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German Pages [215]
Almut Hille | Gregor Streim | Pan Lu (Hg.)
Deutsch-chinesische Annäherungen Kultureller Austausch und gegenseitige Wahrnehmung in der Zwischenkriegszeit
2011 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Wie Min: Nanjing Road/Shanghai, Plakat 1930er Jahre, Shanghai History Museum, entnommen aus: Shanghai Modern 1919–1945, hg. von Jo-Anne Birnie Danzker, Ken Lum und Zheng Shengtian, München und Ostfildern-Ruit 2004, S. 21
© 2011 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-412-20665-9
Inhaltsverzeichnis
Grußwort . .......................................................................................................................
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Einleitung ........................................................................................................................
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Arnd Bauerkämper Kulturtransfer und Barrieren zwischen China und Deutschland in der Zwischenkriegszeit. Theoretische und methodische Überlegungen aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive .................................................................. 19 Dagmar Yu-Dembski West-östliche Spiegelungen. Kulturbegegnungen in der Zwischenkriegszeit (Klabund – Lin Fengmian – Li Jinfa) ....................................................................... 35 Michael Jaeger Sturm und Drang in China. Goethe und die Vierte-Mai-Bewegung ................. 49 Hu Wei Die chinesische Rezeption von Goethes Dichtung und Wahrheit in den 1920er und 1930er Jahren ........................................................................................... 65 Marco Haase Vom Sohn des Himmels zum charismatischen Führer. Max Webers Auseinandersetzung mit Konfuzianismus und Taoismus ............. 77 Luo Wei „Europäer sind unglücklich im Umgang mit Chinesen“. Alfred Döblins Beschäftigung mit China in der Zeit der Weimarer Republik. 91 Peter Sprengel „Die Bahn ward verloren“ – Gerhart Hauptmanns China-Lektüren nach 1918 ........................................................................................................................ 105 Volker Mertens Vom Land des Lächelns zum Land des Grauens. China auf der Musikbühne der zwanziger Jahre . ...................................................................................................... 131
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Inhaltsverzeichnis
Gregor Streim Das Erwachen des Kulis. China in den Reisereportagen der Weimarer Republik (Richard Huelsenbeck – Arthur Holitscher – Egon Erwin Kisch) ..... 155 Almut Hille „Tausendjährige Augen“. Beobachtungen in China von Autorinnen der Weimarer Republik ....................................................................................................... 173 Inge Stephan Bilder und NachBilder vom Exil in Shanghai in Literatur und Film. Vicki Baum – Ulrike Ottinger – Ursula Krechel . .................................................. 187 Zu den Autoren . ............................................................................................................ 205 Bildnachweis ................................................................................................................... 209 Personenregister ............................................................................................................. 211
Grußwort
Der vorliegende Band versammelt die Vorträge einer Tagung, die im Juli 2010 an der Freien Universität Berlin in Kooperation mit dem Zentrum für Deutschlandstudien (ZDS) an der Peking Universität stattfand. Das ZDS wurde vor fünf Jahren an der Peking Universität als fakultätsunabhängige Einrichtung gegründet, die sich in Forschung und Lehre interdisziplinär mit Deutschland beschäftigt. Es wird gemeinsam getragen von der Peking Universität, der Freien Universität Berlin, der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD). Unter Leitung seines Direktors, Prof. Dr. Chen Hongjie, arbeiten am ZDS Wissenschaftler der Fächer Geschichte, Philosophie, Germanistik, Rechtswissenschaft, Erziehungswissenschaft, Soziologie und Internationale Beziehungen zusammen. Auf dieser Basis konnte ein kooperatives Masterstudienprogramm aufgebaut werden, in dessen Rahmen in jedem Jahr chinesische Studierende nach Berlin kommen. Dieser Austausch hat sich als besonders fruchtbar erwiesen. Indem die Studierenden andere Inhalte, Ausbildungs- und Kommunikationsstrukturen kennenlernten, machten sie zugleich die Erfahrung, dass die Beschäftigung mit dem Fremden zum Verständnis des Eigenen beiträgt. Zudem konnten sie weiterführende Kontakte knüpfen. Einige kamen nach dem Studium wieder nach Berlin zurück, um hier zu promovieren. Sie sind Wege gegangen, die nur durch das ZDS möglich wurden. Im Mittelpunkt der gemeinsamen Forschungsarbeit standen in den letzten Jahren interdisziplinäre Tagungen und Workshops etwa zur Rolle der Zivilgesellschaft, zur Funktion des Eigentums, zur Rationalität oder zum Phänomen der Persönlichkeit. Aus ihnen sind weitere Projekte erwachsen, bilaterale und multilaterale, Sammelbände und andere Publikationen. Vielleicht folgen Veranstaltungen zu Themen wie Gleichheit und Egalität, woraus zu ersehen wäre, dass die Leitgedanken der Französischen Revolution unserer gemeinsamen wissenschaftlichen Arbeit einen Rahmen bieten. Diese hat sich immer stärker so entwickelt, dass nicht mehr nur chinesische Wissenschaftler über China und deutsche über Deutschland berichten, sondern dass die Themen übergreifend geworden sind und ihre Behandlung sich von nationalen Zuständigkeiten löst. Das zeigen auch die Beiträge dieses Bandes. Ich freue mich auf die weitere Zusammenarbeit des ZDS mit seinen Berliner Partnerhochschulen. Prof. Dr. Philip Kunig (bis 2010 Beauftragter des Präsidiums der Freien Universität Berlin für die Kooperation mit dem Zentrum für Deutschlandstudien an der Peking Universität)
Einleitung
Die Philosophin Julia Kristeva schrieb 1974 nach einer Reise durch die Volksrepublik China, dass „der Aufstieg dieses […] Kontinents […] auch unsere eigene Gesellschaft erschüttert“.1 Am Beginn des 21. Jahrhunderts steht dies außer Frage und ist längst ein Allgemeinplatz. Das ‚neue China‘, wie die Reformer ihr Land bereits am Beginn des 20. Jahrhunderts nannten, verändert die ökonomischen und politischen Kräfteverhältnisse in der Welt. Von künstlerischen und wissenschaftlichen Einflüssen ist dabei selten die Rede, auch wenn Bildende Künstler wie Ai Weiwei und Filmregisseure wie Zhang Yimou inzwischen Weltruhm genießen, der chinesische Autor Gao Xingjian 2000 den Literaturnobelpreis erhielt. Um das heutige Verhältnis zwischen China und dem Westen besser verstehen zu können, sollte man sich daran erinnern, dass Chinas ‚Aufbruch in die Moderne‘ nicht erst in der Gegenwart einsetzte. Er begann vor einhundert Jahren, im frühen 20. Jahrhundert. Die Anfänge der neueren Kulturbeziehungen zwischen China, Europa und den USA gehen auf die Gründung der chinesischen Republik im Jahre 1911 und die sich in deren Folge entwickelnde neue Kultur- und Bildungspolitik zurück.2 Wenig bekannt ist heute, dass dieser Aufbruch in China auch mit einer Erneuerung und Intensivierung der bilateralen Beziehungen zu Deutschland einherging. Die Voraussetzungen dafür war Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg. Mit seinen anderen Kolonien hatte Deutschland 1919 auch seine chinesische ‚Musterkolonie‘ Qingdao (Kiautschou) verloren und stand China daher nicht mehr als Kolonialmacht gegenüber, während Großbritannien und Frankreich dort weiterhin exterritoriale Privilegien besaßen. Zudem fühlten sich sowohl Deutschland als auch China durch die Versailler Verträge benachteiligt und international isoliert. In dieser Situation wurde 1921 ein ‚gleichberechtigter‘ Handelsvertrag zwischen dem Deutschen Reich und der Peking-Regierung geschlossen, der die Voraussetzungen dafür schuf, dass sich in den folgenden Jahren eine wirtschaftliche und militärische Kooperation zwischen beiden Ländern entwickeln konnte.3 Auch wenn es sich hierbei eher um eine Zweckgemeinschaft als um eine Freundschaftsbeziehung handelte, erhielt Deutschland aufgrund seiner Neutralität und seiner Anerkennung 1 Julia Kristeva: Die Chinesin. Die Rolle der Frau in China, Frankfurt/M. u.a. 1982, S. 9. 2 Vgl. Helwig Schmidt-Glintzer: Kleine Geschichte Chinas, Frankfurt/M. 2010, S. 153f. 3 Zur Geschichte der deutsch-chinesischen Beziehungen in dieser Zeit vgl. Deutsch-chinesische Beziehungen 1911–1927. Vom Kolonialismus zur „Gleichberechtigung“. Eine Quellensammlung, hg. v. Mechthild Leutner, verfasst v. Andreas Steen, Berlin 2006 (Quellen zur Geschichte der deutschchinesischen Beziehungen 1897–1995), S. 33–40 u. 189–203.
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Einleitung
des Gleichberechtigungsprinzips in den zwanziger Jahren ein neues, positives Image in China. Die außenpolitische und wirtschaftliche Annäherung begünstigte auch die Entwicklung der kulturellen und wissenschaftlichen Kontakte zwischen Deutschland und China. Der Austausch vollzog sich jedoch zumeist unterhalb der Ebene staatlicher Kulturpolitik. Während Deutschland den eigenen (vor allem wirtschaftlichen) Einfluss in China durch schul- und universitätspolitische Maßnahmen – durch die Errichtung von deutschen Schulen in China oder die Förderung der Tongji-Universität in Shanghai – zu stärken versuchte, entwickelte China keine vergleichbaren kulturpolitischen Aktivitäten in Deutschland.4 Allerdings förderte die chinesische Regierung das Auslandsstudium durch die Vergabe von Stipendien. So kamen in den zwanziger Jahren viele chinesische Studenten nach Deutschland und insbesondere nach Berlin, wo eine kleine Kolonie chinesischer Intellektueller und Künstler entstand.5 Viele Auslandsstudenten übernahmen nach ihrer Rückkehr führende Positionen in China und trieben die gesellschaftliche und kulturelle Modernisierung des Landes voran. Dabei ging es ihnen allerdings nicht um eine Nachahmung des westlichen Modells, sondern um eine produktive Aneignung bestimmter Techniken und Konzepte in Hinblick auf die besonderen chinesischen Interessen. Das bekannteste Beispiel eines solchen Rückkehrers ist Cai Yunpai, der in Leipzig studiert hatte und vom Humboldt’schen Bildungsideal geprägt worden war. Er wurde 1912 erster Bildungsminister der chinesischen Republik und zu einem einflussreichen Reformer. Noch im Jahr 1912 gründete er das Amt für Gesellschaftliche Erziehung, in das er den Schriftsteller Lu Xun als Leiter der Abteilung für Kunst, Kultur und Wissenschaft berief.6 Als Rektor der Peking Universität initiierte er ab 1917 eine umfassende Reform in Wissenschaft und Verwaltung. Zugleich förderte er den wissenschaftlichen Austausch mit Deutschland an der Peking Universität. Ähnliche Verbindungen bestanden auch an anderen Universitäten, so an der ursprünglich von der deutschen Regierung als medizinische Hochschule gegründeten TongjiUniversität in Shanghai und an der 1924 gegründeten Sun Yatsen-Universität in Kanton, deren Vizepräsident Zhu Jiahua 1927/28 mehrere deutsche Professoren an die medizinische Fakultät berief.
4 Vgl. Deutsch-chinesische Beziehungen 1928–1937. „Gleiche“ Partner unter „ungleichen“ Bedingungen. Eine Quellensammlung, hg. v. Bernd Martin, bearbeitet v. Susanne Kuß, Berlin 2003 (Quellen zur Geschichte der deutsch-chinesischen Beziehungen 1897–1995), S. 46f. 5 Vgl. Dagmar Yu-Dembski: Chinesen in Berlin, Berlin 2007, S. 19–60. 6 Vgl. Jo-Anne Birnie Danzker: Shanghai Modern, in: Shanghai Modern 1919–1945, hg. von JoAnne Birnie Danzker, Ken Lum u. Zheng Shengtian, Ostfildern-Ruit 2004, S. 18–71, hier S. 20.
Einleitung
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Zu kultureller Interaktion kam es vor allem im direkten Kontakt zwischen deutschen und chinesischen Intellektuellen und auf der Ebene der persönlichen Netzwerke einzelner Vermittler wie Cai Yuanpei, Zhu Jiahua oder Zhang Jungmai.7 Der wichtigste Vermittler auf deutscher Seite war zweifellos der Sinologe Richard Wilhelm, der Leiter des 1925 gegründeten China-Instituts an der Frankfurter GoetheUniversität, das auch die angesehene Zeitschrift Sinica herausgab. Richard Wilhelm war lange Jahre als Missionar in der deutschen Kolonie Qingdao tätig gewesen und hatte Anfang der zwanziger Jahre im republikanischen Peking den Aufbau des OrientInstituts vorangetrieben und an der Peking Universität gelehrt. Mit seinen zahlreichen Publikationen und Übersetzungen chinesischer klassischer Werke prägte er das deutsche China-Bild maßgeblich; er war aber auch immer bemüht, chinesische und deutsche Kultur in einen produktiven Dialog miteinander zu bringen. Als Leiter des Frankfurter China-Instituts nutzte er seine in Peking geknüpften Kontakte dazu, chinesische Wissenschaftler gleichberechtigt in die Arbeit des Instituts einzubeziehen.8 Mit der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten veränderten sich die Beziehungen zwischen Deutschland und China allmählich. Das lag zum einen an der außenpolitischen Neuausrichtung des Deutschen Reichs, insbesondere seinem Zusammengehen mit Japan, das 1936 zum Antikominternpakt führte. Es lag zum anderen an der Kulturpolitik der Nationalsozialisten, die diese als Instrument der Propaganda und der rassistischen Politik einsetzten. Zwar konnte eine bereits seit 1931 in Vorbereitung befindliche Ausstellung „Chinesische Malerei der Gegenwart“ 1934 noch in den Räumen der Preußischen Akademie der Künste in Berlin gezeigt werden, gleichzeitig wurden einige Sinologen aber bereits aus ‚rassischen‘ und politischen Gründen verfolgt. Der renommierte Kunsthistoriker William Cohn beispielsweise, Gründer der Ostasiatischen Zeitschrift und Herausgeber der Reihe ‚Die Kunst des Ostens‘, wurde 1933 aus der Abteilung für Ostasiatische Kunst der Staatlichen Museen zu Berlin entlassen; er konnte noch als Sekretär der Ostasiatischen Gesellschaft tätig sein, bevor er 1938 nach England emigrierte. Die Ausstellung in Berlin 1934 war ein großer Erfolg – in Europa fand chinesische Bildende Kunst während einer intensiven Berührungsphase etwa von Mitte der zwanziger bis Ende der dreißiger Jahre eine begeisterte Aufnahme.9 Noch 1937 wurde in Berlin eine Ausstellung zeitgenössischer chinesischer Malerei aus der Sammlung des deutschen Botschafters in China, Oskar P. Trautmann, im Prinzessinnen-Palais gezeigt. Das 7 Vgl. Deutsch-chinesische Beziehungen 1911–1927 (wie Anm. 3), S. 418f. 8 Vgl. dazu Mechthild Leutner: Richard Wilhelms Netzwerke: Von kolonialen Abhängigkeiten zur Gleichrangigkeit, in: Berliner China-Hefte 27 (2004), S. 70–95. 9 Vgl. Birnie Danzker: Shanghai Modern (wie Anm. 6), S. 39.
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Verhältnis zwischen beiden Ländern war aber zunehmend gespannt. Spätestens mit dem Ausbruch des chinesisch-japanischen Krieges 1937 endeten nicht nur die wirtschaftlichen, sondern auch die kulturellen Beziehungen zwischen beiden Staaten. In den folgenden Beiträgen geht es nicht so sehr um eine historische Rekonstruktion der kulturellen Austauschbeziehungen zwischen China und Deutschland. Vielmehr richtet sich der Blick auf die Ebene der wechselseitigen Rezeption und Wahrnehmung. Denn die Intensivierung der kulturellen Kontakte ging mit einer umfangreichen Produktion von Texten, Bildern und Theorien über das jeweils andere Land einher, die durch ganz unterschiedliche – politische, wissenschaftliche, weltanschauliche oder ästhetische – Interessen motiviert waren. Wenn in diesem Zusammenhang von Annäherung gesprochen wird, ist dies also nicht im Sinne einer zunehmenden Verständigung oder Angleichung zu verstehen, sondern eher im Sinne einer gesteigerten Aufmerksamkeit. Dieser Prozess vollzog sich vor dem Hintergrund ähnlicher Krisenerfahrungen. Sowohl das republikanische China als auch das Deutschland der Weimarer Republik befanden sich in einem politischen, wirtschaftlichen und sozialen Transformationsprozess, der von vielen Menschen als Kulturkrise erfahren wurde und auf beiden Seiten Fragen nach dem Verhältnis von Tradition und Moderne, nach Bildung und Wertorientierung, nach „Identität und Subjektivität auf kollektiver wie individueller Ebene“ aufwarf.10 In der Beschäftigung mit dem anderen Land suchte man jeweils nach Antworten auf diese Fragen. Den Ähnlichkeiten und Differenzen in der wechselseitigen Wahrnehmung geht Arnd Bauerkämper in seinem einleitenden Beitrag nach. Er zeigt auf, wie die politisch-gesellschaftliche Umbruchsituation, in der sich Deutschland und China nach dem Ersten Weltkrieg (China schon seit dem Zerfall der Mandschu-Dynastie 1911/12) befanden, und die von beiden Ländern empfundene Demütigung durch die Versailler Verträge die Empfänglichkeit für fremde Einflüsse und die Bereitschaft zum Kulturtransfer erhöhte. Dabei blieb die Rezeption des anderen Landes bzw. der anderen Kultur jedoch immer eingebettet in die Reflexion der gesellschaftlichen und kulturellen Krise im eigenen Land. Trotz einer vergleichbaren Krisensituation gab es in China und Deutschland unterschiedliche Ausgangssituationen und Interessenlagen. Chinas Rezeption der deutschen Kultur war vor allem von dem Interesse an einer Modernisierung und Stärkung des eigenen Landes bestimmt und somit in den chinesischen Fortschrittsdiskurs eingebunden. In der Vierten-Mai-Bewegung etwa verband sich die Hinwendung zur modernen westlichen Wissenschaft und Demokratie mit einer antiimperialistischen Tendenz und der Kritik am Traditio10 Ken Lum: Gleichklang der Ideale. Ästhetische Erziehung im republikanischen China, in: Shanghai Modern 1919–1945 (wie Anm. 6), S. 216–233, hier S. 221.
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nalismus. Demgegenüber war die deutsche Wahrnehmung Chinas zumeist in einen nationalistischen oder einen kulturkritischen Diskurs eingebunden. Auch Dagmar Yu-Dembski geht in ihrem Beitrag auf die Unterschiede in der Wahrnehmung des jeweils anderen Landes ein. Dabei macht sie auf eine eigentümliche Ungleichzeitigkeit aufmerksam: Während man in Deutschland zumeist noch auf das klassische China, das Land der ‚uralten Kultur‘ und der ‚ewigen Werte‘ fixiert war, rezipierte man in China intensiv die moderne westliche Wissenschaft, Philosophie und Kunst. Yu Dembski nimmt dabei besonders den Einfluss westlicher Philosophie und Literatur auf die Entwicklung der modernen chinesischen Kunst in den Blick. Sie tut dies am Beispiel des Malers Lin Fengmian und des Lyrikers Li Jinfa, die beide in Deutschland studierten und dort mit dem Expressionismus in Berührung kamen. An ihren Werken lässt sich der Einfluss des expressionistischen Stils, aber auch des antibürgerlichen Lebensgefühls der westlichen Avantgarde ablesen. Darüber hinaus wirkten beide Künstler als Vermittler: Lin wurde nach seiner Rückkehr in China zum Wegbereiter der Schule der Modernisten, und Li Jinfa trug maßgeblich zur Erneuerung der chinesischen Lyrik bei. An Künstlern wie Lin Fengmian und Li Jinfa wird deutlich, wie sich die chinesische Wahrnehmung Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg wandelte. Dafür war nicht nur die veränderte Interessens-, sondern auch die verbesserte Informationslage verantwortlich. Durch die Übersetzungen wissenschaftlicher und literarischer Werke und vor allem durch die zurückkehrenden chinesischen Auslandsstudenten erfuhr man in China nun mehr über Deutschland.11 Insbesondere die jungen, an einer umfassenden kulturellen und gesellschaftlichen Erneuerung interessierten Intellektuellen aus der Vierten-Mai-Bewegung – wie Lu Xun, Guo Moruo, Zhang Jungmai oder Cai Yuanpei – interessierten sich stark für deutsche Literatur und Philosophie, für die Schriften von Kant, Marx, Nietzsche und Freud. Die undifferenzierte Bewunderung deutscher Militär- und Wirtschaftsmacht, die das chinesische Deutschland-Bild vor dem Ersten Weltkrieg geprägt hatte, wich bei ihnen einem positiven Bild von Deutschland als Kulturnation, als Land der ‚Dichter und Denker‘.12 Zu den auffälligsten Phänomenen dieses Wahrnehmungswandels zählt die chinesische Goethe-Rezeption in den zwanziger und dreißiger Jahren. Dieser (Neu-)Entdeckung Goethes widmen sich gleich zwei Beiträge des vorliegenden Bandes. Michael Jaeger erkennt im Wandel der Goethe-Rezeption einen Spiegel der chinesischen Reformbestrebungen. Während Ku Hung-Ming Goethe um 1900 noch für den konservativ-konfuzianisch geprägten Abwehrkampf gegen die westliche 11 Vgl. Deutsch-chinesische Beziehungen 1928–1937 (wie Anm. 4), S. 290–292. 12 Vgl. Deutsch-chinesische Beziehungen 1911–1927 (wie Anm. 3), S. 505f.
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Moderne, für die traditionalistische Politik der ‚Selbststärkung‘, in Anspruch nahm, machten ihn die antitraditionalistischen Vertreter der Vierten-Mai-Bewegung in den zwanziger Jahren zur Leitfigur ihres Programms der kulturellen Erneuerung. Anders als Ku bezogen sie sich dabei nicht auf den Revolutionskritiker Goethe, sondern auf den jungen Goethe, auf den Verfasser der Leiden des jungen Werther und der Prometheus-Ode. Guo Moruo zog sogar eine Parallele zwischen der Zeit des ‚Sturm und Drang‘ und der chinesischen Gegenwart. Und mit seiner Werther-Übersetzung von 1922 wurde Goethes Protagonist in China zum Inbegriff für die Befreiung des Individuums von den Zwängen der Tradition und den gesellschaftlichen Konventionen. Infolge der zunehmenden Kritik am Subjektivismus wurde Werther im weiteren Verlauf der Revolution allerdings durch Faust als Leitfigur abgelöst. Die literarischen Folgen dieser Goethe-Rezeption untersucht Hu Wei in ihrem Beitrag. Sie weist darauf hin, dass der Subjektivismus der Vierten-Mai-Bewegung die Entstehung der modernen chinesischen Autobiografie und die Hinwendung zu neuen literarischen Gattungen wie Tagebuch und Ich-Erzählung begünstigte. Eine entscheidende Rolle spielte dabei Goethes Autobiografie Dichtung und Wahrheit, die in den dreißiger Jahren gleich zweimal – von Zhang Jingsheng und Liu Simu – ins Chinesische übertragen wurde. Dichtung und Wahrheit diente Guo Moruo und anderen als Modell eines autobiografischen Schreibens, das die persönliche Entwicklung mit den zeitgeschichtlichen Verhältnissen analogisiert. Das Buch wirkte aber auch als Vorbild für eine modern-psychologische, das Sexuelle mit einschließende Reflexion des eigenen Lebens. Goethes Werk wurde also sowohl unter individualistischen als auch – im weiteren Verlauf der revolutionären Entwicklung – gesellschaftspolitischen und marxistischen Gesichtspunkten rezipiert. Während die Beschäftigung chinesischer Künstler und Intellektueller mit der deutschen Kultur zumeist einem modernistischen Diskurs folgte, war die deutsche Wahrnehmung Chinas in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre noch überwiegend kulturkritisch und kulturkonservativ geprägt. Gerade in der Kulturkrise nach dem Ersten Weltkrieg gewannen die alte ostasiatische und insbesondere die chinesische Philosophie und Literatur – vor allem der Konfuzianismus und Daoismus – für viele neue Attraktivität. Ihre Rezeption wurde gelenkt von dem Wunsch nach einer geistig-sittlichen Erneuerung der abendländischen Kultur. Dass auch die wissenschaftliche Befassung mit der anderen Kultur immer auf die Probleme der eigenen referiert, macht Marco Haases Beitrag zu Max Webers religionssoziologischen Studien deutlich. Weber wandte sich dem Konfuzianismus und Taoismus zu, um (ex negativo) seine These von der Entstehung des Kapitalismus aus der puritanischen Geisteshaltung zu stützen. Haase liest Webers Studien zur chinesischen Philosophie als ‚Krisensymptom‘, nämlich als eine Reaktion auf die politische und verfassungsrechtliche Krise in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg. Der
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Soziologe suchte in dieser Situation nach einer neuen Legitimität der bürgerlichen Wertordnung und gelangte dabei zum Begriff der charismatischen Herrschaft, den er in seiner Konfuzius-Studie auf die konfuzianische Kaiserideologie zurückführte. Weber selbst wollte auf diese Weise die Parteiendemokratie der Weimarer Republik legitimieren. Wie Haase zeigt, entwickelt er dabei aber auch eine Kategorie, mit der sich die chinesische Geschichte im 20. Jahrhundert verstehen lässt, in der Revolutionäre wie Mao als charismatische Führer gefeiert wurden. Während Webers Studium des Konfuzianismus auf eine Rechtfertigung der parlamentarischen Demokratie zielte, suchten andere in der traditionellen chinesischen Kultur nach einem Alternativmodell zur krisenhaften westlichen Zivilisation und ihrem Materialismus. Das wird auch daran deutlich, dass es in den zwanziger Jahren zu einem regelrechten Boom deutscher Publikationen über chinesische Philosophie und Kultur sowie deutscher Übersetzungen bzw. Nachdichtungen chinesischer Literatur kam.13 Besonders einflussreich für die kulturkonservative Rezeption waren Hermann Graf Keyserlings Reisetagebuch eines Philosophen (1919) und Richard Wilhelms Die Seele Chinas (1926), die ein idealisiertes Bild der alten chinesischen Kultur entwarfen und den Konfuzianismus als gesellschaftliches Ordnungsmodell begriffen. Beide Bücher beförderten die Chinamode der zwanziger Jahre, ebenso wie die populäre Übersetzung des I-Ging von Richard Wilhelm aus dem Jahr 1924. Bei der Konzentration auf die kulturkritische China-Verehrung wird allerdings leicht übersehen, dass das Interesse an traditioneller chinesischer Philosophie und Literatur in der Weimarer Republik nicht nur ein kulturkonservatives Phänomen war, sondern auch auf Seite der Avantgarde zu beobachten ist. Ein Beispiel dafür ist der expressionistische Dichter Klabund, den Dagmar Yu-Dembski in ihrem Beitrag mit behandelt. Klabund, der sich intensiv mit Buddhismus und Taoismus beschäftigte und chinesische Lyrik (nach französischer Übersetzung) ins Deutsche übertrug, erkannte im ‚Chinesischen‘ ein Mittel zur exotischen Verfremdung und zur Steigerung der sprachlichen Expressivität seiner eigenen Gedichte. Ein anderes prominentes Beispiel der avantgardistischen China-Rezeption stellt Luo Wei vor. Alfred Döblin hatte sich schon im Zusammenhang mit der Arbeit an seinem ‚chinesischen‘ Roman Die drei Sprünge des Wang-Lun (1915) intensiv mit chinesischer Philosophie und Geschichte befasst. Luo Wei zeigt nun, dass sich auch in vielen anderen Erzählungen und Essays Döblins aus den zwanziger Jahren Spuren einer intensiven Beschäftigung mit dem Daoismus und Konfuzianismus finden. Das tao avanciert darin zu einem zentralen Begriff der Kritik an der westlichen Zivilisation; China dient als Idealbild eines Staatswesens, das auf ‚Geistigkeit‘ und ‚lebendiger Bildung‘ beruht. Auf eigentümliche Weise verbindet Döblin dabei konfuzia13 Vgl. dazu auch den bibliografischen Anhang zu dem Beitrag von Peter Sprengel in diesem Band.
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nische Ordnungsvorstellungen mit der Idee demokratischer Geistesfreiheit und mit seinem Kampf gegen die kulturelle Reaktion in der Weimarer Republik. Erkennbar ist diese zeitkritisch-aktualisierende Adaption der chinesischen Philosophie auch in seiner bekannten Formel ‚Wissen und Verändern‘, die auf die neokonfuzianische zhixing-Lehre verweist. Auf andere Weise war auch Gerhart Hauptmanns Interesse an China in den zwanziger und dreißiger Jahren ganz von der eigenen sozialen und geistigen Umgebung geprägt. Peter Sprengel zeigt in seiner Untersuchung von Hauptmanns Nachlass auf, wie umfangreich der in der Weimarer Republik hoch geachtete Autor die China-Literatur seiner Zeit zur Kenntnis genommen hat. Wie Döblin suchte auch Hauptmann in der chinesischen Philosophie nach Orientierung in der aktuellen politischen und kulturellen Krise. Allerdings folgte seine Rezeption einem konservativ-nationalistischen Diskurs. So fühlte Hauptmann sich vor allem von Ku HungMings Kritik an der westlichen Demokratie und Massengesellschaft angesprochen, in der er Anschlussmöglichkeiten für seine kulturkonservative Zeitkritik fand. Zudem sah er sich durch die antikolonialistische (insbesondere antibritische) Kritik an den ‚ungleichen Verträgen‘ von Autoren wie T’ang Leang-Li in seiner eigenen Kritik an den Versailler Verträgen bestätigt. Wie stark sich Hauptmanns Aktualisierung chinesischer Philosophie von der Döblins unterschied, wird daran deutlich, dass er das tao mit der nationalsozialistischen Gemeinschaftsideologie in Beziehung setzte. Eine ganz andere, populärkulturelle Variante der China-Perzeption untersucht Volker Mertens in seinem Beitrag über China auf der Musiktheaterbühne der zwanziger Jahre – in Aufführungen von Giacomo Puccinis Oper Turandot (1926) und von Franz Lehárs Operetten Die gelbe Jacke (1923) und Das Land des Lächelns (1929). China ist in diesen Werken einerseits eine exotische Kulisse; andererseits dient es als Folie, um aktuelle gesellschaftliche Konflikte im eigenen Land, insbesondere den Zusammenprall von Tradition und Moderne, zu verarbeiten. Dabei wird die chinesische Kultur zwar klischeehaft präsentiert, interessanterweise aber nicht als rückständig denunziert. Vielmehr werden traditionell als ‚chinesisch‘ codierte Charakterzüge, wie Selbstbeherrschung und Grausamkeit, psychologisiert und als allgemein menschlich vorgeführt. Mertens analysiert diese Aufwertung der chinesischen Protagonisten an der Titelheldin von Puccinis Turandot und der Figur des Prinzen Sou Chong im Land des Lächelns, der der berühmte Tenor Richard Tauber bei der Berliner Uraufführung 1929 seine Stimme lieh. Abweichend vom Stereotyp einer in Tradition erstarrten chinesischen Kultur entsteht hier das Bild einer Gesellschaft im Umbruch. Die Operette Das Land des Lächelns spielt 1910-12 und brachte also nicht mehr das alte, sondern das moderne China auf die Bühne. Auch wenn die Präsentation des fernen Landes darin noch stark klischeebehaftet ist, weist die historische Situ-
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ierung der Handlung im 20. Jahrhundert doch auf eine wichtige Veränderung hin, die sich in der deutschen Wahrnehmung Chinas nach dem Ersten Weltkrieg vollzog. Denn außer dem traditionellen China, dem Land der ‚alten Kultur‘, gelangte nun mehr und mehr auch das aktuelle China ins Blickfeld der deutschen Öffentlichkeit. Neben dem kulturkonservativen und nationalistischen bildete sich ein politischfortschrittlicher Chinadiskurs heraus. Dies hing zum einen mit der Entwicklung der Massenmedien und der Ausweitung der journalistischen Berichterstattung zusammen; und zum anderen damit, dass man sich auf linker und linksbürgerlicher Seite zunehmend für die revolutionäre Entwicklung in China interessierte. Sun Yatsens Reformprogramm, die antibritischen Proteste in Shanghai, die nationalrevolutionäre und die kommunistische Bewegung wurden auch in Deutschland aufmerksam verfolgt und provozierten auf kommunistischer Seite Solidarisierungen mit dem revolutionären China. War das moderne China zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch mit dem rassistischen Topos der ‚gelben Gefahr‘ perhorresziert worden, entstand in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre ein realistischeres, teilweise allerdings auch utopisch verzerrtes Bild des gegenwärtigen China. Gregor Streim zeichnet diese Wahrnehmungsveränderung an den China-Reisereportagen der Weimarer Republik nach, die einer breiten Leserschaft erstmals ein anschauliches Bild aus erster Hand von den aktuellen Entwicklungen in China vermittelten. Dabei wird auch deutlich, wie stark die Wahrnehmung des revolutionären China von den unterschiedlichen weltanschaulichen Positionen der Autoren geprägt war, die ihre eigenen politischen Utopien auf das fernöstliche Land projizierten. So erkannte Richard Huelsenbeck in Sun Yatsens Reformprogrammen das Vorbild einer antibürgerlichen Kulturrevolution, die die westliche Zivilisation überwindet. Arthur Holitscher dagegen konzipierte die chinesische Revolution als Synthese von Tradition und Moderne, von alter Kultur und kommunistischer Erneuerung, während Egon Erwin Kisch in seiner Beschreibung der traditionellen Kultur auf das Klischee des rückständigen Orient zurückgriff. Auch die sachlichberichtenden Reportagen, so zeigt sich hier, verwendeten oft noch orientalistische Elemente. Die Tendenz zur Exotisierung lässt sich auch in den – größtenteils wenig bekannten – China-Reiseberichten weiblicher Autoren wie Lina Bögli, Hannah Asch, Lili Körber und Vicki Baum ausmachen, die Almut Hille untersucht. Im Unterschied zu den männlichen Reiseschriftstellern beobachten die weiblichen Reisenden – auch mit Rücksicht auf die weibliche Leserschaft – vor allem den Alltag chinesischer Frauen. Allerdings bleibt die Betrachtung zumeist oberflächlich und klischeehaft. Auch sie ist bestimmt von dem Bemühen, in der Kontrastierung von eigener und fremder Kultur die Modernisierung im eigenen Land zu reflektieren. So wird die chinesische Frau in diesen Berichten implizit der emanzipierten ‚Neuen
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Frau‘ der Weimarer Republik gegenübergestellt und als unselbstständig beschrieben. Das gilt tendenziell auch für Vicki Baums Erfolgsroman Hotel Shanghai (1939), der das Aufeinandertreffen von chinesischer Tradition und westlicher Zivilisation als Stoff für einen Kolportageroman verwendet, dabei aber auch mit manchen Klischees bricht. Auf die Vielschichtigkeit von Baums Hotel Shanghai weist Inge Stephan in ihrem Beitrag hin, der den Roman in den Kontext literarischer Darstellungen des Exils einordnet. Stephan zeigt, dass Shanghai bei Baum auch als Spiegel der krisenhaften Entwicklungen in Europa und Amerika fungiert, insofern die Autorin an diesem Ort Heimatlose aus aller Welt zusammentreffen lässt. Als einer der ersten Texte erinnert der Roman dabei an das Schicksal der deutschen Juden, die in den dreißiger Jahren nach Shanghai auswanderten. Es handelt sich hierbei um ein lange vergessenes Kapitel deutscher Exilkultur, das erst in den neunziger Jahren wiederentdeckt wurde – auch weil die Erinnerungen der Zeitzeugen erst spät publiziert wurden. Mit Ulrike Ottingers Dokumentarfilm Exil Shanghai (1997) und Ursula Krechels Roman Shanghai fern von wo (2008) untersucht Stephan zwei neuere, zwischen Faktualität und Fiktionalität changierende Auseinandersetzungen mit dem Shanghaier Exil und verortet sie im Kontext der jüngeren deutschen Erinnerungskultur. So kommt am Ende des Bandes auch unsere heutige – von modischen Einflüssen nicht freie – China-Wahrnehmung in den Blick. Die Beiträge dieses Bandes gehen zurück auf eine interdisziplinäre Tagung mit dem Titel Annäherung der Außenseiter? Kulturelle Wechselbeziehungen zwischen Deutschland und China in der Zwischenkriegszeit, die vom 9. bis 10. Juli 2010 an der Freien Universität Berlin stattfand und in Kooperation mit dem Zentrum für Deutschlandstudien (ZDS) an der Peking Universität veranstaltet wurde. Allen am Zustandekommen der Tagung und des Bandes beteiligten Personen und Institutionen sei an dieser Stelle herzlich gedankt. Unser Dank gilt insbesondere dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), der sowohl die Tagung als auch die Drucklegung des Tagungsbandes durch seine finanzielle Unterstützung erst möglich gemacht hat. Bedanken möchten wir uns auch bei Katharina König und Georg Dickmann für ihre Mithilfe bei der Organisation der Tagung bzw. der Einrichtung der Manuskripte für diesen Band. Almut Hille Gregor Streim
Arnd Bauerkämper
Kulturtransfer und Barrieren zwischen China und Deutschland in der Zwischenkriegszeit Theoretische und methodische Überlegungen aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive
Prozesse transnationalen und interkulturellen Transfers sind ein komplexer Untersuchungsgegenstand. Sie umfassen die grenzüberschreitende Übertragung von materiellen Gütern, aber auch von Wissen, Denkformen, Wahrnehmungsmustern und Ideen. Dabei ist das Verhältnis zwischen kulturellem Austausch und den jeweils vorherrschenden außenpolitischen Beziehungen zwischen Staaten grundsätzlich ambivalent. So schließt scharfe Abgrenzung auf der offiziellen Ebene der diplomatischen Beziehungen grenzüberschreitende Kulturtransfers keineswegs aus. Umgekehrt ist politische Gegnerschaft im 20. Jahrhundert wiederholt mit positiven gegenseitigen Wahrnehmungen, wechselseitigem Austausch, Verflechtungen und vereinzelt sogar mit Lernprozessen einhergegangen, auch während der globalen Konfrontation im Kalten Krieg.1 Zudem ist in analytischer Hinsicht davon auszugehen, dass sich Transfers im Allgemeinen selektiv vollziehen, da selten ein Modell unverändert übernommen bzw. einfach adaptiert wird. Darüber hinaus müssen Interferenzen oder Vorgänge der bewussten Abwehr und Zurückweisung in Rechnung gestellt werden. Kulturelle Wechselbeziehungen sind ergebnisoffen und die damit verbundenen Prozesse reversibel. Studien zum Kulturtransfer sollten daher nicht unreflektiert vom Erfolg der Übertragung ausgehen, sondern ebenso Abwehrmechanismen untersuchen. Allerdings setzt auch die Zurückweisung von Transferversuchen wechselseitige Wahrnehmungen voraus. Solche Wahrnehmungen können eine „ansteckende“ Wirkung entfalten, die zwar nicht zur Verflechtung führen muss, aber doch die Suche nach 1 Zur historischen Perzeptionsanalyse vgl. die grundlegenden Überlegungen von Gottfried Niedhart: Selektive Wahrnehmung und politisches Handeln. Internationale Beziehungen im Perzeptionsparadigma, in: Internationale Geschichte. Themen – Ergebnisse – Perspektiven, hg. v. Wilfried Loth u. Jürgen Osterhammel, München 2000, S. 159–185, hier bes. S. 144f. Zu Transfers im Kalten Krieg vgl. Jost Dülffer: Europäische Zeitgeschichte – Narrative und historiographische Perspektiven, in: Zeithistorische Forschungen 1 (2004), S. 51–71, hier S. 60, 66, 70; ders.: Europa im Ost-WestKonflikt 1945–1990, München 2004, S. 134f.
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einer Lösung gemeinsamer – beispielsweise industriegesellschaftlicher – Herausforderungen anregen kann.2 Ausgehend von diesen Vorüberlegungen wird im Folgenden zunächst die Entwicklung der Beziehungen zwischen Deutschland und China in der Zwischenkriegszeit rekonstruiert und das bilaterale Verhältnis konturiert. Der anschließende Abschnitt ist der Explikation wichtiger Fragestellungen und Dimensionen der interdisziplinären Forschung zu kulturellen Beziehungen gewidmet. Die methodologisch-theoretischen Überlegungen berücksichtigen besonders Befunde und Erkenntnisse historischer Studien und beziehen diese jeweils exemplarisch auf das Verhältnis zwischen Deutschland und China in der Zwischenkriegszeit. Wie hier argumentiert wird, wurde dieses nicht nur von politischen und staatlichen Entscheidungsträgern, sondern auch von anderen gesellschaftlichen Akteuren maßgeblich geprägt. So entstand ein grenzüberschreitender Kommunikations-, Erfahrungs- und Handlungsraum, der zwar vielfach begrenzt war, aber doch über die offiziellen zwischenstaatlichen Beziehungen hinausreichte. Der Beitrag schließt mit weiterführenden Überlegungen zur Analyse kultureller Beziehungen, Transfers und Verflechtungen. 1. Die Signatur der Epoche: deutsch-chinesische Perspektiven auf die Zwischenkriegszeit Die Zwischenkriegszeit stellte sich aus chinesischer und deutscher Perspektive durchaus unterschiedlich dar. Studien zum Kulturtransfer müssen berücksichtigen, dass in der chinesischen Geschichte andere Zäsuren zu setzten sind als in der deutschen. Die Umbrüche, welche die Bereitschaft zur Anverwandlung fremder Vorbilder im Allgemeinen begünstigten, begannen in China schon in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Die Niederschlagung des Aufstandes der Yihetuan (Boxer) durch die imperialistischen Mächte, die im Spätsommer 1900 den Kaiserpalast (die Verbotene Stadt) geplündert hatten, diskreditierte die Verteidiger des Status quo in der Bürokratie am kaiserlichen Hof, die noch zwei Jahre zuvor die Hundert-Tage-Reform der Gelehrten um Kang Youwei und Liang Qichao abgewehrt hatten. Sogar die mandschurische Qing-Dynastie, die durch die Machtübernahme der Kaiserin-Witwe Cixi 1861 weiter an Legitimität verloren hatte, bekannte sich mit der Neuen Politik (xinzheng) zu Reformen, die deutlich über die Bewegung zur ‚Selbststärkung‘ 2 Vgl. die Überlegungen in Manfred Hildermeier: Osteuropa als Gegenstand vergleichender Geschichte, in: Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, hg. v. Gunilla Budde, Sebastian Conrad u. Oliver Janz, Göttingen 2006, S. 117–136, hier S. 135.
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des späten 19. Jahrhunderts hinaus gingen und unter anderem die Neuordnung der Bürokratie und die Modernisierung des Militärwesens nach deutschem und japanischem Vorbild umfassten. Mit der Xinhai-Revolution, die als Militärrevolte in den Provinzen begonnen hatte, stürzte 1911 schließlich die kaiserliche Herrschaft, die über verschiedene Dynastiewechsel hinweg seit 221 v. Chr. bestanden hatte. In der neuen Republik forcierte Sun Yatsen schließlich die Parlamentarisierung, in deren Kontext in allen Landkreisen jeweils eine beratende Versammlung eingerichtet und 1912 erstmals eine Verfassung erlassen wurde. Diese Parlamentarisierung scheiterte jedoch 1913/14; die Herrschaft zerfiel im Konkurrenzkampf korrupter Cliquen. Gleichzeitig bemühte sich der neue Militärdiktator Yuan Shikai, der zuvor als kaiserlicher Gouverneur gedient hatte, um eine Reintegration des kollabierenden Landes. Nach einer Revolte hoher Offiziere gegen Shikai ging die Macht 1916 an regionale Militärbefehlshaber (warlords) über. 1917 trat China, das bereits seit Kriegsbeginn Tausende Kulis für britische oder französische Truppeneinheiten bereit gestellt hatte, dann auf der Seite der Entente in den Krieg ein. Damit verband die Elite des Landes vor allem die Hoffnung, die Niederlagen revidieren zu können, die China in den Kriegen gegen Frankreich (1885) und gegen Japan (1895) erlitten hatte. Zudem sollte nach dem Ersten Weltkrieg die Kolonialherrschaft der westlichen Mächte abgeschüttelt werden, die durch die Niederschlagung des Boxeraufstandes nochmals gefestigt worden war. Der Vertrag von Versailles entzog diesen Erwartungen 1919 allerdings die Grundlage; die frühere deutsche Kolonie Qingdao, die bereits 1914 von Japan erobert worden war, konnte nicht zurück gewonnen werden. Nachdem die chinesische Delegation die Friedenskonferenz in Versailles mit leeren Händen verlassen hatte, bildete die Erhebung vom 4. Mai 1919 eine wichtige, in vieler Hinsicht einschneidende Zäsur in der chinesischen Geschichte.3 Mit ihr begann in China die Zwischenkriegszeit. Angesichts der Demütigung bei den Friedensverhandlungen mobilisierte die Vierte-Mai-Bewegung den chinesischen Nationalismus gegen die Kolonialmächte, ohne dass damit die westliche Demokratie und Wissenschaft als Vorbilder gänzlich verworfen wurden. Vielmehr verband sich die Wendung gegen die imperiale Herrschaft mit einer Kritik an chinesischen Traditionen. Die Massenproteste, die am 30. Mai 1925 Studenten und Geschäftsleute im Protest gegen die Einschränkungen der Souveränität Chinas durch die (seit 1842 bestehenden) ‚ungleichen 3 Jürgen Osterhammel: Shanghai, 30. Mai 1925. Die chinesische Revolution, München 1997, S. 25f., 29, 32, 56–58, 138f., 151–153, 157; ders.: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 800, 807f., 815, 899; Helwig Schmidt-Glintzer: Kleine Geschichte Chinas, München 2008, S 171f., 186. Hierzu und zum folgenden auch detaillierter: Helwig Schmidt-Glintzer: Das neue China. Von den Opiumkriegen bis heute, 3. Aufl., München 2004, S. 30–55.
