. Katharina auf einem der franziskanischen, aus Böhmen stammenden Thesenblätter zur universa philosophia von 1681 zu einer auf einem Altar des christlichen Wissens thronenden Athena stilisiert (Abb. 154). 32 Die aus der Legenda aurea bekannte Geschichte dieser für die christliche Jungfrau unglücklichen disputatio wurde hier völlig umgedeutet, indem die Heilige die göttlichen Strahlen Jahwes von ihrem mit dem Wort »Charitas« versehenen Schild reflektieren lässt, damit diese sofort auf die Köpfe der versammelten ›heidnischen‹ Gelehrten fallen können. Als eine für immer bestrahlte irdische Autorität verkörpert sie somit mehr als deutlich den katholisch entworfenen Aufklärungseinsatz: In der über ihrem 32 Zelenková 2011, S. 152 – 155.

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Thron beigefügten Inschrift wird davon berichtet, wie diese Bekehrung als eine Entidolisierung, eine Befreiung aus dem Bann der leblosen Materie verstanden werden sollte; die Heilige triumphiert über die fünfzig Philosophen, als ob sie aus Steinen Menschen schaffen würde (»S. Catharina, Virgo Alexandrina et Martyr Triumphans, Vicens 50 Philosophos quos tamquam e Saxis in homines mutavit«). Ihr nüchtern-pygmalionischer Einsatz ist somit eine wichtige ›historiografische‹ Präzedenz für viele spätere Fälle eines Neuanfangs. Auf eine ähnliche Art und Weise wie in Kapitel 2 geschildert, wird später der hl. Wenzel als der mittelalterliche protoplasta Bohemiae agieren, der aus den stummen und ausdruckslosen ›heidnischen‹ Kindern einsatzbereite christliche Schüler macht. Das Idol wird in diesem Rahmen zur Verkörperung des Unwissens und somit zum Gegenpol der institutionell kontrollierten Erleuchtung. Dass in diesem franziskanischen Thesenblatt mit der hl. Katharina eine zuvor durch die Jesuiten verwendete Vorlage übernommen und das IHS-Monogramm auf dem Schild der christlichen Weisheitsgöttin Athena mit Charitas ersetzt wurde, zeugt nur von dem Erfolg und der übergreifenden Flexibilität dieses Musters innerhalb des barocken Bildungs- und Geschichtskonzepts. 33 Die rhetorische Eindeutigkeit und politische Eindimensionalität dieser Idee benötigt im Grunde genommen keine weiteren Analysen ihrer einzelnen, in zahlreichen Bildern entwickelten Varianten. Es soll an dieser Stelle stattdessen lediglich daran erinnert werden, dass die Unendlichkeit der ersten Beglaubigung der martyres durch fließende Gottesgnade logischerweise eine entsprechende Ikonografie der ultimativen Plenipotenz bei ihren zeitgenössischen Sukzessoren erzeugen musste. Infolgedessen werden zahlreiche Kirchenfürsten in ihren missionarischen Ämtern vor allem durch die Kraft der Strahlen und die Objektivität der zodiakalen Konstellationen zentralistisch begünstigt, die nach der Verbannung der astrologischen Determination durch die Bestimmung Gottes, die Autorität der Propheten und die Erwartung der allegorisierten Gemeinden zu zeitlosen Strukturmarkern des göttlich bewältigten Universums erhoben worden sind (Abb. 155, 156). 34 Sieht man solche Bilder gleichwohl nicht nur als symbolische, ›typisch barocke‹ oder ›nur historische‹ Visualisierungen der glänzenden Glorie und Herrlichkeit, sondern als Darstellungen von Realereignissen auf der Bühne der sich progressiv selbst strukturierenden Institution, welche die ursprüngliche Leidensgemeinschaft fortzusetzen und zu substituieren behauptet, gewinnen sie als Bekenntnisbilder und amtliche Urkunden der Bevollmächtigung an Status. Als solche nehmen sie die ganze bisherige historische Erfahrung in ihre teleologische Perspektive der Zeitlichkeit am Punkt ihrer glorreichen Auf lösung auf.

33 Kroupa 2002, S. 120 – 121. Vgl. z. B. das Bild die Bekehrung in Gang setzenden katholischen vera fides, die göttliche, durch den thronenden Papst reflektierten Strahlen empfängt in: De Remond, Historia, Titelblatt. 34 Stolaˇrová / Vlnas 2010, S. 390 – 391; Zelenková 2009, S. 70 – 72.

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Abb. 155: Georg Andreas Wolfgang nach Johann Bartholomäus Klose, Die Verherrlichung von dem Prager Erzbischof Johannes Wilhelm von Kolovrat, 1668, Kupferstich, Prag, Nationalarchiv, Inv.-Nr. 130.

Abb. 156: Philipp Kilian nach Johann Bartholomäus Klose, Die Verherrlichung von dem Prager Erzbischof Kardinal Ernst Adalbert von Harrach, 1667, Kupferstich, Prag, Nationalgalerie, Inv.-Nr. R 54 745.

Der Strom von Gottes Licht lässt sich in diesem Kontext genauso wenig symbolisieren wie historisieren. Diese Tatsache erklärt den Konflikt solcher Darstellungen mit dem humanistischen Konzept der Geschichte und ihrer Medien, des alle Steine verzehrenden Tempus oder Chronos, denn die Lichtstrahlen Gottes haben keine Zeit und werden auch keine Zeit haben. Das Vergehen selbst ist vielmehr durch christliche Ewigkeit bezwungene Vergangenheit. Die damit einhergehende Einführung einer absoluten Zeit auf Erden gleicht einer Metaebene des Bildersturms, durch den die Vergänglichkeit als das Dasein des Menschen immer wieder trübendes Schicksal überwunden wird. 35 Der eucharistischen Allpräsenz des Herrschers, der seinem auf ewig expandierenden katholischen Reich keine Grenzen ziehen kann oder will und sich selbst – wie Karl VI. – mit Constantia et Fortitudine bezeichnet, kann sich also auch die lineare Historia nicht widersetzen. Dauerhaftigkeit und Stärke sind monumentale Qualitäten, die es möglich machen, die Geschichte aufzuheben, sie in Ewigkeit umschlagen

35 Pomian 1984, S. 271.

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zu lassen, die Grenzen der Geografie, die für Karl V. mit seinem plus ultra noch zu überwinden waren, zu relativieren und zu beseitigen – nicht durch neue Entdeckungsreisen, sondern durch die Beherrschung der Zeit. Deswegen ist es auch verständlich, dass Leopold I. bereits 1692 als Nachfolger von alttestamentlichen Propheten, Königen und Helden in einem Wiener Thesenblatt dargestellt wird (Abb. 157), 36 wie sie ihm Strahlen der historischen Vollmacht aussenden, die er auf seiner Brust konzentrieren und als drei mächtige Strahlen weiterleiten kann. Und dieser transformierten Strahlen bedient sich die zu seinen Füßen kniende Historia, die auf einem Schild mit kaiserlichem Abbild mit dem Federkiel den unsichtbaren Verlauf der bis dato fortschreitenden und jetzt aufgelösten Geschichte aufschreibt, ohne auf die zu beschreibende Fläche zu schauen. Es handelt sich dabei um ein antikes Motiv aus der römischen Triumphikonografie und Siegestheologie, wo die neben dem Tropaion stehende Victoria die Errungenschaften des Kaisers auf einem Schild aufzeichnete und somit perpetuierte, so zum Beispiel in einem Relief der Trajanssäule (Abb. 158). 37 Auch zur Zeit Konstantins des Großen durfte die personifizierte Geschichte die kaiserlichen Taten auf seinem Schild aufschreiben, wie es in einem in der Frühen Neuzeit rezipierten Relief des römischen Konstantinbogens zu sehen ist. 38 Die in Leopolds Grafik daneben kniende Vigilantia, die ebenfalls das Schild hält, lässt die mit dem kaiserlichen Porträt gekennzeichnete Reflexfläche zu einem Brennspiegel werden, wodurch die Strahlen sich multiplizieren, um in der unteren Partie des Bildes die feindliche Kavallerie – natürlich die Osmanen – zu besiegen und zerstören. 39 In dieser Festgrafik handelt es sich also bei dem Schild weniger um ein allegorisches Machtattribut als um die Darstellung eines nur scheinbar als Paradox zu bezeichnenden, zeitlosen Aktes, der gerade durch seine gleichzeitige Augenblicklichkeit und Prozessualität auf das Wesen einer absoluten Herrschaft hindeutet. Die Geschichte wird hier nicht ex post niedergeschrieben, sondern im eigenen Lauf auf Dauer gestellt und aufgelöst. Historia scheint mit ihrem im kaiserlichen Antlitz versenkten Blick eigentlich den Verlauf der Strahlen zurückzuverfolgen und mit der Feder die Silhouette des Spiegelbildes – des ephemeren Bildes schlechthin – auf der Fläche des Brennspiegels nachzeichnen zu wollen, sodass das Medium, die Konzentration und die Reflexion zu einem Gebilde werden können und die Zeit aufgelöst wird. Die Geschichte ereignet sich jetzt und wird nie enden, weil sie sich gerade eben im ewigen Spiegelbildnis ausdrückt. Diese herrschaftliche Transzendenz des Leopold, seine sich im Gang der Dinge wie ein Amtsantlitz einprägende Präsenz, ermöglicht ihm einen apriorischen endgültigen Sieg über die Feinde des Reichs als Feinde seines Gottes, die sich durch ihre Temporalität auszeichnen. In Flucht geraten, stellen sie als eine zu beherrschende Akzidenz einen Gegenpol zur Ewigkeit der anerkannten historischen Übertragung,

36 37 38 39

Schumann 2003, S. 357 – 358; Lechner 1993, Kat.-Nr. 109. Siehe zum römischen Kontext: Künzl 1988, S. 123 – 131. Siehe Faietti / Scaglietti Kelescian 1995, Kat.-Nr. 35. Vgl. Prusac 2012, S. 127 – 157. Zu Leopolds Darstellung als Türkensieger siehe u. a. Appuhn-Radtke 1988, S. 71 – 73 und umfassend Telesko 2012b, S. 174 – 195; vgl. Ziegler 2008, S. 166 – 181; Schumann 2003, u. a. S. 103 – 116, 172 – 192.

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Abb. 157: Georg Christoph Einmart, Die Verherrlichung des Kaisers Leopold I., Thesenblatt Conclusiones ex universa Theologia von Wolfgang Waichard von Rain an der Universität Wien, 1692, Stift Göttweig.

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Abb. 158: Tropaion und Victoria, 112 – 113 n. Chr., Relief aus der Geschichte des 1. Dakerkrieges, Rom, Trajanssäule.

zur katholischen Zeitlosigkeit dar. Der Kaiser befindet sich im Dauerzustand des Herrschens, und so ist auch sein Triumph ewig, weil er über einen bestimmten singulären Sieg, über die eine oder andere gewonnene Schlacht im kategorischen Sinne hinausgeht. So wie der Barock selbst nimmt der habsburgische Kaiser sein zukünftiges Ende nicht wahr; wie beim Triumphalstil der kaiserlichen Bauten wird Niederlage, Reform oder Ermüdung gar nicht in Betracht gezogen. Der Kaiser will keine Geschichte in Stein. Der Kaiser will nicht leben, er will dauern, und gerade diese Intention befähigt die Hyperbel zum Modus seiner Ikonografie und macht das Überqueren von jeglichem ästhetischem Grenzwert der Verherrlichung zu einem Normalzustand. In dem Imperium, in dem die Sonne nie untergeht, wird auch die planetarische Zeit – darunter die irdische – aufgelöst. In diesem Drang nach territorialer Sättigung manifestiert sich das Selbstbewusstsein des Imperiums, seine innerliche, geschichtspolitisch als ursprünglich definierte Statik. Deren Zweckmäßigkeit sollte im Spiegel der konfessionellen Differenzen durch zahlreiche konstruierte Antagonismen mit den hinter dem limes, den es nicht gibt, lauernden Anderen deutlich werden. Inwieweit wird diese Zuspitzung der visuellen Apotheose durch den frühmodernen Geist der Empirie unterstützt? Ist die Frage nach den wissenschaftlichen oder gar technologischen Ursprüngen der ultimativen Verherrlichung im barocken Bild unangemessen oder liefert sie umgekehrt einen Stoff für zahlreiche Überlegungen zum Thema der Schnittstellen zwischen Empirie der Forschung und Apotheose der Macht? Folgende Passagen, in denen die empirisch aufgefasste frühmoderne Zeitfrage – wie es in der Einführung dieser Studie bereits angedeutet wurde – sich als eine dringende Angelegenheit der beiden Bereiche erweist, sollen eine zwischenepochale Verschmelzung, mit der wir es im Falle des Mittelalters im Barock zu tun haben, in einem übergreifenden Kontext der Institutionalisierung von Entdeckung aufzeigen als Baustein der Machtentfaltung. Die Idee eines

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in seiner Grenzenlosigkeit gesegneten und sich aus den eigenen historischen Prototypen herleitenden Imperiums zwingt zu einem Blick auf die erkenntnismotivierten Grundlagen der geopolitischen Eigenmächtigkeit oder – um präziser zu werden – zu einer Reflexion über die barocke Entwicklung der herrschaftlichen und missionsbezogenen Ubiquität aus den bezwungenen Axiomen der empirischen Beobachtung. 40 Der Faden führt in diesem Fall konsequent zu den größten Dimensionen, die im 17. Jahrhundert technologisch zugänglich geworden sind und die bereits am Anfang dieses Buches als Feld der theokratischen Aneignung angesprochen wurden. Die Sonne – mythologisch und astronomisch gesehen – als die mächtigste Energiequelle wird in diesem Rahmen – trotz ihrer empirisch nachgewiesenen Befleckung – zu einem Platzhalter für unterschiedliche noble Personalisierungen durch Herrschergestalten. 41 Sie erscheint als kosmischer Körper, dessen Lauf nicht mit der traditionellen, mit bloßem Auge beobachtbaren Zyklizität der Natur, sondern mit der nicht zu überbietenden extrasolaren Objektivität des sphärischen Himmels zu tun hat, die meistens durch die Wiederholbarkeit des zodiakalen Schutzkreises sichtbar gemacht wird. Auch astronomische Anomalien, wie Parhelion oder Nebensonne, wurden auf einer teleologischen Schiene mit dem irdischen Herrschaftsspiegel in eine deckende Konkordanz gebracht: beispielsweise als sol duplex, bestehend aus Kaiser Leopold I. von Habsburg und seinem Sohn, Erzherzog Leopold Joseph im Jahr 1682, wie sie beide auf einer Medaile dargestellt wurden (der Sohn starb übrigens nach zwei Jahren) (Abb. 159). 42 Entscheidend ist dabei jedoch vor allem die Tatsache, dass in diesem barocken Kontext das Sonnenlicht, und verständlicherweise umso mehr das doppelte, als kosmologisch ubiquitär gedeutet wurde, indem es im gleichen Moment in der Quelle verbleibt und den Empfänger mit seinen Strahlen konsekriert. Aus dieser in ihren Grundzügen neoplatonisch klingenden Trivialität resultiert, dass auch die Zeit an beiden Orten die gleiche ist. Sie kann jedoch in der Natur weder beobachtet noch erfahren werden – was mit der Tatsache übereinstimmt, dass gerade in der Vereinnahmung der Sonne eine Formel gefunden wurde, mit der die irdische Welt auf eine sichtbare und sofort erkennbare Weise, mithilfe eines messbaren Bezugs, für Vergangenheit erklärt und transzendiert werden kann. Es handelt sich dabei lediglich um eine vermeintlich logische Schlussfolgerung der räumlichen Realität der Zeit aus der Empirie der wissenschaftlichen Spekulation. Diese

40 Vgl. zur Verknüpfung von Erkenntnis und Moral im Kontext der »epistemischen Tugenden«: Daston / Galison 2007, u. a. S. 41 – 44. 41 Vgl. Kap. 2, Anm. 24 u. 44. Zur Divinisierung und Verherrlichung durch Sonnenstrahlen als christlichem Urtopos siehe darüber hinaus: Dölger 1974b, S. 271 – 290. Vgl. im konstantinischen Kontext: Wienand 2012, S. 448 – 453. Zu Karl VI. als Sol: Matsche 1981, S. 358 – 363; zu Ludwig XIV als Sonnenkönig: Ziegler 2010, S. 21 – 74. Vgl. Warnke 1992, S. 142 – 146. Zu theatralischen Verarbeitungen von Sonnengleichnissen im Barock siehe darüber hinaus Vogel 2015, S. 71 – 87. Zu den Kulturmechanismen der Desakralisierung der Sonne und des Mondes siehe wiederum u. a. Roos 2001, insbes. S. 67 – 126, 165 – 220. 42 Vgl. Schumann 2003, S. 326 – 327.

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Abb. 159: Sol duplex, Abbildung einer von der Stadt Augsburg überreichten Medaille zur Wahl Leopolds I., in: J.-F. Wieland, Das Hoch-beehrte Augspurg, Oder Wahrgründliche Vorstellung (. . . ), Augsburg 1690.

ließ sich auch mit den Modifikationen des platonischen Sonnengleichnisses in der Politeia, in dem das Solarlicht mit seiner unerschöpf lichen Ubiquität für die Unverborgenheit des die Erkenntnis ermöglichenden Wahren und Guten steht, 43 wie auch mit den darauf aufbauenden christlich-neoplatonischen Konzepten von lux und lumen 44 in Einklang bringen. Die Frage nach der Geschwindigkeit von Licht, die im heutigen Zeitalter zu den wichtigsten wissenschaftlichen Axiomen gehört, wurde zwar bereits in der Antike aufgeworfen, im Sinne einer empirischen Kosmologie entwickelte sich diese Problematik jedoch erst seit Beginn des 17. Jahrhunderts. Während Galileo nach seinen topografisch angelegten Lichtmessungen auf der Erdoberfläche eine enorme, wenn auch nicht konkret messbare Geschwindigkeit dieser Transmission feststellen konnte, lieferten weitere Beobachtungen eine Grundlage für die Annahme einer möglichen Zeitlosigkeit und deren politischer Instrumentalisierung. Johannes Kepler argumentierte für einen leeren Raum des Kosmos, in dem das Licht ohne Hindernisse fließt, und zwar mit einer unendlichen Geschwindigkeit, das heißt ohne zeitlichen Aufwand. Auch bei Newton – dessen Konzept der absoluten Zeit selbst einem Bildersturm gleicht 45 – und seinem Konkurrenten Huygens, die beide an der Wende des 17. zum 18. Jahrhundert diese Fragestellung mit ihrem Modell des Lichts als Teilchen und Wellen revolutioniert haben, ließen sich damit weitere Argumente für die Empirie des Zeitlosen finden. 46 Gerade im Newton’schen göttlichen Äther konnte die Energie der Bevollmächtigung zeitlos zum Empfänger kommen, da nach seiner Überzeugung der Raum selbst göttlich-ätherisch war. Nach Huygens’ Messungen (um 1700) war es dagegen bereits klar, dass kein Körper mit einer Masse diese Geschwindigkeit erreichen kann, es also eine andere – transzendente, absolute, rein spirituelle – Kraft sein muss, welche die Energie an den Begünstigten sendet und diese ihn wortwörtlich gleichzeitig empfangen lässt. 47 Die zeitlose solare Transmission der göttlichen Kompetenz zu den irdischen Rezipienten beziehungsweise ihre weitere, allerdings genauso zeitlose Übertragung durch die 43 44 45 46 47

Platon, Politeia, 507c – 508b. Vgl. Luther 1965, S. 479 – 496. Siehe Hedwig 1980. Vgl. Pomian 1984, S. 283. Vgl. eine zusammenfassende Darstellung der ersten Messversuche: Boyer 1941, S. 24 – 40. Dijksterhuis 2008, S. 59 – 77 und Ronchi 1970, S. 159 – 208. Vgl. Leonhard 2008, S. 41 – 58.