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Verträge‘ verbanden, stellten erstmals die Privilegien der westlichen Mächte grundlegend in Frage. Zwei Jahre später zerbrach das Bündnis, das Chiang Kaishek 1923/24 zwischen seinen nationalrevolutionären Guomindang (GMD) und den chinesischen Kommunisten geschlossen hatte. Beide Gruppen bekämpften sich fortan in einem Bürgerkrieg, der 1934 in der Vertreibung der Kommunisten aus Zentralchina, ihrem ‚langen Marsch‘ (changzheng) und der Zerschlagung ihres Jiangxi-Sowjets durch GMD-Truppen gipfelte. Die europäischen Mächte und die Vereinigten Staaten von Amerika überließen China in dieser Zeit der japanischen Vorherrschaft, die sich schon 1931/32 mit der Annexion der Mandschurei durch den aufsteigenden fernöstlichen Militärstaat deutlich abzeichnete. Mit dem japanischen Überfall auf den Norden Chinas begann im Fernen Osten im Grunde bereits der Zweite Weltkrieg.4 Nach einem Zwischenfall auf der Marco-Polo-Brücke in der Nähe von Peking im Sommer 1937 entwickelte sich schließlich ein offener Krieg zwischen Japan und China. Dabei verübten die japanischen Streitkräfte – vor allem in Nanjing Ende 1937 und Anfang 1938 – zahlreiche Massaker an der chinesischen Zivilbevölkerung. Angesichts der Bedrohung durch die vorrückenden kaiserlichen Truppen schlossen die Nationalrevolutionäre Chiang Kai-sheks und die Kommunisten Mao Zedongs vorübergehend einen Waffenstillstand. Der Überfall Japans ging nahezu bruchlos in den Zweiten Weltkrieg über, der im Pazifik mit dem Angriff auf die amerikanische Flotte in Pearl Harbor auf Hawaii am 7. Dezember 1941 begann. Insgesamt können die Jahre von 1900 bis 1949 (als sich die kommunistische Volksbefreiungsarmee durchsetzte) als eine revolutionäre Epoche der chinesischen Geschichte gefasst werden, der rund 42 Millionen Menschen zum Opfer fielen.5 Wenn man die deutsch-chinesischen Kulturtransfers richtig verstehen will, darf man nicht nur das bilaterale Verhältnis betrachten. Vielmehr müssen die Beziehungen zwischen beiden Ländern in einem multilateralen Interaktions- und Transaktionsverhältnis analysiert werden. Wichtig ist etwa, dass China 1920 in den Völkerbund aufgenommen wurde. Obgleich es weiterhin in einer kolonialen Position verblieb und in der internationalen Politik auch in den zwanziger und dreißiger Jahren nur eine untergeordnete Rolle spielte, wertete die Integration in die Völkergemeinschaft das Land symbolisch auf. Zudem nutzten die chinesischen Eliten die Möglichkeiten, die ihnen die Mitwirkung in den Kommissionen des Völkerbundes boten, um den Einfluss ihres Landes sukzessive auszuweiten. Dazu sollte nicht zu4 Vgl. z.B. Gerhard Schreiber: Der Zweite Weltkrieg, 4. Aufl., München 2007, S. 9f. 5 Osterhammel: Shanghai (wie Anm. 3), S. 29; Schmidt-Glintzer: Das neue China (wie Anm. 3), S. 56–70. Zum Massaker in Nanjing: Uwe Makino: Terror als Eroberungs- und Herrschaftstechnik. Zu den japanischen Verbrechen in Nanking 1937/38, in: Kriegsverbrechen im 20. Jahrhundert, hg. v. Wolfram Wette u. Gerd R. Ueberschär, Darmstadt 2001, S. 343–355.
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letzt die Aufnahme und Aneignung westlicher Konzepte von Modernisierung dienen, die den chinesischen Fortschrittsdiskurs auch in sprachlicher Hinsicht beeinflussten.6 So war der deutsch-chinesische Ideentransfer in den zwanziger Jahren in weiter reichende grenzüberschreitende Netzwerke integriert, die sich auch auf die Vereinigten Staaten von Amerika erstreckten. Beispielsweise wurde der von John Dewey geprägte pragmatische Liberalismus in China breit rezipiert. Zudem nahmen chinesische Akteure westliche Konzepte vielfach indirekt auf dem Umweg über Japan auf. Auch mit dem Deutschen Reich entwickelte sich in dieser Zeit ein reger Austausch, allerdings durchweg in einem engen Wechselverhältnis mit anderen westlichen Staaten. China wurde auf diese Weise zu einem Laboratorium der Moderne, bevor die japanische Expansionspolitik und die damit verbundenen internen Auseinandersetzungen – vor allem zwischen der Guomindang und den chinesischen Kommunisten – diese Initiativen unterbanden.7 Waren die deutsch-chinesischen Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen, die im Folgenden vorrangig behandelt werden, in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts noch hierarchisch strukturiert gewesen, so kam es in Folge der Niederlage des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg einerseits und der Zurückweisung chinesischer Ansprüche auf der Konferenz von Versailles andererseits zu einer Annäherung im bilateralen Verhältnis und zu egalitäreren Formen wissenschaftlicher Kooperation. Die Bewunderung für Deutschland hielt in China an; allerdings warnten chinesische Vermittler auch vor einer unreflektierten und ungebrochenen Imitation deutscher Vorbilder. Obgleich der Einfluss der Vereinigten Staaten und Großbritanniens in dem fernöstlichen Land nach dem Ersten Weltkrieg (trotz der chinesischen Enttäuschung über den Versailler Vertrag) auf Kosten Deutschlands zunahm, blieb das Interesse an deutscher Kultur und Wissenschaft in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren beachtlich. Dabei zielten chinesische Mediatoren vor allem auf eine grundlegende Erneuerung ihres Heimatlandes. Das beste Beispiel dafür ist der Bildungspolitiker Cai Yuanpei, der 1908–1912 (mit einer einjährigen Unterbrechung) an der Universität Leipzig studiert hatte und nach seiner Rückkehr zunächst Bildungsminister in der provisorischen Regierung Sun Yatsens wurde. Als Rektor der Peking Universität reformierte er in den Jahren von 1917–1923 dann die wissenschaftliche Arbeit an dieser Hochschule, indem er
6 Vgl. Schmidt-Glintzer: Kleine Geschichte Chinas (wie Anm. 3), S. 186–213. 7 Deutsch-Chinesische Beziehungen 1911–1927. Vom Kolonialismus zur „Gleichberechtigung“. Eine Quellensammlung, hg. v. Mechthild Leutner, verfasst v. Andreas Steen, Berlin 2006, S. 404, 456, 470, 505. Zum Kontext vgl. Sabine Dabringhaus: Mao Zedong, München 2008, S. 29–43.
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Abb. 1: Cai Yuanpei (1868–1940)
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Abb. 2: Carl Heinrich Becker (1876– 1933)
weitgehende Wahlfreiheit für die Lehrveranstaltungen und eine universitäre Selbstverwaltung einführte.8 Gelegentlich rekrutierten die chinesischen Behörden sogar gezielt deutsche Zivilberater, wie Gustav Amann, der im Auftrag der Guomindang-Regierung wiederholt nach Deutschland reiste, um dort Unternehmen für konkrete Projekte in China zu gewinnen. Zugleich bemühte sich Amann um den Aufbau neuer Betriebe in seinem Gastland. Darüber hinaus nutzte China seine Zugehörigkeit zu Hilfsorganen des Völkerbundes, wie der Organisation für Geistige Zusammenarbeit, um das eigene Bildungssystem weiter zu entwickeln. Deutsche Berater – wie der frühere Preußische Kultusminister Carl Heinrich Becker, der 1931 eine Erziehungskommission des Völkerbundes nach China führte – trafen dabei auf konkurrierende Einflüsse der amerikanischen Reformpädagogik, deren Stellenwert in den chinesischen Modernisierungsprojekten nach der Jahrhundertwende gestiegen war. Die deutschen Vermittler des Kulturtransfers im Bildungs- und Wissenschaftssektor 8 Yi Huang: Der deutsche Einfluss auf die Entwicklung des chinesischen Bildungswesens von 1871– 1918. Studien zu den kulturellen Aspekten der deutsch-chinesischen Beziehungen in der Ära des Deutschen Kaiserreichs, Frankfurt/M. 1995, S. 209–217; Deutsch-chinesische Beziehungen 1911–1927 (wie Anm. 7), S. 486, 496, 506, 527.
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lehnten aber selber eine einfache ‚Europäisierung‘, ‚Amerikanisierung‘ oder sogar ‚Germanisierung‘ Chinas ab. Daher entwickelten sich im grenzüberschreitenden Austausch zumeist Hybridformen. So wies die 1932 verabschiedete Gesetzgebung für die Erneuerung des Bildungssystems in China ebenso amerikanische, britische und deutsche Einflüsse wie auch endogene chinesische Elemente auf.9 Während die deutsche Wissenschaft und Kultur in China in der Zwischenkriegszeit weithin als Vorbild galt, blieb die Wahrnehmung des Reichs der Mitte in Deutschland ambivalent. Vor allem im nationalistischen Diskurs dominierte weiterhin die Vorstellung von einem halbzivilisierten China, die schon den deutschen Kolonialismus legitimiert hatte. Das Konzept der eigenen zivilisatorischen Überlegenheit war dabei mit Alteritätskonstruktionen, die auf die hoch entwickelte, ‚alte Kultur‘ Chinas abhoben, durchaus vereinbar. Im Topos von der ‚Gelben Gefahr‘ verband sich die Furcht vor der Mobilisierung Chinas mit einem ausgeprägten Antibolschewismus und Antisozialismus. Die Mischungsverhältnisse dieser Wahrnehmungen waren dynamisch und dem Wandel der politisch-kulturellen Konstellationen zwischen den beiden Staaten unterworfen. So färbte sich das deutsche Chinabild zunehmend negativ, als das nationalsozialistische Deutschland unter dem Einfluss des neuen Außenministers Joachim von Ribbentrop 1938 zunehmend Japan unterstützte, um Hitlers Expansionskrieg in Europa zu abzusichern. Damit wurde China erneut zu einem Objekt deutscher Machtpolitik. Der kulturelle und wissenschaftliche Austausch ging nun deutlich zurück. Hinzu kam, dass die Lebenshaltungskosten für chinesische Studenten in Deutschland in dieser Zeit viel höher waren als während der Inflationszeit in den frühen zwanziger Jahren.10 2. Methodologisch-theoretische Probleme der Analyse der kulturellen Beziehungen und Transfers zwischen Deutschland und China Nachdem das lange dominierende nationalhistorische Paradigma zunächst von vergleichenden Studien abgelöst worden war, sind in der Geschichtswissenschaft seit 9 Susanne Kuß: Entsendung einer Erziehungskommission des Völkerbundes unter Vorsitz von Carl Heinrich Becker nach China (1931). Deutsche Einflüsse auf die Reorganisation des chinesischen Erziehungswesens, in: Politik, Wirtschaft, Kultur. Studien zu den deutsch-chinesischen Beziehungen, hg. v. Mechthild Leutner, Münster 1996, S. 187–223; Marlies Linke: Einige Anmerkungen zu den deutschen Zivilberatern in China: Das Beispiel Gustav Amann, in: Politik, Wirtschaft, Kultur. Studien zu den deutsch-chinesischen Beziehungen, hg. v. Mechthild Leutner, Münster 1996, S. 259–269. 10 Deutschland und China 1937–1949. Politik, Militär, Wirtschaft, Kultur. Eine Quellensammlung, hg. v. Mechthild Leutner, bearb. von Wolfram Adolphi u. Peter Merker, Berlin 1998, S. 53–102, hier S. 53, 64; Deutsch-Chinesische Beziehungen 1911–1927 (wie Anm. 7), S. 420, 486, 495, 517, 522, 534.
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den 1990er Jahren verstärkt Konzepte der interdisziplinären Forschung zu Beziehungen, Transfers und Verflechtungen aufgegriffen worden. Während komparative Studien im Allgemeinen mehrere Vergleichsfälle zur „Analyse und Typisierung der Unterschiede und der Gemeinsamkeiten“ gegenüberstellen, versteht man unter „Transfer“ vorrangig „die Anverwandlung von Konzepten, Werten, Normen, Einstellungen, Identitäten bei der Wanderung von Personen und Ideen zwischen Kulturen und bei der Begegnung zwischen Kulturen.“11 Transfers können so eng werden, dass aus ihnen Verflechtungen hervorgehen. Im Hinblick auf den Austausch zwischen Deutschland und China in der Zwischenkriegszeit erscheint insbesondere das von Christiane Eisenberg entworfene Konzept einer ‚prozessorientierten Kulturtransferforschung‘ weiterführende Perspektiven zu eröffnen. Es geht erstens von der Anforderung aus, in Studien zu diesem Problemfeld zunächst die Differenz zwischen eigener und fremder Kultur zu akzeptieren, um sie im Rahmen einer historischen Tiefenanalyse erklären zu können. Über diese konsequente Historisierung hinaus muss zweitens zwischen Form und Inhalt von Kulturen unterschieden werden. Damit soll in Rechnung gestellt werden, dass eine spezifische soziale Form im Kulturtransfer mit anderen Inhalten gefüllt werden oder umgekehrt ein- und derselbe Inhalt in verschiedene Formen gegossen werden kann. Drittens ist die Eigendynamik sozialer Formen zu untersuchen, die in fremden Kontexten neue Bedeutungen oder Funktionen annehmen. Und viertens ist die Perzeption des Fremden weiterführend als soziales Handeln zu fassen.12 Studien zu transnationalen bzw. interkulturellen Transfers widmen sich explizit den Wechselbeziehungen zwischen zwei oder mehr analytischen Einheiten. Sie rekonstruieren und analysieren die Übertragung und Aneignung von Objekten (besonders Güter, Institutionen, Wissen, Normen und Werte) in und zwischen Kulturen. Darüber hinaus müssen die jeweiligen Vorbedingungen und die Bedürfnisse in den aufnehmenden Gesellschaften, die Vermittlungs- und Kommunikationsformen und die dafür genutzten Mediatoren und Medien untersucht werden, ebenso wie die Prozesse der (in der Regel selektiven) Aneignung oder Abwehr. Nicht zuletzt sind die Einpassung in fremde kulturelle Kontexte und die Ergebnisse dieser Anverwandlungsprozesse nachzuzeichnen und zu erklären.13 Diese analytischen Dimen11 Hartmut Kaelble: Die interdisziplinären Debatten über Vergleich und Transfer, in: Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, hg. v. Hartmut Kaelble u. Jürgen Schriewer, Frankfurt/M. 2003, S. 469–493, hier S. 472. 12 Christiane Eisenberg: Kulturtransfer als historischer Prozess. Ein Beitrag zur Komparatistik, in: Vergleich und Transfer (wie Anm. 11), S. 399–417, bes. S. 409–415. 13 Vgl. Michel Espagne u. Michael Werner: Deutsch-französischer Kulturtransfer im 18. und 19. Jahrhundert. Zu einem neuen interdisziplinären Forschungsprogramm des C.N.R.S., in: Francia 13 (1985), S. 502–510. Vgl. auch Von der Elbe bis an die Seine. Kulturtransfer zwischen Sachsen und
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sionen werden im Folgenden exemplarisch an den Kultur- und Wissenschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und China in der Zwischenkriegszeit aufgezeigt. Ausgangsbedingungen Transferuntersuchungen sind durch eine diachronische Anlage gekennzeichnet. Sie verfolgen den Prozess der Übertragung eines Objekt von einer Ausgangs- in eine Empfangsgesellschaft und eventuell auch Rückkopplungseffekte. Dabei sind zunächst die Ursachen des Transfers zu bestimmen. Inwieweit bestand in der abgebenden Gesellschaft ein Druck oder in der Aufnahmegesellschaft ein Anreiz zum Transfer? Die Enttäuschung über den Versailler Friedensvertrag intensivierte die Suche chinesischer Eliten nach westlichen Entwicklungsmodellen, die schon nach der Niederlage im Krieg gegen Japan, im Zuge der Bewegung zur ‚Selbststärkung‘ und der Hundert-Tage-Reform von 1898 sowie im Anschluss an das Scheitern des Boxeraufstands (1900) verstärkt rezipiert worden waren. Vor allem die Vereinigten Staaten avancierten in den zwanziger Jahren in China zu einem Modell effizienter und leistungsstarker politischer und ökonomischer Ordnung. Die gesteigerte Aufnahmebereitschaft gegenüber dem pragmatischen Liberalismus John Deweys schlug sich etwa im Engagement amerikanischer Stiftungen wie der Rockefeller Foundation nieder, die in den zwanziger Jahren vor allem die medizinische Versorgung, Bildung und Forschung in China nachhaltig förderte. Der Transfer amerikanischer Zuwendungen und der damit verbundenen Formen des Wissens, wissenschaftlichen Arbeitens und Denkens ging allerdings stets mit chinesischen Abgrenzungsversuchen gegenüber der fremden Zivilisation einher. Britische und deutsche Vermittler, die einen Einflussverlust im Reich der Mitte verhindern oder zumindest verzögern wollten, bemühten sich nach Kräften, diese Skepsis ihrer chinesischen Partner zu verstärken. Dieser Befund verweist auf die Multilateralität des interkulturellen Verhältnisses.14 Chinesische Studierende, die in Deutschland gearbeitet und gelebt hatten, betonten aber auch die von ihnen wahrgenommene Kulturdifferenz zwischen China und Deutschland. Offenbar hatte die Niederlage des Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg die Vorbildfunktion Deutschlands deutlich abgeschwächt. So bemerkte Zhu De, der 1922 als Student nach Berlin gegangen war und dort der Gruppe der Kommunistischen Partei Chinas angehört hatte, in den dreißiger Jahren rückblickend: Frankreich im 18. und 19. Jahrhundert, hg. v. Michel Espagne u. Matthias Middell, Leipzig 1993, bes. S. 9–11. 14 Deutsch-chinesische Beziehungen (wie Anm. 7), S. 404, 454, 456.
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Die Tatsache, daß ein hochindustrielles Land wie Deutschland mit einer qualifizierten und disziplinierten, erstaunlich gebildeten und organisierten Arbeiterklasse im Krieg geschlagen werden konnte, überzeugte mich, daß es für China sinnlos war, es ihm nachmachen zu wollen.15
Vermittler und Kommunikationsprozesse Prozesse interkulturellen Transfers werden im Allgemeinen von konkreten Vermittlern getragen und oft auch initiiert. Dabei spielen Migranten und Remigranten eine wichtige Rolle. Die Vermittler sind oft in Netzwerken grenzüberschreitender Interaktionen und Transaktionen aufeinander bezogen; sie erfüllen dabei eine wichtige Brückenfunktion. Dazu benötigen sie eine genaue Kenntnis der jeweiligen Kultur und eine spezifische interkulturelle, vor allem fremdsprachliche Kompetenz. Oft sind sie sowohl in der abgebenden als auch in der empfangenden Kultur verwurzelt. Sie strukturieren transferiertes Wissen sozial und bringen zugleich ihre Rolle in den Prozess des Transfers ein. So trugen um 1900 in China rund 20.000 Kompradoren nicht nur den Handel mit westlichen Kaufleuten, sondern sie waren vielfach auch vertraglich verpflichtet, diesen Ausländern Kontakte zu binnenländischen Geschäftsleuten zu vermitteln.16 Die Akteure des Transfers werden von den Bedürfnissen und Erwartungen in ihrer Heimat wie auch von den Bedingungen in ihren Gastländern beeinflusst. So zog Deutschland nach dem Krieg chinesische Studierende nicht allein deshalb an, weil diese nach Vorbildern für die Entwicklung ihres Heimatlandes suchten (und dabei auf die tief verwurzelte Bewunderung deutscher Kultur in China rekurrierten), sondern auch wegen der günstigen Lebenshaltung während der Inflationszeit. Umgekehrt suchten viele Deutsche, die nach China migrierten, dort nach Vorbildern für die ersehnte geistig-politische Erneuerung des eigenen Landes. Dabei prolongierten kulturpessimistische Konservative das Ideal der ursprünglichen, ‚alten Kultur‘, um in Deutschland die Rückbesinnung auf traditionale Werte und Lebensformen zu fordern und zu fördern. Aber auch der Sinologe Eduard Erkes behauptete 1920, die chinesische Kultur sei „der europäischen in allem überlegen [...], was sittliche und gesellschaftliche Bildung, soziale und persönliche Moral heißt.“17 Kulturkonservative und sozialdemokratische Reformer grenzten sich auf diese Weise von den Exponenten der politischen Rechten in der Weimarer Republik ab, die ausschließ15 Deutsch-chinesische Beziehungen 1911–1927 (wie Anm. 7), S. 486. 16 Angabe nach Schmidt-Glintzer: Kleine Geschichte Chinas (wie Anm. 3), S. 176. Vgl. a. Osterhammel: Shanghai (wie Anm. 3), S. 18. 17 Zit. n. Deutsch-chinesische Beziehungen 1911–1927 (wie Anm. 7), S. 534.
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lich auf die Rückständigkeit Chinas abhoben. Kommunisten zielten demgegenüber mit dem Bild vom ‚erwachenden Koloss‘ auf einen Umsturz der sozioökonomischen und politischen Ordnung auch in Deutschland.18 Zuschreibungen von Alterität und eigene Ziele bzw. Zukunftshoffnungen waren auf diese Weise eng miteinander verwoben.19 Rezeptionsbedingungen Nachhaltig wirksame Prozesse interkulturellen Transfers setzen günstige Rezeptionsbedingungen im aufnehmenden Land voraus. Deshalb sind die spezifischen Rezipienten und Kontexte zu identifizieren und zu analysieren. Transferierte Güter, Institutionen, Ideen, Werte und Normen müssen von Personen und Gruppen aufgenommen werden. Dabei ist analytisch zu unterscheiden zwischen Akteuren, die an der Aufnahme, Adaption und Anverwandlung mitwirken, und solchen, die sich gegen diese Prozesse sperren. Oft vollziehen sich Aneignung und Übernahme neben Abwehr und Zurückweisung. Transfers sind also nicht nur vielschichtig und selektiv, sondern sie gehen auch mit Blockaden einher. Gelegentlich bildet sich sogar ein dialektisches Wechselverhältnis zwischen diesen Prozessen heraus. Diese Beobachtung lenkt die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung der Kontexte und Konstellationen, welche die Rezeption exogener Einflüsse und damit den Erfolg des Kulturtransfers begünstigen. Umbrüche – vor allem infolge militärischer Niederlagen, aber auch politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Krisen – haben die Bereitschaft zur Übernahme und Anverwandlung fremder Vorbilder im 20. Jahrhundert wiederholt kräftig erhöht. Dies trifft auf die Revolution in Russland 1917 ebenso zu wie auf die Umbrüche in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts (1918, 1933, 1945 und 1989/90), in denen die bisherige politisch-gesellschaftliche Ordnung diskreditiert wurde und tradierte Orientierungsrahmen zerfielen. In einer solchen Konstellation erhöhte sich jeweils die Empfänglichkeit für exogene Einflüsse, und damit stiegen die Chancen auf einen nachhaltigen Kulturtransfer. So suchte Cai Yuanpei nach der Niederlage Chinas gegen Japan 1895 nach Modellen, um den nationalen Wiederaufstieg seines Landes herbeizuführen. Wie sein Auslandsaufenthalt in Deutschland zeigt, waren dabei grenzüberschreitende Orientierungen und Transfers durchaus mit partikularen (nationalen) Zielen vereinbar. 18 Vgl. dazu a. den Beitrag von Gregor Streim in diesem Band. 19 Deutsch-chinesische Beziehungen 1911–1927 (wie Anm. 7), S. 414, 495f. Zur Entstehung dieser Vorstellungen vgl. Osterhammel: Shanghai (wie Anm. 3), S. 34f.
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Für den Verlauf des Kulturtransfers haben übergreifende Kräftekonstellationen eine zentrale Bedeutung. So führten die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und die Demütigung Chinas nach dem Ende des globalen Konfliktes zu einer Konvergenz der außenpolitischen Ziele und Interessen der beiden Staaten. Sie begünstigten damit auch den Kulturtransfer. Zudem war der Austausch zwischen China und Deutschland eng mit innenpolitischen Konflikten und innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen verwoben. So funktionalisierten chinesische Akteure deutsche Zivilberater, die sich in China aufhielten, für ihre Interessen. Diese Ratgeber, die – wie der bereits erwähnte Gustav Amann – in Deutschland für chinesische Projekte warben, wurden im Allgemeinen mit Einzelverträgen ausgestattet, um sie im innerchinesischen Konkurrenz- und Machtkampf gezielt für partikulare Ziele einsetzen zu können. Zugleich gerieten deutsche Berater in Konflikte, die in ihrem Heimatland geführt wurden. So verdächtigte das Auswärtige Amt Amann in den frühen dreißiger Jahren, deutsche Unternehmen im Wettbewerb um Aufträge gegeneinander auszuspielen und dadurch einseitig für deren chinesischen Kooperationspartner Partei zu nehmen.20 Die Wirkungen von Prozessen grenzüberschreitender Übertragung können deshalb ohne detaillierte Analysen der Rezeptionsvoraussetzungen und -bedingungen sowie der jeweils involvierten Akteure nicht angemessen interpretiert werden. Formen der Aneignung und Anverwandlung Neben den Bedingungen und Personen des Kulturtransfers muss die Forschung auch die Formen der Aneignung von Wissen, kulturellen Praktiken und der damit verbundenen Semantiken untersuchen. Dabei sind die Motive der Aufnahme bzw. Anverwandlung ebenso festzustellen und zu erklären wie die symbolische Kommunikation zwischen ‚fremder‘ und ‚eigener‘ Kultur. Zudem sind Filtereffekte zu beachten, da sich Kulturtransfers keineswegs nur linear und im bilateralen Verhältnis, sondern im Allgemeinen multilateral vollziehen. So erfolgte die Erneuerung der Geschichtswissenschaft in China nach 1918/19 weitgehend durch eine Rezeption der westlichen Historiographie über Japan. Ein Beispiel dafür ist der chinesische Historiker Fu Sinian (1896–1950), der in den frühen zwanziger Jahren in Berlin studiert hatte und nach seiner Rückkehr 1926 die Forschungsorientierung der chinesischen Geschichtswissenschaft im Rückgriff auf die historistische Lehre Leopold von Rankes vorantrieb. Rankes Werke hatte er vor allem über Ernst Bernheims Lehrbuch der historischen Methode und der Geschichtsphilosophie (1889) kennenge20 Linke: Anmerkungen (wie Anm. 9), S. 260, 267–269.
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lernt, das um 1900 auch in Japan die Geschichtsschreibung des deutschen Historismus vermittelte. Fu Sinian trug offenbar nachhaltig zur Aneignung einzelner Elemente dieser Lehre in China bei, nicht zuletzt dadurch, dass er ihn mit indigenen Traditionen wahrheitsgetreuer Darstellung und empirischer Beweisführung verband.21 Die lange Gewöhnung an diese wissenschaftlichen Grundsätze, die auch im Konfuzianismus verwurzelt sind, begünstigte in China die partielle Übertragung des deutschen Historismus. In der Regel wählten die Vermittler und Rezipienten also vor allem solche Wissenselemente aus, die mit den indigenen Bedingungen vereinbar schienen. Sie wurden dabei oft so gut in die neuen Kontexte eingepasst, dass sie letztlich als eigener Traditionsbestand erschienen; sie wurden ‚nostrifiziert‘. Wirkungen Im Allgemeinen verändert die Rezeption von Traditionen aus einem fremden Kulturbereich die empfangende Kultur, oft sogar nachhaltig. Von der Forschung können diese Folgen und Auswirkungen des Kulturtransfers durch vergleichende Analysen der empfangenden Gesellschaft vor und nach dem Prozess der Übertragung erfasst werden. Dabei sind die Ausgangslagen und die Bedingungen des Transfers ebenso zu untersuchen wie seine Folgen und Entwicklungsdynamiken. Insbesondere müssen Umdeutungen und Neucodierungen der jeweils indigenen Kultur nachgezeichnet und erklärt werden. In dieser Hinsicht ist mit Daniel Rodgers zwischen „transnational borrowings and imitation, adaptation and transformation“ zu unterscheiden.22 Auch beim Kulturtransfer zwischen Deutschland und China verbanden sich fremde Einflüsse und indigene Traditionen. Aus den vielschichtigen und ambivalenten Prozessen der Übertragung und Aneignung gingen in der Regel Hybridformen hervor. So nahm die 1932 verabschiedete Gesetzgebung zur Reform des Bildungswesens im Reich der Mitte zwar amerikanische Impulse und Vorschläge des Untersuchungsberichts der von Carl Heinrich Becker geleiteten Erziehungskommission des Völkerbundes auf, verband diese aber mit chinesischen Traditionen. Während das Gesetz die Aufteilung der Primarschule in eine vierjährige Unterstufe und eine zweijährige Oberstufe fortschrieb, wurde die Sekundarschule nach amerikanischem Vorbild in eine Unterstufe ( Junior High School) und Oberstufe (Se21 Ying-Shih Yü: Überlegungen zum chinesischen Geschichtsdenken, in: Westliches Geschichtsdenken. Eine interkulturelle Debatte, hg. v. Jörn Rüsen, Göttingen 1999, S. 237–268; Georg G. Iggers u. Q. Edward Wang (with the assistance of Supriya Mukherjee): A Global History of Modern Historiography, Harlow 2008, bes. S. 216, 224f., 227. 22 Daniel Rodgers: Atlantic Crossings. Social Politics in a Progressive Age, Cambridge/Mass. 1998, S. 7.
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nior High School) aufgeteilt. Die chinesische Seite nahm die Empfehlungen der Erziehungskommission auch auf, indem sie die Einrichtung von Berufsschulen mit ein- bis sechsjährigen Kursen anordnete und Lehrerbildungsanstalten gründete.23 3. Fazit: Interaktionen und Netzwerke im asymmetrischen Kulturtransfer zwischen Deutschland und China Wie das Beispiel von Deutschland und China zeigt, werden im Transferprozess nationalstaatliche und kulturelle Differenzen keinesfalls eingeebnet. Denn die vermittelnden Akteure müssen stets den Voraussetzungen, Bedingungen, Traditionsbeständen und Erwartungen im jeweiligen Land gerecht werden. Vielfach vollzog sich die Aneignung schleichend, im Rekurs auf autochthone Traditionsbestände. Die Wirksamkeit dieser Adaptionsprozesse beruhte darauf, dass das aufgenommene Wissen nicht oder allenfalls partiell als fremdes Kulturgut erschien und so nostrifiziert wurde. Schließlich verweist die Erkenntnis, dass die Transfers in der Zwischenkriegszeit asymmetrisch verliefen, auf die Bedeutung von Machtkonstellationen als Handlungsrahmen. Konzepte wie ‚Akkulturation‘, ‚Hybridisierung‘ und ‚Symbiose‘ sollten diese Ungleichheit in Rechnung stellen. Da die historische Transferforschung vorrangig den Abbau der Distanz analysiert, geht sie oft unreflektiert von einem Erfolg des vorgeblich linear verlaufenden Prozesses aus. Wie die Untersuchung der Übertragungen zwischen Deutschland und China zeigt, wird dieser Prozess aber immer wieder durch Abwehrreaktionen gestört oder sogar blockiert. Vermittler passen nicht nur transferierte Güter in die jeweiligen Aufnahmekontexte ein, sondern sie profilieren durch Alteritätskonstruktionen auch eigene Traditionsbestände. So stabilisierte die Ablehnung des als fremd definierten und konzipierten deutschen Modells in den zwanziger und dreißiger Jahren in China die eigene Kultur und das damit verbundene Selbstverständnis. Die Vierte-Mai-Bewegung bildete hier Identität auch durch die Konstruktion von Alterität. Kulturvermittler konnten sogar zur Entstehung von Feindbildern beitragen. Im deutsch-chinesischen Verhältnis hat Austausch nicht nur zu gegenseitigem Verständnis und Annäherung, sondern wiederholt auch zu offener Feindseligkeit geführt. Kulturtransfer kann daher auch kritisch betrachtet werden; er verläuft keineswegs notwendig erfolgreich und ist in normativer Hinsicht durchaus ambivalent. Am historischen Beispiel Deutschlands und Chinas wird darüber hinaus deutlich, dass Transaktionsprozesse oft asymmetrisch sind. Obgleich das Machtgefälle nach dem Ersten Weltkrieg geringer war als vor 1914, blieben die Beziehungen un23 Kuß: Entsendung (wie Anm. 9), S. 215f.
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gleich. Die ‚asymmetrische Referenzverdichtung‘ die sich in der Imitation oder Abwehr anderer Bezugsgesellschaften niederschlug und in China im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreicht hatte, prägte auch die Zwischenkriegszeit, wenngleich weniger tiefgreifend als zuvor.24 In China war die Ti-yong-Formel, nach der westliche Kenntnisse für die Verwendung (yong) chinesischen Wissens als kulturelles Substrat (ti) genutzt werden sollten, weiterhin prägend.25 Dabei verliefen die Transfers, mit denen die vermittelnden chinesische Akteure auf die Stärkung und Mobilisierung eigener staatlicher Ressourcen zur Modernisierung ihres Landes zielten, oft über die Anverwandlung japanischer Institutionen, Konzepte und Ideen, die ihrerseits von westlichen Mächten beeinflusst worden waren. Analysen transnationaler oder interkultureller Netzwerke vermögen Transfers als ein (asymmetrisches) Interaktions- und Transaktionsverhältnis zu fassen, das in spezifische politische, gesellschaftliche und kulturelle Konstellationen ebenso eingebettet ist wie in historische Kontexte. Sie eröffnen damit eine ‚relationale Perspektive‘ auf die Geschichte des Verhältnisses europäischer Staaten zu außereuropäischen Räumen. Studien zu den interkulturellen Austauschprozessen zwischen Deutschland und China in der Zwischenkriegszeit vermitteln deshalb nicht nur neue historische Erkenntnisse, sondern damit auch vertiefte Einsichten in grenzüberschreitende Übertragungsprozesse, die sich gegenwärtig vollziehen.26
24 Zum Begriff der ‚asymmetrischen Referenzverdichtung‘ vgl. Osterhammel: Die Verwandlung der Welt (wie Anm. 3), S. 1293. 25 Osterhammel: Die Verwandlung der Welt (wie Anm. 3), S. 1293. 26 Sebastian Conrad u. Andreas Eckert: Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen: Zur Geschichtsschreibung der modernen Welt, in: Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, hg. v. Sebastian Conrad, Andreas Eckert u. Ulrike Freitag, Frankfurt/M. u. New York 2007, S. 7–49, hier S. 24. Hierzu auch aus der Perspektive der Geschichtsschreibung zu Europa die Überlegungen in Arnd Bauerkämper: Wege zur europäischen Geschichte. Erträge und Perspektiven der vergleichsund verflechtungsgeschichtlichen Forschung, in: Vergleichen, verflechten, verwirren? Europäische Geschichtsschreibung zwischen Theorie und Praxis, hg. v. Agnes Arndt u.a., Göttingen 2011, S. 33–60; ders., Europe as Social Practice: Towards an Interactive Approach to Modern European History, in: East Central Europe 36 (2009), S. 20–36.
Dagmar Yu-Dembski
West-östliche Spiegelungen Kulturbegegnungen in der Zwischenkriegszeit (Klabund – Lin Fengmian – Li Jinfa)
Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen war in China wie in Deutschland durch gewaltige politische und soziale Umbrüche gekennzeichnet, die die gegenseitige Wahrnehmung beeinflussten. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts suchten chinesische Intellektuelle nach Wegen, das Land politisch, sozial und kulturell zu reformieren. Als Reaktion auf die ungerechten Bedingungen des Versailler Friedensvertrags nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich 1919 in China die Vierte-Mai-Bewegung formiert, eine nationale Protestbewegung, mit der sich Studenten und Intellektuelle für die Modernisierung ihres Landes einsetzten. Während Anhänger der Nationalpartei und Kommunisten (1921 war die KP Chinas gegründet worden) um die politischen Zukunftskonzepte stritten, erblickten Politiker wie Cai Yuanpei (1868–1940) die Chance einer gesellschaftlichen Veränderung vor allem in der Reformierung des Bildungssystems. Cai Yuanpei, der in Deutschland studiert hatte, orientierte sich dabei an der westlichen Bildung. Die Auseinandersetzung mit der modernen Naturwissenschaft, Literatur und Kunst galt ihm als Voraussetzung für die Reform der jungen Republik. Durch Cais Engagement als Erziehungsminister erhielten junge Chinesinnen und Chinesen Stipendien und Unterstützung für ein Auslandsstudium. Auch in Deutschland war die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg von tief greifenden gesellschaftspolitischen Veränderungen geprägt. Die politische, wirtschaftliche und soziale Krise ging mit einer geistigen Krise einher. Die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs ließen viele Künstler und Intellektuelle an den abendländischen Werten sowie am Technik- und Fortschrittsglauben zweifeln. Bei der Suche nach neuer Orientierung richtete sich ihr Blick oft auf fernöstliche Lebensphilosophien. Inbegriff der Hoffnungen wurde China mit seiner jahrhundertealten Kulturtradition, den Weisheiten des Taoismus und des Yijing. Linke Künstler erkannten im jungen China und den sozialen Veränderungen dort ein Vorbild für eine revolutionäre Erneuerung im eigenen Land, wie Friedrich Wolf, der Autor des Theaterstücks Tai Yang erwacht, das 1931 von Erwin Piscator in Berlin inszeniert wurde.1 Den meis1 Der Dramatiker schrieb später über sein Stück, er habe „der deutschen gespaltenen Arbeiterschaft am Beispiel der tapferen chinesischen Klassengenossen einen Spiegel“ vorhalten und ihr zeigen
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ten galt China in dieser Zeit aber weiterhin als das Land der ‚alten Kultur‘ und der verfeinerten Lebensformen, wie es in Franz Léhars 1929 in Berlin uraufgeführter Operette Das Land des Lächelns besungen wurde.2 So ergab sich die paradoxe Situation, dass in Deutschland vor allem das klassische China, das Land der ‚ewigen Werte‘ und der Lyrik der Tang-Zeit (618–906 n. Chr.) gesucht wurde, während die junge Republik China moderne westliche Bildung und Philosophie aufnehmen wollte, um die gesellschaftliche Reform des eigenen Landes voranzutreiben. Diese aus unterschiedlichen Richtungen erfolgende Annäherung soll im Folgenden am Beispiel des deutschen Schriftstellers Klabund einerseits und der chinesischen Künstler Lin Fengmian und Li Jinfa andererseits beleuchtet werden. Die Annäherung vollzog sich unter dem Eindruck der künstlerischen Moderne und insbesondere des Expressionismus, der nicht nur mit der ästhetischen Tradition brach, sondern auch mit einer antibürgerlichen Lebensform einher ging. Thomas Anz betont die zivilisationskritische Tendenz der expressionistischen Moderne: „Kunst und Literatur der Moderne sind von der schockartigen Konfrontation mit dem sozialen Wandel nachhaltig geprägt. […] Der zuversichtlich fortschreitenden Zivilisation setzten sie Gedichte voller Skepsis, Angst und Verzweiflung entgegen.“3 In der Bildenden Kunst setzte Ernst Ludwig Kirchner dem „verknöcherten“ Kopieren eine lebendige Kunst, „das freie Zeichnen nach dem freien Menschen in freier Natürlichkeit“ entgegen.4 In ähnlicher Weise wollten sich auch die jungen chinesischen Künstler, deren Ausbildung auf das Nachahmen klassischer Meister ausgerichtet gewesen war, von den Zwängen traditioneller Kunstauffassungen lösen, eigene künstlerische Identitäten entwickeln, den Schritt in die westliche Moderne wagen und im Ausland neue Lebensformen kennenlernen. Klabund (1890–1928), eigentlich Alfred Henschke, war im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ein viel gelesener Autor. Bekannt wurde er als Dichter frecher Bänkellieder und frivoler Verse, der in Berlin ein antibürgerliches Bohème-Leben führte und die Obrigkeit mit seinen bissig-ironischen Texten gegen sich aufbrachte. Vor allem seine Nachdichtungen chinesischer Lyrik und sein Stück Der Kreidekreis wollen, „wie man kämpfen kann und wie man kämpfen muß.“ (Friedrich Wolf: Weshalb schrieb ich Tai Yang erwacht?, in: ders.: Aufsätze 1945–1953 (Gesammelte Werke in sechzehn Bänden, Bd. 16), Berlin u. Weimar 1968, S. 329–333, hier S. 332.) 2 Dagmar Yü-Dembski: Traum und Wirklichkeit. Rezeption und Darstellung Chinas in der Weimarer Republik, in: Exotik und Wirklichkeit. China in Reisebeschreibungen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hg. v. Mechthild Leutner u. Dagmar Yü-Dembski, München 1999, S. 53–65, hier S. 54. Vgl. a. den Beitrag von Volker Mertens in diesem Band. 3 Thomas Anz: Literatur des Expressionismus, Stuttgart 2010, S. 9. 4 Ulrike Lorenz: Brücke, Köln 2008, S. 8.
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hatten damals großen Erfolg, gerieten danach aber in Vergessenheit.5 In seiner 1917 geschriebenen Kleinen Selbstbiographie nimmt der in Crossen an der Oder geborene Dichter indirekt auf China und die chinesischen Philosophie Bezug, indem er auf das Dao (der Weg) anspielt: „Ich bin in der Mark geboren, aber früher lebte ich einmal in China und schrieb, mit einer großen Hornbrille betan, kleine Verse auf großen Seidenstreifen. Mein Weg ist noch weit. Wer mich eine Stunde begleiten will, soll mir willkommen sein.“6 Auch sein Pseudonym, zusammengesetzt aus Klabautermann und Vagabund, verweist auf die Idee steter Wandlung und steht damit im Zusammenhang mit seiner Rezeption des Taoismus und des Buchs der Wandlungen, des Yijing. Klabunds Bohème-Leben, sein Bruch mit der Tradition, war geprägt durch seine nicht heilbare Lungenkrankheit und einen obsessiven Lebensstil. Der Tod seiner ersten Frau, Brunhilde Heberle, die er im Lungensanatorium kennengelernt hatte und die wenige Monate nach ihrer Heirat im Oktober 1919 bei einer Frühgeburt starb, stürzte den jungen Dichter in tiefe Selbstzweifel und Schuldgefühle. In seiner Nachdichtung des Hafis, Der Feueranbeter, heißt es: Alles, was geschieht Ist mir Leid und Lied. Gott spielt auf der Harfe Trost sich zu. Welle fällt und steigt. Ach wie bald schon neigt Sich dein Haupt im Tod. Dann lächle du.7
Die fernöstlichen Philosophien, Buddhismus und Taoismus, lieferten ihm spirituelle Hilfe.8 Es war insbesondere der Buddhismus mit seiner Wiedergeburtslehre, der ihm Trost bot und ihn an die Lyrik Japans und Chinas heranführte. Bereits während des Ersten Weltkriegs hatte Klabund begonnen, chinesische Gedichte nach französischen Übersetzungen ins Deutsche zu übertragen. Bei einem Treffen mit Bruno Frank im Jahr 1915, bei dem sich die Schriftstellerfreunde gegenseitig die schönsten Stücke der Weltliteratur vorlasen, kam auch der Pavillon aus Porzellan mit Gedichten von Li Bai (Li Tai-peh, in der Übersetzung von Hans Bethge) zum Vortrag. 5 Ingrid Schuster, die sich mit den Nachdichtungen chinesischer Lyrik durch deutsche Dichter und Sinologen beschäftigt hat, bemerkt zu Klabunds Übertragungen: „Die Literaturkritik schätzt sie – wie Klabunds ‚eigene‘ Werke – nicht mehr hoch ein.“ (Ingrid Schuster: Klabund und die Sinologen, in: dies.: Faszination Ostasien. Zur kulturellen Interaktion Europa – Japan – China. Aufsätze aus drei Jahrzehnten, Bern 2007, S. 13–20, hier S. 13.) 6 Klabund: Werke in acht Bänden, hg. v. Christian von Zimmermann, Heidelberg 1998–2003, Bd. 8, S. 7. 7 Klabund: Werke in acht Bänden (wie Anm. 6), Bd. 7, S. 140. 8 „Die Kraft, die Klabund aus der taoistischen Lehre schöpfte, ermöglichte ihm auch die weitere Beschäftigung mit der chinesischen Lyrik.“ (Ruixin Han: Die China-Rezeption bei expressionistischen Autoren, Frankfurt/M. 1993, S. 146.)
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Klabund sei aufgesprungen und habe ausgerufen: „Das ist unglaublich schön. Nur muss man’s anders übertragen. Morgen gehe ich auf die Bibliothek“.9 Anstelle einer rhythmischen Metrik entschied sich Klabund bei seiner Übertragung für den klassischen Endreim. In Deutschland waren es vor allem expressionistische Autoren, die auf China aufmerksam wurden. Das ‚Chinesische‘ diente ihnen „zum parabolischen, exotisch verfremdenden Ausdruck eigner Befindlichkeiten und Standpunkte.“10.Die chinesische Lyrik mit ihrer Metaphorik, Motivik und Stimmung kam dem literarischen Expressionismus entgegen. Klassische Werke der Tang-Zeit sind bestimmt von der Besonderheit der chinesischen Sprache, der Einsilbigkeit der Wörter und dem Fehlen jeglicher Artikel, was zur Verknappung der Sprache und zur Konzentration des Ausdrucks (eine Silbe gleich ein Wort, ein Begriff ) führt. Der Vagantendichter Klabund bewunderte vor allem Li Bai (Li-tai-peh) und begeisterte sich für die rauschhafte Stimmung von dessen Trinkliedern.11 Ein typisches Beispiel der verknappten Sprache, die auch für den literarischen Expressionismus kennzeichnend ist, findet sich in den ersten Zeilen von Klabunds Li-Bai-Übertragung Improvisation: Wolke Kleid Und Blume ihr Gesicht. Wohlgerüche wehn, Verliebter Frühling!12
Im Original sind die Zeilen siebensilbig; und ein Vergleich mit anderen Übertragungen macht den Unterschied deutlich. Bei Hans Heilmann heißt es „Sieht er Wolken, denkt er an ihr Kleid; / Sieht er Blumen, denkt er an ihr Antlitz.“13 Auch Otto Hauser verwendet für seine Übertragung einen vollständigen Satz: „Die Wolken gemahnen an das Kleid. Die Blüten ans Angesicht.“14 Klabund kommt mit 9 Zit. n. Ruixin Han: Die China-Rezeption (wie Anm. 8), S. 134. 10 Eva Müller: Kunst und Politik. Deutsch-Chinesische Literaturbeziehungen seit den 20er und 30er Jahren, in: Deutschland und China. Beiträge des Zweiten Internationalen Symposiums zur Geschichte der deutsch-chinesischen Beziehungen, hg. v. Kuo Heng-yü u. Mechthild Leutner, München 1991, S. 253–264, hier S. 253. 11 In ihrer Doktorarbeit hat Ruixin Han die Übertragung chinesischer Gedichte mit den chinesischen Originalen verglichen. Sie beurteilt Klabunds Einfühlungsvermögen für chinesische Lyrik insgesamt durchaus positiv; der Dichter sei sich bewusst gewesen: „Lyrik kann man nicht übersetzen. Sie kann nur auf einer anderen Sprachebene neu gestaltet werden.“ (Ruixin Han: Die ChinaRezeption (wie Anm. 8), S. 136.) 12 Klabund: Werke in acht Bänden (wie Anm. 6), Bd. 7, S. 46. 13 Chinesische Lyrik vom 12. Jahrhundert v. Chr. bis zur Gegenwart, in dt. Übers. v. Hans Heilmann, München u. Leipzig 1905, S. 47; hier zit. n. Ruixin Han: Die China-Rezeption (wie Anm. 8), S. 170. 14 Gedichte. Li-Tai-Po, aus dem Chinesischen v. Otto Hauser, Großenhain 1906, S. 50, hier zit. n. Ruixin Han: Die China-Rezeption (wie Anm. 8), S. 170.
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seiner Übertragung und der Verknappung der Wörter dem chinesischen Vers besonders nah. Typisch für ihn ist die Aneinanderreihung einzelner Substantive, der Wegfall von Artikeln und das Fehlen eines übergeordneten Subjekts. Durch diese Reduzierung und Aufhebung der Redundanz wird der bildhafte Ausdruck komprimiert; Gefühlswelten und expressive Stimmungen werden verstärkt. „In dieser Hinsicht ist eine gewisse Affinität zwischen der expressionistischen und chinesischen Dichtung zu bemerken. Die Verknapptheit der Sprache, ‚Verdichtung bis zur Gefährdung der Verständlichkeit‘ […] äußerste Sparsamkeit des Ausdrucks gehören zu den wesentlichen Merkmalen der expressionistischen Lyrik.“15 Anz schreibt über die expressionistische Sprache: „Dem Expressionismus waren die Regeln der Syntax zu umständlich, er siebte gleichsam die Sätze so lange, bis nur noch die wichtigsten Wörter übrig blieben.“16 Auch inhaltlich lassen sich Gemeinsamkeiten zwischen chinesischer und expressionistischer Lyrik feststellen, etwa die Thematisierung von Jugend, Alter, Leben, Tod und Rausch.17 Beispielhaft für Klabunds Begeisterung für japanische und chinesische Lyrik sind seine Übersetzungen von Li Bais Trinkliedern, die Anklänge an seine frechen Vagantenverse aufweisen, wie etwa Der ewige Rausch oder Trunkenes Lied, aus dem die folgenden Zeilen stammen. Ich will meine Schuhe in Zahlung geben; Ich muß noch manchen Becher durch die Kehle seiben, Ich kann ja auf allen Vieren nach Hause streben, Meinetwegen will ich auch ewig hier liegen bleiben.18
Klabund, der keine direkten Erfahrungen mit China hatte, eignete sich seine Kenntnisse der chinesischen Literatur und Philosophie durch Übersetzungen an. Dass sein Interesse an der chinesischen Sprache nicht nur oberflächlich war, beweist sein Nachwort zu dem Gedichtband Dumpfe Trommel und berauschtes Gong, in dem er sich zu deren Merkmalen äußert: „Die chinesische Sprache besteht aus lauter einsilbigen Worten, die kurz und prägnant ohne Bindung aneinandergereiht werden. Mond steht Berg. Glanz über Wald. Ferne Flöte. Mädchen tanzt. Gelbe Seide. Dies (etwa) ist die Fiktion eines chinesischen Gedichts. Nur: daß der Reim fehlt. Die chinesischen Gedichte reimen sich.“19 Die beiden Dissertationen, die Klabunds Übertragungen mit dem chinesischen Original vergleichen, weisen darauf hin, dass es bei Li Bais Trinkliedern nicht um 15 Fritz Martini: Was war Expressionismus?, Urach 1948, S. 91; hier zit. n. Ruixin Han: Die ChinaRezeption (wie Anm. 8), S. 171. 16 Anz: Literatur des Expressionismus (wie Anm. 3), S. 155. 17 Vgl. Anz: Literatur des Expressionismus (wie Anm. 3), S. 158. 18 Klabund: Gesammelte Werke in acht Bänden (wie Anm. 6), Bd. 7, S. 177. 19 Klabund: Gesammelte Werke in acht Bänden (wie Anm. 6), Bd. 7, S. 33.
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den Rausch des Weins geht.20 Seine Gedichte seien vielmehr Ausdruck von Resignation und Trauer über die Vergänglichkeit des Lebens. In ihnen fänden Melancholie und Leiden ihren poetischen Ausdruck: „Hinter dem Genuß des Weines verbirgt sich häufig eine düstere Stimmung, die durch Heimweh und Einsamkeit bedingt ist.“21 Klabunds Texte sind daher weniger Übersetzungen als eigener poetischer Ausdruck, der jedoch in seiner verknappten, expressiven Sprache der chinesischen Lyrik ähnelt. Klabunds Auswahl und Adaption chinesischer Themen – das bekannteste Beispiel ist sein äußerst erfolgreiches Stück Der Kreidekreis (1925) – erfolgte in Hinblick auf ihre Eignung zum Ausdruck eigener Vorstellungen und Stimmungen. Nach dem Ersten Weltkrieg kamen im Rahmen des Werk-Studium-Programms zahlreiche junge Chinesen zum Studium nach Europa, unter ihnen Lin Fengmian und sein Freund Li Jinfa, die in Frankreich Malerei und Bildhauerei studierten. Lin Fengmian (1900-1991), der bereits im Alter von sechs Jahren von seinem Vater Unterricht in klassischer Malerei erhalten hatte, begann 1921 ein Kunststudium in Dijon und ging dann an die Pariser Ecole Nationale Supérieure des Beaux Arts, wo zum damaligen Zeitpunkt ein naturalistischer Malstil vermittelt wurde. „Er liebte die feine Zeichnung, die er in seiner Jugend nicht erlernt hatte. Mit vollem Ernst lernte er die naturgetreue Darstellungsweise und die verschiedenen Maltechniken, die für sein Studium wichtig waren.“22 Gleichzeitig beschäftigte er sich – wie sein Kommilitone Li Jinfa – mit den Werken von Baudelaire, Valéry und Verlaine und entdeckte Goethe, Schiller, Schopenhauer und Nietzsche. Die Vielfalt der geistigen Eindrücke, die neuen künstlerischen Entwicklungen und die rebellischen, unkonventionellen Lebensformen stürzten mit derartiger Wucht auf den jungen Chinesen ein, dass er an seinem Studium zweifelte und tief verunsichert wurde. Erst als Lin in den Pariser Museen für Ostasiatische Kunst das kulturellen Erbe Chinas entdeckte, fand er seinen eigenen künstlerischen Weg: die Verbindung der chinesischen Kunsttradition mit zeitgenössischen westlichen Kunstauffassungen. Er entwickelte seinen eigenen Kunststil und löste sich immer stärker von den Vorbildern des klassischen Realismus. Malerei bedeutete für ihn, eine eigene Bildsprache zu entwickeln, mit der er seine Gefühle und Stimmungen ausdrücken konnte. Ein Ansatz, wie ihn auch die deutschen Expressionisten vertraten und wie er der chinesischen Kunstauffassung fremd war. 20 Vgl. Ruixin Han: Die China-Rezeption (wie Anm. 8), S. 97; u. Kuei-Fen Pan-Hsu: Die Bedeutung der chinesischen Literatur in den Werken Klabunds. Eine Untersuchung zur Entstehung der Nachdichtungen und deren Stellung im Gesamtwerk, Frankfurt/M. 1990, S. 164. 21 Ruixin Han: Die China-Rezeption (wie Anm. 8), S. 150. 22 He Hua: Bild & Seele. Lin Fengmian und seine Malerei. Eine Kulturverbindung zwischen China und Europa, Heidelberg 2006, S. 32.
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Abb. 3: Lin Fengmian, Li Jinfa und Lin Wenzheng vor der Siegessäule in Berlin, 1923
Abb. 4: Lin Fengmian, 1926
Sein Interesse an europäischer Kunst und Kultur und an allem Neuen führte Lin 1923 nach Berlin, wo er gemeinsam mit seinen Kommilitonen Li Jinfa und Lin Wenzheng bei einem pensionierten Offizier zur Untermiete wohnte. Ein verblasstes Foto zeigt die drei Studienfreunde vor der Siegessäule.23 In Berlin entstand 1923 auch das erste seiner vom deutschen Expressionismus beeinflussten Werke, Berliner Café (Bolin kafeiguan). Die Kunsthistorikerin Ursula Toyka-Fuong hält es für das vermutlich älteste chinesische Gemälde mit einem deutlich auf Deutschland bezogenem Sujet. Über den Einfluss des deutschen Expressionismus auf Lins Werk schreibt sie: „Im gleichen Jahr entstand sein bekannter weiblicher Akt in den knalligen Farben der Fauves und schnittigen schwarzen Konturlinien ähnlich den Handschriften Erich Heckels und Ernst Ludwig Kirchners.“24 Sie vermutet sogar, 23 Vgl. dazu Dagmar Yu-Dembski: Chinesen in Berlin, Berlin 2007, S. 33f.; u. Dagmar Yu-Dembski: Aufbruch in die künstlerische Moderne. Der Maler Lin Fengmian (1900–1991), in: das neue China 37 (2010), H. 2, S. 16–19, hier S. 17. 24 Ursula Toyka-Fuong: Nach dem Pinselkrieg, in: Zeitschrift für Kultur-Austausch 48 (1998), H. 4, S. 74.
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Abb. 5: Lin Fengmian: Fischfang, 1939 (Tuschzeichnung, 34 x 34,2)
dass einige Arbeiten Kirchners in ihrer kompositorischen und farblichen Reduktion auf einen Einfluss der chinesischen Malerei schließen lassen. Ist doch auch die chinesische Tuschmalerei von dem Gegensatz von Leere und Konzentration geprägt. Lins Berliner Café, das leider während der Kriegswirren in China verloren ging und von dem nur noch eine Fotografie aus dem Katalog einen schwachen Eindruck gibt, ist vermutlich von Kirchners 1913–1915 entstandener Serie Straßenszenen beeinflusst. Zwei Drittel des Bildes werden von den gebauschten Kleidern zweier eleganter Damen eingenommen, während im Hintergrund einige Gäste beim Plaudern zu sehen sind.25 Lins frühe Arbeiten, die gerade durch ihre intensive Farbigkeit gekennzeichnet sind, 25 Vgl. dazu Yu-Dembski: Chinesen in Berlin (wie Anm. 23), S. 34.
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Abb. 6: Lin Fengmian: Stillleben, 1940er Jahre (Tuschzeichnung, 67,5 x 68)
lassen sich heute lediglich anhand der körnigen Schwarz-Weiß-Abbildungen zeitgenössischer Kataloge rekonstruieren. Während seiner Berliner Zeit lernte Lin seine spätere Frau Elise von Roda kennen, mit der er Konzerte, Galerien und Kaffeehäuser besuchte. Wenn ihnen der Trubel in der Großstadt zu viel wurde, flohen sie ans Meer, wo sie die Ursprünglichkeit des einfachen Lebens und der Natur genossen. Auch Kirchner wird diese Sehnsucht nach Authentizität nachgesagt, die er weitab vom Großstadtleben in den Fischerdörfern der Ostsee und der Insel Fehmarn suchte.26 In Lins Berliner Zeit entstanden mehrere seiner großformatigen Ölgemälde. Lang Shaojun nennt in seiner Biogra26 Vgl. Lorenz: Brücke (wie Anm. 4), S. 18.
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phie neben dem Berliner Café auch noch Berliner Kaffeehaus, Berlinrausch, Nach dem Gewitter und Fischerdorf nach dem Sturm.27 Die Abbildung des letzten Werkes, leider nur in Schwarz-Weiß, zeigt mehrere Fischerfrauen mit ihren Kopftüchern; die expressive Spannung findet ihren Ausdruck in den langen, weiten Röcken. Ähnlich wie das Klabunds wurde auch Lins Leben von dem tragischen Tod seiner ersten Frau überschattet, die 1924 kurz nach der Heirat in Frankreich bei der Geburt ihres Kindes starb. Eine seiner Arbeiten mit dem Titel Das Leiden drückt seine tiefe Trauer und Verzweiflung aus. Die melancholische Stimmung lässt sich an vielen seiner frühen Arbeiten erkennen. 1927 entstand das Ölgemälde Humanität, 1934 das Bild Trauer, beide mit ineinander verknäulten, übereinander geschichteten, sich aneinander drängenden nackten menschlichen Leibern.28 Der Einfluss des westlich-expressiven Kunststils zeigt sich auch noch an den holzschnittartigen Frauenakten, die nach Lins Rückkehr nach China in den 1930er Jahren entstanden. Erst seit den 1980er Jahren wird Lin als Wegbereiter der modernen Kunst anerkannt, der die Schule der Modernisten begründete. Ebenso wie die Expressionisten, die sich über malerische Konventionen hinwegsetzten, suchte Lin Fengmian einen neuen Kunststil, der sich von der klassischen Landschafts- und Figurenmalerei absetzte. Die Verbindung der kraftvollen Farbgebung und der bis zur Abstraktion gehenden Formenreduktion der modernen westlichen Malerei mit chinesischen Motiven führte zu einer eigenen Kunstrichtung, die als Fengmian-Stil bezeichnet wird. Nach seiner Rückkehr nach China im Jahr 1926 wurde Lin zum Leiter der Nationalen Kunstakademie in Hangzhou ernannt. Es war die „erste staatliche Einrichtung ihrer Art in China, die eine moderne Kunsterziehung westlichen Stils anbot.“29 Er erhielt die Aufgabe, eine zeitgemäße chinesische Kunst zu entwickeln und die chinesische Kultur mit der westlichen Moderne zu verbinden, da die chinesische Kunst als erstarrt, belanglos und unproduktiv galt, ohne Bezug zur Gegenwart. Aufgrund seiner Erfahrungen in Europa setzte er sich für eine freie und schöpferische Kunstausbildung ein. „Dezidiertes Ziel war es, aus der Synthese östlicher und westlicher Elemente eine zeitgemäße und vitale Bildsprache zu entwickeln.“30 Um die Idee einer ‚ästhetischen Kunsterziehung‘ durchzusetzen, holte er Gastdozenten aus Europa an die Akademie, ebenso wie Studienkollegen aus seiner Zeit in Frankreich, unter anderen Lin Wenzheng für westliche Kunstgeschichte und Li Jinfa für Bildhauerei.
27 Lang Shaojun: Lin Fengmian, Hebei 2002, S. 45. 28 Lang Shaojun: Lin Fengmian (wie Anm. 27), Abb. S. 53. 29 Ken Lum: Aesthetic Education in Republican China: A Convergence of Ideals. Gleichklang der Ideale: Ästhetische Erziehung im republikanischen China, in: Shanghai Modern 1919–1945, hg. v. Jo-Anne Birnie Danzker, Ken Lum u. Zheng Shengtian, Ostfildern-Ruit 2004, S. 216–233, hier S. 218. 30 Toyka-Fuong: Nach dem Pinselkrieg (wie Anm. 24), S. 74.
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Li Jinfa (1900–1976) hatte wie sein Freund Lin zunächst in Dijon und Paris an den Kunstakademien studiert. Er wandte sich vom Studium der Bildhauerei ab und beschäftigte sich mit westlicher Literatur. Unter dem Einfluss französischer Lyriker wie Baudelaire und Verlaine begann er 1920, eigene Gedichte zu verfassen, in denen er Techniken des französischen Symbolismus aufnahm. In seinen Versen thematisierte er Liebe, Tod und Vergänglichkeit und verwendete düstere Metaphern, in denen sich ein freudloses und melancholisches Lebensgefühl ausdrückte. Während seines Aufenthaltes in Berlin stellte er die Gedichtsammlung Nieselregen (Weiyu) zusammen, die 1925 in China publiziert wurde. Ein Teil dieser frühen Arbeiten wurde unter dem Titel Gefühle in der Zeitschrift Orientierungen in der Übersetzung von Harald Jeschke publiziert. Qifu (Die Verstoßene) entstand 1922 in Dijon und wurde in einer chinesischen Zeitschrift veröffentlicht. Der Literaturwissenschaftler Sun Yushi, der in seiner Einführung in die moderne chinesische Literatur Li Jinfas Gedichte untersucht hat, bezeichnet das Gedicht Die Verstoßene als herausragendes Beispiel des chinesischen Symbolismus, das ganz eindeutig von Baudelaires Blumen des Bösen beeinflusst sei.31 Langes Haar verhängt meine Augen, feindselige Blicke von Abscheu und Scham hält es fern, auch den raschen Fluß frischen Blutes, den tiefen Schlaf verblichener Knochen. Dunkle Nacht und Insekten vereint kommen langsam, überwinden den Rand der niederen Mauer, hemmungslos kreischen sie in meine unschuldigen Ohren, wie das Tosen des Sturmwinds in der Einöde: Ungezählte Nomaden läßt es erbeben. An einen Strohhalm geklammert irre ich mit Gottes Seele im leeren Tal, meine Schwermut, einzig dem Hirn der Wanderbiene prägt sie sich ein, vielleicht entspringt sie und strömt mit der Gebirgsquelle am Abgrund, dann, mit dem roten Laub, verschwindet sie ganz. [...].32
31 Sun Yushi: Zhongguo xiandai shi daodu [Einführung in die moderne Lyrik Chinas], Beijing 1990, S. 63. 32 Li Jinfa: Gefühle. Aus dem Chinesischen von Harald Jeschke, in: Orientierungen 11 (1999), H. 2, S. 66.
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Auffällig und für die chinesische Lyrik ganz untypisch ist die unterschiedliche Länge der Strophen und Zeilen. Wie in der modernen europäischen Lyrik werden die subjektiven, häufig von Melancholie und Ennui geprägten Stimmungen und Gefühle durch morbide Bilder wie „verblichene Knochen“ illustriert. Das lyrische Ich sieht sich von Feindseligkeit umgeben und irrt an Gräbern entlang. Diese Ichzentrierte Haltung ist der chinesischen Lyrik fremd. Auffällig sind auch die Bilder der „Wanderbienen“ und „Nomaden“, welche dem Gefühl der Heimatlosigkeit und Unsicherheit Ausdruck geben, das der Autor gut kannte. Mit dem Verzicht auf eine strenge Versordnung, der morbiden und erotischen Metaphorik und der kontrastierenden Bildsprache übernimmt der Dichter Elemente der modernen europäischen Lyrik. Die ersten Verszeilen nehmen das Motiv des Todes und der Vergänglichkeit auf. Wie die Baudelaires thematisiert die Lyrik Lis Müdigkeit, Vergänglichkeit und Melancholie. In seinem Gedicht Lebensmühsal (shengzhi pifa) verwendet er an einer Stelle sogar das französische Wort morosité (Verdrießlichkeit): „‘Deine morosité kann ich nicht verstehen…‘ / goldener Sonnenschein / auf Sandbank schlafend.“33 Ein anderes Gedicht, das Li Jinfa 1922 (vermutlich für seine deutsche Geliebte) schrieb, trägt den Titel Zärtlichkeit (wenrou) und gehört zu den vier in Berlin verfassten Liebesgedichten.34 Viel direkter als in chinesischer Liebeslyrik üblich beschreibt der Dichter darin seine erotischen Phantasien: Mit meinen frechen Fingerspitzen fühle ich die Hitze deiner Haut, ein Rehkitz verliert sich im Wald, in dem nur tote Blätter rascheln.35
Der Literaturwissenschaftler Sun Yushi weist in seiner Analyse auf den Gegensatz von „freche Fingerspitzen“ und „tote Blätter“ hin, durch den der Autor seine erotische Anspielung wieder zurücknimmt bzw. nur noch andeutet – ein Rückzug auf die klassische chinesische Lyrik. Der Autor scheint in der westlichen Welt die Orientierung verloren zu haben. Die Ambivalenz seiner Haltung, zwischen westlicher sexueller Obsession und traditioneller lyrischer Zurückhaltung, in der für Frauen das zarte Bild der Pfirsichblüte oder Orchidee verwendet wird, tritt auch in den ersten beiden Zeilen der dritten Strophe zutage: „Lust verheißt dein Augenzwinkern / wie ein Metzger das Schlachten bedeutet.“ Li Jinfa, der nach seiner Rückkehr in die Heimat 1928 auch ein ABC der deutschen Literatur verfasste und neben fran33 Wu Huanzhang: Zhongguo xiandai da liupai shixuan [Ausgewählte Werke der modernen Lyrik Chinas], Shanghai 1989, S. 176f. (Übersetzung v. D. Yu-Dembski.) 34 Sun Yushi: Zhongguo xiandaizhuyi shichao shilun [Zur Geschichte moderner Strömungen in der chinesischen Dichtung], Beijing 1999, S. 96. 35 Li Jinfa: Gefühle (wie Anm. 32), S. 61.
West-östliche Spiegelungen
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zösischer Lyrik auch Heinrich Heine übersetzte, trug ebenso wie sein Kommilitone Lin Fengmian in China zum west-östlichen Kulturtransfer bei. Auf den Einfluss des Autors auf die moderne chinesische Dichtkunst bis hin zur heutigen ‚obskuren Lyrik‘ weist auch die Sinologieprofessorin Eva Müller hin: „Li trug wesentlich zur Modernisierung der chinesischen Lyrik bei, der Bruch mit hergebrachten lyrischen Stilmitteln, krasse Elliptik, dunkle Metaphern, ungewohnte Ideenassoziationen und unharmonische Verse erschwerten jedoch die Rezeption in China.“36 Am Beispiel der drei Künstler, die unter dem Einfluss der europäischen Moderne mit traditionellen Kunstauffassungen brachen und nach neuen, subjektiven Ausdrucksformen suchten, lassen sich die Möglichkeiten einer west-östlichen Annäherung erkennen. Auf der einen Seite ließen sich expressionistische Lyriker durch die klassische chinesische Poesie anregen, wie man an der Verknappung und Verdichtung der lyrischen Sprache Klabunds beobachten kann. Auf der anderen Seite sahen Künstler, Maler wie Lin Fengmian und der Dichter Li Jinfa, westliche Kunstauffassungen als Chance, Chinas traditionsgebundene Kultur zu reformieren und so den Aufbruch in die Moderne zu gestalten. Die Kunstentwicklung in der chinesischen Republik wurde so in starkem Maße durch die Künstler geprägt, die zu ihrem Studium nach Europa gegangen waren.37 Nach seiner Rückkehr in die Heimat und in seiner Funktion als Kunsterzieher an der Akademie in Hangzhou gründete Lin den Künstlerverband ‚Vereinigung Kunstbewegung‘. Zentrale Ziele waren: „Die Einführung westlicher Kunst, die Reform traditioneller Kunst, die Versöhnung von chinesischer und westlicher Kunst, die Schaffung zeitgenössischer Kunst.“38 Allerdings waren seine Bemühungen angesichts der politischen Verhältnisse und des Einmarschs der japanischen Armee in China zum Scheitern verurteilt. Ken Lum schreibt dazu: „In Anbetracht der allgemeinen Not agierte die Kunst zwangsläufig in einem komplexen und oft widersprüchlichen Feld. Der Moderne verpflichtete chinesische Künstler wie […] Lin Fengmian sahen sich in ihren künstlerischen Bemühungen ständig von wachsendem sozialen Elend, 36 Eva Müller: Li Jinfa, in: Lexikon der chinesischen Literatur, hg. von Volker Klöpsch u. Eva Müller, München 2004, S. 165. 37 Vgl. dazu Xu Jiang: The ‚Misreadin‘ of Life. Die ‚Missdeutung‘ des Lebens, in: Shanghai Modern 1919–1945 (wie Anm. 29), S. 72–83, hier S. S 76: „Lin und andere Studenten, die in Übersee studierten, waren […] gewiss vom kulturellen und geistigen Klima Berlins fasziniert und von den revolutionären Ideen der Zeit und den expressionistischen Vorstellungen beeinflusst, insbesondere auch vom gesellschaftsreformerischen Impetus und Gemeinschaftsgeist des Bauhauses in den Anfängen der Weimarer Republik, einer damals nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa weit verbreiteten Tendenz.“ 38 Zit. n. Jo-Anne Birnie Danzker: Shanghai Modern, in: Shanghai Modern (wie Anm. 29), S. 18–71, hier S. 24.
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mangelnder gesellschaftlicher Anerkennung und wirtschaftlicher Unterstützung in Frage gestellt.“39 Nicht nur die politischen Verhältnisse verhinderten die ‚Annäherung der Außenseiter‘ in der Zwischenkriegszeit; die chinesischen Künstler waren auch untereinander uneins. Zwischen Traditionalisten und Modernisten wurden heftige Debatten über eine eher westliche oder chinesische Ausrichtung der Kultur geführt, wie der öffentliche Briefwechsel zwischen dem Maler Xu Beihong und dem Lyriker Xu Zhimo aus dem Jahr 1929 belegt.40 Die Mehrzahl der chinesischen Künstler und Intellektuellen trat dabei für eine nationale Kultur ein, die den klassischen Vorbildern eng verbunden bleiben sollte.
39 Ken Lum: Aesthetic Education (wie Anm. 29), S. 222. 40 Der unter den Überschriften Ich bin ‚verwirrt‘ und Auch ich bin verwirrt geführte Briefwechsel ist abgedruckt im Anhang des Katalogs Shanghai Modern (wie Anm. 29), S. 382–386.
Michael Jaeger
Sturm und Drang in China Goethe und die Vierte-Mai-Bewegung
Die dem Selbstbewusstsein der Moderne zugrundeliegende Fortschrittsidee, hervorgegangen aus der Krise der alt-europäischen Überlieferung und aus der darauf antwortenden Programmatik der Französischen Revolution, findet einen bildhaften Ausdruck in Hegels philosophischer Geographie der Weltgeschichte, darin der Weg des Weltgeistes zur Vollendung der Vernunft eingezeichnet ist: Die Weltgeschichte geht von Osten nach Westen, denn Europa ist schlechthin das Ende der Weltgeschichte, Asien der Anfang. [...] Für die Weltgeschichte ist ein Osten kat’ ν vorhanden [...]. Hier geht die äußerliche physische Sonne auf, und im Westen geht sie unter: dafür steigt aber hier die innere Sonne des Selbstbewußtseins auf, die einen höheren Glanz verbreitet. Die Weltgeschichte ist die Zucht von der Unbändigkeit des natürlichen Willens zum Allgemeinen und zur subjektiven Freiheit.1
Während Hegel in Nürnberg, Heidelberg und Berlin seine enzyklopädischen Vorlesungen über die nur im Westen zu sich selbst kommende Vernunft konzipierte, entwarf Goethe in Weimar unter dem Titel West-östlicher Divan einen Gedichtzyklus, in dessen Zentrum die allem Superioritätsdenken abholde Idee einer das Bewusstsein erweiternden und befreienden Begegnung gleichermaßen bedeutender Kulturen steht. Wollte man also Goethes kritische Distanz zum perfektibilistischen Prozessdenken der modernen Geschichtsphilosophie gleichfalls in ein literarisches Bild bringen, so muss man sich den Dichter auf seiner ideellen Wanderung in den Osten vorstellen. In genauer Umkehrung der West- und, wie es die Geschichtsteleologie Hegels will, Vorwärtsbewegung des Weltgeistes, nicht zuletzt auch auf der Flucht vor dem in Europa anbrechenden Zeitalter des Nationalismus, begibt sich Goethe auf Morgenlandfahrt. Die poetische Reiseunternehmung endet 1830 in jenen allem Weltlärm entzogenen Natur- und Meditationsgefilden, die ein weiterer west-östlicher Gedichtzyklus unter dem Titel Chinesisch-deutsche Jahres- und Tageszeiten evoziert. Die Kontemplation des fernöstlichen „Blumenreichs“ stiftet abseits der europäischen Revolutionsära und ihrer Goethe so erschreckenden Bewegungs1 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 12, Frankfurt/M. 1970, S. 134.
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faszination scheinbar unerschütterliche Sicherheit: „Getrost! Das Unvergängliche, / Es ist das ewige Gesetz, / Wonach die Ros’ und Lilie blüht.“2 In der weiterblickenden historischen Perspektive jedoch scheint auch einem im Osten angekommenen Goethe nur eine kurze Ruhepause gegönnt zu sein, bevor das bislang von der Welt abgeschottete Riesenreich von den Bewegungsenergien des im 19. Jahrhundert globale Ausmaße annehmenden Modernisierungsprozesses erfasst wird. Verfolgen wir nämlich die Spuren, die Goethe bereits im 19. Jahrhundert in China hinterlassen hat, gelangen wir in die finale Krise des chinesischen Kaiserreichs. Hier treffen wir auf Ku Hung-Ming (1856–1928), einen hohen Beamten und Berater chinesischer Gouverneure und Mandarine. Wie zahlreiche andere Angehörige der höheren Beamtenschicht hatte Ku Hung-Ming in England, Frankreich und Deutschland studiert. Zurückgekehrt nach China, war er als Sekretär des Gouverneurs Zhang Zhidong tätig und als solcher verfasste Ku Hung-Ming um die Jahrhundertwende sein Buch Aufzeichnungen eines Beraters aus der Residenz des Gouverneurs Zhang. Darin heißt es: Ohne Eile, ohne Stagnation wie das Gestirn am Himmel wirken und die Tugend verbessern, um sich dem Ren [d.i. die fundamentale Kategorie und Tugend des Konfuzianismus, vergleichbar dem Tao der Taoisten, M.J.] anzunähern. Der hervorragende westliche Weise namens Ete [d.i. Goethe, M.J.] ging in einer anderen Richtung zu demselben Ziel wie Konfuzius. In China wie in dem Abendland hat man den gleichen Weg. Wie lehrreich sein [Goethes, M.J.] Spruch: sich immer strebend bemüht! Das Tao liegt also den Menschen nah, und in China wie in dem Abendland gibt es nur ein und dasselbe Tao.3
I. Goethe-Konfuzius Ku Hung-Ming scheint auf chinesischer Seite der Erste gewesen zu sein, der aufgrund genauer Textkenntnisse Goethe mit Konfuzius vergleicht, eine Verbindung, die während des 20. Jahrhunderts in China noch häufig wiederholt wurde. Bemerkenswert ist das Goethe-Zitat Ku Hung-Mings, spricht er doch jene Verse aus Goethes Faust-Tragödie an, die man ansehen kann als literarisches Symbol für den revolutionären Bruch, der im 19. Jahrhundert in Europa die Überlieferung von der Moderne trennt: „Wer immer strebend sich bemüht / Den können wir erlösen.“4 Fausts spezifisch modernes Projekt, seine gigantische Unternehmung der Eindei2 Johann Wolfgang von Goethe: Werke, Hamburger Ausgabe, durchges. Ausg. 1988, Bd. 1, München 1988, S. 390. 3 Zit. n. Wuneng Yang: Goethe in China (1889–1999), Frankfurt/M. 2000, S. 20. 4 Johann Wolfgang Goethe: Faust. Eine Tragödie, hg. v. Albrecht Schöne, Frankfurter Ausgabe, Bd. 7/1, 4. Aufl., Frankfurt/M. 1999, V. 11936f.
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chung und Trockenlegung des Meeresbodens, sollte ursprünglich die Selbsterlösung des Menschen und die zweite menschengemachte Schöpfung ins Werk setzen, eine prometheische Rebellion, die indessen am Ende des Dramas in der Bergschluchtenszenerie der Engelschor wieder zurücknimmt oder doch vermittelt mit einer ewigen, dem menschlichen Zugriff entzogenen Ordnung des ‚Ewig-Weiblichen‘. „Wer immer strebend sich bemüht“, so die Botschaft der Engel, „den können wir erlösen“, im Sinne von: ‚und nur wir können das!‘ Widerrufen wird also im mystischen Finale der Tragödie die revolutionäre Selbstermächtigungsvision Fausts, der doch als Kolonisator von Natur und Überlieferung, durch Arbeit und Arbeitsorganisation und mithin allein aus eigenem Heils-„Plan“ und eigenem Willen, eine nun offenbar erlösungsbedürftige „Erde mit sich selbst“ versöhnen wollte.5 Dem Kosmos des ‚Ewig-Weiblichen‘, den die Goethesche Mystik des Tragödienschlusses selbst schon synkretistisch auslegt, fügt Ku Hung-Ming einen neuen Aspekt hinzu: „Ein und dasselbe Tao“, so heißt es hinsichtlich der aufsteigenden Gedanken der „Bergschluchten“, gebe es „in China wie in dem Abendland“.6 Wohl zweifeln wir in dieser Perspektive auf den Faustschluss nicht daran, dass Goethe „zu demselben Ziel wie Konfuzius“ geht und dass auch Goethes Ethik Tugend begreift als Übereinstimmung menschlichen Wirkens mit jener Ordnung, die „das Gestirn im Himmel“ repräsentiert.7 Aber wir bemerken doch auch, dass es schon zu Goethes Zeiten – und Goethe wusste das! – ein hoffnungsloses, resignatives Unterfangen war, zu vermitteln zwischen der im Chorus mysticus besungenen Ordnung des ‚Ewig-Weiblichen‘, des Tao, des Ren oder welches spirituellen Kosmosprinzips auch immer im Sinne des universellen Synkretismus und jener ganz anderen neuen Ordnung, die das Projekt der Moderne, Fausts Projekt der Weltkolonisation, auf dem Wege der industriellen Produktion herstellt. Der unzeitgemäßen Position Goethes 1831 in Europa entspricht die Aussichtslosigkeit des Versuchs von Ku Hung-Ming, Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in China den alten konfuzianischen mit dem neuen Ordnungsbegriff der Moderne versöhnen zu wollen. Die geschichtlichen Situationen sind vergleichbar, weil sich mit einer gewissen Zeitverschiebung auch in China die von der industriellen Revolution herbeigeführte Verwandlung der Welt abspielt, die Goethe ein halbes Jahrhundert zuvor in Europa erlebt und im Faust dargestellt hat. Wir befinden uns in der Epoche des seit dem Opiumkrieg (1839–1842) zwischen China und England sich beschleunigenden Niedergangs des chinesischen Kaiserreichs. Dessen Verfall steht im Zeichen der drei Haupttendenzen des 19. Jahr5 Goethe: Faust (wie Anm. 4), V. 10227 u. 11541. 6 Zit. n. Yang: Goethe (wie Anm. 3), S. 20. 7 Zit. n. Yang: Goethe (wie Anm. 3), S. 20.
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hunderts: Kolonialismus, Imperialismus und Industrialisierung. Von allen Seiten drängen die fremden Mächte ins Land – Frankreich, England, Japan, die USA, das zaristische Russland und Deutschland –, um sich zunächst Häfen und Brückenköpfe, dann Handelsmonopole und Privilegien, Bodenschätze (Eisenerz, Kohle, Öl), Exportmärkte und gigantische Produktionsaufträge zu sichern: Russland baut die Transsibirische Eisenbahn, England die Peking-Hankou-Eisenbahn und Frankreich die Indochina-Bahn. Auf den Eisenbahn-, Kanal- und Hafenbaustellen, in Gestalt von Dampfmaschinen, Lokomotiven und Dampfschiffen wird die Dynamik des Modernisierungsgeschehens auf ganz konkrete Weise manifest. China selbst ist bei dieser Verwandlung der Welt im eigenen Land zum Zuschauen verurteilt, mangels eigener industrieller Potentiale, wegen fehlenden Kapitals und aufgrund der sogenannten ungleichen Verträge zwischen dem Kaiserreich und den Kolonialmächten ausgeschlossen von der profitablen ökonomischen Entwicklung.8 Aber nicht nur der Druck von außen prägt die Verfallsära des chinesischen Reiches. Im Inneren werden die alten Strukturen erschüttert von zahlreichen Aufständen gegen die Zentralgewalt des Kaiserhauses. Im Zuge der Niederschlagung solcher Rebellionen übernehmen die Generäle, ursprünglich der Quing-Dynastie loyal verbunden, über ganze Provinzen die militärische und politische Kontrolle. Unter den mächtigsten dieser Kriegsherren waren Zhang Zhidong (1837–1909) und Li Hongzhang (1823–1901), letzterer später ein einflussreicher Außenpolitiker Chinas und ein Bewunderer des Westens. Im Umfeld von Zhang Zhidong und Li Hongzhang bildete sich die Gruppe der sogenannten „Westler“, zu der auch Ku Hung-Ming gehört. Hier will man die Verteidigung Chinas gegen die kolonialistischen Demütigungen organisieren. Die praktischen Mittel für diesen Abwehrkampf sucht man, so die paradoxe Strategie, gerade im Westen. Das Schlagwort, unter dem sich die Reformbewegung formiert, lautet ‚Selbststärkung‘. Zwar will man Stärke gewinnen durch Teilhabe an den Errungenschaften der modernen Technik und Wissenschaft, aber zugleich soll die eigene chinesische Kultur in ihrer spezifisch konfuzianischen Gestalt erhalten bleiben. Die „Westler“ handeln unter der Devise, „die chinesischen Lehren [d.i. den Konfuzianismus, M.J.] als Kern beibehalten, die westlichen Wissenschaften zum Gebrauch übernehmen.“9 Realisiert wird das Programm der Selbststärkung zunächst in der Umgebung der mächtigen Militärführer, in den Akademien und Kadettenschulen ihrer Armeen. Nicht nur die Kadetten werden zur Ausbildung nach Frankreich und England ge8 Zu Chinas ‚Demütigungen‘ durch die Kolonialmächte vgl. Helwig Schmidt-Glintzer: Kleine Geschichte Chinas, München 2008, S. 153–163. 9 Yang: Goethe (wie Anm. 3), S. 16.
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schickt. Zum Studium nach Europa, in die USA und später vor allem nach Japan gehen seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts immer mehr Angehörige der jungen Generation aus der Beamtenschicht mit dem patriotischen Interesse, in der westlichen Welt die Mittel für die Selbststärkung Chinas zu gewinnen und dies keineswegs nur auf dem Felde der Technik und Naturwissenschaft, sondern eben auch im Bereich von Philosophie und Literatur. In diesen Zusammenhang gehört die Goethe-Rezeption Ku Hung-Mings, der in Goethe einen Parteigänger findet für das Programm der chinesischen Selbststärkung. Chinas Verteidigung gegen europäische Ideen, so lautet der Titel eines 1911 von Richard Wilhelm ins Deutsche übersetzten Buchs von Ku Hung-Ming. Darin sowie in dessen 1924 in deutscher Übersetzung erschienenem Band Der Geist des chinesischen Volkes konnte das Publikum die erstaunliche Feststellung machen, dass Ku Hung-Ming gemeinsam mit einem konfuzianischen Goethe und entsprechend ausgelegten Goethe-Zitaten China gegen den offenbar un- oder gar antikonfuzianischen Geist des modernen Europa verteidigte. Vor dem Hintergrund des nun auch in Asien in allen Bereichen der Gesellschaft ausbrechenden epochalen Gefechts zwischen Überlieferung und Moderne erschließt sich ein – im übertragenen Sinne – konfuzianischer Gehalt der von Ku Hung-Ming angeführten GoetheZitate. Das gilt insbesondere für die nun in der Tat an Konfuzius’ Staatsethik gemahnende philosophische Ordnungsverehrung Goethes. Exemplarisch gelangt sie in dem Aphorismus der Goethe’schen Maximen und Reflexionen zum Ausdruck, den Ku Hung-Ming seinem Buch Der Geist des chinesischen Volkes als Motto, gleichsam als Maxime dieses Geistes, voranstellt: „Es gibt zwei friedliche Gewalten / Das Recht und die Schicklichkeit.“10 Naturgemäß verzichtet Ku Hung-Ming auch nicht darauf, sich auf Goethes Revolutionskritik zu berufen und zitiert die einschlägigen Verse aus den Venetianischen Epigrammen: „Frankreichs traurig Geschick, die Großen mögen’s bedenken, / Aber bedenken fürwahr sollen es Kleine noch mehr: / Große gingen zugrunde, doch wer beschützte die Menge / Gegen die Menge? Da war Menge der Menge Tyrann.“11 Bei Goethe ursprünglich bezogen auf die sich ankündigende Radikalisierung der Französischen Revolution, bringt Ku Hung-Ming die Warnung vor der tyrannischen Menge in Zusammenhang mit der allgemeinen Kriegsbegeisterung zu Beginn des Ersten Weltkriegs in Europa. Die chinesische Gesellschaft möge verschont bleiben von der in seinen Augen manipulierbaren, unvernünftigen oder gar hysterischen neuen Gewalt auf dem Feld der modernen Politik, der öffentlichenMeinung. Nie10 Ku Hung-Ming: Der Geist des chinesischen Volkes und der Ausweg aus dem Krieg, Jena 1916, S. 7; vgl. Goethe: Werke (wie Anm. 2), Bd. 12, S. 379. 11 Ku: Der Geist (wie Anm. 10), S. 159; vgl. Goethe: Werke (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 180.