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solarisierte Herrscherinstanz wurde damit zu einem Fakt, der sich im Bild der Diagrammatik entzog und damit in die bühnenhaft darstellbare Realität Eingang fand. In diesen durch die Schlussfolgerungen von wissenschaftlichen Synthesen hervorgebrachten politischen Bildern der Lichttransmission, welche die Empirie der Beobachtung als politisches Instrument des fundamentalen Diskurses zum Zentralismus der Macht ausschöpfen, geht es nicht nur oder vielleicht gar nicht mehr um das Emblematische, sondern um einen Prozess, um eine in ihrer Essenz zeitlos situierte und dennoch stattfindende Handlung. Mit dieser Verschiebung kann das Geschehen der Transmission im Bild und vielleicht nur im Bild abgebildet und wesenhaft verstanden werden: Ihre empirische Realität wird in einem Bild festgehalten und transformiert, das wiederum selbst durch diese physikalische Aufhebung die Wahrnehmung der Realität prägen soll. Dem auf diese Art und Weise göttlich zur Paradoxie berufenen Bild – ein siegreicher Gegner des vereinsamten gottlosen Idols – wird ein Anteil an der Ausführung der Theokratie gewährt. Diese empirisch unterstützte Relativierung der Zeit bedeutete, dass das Vergangene, die Geschichte, nicht nur als ein Spannungsverhältnis zwischen den tatsächlichen res gestae und deren Speichermedien zu lesen ist oder sich nur als Memoria artikulieren kann, die durch epochenentrückte, nachträgliche Leser rezipiert wird, sondern dass die Prozesse, die zu immanenten Bausteinen der Heilsgeschichte werden, sich physikalisch die ganze Zeit vor den Augen der schauenden Subjekte artikulieren. Folglich bestand kein wesentlicher Unterschied zwischen dem, was man als Mittelalter wahrnehmen konnte, und der barocken Gegenwart, die sich selbst als dessen triumphale Ausdehnung ansah. Es drängt sich dabei – mit leichter rhetorischer Übertreibung – die Vermutung auf, dass die durch den Katholizismus beanspruchte eigene globale ›Körpermasse‹ im 18. Jahrhundert bereits so groß war, dass sich dieses System selbst durch eine enorme ›Gravitation‹ auszeichnete und daher auch imstande war, die Ansprüche auf solche Kontrolle der Zeitlichkeit unmissverständlich zu artikulieren. Die institutionalisierte barocke Übereinstimmung der Religion der Aufopferung mit der göttlich gesegneten Herrschaftsform erlaubte, so wie wohl nie zuvor, Funktion, Mission und Ziel in einer vereinheitlichten Zeitdimension miteinander zu verbinden. Daher kann auch die vertikalisierte Metapher ihre semantischen Grenzen überschreiten, weil mit der allerersten und dann kontinuierlich wiederholten Abschaffung der Zeitlichkeit als Domäne der vergänglichen Idole – eine präventive Abwehrmaßnahme der Repräsentation – inzwischen die ganze sichtbare Welt zu einem ableitenden Verweis geworden ist. Solch einer fiktionalisierten Welt wird vor der erfahrbaren Zeitlichkeit Vorrang gegeben: Sie drängt sich, mit der ganzen Macht des diskursiven Zwangs, in die durch alte Glocken und neue Palastuhren bestimmte Empirie des institutionellen Alltags. 48 Dieser Stellenwert der barocken Metapher ist wahrscheinlich aufgrund des von ihr beanspruchten empirischen Grundsteins besonders deutlich in der Bildgattung zu spüren, in

48 Vgl. Pomian 1984, S. 251.

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deren Rahmen auch die meisten Verherrlichungsbühnen aufgebaut wurden: in den Bildern der philosophischen Thesenblätter als didaktische Spiegelungen der Einbettung des Wissens in die Sprache der Obrigkeit. 49 Diese elaborierten visuellen Konstrukte, die weder Abbildungen eines Textes noch wissenschaftliche Schemata zu den vorgelegten Thesen sind, dienten vor allem einer Kontextualisierung des Wissens in einer Realität der Dependenzen, die durch entsprechend kalkulierte Widmungen und bildliche Huldigungsstrategien wie in einer amtlichen Bescheinigung sichtbar wurden. Verankert in der Welt der Wissenschaft und basierend auf der Idee der Disputation, verleihen sie den themenbezogenen Argumenten Aktualität und Attraktivität: Es waren schließlich Bilder, die es als Begleiterscheinungen ermöglichten, die öffentliche Präsentation der vorgelegten Thesen in eine den gelehrten Promovenden begünstigende politische Dimension einzuführen. Sie ließen die Worte während der Zeit des Vorlesens und der Argumentation bildlich werden. 50 Sie schöpften somit gleichermaßen aus dem kognitiven Missionseinsatz als Grundsatz und Modus der Universitätskultur wie aus den Strategien der politischen Anerkennung. Wenn die Universität selbst zu einer Kontroversinstitution wird – wie das durch die Jesuiten gegründete Prager Clementinum, mit der die ursprüngliche mittelalterliche Karlsuniversität zur Bildungsstätte der Rekatholisierung wurde –, sind alle Wege für solch eine heterogene Gestaltung des offiziellen Wissensdiskurses in Form einer bühnenhaften Politmetapher offen. Wie die bildliche Allegorie der Prager Einrichtung in einem der Thesenblätter von 1671 zeigt (Abb. 160), 51 wandelt sich das Siegel der noch von Ernst von Pardubitz gegründeten Institution in ein Wappenschild in der Hand der gegen ›Heidentum‹, Häresie und Dummheit kämpfenden böhmischen Athena, deren Putten wie kleine Studentenknappen den bezwungenen Gegnern den Todesstoß versetzen. Und in einem Fall wie dem anfangs besprochenen Thesenblatt mit Leopold I. und seiner Frau Claudia Felicitas, 52 in dem der Inhalt der Thesen mit dem Bild ausnahmsweise in einem deutlich bindenden Zusammenhang steht, verwirklicht sich das Medium des universitären ›Posters‹ im Glanzpunkt seiner politischen Entfaltung. Die Hyperbel wird folglich zu einem gewöhnlichen Artikulationsmodell des akademischen Thesenblatts, indem es zu einer Bühnenwaffe erklärt und mittels seiner spezifischen Medialität direkt als metaphorischer Schauplatz des andauernden Konflikts gestaltet wird. In seinen im Jahr 1671 im Prager Clementinum verteidigten Theses ex universa theologia erscheint in diesem Sinne der akademische Kandidat Gregor Georg von Krigelstein als Anführer einer katholischen Gottesarmee und verwandelt den in seinem architektonischen Aufbau noch nicht vollendeten mittelalterlichen Prager St.-Veits-Dom in ein himmlisches Jerusalem. Die Thesen selbst stellen eine zusammengefasste Geschichte der ›Unterdrückung‹

49 Vgl. zur Gattung v. a.: Zelenková 2010, S. 1255 – 1277; Appuhn-Radtke 2007, S. 56 – 83; Rice 1999, S. 148 – 169; Rice 1998, S. 189 – 200; Appuhn-Radtke 1988, S. 11 – 29. 50 Appuhn-Radtke 1988, S. 26 – 29. 51 Volckman 1672. Vgl. Vlnas 2001, S. 230. 52 Siehe Kap. 2.

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Abb. 160: Allegorie der Prager Universität, in: Martin Xaver Volckman, Gloria Universitatis Carolo-Ferdinandeae Pragensis, 1671, Titelbild.

der frommen Völker Mitteleuropas durch Häresien ebenso wie ein endzeitliches Szenario der allegorischen Belagerung dar. 53 Ihre schwülstige Poetik sprengt jeglichen Rahmen der exegetischen Zuschreibung und wird von der Autorität sowohl der Heiligen Schrift als auch durch historische Autoren von christlichen Synthesen – Wenceslaus Hajek von Liboˇcany, Cesare Baronio oder Johannes Cochlaeus – untermauert. Diese Bezüge finden ihre wortgetreue Entsprechung in einer Grafik von Johann Georg Damperviel, die diese Thesen illustriert (Abb. 161). Der Verteidiger der Thesen ist verwickelt in einen apokalyptischen Kampf und befindet sich in diesem Bild inmitten eines Schlachtfeldes, direkt zwischen den Parteien: dem kämpferischen Himmel mit seinen Blitze werfenden böhmischen Heiligen, die den erhöhten Dom zusammen mit heraldischen Engeln als eine sichere Festung verteidigen, und den diskutierenden, fallenden oder gar aus dem Bild fliehenden Häretikern. Unter ihnen können historische Gestalten wie Johann Hus, John Wiclif oder der utraquistische Theologe, 53 Krigelstein 1671. Vgl. Pokorný 1996, S. 133 – 138.

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Abb. 161: Johann Georg Damperviel, Belagerung des Prager Domes, in: Gregor Georg von Krigelstein, Theses ex universa theologia, 1671, Titelbild, Prag-Strahov, Prämonstratenserkloster, Bibliothek, Inv.-Nr. AQ XII 21/2.

sezessionistische Erzbischof und Rektor der Prager Karls-Universität Johann Rokyˇcana und die hussitisch geneigten Könige Wenzel IV. von Luxemburg und Georg von Podiebrad erkannt werden. Krigelstein stellt sich dabei als von innen agierender Erzähler dar, der die Aktualität seines historischen Retroeinsatzes zur Überprüfung durch universitäre Autoritäten präsentiert – inmitten des Geschehens. Er befindet sich in seiner Argumentation direkt auf einem freien Schussfeld zwischen der durch den gotischen Dom versinnbildlichten Allegorie der Glaubensfestung und der schmähhaften ›Ahnengalerie‹ der Häretiker, also zwischen der topografisch fest verankerten ewigen ecclesia und der rein historischen, vergänglichen Hydra. Dieser in einem Bühnenbild vorhandene Aufruf zur kollektiven Abwehr des Prager Metropolitankapitels als Institution an der Vorderflanke der böhmischen Rekatholisierung subsumiert weitgehend das apologetische Schicksal des ›barocken Mittelalters‹ mithilfe von Vergegenwärtigung, Typologie und sich in eine Bühne der Realzeit umschlagender Metapher. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die katholische Mission demgemäß im Rahmen dieser universalhistorischen Verwirklichung des Metaphorischen sogar bildhaft in eine kosmolo-

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gische Perspektive eingeschrieben wurde: Direkt hinter dem Prager Dom übernimmt ein enorm strahlender Glanzkörper wie eine unproportioniert große Sonne selbst die Schirmherrschaft über die belagerten Truppen, und der gotische Stützbogen zwischen dem Turm und dem Presbyterium des unvollendeten Dombaus wird zu einem Triumphbogen des mit seiner indisputablen Wahrheit alle Feinde überblendenden Sterns, der wie eine vernichtende göttliche Waffe aufstieg. Wenn man darüber hinaus die Tatsache beachtet, dass solche Züge der kirchlichen und herrschaftlichen Medienpräsenz über einige Generationen aktuell blieben, während heutzutage mit jedem Jahrzehnt mehrere Führungsstile unwiderruf lich demodé werden oder sich devaluieren, erstaunt es wenig, dass die an Vergötterung grenzende absolute Apotheose eines Herrschers sich im Barock immer wieder als eine moderne Strategie verankern ließ. 54 Nur unter solchen Bedingungen kann es zu einer szenischen Verwirklichung der Metapher im Bild kommen – und somit zu einer schlagartigen Überbrückung des ursprünglich Metaphorischen –, womit sich dieses Bild als narrative Darstellung jenseits der emblematischen Lektüre erweist. Die Sichtbarwerdung der irdischen, institutionellen und wissensbezogenen Kompetenzen und Bevollmächtigungen durch die diagrammatisch-bühnenhaft verlaufende Visualisierung des göttlichen Sonnenlichts als energetischer Funktionsgenerator der Macht kann sogar als eine künstliche Animierung der emblematischen Verhältnisse bezeichnet werden, der assoziativen Verknüpfungen und Angleichungen von Bild und Wort. Die Einführung des Emblematischen auf einer Bühne der Realzeit geht unausweichlich mit der Aufhebung des symbolischen Gehalts der Emblematik zugunsten der sich innerhalb der gleichen Bildstruktur in der Ewigkeit abspielenden, paradoxen Narration einher, nach der das zeitlose Dauern in Segen und Gnade bildkompositorisch zu einer ununterbrochenen Aktion wird. Diese Verräumlichung der ikonischen Semantik gleicht somit einer umkehrenden Prozedur der Dekompression von einer die historischen Figuren bereits kondensierenden emblematischen Sprache. In diesem Vorgang wird dank einer bühnenhaft inszenierten Zeitlosigkeit eine neue Kraft der semantischen Überführung in eine historische Virtualität entfesselt. 55 Es ist die aufgelöste Zeit der christlichen Geschichte, die ihre normkonforme Erfüllung selbst auf Dauer manifestieren kann. Darin liegt eine neue Dynamik der politischen Bilder im katholischen Barock, in dem nicht nur die historische Fiktion als Argument eingesetzt, sondern darüber hinaus jenseits der strikt historischen Evidenz der Geschichtsschreibung diese Fiktion – und zwar ihre sichtbar gemachte, komprimierte Extremversion – zur Realität erklärt wird. Der Betrachter wird mit einem Verlauf der Dependenzen konfrontiert, mit 54 Daher irritiert mit ihrer dezidiert historischen Aussage die im letzten Kapitel besprochene Abbildung, in der Maria Theresia Johanes Nepomuk um Schutz bittet. Als ein Gegenpol zur Ahistorizität der Verherrlichung ihres Vaters, Karls VI., zu dem gesegneten Unbewusstsein der Ewigkeit, macht dieses Bild in diesem Kontext umso mehr deutlich, inwieweit sich in der späthabsburgischen Ikonografie doch die Endlichkeit des absolutistischen Modells widerspiegelt. 55 Zur Umwandlung der biblischen Figuren in eine ikonische Sprache der Embleme siehe u. a. Dekoninck 2008, S. 299 – 319. Vgl. Scholz 1991, S. 182 – 184.

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einem bühnenartigen Aufbau der Gegenwärtigkeit des schematischen Geschehens, mit dem sein eigenes Zeitempfinden und die autoritär angedeutete Ewigkeit der Darstellung miteinander verschmelzen sollen. Auf diese Art und Weise, durch die Überbietung der erlebbaren Zeit mit der konstruierten Zeitlosigkeit, kann die Geschichte – das Mittelalter als eine Gründerzeit, in der diese Poetik inhaltlich verwurzelt bleibt – als Gegenwart empfunden werden. Mit der gewöhnlichen Lesart dieser Realentwürfe der Kompetenzzuteilung – lediglich im Sinne einer spezifisch barocken ›Ikonografie‹ – wird übrigens umso mehr sichtbar, wie das logozentrische Primat der produktiven Verhüllung des Sinns als kunsthistorischer Interpretationsmodus eine Wahrnehmung der zeitlichen Bezüge der barocken Hypermetapher verhindert. In zeitlosen Visionen der leuchtenden Segensströme und kosmischen Lichtkörper, welche die letztendliche christliche Machterfüllung legitimieren sollen, lässt sich die Ebene der Metaphysik selbst als eine auf Dauer erfahrbare Realöffnung in der endgültig eingeleiteten Ewigkeit verstehen. Diese Abneigung gegenüber der Wahrnehmung der semantischen Schwellen ist mit dem durch die Kultur- und Literaturwissenschaften längst untersuchten barocken Denkmodell vereinbar, in dem die Welt zu einem Theater und die einzelnen Leben zu Rollen werden. Diese von Montaigne und Calderón geprägte Poetik der Weltbühne mit ihrem permanenten Theatergleichnis macht ebenfalls das für das historische Transmissionskonzept nötige Sonnengleichnis plausibel und legitim, denn dieses Schaustück hat schließlich ein klares Ziel: die Transzendenz, die auch alle kosmologischen Konstanten überragt. Daher avanciert das Leben selbst, wie auch seine Zuspitzung im fiktionalen Bild, zu einem verwirklichten Drehbuch, dessen narratives Muster durch Typologie und Gleichung wie durch eine indirekte Rede vorgeprägt wird. Wenn mit dem Konzept des Lebens als einem Traum – Calderóns La vida es sueño – der Festspieldramatik eine besondere Rolle zukommt, die sie laut Ralf Konersmann zu einer »gestaltgewordenen Reifikation der Metapher« 56 werden lässt, lassen sich barocke Imaginierungen der zeitlosen Plenipotenz im Rahmen der theokratischen Bildproduktion mit dem dynamischen, prozessorientierten Begriff der Realwerdung der Metapher wie eine Spiegelreflexion des theatralisch gestalteten Lebens auf der wirklichen, vor die Augen des Bildbetrachters gerückten Theaterbühne betrachten. »Indem die barocke Bühne über sich hinausweist, bleibt sie bei sich selbst. Als representación steht sie dem, worauf sie hindeutet, unendlich fern, denn ihr Prunk ist ganz von dieser Welt. Und doch überbietet sie verschwenderisch die Schnödigkeit eines Daseins und einer Natur, deren Recht sie mit jeder einzelnen ihrer ungezählten Kundgebungen in Frage stellt. Ihr Reich ist eine Zwischenwelt voller Zweideutigkeit.« 57 Das enorm Verschwenderische der barocken Kompetenzbilder als sich selbst in ihrer Fülle relativierende Hinweise auf Unendlichkeit drückt sich in der politischen Ikonografie der durch Lichtstrahlen gesegneten Kirchen- und Staatsoberhäupter in der Tatsache aus, dass – wie bereits angedeutet – die visuelle Hyperbel 56 Konersmann 1994, S. 112. 57 Ebd., S. 112 – 113.

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von dem Anspruch auf Endgültigkeit zeugt, hinter der keine Überbietung mehr lauert und an der auch keine Kritik geübt werden kann. 58 »Die Bereitwilligkeit«, so Konersmann zum barocken Theatergleichnis, »mit der Francis Bacon sich zu gleicher Zeit um der hinter dem Schleier einer symmetrischen Überweltlichkeit bereitgehaltenen Naturgesetze willen mit der Endlichkeit der Horizonte abzufinden bereit zeigt, fehlt hier ganz.« 59 Ein Traum ist allerdings nicht nur eine existenzielle Parallele, denn zu träumen heißt auch: sich in der Zeit zu versetzen und durch das spätere Erinnern im Wachzustand die beiden Welten nachträglich zusammenzubringen. Das der göttlichen Superiorität direkt unterlegene christliche Subjekt wird mit dem ursprünglichen Fall der ägyptischen Idole augenblicklich mit einer Auf lösungsperspektive der Geschichte konfrontiert. In diesem Sinne, da die Geschichte damit bereits ihre eigene Erfüllung als real manifestiert, ist das christliche Bewußtsein selbst in einer forcierten Erinnerung an die ›alte Welt‹ verankert und wird selbst zum Teil ihrer sich angesichts der Verheißung beschleunigenden Entfaltung. Das sich derart erinnernde, mit zahlreichen Zeugnissen des mit dem Fall der Idole eingeführten Konflikts zwischen Diesseits und Jenseits ausgestattete Ich des christlichen Subjekts ist daher dem irdischen Leben enthoben und wird an der Schwelle zwischen Erinnerung und Dauer zu einer selbstentfremdeten Figur des zukünftigen Wachwerdens im Jenseits gemacht. Wenn das irdische Leben ein Traum ist, dann wird die Normierung dieses Lebens aus der Perspektive der mit der barocken Theokratie bereits in Ewigkeit umgeschlagenen christlichen Geschichte zu einem lediglich imitatorischen Akt, indem solch ein anamnetischer Rückblick selbst in einem typologischen Verhältnis zur Inkarnation als Abstieg Gottes ins Exil steht, mit dem die Idole automatisch gefallen sind. 60 Im Kontext der grundlegenden Ersetzung der natürlichen Zeitlichkeit der im Diesseits verbleibenden Idole durch die transzendente Zeitlosigkeit der christlichen Teleologie bleibt folglich auch das Fleisch des Christen der selbstentfremdenden Kategorie des contemptus mundi unterlegen. Er wird dadurch zu einem hinter den zeitlosen Kulissen sich selbst wahrnehmenden Nebenrollen-Akteur der bühnenartigen Geschichte, die immer in Verspätung eingebettet bleibt. Es lässt sich nun präziser sagen, dass diese im Barock poetisierte Erfahrung des Lebens als eine Erinnerung, als ein Traum, der mit dem Erreichen der wachen Transzendenz enden soll – im philosophischen Traumdiskurs wäre dies wohl als Futuralisierung der Realität zu bezeichnen 61 –, den Betrachter der barocken Hyperbel

58 Vgl. Haverkamp 1987, S. 230 – 251, 547. Vgl. in diesem Kontext zu den Besonderheiten des barocken Theaterraums als ein »Innen ohne ein Außen«, das sich mit einer autarken Perspektivität auszeichnet: Hass 2015, S. 139 – 161. Zum Herrscher als geometrischem Mittelpunkt der theatralisierten barocken Perspektive siehe: Von der Lippe 1983, S. 160 – 164. 59 Konersmann 1994, S. 113. 60 In diesem Sinne nennt auch R. G. Collingwood in seinem klassischen, Geschichte als »re-enactments of past experience« beschreibenden Buch The Idea of History die christliche Geschichtsschreibung, so wie sie mit Eusebius beginnt, als unabdingbar durch vier Prinzipien charakterisiert: Sie ist universell, providentiell, apokalyptisch und periodisiert; Collingwood 1956, S. 49 – 52; vgl. auch S. 282 – 302. 61 Siehe dazu Heise 1989, u. a. S. 65. Vgl. Assmann 1999a, S. 169 – 171.

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dazu befähigen kann, angesichts der in ihr dargestellten Dauer der Erfüllung die erfahrbare Gegenwart als eine szenisch aufgebaute, im prospektiven Sinn aufgeladene Historizität zu empfinden. Um diesen zeitlichen Deutungssprung zu leisten, sind die Metaphern mit solch einem enormen Grad an detailliert suggerierter Wahrscheinlichkeit ausgestattet, dass sie auch als diskursive Entwürfe einer postulierten Realität real werden und weiterhin als solche Wegweiser für die ›wachen Träumer‹ programmatisch rezipiert werden können und sollen. 62 In diesem Prozess der Selbstüberschreitung des Verweises spiegelt sich daher das Verhältnis wider, das von Norbert Elias in seinen Erwägungen zur Natur der Zeit angesprochen wurde und darin besteht, dass die Messung der Zeit, obwohl sie letztendlich ohnehin durch kosmologische Prämissen bestimmt wird, selbst ein Produkt der Spannung zwischen dieser absoluten Objektivierung und der sozialen Symbolisierung der Messung selbst, inklusive ihrer (autoritären) Begründungen, ist. 63 Die im barocken Lebenstraum real gewordene Metapher fällt mit dem sich durch dieses Buch durchziehenden Faden der Fiktionalisierung zusammen: Die Fiktion eignet sich weitaus besser für die holistische Darstellung der tatsächlichen politischen Verhältnisse einer sich immer noch als revolutionär behauptenden Theokratie als die bereits in der Zeit verankerte Realität, da fiktionalisierte Verhältnisse wegen ihres unbegrenzten Potenzials eine größere Chance auf Realwerdung haben. 64 Während die Fiktion unendlich viele Möglichkeiten plausibel macht, gibt es in der Realität – wenn diese Unterscheidung überhaupt sinnvoll sein kann –, die lediglich als Aktualität der Erfahrung verstanden wird, nur eine Möglichkeit. Durch die Fiktion lassen sich permanent unterschiedliche, aber doch gleichwertige Bezugspunkte in einem ausgedehnten Erfüllungsrahmen bestimmen, denn die der Fiktion inhärente Zeit ist weder zyklisch noch linear und kann daher beliebig gekrümmt werden: mithilfe von poetischen Rundungen, Typologisierungen oder schließlich Narrativen der ewigen Wiederkehr. 65 Die Zeit der Fiktion verläuft überhaupt nur, insofern die vorgestellte fiktive Welt 62 Vgl. den Ansatz von Georges Didi-Huberman, der aus Freuds Traumdeutung eine Argumentation gegen das christlich vorgeprägte vasarianische Diktat der Mimetik in der Kunsthistoriografie als Verschleierung des Todes durch Unsterblichkeitsmythologie entwickelt: Didi-Huberman 2000, S. 146 – 234. Vgl. die Passagen zu Freud in: Didi-Huberman 2010. 63 Elias 1984, S. XXI. 64 Marquard 1983, S. 490: »Wo das Fiktive – als das nicht mehr nur Imaginäre, sondern als das realitätswirksame ›Als-ob‹ – zum Grundcharakter des ästhetischen wird, werden das ästhetische und das Religiöse indifferent und verwechselbar. Kunstwerk und Gott werden dann konvertibel: das Fiktive agiert als ens realissimum.« (im Kommentar zu Wolfgang Isers Fiktivitätstheorie, dazu siehe grundlegend: Iser 1991; Iser 1990). 65 Siehe Anderegg 1983, S. 381: »Das Spezifische des fiktionalen Vorstellungszusammenhanges scheint [. . . ] darin zu bestehen, dass hier die einzelnen Vorstellungen ihren instrumentellen Charakter verlieren. Sie sind uns nicht blosses Mittel zur Perspektivierung eines außerhalb der Imaginationskraft bestehenden Sachverhaltes, und unser Interesse gilt nicht dem Vergangenen, dem Künftigen, dem räumlich Distanzierten, kurz: nicht dem Abwesenden, sondern es ist auf das Anwesende gerichtet, auf die Vorstellungen selbst in ihrer Gegenwärtigkeit und relativen Stabilität.« Vgl. Ricœur 1996, S. 362, zur Wiederholung als einem Grundsatz der Entwicklung von metaphorischen Verweisen.