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mals, so die dahinterliegende Grundregel der konfuzianischen Regierungsethik, darf der weise Herrscher seine Entscheidungen abhängig machen von den wechselnden, nur den Bedürfnissen des Tages folgenden Leidenschaften und Stimmungen der Menge.12 Zu Zeiten von Chinas erster Republik gerät Ku Hung-Ming in die Rolle eines in alten chinesischen Gewändern wandelnden Anachronismus, der sich, im ursprünglichen Wortsinn, seinen alten Zopf nicht abschneiden ließ, sondern beharrlich gegen die neue (westliche) Mode und Moderne verteidigte. Seine mit Goethe gestellte bange Frage indessen, „doch wer beschützt die Menge gegen die Menge“, wenn einmal das überlieferte Rechtsdenken und seine Institutionen verschwunden sind, gewinnt ihre wahre Brisanz und Rechtfertigung dann erst im weiteren Verlauf des in China sich zunehmend radikalisierenden – in Kambodscha später bis zum Äußersten gehenden, zuletzt gegen sich selbst wendenden – Modernisierungsprozesses. Ku Hung-Ming war sich seiner hoffnungslosen Isoliertheit vollkommen bewusst; er inszeniert sie kunstvoll als gelehrter Kenner nun gerade der europäischen Überlieferung. Sieht er sich doch in der Rolle des Aeneas, das brennende Troja im Rücken, auf der, in seinem Fall vergeblichen, Suche nach einem neuen Schutzort für die alten Götter Trojas bzw. Chinas: Aber ich bin jetzt ganz allein, und wie der Held in Virgils Epos, der, als Troja gefallen war, umherwandern mußte und sich zuerst unter den Thraziern niederlassen wollte [...], so habe ich einen vorübergehenden Zufluchtsort und Ruheplatz für meine Hausgötter und die großen Götter von Troja (Penatibis et magnis Dis) hier in Schanghai gefunden [...].13
Damals wie heute, so die Ironie dieser Zuflucht, war Shanghai der erste Schauplatz für die Modernisierung Chinas, heute wohl auch für die Moderne schlechthin im Zeitalter der Globalisierung. Und Ku fährt fort: Die Geschichte, die ich erzählen will, von unserm verzweifelten Kampf für die Sache der chinesischen Kultur, ist eine lange Geschichte, und da sie mit meinem vergangenen Leben verknüpft ist und die Erinnerung an gefallene Kameraden, liebe Tote und alles was hätte sein können, wachruft, ist sie für mich eine von unaussprechlicher Traurigkeit. Sed si tantus amor casus cognoscere nostros / Et breviter Troiae supremum audire laborem, / Quamquam animus meminisse horret luctuque refugit, / Incipiam.14
12 Ku: Der Geist (wie Anm. 10), S. 179. 13 Ku Hung-Ming: Chinas Verteidigung gegen europäische Ideen. Kritische Aufsätze, hg. mit einem Vorwort v. Alfons Paquet, 4. u. 5. Tsd., Jena 1921 (urspr. 1911), S. 31. 14 Ku: Chinas Verteidigung (wie Anm. 13), S. 31. „Aber besteht ein so starkes Verlangen, mein Leid zu erfahren, / und von dem Todeskampf Trojas in aller Kürze zu hören, / möchte ich anfangen – wenn ich auch vor der Erinnerung schaudre, / ausweichen will vor dem Schmerz“, Vergil: Werke, aus dem Lateinischen übertragen von Dietrich Ebener, Berlin u. Weimar 1983, hier S. 199: Das Lied vom Helden Aeneas, II, V. 10f.
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Die beiden Bücher Ku Hung-Mings erscheinen auf Vermittlung von Richard Wilhelm in dem auch auf fernöstliche Kulturgeschichte spezialisierten Jenaer Eugen Diederichs Verlag. Hier gibt Wilhelm zur selben Zeit seine monumentale Quellensammlung Die Religion und Philosophie Chinas. Aus den Originalurkunden übersetzt heraus – in dem Augenblick also, da in China der Bruch mit der Überlieferung auf der Tagesordnung steht. So sehr die Bewunderung dieser Tradition Wilhelm mit Ku Hung-Ming verbindet, zögert Wilhelm nicht, sich von Ku abzuwenden, als er dessen anachronistischer Position bornierte Züge anzusehen beginnt.15 Wenn sich heute in der Perspektive des 21. Jahrhunderts Ku Hung-Mings Verteidigung des konfuzianischen Systems erst recht befremdlich ausnehmen kann, so behalten Aspekte seiner anti-kolonialistischen Schriften dennoch ihre historische Berechtigung, insbesondere seine Kritik der westlichen ‚Kanonenbootpolitik‘. Auf verlorenem Posten stand indessen nicht erst Ku Hung-Ming nach dem Zusammenbruch der Mandschu-Dynastie. Vielmehr schien die gesamte Unternehmung der Selbststärkung ein von Beginn an zum Scheitern verurteilter Abwehrversuch des Kolonisationsprozesses zu sein. Zur paradoxen Strategie, der Hegemonie einer spezifisch westlichen Moderne mit moderner Technik, Wissenschaft, Ökonomie und Organisation (des Militärs) und also solchen Mitteln entgegenzutreten, die man eben demselben Westen entlehnt hat, schreibt Richard Wilhelm: Man suchte den Kompromiß, daß zwar das alt-chinesische Kulturideal [des Konfuzianismus, M.J.] innerlich festgehalten, daß aber für seine Anwendung und für den Verkehr mit Fremden die modernen technischen Methoden angeeignet werden sollten. Dieser Kompromiß war natürlich unhaltbar, da die europäische Maschinenkultur nicht ein seelenloses Gebilde ist, das sich nach Belieben handhaben läßt, sondern selbst eine sehr starke und gewaltige Seele besitzt in der materialistischen Weltanschauung, und da diese Seele wie ein Gift mit Notwendigkeit überall um sich greift, wo man auch nur einem Teil ihrer Wirkungen die Tür öffnet.16
II. Die Dialektik der Kolonisation Neben Wilhelms resignativer und pragmatischer Evokation des epochalen Bruchs zwischen Überlieferung und Moderne drängt sich jener Text, zumal in seinem chinesischen Aspekt, zur Zitierung auf, der die gleiche moderne Verwandlung der Welt im Zeichen des Materialismus anspricht, allerdings in euphorischem Ton, das Manifest der Kommunistischen Partei also von Karl Marx und Friedrich Engels:
15 Richard Wilhelm: Die chinesische Literatur, Potsdam 1926, S. 192. 16 Wilhelm: Die chinesische Literatur (wie Anm. 15), S. 191; dazu Yang: Goethe (wie Anm. 3), S. 16f.
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Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. Die wohlfeilen Preise ihrer Waren sind die schwere Artillerie, mit der sie alle chinesischen Mauern in den Grund schießt, mit der sie den hartnäckigsten Fremdenhaß der Barbaren zur Kapitulation zwingt. Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.17
Das Manifest spielt auf den Opiumkrieg zwischen England und China an und auf jene die chinesische Niederlage besiegelnden „ungleichen Verträge“, in denen China von den Kolonialmächten gezwungen wurde, seine Häfen für die Einfuhr ausländischer Waren zu öffnen. Man könnte es eine Ironie der Geschichte nennen, dass Marx in die kolonialistische Rede einstimmt über die Barbaren, die sich hinter der chinesischen Mauer verschanzen und zu ihrem vermeintlichen Glück, zur Teilnahme also am modernen Produktionsprozess – vor allem aber zu den entsprechenden Konsumregeln –, erst gezwungen bzw. befreit werden müssen. Zugleich indessen erkennen wir in Marx’ Sprache die vom revolutionären Bruch des 19. Jahrhunderts vollzogene Umkehrung der Wertehierarchie. Hatte der chinesische Historiker und Schriftsteller Wei Yuan (1794–1857) unter dem Eindruck des ersten Opiumkrieges die chinesische Verteidigungslinie in den Worten ausgegeben, „die fortschrittliche Technik von den Barbaren lernen, um sie damit zu bewältigen“,18 kehrt Marx die Verhältnisse um in das Urteil, dass nur Barbaren den von moderner Technik und Produktion getragenen Fortschritt verhindern können, – allenfalls vorübergehend freilich. Lockt doch die Moderne mit einem ultimativen Freiheitsversprechen und das nun gerade auch mit einem Goethe-Wort: „sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde“. Es ist die Verlockung des Prometheus-Projektes, wie es in der von Marx stets bewunderten Ode Goethes anklingt: „Hier sitz’ ich, forme Menschen / Nach meinem Bilde, / Ein Geschlecht, das mir gleich sei“.19 Die heroische Rolle des Titanen, der in der antiken Mythologie gegen die überlieferte Ordnung des Götterhimmels rebelliert, übernehmen in der Realität der Moderne die neuen „Kommunikationen“ und „Produktionsinstrumente“. Auch auf das fernöstliche Umsturzgeschehen treffen dann die klassisch gewordenen Marx-Worte zu: „Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Bezie-
17 Karl Marx/Friedrich Engels: Das kommunistische Manifest, in: dies., Werke (MEW), Bd. 4, Berlin 1969, S. 459–493, hier S. 466. 18 Zit. n. Yang: Goethe (wie Anm. 3), S. 16. 19 Goethe: Werke (wie Anm. 2), Bd. 1, S. 46.
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hungen mit nüchternen Augen anzusehen.“20 Ehe in diesem Auflösungsprozess, in den nun gerade das hierarchisch ‚Ständische‘ und ‚Heilige‘ der Ordnungsidee des Konfuzianismus hineingezogen wird, auch auf chinesischer Seite ein emanzipatorisches Potential und mithin das Freiheitsversprechen des Prometheus-Projektes sichtbar werden soll und dann eine ganz andere Goethe-Rezeption inspiriert, erfuhr die patriotische Idee der Selbststärkung zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch weitere Desillusionen. Neben den militärischen Niederlagen gegen Japan zählen zu den besonders folgenreichen politischen Enttäuschungen Chinas die Versailler Verträge von 1919, wo im Widerspruch zum Selbstbestimmungsprogramm des amerikanischen Präsidenten Wilson die ehemaligen chinesischen Kolonien des Kriegsverlierers Deutschland keineswegs an China zurückgegeben, sondern Japan zugesprochen wurden. In der Empörung über diese Fortsetzung des Imperialismus des Westens bildet sich in China eine neue nationale Protestbewegung, die Vierte-Mai-Bewegung. Sie erhält ihren Namen, weil sie sich öffentlich zum ersten Mal am 4. Mai 1919 formierte in einer Protestdemonstration der Studenten der Pekinger National-Universität gegen die genannten Bestimmungen der Versailler Verträge und gegen die in den Augen der Protestierenden untaugliche chinesische Verteidigungspolitik. III. Kulturrevolution und Vierte-Mai-Bewegung Ins Fadenkreuz der Kritik gerät jetzt auf Seiten der innerchinesischen Rebellion der Ordnungsbegriff der konfuzianischen Überlieferung. Darauf richtet sich die Wut der frustrierten jungen chinesischen Patrioten, von denen nicht wenige die Moderne, die nun auch in China unter chinesischer Regie Einzug halten sollte, als Studenten in Japan kennengelernt hatten. Die nunmehr innerchinesische Traditionskritik lässt ein Grundmuster der Geschichte Chinas deutlich werden: „Allen chinesischen Modernisierungsbestrebungen seit der sogenannten Selbststärkungsbewegung im späten 19. Jahrhundert bis heute aber ist gemeinsam,“ so Helwig Schmidt-Glintzer, „dass sie die Modernisierung Chinas als eine Frage der Kultur behandeln.“21 In extremer Manier wird diese Regel später von der Kulturrevolution der sechziger Jahre bestätigt. In einer wesentlich liberaleren Variante zeigt sie sich schon in den spezifisch kulturellen Ambitionen der Vierten-Mai-Bewegung, nicht zuletzt in ihrem auf Sprache und Literatur bezogenen Erneuerungsprogramm.
20 Marx, Engels: Das kommunistische Manifest (wie Anm. 17), S. 465. 21 Schmidt-Glintzer: Kleine Geschichte Chinas (wie Anm. 8), S. 175.
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War die gleichsam staatstragende konfuzianische Überlieferung bereits 1905 mit der Abschaffung des alten, die Kenntnis des Literaturkanons voraussetzenden Prüfungssystems für öffentliche Ämter in die Defensive geraten, so haben sich die Aktivisten der Vierten-Mai-Bewegung auch einen Traditionsbruch in der allgemeinen Sprach- und Alltagskultur sowie die Kritik der gesamten alten Gelehrsamkeitsüberlieferung auf die Fahnen geschrieben. Eine neue standardisierte Volkssprache soll etabliert werden, zu der eine moderne realistische Literatur, diesseits des herkömmlichen strengen Kanons und seiner traditionellen Formen und Inhalte beitragen soll. In solchen stets auf die nationale Einheit Chinas bezogenen sprach- und literaturpolitischen Forderungen stimmen die prominenten Repräsentanten der Bewegung überein, auf Seiten der Politik Sun Yatsen (1866–1925), späterer Guomindang-Führer, und Chen Duxiu (1879–1942), seit 1921 erster Generalsekretär der KP Chinas, auf Seiten der bedeutenden Schriftsteller Lu Xun (1881–1936) und Guo Moruo (1892–1978). Chen Duxiu, zunächst Dekan der literarischen Fakultät der Peking Universität hatte schon 1917 in der von ihm gegründeten Zeitschrift Neue Jugend ‚Thesen zur literarischen Revolution‘ publiziert, darin er die Überwindung der sogenannten „Literatur der Eremiten“,22 der Ästhetik der konfuzianischen Elite also, durch einen neuen Realismus gefordert hatte: Nieder mit der verzierten, schmeichlerischen Aristokraten-Literatur! Schafft eine einfache, lyrische Nationalliteratur. – Nieder mit der veralteten, übertriebenen, klassischen Literatur! Schafft eine neue, aufrichtige, realistische Literatur. – Nieder mit der lebensfernen, dunklen schwierigen Berg- und Waldliteratur! Schafft eine klare allgemeinverständliche soziale Literatur!23
Im Horizont dieser Programmatik erscheint im Mai 1918 – ebenfalls in der Zeitschrift Neue Jugend – Das Tagebuch eines Verrückten des Schriftstellers Lu Xun, eine sogleich beim Publikum Furore machende, in chinesischer Umgangssprache verfasste Kurzgeschichte, die in der historischen Retrospektive angesehen wird als der Beginn der literarischen Moderne in China. Wir können sie verstehen als erste Realisierung des neuen Programms, abzurechnen mit der klassischen chinesischen Überlieferung, mit ihren Konventionen und ihrer hochartifiziellen Sprache. Das geschieht in der radikal subjektivistischen Perspektive eines vermeintlich Verrückten. Verrückt ist dieser Diarist freilich nur in den Augen der alten Welt, deren Irrsinn nun gerade in seinen Aufzeichnungen aufgedeckt wird. Darin heißt es:
22 Yang: Goethe (wie Anm. 3), S. 29. 23 Zit. nach Helwig Schmidt-Glintzer: Geschichte der chinesischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2. Aufl., München 1999, S. 510.
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Erst heute wird mir klar, dass diese Welt, in der ich etwa die Hälfte einer Lebensspanne zugebracht habe, mehr als viertausend Jahre lang eine Menschenfresserwelt war. Zur Zeit des Todes meiner Schwester betreute mein Bruder die Angelegenheiten der Familie. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass er ihr Fleisch in die Speisen mengte und uns ohne unser Wissen zu essen gab. Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass ich selber ein paar Stücke vom Fleisch meiner Schwester aß! Und nun ist die Reihe an mir [...] Wie kann ein Mensch wie ich, nach viertausend Jahren Menschenfresserei – obwohl ich davon bis jetzt nichts wusste –, jemals hoffen, wirklichen Menschen zu begegnen.24
In Wahrheit, so die Umkehrung der Perspektive des vermeintlich Verrückten, zeigt die chinesische Geschichte gar keine kulturelle Überlieferung, sondern den Kannibalismus kulturloser Barbaren. Menschenfressend, so der dem Konfuzianismus entgegengeschleuderte Vorwurf, ist die Tradition, weil sie den Lebendigen ihre eigene Individualität und Subjektivität raubt, ihnen den Weg zur Wirklichkeit versperrt. Die Riten des konfuzianischen Ahnenkultes, die allgegenwärtigen „Angelegenheiten der Familie“, Ausgangskonstellation der konfuzianischen Gesellschaftsordnung, ketten die Lebenden an die Vergangenheit und binden sie ein in die strenge Hierarchie von Jung und Alt, Kindern und Eltern, Frauen und Männern, Untertan und Herrscher. Der penible Kult der Vergangenheit zu Lasten von Gegenwart und Zukunft frisst das Leben der individuellen Persönlichkeit auf, so der rebellische Subjektivismus Lu Xuns. IV. Goethe-Prometheus Lu Xun gehörte zu jener Generation chinesischer Studenten, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Studium nach Japan gingen, in japanischen Übersetzungen der Literatur- und Philosophiegeschichte Europas begegneten und zugleich konfrontiert wurden mit der rasenden Modernisierung der japanischen Gesellschaft. Wie Lu Xun, hatte auch Guo Moruo zunächst in Japan Medizin studiert, bevor er sich in China der Vierten-Mai-Bewegung anschloss und als Lyriker zu einem bedeutenden Vertreter der modernen chinesischen Literatur wurde. Bereits in Japan hatte er mit gleichgesinnten chinesischen Intellektuellen die ‚Schöpfungsgesellschaft‘ gegründet,25 einen literarischen Zirkel, der sich der Befreiung des Individuums und der Feier seiner aus dem subjektiven Erleben hervorgehenden Kunstproduktion verschrieben hatte und sich den jungen Goethe und dessen Epoche als bevorzugtes Lektürethema auswählte:
24 Zit. n. Schmidt-Glintzer: Geschichte der chinesischen Literatur (wie Anm. 23), S. 523. 25 Schmidt-Glintzer: Geschichte der chinesischen Literatur (wie Anm. 23), S. 510 u. 513ff.
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„Ich denke“, so schreibt Guo Moruo, „dass wir die Werke von Goethe so viel wie möglich übersetzen und erforschen müssen, da seine Zeit – die Zeit des Sturm und Drang – unserer Zeit sehr ähnlich ist! Von ihm können wir viel lernen!“26
Unter den Vorzeichen des Vierten Mai übernimmt Goethe dann – im Gegensatz zur konfuzianisch inspirierten Goethe-Rezeption – die neue Rolle eines Gewährsmannes des Emanzipationsversprechens der Moderne, in dessen Realisierung die Reform- und Revolutionsbewegung den einzig möglichen Weg zur nationalen Autonomie und Stärke Chinas erkennt. Für das moderne Prometheus-Projekt in seiner chinesischen Fassung, kann nur der Sturm-und-Drang-Goethe, also der Verfasser der Prometheus-Ode und dann vor allem der Autor der Leiden des jungen Werther der passende Bezugspunkt sein. 1922 erscheint Guo Moruos Werther-Übersetzung in der von der Vierten-MaiBewegung geforderten allgemein verständlichen Umgangssprache. Sie löst, wie uns die Historiker berichten,27 eine veritable Werther-Begeisterung, gar ein chinesisches Werther-Fieber aus, dessen Opfer, nicht anders als ihre europäischen Leidensgenossen 150 Jahre zuvor, nicht zögern, sich nach der Werther-Lektüre eine Kugel durch den Kopf zu schießen. Bis 1949 zählt der chinesische Goethe-Experte Yang Wuneng nicht weniger als 50 Auflagen der Werther-Übersetzung Guo Moruos, die zahllosen Raubdrucke nicht eingerechnet. Goethe selbst hatte in Dichtung und Wahrheit die drastischen Folgen seines ersten Romans beschrieben, hier freilich – die Ironie der Geschichte will es so – in der gleichsam konfuzianischen Selbstdistanzierung seiner Altersperspektive: Die Wirkung dieses Büchleins war groß, ja ungeheuer, und vorzüglich deshalb, weil es genau die rechte Zeit traf. Wenn es nur eines geringen Zündkrauts bedarf, um eine gewaltige Mine zu entschleudern, so war auch eine Explosion, welche sich hierauf im Publikum ereignete, deshalb so mächtig, weil die junge Welt sich schon selbst untergraben hatte, und die Erschütterung deswegen so groß, weil ein jeder mit seinen übertriebenen Forderungen, unbefriedigten Leidenschaften und eingebildeten Leiden zum Ausbruch kam.28
Eingedenk der einmal auch Goethe selbst einschließenden Prometheus-Konstellation, in der die rebellische Jugend nicht sich selbst, sondern die alte ‚Welt‘ untergraben hatte, lässt sich Goethes Befund auf die Verhältnisse der chinesischen WertherRezeption übertragen. Und wir können heute unseren Erklärungsversuchen dieses erstaunlichen Phänomens der Goethe-Rezeption die Beobachtung hinzufügen: Die Leiden des jun26 Zit. n. Yang: Goethe (wie Anm. 3), S. 34. 27 Yang: Goethe (wie Anm. 3), S. 38ff.; Schmidt-Glintzer: Geschichte der chinesischen Literatur (wie Anm. 23), S. 500. 28 Goethe: Werke (wie Anm. 2), Bd. 9, S. 580; vgl. Yang: Goethe (wie Anm. 3), S. 40f.
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gen Werther scheinen in Guo Moruos Übersetzung nahtlos anzuschließen an Lu Xuns Tagebuch eines Verrückten und dessen Literaturrevolution fortzusetzen. Ist es doch in Goethes Roman ein vom vermeintlichen Wahnsinn der unbedingten Liebe Gezeichneter, dessen gesammelte Briefe seine geballte Verachtung der überlieferten Ordnung bezeugen. Vor allem aber Werthers emotionsgeladener Einbruch ins geregelte Familien- und Eheleben von Lotte und Albert wurde beim chinesischen Publikum empfunden als der offenbar ersehnte Protest gegen den Ahnen-, Familien- und Ehekult der konfuzianischen Überlieferung, in der die Ideen der selbstbestimmten Partnerwahl oder gar der freien Liebe zurückzutreten hatten hinter dem Prinzip einer von Familie und Eltern bestimmten Eheschließung.29 Nicht anders als im Tagebuch eines Verrückten vollzieht sich diese Rebellion gegen die herkömmliche Gesellschaftsordnung in Werthers Briefen im Sinne einer Umwertung der Werte von Wahnsinn und Normalität. So streiten in einer Schlüsselstelle des Romans Albert, der Ordnungsrepräsentant, und Werther, der Nonkonformist, über Selbstmord bzw. Freitod. Albert: „Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein Mensch so töricht sein kann, sich zu erschießen; der bloße Gedanke erregt mir Widerwillen.“30 Scheinbar selbstgerecht über die Torheit des von Leidenschaften Hingerissenen dozierend, der „alle Besinnungskraft verliert und als ein Trunkener, als ein Wahnsinniger angesehen wird“, fordert er Werthers pathetische Gegenrede heraus: Ach ihr vernünftigen Leute! [...] Leidenschaft! Trunkenheit! Wahnsinn! Ihr steht so gelassen, so ohne Teilnehmung da, ihr sittlichen Menschen, scheltet den Trinker, verabscheut den Unsinnigen, geht vorbei wie der Priester und dankt Gott wie der Pharisäer, daß er euch nicht gemacht hat wie einen von diesen. Ich bin mehr als einmal trunken gewesen, meine Leidenschaften waren nie weit vom Wahnsinn, und beides reut mich nicht: denn ich habe in meinem Maße begreifen lernen, wie man alle außerordentlichen Menschen, die etwas Großes, etwas Unmöglichscheinendes wirkten, von jeher für Trunkene und Wahnsinnige ausschreien mußte. [...] Schämt euch, ihr Nüchternen! Schämt euch, ihr Weisen! [...] kein Argument bringt mich so aus der Fassung, als wenn einer mit einem unbedeutenden Gemeinspruche angezogen kommt, wenn ich aus ganzem Herzen rede.31
Zahlreiche Aspekte von Werthers Aufstand gegen die Konventionen konnten die chinesischen Leser 1922 auf ihre Auseinandersetzung mit der eigenen Überlieferung beziehen und als Realisierung von Chen Duxius revolutionärem Literaturpro29 Ausführlich zu der die Wirkungsgeschichte Werthers in China vor allem bestimmenden Kontroverse um das Familien- und Eheideal des Konfuzianismus: Barbara Ascher: Aspekte der WertherRezeption in China (Die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts), in: Goethe und China – China und Goethe, hg. v. Günther Debon u. Adrian Hsia, Frankfurt/M. 1985, S. 139–153. 30 Goethe: Werke (wie Anm. 2), Bd. 6, S. 46. 31 Goethe: Werke (wie Anm. 2), Bd. 6, S. 46f.
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gramm – nieder mit der klassischen, verzierten, elaboriert-artifiziellen konfuzianischen Kultur – ansehen. Dazu zählt, um nur die wichtigsten Themen zu nennen, Werthers Feier des Herzens als eines von aller konventionellen Bildung unabhängigen Organs der authentischen Selbst- und Weltwahrnehmung. Die darüber nicht verfügen können, sind entfremdet, leben gar nicht, sind nichts, gefesselt von „Rangsucht“, Ahnenkult und zwanghaftem Zeremoniell.32 Zu den relevanten Motiven Werthers zählt neben dem Lob des leidenschaftlichen Herzens und des Wahnsinns auch die Faszination des Ehebruchs, in Werthers einsamen Phantasien Gestalt annehmend in einem leidenschaftlichen Bauernburschen, der den Konkurrenten um die begehrte Frau kurzerhand totschlägt. Werther will ihn befreien und muss sich dafür sagen lassen, dass dann „jedes Gesetz aufgehoben, alle Sicherheit des Staats zugrund gerichtet werde“.33 In denselben Zusammenhang gehört weiterhin Werthers Überdruss an allen Regeln des Umgangs und der Schicklichkeit. So kann Goethe zwischen die Linien der heftigen innerchinesischen Kontroversen um die Überlieferung geraten, hatte sich doch Ku Hung-Ming zur Verteidigung der Tradition nun gerade auf „Recht“ und „Schicklichkeit“, die beiden „friedliche[n] Gewalten“ eines konfuzianischen Goethe, bezogen.34 Guo Moruo indessen führt in die Debatte die literarische Figur desselben Goethe ein, die gegen alle Riten und Etiketten der aristokratischen Gesellschaft revoltiert und ihrem Furor gegen Sprache und Klugheit der Diplomatie freien Lauf lässt. Diese Rebellion katapultiert Werther, nach kurzen Karriereversuchen in einer Gesandtschaft, aus der höfischen Politik hinaus. Die Aufzählung der Aspekte des Goethe’schen Romans, die sich übertragen lassen auf den Protest gegen ein konfuzianisch geprägtes Ordnungsdenken, ließe sich verlängern. Sie endet mit dem berühmten letzten Satz des Romans, „Kein Geistlicher hat ihn begleitet“, der lakonisch Werthers Revolte gegen Orthodoxie und Überlieferung zusammenfasst.35 Für die Aktivisten der Vierten-Mai-Bewegung war die Literaturrevolution stets verknüpft mit der politischen Revolution Chinas, weshalb auf die Emanzipation des Individuums, bei Guo Moruo ebenso wie bei Chen Duxiu und Lu Xun, im nächsten Schritt des revolutionären Gesamtprozesses die Kritik des Subjektivismus und der Aufbau der neuen, in ihrem Fall marxistischen Ordnung folgt, der sich die rebellischen Individuen wieder zu fügen hatten. Unter dieser Voraussetzung musste der Stern des Radikalindividualisten Werther wieder sinken. Werther ließ sich nicht 32 33 34 35
Goethe: Werke (wie Anm. 2), Bd. 6, S. 62. Goethe: Werke (wie Anm. 2), Bd. 6, S. 96. Ku: Der Geist (wie Anm. 10), S. 7. Goethe: Werke (wie Anm. 2), Bd. 6, S. 124.
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integrieren in das die chinesische Politik von nun an beherrschende Programm des Kollektivismus. Unter dessen Vorzeichen taucht dann, sofern man weiterhin Goethes Spur in China verfolgen wollte, Faust als neuer literarischer Orientierungspunkt am Horizont des Modernisierungsgeschehens auf, dann freilich nicht der Faust der mystischen Schlusspartie des Dramas, den noch Ku Hung-Ming zur Verteidigung der konfuzianischen Überlieferung beschworen hatte, sondern der Protagonist der zweiten Weltschöpfung im vierten und fünften Akt. Da die chinesische Geschichte im 20. Jahrhundert stets bestimmt wurde durch die Gleichzeitigkeit von politischer und kultureller Revolution und von dem diese Koinzidenz begleitenden Konflikt zwischen etabliertem Ordnungsdenken und den daraus ausbrechenden neuen, zunächst individuell-subjektiven Ideen, kehrte indessen auch Goethes Werther wieder zurück in die chinesische Moderne und diente, nach dem Ende der maoistischen Kulturrevolution, in zahlreichen neuen Übersetzungen abermals als ‚Zündkraut‘ für weitere Explosionen einer nonkonformistischen Sturm-und-Drang-Stimmung. Parallel dazu schauen wir weiterhin – in chinesischer wie in deutscher Perspektive – auf das Faszinosum eines konfuzianischen Goethe und seiner alle Konfessions- und Kulturgrenzen überspringenden Idee der Weltliteratur.36
36 Eine Vorstellung vom unendlich weiten Kosmos der ‚Weltliteratur‘ gab zuletzt der wunderbar originelle Band von Jan Assmann, Helwig Schmidt-Glintzer u. Ekkehart Krippendorff: Ma’at, Konfuzius, Goethe. Drei Lehren für das richtige Leben, Frankfurt/M. 2006. Im vergleichenden Blick auf die kosmologisch auszulegenden Gesetzesbegriffe des Konfuzianismus und Goethes Ordnungsideen bemerkt hier, S. 83f., Helwig Schmidt-Glintzer: „Nicht wenige von Goethes politischen Sinnsprüchen könnten von Konfuzius stammen.“
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Die chinesische Rezeption von Goethes Dichtung und Wahrheit in den 1920er und 1930er Jahren
Die erste Welle der Goethe-Rezeption in China setzte mit der Vierten-Mai-Bewegung im Jahr 1919 ein und erreichte ihren Höhepunkt im Jahr 1932, in dem man Goethes 100. Todestag durch Sammelbände, Biographien und Veranstaltungen auch in China feierlich gedachte. Goethes Popularität und Ruhm in China als Symbol des deutschen Geistes basierten vor allem auf den brillianten und in baihua (der Umgangssprache) verfassten Übersetzungen Guo Moruos (1892–1979) von Goethes Die Leiden des jungen Werther (1922) und Faust I (1928). Wolfgang Bauer und Yang Wuneng berichten von der Faszination, die Goethe in den 1920er und 1930er Jahren auf die chinesische Intelligenz ausübte und von dessen Einfluss auf die moderne chinesische Literatur.1 Man spricht von einer Wiederkehr des ‚Wertherfiebers‘ und stellt eine gewisse Affinität zwischen der Vierten-Mai-Bewegung in China und dem Sturm und Drang in Deutschland fest, auch wenn die historischen Voraussetzungen durchaus unterschiedlicher Natur waren. „Von Goethe sollten wir möglichst viel übersetzen und erforschen, da unsere Zeit mit seiner Zeit – Sturm und Drang – verwandt ist. Wir haben vieles von ihm zu lernen.“2 So schreibt Guo Moruo in einem Brief aus dem Jahr 1920 an Zong Baihua. Die Demütigung Chinas durch den Opiumkrieg und die dem Land in dessen Folge von den imperialistischen Mächten aufgezwungenen ‚ungleichen Verträge‘ hatten bei den Gebildeten Chinas zu einer geistigen Krise geführt. Daraus erwuchs eine antitraditionalistische Grundstimmung, welche auch in der Literatur ihren Ausdruck fand. Auf den Einbruch westlicher Ideen und die Begegnung mit neuen literarischen Formen reagierten vor allem die jüngeren Intellektuellen mit Begeisterung und Offenheit. Die Literatur der Vierten-Mai-Bewegung ist gekennzeichnet durch die Wende zum Subjektivismus und die Erneuerung der traditionellen Literaturformen in Anlehnung an westliche Vorbilder. Die subjektive Wahrnehmung wurde in den Vordergrund gerückt und das Ich wurde zum zentralen Thema, was 1 Vgl. Wolfgang Bauer: Goethe und China. Verständnis und Mißverständnis, in: Goethe und die Tradition, hg. von Hans Reiss, Frankfurt/M. 1972, S. 177–197, bes. S. 191; Yang Wuneng: Ge de yu zhong guo [Goethe und China], Beijing 1991, S. 89–136. 2 Zong Baihua, Tian Han u. Guo Moruo: San Ye Ji [Kleeblatt], Hefei 2006, S. 18. (Erstausgabe Shanghai 1920.)
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sich in den neuen Gattungen von Tagebuch, Autobiographie und Ich-Erzählung niederschlug, die stark von der japanischen I-Novel (Watakushi shōsetsu) geprägt wurden. Bis zum Ausbruch des chinesisch-japanischen Kriegs erschienen mit Ausnahme von Wilhelm Meisters Wanderjahren und den Wahlverwandtschaften von allen wichtigen Werken Goethes chinesische Übersetzungen, oft sogar mehrere Übersetzungsversionen.3 Auch Goethes Autobiographie Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit wurde in den 1930er Jahren von Zhang Jingsheng (1888–1970) und Liu Simu (1904–1985) ins Chinesische übersetzt und veröffentlicht.4 „Quidquid recipitur, ad modum recipientis recipitur.“5 (Was auch immer rezipiert wird, wird nach der Weise des Rezipienten rezipiert.) Mit dieser neuplatonischen Formel beschreibt Thomas von Aquin das ungleiche Verhältnis zwischen der unbegrenzten göttlichen Wahrheit und dem begrenzten menschlichen Verstand. Dies gilt auch für den literarischen Rezeptionsprozess. Das literarische Werk wird bei der Rezeption in die Situation des Lesers transponiert und von diesem nach seinen eigenen Wertvorstellungen kritisiert oder befürwortet. Die vorliegende Untersuchung geht der Frage nach, auf welche Art und Weise Goethes Dichtung und Wahrheit in der geistesgeschichtlichen und sozialgeschichtlichen Wendezeit zu Beginn des chinesischen Modernisierungsprozesses rezipiert wurde. Es wird versucht, die verschiedenen Perspektiven und die unterschiedlichen ideologischen und ästhetischen Standpunkte der Rezipienten herauszuarbeiten. Dabei wird zugleich an einem konkreten Beispiel aufgezeigt, welch differenzierte Wahrnehmungsmuster die kulturelle Annährung beider Länder in dieser Zeit bestimmten. I. Die erste chinesische Übersetzung von Dichtung und Wahrheit erschien 1930 im Shanghaier Weltverlag (Shi jie shu ju). Der Übersetzer Zhang Jingsheng war einer der umstrittensten Intellektuellen in der Zeit der Vierten-Mai-Bewegung. Von 1912 bis 1919 studierte er in Paris und Lyon und promovierte an der Lyoner Universität über Rousseaus Rezeption der antiken Pädagogik. Von 1921 bis 1926 bekleidete er eine Professur für Philosophie an der Peking Universität und unterrichtete dort Logik, Anthropologie und Ästhetik. 1923 publizierte er einen Artikel in der Zei3 Von Faust gibt es mindestens vier Übersetzungen, Wilhelm Meisters Lehrjahre wurde dreimal übersetzt. Vgl. Yang Wuneng: Ge de yu zhong guo (wie Anm. 1), S. 116. 4 Ge de zi zhuan, übers. v. Zhang Jingsheng, Shanghai 1930; Ge de zi zhuan, übers. v. Liu Simu, Shanghai 1936. 5 Thomas von Aquin: Summa Theologiae I, Q. xii, art. 4.
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tung Chen bao (Morgenpost), in dem er seine ‚Vier Prinzipien der Liebe‘ vorstellte: „1) Liebe ist bedingt; 2) Liebe ist vergleichbar; 3) Liebe ist variabel; 4) Ehe ist eine Art der Freundschaft.“6 Diese unkonventionelle und sogar revolutionäre Erklärung bezog sich auf die damals aktuelle Eheproblematik und entfachte die erste öffentliche ‚Liebesdebatte‘ in China, an der bedeutende Intellektuelle wie Liang Qichao, Lu Xun und andere teilnahmen. Zudem leistete Zhang Pionierarbeit für die Sexualforschung in China und propagierte die sexuelle Emanzipation der Frauen und die Gleichberechtigung der Geschlechter. Nach der Veröffentlichung seiner Geschichte der Sexualität (Xing shi, 1926), die sexuelle Berichte versammelte, war er vehementen moralischen Vorwürfen ausgesetzt und wurde sogar kurzzeitig inhaftiert. In der aktuellen Forschung wird Zhang Jingsheng als seriöser Wissenschaftler und Utopist rehabilitiert. Seine Sexualforschung stand in Zusammenhang mit damaligen eugenischen Konzepten, die die Bildung eines körperlich gesunden Volks zum Ziel hatten. In seinen bedeutenden Monographien Die ästhetische Lebensanschauung (Mei de ren sheng guan, 1925) und Die ästhetische soziale Organisation (Mei de she hui zu zhi fa, 1925) plädierte er für eine ästhetische Lebensorganisation und eine ästhetische Bildung, durch die das chinesische Volk kultiviert werden sollte. Zhangs utopische Vorstellungen, die den sittlichen Normen der konfuzianischen Tradition widersprachen, waren seiner Zeit weit voraus. Während seines zweiten Paris-Aufenthaltes von 1928 bis 1933 beschäftigte sich Zhang Jingsheng mit einem von dem kantonesischen Gouverneur Chen Mingshu geförderten Übersetzungsprojekt, das das ambitionierte Ziel verfolgte, den westlichen Kanon im Umfang von 200 bis 300 klassischen Werken systematisch ins Chinesische zu übersetzen. Weil die finanzielle Unterstützung eingestellt wurde, konnten aber nur fünf Bände erscheinen, die ‚Serie der Romantik‘, zu der auch eine auf hundert Seiten gekürzte Fassung von Goethes Autobiographie Dichtung und Wahrheit gehörte.7 Dass Goethes Dichtung und Wahrheit dabei mit Rousseaus Les Confessions gleichgesetzt wurde und das Buch als romantische Dichtung betrachtet wurde, mag für deutsche Leser befremdend sein. Das romantische Goethe-Bild, das durch romantische Darstellungen der eigenen Liebesgeschichte in der Dichtung und Wahrheit bekräftigt wurde, entstand im Zusammenhang mit der chinesischen Rezeption des Werther, der in dieser Zeit in China zum Inbegriff der unerfüllten Liebe und der Empfindsamkeit wurde. 6 Chen bao fu kan [Feuilleton der Morgenpost] vom 23. April 1923. (Übersetzung von mir, H.W.) 7 Die ‚Serie der Romantik‘ im Weltverlag Shanghai umfasst folgende Bände: 1. Wei da guai e de yi shu [Die romantische Kunst – Großartigkeit und Bösartigkeit]; 2. Ge de zi zhuan [Goethes Autobiographie]; 3. Les Confessions [Chan hui lu] von Jean-Jacques Rousseau; 4. Indiana von George Sand (Yin dian na); 5. Les rêveries du promeneur solitaire von Jean-Jacques Rousseau/Briefe von Victor Hugo (Meng yu fang zhu) .
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Bei Zhangs Übersetzung handelt es sich um keine wörtliche Übersetzung, sondern eher um eine ausführliche Inhaltsangabe. Kapitel 13 bis 15 wurden ganz gestrichen, weil sie vor allem von Religion und von anderen Persönlichkeiten handelten und deshalb nach Zhangs Meinung für das romantische Goethe-Bild nicht relevant waren. Dieser willkürliche Eingriff belegt die subjektive Rezeptionsperspektive des Übersetzers, die er im Vorwort in zwei Punkten explizit zur Sprache bringt: Erstens war Goethe nicht nur Dichter, sondern Universalgenie und darum Vorbild für alle Gelehrten, da alle Wissen miteinander verbunden sind. [...] Ein Schriftsteller mit einem beschränkten Horizont muss kläglich ausfallen; Zweitens, Goethe wusste selbst auch nichts davon, dass seine besten Werke vor allem von Frauen inspiriert wurden: Ohne Gretchen kein Faust; ohne Charlotte kein Werther. Es ist aber die platonische Liebe ohne Sexualität, die den Dichter Goethe zur Bewegung im Gemüt und anschließend zur ergreifenden Dichtung veranlasste. [...] Ein Schriftsteller, der nach dem schönen Geist und Stil strebt, sollte einerseits Kontakte zum anderen Geschlecht suchen und andererseits sollte er sich nicht in der Sexualität verfangen und am besten davon befreit sein, damit das Bedürfnis nach der geistigen Intimität in der Dichtung sublimiert werden kann.8
Der als Zweites genannte Aspekt der platonischen Liebe mag auf den ersten Blick verwirrend sein und ist im Bezug zu Zhang Jingshengs Theorie der ästhetischen Sexualität zu verstehen. Das bedeutet einerseits, dass geschlechtlicher Verkehr mäßig und ästhetisch sein soll, und andererseits, dass man die Libido zur weiteren Entwicklung der Philosophie, Kunst und des Verhaltens nutzen kann. Seiner Ansicht nach sind alle großartigen kulturellen Leistungen in gewisser Hinsicht der Libido zu verdanken: „Ohne indirektes Einwirken der Libido wären Platons Philosophie, Dantes Epos und der mittelalterliche Minnesang undenkbar.“9 II. Die von Zhang Jingsheng im Pariser Exil verfasste Übersetzung geriet schnell in Vergessenheit. Die vollständige und weithin anerkannte chinesische Übersetzung von Dichtung und Wahrheit hat 1936 und 1937 Liu Simu (1904–1985) unter dem Decknamen Si Mu im Shanghaier Lebensverlag (Sheng huo shu dian) veröffentlicht. Diese Übersetzung wurde in den 1980er Jahren überarbeitet und von dem renommierten Volksliteraturverlag in die Ausgabe der gesammelten Werke Goethes (Ge de
8 Ge de zi zhuan (wie Anm. 4), Vorwort. (Übersetzung von mir, H.W.) 9 Zhang Jingsheng: Mei de ren sheng guan [Die ästhetische Lebensanschauung], Beijing 2010, S. 88– 89 (Erstausgabe 1925). (Übersetzung von mir, H.W.)
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wen ji) aufgenommen.10 Liu war in den 1920er Jahren ein engagierter Organisator der Studentenbewegung und Mitglied der Nationalpartei (Guomingdang). 1926 studierte er in Moskau die kommunistische Lehre. Von 1932 bis 1933 hospitierte er am Institut für Sozialforschung in Frankfurt und besuchte danach die Berliner und die Wiener Universität. Während seines eineinhalbjährigen europäischen Aufenthaltes stand er mit der deutschen kommunistischen Partei in engem Kontakt und nahm am Kampf gegen den aufkommenden Nationalsozialismus teil. Nach seiner Rückkehr nach China sammelte er im Untergrund für die kommunistische Dritte Internationale Informationen und musste 1936 wegen einer Denunziation nach Tokio emigrieren. Im japanischen Exil verfasste er dann die chinesische Übersetzung von Dichtung und Wahrheit und organisierte deren Publikation in zwei Bänden in Shanghai. Liu Simu weist im Vorwort seiner Übersetzung zuerst auf die überzeitliche Bedeutung von Goethes Leben und Werk hin, das durch Goethes Selbstdarstellung in Dichtung und Wahrheit der chinesischen Leserschaft zugänglicher werden könnte, da Forschungsliteratur und Materialien in China trotz des Goethe-Kults kaum vorhanden seien. Im Unterscheid zur romantischen Deutungsperspektive bei Zhang Jingsheng tritt Liu Simu im Vorwort zu seiner Übersetzung als geschulter Kommunist und entschiedener Antifaschist hervor und urteilt aus der „neuen sozialhistorischen Perspektive“.11 Er kritisiert einerseits die nationalsozialistische Vereinnahmung von Goethe im Völkischen Beobachter anlässlich der Gedenkfeier im Goethejahr 1932 und wirft dem nationalsozialistischen Theoretiker Alfred Rosenberg vor, Goethe auf eine Stufe mit Hitler und Thyssen zu stellen und Faust als Propaganda für Kolonialisierung und wirtschaftliche Annektierung zu deuten. Andererseits weist Liu die belanglosen ‚kapitalistischen‘ Forschungsarbeiten, die sich mit Goethes Frauen, seinen Zähnen oder Brillen beschäftigen, entschieden zurück. Auch die damals weit verbreitete Goethe-Darstellung von Friedrich Gundolf kritisiert Liu als abstruse und sinnlose Mystifizierung.12 Lius Urteil über Goethe basiert weitgehend auf einer Äußerung von Friedrich Engels in dessen Kritik an Karl Grüns Schrift Über Goethe vom menschlichen Standpunkte (1846). Engels schrieb darin, Goethe sei einerseits der progressive Weltbürger und „geniale Dichter, den die Misère seiner Umgebung anekelt“, andererseits aber das „behutsame Frankfurter Ratsherrnkind“ bzw. der „Weimarsche Geheimrat, der sich genötigt sieht, Waffenstillstand mit ihr [der politischen Misere, H.W.] zu
10 Ge de wen ji [Goethes Werke in zehn Bänden], Beijing 1999. 11 Ge de zi zhuan (wie Anm. 4), Vorwort, S. 4. (Übersetzung von mir, H.W.) 12 Ge de zi zhuan (wie Anm. 4), Vorwort, S. 3. (Übersetzung von mir, H.W.)
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schließen“.13 Auch Liu Simu sieht Goethes Doppelcharakter von seiner bürgerlichen Herkunft und der geistigen und wirtschaftlichen Rückständigkeit im damaligen Deutschland bestimmt. Goethe sei zwar ein Repräsentant des aufsteigenden Bürgertums seiner Zeit gewesen, aber nicht ‚progressiv‘. Diese politisch und ideologisch überzogene Ansicht war für lange Zeit das endgültige Urteil über Goethe in der Volksrepublik China und hinderte chinesische Leser daran, unvoreingenommen mit Goethes Werken und seinem Denken umzugehen. Bemerkenswert ist, dass Liu Simu sein Vorwort von 1936 im Jahre 1982 in die überarbeitete Ausgabe übernahm und seine Goethe-Auffassung vor fünfzig Jahren als immer noch aktuell ansah.14 Liu rühmt zudem die Darstellung der sozialen und historischen Verhältnisse in Dichtung und Wahrheit und ihrer Bedeutung für die Bildung des Dichters in seinen frühen Jahren. Anerkennend hebt er die von Goethe zu Beginn seiner Autobiographie formulierte Erkenntnis hervor, dass „ein Jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren [...], was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein“ dürfte.15 Den ästhetischen und poetischen Wert des Werks erkennt Liu in der abwechslungsreichen und vielfältigen Darstellungsweise, was von der Goethe-Forschung bestätigt wird. III. Einen Beleg dafür, dass Dichtung und Wahrheit nicht bloß als Hilfsmittel zum besseren Verständnis der Person und der Werke Goethes rezipiert wurde, findet man bei Liang Zongdai (1903–1983).16 Der berühmte Dichter und Übersetzer tituliert seine beiden literaturkritischen Essaysammlungen mit Dichtung und Wahrheit und Dichtung und Wahrheit II.17 Er begründet seine Titelwahl wie folgt: Diese etwas manierierte Überschrift habe ich selbstverständlich von Goethes Autobiographie „Dichtung und Wahrheit“ übernommen. Aber ich habe etwas ganz anderes im Sinne. Goethe, wenn ich ihn nicht falsch verstehe, brachte mit diesem scheinbar paradoxen Titel die unvermeidliche Vereinbarung des Erdichteten und der historischen Fakten im Erinnerungsschreiben zum Ausdruck, während ich die Dichtung und die Wahrheit als die beiden 13 Friedrich Engels: Deutscher Sozialismus in Versen und Prosa, in: Karl Marx, Friedrich Engels: Werke (MEW), Bd. 4, Berlin 1972, S. 207–247, hier S. 232. 14 Vgl. das neue Vorwort von Liu Simu in: Ge de wen ji [Goethes Werke in zehn Bänden], Bd. 4: Shi yu zhen [Dichtung und Wahrheit], Beijing 1999, S. 3. 15 Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Briefe. Tagebücher und Gespräche, Bd. I/14: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, hg. von Klaus-Detlef Müller, Frankfurt/M. 1986, S. 13f. 16 Liang Zongdai (1903–1983) war ein bedeutender Romanist, Dichter und Goethe-Übersetzer. 17 Liang Zongdai: Shi yu zhen [Dichtung und Wahrheit], Shanghai 1935; Liang Zongdai: Shi yu zhen er ji [Dichtung und Wahrheit II], Shanghai 1936.
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Ziele meines literarischen Strebens betrachte. Die Wahrheit ist das einzige tiefe und solide Fundament der Dichtung und die Dichtung ist die höchste und endgültige Verwirklichung der Wahrheit.18
Im Vorwort zu Dichtung und Wahrheit II weist Liang explizit darauf hin, dass es ihm bei der Gegenüberstellung beider Begriffe im Grunde genommen um den FormInhalt-Dualismus geht.19 Dazu muss man anmerken, dass es Goethe in seiner Autobiographie nicht um bloße Fakten aus seinem Leben ging, sondern um eine ‚höhere Wahrheit‘, um ‚Symbole des Menschenlebens‘. Im Gespräch mit Eckermann erläuterte er: „Es sind lauter Resultate meines Lebens, […] und die erzählten einzelnen Facta dienen bloß, um eine allgemeine Beobachtung, eine höhere Wahrheit, zu bestätigen. [...] Ich nannte das Buch Wahrheit und Dichtung, weil es sich durch höhere Tendenzen aus der Region einer niedern Realität erhebt.“20 IV. Eine weitere Perspektive in der chinesischen Rezeptionsgeschichte von Dichtung und Wahrheit eröffnete das gattungsnormative Interesse. Die moderne chinesische Autobiographie ist in den 1920er Jahren entstanden und erlebte bis zum Ende der 1930er Jahre einen Aufschwung. Fast alle führenden Intellektuellen wie Hu Shi, Yu Dafu, Ba Jing, Shen Congwen und Guo Moruo schrieben die eigene Lebensgeschichte in einer neuen Form, die sich sowohl konzeptionell als auch stilistisch vom traditionellen autobiographischen Schreiben in China unterschied. Die alte chinesische Literatur kannte keine Autobiographie im westlichen Sinne. Bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts gab es keinen einheitlichen Formtypus der Autobiographie in China. Selbstdarstellungen kamen entweder in den selbst verfassten Grabinschriften vor, oder in Privataufzeichnungen von Gelehrten und Beamten, in den Biji, den Notizen über private und historische Ereignisse, die vor allem für den Privatgebrauch und den Freundeskreis und als Materialsammlung für die historische Forschung gedacht waren. Dass die Selbstdarstellung im traditionellen China keine feste Form gefunden hat, hängt damit zusammen, dass in der vom Konfuzianismus geprägten traditionellen chinesischen Gesellschaft die Hinwendung zum eigenen Ich immer eine Abwendung von der Welt darstellte. Man pflegte im alten China nicht zu fragen, wer man ist, sondern welche Aufgabe man in der Gesell18 Liang Zongdai: Shi yu zhen (wie Anm. 17), S. 1. (Übersetzung von mir, H.W.) 19 Liang Zongdai: Shi yu zhen er ji (wie Anm. 17), S. 1. 20 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe. Tagebücher und Gespräche, Band II/12: Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. von Christoph Michel, unter Mitwirkung von Hans Grüters, Frankfurt/M. 1999, S. 479.
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schaft übernehmen soll. Das Individuum war demnach von der gesellschaftlichen Rolle abhängig. Oft hatte die Selbstdarstellung im alten China den Charakter „einer grundsätzlichen, einer endgültigen Absage“ an die Welt.21 Sie war darum in der Regel kurz gefasst und man konnte das Ich des Schreibers hinter der gesellschaftlichen Maske nur andeutungsweise wahrnehmen. Die chronologisch erzählende, den Entwicklungsprozess des Individuums darstellende Autobiographie war dagegen eine Neuerung, deren Voraussetzung das Entstehen eines neuen Ich-Begriffs war. Die Entstehung der modernen chinesischen Autobiographie zeugt von einem tief greifenden Wandel im Selbstverständnis der chinesischen Intellektuellen. Seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts vollzogen sich insbesondere in den Städten grundlegende soziologische und geistesgeschichtliche Veränderungen. Das Bürgertum wurde zu einer politischen Kraft und setzte der Geschichte der chinesischen Dynastien schließlich ein Ende. Diese Entwicklung ging einher mit der Forderung nach Demokratie und Autonomie im politischen Bereich, nach Wiederherstellung der nationalen Souveränität und mit einer Kritik an der konfuzianischen Ideologie. Das Individuum versuchte sich einerseits aus den Fesseln der feudalen Gesellschaft und der Bevormundung durch Religion und Familie zu befreien. Vor allem die jungen Intellektuellen begannen sich als Individuen, in ihrer Besonderheit zu reflektieren. Andererseits strömte mit der großen Woge westlicher Übersetzungsliteratur, die sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts über China ergoss, auch ein Schwall europäischer Autobiographien ins Land, die stark vom individualistischen Geist des 18. und 19. Jahrhunderts geprägt waren, allen voran Rousseaus Les Confessions und Goethes Dichtung und Wahrheit, die sich die moderne chinesische Autobiographie zum Vorbild nahm. Ein Beispiel für diese Rezeption sind Guo Moruos autobiographische Schriften. Wenn man über die Goethe-Rezeption in China spricht, kann man nicht umhin, den Namen Guo Moruo zu nennen. Der bedeutende Dichter und Dramatiker hat sich nicht nur durch seine virtuosen Übersetzungen von Werther und Faust um die Goethe-Rezeption in China verdient gemacht, sondern er übertrug diese Eindrücke auch in sein eigenes literarisches Schaffen. Sein Gedichtband Nü shen (Göttinnen, 1921) steht sowohl stilistisch als auch thematisch unter dem Einfluss von Goethe. Dichtung und Wahrheit war das erste Werk von Goethe, mit dem sich Guo Moruo intensiv beschäftigte. Während seines Medizinstudiums in Tokio um 1915 lernte er schon im Deutschkurs Dichtung und Wahrheit kennen. In dem Band San ye ji (Kleeblatt, 1920), der den lebhaften Briefwechsel zwischen drei jungen Intellektuellen – Zong Baihua, Guo Moruo und Tian Han – aus dem Jahr 1919 21 Wolfgang Bauer: Das Antlitz Chinas. Die autobiographische Selbstdarstellung in der chinesischen Literatur von ihren Anfängen bis heute, München 1990, S. 27.
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dokumentiert, rühmte Tian Han Dichtung und Wahrheit als „hervorragendste Bekenntnisliteratur“.22 Von 1928 bis 1947 verfasste Guo immer wieder autobiographische Schriften, die 1947 in zwei Abteilungen gesammelt erschienen. Sie umfassen insgesamt zehn Bände mit über 1,1 Millionen Schriftzeichen und stellen chronologisch Guos Lebensgeschichte dar. Nicht nur dem Umfang nach steht Guo Moruos Autobiographie Goethes Dichtung und Wahrheit nahe, sondern auch in dem starken sozialhistorischen Bewusstsein und dem ausgeprägten Selbstbewusstsein. Im Vorwort zu Dichtung und Wahrheit erklärt Goethe, die „Hauptaufgabe der Biographie“ sei es, „den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, in wiefern ihm das Ganze widerstrebt, in wiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt.“23 Das historische Bewusstsein, das in Dichtung und Wahrheit in den Vordergrund trat, wird bei Guo Moruo auch immer wieder betont. Charakteristisch dafür ist das Vorwort zum ersten, 1928/29 geschriebenen Band seiner Autobiographie Meine Kindheit (Wo de tong nian): Meine Kindheit fiel in die Zeit des Übergangs von der Feudalgesellschaft zum Kapitalismus, ich fördere sie nun aus einem dunklen Schacht zutage. Ich habe nicht vor, wie Augustinus oder Rousseau „Bekenntnisse“ abzulegen, ich werde auch nicht wie Goethe oder Tolstoi das Leben eines Genies schildern. Ich beschreibe lediglich ein bestimmtes Individuum, das von dieser Gesellschaft hervorgebracht wurde, oder, sagen wir, das Leben eines bestimmten Menschen in dieser Epoche.24
So wie Goethe behauptet auch Guo Moruo die Repräsentativität des eigenen Lebens für seine Zeit. Damit verbindet er die historische und pädagogische Absicht, in der Darstellung der Entwicklung einer Persönlichkeit das Zeittypische hervortreten zu lassen und das chinesische Volk so über seine politische und soziale Situation aufzuklären. Im Nachwort zu Meine Kindheit bringt der Autor diese Absicht deutlich zum Ausdruck: „,Warum bringst du überhaupt so etwas heraus?‘“, fragt der Leser den Autor, und dieser antwortet: „Ich weiß dazu eine ganz einfache Ausrede: ‚Die Revolution hat bereits gesiegt, und die kleinen Leute haben nichts zu essen.‘“25 In seiner Autobiographie stellt Guo seine sexuelle Entwicklung dar, ein Thema, das in der chinesischen Literatur bis heute weitgehend ausgespart wird. In dieser Hinsicht stand Guo unter dem Einfluss von Freuds Psychoanalyse, die er in Japan 22 Zong Baihua, Tian Han u. Guo Moruo: San Ye Ji (wie Anm. 2), S. 71. (Übersetzung von mir, H.W.) 23 Goethe: Aus meinem Leben (wie Anm. 15), S. 13f. 24 Guo Moruo: Kindheit. Autobiographie, Übertragung aus dem Chinesischen und Nachwort von Ingo Schäfer, Frankfurt/M. 1981, S. 7. 25 Guo Moruo: Kindheit (wie Anm. 24), S. 209.
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kennengelernt hatte. Er berichtet vom allmählichen Bewusstwerden seiner Sexualität durch den Kontakt mit seiner Schwägerin und erste homosexuelle Beziehungen, die ihn in der Zwangsatmosphäre des Internats in schwere Konflikte mit Mitschülern brachten. Nicht nur das äußere Geschehen, sondern auch die innere psychische Entwicklung des Individuums wird zum Gegenstand der autobiographischen Darstellung. Der Blick wendet sich auf das nackte Innere des Ichs. Diese Haltung unterscheidet sich deutlich von der in der traditionellen Selbstdarstellung üblichen Hinwendung zur sozialen Rolle. Der poetologische Einfluss von Dichtung und Wahrheit auf Guos Autobiographie wird durch einen Leserbrief belegt, der zu Beginn des zweiten Bands Vor und nach der Revolution (Fan zheng qian hou) eingefügt ist. Guo verfährt dabei nach dem Muster Goethes. In einem fingierten Leserbrief, den Goethe seiner Autobiographie als Vorwort voranstellt, äußert ein Freund den Wunsch, dass der Autor in der Neuausgabe seines zwölfbändigen Werks bei Cotta seinen Lesern eine Erläuterung des Zusammenhangs zwischen Werk und Leben geben möge, die „denen abermals zur Bildung gereiche, die sich früher mit und an dem Künstler gebildet haben.“26 Bei Guo Moruo rechtfertigt der unbekannte Leser dessen autobiographisches Konzept folgendermaßen: Neuerlich wurde zuviel direkt übersetzt, darum finde ich Ihren persönlichen Bericht sinnvoll. [...] Es besteht bei uns die Meinung, dass man nicht über sich schreiben darf, da es nicht zu unserer Gruppe passe. Das ist eigentlich falsch. Egal was für Materialien man benutzt, was für Formen man wählt, Hauptsache: Erkenntnis! [...] Ihre Ansicht ist, den Übergang von der feudalen zur kapitalistischen Gesellschaft in China zu beschreiben. Ihr Bericht über diesen Wandel wird sich wahrscheinlich in Ihrem weiteren autobiographischen Schreiben fortsetzen, was ich ausdrücklich begrüße.27
Guo Moruo hebt, genau so wie Goethe, in dem fingierten Leserbrief das Anliegen seines autobiographischen Schaffens hervor, dessen vermeintlich egozentrischer Charakter bei den Marxisten, zu denen Guo Moruo seit 1924 gehörte, auf Unverständnis stoßen konnte. Guo Moruo, der ein euphorischer Individualist und romantischer Dichter war, wurde unter dem Einfluss des japanischen Wirtschaftswissenschaftlers Kawakami Hajime „ein radikaler Anhänger des Marxismus“ und gelangte zu der Erkenntnis, dass der Marxismus für die Zeit, in der sie lebten, „das einzige Kleinodienfloß zur Erlösung“ sei.28 Generell kann man an der chinesischen 26 Goethe: Aus meinem Leben (wie Anm. 15), S. 12. 27 Guo Moruo: Fan zheng qian hou [Vor und nach der Revolution], in: Zi zhuan [Guo Moruos Werke. Autobiographie], Beijing 2000, S. 103. (Übersetzung von mir, H.W.) 28 Guo Moruo: Zhi Cheng Fangwu shu [Briefe an Cheng Fangwu], in: Zhong guo xin wen xue da xi [Anthologie der neuen chinesischen Literatur], Shanghai 1935/36; Bd. 6, S. 233. (Übersetzung von mir, H.W.)
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Literaturgeschichte beobachten, dass unter dem Eindruck des Zerbrechens der Einheitsfront von Kommunisten und Republikanern im Jahre 1927 die euphorische und romantische Aufbruchsstimmung der Vierten-Mai-Bewegung bei jungen Intellektuellen durch ein stärker politisches und soziales Bewusstsein abgelöst wurde.29 An der Rezeptions- und Wirkungsgeschichte von Goethes Dichtung und Wahrheit im China der 1930er Jahre werden unterschiedliche Rezeptionshaltungen erkennbar. Während Zhang Jingsheng Goethes Lebensgeschichte für seine Theorie der ästhetischen Sexualität heranzog und Liang Zongdai sich durch die paradoxe Überschrift zu einer Reflexion des Form-Inhalt-Problems inspirieren ließ, war die Rezeption von Liu Simu und Guo Moruo sozialhistorisch und marxistisch geprägt. Sie verfolgten dabei von Anfang an das Ziel, die chinesische Gesellschaft zu modernisieren und das Volk aufzuklären. Darin standen sie noch ganz in der Tradition des Selbstverständnisses der konfuzianischen Elite, die sich als Lehrer des Volks verstand und auf eine geordnete Welt bedachtet war. Der Blick nach außen wendet sich immer wieder auf die eigene Person zurück.
29 Vgl. Helwig Schmidt-Glintzer: Geschichte der chinesischen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2. Aufl., München 1999, S. 503.
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Vom Sohn des Himmels zum charismatischen Führer Max Webers Auseinandersetzung mit Konfuzianismus und Taoismus
Max Webers Studie zu Konfuzianismus und Taoismus ist zuerst 1915 in einer Reihe von Aufsätzen und dann 1920 in einer erweiterten Fassung im ersten Band der Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie erschienen.1 Weber griff darin die Frage aus seinem Protestantismusaufsatz von 1904/05 auf, ob die puritanische Geisteshaltung eine Bedingung für die Herausbildung des modernen Kapitalismus sei.2 Seine damals aufgestellte These von der Geburt des Kapitalismus aus dem Geist der protestantischen Religion versuchte er nun mit dem Nachweis zu belegen, dass die anderen Weltreligionen für die Entstehung des Kapitalismus ein Hindernis darstellten. Weber beschäftigte sich mit Konfuzianismus und Taoismus also weniger aus einem genuinen Interesse an der chinesischen Tradition als mit der Absicht, seine Protestantismus-These zu stützen. Vereinfacht lautet Webers Beweisführung: In China ist selbstständig kein Kapitalismus entstanden. Angesichts der für die Entwicklung des Kapitalismus an sich günstigen wirtschaftlichen und historischen Bedingungen, kann der Grund dafür nur darin liegen, dass die chinesische Lebensorientierung die kapitalistische Wirtschaft behindert hat. Da die Ethik aber in der religiösen Weltanschauung gründet, ist dafür letzten Endes die chinesische Religion des Konfuzianismus und Taoismus ursächlich. Die Problematik dieser Argumentation liegt auf der Hand. In diesem Beitrag soll es jedoch nur am Rande um die Frage gehen, ob Webers These richtig ist. Ebenso wenig soll erörtert werden, ob die Wirtschaft, das Recht und die Politik der modernen Gesellschaft auf einem bestimmten Ethos und einer bestimmten Weltanschauung beruhen, ohne die sie nicht möglich wären. Auch soll nicht Thema sein, ob heute China und Asien entgegen der Weber’schen These eine Gesellschafts- und Wirt-
1 Max Weber: Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Konfuzianismus und Taoismus. Schriften 1915–1920, Studienausgabe der Max-Weber-Gesamtausgabe, Bd. I/19, hg. v. Helwig SchmidtGlintzer, Tübingen 1991. 2 Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band I, Tübingen 1988, S. 17–206.
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schaftsform hervorgebracht haben, die auf der konfuzianischen Tradition basiert.3 Statt dessen werden Webers religionssoziologische Studien im Folgenden als Ausdruck einer Krise des bürgerlichen Selbstverständnisses in Deutschland verstanden, die bereits im 19. Jahrhundert begonnen hatte und sich nach dem Ersten Weltkrieg als politische und verfassungsrechtliche Krise zuspitzte. Diese These wird klarer, wenn man Webers Studien zur Wirtschaftsethik als eine Kritik an Marx’ Hegel-Kritik versteht. Für Hegel sind die Wirtschaft, die Gesellschaft, das Familienleben ebenso wie das Rechts- und Staatswesen Ausdruck des bestimmten Geistes eines Volkes und einer Zeit. Dieser Geist wirkt im Denken und Handeln der Menschen, motiviert und rechtfertigt ihr Handeln und gelangt insbesondere in Kunst, Religion und Wissenschaft zum Ausdruck. Der Wissenschaft kommt daher nach Hegel die Aufgabe zu, in den mannigfaltigen empirischen Erscheinungen des Familien- und Wirtschaftlebens, der Politik, der Kunst und der Religion den Geist einer Epoche und eines Volkes aufzufinden.4 Indem er zeigt, dass die eigene politisch-soziale Welt Ausdruck des Geistes ist, will Hegel zugleich die bürgerliche Lebenswelt des 19. Jahrhunderts legitimieren. Seine Philosophie ist also nicht nur eine werturteilsfreie Beschreibung seiner Epoche, sondern deren Rechtfertigung. Marx versuchte bekanntlich, diese These vom Kopf auf die Füße zu stellen. Seiner Theorie nach ist die Wirtschaft die Basis, das Recht hingegen nur der Überbau nach Maßgabe der wirtschaftlichen Interessen der Herrschenden. Die Religion dient dazu, die Herrschaft zu rechtfertigen; sie ist das ‚Opium für das Volk‘, das jeden Widerstand einschläfert. Aus diesem Grund ist für Marx nicht das Verstehen die Aufgabe der Philosophie, sondern die Entlarvung der Religion als interessegeleitete Ideologie und die Überwindung der überholten gesellschaftlichen Ordnung. Während Hegel das bürgerliche Selbstverständnis auf den Begriff bringen will, rechtfertigt Marx den revolutionären Kampf gegen eben dieses Wertesystem. Weber versucht nun, Marx’ materialistische Erklärung zu entkräften, indem er die Bedeutung der Religion als Bedingung für die Entstehung des modernen Kapitalismus aufweist. Dabei schwingt zwar unausgesprochen die Hoffnung mit,
3 So z.B. Oskar Weggel: China, München 2008, S. 29ff.; Hyung Gyun Lee: Eine ostasiatische Kritik an Max Webers Rationalisierungskonzept (und der damit verbundenen Modernisierungstheorie), Frankfurt/M. 1997, S. 116 u.ö.; zum Diskussionsstand vgl. Daniel A. Bell u. Chaibong Hahm: The Contemporary Relevance of Confucianism, in: Confucianism for the Modern World, hg. v. Daniel A. Bell u. Chaibong Hahm, Cambridge 2003, S. 1–28. 4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Werke, Bd. 12, Frankfurt/M. 2007, S. 68–73.
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durch eine „spiritualistische“5 Deutung die bürgerliche Ordnung gleichsam adeln zu können. Auf eine Rechtfertigung dieser Ordnung, wie sie Hegel noch explizit angestrebt hat, legt Weber es aber nicht an. Denn er beschränkt sich ausdrücklich auf eine historische Erklärung der Entstehung des Kapitalismus. Webers Unbehagen an der eigenen, bürgerlichen Ordnung zeigt sich gerade an dieser Werturteilsfreiheit. Ihm geht es weder darum, den Vorrang des Christentums oder der westlichen Gesellschaftsordnung gegenüber der konfuzianischen Weltanschauung und Gesellschaftsordnung zu beweisen. Noch sucht er im Orient – trotz mancher ambivalenter Sympathie6 – nach einem neuen Lebenssinn, den die in die Krise geratene europäische Kultur nicht mehr zu geben vermochte. Die Werturteilsfreiheit hat ihren Grund darin, dass die eigene bürgerliche Wertordnung fragwürdig geworden ist, eine anderes überzeugendes Sinnsystem aber nicht zu erkennen ist. Doch Weber sieht einen Ausweg aus dieser Legitimitätskrise: die charismatische Herrschaft. Den Begriff dieses Herrschaftstypus hat er gerade in seinen religionssoziologischen Studien und insbesondere in der Konfuzius-Arbeit entwickelt. Für ihn eröffnet die charismatische Herrschaft die Möglichkeit, der versteinerten bürgerlichen Ordnung einen frischen, lebendigen Geist einzuhauchen. Tatsächlich hat er damit jedoch einen Begriff entwickelt, mit dem sich die antibürgerlichen Revolutionen des 20. Jahrhunderts, insbesondere auch die chinesischen, erfassen lassen. I. Webers These Weber geht in seiner Studie zu Konfuzianismus und Taoismus von der Frage aus, warum der moderne Kapitalismus in Europa und nicht in China entstanden ist. Er behauptet, nur eine spezifische Motivation und Gesinnung der Handelnden, eine bestimmte Pflichtenethik konnte die moderne Gesellschaft hervorbringen. Was versteht Weber aber unter Kapitalismus? Kapitalismus lässt sich seiner Auffassung nach nicht auf Gewinnstreben oder Sparen reduzieren, da diese in jeder Gesellschaftsform vorkämen. Der Kapitalismus zeichne sich vielmehr durch den Tausch von Gütern und durch die Trennung von Haushalt und Betrieb aus. Diese Trennung erlaubt eine freie, auf Verträgen beruhende Arbeitsorganisation sowie eine ‚rechenhafte‘ Wirtschaftsweise. Zu dieser rationalen Wirtschaftsweise gehören nicht nur kaufmännische Rechnungs- und Buchführungssysteme, sondern vor allen auch die
5 So Weber in einem Brief an Rickert im Jahr 1905; zit. n. Joachim Radkau: Max Weber, München 2007, S. 316. 6 Radkau: Weber (wie Anm. 5), S. 723f.
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Ausrichtung auf Rentabilität.7 Die kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsform ist verbunden mit einer Fachschulung des Personals, einem Staat, der auf einer Fachbürokratie beruht, sowie der Herausbildung des modernen Wirtschaftsrechts und eines professionellen Nachrichtendienstes. Nicht zuletzt ist sie durch die Entstehung der Klassen von Bürgertum und Proletariat gekennzeichnet. Der Kapitalismus ist also für Weber die moderne, bürgerliche, rationale Gesellschafsordnung schlechthin. In China ist der Kapitalismus Weber zufolge nicht aus eigener Tradition, sondern erst durch den Kontakt mit Europa entstanden. Und dies trotz der Tatsache, dass viele Faktoren – wie die weitgehende religiöse Toleranz, die große Freiheit des Güterverkehrs, der innere Friede, die Freizügigkeit, die Freiheit der Berufswahl und der kräftige Erwerbstrieb – für eine kapitalistische Entwicklung in China an sich günstig gewesen seien. Also muss der Grund für deren Ausbleiben in der Religion, insbesondere der konfuzianischen Gesinnung gesucht werden.8 Das konfuzianische Menschenbild geht nach Weber zwar prinzipiell von der Gleichheit der Menschen aus. Es erhebt aber trotzdem die allseitig ausgebildete, harmonisch ausbalancierte Persönlichkeit zum Ideal. Bildungsziel ist der „höhere“, „fürstliche“, „vornehme“ Mensch.9 Die Bildung dieses Gentlemans umfasst Schriftkunde und klassische Literatur, aber weder Rechnen, Mathematik, Naturwissenschaft, Geographie, Sprachen, Logik oder Rhetorik noch die Fähigkeit des Selbstdenkens. Es ist eine Laien-, aber keine Priester- oder Fachbildung. Der konfuzianische vornehme Mensch, wie Weber ihn beschreibt, betreibt keine Askese und übt sich nicht in reiner Kontemplation. Er weist das Begehren zwar nicht zurück, lehnt die überstarke Leidenschaft und das Dionysisch-Rauschhafte jedoch ab. Die konfuzianische Lebensanschauung betone die konventionelle, zeremonielle Schicklichkeit, die Bedeutung der Geste und des Gesichts und nicht die Expression authentisch-individueller Innerlichkeit. Schicklichkeit sei wichtiger als Aufrichtigkeit.10 Da die Schicklichkeit die Beachtung zahlloser Konventionen verlange und also nicht „von Innen heraus“ gehandelt werde, fehle hier die „Einheit der Lebensführung“; das Leben sei „eine Serie von Vorgängen, kein methodisch unter ein transzendentes Ziel gestelltes Ganzes“.11 Weber betont, dass die Familienpietät im chinesischen Zusammenleben den höchsten Wert hat. In ihr erkennt er die Grundlage für alle Formen der Vergesell7 Weber: Konfuzianismus (wie Anm. 1), S. 204f.; Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Tübingen 1988, S. 7 u.ö. 8 Weber: Konfuzianismus (wie Anm. 1), S. 208. 9 Weber: Konfuzianismus (wie Anm. 1), S. 145. 10 Weber: Konfuzianismus (wie Anm. 1), S. 150. 11 Weber: Konfuzianismus (wie Anm. 1), S. 197.
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schaftung, der Sippen wie der Genossenschaften, und auch für das Unterordnungsverhältnis zwischen Diener und Herrn. Der Reichtum sei Mittel für ein würdiges Leben, aber nicht Selbstzweck. Weder die Erwerbstätigkeit noch die Sparsamkeit gelte in China als Tugend, da sie das Gleichgewicht der Seele stören können. Nur eine amtliche Stellung gestatte deshalb die Vollendung der Persönlichkeit. Die typische Tätigkeit des konfuzianischen Gentlemans sei daher der Fürstendienst und die Arbeit in der Staatsverwaltung, die von einem „praktisch-politische[n] Rationalismus“ geprägt sei.12 Weber charakterisiert den Konfuzianismus in diesem Sinne als die „Standesethik einer literarisch-gebildeten weltlich-rationalistischen Pfründnerschaft“.13 Diese Gesinnung führt Weber zwar auch auf politische und ökonomische Faktoren zurück, wie das Geld- und Steuerwesen oder der Beamtenentlohnung. Vor allem geht er aber von einer „inneren Eigengesetzlichkeit“ der weltanschaulichen Überzeugungen aus:14 „Wie tiefgreifend auch immer die ökonomisch und politisch bedingten sozialen Einflüsse auf eine religiöse Ethik im Einzelfalle waren, – primär empfing diese ihr Gepräge doch aus religiösen Quellen.“15 Für den Konfuzianismus gibt es nun eine ewige übergöttliche Ordnung der Welt, das Dao, in dem sich das himmlische Prinzip des Yang mit dem irdischen Prinzip des Yin verschlingt. Diese Ordnung garantiert, dass die bestehende Welt die beste aller möglichen Welten ist. Deshalb sieht Weber den Konfuzianismus von einem „Weltoptimismus“ geprägt.16 Ohne den Gegensatz von Gott und Welt gebe es keine Abwertung der diesseitigen Welt zugunsten des göttlichen Jenseits. Der Konfuzianismus kenne deshalb keine Weltablehnung und Weltverneinung. Er ziele nicht auf Erlösung von der Welt, sondern auf die „Anpassung an die Welt“, auf „eine pietätvolle Fügung in die bestehende politisch-soziale Ordnung“.17 Diese universelle Ordnung spiegelt sich im Menschen als Mikrokosmos wider. Denn wie in der Welt im Ganzen zeigte sich im Menschen die spannungsvolle Einheit von Yin und Yang. Ziel der konfuzianischen Bildung sei es, in der Seele das kosmische Prinzip des Dao und damit die Herrschaft des himmlischen Yang über das irdische Yin sicherzustellen, die Herrschaft der guten Geister (shen), die für Schönheit und Harmonie sorgen, über die dämonischen, bösen Geister (gui).18 Der Hauptströmung des Konfuzianismus zufolge ist der Mensch seiner Anlage nach 12 13 14 15 16 17 18
Weber: Konfuzianismus (wie Anm. 1), S. 113. Weber: Konfuzianismus (wie Anm. 1), S. 2. Weber: Konfuzianismus (wie Anm. 1), S. 15, 212. Weber: Konfuzianismus (wie Anm. 1), S. 3. Weber: Konfuzianismus (wie Anm. 1), S. 199. Weber: Konfuzianismus (wie Anm. 1), S. 194. Weber: Konfuzianismus (wie Anm. 1), S. 128f.
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gut; das Böse kommt erst durch die Knappheit der Subsistenzmittel in die Welt. Aus diesem Grund kennt der Konfuzianismus weder einen Sündenfall noch eine Erbsünde, und also auch nicht das Bedürfnis nach Erlösung von der Welt und von der eigenen Schuld. Zwar würden vereinzelt auch Konfuzianer von der ursprünglichen Verderbtheit des Menschen ausgehen, doch wollten sie damit nur die Notwendigkeit der Kultivierung betonen.19 Da die Welt die beste aller möglichen Welten sei, sei der Lohn für die harmonische Übereinstimmung mit dem Dao – für die Vervollkommnung der Persönlichkeit durch eine philosophisch-literarische Bildung – auch im Diesseits zu finden, in langem Leben, Gesundheit und Wohlstand sowie dem guten Namen nach dem Tod. Zur Orthodoxie des Konfuzianismus gehört für Weber die Heterodoxie des Taoismus. Wie der Konfuzianismus geht der Taoismus von der kosmischen Weltordnung, dem Dao, aus. Das Ideal des Taoismus sei zwar nicht der Gentleman, sondern der Heilige, nicht die Tätigkeit im Staat, sondern die unio mystica. Der Konfuzianismus teile mit dem Taoismus aber die magische Grundlage. Das Kernstück der konfuzianischen Ethik, die Leben und Tod übergreifende Familienpietät, beruhe nämlich auf einem Geisterglauben. Und selbst die vermeintlich rationale Beamtenprüfung sei von der Überzeugung geprägt gewesen, dass der erfolgreich Geprüfte Träger eines shen, eines guten Geistes, sei.20 Dieser Geisterglaube habe im Taoismus den „Zaubergarten des Magischen“21 erblühen lassen und verhindert, dass der Konfuzianismus trotz seines praktischen Rationalismus die Welt ‚entzaubern‘ konnte. Diese Lebensethik und Weltanschauung des Konfuzianismus verhinderten Weber zufolge die Entstehung des Kapitalismus. Ohne eine sinnenfeindliche Pflichtenethik konnte sich keine konsumfeindliche Wirtschaftsgesinnung bilden. Die Familienpietät führte dazu, den verwandtschaftsartigen Beziehungen einen hohen Stellenwert einzuräumen, so dass die politische und soziale Organisation sippengebunden blieb. Das Ideal des literarisch gebildeten Menschen verhinderte die Entstehung des Fachmenschentums, der Fortbestand der Magie die Rationalisierung der sozialen und natürlichen Welt. Das Fehlen eines Jenseits als Ideal führte zur Akkommodation an die Welt, zur Unverbrüchlichkeit der Tradition und damit zur Fortschrittsfeindlichkeit. Statt aus Verachtung der Welt die Welt zu beherrschen, passte sich der Mensch ihr an. Webers Deutung des Konfuzianismus gewinnt eine noch schärfere Kontur, wenn man sie mit seiner Beschreibung der Gesinnung des puritanischen Protestantismus 19 Weber: Konfuzianismus (wie Anm. 1), S. 144. 20 Weber: Konfuzianismus (wie Anm. 1), S. 130. 21 Weber: Konfuzianismus (wie Anm. 1), S. 193.
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in seiner 1904-06 veröffentlichten Studie zur protestantischen Ethik vergleicht.22 Der Puritaner zeichnet sich Weber zufolge durch eine methodische Lebensführung aus, die ganz auf Pflichterfüllung ausgerichtet ist und die Triebe unterdrückt. Während der Konfuzianismus das Ritual und die äußere Regelbefolgung betont, kommt es dem Puritanismus auf die innere Einstellung an. Und während jener den Menschen als Glied einer Gemeinschaft begreift, gilt er diesem als vereinzeltes Subjekt. Dies bedingt eine Versachlichung der Beziehungen zu anderen Menschen und zugleich eine Rücknahme der eigenen Person. Die Ethik des Puritanismus gebiete zwar, in der Welt und im Beruf die Pflicht zu erfüllen, verbiete aber zugleich, an der Welt und an der Arbeit zu hängen. Weber charakterisiert sie daher als „innerweltliche Askese“.23 Für Weber beruht die puritanische Ethik wie die des Konfuzianismus auf einer religiösen Weltanschauung. Der Protestantismus ist auf das Jenseits bezogen und lebt von der Spannung zwischen Welt und Gott. Das zeigt sich in der Abwertung der diesseitigen Welt und der menschlichen Existenz. Die Welt und der Mensch in dieser Welt sind sündhaft und böse. Alle Triebe, die den Menschen an die Welt binden, alle Ziele, die in dieser Welt erreicht werden können, ja die Welt im Ganzen sind demnach wertlos. Wertvoll ist allein, die göttlich gesetzten Pflichten zu erfüllen, um auf diese Weise von der Schuld und von der Last der Welt befreit zu werden. Allerdings kann sich der Mensch durch gute Werke keine Erlösung erkaufen. Es bedarf vielmehr der göttlichen Gnade, die den einzelnen Menschen unverdient erlöst. Hinter der göttlichen Gnade aber steht der irrationale Wille Gottes.24 Wie die Ethik ist auch das Gesellschaftsmodell des Puritanismus von der Religion geprägt. Der einzelne Mensch steht in einer unmittelbaren Beziehung zu Gott, bei der keine Gemeinschaft, keine Institution vermitteln kann. Bei der wichtigsten Frage des menschlichen Lebens, der erlösenden Gnade, steht der Mensch allein da. Letzten Endes führt dies zur Entwertung der Institutionen von Kirche und Familie und zur Vereinzelung des Menschen.25 Indem sie die Welt entzauberte und der Rationalität zum Sieg verhalf, hat die puritanische Gesinnung den Kapitalismus nach Weber erst ermöglicht. Die methodische Lebensführung, das Pflichtethos und die innere Askese erlauben eine Produktion ohne Konsum und damit die für die Entstehung des Kapitalismus notwendige 22 Zum puritanischen Protestantismus rechnet Weber insbesondere den Calvinismus, aber auch die Lehren der Methodisten, Mennoniten und Pietisten. Die Lutheraner zählt er hingegen nicht dazu. Von Luther stamme zwar die Berufsethik der Puritaner, deren Radikalität habe Luther aber nicht geteilt. 23 Weber: Die protestantische Ethik (wie Anm. 2), S. 84 u.ö. 24 Weber: Konfuzianismus (wie Anm. 1), S. 202. 25 Weber: Konfuzianismus (wie Anm. 1), S. 199.
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Kapitalakkumulation. Die Pflicht zur Hingabe der eigenen Person an die göttlich gestellten Aufgaben ersetzt die allgemeine Persönlichkeitsbildung durch die Fachschulung. Die Verdrängung der Triebe beschränkt die Erwerbsgier und macht ein planmäßiges Wirtschaften möglich. Die Gesinnungsethik, die verlangt, dass nicht für einen Nutzen, sondern aus Pflicht gehandelt wird, schafft das Vertrauen in die Zuverlässigkeit des Geschäftspartners, auf der eine auf Kredit basierende, kapitalistische Wirtschaft beruht. Ohne es zu wollen habe der Protestantismus so die Lebenseinstellung und Motivationslage hervorgebracht, die conditio sine qua non für die Entstehung des modernen Kapitalismus war. II. Kritik an Weber Webers Erklärung der Entstehung des Kapitalismus ist vielfach kritisiert worden. Kritik rief bereits sein idealtypisches Verfahren hervor. Weber konstruiert einen Idealtypus des chinesischen Denkers, der für zweieinhalb Jahrtausende Gültigkeit haben soll.26 Tatsächlich beschäftigte er sich aber fast nur mit der Zeit von der Frühlings- und Herbstperiode (481–221 v. Chr.) bis zur Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) sowie mit der Zeit der Qing-Dynastie (1644–1911). Nach der HanDynastie habe es keine „ganz selbständigen Denker“ mehr gegeben.27 Den Neokonfuzianismus der Song-Dynastie (960 bis 1279) beispielsweise berücksichtigt er nicht. Schon deshalb können Zweifel an Webers Darstellung der konfuzianischen Gesinnung aufkommen. Gab es überhaupt den konfuzianischen Gentleman?28 Hat Weber die innere Abhängigkeit des orthodoxen Konfuzianismus von der Magie des heterodoxen Taoismus nicht überbewertet?29 Und wird die Reduzierung des Taoismus auf Magie dieser Lehre überhaupt gerecht? Umstritten ist auch, ob Weber das chinesische Denken richtig gedeutet hat. Fehlte in China tatsächlich die Spannung zwischen transzendenter und weltlicher Ordnung, oder hat die chinesische Zivilisation diese Spannung nur anders, näm-
26 Zum Problem des Idealtypus vgl. Uta Gerhardt: Idealtypus, Frankfurt/M. 2001, S. 11 u.ö. 27 Weber: Konfuzianismus (wie Anm. 1), S. 143. 28 Peter Weber-Schäfer: Die konfuzianischen Literaten und die Grundwerte des Konfuzianismus, in: Max Webers Studie über Konfuzianismus und Taoismus, hg. v. Wolfgang Schluchter, Frankfurt/M. 1983, S. 202–228. 29 Zum Begriffspaar Orthodoxie und Heterodoxie in der chinesischen Tradition vgl. Helwig Schmidt-Glintzer: Viele Pfade oder ein Weg? Betrachtungen zur Durchsetzung der konfuzianischen Orthopraxis, in: Max Webers Studie über Konfuzianismus und Taoismus, hg. v. Wolfgang Schluchter, Frankfurt/M. 1983, S. 298–341.
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lich innerweltlich, gelöst?30 Und hat Weber den inneren Sinn des konfuzianischen und taoistischen Denken tatsächlich zu verstehen versucht oder es nur von außen beschrieben?31 Ebenso fraglich ist, ob Webers Unterscheidung zwischen Beherrschung und Anpassung an die Welt wirklich eine begriffliche Schärfe hat, die es erlaubt, die Anpassung als fortschrittsfeindlich, die Naturbeherrschung jedoch als fortschrittsfreundlich zu begreifen. Schließlich wird die Welt auch bei der Anpassung verändert; und auch Naturbeherrschung ist nur nach Maßgabe dessen möglich, was die Welt erlaubt.32 Weiterhin ist zu bezweifeln, ob die tatsächlich konfuzianische Gesinnung die Entstehung des Kapitalismus behindert hat oder dafür nicht andere Faktoren – etwa ein Bevölkerungswachstum ohne Landressourcen – ursächlich waren.33 Umgekehrt ist fraglich, ob es wirklich die puritanische Gesinnung war, die den Kapitalismus hervorgebracht hat. Eine Ursache könnte beispielsweise auch die maritime Lage Englands und Hollands gewesen sein. Ebenfalls zu erörtern wäre, ob es in nichtprotestantischen Ländern, etwa im heidnischen Rom oder im katholischen Italien, nicht ähnliche Entwicklungen gegeben hat. Dies führt zu der Frage, ob es gerechtfertigt ist, lediglich die Wirtschaftsform, die in protestantischen Ländern entstanden ist, als Kapitalismus zu bezeichnen. Hat Weber nicht eine historisch zufällige Wirtschaftform zum Idealtypus der Moderne schlechthin erklärt? Problematisch ist also bereits Webers Grundannahme, dass eine bestimmte religiöse Weltanschauung die Voraussetzung für die Entstehung des Kapitalismus gewesen ist. Die materialistische Umdeutung der Hegel’schen Philosophie hatte Marx dazu geführt, das Verhältnis zwischen Wirtschaft und Religion als Kausalverhältnis zu verengen. Diese Verengung wird von Weber übernommen. Dabei war Hegel keineswegs davon ausgegangen, dass die Religion oder die Philosophie die Ursache für das soziale, wirtschaftliche und politische Leben eines Staats sei; er meinte nur, dass sich in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik derselbe Geist zeigt, der sich in Kunst, Religion und Philosophie selbst thematisiert. Marx begriff Kunst, Religion und Philosophie dann nicht mehr als Ausdruck der vernünftigen Selbstreflexion einer Gesellschaft, sondern als von den wirtschaftlichen Verhältnissen hervorgebrachte 30 Shmud N. Eisenstadt: Innerweltliche Transzendenz und die Strukturierung der Welt?, in: Max Webers Studie über Konfuzianismus und Taoismus, hg. v. Wolfgang Schluchter, Frankfurt/M. 1983, S. 363–411. 31 Thomas Metzger: Max Webers Analyse der konfuzianischen Tradition, in: Max Webers Studie über Konfuzianismus und Taoismus, hg. v. Wolfgang Schluchter, Frankfurt/M. 1983, S. 229–270. 32 Mark Elvin: Warum hat das vormoderne China keinen industriellen Kapitalismus entwickelt?, in: Max Webers Studie über Konfuzianismus und Taoismus, hg. v. Wolfgang Schluchter, Frankfurt/M. 1983, S. 114–133, hier S. 118. 33 Elvin: Warum hat das vormoderne China keinen industriellen Kapitalismus entwickelt? (wie Anm. 32), S. 114 u.ö.