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selbst einen Schauplatz dafür bietet, was im Rahmen einer schlüssigen Poetik im Voraus geplant worden ist und was daher in einer Abfolge geschehen muss, die der ausgedachten Logik folgt: nicht nur nacheinander, sondern auch nebeneinander, parallel, retrospektiv, verallgemeinernd und letztendlich auch irrational. Die Realwerdung der Metapher, die mit solch einer Auf lösung der Zeit stattfindet, impliziert folglich einen Verwandlungsprozess, in dem die Metapher selbst zu einem Ereignis wird: Das »semantische Ereignis« 66 verwandelt sich in ein historisches, das sich allerdings im Voraus der Nachträglichkeit entzogen hat und seine eigenen Rechte beansprucht. Dabei realisiert sich auch das hermeneutische Diktum Ricœurs, der vorschlägt, die in Raum und Zeit verankerten Begriffe von Struktur und Prozess der Metapher durch den der Kraft der Metapher abzulösen, um auf ihr poietisches und nicht nur abbildendes Potenzial hinzuweisen. 67 Die szenografische Anwendung dieses überzeitlichen Verhältnisses ist allerdings nicht auf die katholischen Herrschaftsallegorien beschränkt und findet in verschiedenen anderen Bereichen statt als nur in der Programmatik der kirchlichen Bildpropaganda oder der feudalen Ikonografie der absolutistischen Widmungsbilder. Eine derartige Realwerdung des metaphorischen und typologischen Verweises kann ebenfalls in barocken Inszenierungen beobachtet werden, die sich die Demonstration der Auf lösung von zeitlichen Grenzen – die eifrige Beseitigung der Möglichkeit, überhaupt über einen Anachronismus zu sprechen – zum Ziel gesetzt haben. In diesem Licht können im Grunde genommen alle historisch und territorial begründeten barocken Rückgriffe auf das Mittelalter gesehen werden, die in dieser Studie beschrieben worden sind. Das Zusammenbringen dieser beiden zeitlich voneinander entfernten Epochen (kunsthistorisch betrachtet), ohne die chirurgische Naht dieser Verbindung sichtbar machen zu wollen, ist eine Kundgebung der Kontrolle über die Zeitlichkeit, die sich ohne die passiv speichernden Medien als eine andauernde Transmission der Bevollmächtigung verstehen lässt. Deswegen kann gerade eine kritische Untersuchung dieser konstruierten Unsichtbarkeit der Nähte als Desiderat der heutigen Kunstgeschichte deklariert werden, die sich nicht mit einer Feststellung der ›zeitlosen‹ beziehungsweise ›anachronischen‹ Natur der Bilder der Neuzeit abfinden kann. 68 Die Kontrolle der Zeit ist die Verwirklichung der absoluten Macht, denn die Beherrschung der Dinge, abgesehen vielleicht von ihrer erzwungenen Degradierung im Konzept der christlichen Weltverachtung, ist doch von dem zeitlichen Gefüge abhängig. In diesem Theater des Dauerns spielen die Bilder ihre vordergründigen Rollen als Materialisierungen

66 Ebd., S. 367. 67 Ebd., S. 374 – 375. Damit spielt der Gedanke José Ortega y Gassets zusammen, der die Grenze zwischen der wissenschaftlichen und der poetischen Metapher an der Schwelle zwischen Gleichheit und Übereinstimmung der Gegenstände lokalisiert: Ortega y Gasset 1959, S. 57 – 84, insbes. S. 67 – 70, Kap. »Die beiden grossen Metaphern«. Vgl. Foucault 1974, S. 84 (zu Metaphern, Vergleichen und Allegorien, die »den poetischen Raum der Sprache definieren«). 68 Vgl. Kap. 1.

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der teleologischen Gesetze. Denn ihre mittelalterlich geprägte Historizität wird sich in diesem Kontext in der Neuzeit immer als Primordialität erweisen, da sie in ihrer Genealogie unausweichlich durch den am Anfang stehenden anagogisch-metaphorischen Eskapismus der dunklen Gänge der römischen Katakomben gekennzeichnet bleiben, um die Ausdehnung der theokratischen Gegenwart zu rechtfertigen. Als eine solche tiefgründige, leibliche Referenz auf die allerersten datierbaren Ursprungszeiten der Macht wird die christliche Bildproduktion – durch ihre unbegrenzte Teilnahme an der aktuellen, zielbewussten und politischen Normierung – in eine Beschreibung der nur als zeitlos erfahrbaren, fiktionalisierten Aktualität hin umgewandelt. In diesem Kontext kann der Literaturhistoriker Peter Skrine zitiert werden, der den barocken Satz der transzendenten Bestimmung wie folgt beschreibt: Awareness of another, higher plane where, bathed in the golden light of eternal present, true reality prevails: this all people possessed during the baroque period. However sordid their behavior here below, however craven their actions and devious their thinking, there was for all of them, even the most opportunist and self-seeking, an ever-present consciousness that this earthly life is in itself quite insufficient. 69 * Eine diesem Diktat dienende Visualisierung der geschichtlichen Transmission lässt sich nicht nur in Bildern finden, sondern ist ebenfalls in monumentalen Bildwerken als unmittelbar räumlich zu empfindende Realität nachweisbar. Als Abschluss soll hier exemplarisch das Seitenportal der Klosterkirche der Zisterzienser im oberfränkischen Ebrach besprochen werden (Abb. 162). 70 In dieser Inszenierung wurde das Mittelalter ebenfalls leibhaftig zu einem Argument erhoben. Die Darstellung der zeitlosen göttlichen Bevollmächtigung lässt dabei diese Epoche – sowohl als eine zeitliche Identitätskategorie als auch im Sinne der vorhandenen materiellen Bausubstanz – eine konstitutive Rolle spielen. Die im Jahr 1127 gegründete Abtei wurde im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts weitgehend barockisiert. Das genannte Portal (1691 – 1697) führt vom Querschiff der Kirche in die Sakristei und wird von zwei Seitenfiguren flankiert: dem Edelfreien Berno als ›erstem Konvertit‹ und Klostergründer und dem seliggesprochenen Adam als erstem Abt. Diese als lokaler Übergang ins christliche Zeitalter gedeutete Pforte – die Tür zur Sakristei als Aufbewahrungsort der liturgischen Geräte und Paramente und auch als priesterliche Kleiderkammer – wurde als eine Bühne für das Pfingstwunder gestaltet. Von oben, gleichsam direkt von der hochgotischen Fensterrose her kommend, fließt zentral nach unten, umgeben von einer Glorie aus goldenen Strahlen, die Taube des Heiligen Geistes, angekündigt durch einen massiven Strom von Energie, der in mehreren geschichteten, beinahe materiell werdenden Lichtstrahlen das aus Wolken gebildete Gebälk des Portals bricht und sich in die Öffnung einer zentralen, halbrunden Ädikula 69 Skrine 1978, S. 153 (zum barocken Motiv des Lebens als Traum: ebd., u. a. S. 1 – 24, 144 – 164). 70 Von Engelberg 2005, S. 372 – 373; vgl. S. 530 – 534.

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Abb. 162: Ebrach, ehem. Zisterzienserkloster, Klosterkirche, Portal zur Sakristei, 1691 – 1697.

einfügt. In dieser Struktur, auf einem Balkon über der Tür, wird der Lichtstrom und somit die Erscheinungsenergie des Geistes durch die versammelte biblische Gemeinde, Maria und die Apostel, deutlich im Affekt empfangen. Es ist also einerseits die alte historische Substanz beziehungsweise die Materialität der alten Kirchenmauer – oder präziser: die Kunst der alten Architekten und Steinmetze, verkörpert in diesem Fall durch die uralte Symbolik der Fensterrose, durch einen locus classicus der mittelalterlichen Baukunst –, die als Quelle der Transmission fungiert. Diese Rosette, behandelt wie ein Bild des Mittelalters, wie ein real ausgeführtes stilistisches Stichwort, wurde in eine neue theatralische Regie der narrativierten Lichtspiele barocker Art miteinbezogen, um mit der sich im Bauwerk selbst manifestierenden Kontinuität zugleich das Fortdauern der gerade vor den Augen des Betrachters feierlich berufenen Institution darstellen zu können. Die Aktualität der sich augenblicklich gründenden ecclesia primitiva als Ausführungsmacht der Gegenreformation wird sichtbar in dem Herausragen des mittelalterlichen Kerns durch die Folie der neuen affektiven Bildlichkeit, durch die Zusammenarbeit des gotischen Maßwerks mit dem ›klassischen‹ Tempietto im barocken Portalgiebel. Das Bauwerk wird somit selbst zur Erscheinung des institutionalisierten und dadurch befugten corpus mysticum. In

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dieser bipolaren Konstruktion der Aktualität aus der Materie der historischen und biblischen Vergangenheit findet zugleich eine kunsttechnologische Enthüllung statt, da durch das Einbeziehen der gotischen Fensterrose in das Bildprogramm eine Antithese zu den versteckten Lichtquellen im Sinne der hl. Theresa Berninis präsentiert wird. Das effektvolle Spiel der Lichtkulissen, so wie es in der römischen Capella Cornaro durch spezielle Ausführungstechnik befördert wird, wird in der Ebracher Kirche durch eine szenische Offenlegung der topischen Materie des Lichts ersetzt. Die im südlichen Arm des Querhauses dominierende hochgotische Fensterrose lässt um die Mittagszeit das stärkste Sonnenlicht in den Innenraum einfallen und seine Strahlen direkt mit den künstlerisch im Stucco ausgearbeiteten materiellen Verdichtungen der göttlichen Energie in einem vereinheitlichten Bild verbinden. 71 Die physikalisch wahrgenommene Solarenergie wird nicht durch berninieske Versteckspiele zum Ausdruck gebracht, sondern durch einen klaren typologischen Bezug eingerahmt und mit einem überhistorisch geltenden katholischen Meridian gebändigt, um die Faktizität der postulierten Zeitlosigkeit zu demonstrieren. Die durch einen lokalen Konvertiten gegründete Zisterzienserabtei verwandelt sich mit diesem eindeutigen medialen Schritt in den Ort, an dem den Aposteln erstmals nach Christi Tod ihre Mission übertragen wurde: Auf sie wird der Heilige Geist hic et nunc, vor den Augen des Betrachters, ausgegossen: In den letzten Tagen wird es geschehen, so spricht Gott: Ich werde von meinem Geist ausgießen über alles Fleisch. Eure Söhne und eure Töchter werden Propheten sein, eure jungen Männer werden Visionen haben, und eure Alten werden Träume haben. Auch über meine Knechte und Mägde werde ich von meinem Geist ausgießen in jenen Tagen und sie werden Propheten sein (Apg 2,17 – 18). Im Moment der Ausgießung des Geistes »über alles Fleisch« wird die christliche Kirche kollektiv gegründet, indem die ersten Nachfolger Christi bevollmächtigt werden, Prediger der Völker zu werden und dafür die praktische Gabe der Sprachen erhalten. Diese Mission, die, wie es in der Überlieferung der Augenzeugen und Teilnehmer des Pfingstwunders zu lesen ist, einen stark anti-jüdischen Charakter hatte (»Mit Gewissheit erkenne also das ganze Haus Israel: Gott hat ihn zum Herrn und Messias gemacht, diesen Jesus, den ihr gekreuzigt habt«; Apg 2,36), wird auch auf dem lokalen Boden, als Zweck der Gründung der Ebracher Abtei, des Mutterklosters mehrerer Filiationen, unter dem Stichwort der Unterscheidung weitergeführt. Sie bewahrt ihren Status als christliche Aufklärungskampagne auch im fränkischen Land, das zuvor mit germanischen und slawischen ›Götzen‹ gefüllt gewesen sein

71 Vgl. Barry 2002, S. 22 – 37 und Fehrenbach 2006, S. 125 – 130 (eine kurze Zusammenfassung der christlichen Lichtmetaphoriken im Kontext der cathedra Petri).

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soll. 72 In einem wiederholten Missionseinsatz auf neuem Boden kommt es damit also zu einer Verwirklichung des ursprünglichen verhüllenden anti-jüdischen Exils in Ägypten. In diesem Sinne kann die Ebracher Inszenierung weder als stilistische Verhüllung noch als bloße Sichtbarmachung des Mittelalters bezeichnet werden. In solchen Fällen, von denen es in Europa in der sogenannten ›Barockisierung‹ viele gibt, geht es eher um eine Demonstration der Schichtung der Geschichte, sodass das Innere und das Äußere, der Kern und die Folie, gleichzeitig sichtbar bleiben und aufeinander bezogen werden. Was sich dabei zeigt, ist die Transgression der Formen als eine aktiv wirkende Kraft der zeitlichen Verschmelzung und nicht die Autonomie der kunsthistorisch definierbaren Stile. Eine konstruierte Zusammenarbeit der historisch entfernten, aber durch die missionarische Teleologie vereinheitlichten Formen verwandelt somit die normierte Geschichte in eine sichtbar gewordene Kontinuität. Während die Ruinen Roms – zuerst und vor allem durch den menschennahen und gottesferneren Humanismus entdeckt – immer mit dem unauslöschlichen Makel des ›Heidnischen‹ versehen blieben, 73 dem auch Künstler mit ihrer Fantasie in den Augen des kirchlichen Tribunals erliegen konnten, stellte das Mittelalter einen Fundus an unbefleckter, ursprünglicher Rechtgläubigkeit dar. Die historische Patina der antiken Pracht der Cäsaren in der römischen Praxis der exponierten Trümmer wurde durch den kompromisslosen christlichen Drang zur Superiorität politisiert. Durch den puristischen Antrieb, der sich mit dem Transport und der Neuerrichtung der bewältigten ägyptischen und altrömischen Obelisken im sixtinischen Zeitalter zeigte, die als Spottformeln und zugleich Triumphzeichen fungieren sollten, erreichte die Umdeutung der Antike ihren Höhepunkt. Demgegenüber blieb das Mittelalter in seiner archaischen Erscheinung ein einwandfrei anwendbarer Topos der konsolidierten Gemeinschaft. Es stand stellvertretend für die Zeit des Anfangs. Das Mittelalter erlaubte es somit, in der Vision der Erfüllung in der zeitlosen Gnade diese Unterschiede auszugleichen, die auch am Anfang der christlichen Kultur der Typologie standen: Mit dem den Betrachter blitzartig erleuchtenden Bildkonzept der Geschichte als Transmission wird das Alte Testament als Zeugnis derjenigen Zeit, in der »Gott noch direkt zu den Menschen sprach« 74, mit dem Neuen Testament als Grundstein der übertragenden christlichen Allegorese verbunden. Die durch diese Verschmelzung entstehende, feststellbare Zeitlosigkeit bereitet den Idolen also ein ultimatives Ende, verwandelt sie in wiederkehrende Phantome und lässt dafür die Metapher ihre eigene semantische Grenze zur Realität nivellieren.

72 Es kann dabei etwa an den sog. »Ebracher Götzen« erinnert werden, ein 1918 aufgefundenes Beispiel von vielen fränkischen, eventuell vorchristlichen Steinfiguren enigmatischer Herkunft (vgl. Jakob 1977, S. 86 – 93). 73 Vgl. zur Aufspannung einer anästhesierenden mythologischen Hülle über die politische Dimension des ›Heidentums‹ im 15. und 16. Jahrhundert: Seznec 1990. 74 Ariès 1988, S. 149.

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Spiegelkopien: Zur Technologie der historischen Zeitlosigkeit Im Kontext der barocken Hyperbeln der Zeitlosigkeit kann auf eine heutzutage marginalisierte Fähigkeit des Spiegels hingewiesen werden. Denn während Kunstgeschichte, Kulturgeschichte, Medientheorie und nicht zuletzt Psychologie, abgesehen von anderen Fächern, sich verständlicherweise in eine Narzissisierung und Lacanisierung des Phänomens ›Spiegel‹ verwickelt haben, 75 wurden einige Fähigkeiten des Spiegels, die sich historisch als enorm brauchbar erwiesen hatten und die jenseits der geisteswissenschaftlich erzwungenen Abbildfunktion zu verorten wären, zu diskursiven Mitteln der Geschichtserzeugung. In dem zitierten Thesenblatt von Leopold I. und Claudia Felicitas (Abb. 35) wurde der Spiegel zu einem katholischen Generator der Fruchtbarkeit der Macht. Die durch die Hyperbolisierung bühnentechnisch zeigbar gemachte Sexualethik der kaiserlichen Fortpflanzung unterlag dabei, so wie dieses Thema im Thesenblatt vorgestellt wurde, vollkommen dem Modus der Selbstreproduktion des mittelalterlichen, aus den apostolischen Händen überlieferten und nachträglich durch die ästhetischen Exzesse der protestantischen Kunstliebhaber ›gemarterten‹ Bildes. Die Erbenzeugung wurde selbst zum passiven Abbild oder zu einer Wiederholung des autoritären Aktes der automatischen, mühelosen Bildervermengung. Die beiden Kopien des Mariahilf-Bildes entstehen dabei als energetisch abgestufte Hypostasen der Beglaubigung, denen im Moment ihrer Entstehung topografische Deckungsrollen zugewiesen werden: Austria Inferior und Austria Superior. Den allmächtigen Status des Originals als Matrix der sich reproduzierenden Bildpotenz – sei es in Innsbruck oder in Passau – sichern die beiden Kopien, indem sie als Spiegelbilder keine verkehrten Spiegelungen sind, sondern dem frontal agierenden, zum Betrachter schauenden und sich in diesem Schauen realisierenden Prototyp ihre Treue erweisen. Es sind positive Spiegelbilder, deren unmögliche Entstehung die Gesetze der Physik brechen und damit imitatorisch auf die Geburt desjenigen hinweisen soll, der – durch das Hineintreten in das ›heidnische‹ Exil – zu seiner Geburtsstunde die ganze Natur bewältigt haben soll. Dies sind keine Idole, keine phantasmata, sondern Repräsentationen der christlich verstandenen Wahrheit im Sinne ihrer anerkannten Verlängerung. Sie spiegeln nichts anderes wider als göttliches Licht und die Macht des Prototyps. Damit ist nicht nur die Stabilitätsgarantie für die kaiserliche Fortpflanzung gegeben, sondern ebenfalls ein Signal davon, wie die Repräsentation zu begreifen ist und wie der Status einer Bildkopie im Rahmen dieser theokratischen Poetik verstanden werden soll. Das Verhältnis der Instanzen im Sinne einer sich in der Zeit abspielenden Relation wurde hier ersetzt durch einen Modus des Stillstands, mit dem auch die Durchschaubarkeit dieses schematisierten Systems zustande kommt. Die Materialität des strömenden Lichts, das als göttliches Kontrollinstrument dazu befugt ist, Kopien automatisch zu erstellen, legitimiert

75 Eine dementsprechende kritische Bearbeitung des Themas ›Spiegel‹ vom Standpunkt der Kulturphilosophie aus: Konersmann 1991a. Von den zahlreichen Literatur zur Spiegelsymbolik in der Frühen Neuzeit vgl. u. a. die einzelnen Essays in: Michel 2003.

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das Abbild im Spiegel als ein Positiv, denn beide sind miteinander verbunden und beide existieren gerade in der gleichen Zeit, im gleichen Augenblick. Diese visuelle Darlegung der Zeitlosigkeit als Bühne des umfassenden Sehens eröffnet mit jedem Blick auf eine beglaubigte Bildkopie einen vertikalen Lichttunnel der Bevollmächtigung. Mit ihm wird der Betrachter auf die historische Bahn der Bildentstehung geleitet, auch wenn diese eigene Historizität des Bildes sich in der Lichtgeschwindigkeit des göttlichen Pinsels auf lösen sollte. Geschichte kommt somit näher, weil sie vor allem als institutionalisierte Kontinuität der gegenseitigen Bezüge jenseits der Zeit erfahrbar wird. Die überspitzte Selbstbezogenheit solcher fiktiven Zeitreisen erstaunt viel weniger, wenn man beachtet, dass sie in einer Zeit entstanden sind, in der die gewöhnliche Metaphorik des Spiegels, so wie sie seit Jahrhunderten unterschiedliche poetische Wahrheitszeugnisse mitgestaltete, auf eine harte Probe gestellt wurde: Die Linsen des Galilei’schen Teleskops und des Hooke’schen Mikroskops erzeugten auf einmal diese Welten, die bisher nur im Rahmen der literarischen Lizenz ihre bildliche Gestalt annehmen durften, diesmal real auf einer Bildfläche, auch wenn nur auf der Retina des Betrachtenden. Die Eskalation der auf Zeitlosigkeit setzenden herrschaftlichen Spiegelpoetik des 17. Jahrhunderts ist in diesem Sinne nicht nur als gewöhnliches barockes Übermaß an Verherrlichung anzusehen, sondern als Reflex einer Kompatibilität mit der sich öffnenden Welt des Wissens zu verstehen und auf die technologische Revolution der Neuzeit zurückzuführen. Die Interaktionen zwischen den beiden Bereichen sind vielfältig: Weder eine direkte Übernahme der naturwissenschaftlichen Forschungsergebnisse in religiösen Bildern noch Galileis legendenumwobene und dadurch historisch bereits devaluierte Entsagung vor dem inquisitorischen Tribunal markieren die effektiven Fortschritte der Geschichte. Anstatt solcher plakativen Zäsuren entscheiden eher kleine diskursive Verflechtungen, die im Laufe des 17. Jahrhunderts unbeachtet, aber fortschreitend einen teleologischen Sinn für die wissenschaftlichen Entdeckungen und deren breitere Akzeptanz geschaffen haben, über die motorischen Entwicklungskräfte dieser Verwandtschaft. 76 Zu solchen kleinen Verflechtungen, die einen Anstoß zu programmatischen Türöffnungen der systemischen Bildargumentationen liefern, zählt eines der Bilder, die bereits am Anfang dieses Buches besprochen wurden: Auch wenn Adam Elsheimer mit Galileis Observationen vertraut war, kann sein Bild der Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten unter den leuchtenden Sternen der Milchstraße von 1609 (Taf. 10) weder nur als Effekt der exakten empirischen Mondfleckenbeobachtung noch als hartes politisches Statement eines christlichen, sich mit dem neuen Wissen produktiv auseinandersetzenden frommen Künstlers angesehen werden. Die diskursive Macht einer Bildpraxis liegt nicht auf den polarisierten Schalen einer historischen Waage und ist nicht mit ihr zu messen, sondern erscheint eher im künstlerischen Zwischenbereich, in dem die Evidenz selbst nach präkonditionierten und weitergeleiteten Grundlagen der Gesetzlichkeit definiert wird. 76 Vgl. dazu die interessanten Ansätze bei: Rudavsky 2001, S. 611 – 631, wie auch u. a. Báez Rubí 2010, S. 165 – 182, und Wallace 1999, S. 314 – 335.