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Ideologie. Weber dreht den Spieß schließlich um und will zeigen, dass die Religion Ursache der Wirtschaftsordnung ist. Dabei läuft er wie Marx Gefahr, der Komplexität historischer Prozesse nicht gerecht zu werden. III. Max Webers Studie als Krisensymptom Max Webers Studie ist vor allen Dingen das Symptom der geistigen und politischen Krise in Deutschland am Ende des Ersten Weltkriegs.34 Zeichen der Krise ist bereits die Methode der Typenbildung. Denn Weber erhebt ausdrücklich nicht den Anspruch, dass die Idealtypen, die er skizziert, beispielsweise der konfuzianische Beamte oder der protestantische Kaufmann, Wertbegriffe sind. Auch Hegel hatte von Typus und Ideal gesprochen, damit aber Werte gemeint, die den natürlichen und kulturellen Erscheinungen innewohnen und die treibende Kräfte in der Wirklichkeit sind. Wer das Geschehen in Natur und Kultur verstehen will, muss nach Hegel diese wirkenden Sinnvorgaben aufdecken. Die Wirklichkeit ist in dieser Sicht immer nur unvollkommener Ausdruck, beschränkte Erscheinung der wirkenden, inhärenten Ideen. Zugleich sind diese Ideen für Hegel ein Maßstab, an dem er die Erscheinungen messen kann und der deren Bewertung rechtfertigt. Im Unterschied zu Hegel geht Weber nicht davon aus, dass der Idealtypus der Sache selbst innewohnt. Er wird vielmehr gemäß dem Erkenntnisinteresse des Wissenschaftlers gebildet, um die Aspekte, die für seine Untersuchung besonders relevant sind, besser erfassen zu können.35 Der Idealtypus ist für ihn kein Wertbegriff. Mehr noch: Werturteile – wie die Frage, ob der Protestantismus besser als der Konfuzianismus, die moderne Gesellschaft besser als die traditionelle sei – werden von ihm aus dem Reich der Wissenschaft verwiesen. 36 Seine Idealtypen sind nicht wie Hegels Ideen Grund der Wirklichkeit, so dass die Wissenschaft diese Ideen in der Wirklichkeit erkennen könnte. Vielmehr ist die Wirklichkeit selbst wertfrei. Allenfalls kann man in der Wirklichkeit von Menschen willkürlich gesetzte Werte erkennen; diese können aber keine objektive Gültigkeit beanspruchen.
34 Ernst-Wolfgang Böckenförde: Der Zusammenbruch der Monarchie und die Entstehung der Weimarer Republik, in ders.: Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt/M. 1991, S. 306–343, hier S. 316 u.ö.; Panajotis Kondylis: Der Niedergang der bürgerlichen Denk- und Lebensform, Berlin 2007, S. 51 u.ö.; Wolfgang J. Mommsen: Die Herausforderungen der bürgerlichen Kultur durch die künstlerische Avantgarde, in: ders.: Bürgerliche Kultur und politische Ordnung. Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle in der deutschen Geschichte 1830–1933, Frankfurt/M. 2002, S. 158–177, hier S. 170 u.ö. 35 Weber: Konfuzianismus (wie Anm. 1), S. 19 u.ö. 36 Zum Werturteilsstreit vgl. Radkau: Weber (wie Anm. 5), S. 618 u.ö.
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Werte können nach Weber wissenschaftlich nicht begründet, sondern nur geglaubt werden, weil sie nicht auf Vernunft, sondern auf willkürlichen Entscheidungen beruhen. Das Modell für diesen Wertbegriff findet Weber in dem christlichprotestantischen Gedanken, der Mensch werde nicht erlöst, weil er gut gehandelt habe, sondern weil Gott es so wolle. Was gut und richtig, wertvoll oder wertlos ist, entzieht sich der menschlichen Begründung, weil es auf einem souveränen göttlichen Willen beruht. Ist aber durch die Entzauberung der Welt auch der Glaube an den göttlichen Setzungsakt verschwunden, so ist die Welt im Ganzen sinnlos geworden. Wenn nicht mehr geglaubt wird, dass durch den Willen Gottes ein Sinn in die Welt kommt, dann kann nur noch die willkürliche Dezision des Menschen Sinn stiften. So wie Schiller, Hegel oder Marx die Entfremdung und Vereinseitigung des modernen Menschen konstatiert haben, versteht auch Weber die moderne Gesellschaft als ein stahlhartes Gehäuse. Für ihn ist der lebendige Geist aus diesem Gehäuse entwichen; der einzelne Mensch funktioniert nur noch als Rad im „Triebwerk“ von Staat und Wirtschaft.37 Er ist entweder „Fachmensch ohne Geist oder Genußmensch ohne Herz“,38 aber nicht mehr die plastisch-harmonische Gestalt, die die Antike hervorgebracht hat. Während der Idealismus Schillers und Hegels jedoch davon ausging, dass die Welt gerade in Kunst, Religion und Wissenschaften ihren objektiven Sinn findet, und während Marx die Überwindung der Entfremdung durch eine revolutionäre Praxis forderte, kann Weber das stahlharte Gehäuse nicht mehr mit einem objektiven Sinn der weltgeschichtlichen Entwicklung rechtfertigen. IV. Charisma als Ausweg aus dem stählernen Gehäuse Weber ist in seinen religionssoziologischen Schriften aber auch auf einen Weg aus dem stählernen Gehäuse der modernen Welt gestoßen: die charismatische Herrschaft. Charisma ist für ihn eine „außeralltägliche Qualität“, die bewirkt, dass Menschen in „Glaube“ und „Hingabe“ einem Führer folgen.39 Solche charismatischen Herrschaftsgestalten sind für ihn – neben Caesar, Jesus und Napoleon – vor allem moderne Parteiführer wie William E. Gladstone.40 37 38 39 40
Weber: Religionssoziologie (wie Anm. 7), S. 203. Weber: Religionssoziologie (wie Anm. 7), S. 204. Weber: Konfuzianismus (wie Anm. 1), S. 22. Max Weber: Die reinen Typen der legitimen Herrschaft, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 1988, hier S. 481; vgl. a. Radkau: Weber (wie Anm. 5), S. 600 u.ö.
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Charisma bedeutet für Weber zunächst die Gnadenwahl Gottes, die den einzelnen Menschen von seiner Schuld erlöst. Nach christlich-protestantischer Deutung ist diese Gnadenwahl wesentlich Dezision, Willkür, Setzung und nicht gerechte Belohnung für ein weltliches Verdienst. In der Konfuzius-Studie politisiert sich der Begriff.41 Die konfuzianische Tradition betrachtet den chinesischen Kaiser als „Sohn des Himmels“.42 Als pontifex maximus hat er dafür Sorge zu tragen, dass die Harmonie zwischen Himmel, Erde und Mensch gewahrt bleibt. Zeigen Naturkatastrophen die Störung der Ordnung an, muss er diese durch Buße wiederherstellen. Vermag er das nicht, hat der Himmel ihm das Mandat entzogen; der Kaiser muss abgesetzt oder die Dynastie gewechselt werden. Diese konfuzianische Kaiserideologie ist bei Weber eines der ersten Beispiele für die Rechtfertigung einer charismatischen Herrschaft. Webers Begriff der charismatischen Herrschaft steht wie Hegels Begriff des ‚welthistorischen Individuums‘ in einer Denktradition, die an historischen Zäsuren Staats- und Religionsstifter sucht. Für Hegel ist das ‚welthistorische Individuum‘ Ausdruck des Allgemeinen, d.h. die Verkörperung einer neuen Stufe des Weltgeistes und damit ein Instrument der Vernunft für den Fortschritt in der Geschichte. Diese innere Vernünftigkeit der historischen Aufgabe des ‚welthistorischen Individuums‘ rechtfertigt sein Tun und führt dazu, dass die Menschen ihm folgen.43 Bei Weber ist dieses Vertrauen in die geschichtliche Vernunft verschwunden. Grund für die Gefolgschaft und Rechtfertigung der charismatischen Herrschaft ist nunmehr allein die Außeralltäglichkeit der Entscheidung, die das stählerne Gehäuse des Alltags aufzubrechen vermag. Am Ende des Ersten Weltkriegs erkennt er in der charismatischen Herrschaft für Europa einen Weg, die Zwänge der rationalen, bürokratischen Herrschaft zu überwinden. Freilich verlangt er nicht die Einführung des konfuzianischen Kaiserkultes, sondern die Parlamentarisierung des deutschen Regierungssystems. Die konstitutionelle Monarchie klassifiziert er als rational-bürokratische Herrschaft, die ihre Legitimität aus dem Ethos der Pflichterfüllung und der Gesetzlichkeit des Handelns der Beamtenschaft gewinnt. Angesichts der Katastrophe des Ersten Weltkrieges konstatiert Weber das Versagen dieses bürokratischen Regierungssystems in Deutschland. Pflichterfüllung sei zwar unabdingbar für die rationalen Ausführungen von Alltagsentscheidungen; verantwortungsvolle außeralltägliche Entscheidungen könnten im bürokratischen Betrieb aber nicht gefällt werden. Auch erlaube ein parlamentarisches Regierungssystem eine bessere Führerauslese. 41 Dirk Kaesler: Max Weber, Frankfurt/M. 2003, S. 130. 42 Weber: Konfuzianismus (wie Anm. 1), S. 51. 43 Hegel: Philosophie der Geschichte (wie Anm. 4), S. 44 u.ö.
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Die Parteiführer, die im demagogischen Meinungskampf der Parteien die Macht errungen haben, verfügen in seinen Augen über ein Charisma, das es ihnen ermöglicht, verantwortungsvolle Entscheidungen zu fällen. Deshalb ist in seinen Augen gerade die parlamentarische Regierungsform in der Lage, das stählerne Gehäuse der Bürokratie zu sprengen.44 Im Rahmen der staatsrechtlichen Diskussion der Zeit über Sinn und Zweck des Parlamentes hatte Weber damit allerdings eine fragwürdige Begründung für den Parlamentarismus geliefert. Das klassische liberale Argument für eine Parlamentarisierung lautet, dass nicht die obrigkeitsstaatliche Beamtenschaft, sondern das Parlament Vertreter des Volkes und damit Hüter des Allgemeinwohls ist. Der Vorrang des Parlaments ergibt sich nach dieser Ansicht aus der Annahme, in den Debatten von Parlament und Öffentlichkeit könne das Allgemeinwohl besser gefunden werden als im Arkanum des monarchischen oder bürokratischen Kabinetts. Diese liberale Begründung der Parlamentarisierung konnte Weber nicht mehr akzeptieren. Dagegen sprach zum einen die Ablösung des Honoratiorenparlaments durch die Parteiendemokratie, mit der die Macht von den einzelnen Abgeordneten auf die Parteimaschine überging. Zum anderen hatte Weber den Glauben in die rationale Kraft der öffentlichen Debatte verloren. So wenig wie die rationalen Wissenschaften Werturteile fällen konnten, so wenig konnte eine vernünftige Debatte in Parlament und Öffentlichkeit seiner Meinung nach entscheiden, was gut und richtig ist. Dazu bedurfte es des charismatischen Parteiführers. Die Sinnkrise, die bereits vor dem Ersten Weltkrieg Kunst und Literatur bewegt hatte, war damit in Staatslehre und Verfassungsrecht angekommen. Sie sollte die Rechtswissenschaft für die nächsten Jahrzehnte nicht mehr loslassen. V. Der Führerkult als charismatische Herrschaft Webers Argumentation, das parlamentarische Regierungssystem sei deshalb vorzuziehen, weil es besser als die bürokratische Regierung geeignet sei, charismatische Führer hervorzubringen, die verantwortungsvoll und mit Augenmaß Entscheidungen treffen, mag man in Zweifel ziehen. Unbestreitbar hat er jedoch mit der charismatischen Herrschaft einen Begriff geschaffen, mit dem sich die revolutionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts beschreiben lassen.
44 Max Weber: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in: ders.: Gesammelte politische Schriften, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 1988, S. 306–443, hier S. 332 u.ö., u. 382 u.ö.; Max Weber: Politik als Beruf, in: ders.: Gesammelte politische Schriften, hg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 1988, S. 505–560, hier S. 507 u.ö.
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Die Rolle des ‚welthistorischen Individuums‘ Hegels, das eine neue Stufe in der vernünftigen Entwicklung der Weltgeschichte einleitet und deshalb Recht und Macht auf seiner Seite hat, hatte im Marxismus die kommunistische Partei übernommen. Aus dem Individuum als Verkörperung des Weltgeistes wurde bei Marx und Engels die Klasse, vor allem aber die kommunistische Partei als der „entschiedenste, immer weiter treibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder“.45 Lenin betrachtete später die kommunistische Partei als „Avantgarde der Arbeiterklasse“ und rechtfertigte so die konspirative Führerauslese von oben.46 Dieses System des ,Demokratischen Zentralismus‘ wurde von der Kommunistischen Partei Chinas übernommen. Und wie in der Sowjetunion wurde auch in China aus der ‚Avantgarde der Arbeiterklasse‘ der Führerkult, so dass der Schriftsteller und Kulturpolitiker Guo Moruo 1949 Stalin als die ewige Sonne besingen konnte, als denjenigen, der ein neues Kapitel in der Menschheitsgeschichte aufgeschlagen habe.47 Der Revolutionär wird als ‚welthistorisches Individuum‘ und als ‚charismatischer Führer‘ gefeiert. Webers Beschäftigung mit dem Konfuzianismus und Taoismus ist so gesehen weder Ausdruck eines Eskapismus noch der Versuch einer Rechtfertigung des Eurozentrismus. Sie gründet vielmehr im Unbehagen an der modernen kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung und im Zweifel an der Macht der Vernunft. Um dennoch diese bürgerliche Ordnung zu bewahren, setzte er auf die Parlamentarisierung des Regierungssystems und die Herrschaft des charismatischen Parteiführers. In China hingegen führte das Unbehagen an dem stählernen Gehäuse des Konfuzianismus zur Revolution. Der charismatische Führer war dort die revolutionäre Macht, die es erlaubte, das überkommene Gehäuse zu sprengen. Insofern hat Max Weber mit dem Begriff der charismatischen Herrschaft eine Kategorie entwickelt, mit der sich auch die chinesische Geschichte im 20. Jahrhundert verstehen lässt. Denn nicht die Parteiführer einer liberalen, parlamentarischen Demokratie, die Weber ursprünglich im Blick hatte, als er die neuen ‚Söhne des Himmels‘ suchte, sind zu den charismatischen Führergestalten des 20. Jahrhunderts geworden, sondern Revolutionäre wie Mao, die sich über Gesetz und Alltagsordnung gestellt und gegen die bürgerliche Ordnung gekämpft haben.
45 Karl Marx u. Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei 1948, in: dies.: Studienausgabe in vier Bänden, Band 3, hg. v. Iring Fetscher, Berlin 2004, S. 61–91, hier S. 73. 46 Vladimir I. Lenin: Was tun?, Hamburg 2010, Abschnitt 4e. 47 Guo Moruo: Long Live Stalin, in: Sources of Chinese Tradition, Band II, hg. v. Theodore de Bary u. Richard Lufrano, New York 1999, S. 454f.
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„Europäer sind unglücklich im Umgang mit Chinesen“ Alfred Döblins Beschäftigung mit China in der Zeit der Weimarer Republik
Alfred Döblins erste intensive Beschäftigung mit China fiel in die Jahre 1912 und 1913. Im Januar 1912 begann er die Vorarbeiten zu seinem chinesischen Roman Die Drei Sprünge des Wang-lun. Seine Vorstudien waren äußerst gewissenhaft. Er zog ein enormes Quellenmaterial heran, insbesondere die damaligen Standardwerke der Sinologie. Nach Quellenstudien von Walter Muschg und Fang-hsiung Dscheng waren folgende Bücher ergiebig, einige davon sogar sehr ergiebig für die Arbeit an dem Roman: Wilhelm Grubes Geschichte der chinesischen Literatur (1902), Religion und Kultus der Chinesen (1910), Zur Pekinger Volkskunde (1901) und Die Religion der alten Chinesen (1908); Johann Jakob Maria de Groots The religious system of China (5 Bände, 1892–1910), Sectarianism and religious persecution in China (1903); Richard Wilhelms Serienübersetzungen von chinesischen philosophischen Klassikern wie Lun Yü (1910), Laotse (1911), Liä Dsi (1912) und Dschuang Dsi (1912); Johann Heinrich Plaths Die Geschichte der Mandschurey (1830), Confucius und seiner Schüler Leben und Lehre (1867–1874); Ernst Boerschmanns Pu’ Tu’ Shan. Die heilige Insel der Kuan Yin, der Göttin der Barmherzigkeit (1911); Carl Friedrich Koeppens Die lamaische Hierarchie; Samuel Turners Reise an den Hof des Teshoo Lama (1801).1 Neben sinologischen Fachbüchern wandte sich Döblin an chinakundige Schriftstellerkollegen und Intellektuelle wie Albert Ehrenstein und Martin Buber und bat sie um Informationen, Ratschläge und Hilfeleistungen. Er besuchte überdies mehrmals Völkerkundemuseen, las zahlreiche einschlägige Reise- und Zeitungsberichte und nahm sogar sporadisch Kontakte zu Chinesen auf. Durch diese intensiven Vorstudien erwarb sich Döblin eine gelehrte Fachkenntnis über China, die sich auf fast alle Bereiche des chinesischen Lebens erstreckte. Der Wang-lun-Roman wurde 1915 veröffentlicht und war ein literarisches Ereignis. Mit ihm begann Döblins Laufbahn als großer Schriftsteller. In der Zeit der 1 Vgl. Walter Muschg: Nachwort des Herausgebers, in: Alfred Döblin: Die drei Sprünge des Wang-lun. Chinesischer Roman, Olten u. Freiburg/Br. 1960, S. 481–502, hier S. 487 u. S. 497–499. Vgl. Fanghsiung Dscheng: Alfred Döblins Roman „Die drei Sprünge des Wang-lun“ als Spiegel des Interesses moderner deutscher Autoren an China, Frankfurt/M. 1979, S. 192–201.
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Weimarer Republik stieg er von einem „literarischen Außenseiter“ zu einer „repräsentativen“ Figur des Kulturlebens auf.2 Mit der durch den chinesischen Roman freigesetzten Produktivität schuf er eine Reihe von umfangreichen Werken, von Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine (1918) über Wallenstein (1920) und Berge Meere und Giganten (1924) bis hin zu dem Welterfolg Berlin Alexanderplatz (1929). Gleichzeitig schrieb er zahlreiche Literaturrezensionen, politische Essays, zeitkritische Aufsätze und philosophische Reflexionen. Zudem engagierte er sich gesellschaftlich in verschiedenen Gruppen und Institutionen. Diese Entwicklung wurde durch sein Interesse an chinesischer Kultur begleitet. Das umfassende und profunde sinologische Wissen, das er sich bei den Vorstudien zum Wang-lun-Roman angeeignet hat, findet in den darauffolgenden Jahren nicht nur immer wieder Anwendung, sondern es wird auch ergänzt, erweitert und vertieft. Wenn man Döblins Denken und Schaffen der zwanziger Jahre überblickt, so lassen sich in vielen literarischen Texten und theoretischen Schriften eindeutige chinesische Spuren finden, wodurch das Bild von Döblin als Fachmann für China, das der Wang-lun-Roman begründete, bestätigt wird. 3 I. Die chinesischen Erzählungen 1921 erschien die Erzählung Der Überfall auf Chao-lao-sü in der Zeitschrift Genius. Sie war eigentlich als Eingangskapitel des Wang-lun-Romans vorgesehen, wurde auf Martin Bubers Vorschlag hin aber gestrichen. Inhaltlich besteht die Erzählung aus zwei Teilen. Im ersten Teil geht es um das Ereignis und das Ergebnis: In den dunklen Straßen der am Hafen liegenden Stadt Schan-hai-kuan wird der junge Chao-lao-sü, der verwöhnte Sohn des Großen Generals Chao-hoei, bei einem Nachtbummel zum Freudenhaus überfallen. Der arrogante Abkömmling der mandschurischen Eroberer ist gerade im Begriff, ein chinesisches Mädchen zu schikanieren, als ihn „zwei Kerle im Finstern“ niederschlagen und bewusstlos liegen lassen.4 Die aufbrausende Wut des hochgestellten Vaters über diese Tat leitet dann den zweiten Teil der Erzählung ein, in dem die tiefere Ursache für den Überfall bzw. die Rebellion des Volkes beleuchtet wird. Chao-hoei, der vom Kaiser bevollmächtigte General, droht als Rache für den Überfall auf seinen Sohn die ganze Stadt mit schrecklichen Strafen zu überziehen. Einige Beamte werden ins Gefängnis gewor2 Vgl. Gabriele Sander: Alfred Döblin, Stuttgart 2001, S. 30 u. 40. 3 Vgl. Wei Luo: „Fahrten bei geschlossener Tür“. Alfred Döblins Beschäftigung mit China und dem Konfuzianismus, Frankfurt/M. 2004, S. 65–100. 4 Alfred Döblin: Der Überfall auf Chao-lao-sü, in: ders.: Die Ermordung einer Butterblume. Sämtliche Erzählungen, hg. v. Christina Althen, Düsseldorf u. Zürich 2001, S. 326–345, hier S. 329.
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fen, andere abgesetzt. Er will auch den Stadtpräfekten Tang Schao-i für den Vorfall verantwortlich machen und ihn verjagen. Doch der Zivilmandarin weiß mit List, Erfahrung und Bildung das Vorhaben des Militärmandarins zu durchkreuzen. Er nutzt die Schwäche des Generals aus und bringt ihn dazu, mit ihm einen Kompromiss zu schließen. Mit Rücksicht auf beiderseitige Interessen verspricht der General nach Verhandlungen mit dem Präfekten eine Steuererhöhung, während dieser im Gegenzug jenem die Kooperation „bei der Unterdrückung der Rebellion“ zusagt; so arbeiten „Militär und Zivil“ „Hand in Hand“.5 Es sind dieses Bündnis und die dahinter stehende politische Korruption und Verfolgung, worunter das Volk leiden muss. Wo Unterdrückung ist, ist auch Aufbegehren. In der Veranschaulichung dieses inneren Zusammenhangs zwischen Ursache und Wirkung wird Döblins sozialkritische Intention deutlich. Im Unterschied zu der im chinesischen Roman dominierenden philosophischen Reflexion haben die Bezüge auf die daoistischen und konfuzianischen Weisheiten in der Erzählung vor allem einen sozialkritischen Charakter. So wird eine berühmte, die absolute geistige Freiheit verherrlichende Fabel aus dem daoistischen Klassiker Zhuangzi geringfügig verändert in die anfängliche Beschreibung des Meeres eingearbeitet: Das Meer hatte sich mit einem Panzer überzogen, von dem es heißt, er ist der Rücken des Vogels Pang; wenn sich der Pang erhebt und nach den südlichen Seen fliegt, mißt sein schuppiger Leib Millionen Meilen und seine riesigen Flügel vermögen die Wolken zu treiben.6
An einer anderen Stelle leuchtet die konfuzianische Weisheit in den Worten des Stadtpräfekten auf, der vor dem Kriegsgeneral seinen Widerwillen gegen das Militärische andeutet: Unser Land ist ruhig, Exzellenz; es kann viele Priester vertragen. Es sind nicht fünfzig Jahre her, als in Tschili und Schan-si monatelange Dürre herrschte, die Quellen versiegten, das Vieh massenweise hinstarb. [...] Da stand kein Herr vor Jing-ping, vor Schan-hai-kwang; aus den Dörfern flohen keine Bauern, die sich vor Kriegern fürchten. In Peking ging der Kaiser vor den Himmelsaltar, richtete eine Bittschaft an Schang-ti; die Prozessionen sangen in allen Provinzen. Und es regnete! Man glaubte, die Zeiten des Yao und Schun seien wiedergekommen.7
Es fällt auf, dass Döblin den konfuzianisch hoch gebildeten Zivilmandarin Tang Schao-i mit gewisser Sympathie darstellt, während er dem Großen General Chao Ho-ei konsequent die dumme, rohe und brutale Rolle zuweist. Die Sympathie gilt jedoch im Grunde nur der konfuzianischen Lehre, durch die Döblin sich in seiner eigenen Forderung nach Humanität und Frieden bestätigt fühlt, nicht aber der Fi5 Döblin: Der Überfall auf Chao-lao-sü (wie Anm. 4), S. 344. 6 Döblin: Der Überfall auf Chao-lao-sü (wie Anm. 4), S. 326. 7 Döblin: Der Überfall auf Chao-lao-sü (wie Anm. 4), S. 341.
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gur, die sie in Anspruch nimmt. Denn diese Inanspruchnahme erweist sich im weiteren Verlauf der Erzählung als unverschämter Missbrauch, und der Mandarin wird am Ende als zynischer Scheinkonfuzianer entlarvt. Am 16. April 1922 wurde die zweite chinesische Erzählung, Gespräch im Palast Khien-lungs, in der Sonntagsbeilage des Berliner Börsen-Couriers veröffentlicht. Sie war ursprünglich für das dritte Buch des Wang-lun-Romans vorgesehen und wurde ebenfalls vor der Drucklegung ausgeschieden. Sie ist im Umfang viel kürzer als die vorangegangene und handelt von einem Gespräch, das Kaiser Khien-lung in seinem Palast mit seinem Sohn Kia-king und seinen vertrauten Würdenträgern führt. Den Hintergrund bildet die Bezwingung der fremden Völker. Der aktuelle Anlass der Beratung ist „die Angelegenheit der Torgoten“.8 Die Hauptfiguren sind der Kaiser und sein Sohn Kia-king. Während Kia-king wie im Wang-lun-Roman die negative Rolle spielt und sich durch sein träges, schwerfälliges Temperament und eine willkürliche, skrupellose Entstellung und Verfälschung von Konfuzius und dessen Lehre auszeichnet, fällt eine deutliche Umwertung bei der Gestaltung der Figur des Kaisers auf. Im Unterschied zum chinesischen Roman, wo Khien-lung in seinem beschwerlichen, aber aufrichtigen Bemühen um die Versöhnung von Menschlichkeit und kaiserlicher Macht noch als sympathisches und bemitleidenswertes Opfer des Machtmechanismus dargestellt wird, zeigt er hier keinerlei Gewissensbisse und erscheint als ein „böse[r] und hinterlistig[er]“ Herrscher, der prunkvoll und lasterhaft lebt und nur auf Ruhm und Gewinn versessen ist.9 Es ist an ihm kaum mehr eine Spur vom Streben nach menschlichem Regieren zu spüren, wie es die konfuzianische Lehre vom weisen Herrscher fordert. In seiner Unersättlichkeit und Eroberungslust scheut er vor keinem Mittel zurück. Zwar schreibt er immer noch die Natur besingende Gedichte und gilt weiter als Dichter, doch erweist sich dies als äußerliche Dekoration und Täuschung. Dass er Konfuzius nicht aus dem Herzen verehrt, sondern für eigene Interessen rücksichtslos in Anspruch nimmt, wird am Ende in dem Dialog mit seinem Sohn pointiert deutlich gemacht. Wie immer beruft sich Kia-king auf Konfuzius und dessen Lehre und schlägt seinem Vater eine sogenannte „friedliche Bezwingung“ vor, nach der neben der Gewalt der Waffen auch der „Reichtum unserer Kultur“ als Mittel zur Landunterwerfung zu nutzen sei, weil der Friedliche die Unfriedlichen besiege und Kriege nur Augenblickserfolge erzielen könnten.10 Indem Döblin den fest an die kaiserliche Macht glaubenden, kriegerischen und konspirativen Prinzen ohne Scham vom Frieden sprechen und 8 Alfred Döblin: Gespräch im Palast Khien-Lungs, in: ders.: Die Ermordung einer Butterblume. Sämtliche Erzählungen, hg. v. Christina Althen, Düsseldorf u. Zürich 2001, S. 346–353, hier S. 346. 9 Döblin: Gespräch im Palast Khien-Lungs (wie Anm. 8), S. 348. 10 Döblin: Gespräch im Palast Khien-Lungs (wie Anm. 8), S. 352f.
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den despotischen Kaiser seinen Sohn als „Friedensfreund, Sänger des Friedens“ feiern lässt, unterlegt er seiner Erzählung die schärfste Ironie. 11 Die beiden Erzählungen Der Kaiser und die Dsungeren und Die Fürstentochter wurden 1925 zusammen in der Zeitschrift Das Kunstblatt veröffentlicht. Es handelt sich um sehr kurze Geschichten, die zusammen nicht einmal drei Druckseiten umfassen. Ihre Entstehung geht ebenfalls auf den Wang-lun-Roman zurück; sie können als ungedruckte Partien des Romans angesehen werden. In der ersten Erzählung geht es um die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Khien-lung und den Dsungeren, wobei der Kaiser im Mittepunkt steht und negativ dargestellt wird. Ein Dsungerenhäuptling namens Amursann bittet den Kaiser, ihm bei seinem Parteikampf gegen seinen König zu helfen. Nach dem Sieg bricht Khien-lung sein gegebenes Versprechen und nimmt das Gebiet in Besitz, was zum Aufruhr des unzufriedenen Amursann führt, der aber durch das kaiserliche Heer unterdrückt wird. Dabei wird Khien-lung als „stolzer“, „gottlos herausfordernder“, heuchlerischer und grausamer Despot stilisiert.12 So ist der Ahnenkult bei ihm auf bloß formale Pracht reduziert, die dazu dienen soll, seine Macht „in den fernsten Gegenden der Erde zu zeigen“.13 Seine Gabe als großer Dichter verwendet er letzten Endes dazu, schmutzige Politik zu betreiben. Das Gedicht mit zarten Wendungen, geistreichen und vieldeutigen Anspielungen, in dem er „zum Entzücken jedes Gebildeten den Untergang der Dsungeren“ schildert, erweist sich als ein „Edikt“ und „ein Befehl des Himmelssohnes“, aufgrund dessen zahllose Menschen umkamen.14 Auch wenn er kurz vor dem letzten Entschluss zur Niederwerfung „in fesselloses Weinen“ ausbricht,15 sind solche gelegentlichen Gewissensbisse zu selten und zu schwach, um am Ende verhindern zu können, dass Habgier und Raffsucht seine Menschlichkeit ersticken. Während Döblin in den bisher behandelten Erzählungen vor allem die herrschenden Kreise und deren korruptes Beamtensystem angreift, rückt er in Die Fürstentochter das Schicksal der Frau in der feudalistischen Gesellschaft ins Zentrum und eröffnet seinen auf chinesischen Stoffen basierenden Texten damit eine neue Perspektive. Die Bezugnahme auf Ma-noh und die ‚Gebrochene Melone‘ verrät dabei den inhaltlichen Zusammenhang mit dem Wang-lun-Roman. Die Hauptheldin ist das „fein erzogene, der Laute kundige“ und „auf goldenen Lilien“ spazierende
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Döblin: Gespräch im Palast Khien-Lungs (wie Anm. 8), S. 353. Döblin: Der Kaiser und die Dsungeren, in: Das Kunstblatt 9 (1925), S. 135f., hier S. 135. Döblin: Der Kaiser und die Dsungeren (wie Anm. 12), S. 135. Döblin: Der Kaiser und die Dsungeren (wie Anm. 12), S. 136. Döblin: Der Kaiser und die Dsungeren (wie Anm. 12), S. 135.
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Fräulein Poh.16 Sie stammt zwar aus einem „vornehmen“, „fürstlichen“ Haus,17 ihre unglücklichen Erlebnisse spiegeln aber das typische Geschick der Frau in der patriarchalischen Gesellschaft wider und haben daher repräsentativen Charakter. Als Fürstentochter leistet Poh Widerstand gegen die von den Eltern arrangierte Ehe und ihre Misshandlung, indem sie aus dem Haus flüchtet und sich der ‚Gebrochenen Melone‘ anschließt, einer Sekte, die Ma-noh nach seiner Trennung von Wang-lun gründet und deren wichtigste Regel die Heilige Prostitution ist. Dieser Forderung kann Fräulein Poh trotz ihrer Zustimmung in der Praxis nur schwer nachkommen. Sie lehnt sie so entschieden ab, dass die Brüder sie zum Verlassen der Gemeinschaft auffordern. Die „Furcht vor ihrem Vater“ lässt sie jedoch zu dem Bund zurückkehren, wo sie versprechen muss, „sich allem zu fügen, um nicht zu sterben“.18 Der starke Widerwillen gegen die Sekte und die große Sehnsucht nach „Sicherung vor ihrem Vater“ bringen sie schließlich dazu, sich freiwillig als Freudenmädchen an ein Teehaus zu verkaufen, was zwar nicht gelingt, aber ihre endgültige Ausstoßung aus der ‚Gebrochenen Melone‘ zur Folge hat.19 Völlig verzweifelt nimmt sie sich das Leben. Die Reaktion auf ihren Tod ist kalt. Der fürstliche Vater schweigt aus Scham, die Behörden halten aus politischer Rücksichtnahme den Bericht zurück, und auch Ma-noh ermittelt die Schuldigen nicht. So zeigt Döblin am tragischen Untergang der sich nach Freiheit und persönlichem Glück sehnenden Fürstentochter, dass die Ursachen für die Hilflosigkeit und die Ausweglosigkeit der Frau sowohl in der politischen, feudalistischen Unterdrückung als auch in der Unterdrückung durch die Männer bestehen. II. Die chinesischen Spuren in Döblins Essays und theoretischen Schriften Parallel zu den chinesischen Erzählungen, in denen Döblin seine ungewöhnliche Fabulierkunst und produktive Aneignung chinesischer Stoffe in novellistischer Virtuosität bewies und gleichzeitig scharfe Zeit- und Gesellschaftskritik übte, veröffentlichte er eine Anzahl von theoretischen Essays und kleinen Schriften, die chinesische Einflüsse erkennen lassen. Dabei kann man drei Arten der Bezugnahme unterscheiden: den direkten Bezug auf Laotse und Konfuzius, die Aneignung von Begriffen der chinesischen Philosophie und die allgemeine Erwähnung von China und den Chinesen. 16 17 18 19
Alfred Döblin: Die Fürstentochter, in: Das Kunstblatt 9 (1925), S. 136f. Döblin: Die Fürstentochter (wie Anm. 16), S. 136. Döblin: Die Fürstentochter (wie Anm. 16), S. 136. Döblin: Die Fürstentochter (wie Anm. 16), S. 137.
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In Döblins Texten finden sich zahlreiche Verweise auf Laotse und Konfuzius. Ein Beispiel dafür ist sein Aufsatz Der rechte Weg aus dem Jahr 1920, der bereits im Titel auf Alexander Ulars Übertragung des Daodejing von Laotse: Taoteking. Die Bahn und der rechte Weg von Lao-Tse anspielt. Im Nachwort der populären InselAusgabe hatte der Übersetzer auch Laotses historischen Namen Li Pejang erwähnt und Bezüge zu Goethe und Nietzsche hergestellt.20 Döblin nimmt dies in seinem Aufsatz auf: Einundachtzig Sprüche, einige nur vier bis sechs Zeilen lang, hat Laotses Taoteking, die Bahn und der rechte Weg. Neben diesem Buch kann sich keins halten, denn es nimmt sie alle auf. Es überwindet sie im Hegelschen Sinne, indem es sie nicht beseitigt oder widerlegt, sondern ihnen ihren Platz anweist. Es haben noch einige Jahrtausende Literatur Raum in diesem Buch. Der Archivar Li Pejang war noch weiser als der alte Goethe. Er versagte sich jeden Mythos.21
Vorausschauend bemerkt Döblin, dass viele Europäer dieses Buch in den kommenden Jahrzehnten in der Tasche tragen würden. Aus diesem Grund schlägt er mit Blick auf das Groß-Oktavformat auch vor: „Dies Buch müßte klein bequem gebunden sein.“22 Konfuzius’ Name taucht auch in Döblins am 7. Juli 1921 in der Weltbühne veröffentlichten Beitrag Der Verrat am Deutschen Schrifttum auf. Darin geht es um die Angelegenheiten des ‚Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller‘, einer Interessenvertretung der Schriftsteller, für die Döblin sich seit 1920 engagierte. Im Namen des Schutzverbands nimmt Döblin gegen eine Konkurrenz-Organisation, den ‚Verband Deutscher Erzähler‘ Stellung. Er wirft der Gegenseite vor, mit Begriffen zu jonglieren: Plötzlich aber sehe ich jetzt einen Vertragsentwurf vor mir als erstes Produkt der Gegenseite, wo zwar – bei Zeus, Buddha und Confuzius – wörtlich nichts „Gewerkschaftliches“ sich findet, wohl aber der Erzählerverband, der ersehnte Fachverband sich – auch – nicht findet! [...] Da sollten wir, wir Epiker – und bei Zeus, Buddha und Confuzius, wir aus dem Schutzverband können uns in literarischer „Prominenz“ neben den fabelhaft Singularen der Gegenseite sehen lassen – da sollten wir aus den Armen der bösen „roten“ Mischmasch-Gewerkschaft gelockt werden [...].23
20 Vgl. Die Bahn und der rechte Weg des LAO-TSE, der chinesischen Urschrift nachgedacht von Alexander Ular, 16.–25. Tsd., Leipzig 1919, S. 57–71. Ulars Übertragung war zuerst 1903 erschienen. 21 Alfred Döblin: Der deutsche Maskenball von Linke Poot. Wissen und Verändern!, Olten u. Freiburg/ Br. 1972, S. 93. (Die Glosse Der rechte Weg wurde von Döblin in das Buch Der deutsche Maskenball integriert; S. 84–94). 22 Döblin: Der deutsche Maskenball (wie Anm. 21), S. 93. 23 Alfred Döblin: Der Verrat am deutschen Schrifttum, in: ders: Kleine Schriften I, Olten u. Freiburg/ Br. 1985, S. 307–310, hier S. 308.
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Interessant ist hier die Formulierung ‚bei Zeus, Buddha und Confuzius‘, die Döblin nutzt, um seinen ironischen Angriff auf die gegnerische Organisation effektvoll zu gestalten. Gewöhnlich würde man die landläufige Redewendung ‚bei Gott‘ verwenden. Döblin zeigt sich originell und ersetzt den einen Gott durch drei Gottheiten bzw. vergöttlichte Figuren der menschlichen Geschichte: den griechischen Zeus, den indischen Buddha und den chinesischen Konfuzius. Indem Döblin Konfuzius hier als Gott neben Zeus und Buddha stellt, zeigt er seine große Bewunderung und Wertschätzung des chinesischen Weisen. Zudem nimmt Döblin oft Grundbegriffe der chinesischen Philosophie auf, und zwar entweder in ihrer Lautübersetzung oder in umgeschriebener Form. 1923 verwendete er in seiner Einleitung zu Heines „Deutschland“ und „Atta Troll“ mit tao einen der wichtigsten Begriffe der chinesischen Philosophie, was seine scharfe Deutschlandkritik nicht nur unkonventionell wirken ließ, sondern ihr auch eine kulturvergleichende Perspektive verlieh: Sehe ich in den „Atta Troll“ und „Deutschland“, so erkenne ich: es gibt heute mehr Muffwinkel in Deutschland als früher. Die verschollenen Dichterschulen hatten politischen Einschlag. Von damals zu heute ist die Maschine durch das Reich gegangen. Samt dem bismarckischen Absolutismus. Jeder verfolgt nun seinen graden Weg. Der ist kein Tao, sondern der alte Schnitt schräg durch den Menschen.24
Derselbe Begriff tauchte 1927 nochmals in einer seiner bedeutendsten philosophischen Schriften, Das Ich über der Natur, auf: Das Tao verkündet: Durch Handeln wird nichts geändert. Buddha aber – Dieser Unterschied zwischen dem Stillen, Stummen der Taolehre und Buddhas – bei aller Sanftheit – entschlossener, promethischer Selbstaushebelung.25
Während Döblin in seiner Einleitung zu Heine tao eher in dem allgemeinen Sinne von ‚Weg‘ oder ‚Gesetz‘ gebrauchte, so ist tao hier weitgehend mit dem daoistischen ‚Nicht-handeln‘ identisch.26 Dabei wird Kritik auch am Daoismus erkennbar. Denn der Buddhismus erscheint Döblin aktiver und optimistischer als die daoistische Ruhe und Passivität gegenüber der Gesellschaft. Obwohl Döblin sich oft auf chinesische Philosophen und Begriffe der chinesischen Philosophie bezieht, finden sich in seinen Texten doch weit häufiger abstrakte und allgemeine Bezugnahmen auf China und ‚die Chinesen‘. So bezieht er sich in dem Erstdruck der Glosse Der deutsche Maskenball (1920) – als er seine These, Verfassungen und Abstimmungen seien nur ein Regulativ und Korrektiv für das Leben, 24 Alfred Döblin: Aufsätze zur Literatur, Olten u. Freiburg/Br. 1963, S. 274. 25 Alfred Döblin: Das Ich über der Natur, Berlin 1927, S. 141. 26 Vgl. Chinesische Enzyklopädie. Philosophie II, Beijing u. Shanghai 1987, S. 131.
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untermauern will – statt auf Laotse auf ‚den Chinesen‘: „Der Chinese sagt: tatlose Verwaltung – frohes Volk, eifrige Verwaltung – trauriges Volk.“27 1921 erscheint in der Zeitschrift Ganymed der Aufsatz Goethe und Dostojewski, in dem sich Döblin zur Begründung seiner zivilisationskritischen Position erneut auf den Osten und auf China beruft. Er korrigiert darin sein früheres negatives Urteil über Goethe und stilisiert den deutschen Dichter als „Östler“, und zwar als „Chinesen“.28 Döblin zeichnet nun ein positives Goethe-Bild. Goethe sei ein „Verehrer der Kultur“ und habe nichts mit dem „Nationalhaß“ und dem Nationalwahn zu tun.29 Er sei vom deutschen Bürgertum als nationalistisches Leitbild missbraucht und „zum Götzen für den trüben deutschen Mittelstand“ gemacht worden.30 „Das viele Bücherschreiben über ihn“ und „die tausendfache Bemühung um ihn“ hätten den Blick auf Goethe eher verstellt.31 Da das so geschaffene Götzenbild „Gift für die Jugend“ sei, müsse man diese Verfälschung und Entstellung aufdecken.32 Der wahre Goethe ist Döblin zufolge seinem Wesen nach nicht westlich, sondern östlich, nicht europäisch, sondern chinesisch: Europa ist eine Halbinsel von Asien; auf dieser Halbinsel rast man, erfindet, denkt blind um sich. Das ungeheure Hinterland hält sich ruhig. Von diesem Hinterland lebt immer eine gewisse Anzahl Menschen zerstreut auf der Halbinsel. Einer war Goethe. [...] Europäer sind unglücklich im Umgang mit Chinesen; ihre Denkweise ist ihnen völlig unfaßbar. Von dieser Art ist Goethe.33
Döblin betont wiederholt Goethes Zugehörigkeit zu einer „fremden Geistesrasse“.34 Er bemerkt an dem Dichter eine geistige Fremdheit, mit der die Europäer nicht fertig würden. Daher habe Goethe der europäische Provinzialismus auch nicht berührt, und er sei in Deutschland isoliert geblieben. Döblin macht das ‚chinesische‘ Wesen Goethes dabei vor allem an drei Eigenschaften fest. Die erste ‚chinesische‘ Eigenschaft sieht er in Goethes umsichtigem Umgang mit der Natur. Gleich zu Beginn des Aufsatzes weist er nachdrücklich darauf hin, dass Goethe als Naturwissenschaftler eine vorsichtige, geduldige und maßvolle Haltung 27 Döblin: Der deutsche Maskenball (wie Anm. 21), S. 275 (Variantenverzeichnis). Die Formulierung wurde in der späteren Druckfassung gestrichen. 28 Alfred Döblin: Goethe und Dostojewski, in: Ganymed 3 (1921), S. 82–93, hier S. 89. Eine Neufassung des Aufsatzes findet sich in: Alfred Döblin: Aufsätze zur Literatur, Olten u. Freiburg/Br. 1963, S. 312–321. 29 Döblin: Goethe und Dostojewski (wie Anm. 28), S. 88. 30 Döblin: Goethe und Dostojewski (wie Anm. 28), S. 88. 31 Döblin: Goethe und Dostojewski (wie Anm. 28), S. 89. 32 Döblin: Goethe und Dostojewski (wie Anm. 28), S. 88. 33 Döblin: Goethe und Dostojewski (wie Anm. 28), S. 89. 34 Döblin: Goethe und Dostojewski (wie Anm. 28), S. 89.