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Und trotzdem kann Elsheimers Mond als eine künstlerische Figur des Hinterfragens gesehen werden, da dieser Himmelskörper durch seine diesseitige Entzauberung gerade in dieser Zeit einen ganz bestimmten Aspekt der wissenschaftlichen Diskurse widerspiegelte und sich als solcher eignete, um politisch diskursiviert zu werden. In Galileis bekanntem Sidereus nuntius, der 1610, ein Jahr nach der Fertigung des Bildes von Elsheimer, publiziert wurde, bildet die Abhandlung zum Mond als eine durch »Solis fulgor« und »Terra reflexio« illuminierte und daher selbst leuchtende Reflexfläche eine wichtige Passage, in der die Tatsache der Abhängigkeit dieses Leuchtens akribisch demonstriert wird. 77 Als eine im Groben relativ leicht zu beobachtende Tatsache wurde diese secunda claritas des einzigen natürlichen Erdsatelliten zu einem Muster und Versuchsfeld für weitere Spekulationen und Messungen der kosmischen Lichtverhältnisse. 78 Der Mond dient in diesem Kontext als ein augenfälliger Beweis der Gleichzeitigkeit der Strahlung, indem er das Licht reflektiert, auch wenn die Sonne von der Erde – von einem bestimmten Punkt auf ihrer Oberfläche aus – nicht mehr zu sehen ist. Die wissenschaftliche Beschreibung des Sekundärlichts des Mondes wurde somit zu einem der Grundsteine des empirisch unterstützten Konzepts der Zeitlosigkeit, so wie sie auch für ein christliches Imperium zu nutzen war, dessen Expansion bereits im 16. Jahrhundert – zur Zeit Karls V. – keine Grenzen und keine Horizonte gesetzt werden konnten und in dem die Zeit somit lange vor der Einführung der GMT-Weltzeit 1884 gewissermaßen eine globale Dimension annahm. Denn der barocke Mond wurde selbst zu einem Spiegel, einem zwar nicht mehr makellosen, aber regelmäßig arbeitenden Spiegel sowohl des irdischen Daseins als auch der himmlischen Sonne, die seit dem um 1611 begonnenen Streit zwischen Galileo Galilei und Christoph Scheiner um die berühmten Flecken auf ihrer Fläche selbst für eine neue diskursive und poetische Heliopräsenz sorgte. 79 Der barocke Mond als neues wissenschaftliches Spiegelwerkzeug, mit dem eine erneute Relativierung des Naturbildes durchgeführt werden konnte, wurde auf den fiktionalisierenden Bühnen des Barocks erneut eingeführt. Mit ihm kam im 17. Jahrhundert eine technische Eigenschaft des Spiegels als neuer poetischer Fokus ins Spiel. Die Fläche des Spiegels erwies sich nämlich als ein geeignetes Instrument, um Brennpunkte und Transmissionen zu erstellen. Die Fähigkeit der polierten Fläche, Abbilder zu erzeugen – eine heutzutage primäre Kulturfunktion des Spiegels – korrespondiert mit der dem Spiegel innewohnenden Macht der Überwindung von Distanzen. Der Spiegel als Mittel der gezielten Blendung bzw. – je nach Winkel der Reflexfläche – Überblendung eignete sich für unterschiedliche Zwecke. Bereits in der Antike wurde der Spiegel zu einer durchaus effektiven Waffe erhoben, mit der nach dem berühmten Experiment des Archimedes ein Krieg auf Distanz geführt werden konnte: Die

77 Galilei 1610, v. a. S. 13 v – 16 r. 78 Reeves 1997, S. 23 – 56, insbes. S. 26 – 35, sowie S. 91 – 94. 79 Ebd., u. a. S. 108 – 109. Vgl. zu den kulturhistorischen Kulissen des astronomischen Spiegeleinsatzes: Reeves 2008.

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feindlichen Schiffe konnten mithilfe eines Brennspiegels durch die Umlenkung der Sonnenenergie von der Küste aus angezündet und vernichtet werden, bevor sie mit ihren Besatzungen zu einer realen Bedrohung wurden. 80 Der Spiegel diente im Barock, als diese Legende in mehreren Medien und wissenschaftlichen Traktaten erneut überliefert wurde (Abb. 163), als ein technologisches Mittel der Konzentration, Verlängerung und Steuerung von Energie, die man zwar nicht zu beherrschen vermochte, die sich aber gezielt verwenden ließ. 81 Diesem pragmatischen Zweck kann noch ein wichtiger Punkt hinzugefügt werden: Die Sonne lässt sich nicht direkt anschauen, obwohl ihr unendliches Leuchten und ihre Wärme die Welt zum Leben erwecken. Die Lenkung ihrer Energie mithilfe des Spiegels wurde also gewissermaßen zu einem übertragenden Mittel des indirekten Sehens, mit dem das evangelische Schicksal des hl. Paulus, der erst durch Gottes Blitz erblinden musste, um wirklich und wahr zu sehen, praktisch umgangen werden konnte – dank des Einsatzes der Technologie. 82 Es kann bei dieser Analogie erwähnt werden, dass die Befähigung zum göttlichen Sehen auch im paulinischen Sinne eine Verleihung der apostolischen Kompetenz war, die in der vollkommenen Blindheit ohne Abbilder, ohne Bilder, ohne die visuelle Erfahrung der Natur auskommt. Die Steuerung der Sonnenenergie durch den barocken Kompetenzspiegel wurde in den hier bereits genannten Darstellungen der Transmission von herrschaftlicher und ekklesiastischer Anerkennung in einen ähnlichen Kontext der inszenierten apostolischen Berufung gerückt, um den technologischen Einsatz im Bild mit dem Mythos des Ursprungs zu koppeln. Diese Berufung erfolgt im Prinzip ohne Abbilder, ohne verkehrende Spiegelungen. Wenn einem der hier zugemutete paulinische Vergleich zu weit geht, kann dieser Vorgang etwa wie in der dunklen, nur durch einen pointierten Lichtstrahl erhellten Zöllnerkammer von Caravaggios Berufung des heiligen Matthäus von 1598 vorgestellt werden, in einem visuell autarken Raum der plötzlichen Subordination. 83 Für barockes Herleiten der Autorität aus der Historizität leistete der Brennpunkt Spiegel einen enormen Dienst. Denn die Berufung und Befähigung der kirchlichen und weltlichen Machthaber mithilfe der kunstvoll abgespiegelten und politisch umgelenkten Lichtströme auf der diagrammatischen Realbühne des apostolischen Werdens ist durch die bereits angesprochene Tatsache bestimmt: Sie erfolgt zeitlos. Durch diese Herausnahme der physikalisch 80 Temple 2000, S. 280 – 332. 81 Kacunko 2010, S. 372 – 398; Baltrušaitis 1986, S. 107 – 139. Vgl. Gronemeyer 2004, S. 175 – 186, wie auch zu Schnittstellen zwischen Poetik und experimenteller Praxis des Brennspiegels: Mödersheim 2001, S. 91 – 107, wie auch andere Beiträge in dem Band. 82 Zur Plausibilität der Annahme eines durch die irdische Atmosphäre fliegenden Meteoriten als möglicher Ursache für Paulus’ Erblindung siehe Hartmann 2015, S. 368 – 381. 83 Siehe dazu Holländer 1984, S. 190 – 191 wie auch hinsichtlich der der Berufungssituation innewohnenden Heterochronie: Careri 2018, S. 149 – 156. Vgl. in diesem Kontext den Beitrag zum Brennspiegel als jesuitischem Probestück der künstlerischen Angleichung: Blunk 2011, S. 127 – 141 (hier die Diskussion zur Identifizierung des von Andrea Pozzo in Sant’ Ignazio gemalten Spiegels als Schild). In der Forschung zum Thema der historisch erstellten Relationen zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit wird die Rolle des Lichts hervorgehoben: Christoffersen 2008, S. 287 – 310.

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Abb. 163: Der Brennspiegel von Archimedes, in: Athanasius Kircher, Ars Magna Lucis Et Umbræ, 1646.

aufgebauten Kompetenzverteilung aus jeglichen Zeitschienen wurde ein Idealbild der in einer kirchlich-weltlichen Konsonanz verlaufenden irdischen Regierung kreiert: ein ubiquitäres Machtsystem, das jenseits aller räumlichen Hürden und in der andauernden Gegenwart einwandfrei funktioniert. 84 In seiner Ars magna lucis et umbræ von 1646, in deren Frontispiz (Abb. 164) übrigens der Topos der kosmologischen Lichtstrahlenlenkung zwischen ratio, auctoritas und sensus mehr als deutlich manifestiert wurde, 85 beschreibt Athanasius Kircher die Natur des Lichts – der sowohl empirisch wie auch göttlich strömenden Lichtenergie – und kommt zu dem Schluss, dass es sich auf einer geometrischen Basis entfaltet. Thomas Leinkauf, der sich mit den Natur-, Wissens- und auch Gottesbegriffen Kirchers detailliert auseinandergesetzt hat, fasst die Gedanken des jesuitischen Universalgelehrten zum Thema Licht zusammen: »[. . . ] dessen [des Lichts – M. K.] Ausstrahlungs- und Verbreitungsmodus eine sphärisch-geometrische Natur besitzt und dessen Intelligibilität symbolisierende Immaterialität und Diaphanität durch die geometrische Schematisierung eine Bestimmtheit

84 Vgl. Leinkauf / Fink / Weiss 2011, S. 185 – 188; Leinkauf 2008, S. 91 – 110. 85 Remmert 2005, S. 82.

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Abb. 164: Athanasius Kircher, Ars Magna Lucis Et Umbræ, 1646, Frontispiz.

erfährt, die diese Symbolkraft noch potenziert.« 86 Die geometrische Natur des göttlichen lux situiert dieses Licht also eindeutig und unwiderruf lich jenseits der Zeit, so wie diese mit einer Uhr, sei es auch Kirchers eigener magnetischer Uhr, im Einklang mit lumen gemessen werden kann und eine Periodisierung ermöglicht. Die die »Kontinuität der Vermittlung garantierende Radiation von Licht« (radiosa luminis praefluentia) 87 wird demnach zu einer festen Grundlage der hierarchisch zwischen lux und lumen aufgebauten Ubiquität: der apriorischen Ubiquität Gottes und der postulierten und anerkannten Ubiquität der herrschaftlichen Instanz auf Erde. Mit Leinkaufs Worten lässt sich diese Übertragungsart weiter beschreiben: »Die Welt, als Bild der geometrischen Intelligenz Gottes, ist durchdrungen von Kräften, die eine dieser Bild-Gestalt der Sphäre vollkommen entsprechende Entfaltungsform aufweisen und dadurch eine Ubiquität der belebenden, beseelenden Kräfte in der Welt garantieren.« 88 Kirchers äußerst elaborierte Systematisierungen der philosophischen Lichtmythen wie auch der empirischen Lichtphänomene, die zwischen den heliosophischen

86 Leinkauf 1993, S. 336. Vgl. Imorde 2008, S. 118 – 120. 87 Leinkauf 1993, S. 336. 88 Ebd.

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Verkörperungsideen, dem anthropomorphisierenden Geozentrismus und den Rückblicken auf die antike mens prima changieren, sind Zeugnisse einer weitgehenden Verschmelzung der Denksysteme, die auch teilweise in solchen bildlichen Manifestationen wie Elsheimers Milchstraße zustande gekommen sind. Für das barocke Bildkonzept der Zeitlosigkeit, eines auf ersten Apologien basierenden und dennoch im neuen empirischen Kontext praktisch eingesetzten christlichen Politmythos, bildeten sie sicherlich eine essenzielle und strukturelle Grundlage. 89 Mit der technologischen Figur des Spiegels lässt sich in diesem Sinne die katholische Taktik beschreiben, wie die Rückkehr zur Geschichte erfolgen kann, ohne dass ihre zeitlich begrenzten Abbilder produziert werden müssen. Das Leuchten des barocken Spiegels ist mit dem Verlauf der Geschichte vergleichbar, indem gerade die sich momentan zeigende Historizität eine zeitlose Autorität verleiht. Im gleichen Moment, in dem ich mein Spiegelbild sehe, leuchtet es auch, und nur durch dieses Leuchten kommen Spiegelbilder zustande – eine Feststellung, bei der auch im empirischen Zeitalter die Lichtgeschwindigkeit als zeitlicher Faktor hinter der Entstehung dieses Bildes, der eine infinitesimale Verspätung verursacht, ausgeblendet wird. »Das einfallende Licht erweckt ihn [den Spiegel] zum Spiegeln, welches nichts als ein Leuchten ist«, wie sich bereits Thomas von Aquin zur postulierten ›Zeitenthobenheit‹ dieses Sehinstruments äußerte. 90 Die intuitive Vermutung, dass die Fähigkeiten moderner Übertragungsmedien, die mit konstruierten Neologismen wie Gleichursprünglichkeit beschrieben werden, 91 zumindest teilweise in einem christlich-politischen Konzept der Geschichte als zeitloser und dennoch prozessueller Machtübertragung ihren Ursprung und eine diskursive Vorstufe haben, gewinnt daher an Plausibilität. 92 Angesichts dieser Erwägungen lassen sich möglicherweise die alten Manifestationen der kosmologischen Macht des christlichen Gottes erneut unter anderen Prämissen – der Verschmelzung von Glaubenstopoi und der wissenschaftlichen Empirie – ansehen. Denn gerade die Auffassung vom Geschichtsverlauf als Transmission ermöglichte eine Begegnung mit den Ursprungswerken des Christentums auf einer fiktiven Basis der Kontinuität. Die Situation des durch Mosaik gestalteten göttlichen Himmels in der frühchristlichen Basilika in S. Apollinare in Classe bei Ravenna beispielsweise – ein Muster für die gemeinschaftsbildende Bildkultur (Taf. 31) 93 – ist in diesem Kontext ein deutlicher Grenzfall und lässt sich im Sinne der historischen Kontinuität sogar als ein in seiner damaligen Modernität barockes Bild ansehen. Das Strahlen der dargestellten 99 Sterne und des Kreuzes als hundertstem Stern

89 90 91 92

Vgl. Blumenberg 2001, S. 139 – 171 (Kap. »Licht als Metapher der Wahrheit«). Siehe dazu Schickel 2012, S. 100 – 101, 102. Wolfgang 2012. Vgl. auch zur Entwicklung des Kulturfaktors Licht an der Schnittstelle zwischen künstlerischer Erfahrung, Philosophie und wissenschaftlicher Empirie der Aufklärung als des Zeitalters des technologischen Fortschritts: Baxandall 1998. 93 Siehe Kap. 4.

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in einem kosmischen Durchbruch durch den Himmel über dem betenden Kirchenpatron – sei es ein Fenster, ein clypeus oder vielleicht auch ein sphärisches Gebilde 94 – als zentrale, monofokale Quelle des göttlichen Leuchtens vom gesamten firmamentum herab und von der darunter in ewiger Anbetung versunkenen Schöpfung aus zeugt nicht nur von der Superiorität und Hierarchie im christlichen Weltbild. Es ist ebenfalls eine Darstellung der Verbundenheit der Bereiche im Bild und vor dem Bild in einem allumfassenden Schein der ewig leuchtenden Präsenz, die sich als kontrollierte Energieübertragung – reguliert durch die bevollmächtigten Protoplasten, zu denen hier der Bischof Apollinarius gehört – auf die gesamte Gemeinschaft der treuen Schafe ausweiten lässt und somit die gesamte Zeit aufzuheben vermag. Es ist in diesem Sinne als ein positiver Eingriff Gottes in die diesseitige Realität zu deuten, der eine erhellende Antithese bildet zu dem, was das ›heidnische‹ Idol in seiner eben an diese Realität gebundenen, einsamen Singularität lediglich leisten kann: einen Schatten werfen. Das Scheinen des Goldes, ein monumentaler Reflex der in dem Mosaik leuchtenden Sterne, die selbst als Teile des gebauten Universums ihre Befähigung von der Transzendenz des Schöpfergottes erhalten, ist ein Ausdruck der als Fakt verstandenen Gleichzeitigkeit, der den Betrachter zu einer mimetischen Angleichung an das Zeitlose animieren soll. In diesem Kontext kann auch auf eine sehr interessante Inszenierung verwiesen werden, die die Grenze zwischen Evidenz und Projektion verschwimmen lässt und zugleich das diskursive Feld für die Artikulation der Aussagen über die Zeit von einer anderen Seite her markiert: Die zerbrochene Linse des Fernrohrs, durch die Galileo 1609 – 1610 die Jupitermonde beobachtete, wurde im Jahr 1677 in einen Rahmen aus Holz und Elfenbein gelegt, der im Museo Galileo in Florenz zu sehen ist. 95 Komplett umgeben von einer üppigen Dekoration mit der schematischen Darstellung des Jupitersystems und einem Beiwerk von astronomischen Instrumenten, wird im Zentrum dieses Arrangements die Linse als eine ›wissenschaftliche Reliquie‹ direkt vor einem goldenen Hintergrund gezeigt, der den Blick in die kosmische Weite als eine Durchsicht versinnbildlicht (Taf. 43). Eine der erhaltenen Inschriften dieses Rahmens, auf einer Kartusche unterhalb der Linse platziert, lässt keinen Zweifel: Es handelt sich vor allem um die Würdigung des menschlichen Entdeckungswillens: »COELUM LINCEAE GALILEI MENTI APERTUM VITREA PRIMA HAC MOLE NONDUM VISA OSTENDIT SYDERA MEDICEA IURE AB INVENTORE DICTA SAPIENS NEMPE DOMINATUR ET ASTRIS«. Und doch wird dabei die Einschreibung dieses Willens in die göttliche Manufaktur des Universums sichtbar: Mit der Linse wurde eine Art Durchbruch erzielt, der Himmel hat sich geöffnet (coelum apertum), und diese Öffnung, in der sich die ›nackte Wahrheit‹ des bisher Verborgenen offenbaren soll, erreicht wiederum doch ihre eigene Grenze – sie wird mit der in Gold gebadeten Unendlichkeit jenseits der 94 Zur ikonografischen Genese und Besonderheit dieser Variante: Dinkler 1964b, S. 50 – 72. Vgl. zur frühchristlichen Verbindung zwischen Gold und Gotteslicht: Janes 1998, S. 143 – 146. 95 Siehe dazu Ditzen 2006, S. 363 – 364.

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Zeit konfrontiert, auch wenn es diesmal eine andere Zeit sein soll: eine extraterrestrische, in der die einzelnen Jupitermonde, in der zweiten Inschrift nach Vergils Bucolica (Ecloga IV,49) als Nachwuchs der Götter genannt, ihr orbitales Werk um den Giganten herum fortsetzen (»CLARA DEUM SOBOLES MAGNUM IOVIS INCREMENTUM«). Bei dieser Inszenierung der Wissenschaft als harter Arbeit an der Entschlüsselung der Welt, die der Beherrschung der sichtbaren Natur als Idol gleicht (dominatur astris), handelt es sich um keinen ostentativen Akt der sakralisierenden Aneignung der Empirie, sondern eher um eine durch Konvergenz gekennzeichnete Zusammenfügung von zwei verschiedenen und doch in ihrer Schnittmenge umso deutlicher erkennbaren Vorstellungen von der Natur der Erkenntnis. Die subtile Bedeutung dieser diskursiven Verwandtschaft – ähnlich wie im Fall von Elsheimers Bild der ›galileischen‹ Galaxie – kann in einer nuancierenden Spurensuche aufgedeckt werden. 96 Auch die Frage, inwieweit eine holistische Anschauung der frühchristlichen Artefakte in situ als zeitlose Transmissionen auf dem gleichen barocken Grundstein der Universalgelehrtheit basiert wie die Interpretation von Athanasius Kirchers eigenem, unterschiedliche Zeiten wissenschaftlich vereinigendem macrocosmos in microcosmo in seinem römischen Museum Kircherianum, wird hier offen bleiben müssen. 97 Auf jeden Fall wurde die Ausstattung der gesamten Kunstkammer des römischen Sammlers von seinen Zeitgenossen als eine Huldigung an die neoplatonische Schöpfungs- und Wiederkehrdynamik empfunden. Der Oratorianer Giorgio de Sepi, der die ganze Einrichtung samt ihrer Bestände im Jahr 1678 inventarisierte, beschreibt in der Descrizione formale e mistica del soffitto seines Katalogs, dass »[i]l quinto ed ultimo ovale rappresenta la materia fluttuante al centro dell’universo, divisa nelle costellazioni celesti dello Zodiaco«. 98 Der wissenschaftliche Mikrokosmos wurde gekrönt mit einem Bild der »schwebenden Materie« der noch im Zentrum des Universums im zodiakalen Kreis positionierten Erdkugel direkt über den auf dem Boden stehenden, mit Hieroglyphen versehenen ägyptischen Obelisken (Abb. 165), die wiederum als Triumphbeute der barocken civitas terrena und zugleich als Spur der ursprünglichen abrahamitischen translatio sapientiae 99 in Erscheinung traten. Dieses Bild war sicherlich viel mehr als ein Paradebeispiel der Erudition, wenn auch im Rahmen einer Wissenschaft, die sowohl die Vielzahl der Welten als auch das kopernikanische Modell ablehnte und geozentrisch fixiert war. 100 Damit wurde dem Betrachter die Tatsache vor Augen geführt, dass die im jesuitischen Museum gesammelten Dinge als Elemente einer fiktiv komprimierten Welt mit ihrer ganzen divergierenden Historizität und ihren geografisch-ethnografischen Beschaffenheiten

96 97 98 99 100

Vgl. u. a. Reeves 2009, S. 61 – 84, hier: S. 66 – 70; Reeves 1991, S. 563 – 579. Siehe Mayer-Deutsch 2010, S. 201 – 213. De Sepi 1678, Kap. 2. Schmidt-Biggemann 2011, S. 461 – 476, insbes. 463 – 466. Siebert 2006, u. a. S. 203 – 208. Vgl. zum Geozentrismus im 17. Jahrhundert, v. a. bei den Jesuiten: Remmert 2011, S. 94 – 99; Feingold 2003; Kelter 1995, S. 273 – 283; Grant 1984, S. 1 – 69.

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Abb. 165: Giorgio de Sepi, Romani Collegii Societatis Jesu Musaeum celeberrimum, 1678, Frontispiz.

vor allem unterschiedliche Stadien der Reifikation davon bilden, was als höchste Quelle, Erster Beweger und magnes centralis oben in einem Panorama der kosmischen Manufaktur angedeutet wird und in seiner zeitlich-räumlichen Überlegenheit einen universellen Rahmen für das ganze irdische Dasein bereitstellt. 101

101 Vgl. Mayer-Deutsch 2006, S. 256 – 276, insbes. S. 256 – 257, 263 – 266 und Remmert 2011, S. 92 – 94; Remmert 2005, S. 178; Leinkauf 1993, S. 327 – 334.

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Aufhebung der Zeit Ein Nachwort

In Hans Blumenbergs Glossen zu den kosmo- und theologischen Konsequenzen der durch den Menschen unterm Nachthimmel aufgebauten Hierarchien und Distanzierungen lässt sich ein kurzes Fragment finden, in dem der Akt der göttlichen Entfremdung in einem physikalischen Rahmen verortet wird. In einem zweiseitigen Text unter dem Titel Die Geschwindigkeit der Himmelfahrt lässt der Philosoph die Raumzeit des Übernatürlichen sprechen. Zugleich weist er auf das andauernde Verhängnis aller transitorischen Kulturfiguren hin, sich mit zwei Problemen auseinandersetzen zu müssen: einerseits mit dem Widerstand der Materie, andererseits mit den epistemologischen Rahmungen ihrer eigenen ontologischen Übergänge. Blumenberg zitiert dabei die Erinnerungen des berühmten klassischen Philologen aus dem 19. Jahrhundert Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff zum rhetorisch zugespitzten Mittagsstreit zwischen zwei Gelehrten der theologischen Fakultät, in dem es um die Realität der göttlichen Raumfahrt geht. Die Schnittmenge der Wahrheitsansprüche der beiden Protagonisten avanciert dabei zu einem Modellfall des jedem Diskurs zu Vorstellungen von liminalen Werten der sakralen Ontologie immanenten Anachronismus: Wilamowitz erzählt in seinen Erinnerungen aus der Greifswalder Zeit von der Gegnerschaft in der Theologischen Fakultät zwischen Orthodoxen und Liberalen. Auf einem Diner des Rektors seien die Gegner einmal aufeinandergetroffen. Der Orthodoxe sei vom Liberalen gefragt worden, mit welcher Geschwindigkeit Christus zum Himmel aufgefahren wäre und wo dieser Himmel läge. Schlagfertig sei die Antwort des Orthodoxen gekommen, dieser Himmel befände sich noch jenseits des Sirius und Christus könne wohl mit der Schnelligkeit einer Kanonenkugel dorthin gefahren sein. Noch schlagfertiger allerdings sei daraufhin der Liberale mit der lakonischen Bemerkung gewesen: Dann fliegt er noch. 1 Sucht man in der finalen Antwort den Triumph der profanierenden aufklärerischen Beobachtung, wird man sich hermeneutisch doch geschlagen geben müssen. Auch wenn der Verfechter der Orthodoxie, den Wilamowitz als »starrgläubig trotz naturwissenschaftlichen Interessen« bezeichnet, 2 der gezielten empirischen Nüchternheit des Liberalen weichen muss, fällt diese Nüchternheit der eigenen Skepsis zum Opfer. Der philosophische Scharfsinn

1 Blumenberg 2000, S. 205 – 206. 2 Wilamowitz-Moellendorff 2013 (1928), S. 173 (Anm. 8).

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von Blumenbergs Pointe setzt die rhetorischen Fähigkeiten der beiden Theologen so in Szene, dass beide Sichten in die kosmische Ferne vor allem eine unüberwindbare Verschränktheit aufweisen. Sie erzeugen trotz ihrer Reichweite lediglich Nahräume, die jede Generation für ihr plus ultra hält und in ihre eigene Mythologie eines Schneller-Höher-Weiter einbaut. Die mechanische Motorik der entscheidenden Phase der christlichen Heilsgeschichte – Christi Flug ins Jenseits als, physikalisch gesehen, wortwörtlich die höchste Leistung des menschgewordenen Gottes –, so wie sie dadurch zum Vorschein kommt, macht somit eine unvermeidliche Verspätung deutlich. Es handelt sich dabei um eine beinahe eleatische Distanzierung: Die Größe des Universums bleibt immer in messbaren Systemgrenzen gefangen. Somit wird jeder ontologische Transitus vom aktuellen Wissensstand abhängig, da eine Überwindung der Welt schließlich immer über diese Grenzen hinaus zielen muss. Selbst eine narratologische Konstante wie die Himmelfahrt Christi und die daraus resultierende eschatologische Bedeutung wird zunehmend einer technisch basierten Frage nach der Endgültigkeit von räumlichen Größen unterworfen. Je größer aber das bekannte Universum, desto größer ist auch die Herausforderung nicht nur für die Rationalität der eschatologischen Weltüberwindungskonzepte, sondern auch für die Skepsis. Diese bleibt in den gleichen Grenzen gefangen. Jede Generation ist im Besitz ihrer ›eigenen Kanonenkugel‹ und einer eigenen Vorstellung von deren effektiver Geschwindigkeit. Mit jedem wissenden Blick auf die von Christus durchquerte interstellare Distanz – auch über die bescheidenen 8,6 Lichtjahre von Sirius hinaus – zeigen sich die immer weiter zunehmenden Größenordnungen. Sie liefern ständig neue räumliche Koordinaten von Unerreichbarkeit und Kontrolle, die von der Theologie wahrgenommen werden müssen, wenn der Sinn dieser beanspruchten Evidenz der ontologischen Grenzbereiche und des Fluges Christi selbst aufrechterhalten bleiben sollte. Die liberale Vernunft müsste daher, um sich der Falle der naiven Selbsterhöhung zu entziehen, so Blumenberg, »die Lakonik der Endgültigkeit meiden, an der die Aufklärungen immer wieder scheitern.« 3 Eine derartige Erfassung des Phänomens von Christi Himmelfahrt – als Anfang vom Abschluss der Heilsgeschichte – verdeutlicht das Bedürfnis, sich mit dem Problem der Darstellbarkeit der räumlichen Dimension eines unsichtbaren Gottes bildhistorisch zu befassen, mit eben jenem Raum, in dem die Zeit sich in der Ewigkeit auf löst. Dieses Problem ist strikt bilddiskursiver Natur und hängt nur bedingt von normierenden Abbildungsverboten ab, die sich auf die historischen Versuche konzentrieren, diesem Gott ein persönliches Gesicht zu verleihen. Von der Geschwindigkeit der Himmelfahrt als raumzeitlich verortetes historisches Ereignis ausgehend, stellt sich noch eine andere Frage, die mit dem Thema dieser Studie – der sich im Idol gespenstisch manifestierenden, anachronistischen Historizität – in Verbindung steht. Diese Frage lautet: Inwieweit lässt dieses Schema der Himmelfahrt des Erlösers, das ein 3 Blumenberg 2000, S. 206. In dieser Anekdote spiegelt sich Blumenbergs Ablehnung einer historischen Kluft zwischen dem theologischen Grundsatz der Vormoderne und dessen aufklärerischen ›Verweltlichung‹ wider, siehe Kap. 1, Anm. 165.

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endgültiges Erfüllungsmoment des christlichen Aufopferungsgedankens mit sich führt, den Fortschritt als eine die Zeitlichkeit auf lösende Prozedur der Rückkehr begreifen? Es zeigt sich, dass diese Aufgabe der Raumdarstellung, die in der empirisch veranlagten Frühen Neuzeit einen metaphysischen Prüfstein der Modernität bildete, davon abhängt, wie mit Bildern eine Kategorisierung der Zeit vorgenommen wird. Darin erkennt man das Momentum des sakralpolitisch kultivierten bildlichen Anachronismus, mit dem nicht nur eine Genealogie, sondern auch eine Futurologie entwickelt wird. Es ist eine Verbindung von drei Aspekten, die sich durch die Bildgeschichte der westlichen Modernität zwischen Mittelalter und barockem Absolutismus zieht: die Verbindung von Genealogie, die auf Ursprünge und originäre Machtkompetenzen hinweist, Apologie als dem Narrativ der opferreichen Aufhebung und Technologie als der sowohl empirisch als auch metaphorisch verwirklichten Ebene der Selbst-Überwindung. Die materielle, sinnliche und in ihre zeitliche Begrenztheit eingebettete Welt wird somit zu einem ›Warteraum‹ zwischen dem originären göttlichen Akt der fabricatio mundi und der ersehnten Rückkehr in die Zeit vor diesem dividierenden Moment der Welterschaffung – nach dem Vorbild von Christi Himmelfahrt. Damit wird die Welt durch aufeinander folgende Unterscheidungen, wie die Abrahams und Moses, charakterisiert. Mit dem zwischenzeitlichen Durchbruch zur Ewigkeit, so wie er durch das monumentale frühchristliche Bild in S. Apollinare in Classe, aber auch in vielen der in dieser Untersuchung herangezogenen Beispiele des als barockes Geschichtsargument eingesetzten Mittelalters zustande kam, wurde eine faktische Ebene der zeitlichen Differenzierung der christlichen Gemeinschaft geschaffen. Die theokratische Umsetzung der mittelalterlichen Gründungstopoi in der Frühen Neuzeit versetzt den Menschen in eine Situation der Selbstentfremdung, die auch zum ersten evangelischen Konzept des contemptus mundi gehört: Durch eine Konfrontation mit der Ewigkeit ist der Mensch in seiner Hülle aus verderblichem Fleisch eine Erinnerung an die ›alte Welt‹, die während der Flucht nach Ägypten zum ersten Mal faktisch überwältigt wurde. Daher gehört die Verneinung des eigenen Fleisches, des »alten Adams« 4, und die mortificatio carnis, so wie sie im Mittelalter vor allem durch Asketiker wie den christomimetes Franziskus oder durch Märtyrer praktiziert worden war, 5 zu den zentralen Prozeduren des zeitlichen Transzendierens, das als eine eschatologische Technik der Rückkehr verstanden werden muss. Damit schließt sich auch der hier aufgezeigte Themenkreis: Die dem als ewiger Feind der Christen stilisierten Idol zugeschriebenen Attribute Endlichkeit, Vergänglichkeit, Nacktheit, Sexualität, Tod und schließlich die immanente Natürlichkeit selbst, deren personifizierte Konzentration das ›klassische‹ Idol ausmacht, werden von den gesegneten institutionalisierten christlichen Trägern der göttlichen Ordnung abgelehnt und durch die Tugend ersetzt. Die sinnlich erfahrbare Natur als eine sich selbst im zeitlichen Kreislauf aus Werden und

4 Trinks 2010, S. 11 – 32; Garnier 1989, S. 287 – 288. 5 Siehe u. a. Kapustka 2010, S. 33 – 47 (dort frühere Literatur)

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Vergehen erschöpfende weltliche Kraft 6 wird in Konsequenz dieser Auseinandersetzung zwischen Gott und Welt paternalistisch und abwertend behandelt. 7 Die Natur darf dementsprechend im Sinne des contemptus mundi so wie das eigene gemarterte Fleisch verachtet werden, da sie gerade die Welt des nachparadiesisch verdammten Schöpfungswerks verkörpert. Sie ist selbst die Domäne der zwingend zur Verdammnis führenden Verkörperung. In ihrer idolartig geschlossenen Erscheinung, in ihrer autarken Zyklizität und zugleich Unberechenbarkeit kann sie dem nach Erlösung strebenden Christentum lediglich ein Teilstück des Weges zur transzendenten Erhöhung durch Selbstdisziplinierung und Selbstverneinung anbieten. Jean-Luc Nancy schreibt über eine Paradoxie der christlichen Herkunftsgeschichte im benachbarten Sinne einer Selbst-Aufhebung: Das Christentum hat sich definiert durch die Ablehnung seiner Herkunft – oder, ganz allgemein, vielleicht muss man sagen, dass der Monotheismus (die Ablehnung der Götter als Götzen) sich bestimmt hat als einen Ausgang aus jeder Ordnung der Begründung, der heiligen Autochthonie, und dass er sich damit in einen Prozess der Herkunft begeben hat, der unabschließbaren Genealogie (nach hinten wie nach vorn), ja sogar der Irre, in der er selbst entscheiden wollte, indem er sich als Selbsterzeugung erfand. 8 Die Angst vor der Rückkehr des Idols, so wie sie für die bildenden Künste im normkonformen Diskurs der Neuzeit einen erstaunlich erfolgreichen Antrieb darstellte, kann als Furcht vor dem möglichen Moment der Konfrontation zwischen einer Verdichtungsform der natürlichen Energie und einer metaphorischen Übertragung im christomimetischen Vorgang der Himmelfahrt angesehen werden. Die ägyptischen, griechischen und römischen Götter, die ihre Figuren, die später aus christlicher Sicht zu ›heidnischen Götzen‹ avancierten, nach Mythos und Ritual ›bewohnen‹ konnten, waren somit imstande, die sichtbare Welt zu divinisieren. 9 Sie stellten dabei eine Antithese der christlichen Metapher dar, die in ihrer Selbstlegitimierung sich in der Frühmoderne zum Zweck der Überbietung der Welt in eine Hyperbel verwandelte und mit dieser künstlichen Ausdehnung die Bedürfnisse nach 6 Vgl. Nancy 2013, S. 70 – 81 zur natürlichen Nacktheit der Aphrodite in ihrem immanenten Herauswachsen aus dem Schaum. Zu weitreichenden ethischen Konsequenzen des Konflikts Nacktheit der Natur vs. christliche Tugend: Fleischer 1987, S. 200 – 213. 7 Blumenberg 2015b, S. 21: »[. . . ] die Selbstgenügsamkeit der Natur und ihres Wirkzusammenhanges als der fundamentalen ontologischen Dimension wird aufgebrochen.« 8 Nancy 2017, S. 78. Mit diesem Zitat soll zugleich auf die monumentale Dimension der philosophischen Heidegger-Debatte hingewiesen werden, in der das Problem der Ursprünglichkeit, der Anfänglichkeit und der die metaphysische Geschichte des Westens kennzeichnenden Selbst-Aufhebung in Selbsthass mit einem Verhängnis der Selbst-Verwirklichung im Akt der Vernichtung des als bodenlos bezeichneten, am Anfang des Eigenen stehenden Anderen zusammenkommt. Darin manifestiert sich ein den westlichen Genealogien innewohnendes Element des diskursiven Antijudaismus und denunziatorischen Antisemitismus. 9 Siehe Assmann 2007a, S. 124 – 130 (zur ägyptischen Theorie der Einwohnung).

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›Realität‹ neu definierte. Der Antagonismus zwischen Idol und Bild ist somit ein christlich konstruierter Konflikt zwischen zwei imaginierten Dimensionen der Zeitlichkeit: der aufzuopfernden Vergangenheit der eigenen Ursprünge und der prophetischen Zukunft einer ersehnten Auf lösung, die ein Versprechen in sich birgt. Wenn Idole im Christentum als seelenlos betrachtet werden, verlieren sie nicht nur ihre substanzielle Präsenz als vom Menschen gemachte Werke, sondern werden zugleich der zu überwindenden Vergangenheit zugeordnet. Auf diese Weise spielen sie schließlich die Rolle eines Sinnbilds des Überwindbaren im endgültig transgressiven Konstrukt der christlichen Eschatologie. Vor diesem Hintergrund zeigt sich umso klarer der Unterschied zwischen der christlichen und der antiken Eschatologie, konkret: Die zeitliche Frage wird zu einer räumlichen und betrifft die Zukunft für die einzige Verbindung eines Christen mit Gott – die Seele. Es zeigt sich dadurch, dass diese Differenz sich nicht nur in der Natur der Verbindung der Seele mit dem Körper ausdrückt. Es geht dabei auch um eine Auffassung von Zeitlichkeit, die wiederum davon abhängt, wie man die Geschlossenheit der Welt betrachtet. Die postmortale Verstirnung der Menschen, die ein gutes Leben geführt haben – aus diesen werden Sterne und Konstellationen –, ist ein alter, pythagoreisch verankerter griechischer Topos des katasterismos, der in der augusteischen Anfangszeit des Römischen Imperiums übernommen und in die staatliche Maschinerie der Divinisierung des Kaisers eingebaut wurde. Dieser Topos, in dem unter anderem der helle Stern Sirius eine vordergründige Rolle spielt, wäre beispielsweise ein Zeugnis des weltimmanenten Charakters der antiken Seele, die entweder in der Welt wandert oder innerhalb dieser Welt transformiert wird. 10 Die christliche Auffassung der Unsterblichkeit der Seele, die die Apologeten dazu geführt hat, die noch vorsokratisch konzipierte Elementarität des Seelischen als bestes Zeugnis dieser Immanenz entschieden zu bekämpfen, steht dagegen im Einklang mit der Endgültigkeit des Transitus, der nicht im dionysischen oder kosmotheistischen Kreislauf sich ereignet, sondern als transzendent orientierter christomimetischer Fortschritt verstanden wird. Dieser Fortschritt, eine endgültige Selbst-Überwindung, eine Rückkehr über die räumlichen Grenzen der Welt und somit auch weit über den Sirius hinaus, charakterisiert jede individuelle Eschatologie eines Christen, die sich in einer kosmischen Dimension der letztendlichen Auf lösung aller Zeiten und aller Gestirne als eigenhändiges Werk Gottes – seine Manufaktur – widerspiegelt. Tertullian stellt demgemäß in seinen Überlegungen zu den Wesenheiten der Seele die liminale Zukunft der Welt im Sinne einer einmaligen auf lösenden Aufschließung dar, die eben als Antithese zum katasterismos betrachtet werden kann: »Für keinen steht der Himmel offen, solange die Erde noch besteht, um nicht zu sagen, solange sie noch eingeschlossen ist; erst bei der Vollendung der Welt werden die Reiche der Himmel aufgeschlossen werden.« 11 Damit zeigt sich ein Gedanke, den man zweifelsfrei

10 Orth 1994, S. 148 – 166; Nilsson 1954, S. 106 – 119. Vgl. Kap. 2, Anm. 45. 11 Tertullian, De anima, LV, 3. In einer anderen Übersetzung von 1882 ist über diese Auf lösung nicht als Vollendung der Welt, sondern als Verwandlung der Erde die Rede. Vgl. ebd., XXIII, zur apologetischen Kritik an der siderischen Eschatologie der Griechen und der mit ihr verbundenen Seelenwanderung.

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als ökologisch relevant bezeichnen kann: Die ganze Erde trägt im Christentum somit die Kosten des angestrebten seelischen Heils des Menschen, da sie samt allen Gestirnen, allen universalen Erscheinungen am gesetzmäßigen Ende der Zeit in einem monumentalen Akt des göttlichen Bildersturms aufgelöst wird. Das seelenlose Idol wird in diesem zeitlichen Panorama apriorisch zum Scheitern verurteilt und nimmt an der gesetzmäßigen Prozedur dieser Aufschließung als ein in den Kreislauf der Natur eingebettetes Werk nicht Teil. Als solches entzieht es sich der gesetzmäßigen Normierung, denn es existiert, seitdem der Mensch die wiederkehrende divine Präsenz in der Welt zu sehen begonnen hat, und somit braucht es – als natürliches Produkt der Imagination – keine Legitimierung. In diesem Sinne ist das Idol als eine Inkarnation der verzauberten und von Göttern bewohnten Welt zu beschreiben, die sich als ein Hindernis bei ihrer göttlich-demiurgisch geplanten bilderstürmerischen Auf lösung erweist und somit im Voraus aus dem teleologischen Rahmen der Geschichte eliminiert wird. Eine Geschichte der Idole als wiederkehrende Andere, als in eine historische Abwesenheit verjagte Gespenster zu schreiben bedeutet also, von den substanziellen Fragen mittelalterlicher und frühmoderner Theologie abzusehen und stattdessen entworfene, eingeleitete und kultivierte Leidenschaften der geformten Subjekte zum Thema der historischen Forschung zu machen: eine Geschichte vom hergestellten Sinn für Gemeinschaft, eine Geschichte des Diskurses. Und Teil dieses Diskurses ist auch die Produktion von Geschichte selbst. In dem historischen Prozess der Selbstlegitimierung des Christentums als einer in fremder Umwelt eingeführten Fluchtreligion, die Geschichte durch dogmatisierte Stiftungsschwellen entwirft, um sie daraufhin gezielt in Zeitlosigkeit kollabieren zu lassen, wurde das Idol, dieser stumme Befürworter einer Naturordnung – der Ausdruck immanenter Triebe dieser Ordnung und das Sinnbild ihrer menschlichen Appropriation –, zu einem eindirektionalen Synonym der christlich neu definierten Laster gemacht. Somit wird es zu einem an diese Welt gebundenen adversarius der die Natur sublim und eindeutig zu transzendierenden Märtyrer erklärt. Die Idolatrie als eine dem Wunsch nach einer intersubjektiven Relation nachkommende und Bilder produzierende Prozedur der gemeinschaftlich etablierten Vorstellungskraft 12 wird im Sinne der festgelegten Illegalität als Urtrieb des Verrats gegen das göttliche Exklusivgesetz des Fortschritts neu definiert. Das Idol stellt eine Störungsfigur auf dem Weg der hyperbolischen Selbst-Semantisierung dar, mit der die historischen Spuren der Anfangszeit des Christentums anachronistisch überboten werden sollen – und zwar unter Zuhilfenahme des

12 Vgl. den Begriff der Aufteilung bei Marie-José Mondzain (le partage intersubjectif du sens): Mondzain 2005b, S. 13 – 22, hier v. a. S. 14 – 16. Die Autorin gebraucht allerdings im philosophischen Kontext der modernen Gefahr der Wiederkehr der Idole den Begriff der Exkarnation, die sich in der technologischen, planmäßig an Konsum orientierten Produktion von Gütern als neues, den menschlichen Körper verlängerndes Objekt der Begierde ausdrückt; siehe ebd., S. 16. Zur Genese von derartigen begrifflichen Ausdehnungen der Idolatrie siehe u. a. Dekoninck 2004, S. 203 – 216. Vgl. auch zum Begriff der Aufteilung im übergreifenden Kontext von diskursiven Heterogenitäten der Kunst: Rancière 2008.

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teleologischen Kontrollinstruments der Zeitlosigkeit im Sinne einer Überbietung der eigenen Geschichte. Das kompromisslose Primat der tugendhaften Beherrschung der eigenen Leidenschaften, so wie es durch die apologetischen Anfänge des Christentums als Krisenreligion bestimmt worden war, um später in den barocken Projektionen der Selbsterfüllung im Sinne einer allpräsenten Metaphorisierung der Wirklichkeit wieder aufgegriffen zu werden, wäre in diesem Sinne als eine Vorbedingung der religiös motivierten Selbstentfremdung des Menschen zu deuten, der die sinnliche Welt eschatologisch als sein temporäres Exil versteht. Diese Vorbedingung lässt sich aufgrund ihrer Primordialität als ein Grundfaktor der christlichen Kultur ansehen, der stillschweigend oder auch demonstrativ über einige frühmoderne Aufklärungsversuche hinaus den Diskurs zur Bildlichkeit von Vergangenheit und Zukunft – zu ihrer Unsichtbarkeit und ihrer Evidenz – maßgeblich mitgestaltet. Somit war auch die Wahrnehmung der eigenen Historizität und der eigenen Fortschrittlichkeit jeweils im Voraus durch die Vision des ewigen Lebens theologisch vorbestimmt. Insofern ist der in die ferne Zukunft im Sinne eines Ausbruchs aus der Vergangenheit deutende und somit doch die Gegenwart bestimmende Fortschritt durch die eschatologische Grenzziehung vorkonditioniert, auch wenn die Moderne ihre Zukunftsorientierung gerade in der Entkoppelung vom theologischen Denken sehen will. 13 Steht im Barock also die Empirie der Natur wie deren künstliche Überbietung im Dienste einer bildhaften Bestätigung dessen, was von Vornherein als apriorisch und übernatürlich vorgesetzt worden war? Wie verläuft die diskursive Korrespondenz zwischen dem theologischen Grundsatz der zeitlosen Transzendenz und seiner institutionalisierten Legitimierung in vermittelnden Bildern als übernatürlich bevollmächtigte Machtdispositive? Barbara Stafford fasst die Schnittmenge von Bild, Technik und Theologie vor dem Hintergrund der Forschung zum Fortschrittsgedanken der Aufklärung zusammen und weist dabei auf die Relevanz der Projektionsvorgänge hin: Die moderne, ›aufgeklärte‹ Verbindung von Technologie und Säkularisierung neigte dazu, ihren historischen Anteil an der Materialisierung des Heiligen zu übersehen. Die eigentliche Projektion beziehungsweise einfach die glaubhafte Vortäuschung einer Übertragung von einer Sphäre in eine andere war ein respektheischender Bestandteil

13 Zur Komplexität dieser Frage vgl. Blumenberg 1988, S. 17 – 74, im Kontext seiner Kritik an dem Begriff der Säkularisation (S. 23: »Zwischen Eschatologie und Fortschrittsidee bestehen entscheidende, die Umsetzung blockierende Differenzen, die das Kriterium der Identifizierbarkeit des theologischen Moments in der Geschichtsidee problematisch machen. Der formale Unterschied liegt darin, daß die Eschatologie von einem in die Geschichte einbrechenden, ihr selbst transzendenten und heterogenen Ereignis spricht, während die Fortschrittsidee von einer der Geschichte immanenten und in jeder Gegenwart mitpräsenten Struktur auf die Zukunft extrapoliert«). Siehe auch dazu den Kommentar Karl Löwiths zu Blumenbergs Position: Löwith 1983, S. 452 – 459. Vgl. zur ›innerweltlichen‹ Verwirklichung der christlichen Eschatologie nach der Säkularisation im 18. Jahrhundert oder zu ihrer Verweltlichung / Verzeitlichung: Koselleck 2000, S. 179 – 184. Vgl. Kap. 1, Anm. 156.