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gegenüber der Natur befürwortet habe. Er habe immer mehr beobachtet als experimentiert. Den Grund dafür erkennt Döblin in dem Willen „zu der unentstellten, unberührten und unveränderten Natur“.35 Er zitiert Goethes Satz: „Man kann sich nicht genug in acht nehmen, aus Versuchen nicht zu geschwind zu folgern“.36 Und er fährt fort: Er wütet nicht furios in die Natur hinein, sondern es ist ihm eine tiefe Genugtuung, als ihm das Wort zugetragen wird, er sei gegenständlich. An hundert Stellen wird er nicht müde zu erklären die Sorgfalt, Vorsicht, Zurückhaltung, Geduld, die man anwenden muss, um sich der Natur zu nähern.37
Das zweite ‚chinesische‘ Merkmal Goethes ist dessen inneres Gleichgewicht. Der Dichter habe sich dem Leben hingeben können, ohne sich von diesem beherrschen zu lassen. Döblin führt dies auf „das innere Balancement“ Goethes als „Östler“ zurück.38 Das Gemütsgleichgewicht habe ihn vor dem „Überwuchern und Versklaven“ bewahrt.39 Trotz seiner vielfältigen Leidenschaften, Visionen und Fähigkeiten sei Goethe kein zerrissener Mensch gewesen und habe nicht um seine innere Ruhe kämpfen müssen. Das dritte ‚chinesische‘ Kennzeichen erkennt Döblin in Goethes diesseitsbezogener Gottesvorstellung. Dabei rückt er den alten Goethe in den Vordergrund: „Im höheren Alter konnte er einige Dinge aussprechen. [...] Er sieht die Welt als eine eigentümliche sittliche Erscheinung.“40 Das Wort ‚sittlich‘ ist für Döblin dabei wichtig. Denn damit berührt er Goethes Gottesvorstellung. Döblin zufolge bedeutet „die Person Christi“ für Goethe „die göttliche Offenbarung des höchsten Prinzips der Sittlichkeit“, weshalb seine „Ehrfurcht vor der Person Christi“ gleichzeitig die vor „dem höchsten Prinzip der Sittlichkeit“ sei.41 Goethe habe nicht Nein zu Christus gesagt. Doch verwende er die Begriffe ‚Gott‘ und ‚das Göttliche‘ nur in einer symbolischen, andeutungsvollen Weise. ‚Göttlich‘ werde von Goethe auf alles Irdische und Weltliche übertragen. Das Jahr 1921 brachte ferner den wichtigen Essay Der Schriftsteller und der Staat, in dem Döblin China als kulturelles Vorbild für die Weimarer Republik hinstellte. Der Essay basiert auf einer Rede, die Döblin am 7. Mai 1921 auf einer Tagung des Schutzverbandes deutscher Schriftsteller hielt. Er zählt zu seinen be35 36 37 38 39 40 41
Döblin: Goethe und Dostojewski (wie Anm. 28), S. 83. Döblin: Goethe und Dostojewski (wie Anm. 28), S. 89. Döblin: Goethe und Dostojewski (wie Anm. 28), S. 83. Döblin: Goethe und Dostojewski (wie Anm. 28), S. 89. Döblin: Goethe und Dostojewski (wie Anm. 28), S. 89. Vgl. Döblin: Goethe und Dostojewski (wie Anm. 28), S. 90. Döblin: Goethe und Dostojewski (wie Anm. 28), S. 90.
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deutendsten literaturpolitischen Stellungnahmen. Nachdem der Autor durch ein Krüppel-Gleichnis zu Beginn des Vortrags veranschaulicht hat, wie unwürdig und armselig die Stellung des Schriftstellers in Deutschland ist, führt er im Kontrast eine chinesische Szene an: Bei der Niederwerfung des Boxeraufstandes marschierten die europäischen Truppen durch Tsingtau. Die chinesische Bevölkerung ließ sich die einzelnen Formationen und Rangstufen demonstrieren: es gab Grinsen und Achselzucken beim Anblick der Uniformen, der Soldaten und der hohen Offiziere auf den schönen Pferden. Dann kam ein Mann hinten beim Gepäck, er fuhr in einem kleinen zweirädrigen Wagen, ein gewöhnlicher Zivilist. Als man ihnen diesen wies und sagte, dies sei ein Schreiber, ein Schriftsteller, ein Literat, traten sie achtungsvoll zurück, schwangen grüßend die Hände, verneigten sich.42
Nicht ohne Kritik an der Machtpolitik und der gewaltsamen Besetzung Chinas durch die westlichen Interventionsmächte macht Döblin darauf aufmerksam, welch andere Haltung das chinesische Volk gegenüber Macht und Geist einnimmt: Dieses China hat seine ungeheure, eigentlich beispiellose und im Grunde auch jetzt noch unerschütterte Stabilität dadurch erlangt, daß in langen Jahrhunderten die Dynastien in großer Ehrfurcht vor dem Volk, den 100 Familien, an sich zogen, was an Geistigkeit im Volk lebte, und selber in dieser Geistigkeit lebten. Die literarische Allgemeinbildung, welche den Schriftsteller in höchster Achtung erscheinen ließ, war der Ausgangspunkt und der Mutterboden für jede Fachbildung, sei sie politischer, verwaltungstechnischer, juristischer oder strategischer Art. Immer war der Geist, der sich in den besten maßgebenden Schriftstellern äußerte, zugleich der Geist des Staates, und er war lebendig in der Regierung.43
Die Formulierungen „unerschütterte Stabilität“, „Ehrfurcht vor dem Volk“ und „Allgemeinbildung“ deuten alle auf den Konfuzianismus hin. Im Vergleich mit dem konfuzianischen China erscheint Deutschland Döblin als unkultiviert. Diese Unkultiviertheit bemerkt er insbesondere bei den Politikern und Beamten, die der „lebenden Bildung“ fremd gegenüberständen.44 Bei den Männern, „die den deutschen Staat repräsentieren“, vermisst er eine „sie durchströmende, von ihnen ständig gefühlte Universalbildung“.45 Er fordert daher eindringlich und mahnend: Der Staat müsse sich humanisieren und kultivieren. Auch in seiner Begrifflichkeit nimmt Döblin auf China Bezug. Das zeigt sich etwa in der Rede von den „100 Familien“ in Der Schriftsteller und der Staat,46 einer 42 Alfred Döblin: Der Schriftsteller und der Staat, in: ders.: Schriften zu Ästhetik, Poetik und Literatur, Olten u. Freiburg/Br. 1989, S. 154–166, hier S. 155. 43 Döblin: Der Schriftsteller und der Staat (wie Anm. 42), S. 155. 44 Döblin: Der Schriftsteller und der Staat (wie Anm. 42), S. 163. 45 Döblin: Der Schriftsteller und der Staat (wie Anm. 42), S. 163. 46 Döblin: Der Schriftsteller und der Staat (wie Anm. 42), S. 155. Döblin verdankte den Zugang zu dem Wort bzw. dessen Übersetzung und Deutung Wilhelm Grube. Er verwandte den Ausdruck schon in seinem chinesischen Roman. Vgl. Wilhelm Grube: Geschichte der chinesischen Litteratur,
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Anspielung auf das chinesische baixing,47 dessen Bedeutung ‚Volk‘ Döblin sehr gut kannte. Ein anderes Beispiel ist der konfuzianische Begriff xiushen (Selbstkultivierung). Das Selbst ist im Konfuzianimus die Grundlage aller sozialen Systeme. Zur Ordnung der Welt sind gebildete Persönlichkeiten nötig. Um das Selbst zur Basis eines moralisch unerschütterlichen sozialen Lebens zu machen, unterzieht sich der „Edle“ einem Programm der „Kultur einer Persönlichkeit“, worunter Selbstachtung, Selbststärkung und Selbstprüfung zu verstehen sind.48 Von den drei Hauptaspekten dieses Programms hat Döblin die Selbstprüfung besonders hervorgehoben. Jede „erdenkliche Strenge gegen sich“ und die „strengste Selbsterziehung“ verlangt er vom deutschen Schriftsteller.49 Die positive Grundhaltung China gegenüber zeigte sich auch in dem Artikel Bilanz der „Dichterakademie“, der am 25. Januar 1931 in der Vossischen Zeitung erschien. Dessen Hintergrund bildeten die ideologischen Spannungen zwischen dem linken und rechten Flügel der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, die sich Ende 1930, Anfang 1931 zuspitzten und zum Austritt dreier völkischer Mitglieder führten. Döblins Artikel erschien kurz danach und konnte als „öffentliches, weltanschaulich begründetes Bekenntnis zur Republik“ angesehen werden.50 Der Verfasser zieht darin eine negative Bilanz der bisherigen Arbeit der Dichterakademie und kritisiert insbesondere die Politik der Clique unter Führung Erwin Guido Kolbenheyers, der die „Kunst der Scholle, des sehr platten Landes“ predigte.51 Angesichts der akuten Bedrohung der Weimarer Republik befürwortet Döblin eine Reform der Institution. Seiner Konzeption nach soll die Sektion für Dichtkunst den republikanischen Geist bilden helfen, auf Schule und Erziehung einwirken und im „Schutz der Geistesfreiheit“ ihre „oberste“ und „elementarste“ Aufgabe sehen: „Sie läßt sich von keinem Diktaturgelüste mißbrauchen. Sie schützt nichts, was ihr an den Hals will und nennt die Barbarei Barbarei. Sie muß Organ,
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Leipzig 1909, S. 45, S. 101–102. Vgl. Döblin: Die drei Sprünge des Wang-lun (wie Anm. 1), S. 390 u. 471. Das Wort erscheint allein in der konfuzianischen Kanonschrift Lunyu fünfmal. In Konfuzius’ Vorstellung besteht die größte Leistung und die höchste Tugend darin, dem Volk ein friedliches Leben zu garantieren. Vgl. Lunyu, übersetzt und erläutert von Bojun Yang, Beijing 1958, S. 244. Vgl. a. Das große Kulturgesetzbuch von Konfuzius, hg. von Fanjin Kong, Sifen Sang u. Xianglin Kong, Beijing 1994, S. 215. Richard Wilhelm: Einleitung, in: Gespräche (Lun Yü), aus dem Chinesischen verdeutscht und erl. v. Richard Wilhelm, 8.–10. Tsd., Jena 1923, S. II–XXXII, hier S. XX. Döblin: Der Schriftsteller und der Staat (wie Anm. 42), S. 159 u. 166. Vgl. Matthias Prangel: Alfred Döblin, 2., neu bearb. Aufl., Stuttgart 1987, S. 70. Alfred Döblin: Bilanz der „Dichterakademie“, in: Alfred Döblin: Kleine Schriften III, hg. v. Anthony W. Riley, Zürich u. Düsseldorf 1999, S. 237–245, hier S. 241.
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aber auch – wie im alten China – Zensur des Staates sein.“52 Hatte Döblin zehn Jahre zuvor in seiner Bezugnahme auf China noch den Schwerpunkt auf den konfuzianischen Staat und die konfuzianischen Literaten gesetzt, so bezog er sich nun auf die konfuzianische Erziehungsinstitution, die Kaiserliche Akademie (guozijian). Die von ihm gewünschte Dichterakademie sollte sich an der Kaiserlichen Akademie orientieren und eine aktive Rolle im politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben der Weimarer Republik spielen. III. Döblins Begegnung mit der zhixing-Lehre Eine neue Erscheinung in Döblins Beschäftigung mit China ist, dass er in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik der chinesischen philosophischen zhixing-Lehre immer größere Aufmerksamkeit schenkt. Er schöpft aus ihr wichtige theoretische Impulse und integriert sie in seine Gesellschaftsanalyse. Sie beeinflusst die moralischen und politischen Postulate, die in den Roman Berlin Alexanderplatz (1929), das Theaterstück Die Ehe (1931) und die philosophisch-politischen Schriften Das Ich über der Natur (1927) und Wissen und Verändern (1931) einfließen. Döblins Affinität zur zhixing-Lehre lässt sich sowohl sprachlich als auch inhaltlich festmachen. Mit Recht weist Ingrid Schuster darauf hin, dass der programmatische Titel von Döblins 1931 veröffentlichter politisch-philosophischer Schrift Wissen und Verändern! „eine deutsche Formulierung der chinesischen Maxime ch´i hsing: Wissen und Ausüben“ ist.53 Schuster übersieht dabei allerdings, dass diese imperativische Formel in Döblins Werk nicht neu ist, sondern vorher schon mehrmals auftauchte. So findet sie sich in exakter Entsprechung zweimal in dem Lehrstück Die Ehe. In dem von Döblin als „Volksstück mit aufklärendem Hintergrund“ bezeichneten Theaterstück wird laut der vorangestellten Dramenanweisung die „zerstörend[e] und auflösend[e]“ Wirkung des kapitalistischen Wirtschaftssystems auf das Familienleben gezeigt.54 Döblin schrieb es in der zweiten Hälfte des Jahres 1929. Es wurde von November 1930 bis April 1931 in München, Leipzig und Berlin aufgeführt, erwies sich als ein großer Publikumserfolg und erschien kurz darauf in überarbeiteter Fassung als Buch. Das Stück besteht aus drei Szenen und einem satirischen Vorspiel. Den Bühnenhintergrund bildet eine Leinwand für Projektionen von Bildern und Texten. Am Ende des Vorspiels, in dem die Inszenierung eines Dramas diskutiert wird, erscheint auf der Leinwand die Mahnung „Wissen und Ver52 Döblin: Bilanz der „Dichterakademie“ (wie Anm. 51), S. 244. 53 Vgl. Ingrid Schuster: China und Japan in der deutschen Literatur 1890–1925, Bern 1977, S. 176. 54 Alfred Döblin: Die Ehe. Drei Szenen und ein Vorspiel, in: ders.: Drama Hörspiel Film, Olten u. Freiburg/Br. 1983, S. 172–261, hier S. 172.
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ändern!“ während der Sprecher bekräftigend an das Publikum appelliert: „Sehen und Erkennen! Wissen und Verändern!“55 Und in der darauf folgenden ersten Szene mit der Überschrift ‚Die junge Ehe‘ erscheint – nachdem dem um seine verstorbene Frau trauernden Ehemann vom Sprecher der Rat erteilt wurde, gegen das ‚Unrecht‘ anzukämpfen – noch einmal die grelle Schrifttafel ‚Wissen und Verändern!‘. Diese didaktische Formel klingt auch schon im Roman Berlin Alexanderplatz von 1929 an, wo es am Ende heißt: „Wir wissen, was wir wissen“.56 Dass Döblin Begriffe der chinesischen Philosophie oft in programmatischem Kontext aufgreift, kommt nicht von ungefähr. Es hängt mit der politischen Krisensituation und mit Döblins Überzeugung zusammen, dass „die entschlossene und vorbehaltlose Reflexion“ die Voraussetzung jeder Veränderung und „das Denken selbst“ eine „Aktion“ sei.57 Darin zeigt sich seine geistige Affinität zur zhixing-Lehre. Wie die Neokonfuzianer das zhi mehr betonen als das xing, so Döblin das „Wissen mehr als das Verändern“.58 Hierbei wird ein Problem bei Döblin deutlich. Bei ihm, wie bei den Neokonfuzianern, lässt sich eine Trennung von Theorie und Praxis beobachten. Wie die neokonfuzianische zhixing-Lehre bleibt seine Vorstellung von ‚Wissen und Verändern‘ abstrakt und allgemein. Sie zielt allein auf eine geistige Veränderung, auf die Aktivierung des geistigen Potentials des Menschen, und nicht auf wirkliche Handlungen. So gelangt sie über den utopischen Rahmen nicht hinaus. Gerade im Hinblick auf die radikal polarisierenden und „zur klaren Entscheidung drängenden letzten Jahre der Weimarer Republik“59 war Döblins philosophischpolitische Konzeption daher „alles andere als ein Tagesprogramm“.60 Sie musste in der historischen Situation hilflos anmuten.
55 Döblin: Die Ehe (wie Anm. 54), S. 182. 56 Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. Die Geschichte vom Franz Biberkopf, hg. v. Werner Stauffacher, Düsseldorf u. Zürich 2000, S. 454. 57 Hans-Peter Bayerdörfer: Der Wissende und die Gewalt. Alfred Döblins Theorie des epischen Werkes und der Schluß von ‚Berlin Alexanderplatz‘, in: Materialien zu Alfred Döblins ‚Berlin Alexanderplatz‘, hg. v. Matthias Prangel, 3. Aufl., Frankfurt/M. 1981, S. 150–185, hier S. 166. 58 Schuster: China und Japan in der deutschen Literatur (wie Anm. 53), S. 176. 59 Prangel: Alfred Döblin (wie Anm. 50), S. 61. 60 Bayerdörfer: Der Wissende und die Gewalt (wie Anm. 57), S. 173.
Peter Sprengel
„Die Bahn ward verloren“ – Gerhart Hauptmanns China-Lektüren nach 1918
Über die gesellschaftlichen Umbrüche im China der 1920er und 1930er Jahre hat Hauptmann einiges aus erster Hand erfahren: durch Unterhaltungen mit dem Schriftsteller und Globetrotter Richard Katz,1 durch Dr. Manlio Piaggio, einen befreundeten italienischen Arzt aus Rapallo, der 1936/37 als Missionsarzt für ein Jahr nach China geht,2 und durch einen ehemaligen Offizier und halben Kollegen, der sich im August 1935 zu einem Besuch in Hauptmanns Sommersitz Haus Seedorn auf Hiddensee anmeldet.3 Denn Max Simon-Eberhard ist unter die Journalisten gegangen und hat im fernen Shanghai von Herbst 1932 bis November 1935 die Deutsche Shanghai Zeitung herausgegeben, die sich laut Untertitel als „unabhängige Tageszeitung zur Förderung des Deutschtums im Fernen Osten“ verstand, bald aber Kurs auf einen strammen Nationalsozialismus nahm. Der detaillierte Bericht, den Simon-Eberhard kurz darauf über seine drei Besuche bei Hauptmann auf Hiddensee veröffentlichte, verzeichnet als Themen der Unterhaltung „China, Chiang Kai Sheck, dessen Gemahlin, die Familie Soong, Sun Fo, Natur, Landschaft, Grosse Mauer, Peking, Palastmuseum, Kommunistenbekaempfung, meine Fahrt durch Kiangsi“: „Ich berichte von der Tragoedie auf dem Tsu Wei Feng nahe von Ningtu, wo jene ungluecklichen 500 von den Kommunisten damals ausgehungert und hinterher vernichtet wurden … Wir sprechen von der Landbestellung in China, dem Wesen der Landverpachtung, die [lies: der] Erforschung des
1 „Spricht sehr interessant über China, Japan, Mandschurei“, notiert Margarete Hauptmann in ihrem Kalender vom 7.10.1931 nach der ersten Bekanntschaft in Locarno (Staatsbibliothek zu Berlin − Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, Nl Margarete Hauptmann, Nr. 8). Vf. dankt der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Berlin, in deren Besitz sich auch der Nachlass Gerhart Hauptmanns (Manuskripte: GH Hs, Briefe: GH Br Nl, Bibliothek: GHB) befindet, für vielfältige Unterstützung und Zitiererlaubnis. 2 Vgl. Margarete Hauptmanns Kalendereinträge vom 20.1.1936 u. 3.2.1937 (Nl Margarete Hauptmann, Nr. 9). 3 Hauptmann empfängt Simon-Eberhard am 27.8.1935 nach dessen brieflicher Anfrage vom 24.8.; Margarete Hauptmanns Kalender verzeichnen weitere Begegnungen bzw. Besuche am 28. und 30.8.1935.
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Nordwestens.“4 Doch bleibt es im Falle Simon-Eberhards nicht bei der mündlichen Überlieferung; Hauptmann hat zu deutlich sein Interesse am Besitz der Deutschen Shanghai Zeitung zu erkennen gegeben. Bei der Rückkehr nach Deutschland 1936 hat der Zeitungsmann sieben schwere Folianten im Gepäck, die er – sobald es die Umstände zulassen – in einer schweren Kiste nach Agnetendorf expediert. Es handelt sich um ein lückenloses Exemplar von mehr als drei Jahrgängen der sechsmal wöchentlich erscheinenden Zeitung, das allein durch seinen Umfang erschlagend wirkt und Hauptmann, der bereits Wochen vorher in Bad Eilsen vom Eintreffen des Monstergeschenks gehört hat,5 nach der Rückkehr in seine schlesische Villa zu einem zweiten Dankesbrief veranlasst: Den Wert einer solchen Gabe habe ich allerdings schon im Wunsche vorausgeahnt. Er hat sich mir vollkommen bestätigt. Kein Buch kann über das wahre Wesen moderner chinesischer Städte in dieser umfassenden Weise aufklären. Schon nach den ersten flüchtigen Einblicken ist es mir, als hätte ich in Shanghai gelebt. Es wird kein Jahr vergehen, bis ich das ungeschminkte Leben dieser prachtvollen Bände nahezu ganz in mich aufgenommen haben werde.6
Doch wollte Hauptmann sich das wirklich antun? Wollte er, der in jungen Jahren stundenlange Streifzüge durch das frühmorgendliche Hamburg unternommen und Dutzende von aktuellen Meldungen und Prozessberichten aus Berliner Zeitungen ausgeschnitten hatte – als Material für seine dramatische Arbeit −,7 nochmals eine pressegestützte Großrecherche betreiben, um vielleicht eine Anregung für chinesische Ratten zu finden? Ausgeführt hat er den Vorsatz jedenfalls nicht. Die Jahrgangsbände im Folioformat tragen keine Spuren einer intensiveren Benutzung, und nur die obersten Seiten bzw. Nummern zweier von ihnen zeigen die für den älteren Dichter charakteristische farbige Anstreichungstechnik. Was er da markiert und kommentiert hat, sind allerdings keine Reportagen aus dem Shanghaier Großstadt4 M[ax] S[imon]-E[berhard]: Drei Besuche bei Gerhart Hauptmann. Erster Besuch – Auch ein 50-jähriges Jubiläum – Im kleinen Kreise, in: Deutsche Shanghai Zeitung, Nr. 223 (918) vom 22.9.1935, S. 5. Margarete Hauptmann erkundigte sich am Ende der zitierten Gesprächssequenz nach Sven Hedin; überhaupt beeindruckte die Dichtersgattin den Besucher durch ihre China-Kenntnisse und die Vertrautheit mit dem Leben der Kaiserin-Witwe aufgrund mehrerer Bücher: „Laechelnd fragt sie mich, ob ich nicht wuesste, dass sie im Freundeskreise oft selbst als Kaiserin Tze Hsi bezeichnet wuerde …“ 5 Vgl. Hauptmann an Simon-Eberhard, 4.5.1937 und dessen Brief zur Sendung vom 27.4.1935 (GH Br Nl). 6 Hauptmann an Simon-Eberhard, 9.6.1937 (GH Br Nl). 7 Vgl. Gerhart Hauptmann: Sämtliche Werke. Centenar-Ausgabe, hg. v. Hans-Egon Hass u.a., Bd. 1–11, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1962–1974, Bd. 7, S. 1041f. u. Gerhart Hauptmann: Notiz-Kalender 1889–1891, hg. v. Martin Machatzke, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1982 (passim). Hauptmanns Drama Die Ratten (1911) verdankt seinen Plot einem Prozessbericht des Berliner Lokal-Anzeigers vom 13.2.1907; vgl. Peter Sprengel: Gerhart Hauptmann. Leben – Werk – Wirkung, München 1984, S. 141f.
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leben, sondern Artikel über die Kriegsschuldfrage, die Bestrafung internationaler Verbrechen (im Sinne der neuen Abrüstungspolitik), die Niederschlagung der so genannten Roehm-Revolte, den afrikanischen Sklavenhandel, Engelbert Dollfuss’ Leben (anlässlich seiner standrechtlichen Erschießung), ein paar Witze und eine Kaffee-Bier-Reklame.8 Man hätte eigentlich nicht zu einer Zeitung aus Shanghai greifen müssen, um in Deutschland derartiges zu lesen! Diese eigentümliche Paradoxie von Fern und Nah, Fremd und Vertraut wirft ein Licht auf fundamentale Verschränkungen, die uns im Folgenden wiederholt begegnen werden. Denn das Interesse Hauptmanns an chinesischer Literatur und an Literatur über China war von Anfang an durch sehr spezifische, seiner eigenen sozialen und geistigen Umgebung verhaftete Horizonte geprägt, was sich wohl auch generell von der deutschen China-Rezeption in Kaiserreich und Weimarer Republik9 sowie darüber hinaus sagen lässt. Bevor dies an einzelnen Lektüren vor allem der zwanziger und dreißiger Jahre erläutert wird, ist ein kurzer Überblick über die Materialgrundlage und ihren quantitativen Rahmen am Platz. Hauptmanns in der Berliner Staatsbibliothek befindlicher Nachlass enthält über vierzig Buch- und Zeitschriftentitel chinesischer Provenienz oder Thematik.10 Je8 Vgl. Deutsche Shanghai-Zeitung, Nr. 54 vom 27. 11. 1932, S. [1] (Gustav Roloff: Eine franzoesische Vorgeschichte des Weltkriegs [betr. Raymond Recouly: De Bismarck à Poincaré]); Nr. 151 (540) vom 1.7.1934, S. [1] (Internationale Verbrechen und ihre Bestrafung); Nr. 152 (541) vom 2.7.1934, S. [1] (Die Revolution der Abtruennigen im Keime erstickt) u. 7 (Afrika verkauft „schwarzes Elfenbein“); Nr. 172 (561) vom 26.7.1934, S. 3 (Reklame); Nr. 173 (562) vom 27.7.1934, S. [1] (Der Lebenslauf des Dr. Dollfuss) u. 7 (Sechsmal lachen). Der Artikel zur Niederschlagung der so genannten RoehmRevolte ist mit mehreren Photos von konservativen und NS-Politikern geschmückt. Hauptmann notiert dazu: „Merkwürdig gut gesehene Bilder“ und „Papen schon beschattet, durchaus!“ 9 Vgl. Ingrid Schuster: China und Japan in der deutschen Literatur 1890–1925, Bern u.a. 1977. 10 Nicht mitgerechnet diejenigen Titel, die sich ausschließlich mit Tibet befassen. Ohne Lesespuren, jedenfalls in den direkt auf China bezogenen Teilen, sind folgende Bücher aus Hauptmanns Bibliothek: Ferdinand von Andrian: Der Höhencultus asiatischer und europäischer Völker. Eine ethnologische Studie, Wien 1891. Sign. GHB 292027; Wilhelm Sievers (Hg.): Allgemeine Länderkunde, Bd. 2: Asien, Leipzig 1893. Sign GHB 972939-2; Die Reise des Arabers Ibn-Battūta durch Indien und China. Bearb. v. Hans von Mžik, Hamburg 1911. Sign. GHB 971566; Chinesische Abende. Novellen und Geschichten, in Gemeinschaft mit Tsou Ping Shou übertr. von Leo Greiner, mit 10 Originallithogr. von Emil Orlik, Berlin [1913]. Sign. GHB 970004; Klabund: Dumpfe Trommel und berauschtes Gong. Nachdichtungen chinesischer Kriegslyrik, Leipzig [1916]. Sign. GHB 971729; Klabund: Li-tai-pe. Nachdichtungen, Leipzig [1919]. Sign. GHB 203520; Der Ölhändler und die Blumenkönigin [Erzählung der chinesischen Novellensammlung Djin-Gu Tji-Guán], übertr. v. Walter Strzoda, München 1920. Sign. GHB 972355; Chinesische Bronzen. Sammlung E. Knuth, Tsinanfu. Ausstellung bei Onno Behrends, Berlin [1920]. Sign. GHB 203375; Ernst Cohn-Wiener: Das Kunstgewerbe des Ostens. Ägypten, Vorderasien, Islam, China und Japan. Geschichte, Stile, Technik, Berlin [1923]. Sign. GHB 970582; Lao-Tse’s Taoteking, übers. v. Victor von Strauss, Leipzig 1924. Sign. GHB 971887; Die Sammlung Dr. A. Breuer, Berlin: Ostasiatische Kunst, Berlin 1929. Sign. GHB 202272; Ostasiatische Textilien und Goldgegenstände aus dem Besitz des Herrn Dr. Friedrich
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denfalls 31 von ihnen (z.T. aus mehreren Bänden bestehend) weisen handschriftliche Eintragungen auf, die einen wie auch immer fragmentarischen, nicht selten aber nachweislich durchgängigen, ja wiederholten Lektürevorgang bezeugen. Ergänzt um eine zusätzliche Monographie, deren Lektüre uns durch Aufzeichnungen des Autors und seiner zweiten Frau Margarete bezeugt ist,11 sind diese Titel auf einer als Anhang beigefügten Liste zusammengestellt. Sie zeigt uns eine bunte Mischung von belletristischen, publizistischen und wissenschaftlichen Veröffentlichungen sehr unterschiedlichen Umfangs und Charakters. Allein schon die Erscheinungsjahre deuten die wichtigsten Wellen der damaligen deutschen – nicht nur Hauptmannschen – China-Rezeption an. Da gibt es einerseits eine gewisse Massierung um das Jahr 1911 herum, erkennbar an den Nummern 2–5. Sie wird jedoch weit in den Schatten gestellt durch die Flut von Neuerscheinungen aus und über China, die sich um die Mitte und in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre über die Büchertische Deutschlands ergießt, hier vertreten durch die Nummern 9 bis 26 (wobei die Nummer 24 allerdings in einen anderen Zusammenhang gehört). Sofern Hauptmann seine Eintragungen in die gelesenen Bücher selbst datiert hat oder andere Zeugnisse für den Zeitpunkt der Lektüre vorliegen – etwa chronologisch fixierbare Exzerpte oder Kalendereinträge der Ehefrau12 −, wurden in die Anhangliste auch Lesedaten aufgenommen. Bei den übrigen Veröffentlichungen (und das ist die Mehrheit) wird man in der Regel von einer Erstlektüre bald nach Erscheinen oder Erhalt ausgehen können. Allerdings ist es beim Leser Hauptmann mit einer einmaligen Lektüre oft nicht getan.13 Die Geschichte der Kaiserin-Witwe von Bland und Backhouse (Anhang, Nr. 5) etwa hat er kurz nach Erscheinen der deutschen Ausgabe und dann wieder 1937 gelesen.14 Auch bei anderen Büchern der Liste überlagern sich verschiedene Lektüreschichten, ohne dass sich klare chrono-
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Perzyński Rissen/Holstein, [Berlin 1929] Sign. GHB 973971; Dschung Kue oder der Bezwinger der Teufel, übers. v. Claude du Bois-Reymond, Berlin 1936. Sign. GHB 970774. − Unter der Signatur GH Slg 365 hat sich außerdem ein Verkaufskatalog chinesischer Kunst (o.J.) von China-Bohlken erhalten. Am 26.9.1937 verzeichnet Margarete Hauptmann Gerharts Lektüre von Daniele Varès Buch (Anhang, Nr. 30), hier ungenau mit dem Titel Die Kaiserin von China angegeben: SBB-PK, Nl Margarete Hauptmann, Nr. 9. Vgl. auch die einschlägigen Exzerpte in Hauptmanns Tagebuch vom 17. u. 19.9.1937: GH Hs 11, 3r u. 5r. Hauptmanns Lektüre von Elisabeth Schuchts Buch (Anhang, Nr. 31) ist in Margarete Hauptmanns Kalendern während des Dresden-Aufenthalts im Februar 1943 (am 6. und 13.2.) verzeichnet; am 16.2.1943 stattete die Verfasserin Hauptmann dort einen Besuch ab: SBB-PK, Nl Margarete Hauptmann, Nr. 10. Zu den Lese- und Anstreichgewohnheiten des Lesers Hauptmann vgl. Peter-Christian Wegner: Gerhart Hauptmann als Leser. Ein Beitrag zur Auswertung der Büchersammlung des Dichters, in: Germanisch-Romanische Monatshefte N. F. 54 (1973), S. 355–376. Exzerpte stammen vom 24.5.1937: GH Hs 52, 344v–345v.
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logische Anhaltspunkte festmachen ließen. Am deutlichsten ist die Mehrschichtigkeit der Rezeption wohl in der Insel-Ausgabe von Tschuang-Tses Gleichnissen ausgeprägt, die Martin Buber 1910 veranstaltet und Hauptmann eigenhändig gewidmet hat (Anhang, Nr. 2). 1932 schreibt Hauptmann in Baden-Baden auf die Innenseite des Vorderdeckels: „Dies Buch ist einer meiner zuverlässigsten Freunde seit über 20 Jahren. Immer an meiner Seite, immer hilfreich, Hilfe bringend, Ruhe und Harmonie.“ Hauptmanns Tschuang-Tse-Lektüre ist in wichtigen Punkten schon durch Philip Mellen aufgearbeitet worden.15 Dessen Monographie Gerhart Hauptmann. Religious Syncretism and Eastern Religions (1984) geht im Kapitel „Taoism – Confucianism“ auch relativ ausführlich auf Hauptmanns Lao-Tse-Lektüre (Anhang, Nr. 1 und 7) sowie auf die Verknüpfung ein, die der Autor Ende 1930 zwischen den ersten Kapiteln des der konfuzianischen Ethik verpflichteten Buchs Li Gi (Anhang, Nr. 27), einem Vortrag des Kulturmorphologen Leo Frobenius und seinen eigenen Plänen für einen Roman namens Merlin (später: Der neue Christophorus) herstellt.16 Das muss hier ebenso wenig rekapituliert werden wie die wesentliche Anregung, die Hauptmann für das Konzept seiner Autobiographie (mit dem Wunschtitel Die Bahn des Blutes) aus der Deutung von Tao als ‚Bahn‘ oder Lebensbahn in Ulars Laotse-Übersetzung gewonnen hat.17 Statt dessen sollen hier zunächst die geschichtlich-politischen Horizonte fokussiert werden, die Hauptmanns China-Lektüren in der Zwischenkriegszeit gesteuert haben. Mit seinem schnellen und lauten Ja zum Weltkrieg hatte sich der Dramatiker 1914 um die einst so wirkungsvoll verkörperte Rolle eines Prügelknaben Wilhelms II. und eines Anführers der modernen Opposition im und gegen den Wilhelminismus gebracht. Die langen Jahre der Kriegszeit können daher als Anfang einer problematischen Neu- oder eigentlich Rückwärts-Orientierung gesehen werden, bei der sich Hauptmann auch durch die Lektüre eines modernen chinesischen Autors bestärkt gesehen haben mochte. Gemeint ist Ku Hung-Ming, von dem Hauptmann bereits Chinas Verteidigung gegen europäische Ideen – und zwar in der Übersetzung Richard Wilhelms – kannte (Nummer 4). Mitten im Weltkrieg nimmt er nun seinen Essayband Der Geist des chinesischen Volkes und der Ausweg aus dem Krieg (Anhang, Nr. 6) zur Hand. In der Kritik am westlichen De15 Philip Mellen: Gerhart Hauptmann. Religious Syncretism and Eastern Religions, Bern u.a. 1984, S. 145–149. 16 Mellen: Hauptmann (wie Anm. 15), S. 142–144 u. 150–157. 17 Vgl. Peter Sprengel: „Die Bahn des Blutes“. Zur anthropologischen Konzeption der Autobiographie Gerhart Hauptmanns, in: Zeitschrift für Germanistik N. F. 3 (1992), S. 601–620. Wieder in: Peter Sprengel: Abschied von Osmundis. Zwanzig Studien zu Gerhart Hauptmann, Dresden 2011, S. 397–428.
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mokratie-Ideal, hier schlicht „Religion der Pöbelverehrung“ genannt,18 antizipiert das zweite Buch schon wesentliche Elemente späterer China-Publikationen und bedient zugleich ein antibritisches Ressentiment, für das Hauptmann sowohl während des Krieges als auch danach ein offenes Ohr besaß. Freilich bleibt Ku HungMing nicht bei der Kritik an Deutschlands wichtigstem Kriegsgegner stehen. So stellt er der englisch-amerikanischen ‚Pöbelverehrung‘ als zweiten, äußerlich sogar dominierenden Kriegsgrund das Hegemonialstreben des deutschen Militarismus an die Seite. Hauptmann hat sich gerade die entsprechenden Sätze angestrichen, einschließlich des konfuzianischen Remediums, das hier gegen beide europäischen Fehlentwicklungen angepriesen wird: „Widerstreite nicht dem, was recht ist, um das Lob des Volkes zu erlangen. Tritt nicht die Wünsche des Volkes mit Füßen, um deinem eigenen Begehren zu folgen.“19 Wenn man sich klar macht, welche Rolle in der Frühphase der Republik die Abrechnung mit dem wilhelminischen Obrigkeitsstaat besaß – man denke nur an die verzögerte Publikation von Heinrich Manns (eigentlich ja viel älterem) Untertan oder Rathenaus Broschüre Der Kaiser (1919) −, so kann man in den deutschkritischen Ausführungen des chinesischen Autors gleichsam einen Vorgriff auf zentrale Diskurse der Weimarer Republik sehen. Wie wir wissen, wurde deren Entwicklung allerdings überschattet und behindert durch die Fortdauer oder Renaissance aggressiv-nationalistischer Denkmuster, die sich nicht zuletzt aus der allgemeinen Auflehnung gegen den als Demütigung empfundenen Vertrag von Versailles speiste. Gerade in diesem typisch deutschen Leiden bot sich China als ideeller Bündnispartner an, denn auch China litt unter ‚ungleichen‘ oder ‚ungerechten Verträgen‘ mit den Großmächten, wie Hauptmann es 1927 dem schwungvoll geschriebenen Buch Aufruhr in China von T’ang Leang-Li entnehmen konnte (Anhang, Nr. 21). Seine Anstreichungen folgen offenbar zustimmend der Argumentation des Verfassers bzw. der Übersetzerin20 und heben nicht umsonst die notwendige „Verwerfung der Verträge“ hervor.21 Dass wir auf Seiten des Lesers Hauptmann hier in der Tat weit reichende Zustimmung voraussetzen dürfen, zeigt schon seine Reaktion auf eine dicht vorausgehende Passage, in der T’ang die Undurchdringlichkeit oder Unüberwindbarkeit der britischen Propaganda beklagt – in evidenter Übereinstim-
18 Ku Hung-Ming (Anhang, Nr. 6), S. 178. 19 Ku Hung-Ming (Anhang, Nr. 6), S. 179 mit Anstreichung Hauptmanns. 20 Else Baronin Werkmann widmet eine ganze Fußnote der Übersetzungsproblematik des Begriffs „ungerechte Verträge“: T’ang Leang-Li (Anhang, Nr. 21), S. 252. 21 T’ang Leang-Li (Anhang, Nr. 21), S. 253.
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mung zu ähnlichen Klagen Hauptmanns während der Kriegszeit.22 Besondere Beachtung verdient hier Hauptmanns handschriftlicher Kommentar an der rechten Seite: „ja so ist es leider immer durchaus! Und was kann man dem entgegen halten? Eine Stele von Otto Ludwig in Dresden.“23 Damit verlagert Hauptmann die Argumentation auf eine andere Ebene: da der politische Kampf gegen die feindliche Propaganda, ja gegen die Existenz von Propaganda überhaupt, vergeblich ist, gibt es nur die Flucht in die Kunst: eine stille und brave Kunst wie die des realistischen Erzählers Otto Ludwig, der seine bekannteste Novelle Zwischen Himmel und Erde dem deutschen Handwerk widmete und dem in Dresden, seinem letzten Wohnsitz, 1911 auf der Bürgerwiese eine marmorne Grabherme errichtet wurde, die Hauptmann 1922 und wohl auch sonst gern besuchte.24 Der Bildhauer der Skulptur, und das mochte Hauptmanns Aufmerksamkeit noch gesteigert haben, hieß übrigens Arnold Kramer, also zufällig ebenso wie die tragische Künstlerfigur des Sohnes in seinem bedeutendsten Künstlerdrama (Michael Kramer, 1900). War Hauptmanns Parteinahme für China und gegen die Kolonialmächte schon bei der T’ang-Lektüre stark von der Perspektive des außenpolitisch gedemütigten Nachkriegsdeutschland geprägt, so steigert sich diese Identifikation womöglich noch, und zwar bis zu regelrechten Explosionen eines antibritischen Ressentiments, wenn Hauptmann einen Engländer über die aktuellen Entwicklungen Chinas sprechen hört. Der britische Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell war wegen seiner pazifistischen Aktivitäten während des Ersten Weltkriegs von der Universität Cambridge entlassen worden und konnte daher 1920 das Angebot der Peking Universität zu einer Gastprofessur annehmen; die damals gewonnenen Eindrücke verarbeitete er in seinem Buch The Problem of China (1922), das drei Jahr später auch in deutscher Sprache erschien (Anhang, Nr. 13). Darin geht er in sehr behutsamer Form auch auf das Phänomen eines neuen chinesischen Patriotismus oder Nationalismus ein – sichtlich bemüht, dem Fernen Osten die katastrophalen Entzweiungen zu ersparen, die die Auswüchse des Nationalismus gerade über Europa gebracht hatten, und zugleich etwas von den „traditionellen chinesischen Tugenden“ zu erhalten, das auch in der Zukunft eine auszeichnende Differenzqualität gegenüber der Normalität westlicher Gesellschaften bedeuten könnte.25
22 Vgl. Hauptmann: Sämtliche Werke (wie Anm. 7), Bd. 11, S. 861ff. u. Gerhart Hauptmann: Tagebücher 1914–1918, hg. v. Peter Sprengel, Berlin 1997, S. 433f. 23 T’ang Leang-Li (Anhang, Nr. 21), S. 249. 24 GH Hs 26, 1r (25.7.1922). 25 Russel (Anhang, Nr. 13), S. 210f.
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Der Leser Hauptmann sieht in all dem jedoch nichts anderes als englische Prärogeranz, den Wunsch nach vorbeugender Unterdrückung eines möglichen neuen Konkurrenten durch die – einstige, wie man heute ja wohl sagen müsste − Supermacht. „Hört, hört“, setzt er wie ein Zwischenrufer im Parlament ein, wenn Russells Rede auf den Patriotismus kommt. Wenn er von dessen „Gefahr“ spricht, schreibt Hauptmann an den Rand: „Gefahr Gefahr Gefahr – ja aber in Bezug auf eine Compromissidee des Herrn Russel“. Wenn dieser etwas energisch zur Geltung bringen will, schreibt Hauptmann misstrauisch an den Rand „Was heisst das? mit den Waffen Englands!“ – „Hure Geist“ lautet die nachfolgende Marginalie, als resignatives Resümee für Hauptmanns Einschätzung eines Wissenschaftlers und Philosophen, der mit all seinen intellektuellen Anstrengungen doch nichts anderes sei als „ein Angestellter des englischen Imperialismus“.26 Neun Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs wird hier der 1914 eröffnete „Krieg der Geister“27 munter fortgesetzt: von einem Oxforder Ehrendoktor gegen einen entlassenen Professor des Trinity College. Nur in Parenthese sei gesagt, dass Hauptmann die unter dem Schlagwort von der ‚gelben Gefahr‘ verhandelte Vorstellung von einem demographischen, ökonomischen und letztlich auch militärischen Erstarken des chinesischen Volkes bzw. Staates keineswegs fremd war. Wenn sie von einem ihm nahe stehenden Schriftsteller nichtenglischer Herkunft, so dem Schweden Sven Hedin, geäußert wurde, war sie ihm lediglich eine intensive Anstreichung wert – und zwar auch in der ausgesprochen rassistischen Formulierung, die Hedins Reisebericht Von Peking nach Moskau (Anhang, Nr. 11) dafür findet: „Die gelbe Rasse wächst an Zahl und Stärke. Unterdessen schwächt sich die weiße Rasse selbst durch ständige Kriege zwischen verschiedenen Nationen gleicher Religion und gleicher Kultur. Die Weltentwicklung steht im Begriff, einen neuen Weg einzuschlagen. Und über diesem Wege ruht für die Weißen ein undurchdringliches, schicksalsschwangeres Dunkel.“28 Der biologistische Fatalismus eines Sven Hedin steht Hauptmann offenbar näher als das politische Räsonnement des vermeintlichen „Socialist[en]“ Russell.29 Die Heftigkeit seiner Ausfälle gegen diesen lässt sich nur erklären, wenn man sich ein politisches Schlüsselereignis aus der Geschichte der Weimarer Republik in Erinnerung ruft, das Hauptmann mehr als alle anderen kleineren und größeren politischen 26 So Hauptmanns Bemerkung auf dem Vorsatzblatt. 27 Vgl. Krieg der Geister. Erster Weltkrieg und literarische Moderne, hg. v. Uwe Schneider u. Andreas Schumann, Würzburg 2000. 28 Hedin (Anhang, Nr. 13), S. 25. Hedin kündigte Hauptmann die Zusendung der deutschen Ausgabe seines Reiseberichts mit Brief aus Stockholm vom 17.3.1924 an (GH Br Nl). 29 Vgl. Hauptmanns Marginalien: „Welcher Socialist!“, „Ich denke R ist Socialist!“: Russel (Anhang, Nr. 13), S. 213 u. 215.