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des von Priestern geleiteten Ritus, da er die Götter in ihrer tatsächlichen Präsenz manifest werden ließ. Eine jahrhundertelange Tradition, die Religion, Theater und Lichtmagie miteinander verband, basierte auf der gemeinsamen Fähigkeit, den Betrachter in einen erregenden zwielichtigen Raum zu locken, der die Bildgebung intensivierte. 14 Die frühmodernen Versuche, die Gegenwärtigkeit als sinnliche Passage zwischen Ursprung und Erfüllung mithilfe der bildlich basierten Technologie der Übertragung zu überwinden, reflektieren also die Prämisse, dass das Leben eines Christen angesichts der Jenseitsvorstellung von vornherein als Vergangenheit zu deuten war. Darin lässt sich ein bisher unterschätzter Konnex zwischen Apologie und Technologie sehen, der nicht auf einer verallgemeinernden Auseinandersetzung der Kultur mit der Natur als zwei sich duellierende Entitäten gründet, sondern gerade die normativ-technologische Bewältigung der eigenen Natur im Verhältnis zur Transzendenz zu einem konsequenten Leitmotiv der christlich als Befreiungsprozess konstruierten Historizität macht. Darin offenbart sich der tiefe Sinn des sakralpolitisch gepflegten und auf Antagonismen fundierten identitären Anachronismus als Vorgang der Zeitkontrolle. Die Wertschätzung der Vergangenheit in der barocken Vision der zeitgenössischen Erfüllung erscheint vor diesem autoritären Hintergrund eindeutig als exklusiv gemeinschaftsbildende Fortschrittsstrategie. Denn die dabei postulierte Entwicklung von den frühchristlichen Anfängen bis zur damaligen Gegenwart als durch Erfüllung gekennzeichneter Vorraum des Jenseits erlaubte es, die Frage nach der Kluft zwischen Tradition und Modernität auszuklammern und stattdessen die Geschichte in die beanspruchte Aktualität der Zeitlosigkeit einzubauen. Der frühneuzeitliche Rückgriff auf das Mittelalter im Sinne einer historischen Aneignung ist gerade aus diesem Grund nicht als historische Rekonstruktion, sondern als eine eindeutig teleologische und prospektiv orientierte Prozedur zu bezeichnen, die durch die Technologie der Zeitkontrolle in einem Bild ausgedrückt und betrachtet werden kann. Diese Aneignung sollte anhand einer langen Deutungslinie nicht die Vergangenheit als solche vor Augen stellen, sondern die übernatürliche Zukunft mit der glaubhaften Evidenz des eigenen Ursprungs näher kommen lassen: eine Erfüllung auf Dauer. Das Fortschrittsdenken zeigt sich somit im Sinne eines Entwurfs eigener Modernität in der sakralpolitischen Auf lösung der Zeit, mit der die Theokratie auch über eine Kontrolle der eschatologischen Verhältnisse verfügte. Wo in Bildern ein sakralpolitischer Entwurf der Ewigkeit mithilfe des neuen empirischen Wissens über Zeit, Raum und Transportation vermittelt wird, kann nach Schnittmengen zwischen Macht, Technologie und Transzendenz gesucht werden. Die Einschätzung, ob und inwieweit solch eine synkretistische Prozedur ein erfolgreiches Manöver darstellte und in welchem Maße sie schließlich das Fortschreiten der westlichen Kultur der Projektion und Simulation als zwei hingenommene Dispositive der Modernität beschleunigte, ist eine komplexe Frage, und dieses Buch konnte nur auf einige Aspekte, konkret diejenigen, die die anachronistische Bildgebung betreffen, historisch 14 Stafford 2006, S. 148. Vgl. Russell 1999, S. 495 – 516.

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Abb. 166: Seele im Fegefeuer / Tod, Abbildungen von Bildprojektionen, in: Athanasius Kircher, Ars Magna Lucis Et Umbræ, 1671.

hinweisen. 15 Einen Anstoß, weiter in diese Richtung zu denken, geben allenfalls die Objekte einer der ersten nachgewiesenen linsenbasierten Projektionen in der Geschichte der Technik: die beiden von dem jesuitischen Gelehrten Athanasius Kircher 1671 mittels seiner lucerna magica an die Wand geworfenen Gestalten – die im Fegefeuer verbrennende anima dannata und der Tod (Abb. 166). 16 Die frühmoderne Verschränkung der theokratischen Suche nach eigenen Wurzeln mit der normativen Funktionalisierung der Bilder als in ihrem Wirkungspotenzial gezügelte ›empirische‹ Projektionswerkzeuge der Machterfüllung spiegelt also noch eine andere Verschränkung wider: die der allerersten monotheistischen Gesetzgebung, so wie sie am Sinai erfolgte, mit der Schöpfungslehre, die das unbeseelte Geschöpf in eine kollaterale, zu überwindende Position innerhalb des Verwirklichungsprozesses der Heilsgeschichte versetzt. Die Auslegung der Geschichte, die sich zwischen Abrahams ägyptischer Astronomie, dem ägyptischen Fall der Idole und der triumphalen Überwindung des ›Heidentums‹ wie im vatikanischen Obelisken abzeichnet – alle drei wohl im Sinne eines christlichen Heliopolis-Syndroms –, bildet sich im Einklang mit dem grundlegenden Narrativ der Welterschaffung als göttlicher Manufaktur heraus. Wenn Jean-Luc Nancy also in seinem philosophischen Versuch der Dekonstruktion des Christentums die Schöpfung vom christlichen Sinn eines zeitlich

15 Diese Frage ist eine der statischen Selbsterfüllung im progressiven Zuge des zu einem Axiom gewordenen technologischen Fortschritts oder – wie heute einige vielleicht sagen würden – der Fabrikation von zum Schwund führender Geschwindigkeit, von »rasendem Stillstand« (Virilio 1997). Zum Thema der Verbindung zwischen der Erwartungszeit der christlichen Apokalyptik und der das Element der Verkürzung einführenden Zeiterfahrung der Neuzeit wie auch zu der damit verknüpften Problematik der Beschleunigung der Geschichte im Kontext des technischen Fortschritts siehe v. a. Koselleck 2000, S. 150 – 176, 184 – 202. 16 Mayer-Deutsch 2006, S. 270; Kittler 2002, S. 85. Vgl. zu Fragen der im Barock verwurzelten Virtualität: Buci-Glucksmann 2001, S. 205 – 212.

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limitierten, einmaligen technischen Aktes göttlicher Baukraft befreit, um sie als andauernden Prozess der Autokreation und Selbstverwirklichung der Welt ohne Stiftungsmomente darzustellen, 17 erscheint das hier beschriebene Paradigma der christlichen Kontrolle über die durch Idole verkörperte Natur als eine Beschleunigungstechnik der teleologischen Rückkehr zum selbstentworfenen Ursprung eigener Historizität vor ihrer Auf lösung. Die Technik bewirkt nach Nancys Auffassung eine Denaturierung als Bedingung der menschlichen Bewusstwerdung. 18 Seitdem sich in der Antike ein Verständnis von der Kluft zwischen Sein und Erkenntnis abzeichnet, wird die téchne zu einem Mittel der Annäherung an die Wahrheit, indem sie ein Bewusstsein für die konstante Verspätung des Menschen angesichts des natürlichen Werdens sich entwickeln lässt. Die Technik macht, indem sie dabei helfen soll, durch Selbst-Überwindungen die Kluft zwischen Sein und Erkenntnis zu überwinden, diese umso spürbarer. 19 Die Beschleunigung dehnt die Verspätung aus. Mit dieser zunehmenden Entkoppelung von der Eingebettetheit in die Immanenz ist auch die Frage verbunden, inwieweit die Philosophie selbst die genannte Kluft hervorbringt, sobald sie nach ihren eigenen Anfängen sucht, und inwieweit sie folglich überhaupt einen Anfang haben und eine totale Geschichte – eine, die über den eigenen Ursprungsmoment und über das eigene Überleben hinausragt – geschrieben werden kann. Diese Fragen werden insbesondere dann laut, wenn, wie insbesondere im Fall der Philosophie, die Zäsur der ersten ›Befreiung‹ vom Mythos auf dem Weg zum Logos selbst hinterfragt wird – im Bewusstsein dafür, inwieweit sich mit diesem rationalisierenden ›Befreiungsakt‹ zugleich doch die langfristige Tiefgründigkeit des Mythos als vertrautes Verschleierungsgewebe für die sich stets in Verborgenheit zeigende aletheia erwies, oder anders gesagt: im Bewusstsein für die Ohnmacht des Logos angesichts der den mythischen Grund bestimmenden Unaussprechlichkeit. 20

17 Nancy 2004, S. 39 – 46; Nancy 2002, u. a. S. 57 – 88. 18 »Denaturation is the principle of technologies – and thus the principle that means that there cannot be ›technology‹ in the way that there is ›nature‹. There cannot be a unified technology that would give to being the means of its very being. Technology is by definition multiple and impossible to complete. It always multiples to its ends, which are in turn the means to ever-retreating ends, replayed and multipled again«; Nancy 2013, S. 91. Siehe auch Nancy 2002, S. 91 – 114, v. a. 98 – 101, 108 – 110. Reinhart Koselleck reflektiert im Kontext der Geschwindigkeitssteigerung der durch Menschen gemachten Geschichte über die »Denaturalisierung der Zeiterfahrung durch die technischen Beschleunigungsfaktoren«: Koselleck 2000, S. 153 – 168. Vgl. Löwith 1983, S. 394 – 395. Zum Verhältnis zwischen Fortschritt und Naturbeherrschung in der Neuzeit siehe auch: Rapp 1992, S. 128 – 138. 19 Für Blumenberg ist der Mensch deswegen ein »autotechnisches« Wesen, da er sich in der eigenen Technik als Mittel des Ergreifens realisiert: Blumenberg 2015c, S. 49; vgl. ebd., S. 42 – 50. Karl Löwith schrieb zu dieser Kluft aus einer Historikerperspektive bereits im Jahr 1950: »Die Erde ist uns nicht vertrauter geworden und näher gekommen, seitdem wir die grössten Entfernungen in kürzester Zeit überwinden können. Je mehr wir ›global‹ planen und die Erde zu unseren Zwecken technisch bemeistern und ausbeuten, desto ferner rückt sie uns als Natur im natürlichen Sinn, trotz aller technischen Annäherung.« (Löwith 1983, S. 284). 20 Nancy 2002, u. a. S. 95.

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Die in diesem Buch behandelten bildlichen Strategien der Stiftungsgenealogie, auch wenn sie gerade eine antagonisierende Technik aufzeigen, mit der der Übergang vom Mythos zum Logos langzeitig im Diskurs instituiert und zu einem unumkehrbaren Ereignis der menschlichen Geschichte gemacht wurde, zeigen lediglich einen Aspekt dieser transhistorischen Reichweite der Frage, inwieweit Geschichte als Prozess der transzendierenden Weltentfremdung verstanden werden kann. In der anachronistisch veranlagten frühmodernen Entmündigung der Bilder, die hier problematisiert wurde, geht in diesem Sinne die Kultivierung der Stiftung mit der Teleologie der Auf lösung einher. Die Geschichte selbst, indem und seitdem sie sich artikuliert, wird mittels eingrenzender Machtdiskurse als Totalität in Besitz genommen. Die durch aufeinander rekurrierende Unterscheidungen erzielte Autarkie bewirkt im geschlossenen System der angeeigneten, auf eigene Erfüllung zulaufenden Geschichte ein Element der Notwendigkeit. Hans Blumenberg problematisiert die Konsequenz einer Selbstzuschreibung der Autorschaft von Geschichte, die nur durch den Menschen – und niemand anderen – gemacht wird: »Die wichtigste Folge der Ausschaltung des Anderen ist die Möglichkeit theoretischer Einsicht in die Notwendigkeit des Geschichtsverlaufs.« 21 Indem mit der christlichen Zäsur des ägyptischen Falls der Idole der Übergang vom Mythos zum Dogma unumkehrbar gemacht wurde, erscheint die damit schlagartig hervorgerufene Devaluation der Zeit in Hinsicht auf die Projektion ihrer Auf lösung als wesentlicher Aspekt jeder Macht, die ihre Fortschrittlichkeit durch exklusives Gesetz eines zur Rückkehr aufrufenden Gottes fundamentiert. Das mit solch einer ganzheitlichen Aneignung der Geschichte einhergehende Stiftungsmoment, das immer eine Neuzeit beginnen lässt, artikuliert sich folglich immer wieder durch einen erfolgreich kultivierten Antagonismus als Ausdruck einer zugrunde liegenden Verachtung für das Zurückgelassene. »Daß der Mensch seinem Wesen nach in Gegensatz und Auseinandersetzung mit der Natur und in ein Macht- und Vergewaltigungsverhältnis zur Natur treten kann, ist erst im Horizont der christlichen Ontologie als Möglichkeit verstehbar.« 22 Die Rechtfertigung des die alte Zeit zerstörenden Stiftungsmomentes ging in diesem Fall mit der Totalität des historischen Narrativs einher: Im Moment der Inkarnation des Gottessohnes erfolgte die Inbesitznahme der Geschichte aufgrund ihrer Bedeutungsgleichheit mit der Inbesitznahme des Logos, in dessen Verhältnis zum Mythos sich seit der Antike der Bezug des Menschen zur Natur realisiert. 23 Die Menschwerdung wird durch den im ägyptischen Bildersturm Christi gewaltvoll ausgedrückten Unterschied definiert – die systemische paulinische Schöpfung eines neuen Adams geschieht auf den Trümmern der Idole. Diese Relation führt automatisch zur heilsgeschichtlichen Aufhebung fremder Bilder, die schließlich als Fortsetzung der anthropozentrischen Dimension der gött-

21 Blumenberg 1986, S. 246 (Kap. »Verspätung der Aufklärung und Beschleunigung ihres Verfahrens«). 22 Blumenberg 2015b, S. 22. Vgl. Blumenberg 2009, S. 19 – 20, 26 – 28. 23 Blumenberg 2015b, S. 20.

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lichen Manufaktur der Welt als ››technischer‹ Urakt‹ der Gewalt bezeichnet werden kann. 24 Diese seelische Arbeit am Selbst bedeutet, anstelle einer immanenten Einbettung in die Welt weitere, durch Ähnlichkeit und Treue legitimierte Bildkopien der göttlichen Schöpfung herzustellen. Diese Bilder müssen den ersten demiurgischen Akt der Beseelung als autoritäre Kompetenzverleihung reflektieren, dürfen ihn aber selbst nicht wiederholen. Daher sind sie durch leibliche Selbstverneinung und metaphorische Fähigkeiten als Medien der reinen Übertragung gekennzeichnet. Diese Art der metaphysisch konzipierten Subjektivierung der Menschen durch unterworfene Bilder – Gestaltung der lebenden Subjekte durch hergestellte Subjekte –, die im Hinblick auf die Schöpfungslehre die planetarische Technizisierung als eine historisch-mimetische Handlung erscheinen lässt, geht unausweichlich mit der Einbettung des Menschen in einen Konflikt mit seiner Umwelt einher. Diese Umwelt wird, ähnlich wie die ihr entsprungenen materiellen, aus Stoff gemachten und Kräfte verkörpernden Bilder, zur rückständigen Domäne der Verderblichkeit ohne eigenständigen Sinn und ohne Seele (apsychos) erklärt. Die Geschichte des Menschen, so wie sie sich in der Zukunft erfüllen wird, hört auf, eine planetarische Geschichte zu sein. Grund dafür ist das systemische Streben nach einem vertikal transzendierend übertragenden Sinn, der mit der Aneignung des Logos über die natürliche Immanenz hinausreicht und nur durch seelische Emporhebung als Nachahmungsakt der ersten göttlichen assumptio möglich ist. Im Laufe dieser zu Lebzeiten eingeleiteten eschatologischen Praxis, die als eine künstliche Rückkehr des christlichen Subjekts zu seiner Ursprünglichkeit gedeutet wird, ereignet sich die Inversion und die Ablehnung des Zeitalters, in dem die ägyptischen Idole die Aussagekraft der materiellen Welt in ihrem Kreislauf aufzeigten. Mit dieser Ablehnung geht ebenfalls ein Zugeständnis der im göttlichen Akt der creatio zustande gekommenen, allerersten und grundsätzlichen Unterscheidung einher, der alle anderen Unterscheidungen folgten. Wird die Geschichte des Menschen dementsprechend als Arena eines fortschreitenden imitierenden Schöpfers betrachtet, entfaltet sich die Offensichtlichkeit der mimetisch fundamentierten Abfolge von Bewältigung, Entzeitlichung und Überbietung des Selbst im Prozess der technischen Entfremdung. Solch eine entkoppelnde Bewusstseinspraxis nennt Hans Blumenberg wiederum Naturierung. Mit ihr ermöglicht die teleologische Notwendigkeit eine subordinierende, administrative Kontrolle der sich stets verändernden irdischen Natur wie auch eine Legitimation für deren künstliche Überbietung, eine Vertrautmachung mit dem technischen Fortschritt. 25

24 Ebd., S. 21. Vgl. S. 21 – 22: »Hier entspringt zugleich die scharfe Umkehrung des Verhältnisses von Natur und Technik, die als Inbegriff der ›Bekehrung‹ (conversio) der antiken Ontologie angesehen werden muss. Die Freiheit empfängt ihren Sinn nicht mehr vom gegebenen Sein als Natur, sondern umgekehrt hat die Natur ihren Sinn durch die urgründende göttliche Freiheit, durch das nicht weiter befragbare ›Quia voluit‹ des Schöpfungsentschlusses.« 25 Blumenberg 2015c, S. 50: »Der Typus des modernen Menschen ist weiterhin geprägt durch die Naturierung des Technischen, durch das Bewußtsein der Selbstverständlichkeit und Unvermeidlichkeit dessen, was doch von seiner eigenen Freiheit ausgegangen ist.« Vgl. Blumenberg 2015b, S. 17 – 18 und

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Die natürliche Gegenwärtigkeit, im Sinne einer immanenten Einbettung in den Lauf der Dinge im Wandel zwischen wiederkehrender Entstehung und Zerfall, wird im christlichen Projekt der Zeitkontrolle somit als Erinnerung der Seele vorgestellt, die sich souverän auf die endgültige metaphysische Rückkehr vorbereitet. Diese Verschiebung rekapituliert die christliche Schöpfung in der Teleologie der Erschöpfung, die – so Nancy – sich schließlich in einer Selbstaufhebung der Metaphysik und deren Verwandlung in endgültige Trägheit verwirklicht: Eben deshalb erschöpft sich die Metaphysik mit ihrer Erfüllung, und diese Erschöpfung bedeutet den Tod Gottes. Man darf nicht vergessen, dass dieser Tod bereits eingetreten ist beziehungsweise heute stets aufs Neue eintritt und dass alles »Menschliche« oder »Göttliche« – wenn es noch Sinn hat, so zu reden – sich nur jenseits dieses Todes erschließt, der wie jeder Tod keine Auferstehung kennt. Der Tod Gottes ist das Auftreten und Eintreten der Metaphysik ins Stadium ihrer Vollendung – ihrer Erschöpfung. Die Bedeutung verliert sich gerade deshalb, weil sich ihr subjektiver Kreislauf schließt: Sie hat in ihrer Trägheit als Sinn nur sich selbst, das heißt ihr eigenes Begehren, ihre eigene Projektion, ihre eigene vorgestellte Distanz, insofern diese ihr wesentliches Merkmal ausmacht: die Idealität, Transzendenz oder Zukunft des Sinns. 26 In der Beurteilung der Rolle der Bilder im System der frühmodernen theokratischen Zeitkontrolle als einem metaphysischen Zwangsinstrument zwischen Denaturierung und Naturierung geht es folglich also nicht um die Naivität eines prosaischen Konflikts zwischen Natur und Technik. Vielmehr geht es um die Infragestellung einer historisch durch den Diskurs erschaffenen Möglichkeitsbedingung, mit der sich das Denken des eigenen Werdens als unabdingbar, notwendig und letztlich metaphorisch auf die externe Projektionsfläche einer göttlichen Machtinstanz bezogen verstehen muss. Die Technologie wäre dann als eine durch Wissen unterstützte fortschreitende Bewältigung dieser Distanz zu begreifen. In der Konsequenz lässt sie sich als Werkzeug der sich von der Welt entfremdenden Supe28 – 29, wie auch Blumenberg 1998, S. 81 – 82, zum technischen Determinismus in der Teleologie der mimetischen Vollendung der Welt: »Was die Welt im ganzen ist und sein kann, als Kosmos, das ist schon immer und ein für allemal determiniert; also ist auch das Vollenden des Unvollendeten nur Mimesis, und die menschliche ›Technik‹ springt für die Natur nur ein«). Vgl. Koselleck 1973a, S. 214 (zur technischen »Denaturalisierung der geschichtlichen Zeiten«) und Löwith 1983, S. 396 – 397, 408 – 410. 26 Nancy 2010, S. 68 – 69. Vgl. in Kontext dieser Trägheit Blumenbergs Notiz zur epochenbasierten Geschichtserzeugung: »Jede geschichtsphilosophische Konzeption, die den Gang der Dinge in bestimmbaren Epochen, in einer Logik ihrer Ablösung, in der Erzeugung einer Phase durch die ihr jeweils vorhergehende festgelegt sieht, wird, sobald sie dieses inhaltliche Erzeugungsmodell der Geschichte gewonnen hat, schließlich vor ihrer letzten Frage stehen: ob das derart durch Notwendigkeit festgelegte Geschehen noch vom Menschen beeinflusst werden kann – ob es also zur ganzen Herrlichkeit dieser Theorie einen praktischen Aspekt überhaupt gibt.« (Blumenberg 1986, S. 244 (Kap. »Verspätung der Aufklärung und Beschleunigung ihres Verfahrens. Exkurs: Beschleunigung als Heilserwartungskunst«)).

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riorität in einem planetarisch entworfenen Antagonismus verschiedener Zeitlichkeiten mit der apokatastatisch beschleunigten Zeitlosigkeit betrachten. Wenn im Moment des ersten ägyptischen Idolensturzes jedes praesens schlagartig in praeteritum umschlägt, artikuliert sich dieses Ereignis, gleichbedeutend mit dem plötzlichen Rückfall des Menschen in seine eigene Vergangenheit, paradoxerweise in einer Vergrößerung der Distanz. Die Schnelligkeit der in Erwartung Gottes formulierten evangelischen und apostolischen Präsenzaufrufe 27 kann somit als Ausdruck des Willens zur Überwindung dieser derart sichtbar gemachten ontologischen und nur heilsgeschichtlich reparablen Rückführung des Selbst in die eigene Vergangenheit angesehen werden. Die durch theokratische Machtgefüge untermauerte Fortführung der weltweit christianisierenden Mission auf dem weltlichen oder kirchlichen Thron nahm daraufhin die Form eines auf Akzeleration eingestellten Siegesbewusstseins an, durch das die natürlichen und naturnahen Formen, darunter die Idolatrie, zu einer unbeseelten Hinterlassenschaft der rückständigen, vergangenen Welt erklärt wurden. Die Entfremdung von der irdischen Natur, die unaufhaltsame Selbstrealisierung als Mensch durch denaturierendes technisches Handeln wurde damit durch ein Rechtfertigungsmotiv der ontologisch befördernden Reduktion beschleunigt. Die Beschleunigung der Heilsgeschichte, so wie sie derart durch die einen Universalitätsanspruch erhebende Theokratie in Gang gesetzt wurde, zeigte sich als eine Konsequenz der in der christlichen Überlieferung klar skizzierten und alle Menschenhandlungen apriorisch bedingenden Endzeiterwartung. Diese endgültige Relation, sich im Voraus in ein Verhältnis zur geplanten Auf lösung der Welt durch den Schöpfergott zu stellen, präformiert im planetarischen Sinne die territoriale Expansion der Neuzeit wie im endzeitlichen Sinne die durch die christliche Macht beanspruchte geschichtliche Erfüllung der soteriologischen Prophetie. Der als revolutionär genealogisierte, sich aber zugleich in einer staatskonformen Normierung manifestierende Weg, der in diesem Entwurf der Zeitlosigkeit von dem ägyptischen Idolensturz zur globalen Missionierung und grenzenlosen Theokratie führt, ist von Anfang an durch die Technologie der Auf lösung gekennzeichnet, mit der die Zeit selbst als ein Idol, als ein durch Endlichkeit und Sterblichkeit bestimmtes irdisches Gebilde gestürzt werden sollte. 28 Das frühmoderne Projekt der Auf lösung der Zeit durch Bilder der civitas terrena diente also dem Überholen der eigenen Gegenwärtigkeit als apriorische Vergangenheit. Die aus diesen ontologisch durchgeführten Verschiebungen, aus einem permanent diskursivierten sakralpolitischen Anachronismus herausgewachsene Verknüpfung der historischen Größen ›Theokratie‹ und ›Tech27 In diesem Kontext wurde der Terminus »Alarmstimmung« von dem kontroversen, in den 1930er Jahren in das Nazi-Regime verwickelten evangelischen Theologen Ernst Benz (Benz 1977, S. 7 – 8) angewendet, der den Sinn moderner Revolutionen in der heilsgeschichtlich grundierten, allerdings der Transzendenz beraubten und daher seiner Meinung nach in Gewalt der Immanenz mündenden Beschleunigung sieht. Zur Kritik dieses Ansatzes: Blumenberg 1986, S. 243 – 248 (»Exkurs: Beschleunigung als Heilserwartungskunst«). Zur Beschleunigung im Kontext der Säkularisation und der Apokalyptik siehe dazu grundlegend: Koselleck 2000, S. 177 – 202. 28 Vgl. Benz 1977, S. 14 – 19.

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nologie‹ veranlasst somit ferner zu der Frage, inwieweit gerade ihr gemeinsamer Einsatz in der westlichen Machttradition zur gegenseitigen Austauschbarkeit der einzelnen Morpheme dieser beiden Begriffsbildungen beigetragen hat. Frühmoderne Bilder der christlichen Geschichte, in denen Anachronismus mit Antagonismus zusammenhängt, sind demnach selbst als Bestandteile einer komplexen, metaphorisch angelegten Technologie der ontologischen Abkoppelung zu bezeichnen. Sie konnten sowohl die Vorbilder der gewünschten Bewältigung der natürlichen Zustände liefern als auch – durch ostensive Selbst-Bewältigung, durch Zähmung der eigenen ikonischen Kraft und Erzeugung von zeitentrückter Präsenz – den Sinn der auf das Jenseits der Welt zielenden metaphysischen Übertragung aufzeigen. Die Bilder realisierten somit einen visionären Aspekt der Beschleunigung; sie ermöglichten es, plötzlich Zeitfenster, Zeittunnel zu öffnen und sowohl hierarchisch als auch ontologisch weit entfernte Ebenen aufeinandertreffen zu lassen. 29 Die christliche Anwendung der Metapher bis zu ihrer bild- und bühnenhaften hyperbolischen Realwerdung ist in diesem Sinne als eine den Sinn der Theokratie naturierende Technologie der Überwältigung von natürlichen Distanzen zu verstehen. * Die Bilder haben die Eigenschaft, dass sie diese großformatigen Verhältnisse im souveränen Diskurs aufzuzeigen und das Übergreifende im Kleinen darzustellen vermögen. Als zugespitzte Demonstration dieser Fähigkeit, mit der auf die semantische Entfremdung der sichtbaren Welt gezielt wird, soll hierfür ein Bild zitiert werden, das mit den beiden am Anfang dieses Buches besprochenen Bildern der Flucht nach Ägypten von Joachim Patinir und von Adam Elsheimer zwar im Einklang steht, dessen außerordentliche Schlagkraft sich jedoch erst nach einer Erläuterung der als Fortschritt gedachten ›Flucht aus der Zeit‹ erschließt. Zumeist als Fleisch-Stillleben oder Fleischtheke mit der Almosen gebenden Heiligen Familie betitelt, stellt das 1551 gefertigte Gemälde Pieter Aertsens ein Paradebeispiel seiner ›Metamalerei‹ dar (Taf. 44). 30 Die als ›Bild im Bild‹ konzipierte Szene der Flucht der Familie Christi, eine für den Maler typische Version eines mit Dingen kontrastierten tableau vivant, zeigt einen Moment zu Beginn der Flucht, in dem Maria den Bedürftigen einen Gegenstand reicht. Es sind jedoch keine Geld-Almosen, wie vermutet wurde, 31 sondern es handelt sich um ein Stück Brot, das in dieser Konfiguration unzweideutig als eucharistische Akzidenz gedeutet werden kann. Die Flucht nach Ägypten zeigt sich zugleich als ein überhistorisches 29 Die von Benz 1977, S. 20 – 21, 22 – 25, genannten vier Modalitäten der Beschleunigung sind hier das Gebet, die Vision, die Askese und das Martyrium. 30 Vgl. Stoichita 1998, S. 15 – 22 (die symbolische Auslegung der Metamalerei in Aertsens Stillleben mit Christus bei Maria und Martha von 1552 bildet den Auftakt dieser Studie zum ›selbstbewussten Bild‹; vgl. Hammer-Tugendhat 1998, S. 95 – 107); siehe auch Schneider 2015, S. 270 – 274 (hier eine auf den stellvertretenden Kampf gegen ›Heidentum‹ im Zeitalter der konfessionellen Polemiken ausgerichtete Interpretation der Szene); vgl. Craig 1982, S. 1 – 15. 31 Harbison 1995, S. 147.

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Ereignis im Sinne einer anachronistischen Klammer: Die Familie wird verfolgt und auch überholt von zahlreichen Gesellen aus dem Bauernstand, die sich in Richtung der im zweiten offenen Landschaftsausschnitt sichtbaren Kirche begeben. Damit entpuppt sich die im Vordergrund dem Betrachter aggressiv begegnende Fleischtheke als Domäne des Verderbens, der beherrschten, kultivierten und dennoch als sterblich und endlich zu verlassenden Natur. Die Theke bildet einen Teil der Umwelt, die käuf lich ist. Während die Ansicht des Fleisches ein Pendant zu der sich im Hintergrund ereignenden Szene ist, in der eine Prostituierte mit ihren Freiern den Preis für ihren Körper verhandelt, informiert ein am äußeren Pfeiler des Hauses angebrachtes Schild über den Verkauf eines Landstücks. 32 Auch wenn man also das Fleisch im Vordergrund gattungsspezifisch als Stillleben und die dahinter platzierte – durchs Fleisch gerahmte – Flucht als Historie sehen will, erweist sich gerade die Distanz zwischen beidem als Handlungsraum, in dem sich eine kategoriale ikonische Verneinung ereignet. Die Materialität wird durch die Flucht ins Exil relativiert. Es handelt sich dabei allerdings nicht um eine moralistische Ermahnung und Warnung vor der Verherrlichung der irdischen Güter, der Sinn dieser Differenz realisiert sich vielmehr in dem ontologischen Normativ einer visuellen Metapher, die sich selbst zügelt. Das Bild zeigt ein Moment zwischen Versuchung und Loslösung, es zeigt die trügerische Nähe der wie ein totes Idol entseelten Natur und eine Aussicht auf die Überwindung ihrer Immanenz durch transzendente Übertragung. Dies tut das Bild mit den ihm eigenen Täuschungsmitteln: Die abgewinkelte Perspektivierung der beiden Landschaftsausschnitte und die dadurch suggerierte Route der vor dem Fleisch fliehenden Kirchengänger zwingt den Betrachter zur optischen Wahrnehmung einer größtmöglichen Distanz zwischen Vorder- und Hintergrund, zur Ablehnung dessen, was das Bild so ostentativ zeigt – die Masse an Fleisch – und zur Teilnahme am Sturz des Naturidols zwischen den Zeiten. 33 Die mit dem unerschöpf lichen Potenzial der Metamorphose ausgestattete und als in ihrem eigenen Kreislauf sterblich deklarierte Natur wird in diesem Diskurs durch die unifizierende göttliche Kontrolle über die Zeit und Transmission von Energie als komplett beherrscht dargestellt. Die Zeitlosigkeit erwies sich als Domäne der Nachfolger Christi, die für den Sinn dieser Übertragung sorgten wie auch Bilder in dementsprechend vermittelnder Funktion einsetzten. Die Märtyrer – so wie in dieser Studie vorgestellt –, welche die christliche Empfehlung des contemptus mundi ernst genommen haben und äußerst konsequent verfolgten, haben durch ihren Einsatz einen Anteil an der Naturkontrolle. Exemplarisch wird 32 Chipps Smith 2004, S. 345. Er deutet die Szene im Sinne einer spirituellen Erhebung: »The paper notice in the top right corner announces a plot of land for sale, either whole or in parts. While this might refer to land speculation in response to Antwerp’s growing population and prosperity, the text suggests that the purchaser can buy partially or completely into the spiritual landscape or life behind.« Vgl. Schneider 2015, S. 274 – 276 (zur ›Fleischlichkeit‹ des Menschen nach Paulus als Thema des Bildes). 33 Die Datierung des Bildes auf den 10. März 1551 (die Inschrift am Holzpfeiler mit dem Schild) deutet möglicherweise zugleich auf die zeitliche Schwelle zwischen Karneval und Fasten, die der Fette Dienstag bzw. Mardi Gras markiert; vgl. Harbison 1995, S. 147.

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dies mit der paulinisch verankerten Mahnschrift an Katechumenen und Neugetaufte von Ambrosius von Mailand mit dem äußerst markanten Titel De fuga saeculi demonstriert. 34 Hier wird die Auslegung des von Mose empfangenen Gesetzes zu einer Apotheose des Exils, in dem die menschliche Ebenbildlichkeit mit Gott durch die Auf lösung der Anbindung an die Welt als Reich der Sünde, also durch die endgültige Abschaffung der Immanenz, erreicht werden kann: »Die wahre Flucht ist der wirkliche oder der freiwillig in Entsagung und Abtödtung eingeschlossene Tod.« 35 Das Märtyrertum erhält daher eine vorbildhafte Funktion, was Ambrosius am Beispiel der Susanna erklärt, die sich dem Feuer ergeben hat, sodass »keine Schrecken des Todes, keine Begierden des Lebens in sie ihre düsteren Schatten werfen konnten.« 36 Die Flucht aus dem Fleisch wird hier zugleich als platonischer Weg der Befreiung vorgestellt: der Mensch, »gefesselt an die Erde, befindet [. . . ] sich im Fleische wie in einer Höhle«. 37 Die Beseitigung der verkörpernden Bilder vom vertikalen Weg der Selbstaufopferung lässt sich folglich als eine unabdingbare Konsequenz dieser Entschlossenheit ansehen, als eine Würdigung der jenseitigen Wahrheit, die ein Gewaltmonopol hat, selbst aber der Gewalt entzogen bleibt und nur metaphorisch ihre Macht offenbart. 38 Eben auf diesem Gewaltverhältnis baut die Rechtfertigung für die Beseitigung der fremden Bilder auf, die sich der Kontrolle zu entziehen vermögen: Damals verbarg Rachel die Götzenbilder: sie sinnbildet die Kirche oder auch die Weisheit. Die Kirche kennt keine leeren Einbildungen, keine elenden Götzenbilder: sie kennt nur die wahrhaftige Wesenheit der allerheiligsten Dreieinigkeit: sie hat den Schatten beseitigt, da sie den Glanz dieser Glorie brachte. So lasset uns denn den Schatten fliehen, weil wir die Sonne selbst suchen; dem Rauche wollen wir uns entziehen, da wir dem Lichte folgen. Die Ungerechtigkeit gleicht dem qualmenden Rauche: wie der Rauch die Augen umdüstert, so wirken Ungerechtigkeit und Sünde auf Die, welche dieses Leben genießen. 39 Ein besonders gutes Beispiel für einen solchen der heliofixierten und soteriologischen Schattenlehre folgenden Exulanten, der den Kampf mit der Natur im Großformat führt, gibt der neapolitanische Heilige Januarius, ein um 305 durch Diokletian enthaupteter Heiliger, dessen mittlerweile 1715 Jahre altes Blut sich bekanntlich jedes Jahr erneut verflüssigt, sobald es in die Nähe der Reliquie seines abgetrennten Kopfes gebracht wird. Verankert einerseits in der gewöhnlichen Semantik der christlichen Blutwunder, zeigt sicht die posthume Aktivität des Januarius andererseits aufgrund ihrer klar definierten Wirkung als Kontrollwerkzeug über

34 35 36 37 38 39

Ambrosius, De fuga saeculi. Vgl. zur ›Flucht aus der Welt‹ Schlette 1961, S. 124 – 128. Ambrosius, De fuga saeculi, 4, 18. Ebd., 9, 52. Ebd., 5, 28. Vgl. Blumenberg 1998, S. 57. Ambrosius, De fuga saeculi, 5, 27. Vgl. Dölger 1974a, S. 254 – 270, hier v. a. S. 257 – 259.

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die Natur und Bindung der Gemeinde. Wenn sich das Blut nicht verflüssigt, ist dies ein böses Omen, so die allgemeine Auslegung des Wunders, mit der die Realität durch die andauernde, implizite Präsenz eines fürsorglichen Stadtpatrons durchdrungen werden soll. Seit 1631, als das ungewöhnlich still ruhende Blut den Ausbruch des Vesuvs angekündigt haben soll und dadurch mehrere Bewohner der Gemeinde gerettet werden konnten, 40 avancierte das neapolitanische Heiligtum zu einem unabdingbaren Schlüssel zur Beherrschung der Umwelt: Es gibt wohl kaum eine größere irdische Katastrophe zu bewältigen als ein Erdbeben und einen Vulkanausbruch, Ereignisse der Natur also, die unberechenbar und unprognostizierbar sind. Nicht einmal Athanasius Kircher konnte den Zorn des Vesuvs frühzeitig bemerken und wurde 1638 selbst vom vulkanischen Erdbeben überrascht. 41 Es erstaunt daher kaum, dass es gerade das alte Blut des einstigen Bischofs von Neapel ist, das seinen Sukzessoren im Amt Anerkennung verleiht. Jeder neue Amtsinhaber auf dem neapolitanischen Bischofsthron muss vor der Reliquienampulle so lange beten, bis das Blut von alleine flüssig wird. Auf einem Bild von Mattia Preti (Taf. 45) 42 werden alle Eigenschaften der Reliquie in ein historisches Ambiente zurückgebracht. Sofort nach der Enthauptung wird das spritzende Blut aus dem Hals des bereits von Leichenblässe gekennzeichneten Heiligen durch die Christen pietätsvoll mit einem Gefäß aufgefangen und mit einem Schwamm vom Stock abgewischt, während im Hintergrund zu beiden Seiten zwei besiegte Komplizen im Kampf gegen die Transzendenz auftauchen: links der Korpus einer anonymen römischen figura togata und rechts, an mehreren Stellen, das driftende vulkanische Magma. Diese natürliche Kraft der Erdsubstanz wird der Kontrolle des fließenden Heiligenblutes unterzogen – der eruptierende Vesuv ist Sprecher des rebellierenden Planeten. Das ›agierende‹ Blut des Heiligen ist das antagonistische Gegenbild zur Lava, das die Berechenbarkeit des Ereignisses und die Abwendbarkeit des Unglücks demonstriert. Es ist als strukturelles Pendant zur institutionalisierten Lichtstrahlung der Gnade zu bezeichnen, als ein zyklisch über die physikalischen Kräfte der Natur hinausreichendes augenscheinliches Phänomen, mit dem sich die durch das Opfer gegebenen Kompetenzen der Vorausahnung manifestieren – eine Kontrolle über die Zeit. Der neapolitanische Märtyrer bewahrt in solch einem Bildarrangement seine Superiorität gegen die Feinde Christi, die seit der Flucht nach Ägypten umso sichtbarer bleiben: das Idol und die Natur. Er agiert durch die institutionalisierte zyklische ›Lebendigkeit‹ seines Blutes im Laufe eines liturgischen Jahres, um mit dieser übertragenden Aktivität einerseits die Enthauptung, also den eigenen Tod, zu relativieren und andererseits die Illegitimität des irdischen, an die Zeit gebundenen Diesseitigkeit zu versinnbildlichen. Mittels solch einer Zähmung der Kontingenz im Naturreich zeigt er deutlich, dass die Heilsgeschichte der Natur

40 Koppenleitner 2018, S. 149 – 156; Gruet 2016, S. 357 – 370; Maraszek 2011, S. 112 – 119. Vgl. Marini 1989, S. 135 – 144. 41 Kircher, Mundus subterraneus, I, Praefatio, Cap. II – III. Vgl. Strasser 1982, S. 364 – 367. Zur metaphorischen Dimension des Vulkanausbruchs: Schreurs 2008, S. 305 – 340. 42 Spike 1999, S. 168 – 169, Kat.-Nr. 83; vgl. S. 161 – 162, Kat.-Nr. 73.

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ein Schritt voraus ist und wie die Flucht aus der Welt beschleunigt werden kann. 43 In diesem Sinne ist der neapolitanische Märtyrer, der gegen den Vesuv kämpft, ein Gegenbild zu dem griechischen Philosophen Empedokles, der der Legende nach freiwillig in einen Krater vom Ätna sprang, dort vom Feuer verschlungen wurde und Göttlichkeit erlangte, da er sich der Natur ergab und zu den Elementen dieser Welt zurückkehrte. 44 So intensiv jedoch, wie sich der barocke Katholizismus mit seinen historischen martyres beschäftigte, so war er selbst als eine die eigenen Ursprünge bewahrende Institution auf die Rolle eines confessor angewiesen, der in seiner aufopferungsvollen Devotion von der Lehre Christi zeugt und dessen historische Beweise sammelt, ohne mit seinem eigenen Leben dafür bezahlen zu müssen. Die barocke Kirche trat mit eifrigen Archäologen wie Aringhi und Rossi oder großen Geschichtssystematikern im Stile Baronios in die Fußstapfen der confessores, um mit der Ausgrabung und Neubewertung der ersten Folterspuren der christlichen Gemeinschaft ein genealogisches Zeugnis des eigenen Opfereinsatzes liefern zu können. Als eine Verkörperung dieser bezeugenden Rolle soll hier nun abschließend eine besondere Heiligenfigur besprochen werden, die durch eine in der römischen Basilika in situ kultivierte Tradition zur Vorzeigefigur dieser Retrospektive erhoben wurde: die das Blut der ersten Märtyrer mit einem Schwamm auffangende hl. Praxedis, eine römische Jungfrau aus dem 1./2. Jahrhundert. 45 Ihre Darstellung auf einem auf 1655 datierten Gemälde (Taf. 46), das durch eine sehr umstrittene Zuschreibung an Johannes Vermeer van Delft ins Zentrum der kunsthistorischen Debatten gerückt wurde, 46 kann gewissermaßen als eine Zusammenfassung der medialen Ambivalenz des barocken Historismus bezeichnet werden, in dem die Kontrolle über die Zeit zu einer Determinante der selbstdisziplinierenden Bildpraxis wird.

43 Vgl. Ambrosius, De fuga saeculi, 6, 32 (»Wer aber flieht, der möge seine Flucht beschleunigen«) und 8, 46 (»Laßt uns denn fliehen von hier, weil die Zeit so kurz ist«). Diese Wahrnehmung des Erdbebens als zeitliches Gefüge Gottes überquert konfessionelle Diskursgrenzen; wie nach dem Erdbeben von Lissabon 1740 eine protestantische Predigt in England zu erkennen gibt, ohne vorher im gleichen Text an Bezügen zu alttestamentlichen Plagen und zu sinaitischer Präsenz des gesetzgebenden Gottes gespart zu haben: »[. . . ] such fatal Catastrophes, the Overthrow of so many Towns and Cities, shew us, by woeful Experience shew us, that here we have no continuing City, and therefore that we should seek for One to come: That we should place our Interest and Affections in that Jerusalem, which is above, and is the Mother-City of us All: A City, which will for ever stand unmoved against all the Shocks of Time, and Tempest, and raging Elements: A City, which hath Eternal Foundations, whose Maker and Builder is God«; Alcock, Sermon, S. 41 – 42. 44 Vgl. Kap. 1, Anm. 19. 45 Zur frühneuzeitlichen Belebung des Kultes von der ›Blutheiligen‹ Praxedis in ihrer römischen Basilika wie auch zu der Verehrung der dort aufbewahrten blutbespritzten Säule der Geißelung Christi siehe: Coda 2004; Emerick 2000 (2001), S. 129 – 159. Zu ikonografischen Vorlagen des Blutgießens: Riedl 1993, S. 140 – 145. 46 Siehe zu dieser Zuschreibung: Wheelock 1995, S. 86 – 89; Grabski 1991; Wheelock 1986, S. 71 – 89. Die Leinwand wird sonst in den Vermeer gewidmeten Katalogen eher nicht mitberücksichtigt. Am 8. Juli 2014 wurde sie als Werk Vermeers im Londoner Auktionhaus Christie’s für 7,9 Millionen Euro ersteigert. Vgl. Blanc 2014, S. 314 – 319.

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Nach Arthur Wheelock soll Vermeer das Bild unmittelbar nach seiner (vermuteten) Konversion vom Calvinismus zum Katholizismus als sein erstes Werk gemalt haben. Da der holländische Maler allerdings eher aus pragmatischen Gründen seine Konfession gewechselt hat, nämlich um die Ehe mit der Katholikin Catharina Bolnes schließen zu dürfen, lässt sich keine Verbindung zwischen dem frommen Sachverhalt des Werkes und dem angeblich eifrigen Engagement eines Konvertiten herstellen. 47 Wie sich darüber hinaus anhand der Geschichte von Michael Willmanns Werk in Leubus gezeigt hat, der übrigens ungefähr zur gleichen Zeit wie Vermeer vom calvinistischen Glauben hin zum Katholizismus wechselte, verlieren solche Personalisierungen der malerischen Expression anhand der konfessionellen Zugehörigkeit des Künstlers an historischer Plausibilität: Das diskursiv geprägte Subjekt des Malers spricht nur die Sprache seiner Kunst. Besagtes Gemälde der hl. Praxedis ist bekanntlich eine Kopie beziehungsweie eine von mehreren Repliken desgleichen Themas. Die Komposition wurde aus dem zehn Jahre früher geschaffenen Bild von Felice Ficherellis, eines florentinischen Malers, wortwörtlich übernommen, der sich in einigen von seinen Bildern aus der Zeit von 1640 – 1645 mit dem Thema der hl. Praxedis auseinandersetzte. 48 Der einzige kompositorische Unterschied zu den anderen Repliken besteht darin, dass auf dem 1655 datierten Bild die Heilige ein kleines goldenes Kruzifix in den Händen hält. 49 Dieses, ausgearbeitet in kostbarstem Material, wurde dergestalt in die Hände der Heiligen gelegt, dass es den Schwamm krönt, der, vollgesogen mit Märtyrerblut, gerade von ihr ausgewrungen wird. Solch eine Ergänzung kann als ein kleiner Kommentar im bereits angesprochenen Sinne des Rex Gloriose Martyrum gelesen werden: Das kleine Kreuz verankert das im Schwamm vorhandene Märtyrerblut teleologisch im allerersten Märtyreropfer Christi und wird zugleich, wie im Reichsapfel, zur Krönung einer kompakten Weltformel, die hier den Betrachterblick bannt. Während die im Bild dargestellte Glaubensgenossin von Praxedis – wahrscheinlich ihre Schwester Pudentiana – sich in den Katakomben auf die Suche nach weiteren Märtyrerleichen begibt, zeigt Praxedis bei ihrer stillen Beschäftigung mit dem Schwamm den ununterbrochenen Blutfluß als eine christliche Musterfigur der Zeitenthobenheit unmittelbar unter dem Zeichen des Kreuzes. Die Frage der Zeit wird in diesem Gemälde auf den Punkt gebracht und im gleichen Moment verschleiert. Das Gießen, ein Leitmotiv des künstlerischen Paragone und Nach-

47 Siehe Blanc 2014, S. 316 (»manifeste confessionnel«); vgl. auch Arasse 1996, S. 39 – 40; Hertel 1991, S. 1295 – 1310. Vgl. zu kunsthistorischen Vermutungen zu persönlichen Haltungen des Künstlers anhand der Analyse des religiösen Inhalts seiner Bilder, die mit der Deutung des Werkes Allegorie des Glaubens (1671 – 1674) als ultrakatholisch ihre Krönung gefunden haben: Hedquist 2001, S. 111 – 130, insbes. S. 119 – 120. Vgl. van Eck 2014, S. 157 – 185; Knauer 1998, S. 66 – 76; Arasse 1996, S. 147 – 163. 48 Siehe z. Bsp. Ferrara, Sammlung Fergnani, Öl auf Leinwand (vgl. Wheelock 1995, S. 86 – 89); ehem. Sammlung Serzelli, Öl auf Leinwand (siehe: Wien, Dorotheum, Auktion vom 15. 09. 2017, Lot Nr. 104). 49 Das Kruzifix wurde bereits auf der hellen Partie des Kleides gemalt, dessen Falten durch die Kreuzesbalken durchscheinen.

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weis malerischer Virtuosität, 50 dient hier selbst als figura der Mäßigung, der Bändigung der Zeit. Dargestellt im Medium der Malerei, die seit dem allerersten Wettstreit der Künste unterschiedliche Ansprüche auf mimetische Vollkommenheit erhebt und zugleich, anders als die Skulptur, sich von der Gefahr der Idolatrie zu befreien behauptet, verwandelt sich Praxedis, die den höchsten Affekt – die eigenen Leidenschaften – mittels Kreuz vorbildlich zu beherrschen weiß, in eine katholische Verwirklichung der gießenden Temperantia, der den Zeitverlauf einleitenden und kontrollierenden Tugend. 51 Die platonische Sophrosyne, die der lateinischen Temperantia als Vorbild galt, verdiente sich ihren Kardinalstatus unter anderem durch ihre Relevanz für die Regulierung der Verhältnisse zwischen Regierung und Volk 52 – in diesem Kontext erlangt die Darstellung der Praxedis als Vorbild der Treue und Kontrolle umso mehr den Charakter einer disziplinierenden Aussage. Der Blick des Betrachters folgt leicht dem der Heiligen: Während sich die schematisch gemalte Architektur im Hintergrund in der Dunkelheit aufzulösen scheint und die breiten Faltungen des Kleides die Figur der Praxedis zu einer malerischen Erscheinung in der Fläche werden lassen, sticht die im Vordergrund platzierte Vase durch die detaillierte Bearbeitung ihrer punzierten Oberfläche hervor und wirkt stark durch ihre Objekthaftigkeit. Das Gefäß weicht von den von Licht und Schatten überzogenen steinernen Stufen und den anderen Kulissen im Bild ab. Es scheint, als solle diese vasa sacra, die gerade mit Märtyrerblut gefüllt wird, vor allem als Gegenstand und nicht als malerische Darstellung begriffen werden. Das Blut der ersten christlichen Opfer Roms wird in diesem historischen Bild sowohl als ein narratives Element der dargestellten Geschichte als auch in ihrer substanziellen Wirklichkeit präsentiert. Es wirkt, als würde es sich von dem flachen Bildmedium selbst befreien, die Zeit der Erzählung verlassen, und in der Realdimension auf den Stufen eines Altars in das ausgestellte Gefäß tropfen. Indem das ewig tropfende Blut mit seiner konstruierten Objekthaftigkeit die Fläche der Leinwand überwindet und sich durch diese bildtechnisch evozierte Distanz realisiert, versinnbildlicht es die Subordinierung, Selbstüberbietung und Übertragung als Aufgaben der mit einer kontrollierten semantischen Entfremdung ausgezeichneten christlichen Bilder. 50 Zum Motiv des Gießens bei Vermeer: Leonhard 2003, S. 75; Netta 1996, v. a. S. 103 – 118; Castor 1996, S. 95 – 96. Diese in der Kunstgeschichte meist für typisch protestantisch gehaltene Motivik der stillen Enthaltsamkeit im fließenden Dauern soll Vermeer nach Wheelocks Meinung in seinem Gemälde Dienstmagd mit Milchkrug von 1668 auch einem Bild der damaligen italienischen Meister entnommen haben, siehe: Wheelock 1995, S. 108 – 113. 51 Das Wesen der seit Ripas Iconologia gängigen bildlichen Personifikation der Temperantia als platonische Kardinaltugend drückt sich in der Einfachheit ihrer Beschäftigung mit dem Zaumzeug aus. Die Hingabe des ununterbrochenen Gießens, eine Figur der Gelassenheit, lässt sich entsprechend als eine populär gewordene Alternative zu diesem ikonografischen Kanon betrachten; vgl. u. a. Kaulbach / Schleier 1997, S. 26 – 28. Zum historischen Kontext der Temperantia-Ikonografie in Vermeers Milieu: Hertel 1991, S. 1305 – 1310. 52 Vgl. u. a. Rademaker 2005, v. a. S. 293 – 366. Darüber hinaus North 1966, v. a. S. 150 – 196 (platonische Auslegung).

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1 Laser-Projektion eines 3D-Hologramms der Buddha-Statue (6. Jh., zerstört 2001) an ihrem ursprünglichen Ort in Bamiyan, Afghanistan, Juni 2015. 2 Die Übergabe der Gesetzestafeln und die Zerstörung des Goldenen Kalbes, Miniatur im Psalter Ludwigs des Heiligen, 1270 – 1274, Paris, Bibliothèque nationale de France, Inv.-Nr. Latin 10525.

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3 Anton Goubau, Das Studium der Kunst in Rom, 1662, Öl auf Leinwand, Antwerpen, Koninlijk Museum voor Schone Kunsten, Inv.-Nr. 185.

4 Michael Sweerts, Römische Strassenszene mit einem jungen Künstler, 1646/1648, Öl auf Leinwand, Rotterdam, Museum Boijmans van Beuningen, Inv.-Nr. 2358.

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5 Michael Willmann, Vision des hl. Bernhard von Clairvaux, 1660, Öl auf Leinwand, ehem. Leubus, Zisterzienserkirche Mariä Himmelfahrt, heute Warschau, Kirche des hl. St. Kostka.

6 Alonso Cano, Vision des hl. Bernhard von Clairvaux, um 1650, Öl auf Leinwand, Madrid, Prado, Inv.-Nr. P003134.

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7 Antonio Zanchi, Abraham lehrt Astronomie bei den Ägyptern, 1664/65, Öl auf Leinwand, Venedig, S. Maria del Giglio (Zobenigo). 8 Johannes Vermeer van Delft, Der Astronom, 1668, Öl auf Leinwand, Paris, Louvre, Inv.-Nr. R.F. 1983-28.

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9 Joachim Patinir, Rast auf der Flucht nach Ägypten, 1516/1518, Öl auf Holz, Madrid, Prado, Inv.-Nr. P001611.

10 Adam Elsheimer, Die Flucht nach Ägypten, 1609, Öl auf Kupfer, München, Alte Pinakothek, Inv.-Nr. 216.

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11 Vittore Carpaccio, Die Predigt des hl. Stephanus in Jerusalem, 1514, Tempera auf Leinwand, Paris, Louvre, Inv.-Nr. 181.

12 Battista Agnolo del Moro, Die Heilige Familie auf der Flucht nach Ägypten vor der Ansicht von Verona, 1581, Öl auf Leinwand, Oberlin, Ohio, Oberlin College, Allen Memorial Art Museum, Inv.-Nr. AMAM 1961.83.

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13 Tommaso Laureti, Triumph der Religion, 1585, Fresko, Vatikanischer Palast, Sala di Costantino. 14 Amico Aspertini, Madonna mit Kind, hl. Helena, hl. Franziskus und der Flucht nach Ägypten, um 1520, Öl auf Holz, Cardiff, National Museum of Wales, Inv.-Nr. A 239.

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15 Michael Willmann, Martyrium der hl. Barbara, 1682, Öl auf Leinwand, ehem. Leubus, Zisterzienserkirche Mariä Himmelfahrt, heute Warschau, Nationalmuseum, Inv.-Nr. M. Ob. 1470.

16 Michael Willmann, Martyrium der hl. Katharina, 1682, Öl auf Leinwand, ehem. Leubus, Zisterzienserkirche Mariä Himmelfahrt, heute Breslau, Nationalmuseum, Inv.-Nr. VIII-2633.

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17 Michael Willmann und Carl Dankwart, Hl. Benedikt als Erbauer von dem Kloster Monte Cassino, 1691 – 1692, Fresko, Leubus, ehem. Zisterzienserklosterkirche Mariä Himmelfahrt.

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a).

b).

c).

d).

18 Michael Willmann, Martyrien der Apostel, Öl auf Leinwand, ehem. Leubus, Zisterzienserkirche Mariä Himmelfahrt: a) Martyrium des hl. Bartholomäus, 1662, heute Warschau, Dreifaltigkeitskirche; b) Martyrium des hl. Simon, 1662, heute Warschau, Dreifaltigkeitskirche; c) Martyrium des hl. Juda Thaddäus, 1700, heute Warschau, Kirche St. Theresa; d) Martyrium des hl. Philippus, 1700, heute Warschau, Allerheiligenkirche.

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19 Michael Willmann, Aufrichtung des Kreuzes, um 1661 – 1662, Öl auf Leinwand, ehem. Leubus, Zisterzienserkirche Mariä Himmelfahrt, heute Warschau, Hl.-Geist-Kirche.

20 Pieter Paul Rubens, Martyrium des hl. Thomas, 1637 – 1639, Öl auf Leinwand, ehem. Prag, Thomaskirche, heute Prag, Nationalgalerie, Inv.-Nr. O 7597.

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21 Niccolò Menghini, Hl. Martina, Ausschnitt, 1635 – 1640, Rom, S. Luca e Martina, Hochaltar.

22 Pietro da Cortona (Entwurf), Reliquiar der hl. Martina, 1861, Rom, Conservatorio di S. Eufemia.

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23 Georg Wilhelm Neunhertz, Martyrium der Grüssauer Zisterzienser 1426, 1733 – 1735, Fresko, Grüssau, ehem. Zisterzienserkirche Mariä Himmelfahrt.

24 Georg Wilhelm Neunhertz, Martyrium der Grüssauer Zisterzienser 1426, Fragment, 1733 – 1735, Fresko, Grüssau, ehem. Zisterzienserkirche Mariä Himmelfahrt.

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25 Georg Wilhelm Neunhertz, Martyrium der Grüssauer Zisterzienser 1426, Fragment, 1733 – 1735, Fresko, Grüssau, ehem. Zisterzienserkirche Mariä Himmelfahrt.

26 Georg Wilhelm Neunhertz, Die Rückkehr der Heiligen Familie aus Ägypten (Fortis), 1733 – 1735, Fresko, Grüssau, ehem. Zisterzienserkirche Mariä Himmelfahrt.

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27 Georg Wilhelm Neunhertz, Die Rückkehr der Heiligen Familie aus Ägypten (Fortis), Fragment, 1733 – 1735, Fresko, Grüssau, ehem. Zisterzienserkirche Mariä Himmelfahrt.

28 Georg Wilhelm Neunhertz, Bernhard von Clairvaux und Wilhelm X. von Poitou auf der Burg Partheney (Fortis), 1733 – 1735, Fresko, Grüssau, ehem. Zisterzienserkirche Mariä Himmelfahrt.

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29 Georg Wilhelm Neunhertz, Die Kreuzritter im Heiligen Land (Fortis), 1733 – 1735, Fresko, Grüssau, ehem. Zisterzienserkirche Mariä Himmelfahrt.

30 Georg Wilhelm Neunhertz, Martyrium der Grüssauer Zisterzienser 1426, Fragment, 1733 – 1735, Fresko, Grüssau, ehem. Zisterzienserkirche Mariä Himmelfahrt.

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31 Hl. Apollinarius unter dem Kreuz Christi, um 450, Mosaik, S. Apollinare in Classe bei Ravenna.

32 Cornelis van Haarlem, Bethlehemitischer Kindermord, 1590, Öl auf Leinwand, Amsterdam, Rijksmuseum, Inv.-Nr. SK-A-128.

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33 Pieter Paul Rubens, Bethlehemitischer Kindermord, 1609 – 1610, Öl auf Leinwand, Toronto, Art Gallery of Ontario, Inv.-Nr. 2014/1581.

34 Mattia Preti, Bethlehemitischer Kindermord, 1660 – 1661, Öl auf Leinwand, Privatsammlung.

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35 Bethlehemitischer Kindermord, Anfang des 9. Jh., Miniatur im sog. Purpurevangeliar, München, Bayerische Staatsbibliothek, Inv.-Nr. BSB Clm 23631.

37 Carl Dankwart, Ernst von Pardubitz in Adoration der Madonna vom Heiligen Berg, 1693, Öl auf Leinwand, Glatz, ehem. Jesuitenkirche Mariä Himmelfahrt, heute Glatz, Pfarrei.

36 Carl Dankwart, Die Vision des jungen Ernst von Pardubitz, 1693, Glatz, ehem. Jesuitenkirche Mariä Himmelfahrt, heute Glatz, Pfarrei.

38 Pierre Legros, Sel. Stanislaus Kostka im Sterbebett, 1702 – 1703, Rom, S. Andrea in Quirinale.

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39 Glatzer Madonna, 1343/1344, Tempera auf Holz, Berlin, SMPK, Gemäldegalerie, Inv.-Nr. 1624.

40 Joseph Emanuel Fischer von Erlach (Entwurf), Antonio Corradini (Modell) und Joseph Würth (Ausführung), Grabmal des hl. Johannes von Nepomuk, 1736, Fragment, Prag, St.-Veits-Dom.

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41 Pieter Paul Rubens, Triumph der Eucharistie, 1626, Öl auf Holz, Entwurf einer Tapisserie, Madrid, Prado, Inv.-Nr. P1695-P1700. 42 Claudio Coello, La Sagrada Forma, 1684, Öl auf Leinwand, El Escorial, Klosterkirche, Sakristei.

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43 Die Linse von Galileo Galileis Fernrohr in einer Fassung von 1677, Florenz, Museo Gallileo, Inv.-Nr. 2429.

44 Pieter Aertsen, Fleischtheke mit der Flucht nach Ägypten, 1551, Öl auf Holz, Raleigh, North Carolina Museum of Art, Inv.-Nr. 93.2.

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45 Mattia Preti (Werkstatt), Martyrium des hl. Januarius, 1685, Öl auf Leinwand, Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza, Inv.-Nr. CTB.1995.6. 46 Felice Ficherelli (Kopie), Hl. Praxedis, 1655, Öl auf Leinwand, Privatsammlung.

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Quellenverzeichnis

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Abbildungsnachweis Abb. 1, 2, 10, 51, Taf. 7, Taf. 33, Taf. 44: Commons license; Abb. 3, 123, 140: Baumstark / Herzogenberg / Volk 1993; Abb. 4, 121: La Basilica di San Pietro in Vaticano, hrsg. von Daniele Casalino, Roma 1999; Abb. 5, 29, 37, 58, 115, 127, 131, 136, 138, 142, 144, 148, 149, Taf. 42: Archiv des Autors; Abb. 6: Ackermann 2007; Abb. 7, 11, 16, 19, 20, 21, 25, 26, 27, 28, 40, 46, 47, 67, 70, 73, 75, 77, 80, 82, 98, 99, 102, 118, 128, 129, 139, Taf. 13, 17, 21, 23, 24, 25, 26, 27, 28, 29, 30, 31, 38, 40: Autor; Abb. 8: Rom, Biblioteca Hertziana, Max-Planck-Institut; Abb. 9: Weil 1974; Abb. 12: Wien, Österreichische Nationalbibliothek; Abb. 13, 14, 50, 85, 96, 125, 132, 137, 147, 151, 159, 160, 163, 164, 165, 166, Taf. 35: München, Bayerische Staatsbibliothek; Abb. 15, 18: John Roger Paas, The German Political Broadsheet 1600 – 1700, Bd. 4: 1622 – 1629, Wiesbaden 1994; Abb. 17: Vácha 2009; Abb. 22: Rom: Kunst und Architektur, hrsg. von Marco Bussagli, Potsdam 2004; Abb. 23: Wien, Archiv der Universität Wien; Abb. 24: Coburg, Kunstsammlungen der Veste Coburg; Abb. 30: Stehlík 2006; Abb. 31, 44, 49, 68, 71, 78, 81, 86, 87, 88, 89, 91, 92, 93, 94, 95, 97, 104, 105, 119, 120, 146: Breslau, Universitätsbibliothek (Biblioteka Uniwersytecka we Wrocławiu); Abb. 32, 41, 153, 154, 156, Taf. 20: Prag, Nationalgalerie (Národní galerie Praha); Abb. 33: Fürst 2002; Abb. 34: Stolárová / Vlnas 2009; Abb. 35, 114, 130, 157: Stift Göttweig; Abb. 36: Augsburg, Stadtbibliothek; Abb. 38, 66, 101: Hans Lutsch, Schlesiens Kunstdenkmäler. Textband, Mannheim 1979 (Breslau 1903); Abb. 39, 162: Bildarchiv Marburg; Abb. 42, 111, 117, 143: mit Genehmigung von: Breslau, Ossolineum (Zakład Narodowy im. Ossoli´nskich) / Lubomirski-Museum (Muzeum Ksia˙ ˛zat ˛ Lubomirskich), Fotos: Autor; Abb. 43, 54, 100, 106, 107, 112: Marburg, Herder-Institut; Abb. 45, 65, 108: Hans Lutsch, Schlesien: Kunstdenkmäler, bearb. von Josef von Golitschek, Würzburg 2001; Abb. 48: Hugo Brandenburg, Die Kirche S. Stefano Rotondo in Rom: Bautypologie und Architektursymbolik in der spätantiken und frühchristlichen Architektur, Berlin 1998; Abb. 52, 53: Martin 1968; Abb. 55, 56, 57, 59, 60, 62, 63: Noehles 1969; Abb. 61: Papi 2003; Abb. 64: Merz 2008; Abb. 69: London, The Warburg Institute; Abb. 72: © Kupferstichkabinett. Staatliche Museen zu Berlin. Foto: Jörg P. Anders; Abb. 74: Niedzielenko / Vlnas 2006; Abb. 76: Vlnas 2001; Abb. 79: Herz 1988a; Abb. 83, 84: Heidelberg, Universitätsbibliothek; Abb. 89, Taf. 34: Sgarbi 2013; Abb. 103, Taf. 36, Taf. 37: Foto: Andrzej Kozieł; Abb. 109: Los Angeles, The J. Paul Getty Museum; Abb. 110: Wiese 1923; Abb. 113: Bildersturm: Wahnsinn oder Gottes Wille? Ausst.-Kat. Bernisches Historisches Museum, Musée de l´Oeuvre NotreDame, Strassburg, hrsg. von Cécile Dupeux, Zürich 2001; Abb. 116: Spengler 1997; Abb. 122: Wittkower 1955; Abb. 124: Giovanni Battista Piranesi: Die poetische Wahrheit. Radierungen, bearb. von Corinna Höper, Ostfildern 1999; Abb. 126: Šefcuo 2007; Abb. 133, 134, 155: Prag, Nationalarchiv (Národní archiv, Praha); Abb. 135: Matsche 1981; Abb. 141: El monasterio del Escorial y la Pintura. Actas del Symposium 1/5 IX 2001, Madrid 1999; Abb. 145: Bamberg, Staatsbibliothek; Abb. 148: Foto ©Staatsgalerie Stuttgart; Abb. 150: Zelenková 2011;

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Abbildungsnachweis

Abb. 152: sandrart.net; Abb. 158: Künzl 1988; Abb. 161: mit Genehmigung von: Prag-Strahov, Prämonstratenserkloster, Bibliothek, Foto: Autor; Taf. 1: dailymail.co.uk; Taf. 2: Paris, Bibliothèque nationale de France; Taf. 3, 4: Levine / Mai 1991; Taf. 5, 15, 16, 18, 19: Foto: Jerzy Buława; Taf. 6, 9, 41: Madrid, Museo del Prado; Taf. 8: bpk / RMN – Grand Palais / Franck Raux; Taf. 10: bpk / Bayerische Staatsgemäldesammlungen; Taf. 11: bpk | RMN – Grand Palais | Gérard Blot; Taf. 12: Bridgeman Images; Taf. 14: Faietti / Scaglietti / Kelescian 1995; Taf. 22: Lo Bianco 1997; Taf. 32: Amsterdam, Rijksmuseum; Taf. 39: bpk / Gemäldegalerie, SMB, Eigentum des Kaiser Friedrich Museumsvereins / Jörg P. Anders; Taf. 43: Florenz, Museo Gallileo; Taf. 45: Madrid, Museo Thyssen-Bornemisza; Taf. 46: Wheelock 1995.