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Krisen und Rückschläge jener Jahre traumatisiert hat – mehr als der Kapp-Putsch beispielsweise, als die Niederschlagung der Räterepublik oder als die Inflation. Es ist dasselbe Ereignis, das zwischen zwei Marginalien in seiner Lao-Tse-Ausgabe steht, und zwar der Quart-Erstausgabe von Ulars Übertragung aus dem Jahr 1903 (Anhang, Nr. 1): Lebt die Gemeinschaft in der Bahn, die Kriegsrosse ziehen den Pflug; Irrt die Gemeinschaft von der Bahn, die Kriegsrosse wachen der Grenze. Nicht ist grössere Sünde als Ungestüm: Nicht ist grösserer Mangel als Unmass: Nicht ist grösserer Mangel als Ehrsucht: Zufrieden ist, wer sich zufrieden giebt.30
Über diesen gedankenschweren Versen über das Tao (denn für eben diesen Begriff steht hier Ulars „Bahn“) hat Hauptmann ein Lektüredatum eingetragen: „15 Jan[uar] 1923 Dresden“. Unter der letzten Zeile des Spruches steht, wie als Antwort auf die obige Eintragung, ein weiteres Datum, 8 Monate später: „25 Sept[ember] 1923. Agnetendorf “, mit dem entscheidenden Zusatz: „i. d. Tagen der Kapitulation“. Gemeint ist die Kapitulation der deutschen Regierung bei dem Versuch, ein Ende der französischen Ruhrbesetzung durch kollektiven passiven Widerstand zu erzwingen. Hauptmanns Datierungen umfassen sehr präzis Anfang und Ende des Projekts Ruhrbesetzungs-Bekämpfung: am 11. Januar waren belgische und französische Truppen in das Ruhrgebiet einmarschiert, am 13. Januar hatte Reichskanzler Cuno den passiven Widerstand verkündet, am 26. September sollte die bayerische Regierung auf die Beendigung des passiven Widerstands und die damit verbundenen nationalistischen Ausschreitungen mit der Verhängung des Ausnahmezustands reagieren. Solchermaßen gerahmt, wird der alte chinesische Spruch zu einem Sinnbild des politischen Kampfs der Gegenwart – eines Kampfs, in dem die nationale „Gemeinschaft“ (um Ulars Wort zu benutzen) auf der Probe oder auf der Kippe steht. Es ist in der Tat nahezu unheimlich, wie genau die Wortgebung Ulars in den konservativ-nationalistischen, ja völkischen Diskurs der Zeit passt. Das ist auch Hauptmann aufgefallen, der sich durch die scheinbare Übereinstimmung von Lao-Tses Diktion mit aktuellen Ideologemen der 1920er und 1930er Jahre zu erstaunlichen Schlüssen hinreißen lässt. Man betrachte in der jüngeren Ular-Ausgabe Hauptmanns (Anhang, Nr. 7) die möglicherweise aus dem Jahr 1938 stammenden Marginalien zu Spruch 18: Die Bahn ward verloren – Urteilsbedürfnis entstand; Urteilsherrschaft ward geboren – Wirkensursprünglichkeit schwand 30 Lao-Tse (Anhang, Nr. 1), 46. Spruch (o.S.).
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Der Blutbande Ur-Eins zerriß – Verwandtschaftspflicht ward entfaltet; Der Gemeinschaft Ur-Einheit zerspliß – Völkertum ward erspaltet.31
Wenn Hauptmann, scheinbar redundant, „China“ neben den alten chinesischen Text schreibt, drückt er dieselbe Verwunderung aus, der die ersten Worte seines unter dem Text notierten Kommentars Ausdruck geben: „Damals schon 600 vor Christ?“ Soll heißen: das, was in der krisenhaften Entwicklung der Weimarer Republik beklagt wurde − der Verlust des gesellschaftlichen Zusammenhalts, einer klaren sozialen Orientierung −, war offenbar schon zu Lao-Tses Zeiten oder jedenfalls zur Zeit der Entstehung der ihm zugeschriebenen Schriften (also eher um 300 v. Chr.) ein Problem, über das diskutiert wurde. Überraschend freilich Hauptmanns Anschluss: „Nun also: Nationalsocialismus ist keine neue Erfindung, sie sollte einmal vertuscht werden aber es gelang nicht“! Offenbar soll damit gesagt werden: der Nationalsozialismus als ein Versuch, verlorene Gemeinschaft (in Ulars Übertragung heißt es ja wörtlich: „Der Gemeinschaft Ur-Einheit“) wiederherzustellen, ist ebenso alt wie das Problem, auf das er reagiert. Hitler und seine Partei versuchen vergeblich, für ihre Volkseinheit-Ideologie eine Originalität zu beanspruchen, die offensichtlich nicht gegeben ist. Die politischen Aufzeichnungen, die Hauptmann im November 1930 zur Entbehrlichkeit von Kommunismus und Nationalsozialismus anfertigt („Auch einen Hitler braucht ihr nicht“), greifen auf Aussagen des Li Gi über persönliche Stärke und Seelenadel zurück.32 In Hauptmanns Bibliothek finden sich noch (mindestens) zwei weitere Verknüpfungen zwischen altchinesischer Weisheit und den Erscheinungsformen des Nationalsozialismus: eine durchaus kritische, die auf Hauptmann selbst zurückgeht, und eine andere höchst affirmative, für die Hauptmann keinerlei Verantwortung trägt, die aber in seiner Bibliothek und wohl nur hier überliefert ist und von ihm auch zur Kenntnis genommen wurde. Die erste der beiden angekündigten Verbindungen verbirgt sich in der Marginalie „Hit“ für „Hitler“ neben dem von Tschuang-Tse überlieferten Lehrgespräch über Fürstenerziehung.33 Der Erzieher, so heißt es dort, ist zu einer gewissen Anpassung an die Launen seines Zöglings gezwungen, will er vermeiden, in dessen Augen ein bloßer „Schall“ zu werden, „ein Popanz, ein unheimliches Ding“. Wenn Hauptmann sofort den Namen des führenden Nationalsozialisten assoziiert, so ist das, wie die nachfolgenden Randbemerkungen erkennen lassen, aus den Bedingungen seines 31 Lao-Tse (Anhang, Nr. 7), S. 24. 32 Hauptmann: Sämtliche Werke (wie Anm. 7), Bd. 11, S. 1097f; vgl. Li Gi (Anhang, Nr. 27), S. 5 mit intensiver Unterstreichung der Stelle. 33 Tschuang-Tse (Anhang, Nr. 2), S. 18. Die Hitler-Marginalie ist nicht berücksichtigt in der Besprechung von Hauptmanns Rezeption der Fürstenerziehung bei Mellen: Gerhart Hauptmann (wie Anm. 15), S. 146.
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Osteraufenthalts auf Capri 1933 zu verstehen,34 bei dem übrigens Hermann Göring kurzfristig im selben Hotel abstieg. Der Dramatiker zögerte damals das Ende seines alljährlichen italienischen Winteraufenthalt hinaus, weil er für den Fall einer verfrühten Rückkehr nach Deutschland unberechenbare Konsequenzen fürchtete: der neue Reichskanzler, von dessen Radioreden er sich schon wenige Wochen später einfangen ließ, erschien ihm damals offenbar noch als „unheimliches Ding“. Ebenso willkürlich – gegenüber dem historischen Sinn des Textes − geht Ezra Pound zu Werke, den Hauptmann 1928 in Rapallo kennen lernte und zu dem sich gerade in den letzten gemeinsamen Riviera-Aufenthalten vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs eine etwas engere Bekanntschaft ergab.35 Im Februar 1939 übereignet Pound Hauptmann seine eigene, elf Jahre zuvor gedruckte amerikanische Übersetzung von Konfuzius’ Ta hio (The Great learning). Die in italienischer Sprache gehaltene, getreu der faschistischen Zeitrechnung auf das Jahr 17 (nämlich nach Mussolinis Marsch auf Rom) datierte Widmung enthält ein umfangreiches Zitat aus Hitlers Reichstagsrede zum 6. Jahrestag der sogenannten ‚Machtergreifung‘, das Pound durch den Zusatz „vedi pagina 9“ ausdrücklich in Bezug zu Konfuzius’ Maximen setzt.36 Hauptmann hat sich die Mühe gemacht, die entsprechende Stelle zu verifizieren;37 von einer darüber hinausgehenden Auseinandersetzung mit Pounds Übersetzung oder dem hier vorgenommenen Kurzschluss zwischen Hitlers Machtpolitik und altchinesischer Ethik kann allerdings keine Rede sein. Bei aller Direktheit, Spontaneität und (scheinbaren) Naivität, mit der Hauptmann auf chinesische Literatur oder Berichte über China Bezug nimmt, ist er sich doch der Tatsache ihrer Vermittlung und des Anteils bestimmter Persönlichkeiten daran in hohem Maße bewusst. Hauptmann, der als Opfer des wilhelminischen Schulsystems „auf d[ie] Übersetzungen angewiesen“ war,38 zeigt sich in höherem Alter zunehmend seiner Dankesschuld gegenüber den Vorarbeiten ganzer Philologen-Generationen bewusst. Und zwar keineswegs nur im Bereich der Sinologie! In einer kulturkritischen Reflexion seines Tagebuchs vom September 1937 heißt es beispielsweise: 34 Näheres vgl. Peter Sprengel: Der Dichter stand auf hoher Küste. Gerhart Hauptmann im Dritten Reich, Berlin 2009, S. 21ff. 35 Vgl. die Hinweise auf persönliche Begegnungen in Margarete Hauptmanns Tagebüchern (zuletzt am 29.1., 3.2. und 2.3.1939) und die Briefe Pounds an Hauptmann von 1938 und vom 15.1.1939 (GH Br Nl). 36 „La posizione dell’ un paese all’estero dipende esclusivamente dalla sua organizazione [sic] e dalla sua coesione in terra.“ (Vgl. Abb. 7) 37 Vgl. die rote Anstreichung einer nur sehr von fern der Aussage Hitlers nahe kommenden Passage: Confucius (Anhang, Nr. 24), S. 9. 38 GH Hs 262a, 57r (6.2.1938).
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Abb. 7: „Ommaggio a Gerhart Hauptmann“: Ezra Pounds Widmung seiner Konfuzius-Übertragung mit Hitler-Zitat von 1939
Ihr deutschen klassischen Philologen habt uns eine göttliche Basis durch eure stillen Übersetzungen geschaffen, die ein Kapital deutschen Wesens sind (ein Hauptkapitel [sic]) solange Deutsche noch lesen können: das Schreiben haben sie schon verlernt. Das Lesen zu verlernen liegt nahe durch das Radio. W[o]hin geht die Entwickelung?39
Im Falle der chinesischen Literatur fällt das Verdienst der Übersetzer und Herausgeber selbstverständlich noch stärker ins Gewicht – war doch nur ein marginaler Teil der Publikums in der Lage, die Angemessenheit der gewählten Sprachform, 39 GH Hs 11, 27r. Im gleichen Sinn rühmt Hauptmann im Mai 1935 die Erschließungsarbeit des Bremer „Schulmonarchen“ Weber für das Verständnis der Griechischen Anthologie: „Es ist verbrechen: diese W E Webers zu [sic] nicht zu erwähnen: aber die Arbeit gegen das Vergessen ist schwer“ (GH Hs 11a, 68r).
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die Sorgfalt der Textkonstitution oder die Plausibilität der in Vor- oder Nachwort beigegebenen Deutung selbstständig zu überprüfen. Drei Namen treten hier aus Hauptmanns Sicht besonders hervor: Martin Buber – Alexander Ular – Richard Wilhelm. Das Titelblatt des schon erwähnten Tschuang-Tse-Bändchens enthält folgenden Briefentwurf Hauptmanns an den Herausgeber Martin Buber: Wie ärmlich u erbärmlich ist das was Tacitus von den Germanen wusste im Vergleich zu dem was sie [lies: Sie] wissen: nun die Chinesen! Man sollte sie gründlich und tief studieren, tiefer, tiefst! Dies Buch führt [?] ins Tiefste!40
Buber versteht demnach mehr von Tschuang-Tse und dessen weit entfernt lebenden Landsleuten als Tacitus von den nördlichen Nachbarn des Römerreichs. Ein überraschender, ja paradoxer Vergleich, der doch Sinn ergibt, wenn man die kulturpolitische Funktion von Tacitus’ Germania bedenkt. Wie diese dem dekadenten Rom der Kaiserzeit das utopische Gegenbild einer naturnahen Vitalität und Sittenreinheit entgegenhielt, so funktionalisiert der wenig später als Kulturzionist hervorgetretene Buber das uralte Kulturvolk des Fernen Ostens zur wertüberlegenen Alternative, ja zum Korrektiv des wilhelminischen Zeitalters. Auch der Übersetzer und Herausgeber seiner Lao-Tse-Ausgabe steht Hauptmann anscheinend als Persönlichkeit bis hin zu biographischen Details vor Augen. Alexander Ular, muss man wissen, war 1876 in Bremen geboren und lebte in Paris als naturalisierter Franzose. Seine Lao-Tse-Ausgabe war ein Jahr vor der ersten deutschen Ausgabe schon in französischer Sprache erschienen (man darf wohl annehmen, in etwas weniger gestelztem Stil, als er seine deutsche Version auszeichnet); die Auseinandersetzung mit der Welt des Ostens findet in einem umfänglichen Buch über die russische Revolution von 190541 und im Roman Die gelbe Flut (1909) ihre Fortsetzung. Hauptmanns Ular-Bild schwankt beträchtlich. Auf dem Vorsatzblatt der Lao-Tse-Ausgabe von 1919 spricht er ihm „sehr tiefe und weit über alle sogenannten Philosophen hinausgehende[] Erkenntnisse“ zu. Das Tagebuch vom Februar 1938 kommt anhand derselben Ausgabe zu stark abweichenden Einschätzungen: Lao-Tse (Ular) − − − − Ular war ein rasendes Leben. Er hat Lao Tse ergriffen mit instinctiver Geistleidenschaft. U[lars] Vater war Schuldirector er wie ein ein [sic] flüchtiges Europäisches Genie. Er griff den Lao Tse als einen seiner Rettungsanker. Aber der Philosoph der Schopenhauer, und den
40 Abweichende Lesung: Mellen: Gerhart Hauptmann (wie Anm. 15), S. 145. 41 Die russische Revolution, Berlin 1905 (von Hauptmann gelesen: Sign. GHB 204359).
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grossen deutsch[en] Philosophen tausende Jahre voraus sei, ist er nicht. Da[s] ist Ularisches Getue.42
Der Konfuzianismus als Rettungsanker einer kosmopolitisch entwurzelten modernen Existenz? In Abgrenzung von Ular relativiert Hauptmann die Bedeutung LaoTses als Philosoph, um ihn im Fortgang des Zitats43 auf der menschlichen Ebene – nämlich als Einsiedlernatur − aufzuwerten und nahe an sich selbst heranzuholen. Tatsächlich glaubt Hauptmann in mehreren Sprüchen Lao-Tses eine „Einsiedler Philosophie“ herauszuhören.44 Ihm war sicher auch die – von Brecht später zu einer politischen Ballade verarbeitete45 – Legende vom Auszug des Weisen in die Berge bekannt, bei dem er dem Zöllner als Vermächtnis die Aufzeichnung seiner Philosophie zurückgelassen haben soll. Eine Bronzefigur Lao-Tses aus seinem Besitz, die wohl diese letzte Reise darstellte, schenkte Hauptmann 1917 dem befreundeten Schriftsteller Hermann Stehr, der sich dafür in einem länglichen Gedicht bedankte.46 Als ein solches „flüchtiges“, die (deutsch-bürgerliche) Welt hinter sich lassendes „Genie“ fasst er aber auch den Übersetzer Ular auf. Schließlich ist natürlich Richard Wilhelm zu nennen, die überragende Mittlergestalt im deutsch-chinesischen Verhältnis des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts.47 Hauptmann lernt Wilhelm am 16. August 1925 im thüringischen Bad Liebenstein in der Gesellschaft von dessen Mäzenin Bertha Gräfin von Francken-Sierstorpff,48 einer Tochter des Großindustriellen Karl Ferdinand von Stumm-Halberg, kennen.49 Schon wenige Monate später gilt er ihm als fleischgewordener Beweis dafür, „daß die
42 GH Hs 13, 49r–v (Dezember 1938). 43 Wiedergegeben bei Mellen: Gerhart Hauptmann (wie Anm. 15), S. 142. 44 Vgl. seine Marginalien „Philosophie der Einzelheit, u zwar des Einsiedlers – Ein-siedlers“ (zum 9. Spruch) „Einsiedler Philosophie” (zum 19. Spruch) und „Ein verbitterter Einsiedler“ (zum 24. Spruch) in: Lao-tse (Anhang, Nr. 7), S. 15, 25 u. 30. 45 Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration (1939). 46 Laotses Abschiedsgesang (Gerhart Hauptmann zum Dank für ein Bronzebild des chinesischen Weisen). Ursprüngliche Fassung als Briefgedicht an Margarete Hauptmann vom 26.6.1917 in: Hermann u. Hedwig Stehr im Briefwechsel mit Gerhart und Margarete Hauptmann, hg. v. Peter Sprengel, Berlin 2008, S. 189–192. 47 Vgl. Mechthild Leutner: Richard Wilhelms chinesische Netzwerke. Von kolonialen Abhängigkeiten zur Gleichrangigkeit, in: Berliner China-Hefte 27 (2004), S. 70–95. 48 Vgl. die abweichende (irrtümliche) Schreibung „Franken-Siersdorff “ in: Mechthild Leutner: Kontroversen in der Sinologie: Richard Wilhelms kulturkritische und wissenschaftliche Positionen in der Weimarer Republik, in: Berliner China-Hefte 23 (2002), S. 13–40, hier S. 16. 49 Vgl. den Kalendereintrag Margarete Hauptmanns vom 16.8.1925: „Abends nach Tisch Gräfin Sierstorf [sic], geb. Stumm (Eltville) Sinologe Dr. Wilhelm, Miss James. Im Damenzimmer bei Henckels“ (Nl Margarete Hauptmann, Nr. 7).
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Berührung zwischen Ost und West für beide Teile fruchtbar sein könnte.“50 Wenn Hauptmann, wie oben schon erwähnt, Ende 1930 die Idee fasst, Elemente des Li Gi in seinen Altersroman Merlin aufzunehmen und diesen, wie es in den Notizen heißt, gleichsam „europäisch und konfuzianisch“ zu gestalten,51 denkt er auch an die Gestalt des im Frühjahr 1930 verstorbenen Übersetzers und Kulturvermittlers − als eine Symbolfigur und/oder als konkretes Vorbild für die Ausarbeitung einer oder der zentralen Romangestalt: „Wirken und Werk Richard Wilhelms“, lautet ein Stichwort auf dem Titelblatt des Typoskripts des Romankonvoluts.52 Vor diesem Hintergrund gewinnen auch die Nekrologe auf Wilhelm im Chinesisch-deutschen Almanach (Anhang, Nr. 28) Bedeutung; Hauptmann unterstreicht hier einige hymnische Formulierungen von Emil Preetorius, die die historische Gestalt Wilhelms gewissermaßen schon als Einlösung jenes Weisheitsideals feiern, das der Gelehrte aus der chinesischen Kultur nach Europa zu transferieren suchte: Es ist, als wäre jenes Mysterium des Ostens, jenes Mysterium, das nur Endloses als wirklich und als wirkend erkennt, als wäre das Tao der Ewigkeit, die je und je sich Bewegung gebiert und Wesen und Ding, auch das Geheimnis, das erfüllende Geheimnis dieser überreifen stillen Seele Richard Wilhelm.53
Die erste unmittelbare Folge der Begegnung mit Wilhelm ist Hauptmanns Lektüre des (ihm wohl persönlich vom Übersetzer überreichten) Orakelbuchs I Ging (Anhang, Nr. 10). Wie tief er sich dabei auf die mentalen Voraussetzungen des taoistischen Ritualwerks einzulassen bereit war, zeigt eine sehr persönliche Nutzanwendung. Neben den Anfang des Kapitels „Gu / Die Arbeit am Verdorbenen“ notiert Hauptmann „d 24 Aug[ust] 1925 Liebenst[ein] Ank[unft] Benvenuto“.54 Jeder, der auch nur entfernt mit dem gespannten Verhältnis Hauptmanns zu seinem jüngsten Sohn Benvenuto, dem einzigen Sohn aus zweiter Ehe, vertraut ist, ahnt, was sich dahinter verbirgt: ein pädagogisches Programm größten Maßstabs und anscheinend auch die Hoffnung, dass dieses Programm unter guten Vorzeichen steht, wenn der Vater am Ankunftstag des Sohnes Orakelratschläge zur „Arbeit am Verdorbenen“ empfängt. In eben dieser Erwartung konnte sich Hauptmann sogar bestätigt sehen, wenn der Unterabschnitt „Die einzelnen Linien“ – und auch das hat er sich angestrichen – mit den Sätzen beginnt: 50 Vgl. Hauptmanns Marginalie „Prof Wilhelm“ zum gleichlautenden Satz des Verfassers in: Russell (Anhang, Nr. 13), S. 171. 51 Vgl. Hauptmann: Sämtliche Werke (wie Anm. 7), Bd. 10, S. 1078f. u. Gerhart Hauptmann: Diarium 1917–1933, hg. v. Martin Machatzke, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1980, S. 157f. 52 Hauptmann: Sämtliche Werke (wie Anm. 7), Bd 10, S. 1079. 53 Chinesisch-deutscher Almanach 1931 (Anhang, Nr. 28), S. 15. 54 I Ging (Anhang, Nr. 10), S. 55.
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Anfangs eine Sechs bedeutet: Zurechtbringen des vom Vater Verdorbenen. Wenn ein Sohn da ist, Bleibt auf dem heimgegangenen Vater kein Makel. Gefahr. Schließlich Heil!55
Längerfristige Folge der Bekanntschaft mit Wilhelm ist die Mitgliedschaft in der Deutsch-Chinesischen Gesellschaft und dem von Wilhelm begründeten, gleichfalls in Frankfurt angesiedelten China-Institut. Trotz mancher Zahlungsrückstände56 erhält Hauptmann den Chinesisch-deutschen Almanach (Anhang, Nr. 16, 23, 26) und die von Wilhelm gegründete und bis zu seinem Tod herausgegebene Zeitschrift Sinica, von der sich im Nachlass 12 Hefte aus dem Zeitraum 1928–1938 erhalten haben (Anhang, Nr. 25). Viele von ihnen, insbesondere aus den ersten Jahren, hat Hauptmann intensiv gelesen. Auch auf Grund des Anspruchsniveaus der hier veröffentlichten Essays und Abhandlungen deutscher und chinesischer Wissenschaftler sowie der zahlreichen Übertragungen und Illustrationen kann die Beschäftigung mit Sinica als ein Höhepunkt von Hauptmanns China-Rezeption gelten. Sie hält übrigens bis zum Ende seines Lebens an. Noch 1944 liest Hauptmann aus einem älteren Sinica-Heft seiner Frau einen Aufsatz des Wilhelm-Nachfolgers Erwin Rousselle vor.57 Hier ist vielleicht der Platz, ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass Hauptmanns Interesse an der chinesischen Literatur auch die (nachklassische) Erzählkunst und Lyrik umfasste. Unter den okkulten Geschichten P’u Sung-lings (Anhang, Nr. 9) beeindruckt ihn vor allem die Novelle Die Shui-Mang-Pflanze, in der die Geister von Toten mit größter Selbstverständlichkeit unter den Lebenden hausen und auf sie einwirken.58 An Wang Hsiang-Tschens Novelle Der taube Dscheng, die vom Leben eines Außenseiters in einem Dorf berichtet, scheint ihm dagegen ein gewisser Realismus, gepaart mit menschlicher Wahrheit und Komik, zu gefallen.59 Auch für die Reize chinesischer Lyrik zeigt sich Hauptmann, jedenfalls punktuell, aufgeschlossen. Geradezu identifikatorisch reagiert er auf eine Reihe melancholischer, die Stim55 I Ging (Anhang, Nr. 10), S. 56 (unterstrichen von „Wenn“ bis „Makel“). 56 Vgl. die Anmahnung des Jahresbeitrags in Höhe von 20,– Mark am 31.5.1932: GH Br Nl B III, Kasten 2, Nr. 3. 57 Vgl. den Kalendereintrag Margarete Hauptmanns vom 22.11.1944: „Aus der Zeitschrift Sineca [sic] lesen wir e[inen] Aufsatz v[on] Russel [sic]“ (Nl Margarete Hauptmann, Nr. 11). Es handelt sich möglicherweise um den von Rousselle eingeleiteten und übersetzten Werdegang des Patriarchen Hui Neng in: Sinica 5 (1930) [Sign. GHB 204884], Heft 4, S. 174–191 (mit Lesespuren Hauptmanns). 58 P’u Sung-ling (Anhang, Nr. 9), S. 114–126. 59 Übers. v. Erich Schmitt, in: Sinica 4 (1929) [GHB 204883], S. 273–284. Unter den zahlreichen Annotationen Hauptmanns vgl. insbesondere die Marginalie: „sehr weise! und komisch“ (S. 278).
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mung von Abschied und Herbst und zugleich das Ethos einer gewissen Gelassenheit beschwörender Gedichte Wang Wes in der Übersetzung von Dauling Hsü und Stephan Kuttner: „Das ist Wahrheit: ist das, wohin ich immer wollte.“60 Auch die kunstsammlerischen Aktivitäten Hauptmanns, der bis 1942 mehr als 50 Stück chinesischer Provenienz zusammentrug,61 bezeugen seine Aufgeschlossenheit für eine fernöstliche Ästhetik. Gerade aufgrund der engen Berührung, die sich hier abzeichnet, drängen sich zum Abschluss unseres Überblicks zwei Fragen auf. Erstens: Welchen Ertrag hatte die Beschäftigung mit chinesischer und China-Literatur für die dichterische Produktion Hauptmanns? Und zweitens: welche weltanschauliche Relevanz besaß die Auseinandersetzung mit chinesischer Geistigkeit für das Denken Hauptmanns? Was die erste Frage, nämlich den messbaren dichterischen Ertrag, angeht, so ist auf der stofflich-inhaltlichen Ebene zunächst Fehlanzeige zu erstatten. Sieht man von dem Hinweis auf eine chinesische Bücherverbrennung in den Plänen zum Eulenspiegel-Epos,62 einem Russell-Exzerpt ebenda63 und der Erwähnung der „Chinesenstadt“ in den Entwürfen zu Dorothea Angermann ab,64 war Hauptmann, zumal als Dramatiker, doch wohl zu sehr Naturalist, das heißt auf die Kenntnis eines konkreten Lebensraums angewiesen, als dass er ein literarisches Werk in dem ihm völlig unvertrauten fernöstlichen Milieu hätte ansiedeln oder sich durch chinesische Vorlagen hätte inspirieren lassen können. Es blieb dem Wedekind-Schüler (wie Hauptmann durchaus kritisch anmerkt65) Klabund überlassen, nach chinesischen Quellen ein Drama wie den Kreidekreis (Anhang, Nr. 12) zu formen. Wenn wir auch keinen direkten Rückgriff auf chinesische Vorlagen oder Milieus in Hauptmanns Schaffen konstatieren können, so bleibt doch die Möglichkeit einer indirekten Anregung per Analogiebildung, und Hauptmanns ausgeprägte Bereit60 Sinica 5 (1930) [Sign. GHB 204884], Heft 4, S. 206f., hier S. 206. 61 Vgl. den Liegnitzer Katalog (Nl Margarete Hauptmann, Nr. 3). Eine Auswahl der Stücke ist abgebildet in: Anje Johanning: Die Sammlungen Gerhart Hauptmanns aus dem Besitz Anja Hauptmanns, Dresden 2006. 62 Vgl. die Notiz vom 27.9.1925: „Bücherverbrennung: sie fand bei den alten Römern statt, sie fand statt seit es Schrift giebt. bei den Chinesen. Bücherverbrennung des Ts’in Schi Huang Ti (‚ist nur eine Scene eines langen Dramas‘[)]“ (GH Hs 29, 45r). 63 Die Notizen über Lao-Tse und Tschuang-Tse in GH Hs 664, 76r stammen aus: Russell (Anhang, Nr. 13), S. 162f. (mit Anstreichungen zur Stelle). 64 Vgl. die Notiz vom November 1925: „Chinesenstadt. Lob der Chinesen! durch Herbert Pfannschmid […] Wie wenig, man ist erstaunt, sind in das moderne Kalkül grosse, fremdartige Kulturmassen in die Rechnung eingestellt“ (GH Hs 22, 10r). 65 Vgl. die Marginalien „Wedekind“ und „Wedekindschule“ in: Klabund (Anhang, Nr. 12), S. 26 u. 42. Sie sind vor dem Hintergrund anderer Notizen wie „Operette“ und „Albernheit des Dichters“ zu sehen (ebenda, S. 28 u. 41).
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willigkeit zu grenzüberschreitenden Transfers ist im Bisherigen wohl deutlich genug geworden. Ein Beispiel dafür bietet die Erinnerung an sein eigenes Projekt eines Wiedertäufer-Dramas (später auch eines Wiedertäufer-Romans) bei der Lektüre des ersten Buchs über die Kaiserin-Witwe von Bland und Backhouse. Der Bericht der englischen Autoren über den Taiping-Aufstand von 1863 wird von Hauptmann systematisch mit Erinnerungen an die Wiedertäuferbewegung in Münster und seinen Dramenhelden Jan von Leyden überlagert. Der Name des chinesischen Aufrührers Prinz Hung Hsiu-ch’ün wird oben auf der einschlägigen Seite mit Jan von Leyden direkt kurzgeschlossen.66 Am rechten Rand schreibt Hauptmann nochmals: „Jan vollständig Wiedertäufer“ und weiter unten erneut: „Jan v[on] L[eyden]“. Man muss dazu sagen, dass Hauptmann diese Assoziation zwar selbstständig in den Text der englischen Autoren hineinträgt, dazu aber durch andere China-Bücher angeregt war. Friedrich Perzyńskis Buch etwa (Anhang, Nr. 8), spricht bereits von „Chinas Wiedertäufern“ und erntet dafür Anstreichungen Hauptmanns.67 Signifikant ist übrigens auch das „P“ für „Person“ am linken Rand des einschlägigen Textes, neben der Darstellung der Thronbesteigung des ketzerischen Prinzen; ebenso wie das Stichwort „Scene“, das gleichfalls gelegentlich in Hauptmanns China-Literatur begegnet,68 deutet es die Idee zu einer fiktionalen Bearbeitung an. Eine Idee freilich ohne konkrete fassbare Konsequenzen! Wenn wir auch keine klaren Indizien für eine inhaltliche Beeinflussung von Hauptmanns dichterischer Produktion durch seine China-Lektüre haben, bleibt doch die Möglichkeit einer indirekten Annäherung oder geistigen Angleichung. In diesem Zusammenhang ist die Vorliebe des alten Hauptmann zur literarischen Gestaltung von Meditationen hervorzuheben. „Meditation“ oder „Meditationen“ dient vorübergehend als Arbeitstitel69 des Gedichts Glas und – in der Plural-Form − als Untertitel des Prosawerks Sonnen; beiden Texten hat Philip Mellen Studien gewidmet, in denen auch auf Hauptmanns (noch in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückreichende) Buddhismus-Rezeption Bezug genommen wird.70 Ein weiteres, allerdings unvollendet gebliebenes Teilprojekt von Hauptmanns Versuch zur
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Bland/Backhouse (Anhang, Nr. 5), S. 71. Perzyński (Anhang, Nr. 8), S. 222. P’u Sung-ling (Anhang, Nr. 9), S. 119; Schucht (Anhang, Nr. 31), S. 100. Vgl. Rudolf Ziesche: Der Manuskriptnachlaß Gerhart Hauptmanns, Teil 4, Wiesbaden 2000, S. 126. 70 Philip Mellen: Through a Glass Darkly: Glass as Symbol of Gerhart Hauptmann’s View of Ideality, in: Colloquia germanica 23 (1990), S. 272–287; ders.: Gerhart Hauptmann’s „Sonnen“, „Meditationen“: A Syncretistic Odyssey, in: The Germanic Review 70 (1995), S. 24–31.
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Gestaltung eines mystischen Welterlebnisses sind seine in letzter Zeit wiederholt in Betracht gezogenen Vigilien.71 Damit sind wir auch schon bei der zweiten unserer abschließenden Fragen angelangt: der nach der weltanschaulichen Relevanz der chinesischen Literatur bzw. der Literatur über China für Hauptmanns Denken. Hauptmann hat gelegentlich LaoTse und Konfuzius als Religionsgründer bezeichnet, um sogleich hinzuzufügen, dass die von ihnen gestifteten heiligen Schriften als sprachliche Schöpfungen ihre eigene dichterische Wahrheit, aber keine absolute Verbindlichkeit besitzen.72 An einer schlichten Substitution des westlichen Rationalismus durch fernöstliche Mystik oder Tiefenschau ist er offenbar nicht interessiert. Symptomatisch sind in diesem Zusammenhang auch die Anstreichungen und Marginalien in seinem Exemplar der gelehrten Geschichte der alten chinesischen Philosophie von Alfred Forke (Anhang, Nr. 22). Einerseits bejaht er dort den Eigenwert der chinesischen Denktradition für den westlichen Leser neben der indischen Philosophie und Religion;73 andererseits ist das einzige Kapitel in diesem Buch, das sich außer den einleitenden Seiten gründlicherer Anstreichungen von Hauptmanns Hand erfreut, dasjenige über einen Antipoden des Konfuzius: über den ketzerischen Denker Schang Yang nämlich, dessen Namen Hauptmann sogleich zur westlichen Ideengeschichte in Beziehung setzt: „Zeitgenosse des Sokrates u Plato“.74 Hauptmann ist kein zweiter oder erster Hermann Hesse; zur grundsätzlichen Infragestellung des europäischen Denkens und der wissenschaftlichen Rationalität ist dieses Kind des naturalistischen Zeitalters nicht bereit. In Ulars Lao-Tse-Nachwort liest er über Konfuzius: „lehrte er [sc. Konfuzius], tiefer als Goethe, höher als Darwin, die Gesetze der ewigen Entwicklung.“75 In einem Notizbuch bemerkt
71 Sprengel: Der Dichter (wie Anm. 34), S. 162–164; Bernhard Tempel: Alkohol und Eugenik. Ein Versuch über Gerhart Hauptmanns künstlerisches Selbstverständnis, Dresden 2010, S. 121ff., 181ff. – Wenn der Blick des nächtlich meditierenden Subjekts die Kunstschätze des Wiesenstein abtastet, streift er natürlich auch die Sammlungsobjekte aus China: „dort starrt die Mumienmaske eines Kindes, dort ein Buddha aus Japan! – welche Gesellschaft! welche lebendige Gemeinschaft – und hie[r] Reiter, Kamele, Grabfund aus China und hier die Nebelfernen der Steinzeit, greifbar für die Hand“ (GH Hs 235, 43r). 72 Hauptmann: Sämtliche Werke (wie Anm. 7), Bd 10, S. 880f. 73 Neben die Frage des Verfassers, ob auch die chinesische (wie zweifellos die indische) Gedankenwelt „dem europäischen Geiste manche Anregung bietet und ihm manches in einem neuen Lichte erscheinen lässt“, schreibt Hauptmann: „ja“, bevor noch Forke einige Zeilen tiefer seinerseits eine positive Antwort gibt: Forke (Anhang, Nr. 22), S. X. 74 Forke (Anhang, Nr. 22), S. 450. 75 Lao-Tse (Anhang, Nr. 7), S.107 (mit Anstreichung zur Stelle).
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Hauptmann dazu kategorisch: „Darwin und Confucius widersprechen einander nicht: sie sind gleichwertig.“76 Das wohl eindrucksvollste Beispiel von Hauptmanns zwischen Anziehung und Abstoßung widersprüchlich gespannter Auseinandersetzung mit fernöstlicher Weisheit ist seine Lektüre des zweiteiligen (von Richard Wilhelm eingeleiteten und übersetzten) Kurzen Überblicks über die buddhistische Psychologie von Liang Ki Tschau in zwei aufeinander folgenden Heften von Sinica (1929);77 Hauptmann hat die Hefte außen mit „I“ und „II“ nummeriert und als „wichtig“ deklariert. Freilich löst gleich der erste Absatz heftigen Widerspruch bei diesem Leser aus. Darin erklärt der chinesische Autor (Hauptmanns Unterstreichungen kursiv): Wenn man mich fragt, ob der ganze Inhalt der 8000 Bände des gesamten buddhistischen Kanons in ein Wort gefaßt werden könne, so antworte ich ohne Zögern: „Es gibt kein Ich und keine Stätte des Ichs.“ Ja, die Sache läßt sich noch einfacher ausdrücken: „Es gibt kein Ich!“ […] Wie kann man nun zur Erfassung der ichlosen Welt gelangen?
Man erinnert sich: die ‚Unrettbarkeit‘ des Ich war ein grundlegendes Postulat der Moderne der vorletzten Jahrhundertwende, und zwar nicht nur der Wiener Moderne, in der Hermann Bahr, gestützt auf Ernst Mach, dieser Erkenntnis die geschliffenste Formulierung gab; auch Hauptmanns naturalistisches Frühwerk mit seinen deterministischen und milieutheoretischen Implikationen hatte an der Durchsetzung dieser Einsicht entschiedenen Anteil. Um so erstaunlicher, dass der alte Hauptmann, wenn er einer vergleichbaren Behauptung aus dem Munde eines chinesischen Buddhisten begegnet, ihr mit kleinlichen Zweifeln und sophistischen Einwänden begegnet: Es giebt ein ich: nur kommt es darauf an was man darunter versteht. Wer ist „man“, wenn es kein „Ich“ giebt? Wer erfährt Nirwana oder wird wiedergeboren wenn es kein „Ich“ giebt? Was wird oder ist Buddha, wenn es kein Ich giebt?78
Ein ähnlicher Anfall von Zweifelsucht befällt Hauptmann bei den Schluss-Sätzen des zweiten Teils. „Wie läßt sich das Bewußtsein in Wahrheit verwandeln?“, fragt Liang Ki Tschau dort und gibt die Antwort: „Indem man die Methode des Buddhismus anwendet, sein Herz rein (leer) zu machen und mit Fleiß und Kraft diese tiefe und geheimnisvolle Psychologie studiert.“ Hauptmann kommentiert: „Wenn das so wie so leer ist braucht man es am Ende nicht mehr leer zu machen.“ An den Rand
76 GH Hs 6, 124r. 77 Liang Ki Tschau: Überblick über die buddhistische Psychologie, in: Sinica 4 (1929) [Sign. GHB 204883], Heft 1, S. 18–27, u. Heft 2, S. 68–83. 78 Liang Ki Tschau: Überblick (wie Anm. 77), S. 18.
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Abb. 8: Unterstreichung Hauptmanns in der Zeitschrift Sinica 10 (1935), S. 165: „Die Erscheinung der Maya ist der Leerheit Gestalt“
schreibt er außerdem: „Worauf aber stützen wir uns dann? wenn alles und alles Wirkliche fortgenommen ist.“79 Eine Art Horror vacui scheint den westlichen Leser zu befallen, dem die empirische Welt und die Identität seines Ich-Bewusstseins geraubt zu werden drohen. Dennoch ist Hauptmanns Lektüre des umfangreichen Artikels von offensichtlicher Faszination für die Eigenart des buddhistischen Denkens getragen, auch und gerade für das Phänomen der ‚Entleerung‘.80 „Glas ist die Leere“ schreibt er in ein späteres Sinica-Heft unter die Erläuterungen, die Erwin Rousselle zu einem lamaistischen 79 Liang Ki Tschau: Überblick (wie Anm. 77), S. 68. 80 Vgl. auch Hauptmanns Anstreichung zur „Leerheit der fünf Erfahrungskomplexe“: Liang Ki Tschau: Überblick (wie Anm. 77), S. 20.
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Vajra-Mandala gibt.81 Rousselle äußert sich darin zu den (von Hauptmann angestrichenen) „vier Formen des Wissens“: „der Leerheit des Seins, der Leerheit des Nichtseins, der Leerheit der höchsten Wahrheit und der Gleichheit aller Dinge in der Leerheit“ und schließt mit den Versen: „Die Leerheit, das ist die Sinnenwelt, / Die Sinnenwelt, das ist die Leerheit.“82 Hauptmanns Umschlag-Notiz „Zu Glas“ stellt einen eindeutigen Bezug zu seiner schon erwähnten, ab 1930 entstandenen und 1939 erstmals veröffentlichten lyrischen Dichtung her, in der die Verse begegnen: und selber, das Glas, ist nichts oder Luft: eine Form aus Luft, eine Form aus Nichts, ein leeres, leuchtendes Kind des Lichts!83
In der Sprache der Lyrik kommt Hauptmann dem chinesischen Denken vielleicht am nächsten, kann er auch seine radikalen Konsequenzen am ehesten akzeptieren. Das bestätigt seine Reaktion auf den Taoistengesang Chi Kangs, eines Lyrikers des dritten Jahrhunderts. Hans Böhms Nachdichtung aus dem Jahr 1929 (Anhang, Nr. 26) schließt mit der programmatischen Zeile: „Meine Gedanken sollen wandern in die große Leere.“ Hauptmanns Kommentar dazu lautet schlicht: „Ja!“84
81 Erwin Rousselle: Ein lamaïstisches Vajra-Mandala, in: Sinica 4 (1929) [Sign. GHB 204883], Heft 6, S. 265–273, hier S. 265; Hauptmann bezieht sich auf Rousselles Formulierung „von schöpferisch-geistiger, transzendentaler Diamantwelt“. 82 Rousselle: Ein lamaïstisches Vajra-Mandala (wie Anm. 81), S. 272f. Vgl. auch Hauptmanns Anstreichung zur Übersetzung „Die Erscheinung der Maya ist der Leerheit Gestalt“ über der Wiedergabe der chinesischen Schriftzeichen „Huan Hua Kung Schen“ in: Sinica 10 (1935) [Sign. GHB 204887], S. 165. (Vgl. Abb. 8) 83 Hauptmann: Sämtliche Werke (wie Anm. 7), Bd 4, S. 181. 84 Böhm (Anhang, Nr. 26), S. 23.
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Anhang Von Gerhart Hauptmann gelesene Literatur über China oder von chinesischen Autoren85 1. Lao-Tse: Die Bahn und der rechte Weg, der chinesischen Urschrift in deutscher Sprache nachgedacht v. Alexander Ular, Leipzig 1903. Sign. GHB 203461 Geschenk von Paul Kahn 1905; gelesen 1923 und 1943 2. Tschuang-Tse: Reden und Gleichnisse, dt. Auswahl v. Martin Buber, Leipzig 1910. Sign. GHB 202371 Gelesen 1910, 1919, 1923, 1932/33, 1936, 1944 3. Kungfutse: Gespräche, aus dem Chines. verdeutscht und erl. v. Richard Wilhelm, Jena 1910. Sign. GHB 971836 4. Ku Hung-Ming: Chinas Verteidigung gegen europäische Ideen. Kritische Aufsätze, hg. mit Vorw. v. Alfons Paquet, Jena 1911. Sign. GHB 971835 5. Bland, J. O. P. / E. Backhouse: China unter der Kaiserin Witwe. Die Lebens- und Zeit-Geschichte der Kaiserin Tzu Hsi, zsgest. aus Staats-Dokumenten und dem persönlichen Tagebuch ihres Oberhofmarschalls, Berlin 1912. Sign. GHB 202199 Erneute Lektüre 1937 6. Ku Hung-Ming: Der Geist des chinesischen Volkes und der Ausweg aus dem Krieg, mit Vorwort v. A. H. Schmitz, Leipzig 1916. Sign. GHB 203410 7. Lao-Tse: Die Bahn und der rechte Weg, der chinesischen Urschrift in deutscher Sprache nachgedacht von Alexander Ular, Leipzig 1919. Sign. GHB 203461 Gelesen 1938 8. Perzyński, Friedrich: Von Chinas Göttern. Reisen in China, mit 80 Bildtafeln, München [1920]. Sign. GHB 972422 9. P’u Sung-Ling: Seltsame Geschichten aus dem Liao Chai, übers. v. Erich Schmitt, Berlin 1924. Sign. GHB 972488 Mit Widmung von Maximilian Graf Wiser für Margarete Hauptmann vom Februar 1925 10. I Ging. Das Buch der Wandlungen, aus dem Chines. verdt. und erl. v. Richard Wilhelm, Bd. 1/2 u. 3, Jena 1924. Sign. GHB 971565 Gelesen 1925 und 1931 11. Hedin, Sven: Von Peking nach Moskau, Leipzig 1924. Sign. GHB 971379 12. Klabund: Der Kreidekreis. Spiel in 5 Akten, nach dem Chinesischen, Berlin 1925. Sign. GHB 203352 85 Anordnung in der Reihenfolge des Erscheinungsjahrs, Signaturen der Staatsbibliothek Berlin, Handschriftenabteilung. Titel, die sich ausschließlich auf Tibet bzw. tibetanische Kultur und Religion beziehen, blieben unberücksichtigt.
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13. Russell, Bertrand: China und das Problem des fernen Ostens, mit Einführung v. Karl Haushofer übers. v. Margarete Hethey, München 1925. Sign. GHB 972637 Gelesen 1925 14. Mayer, Anton: Chinesische Frühkeramik. Ausstellung bei C. Cassirer, in: 8-UhrAbendblatt (Berlin), Nr. 173 vom 28.7.1926, S. 12. Sign. GH Hs 664, 114r 15. Holitscher, Arthur: Das unruhige Asien. Reise durch Indien − China – Japan, Berlin 1926. Sign. GHB 971519 16. Chinesisch-deutscher Almanach für das Jahr 1926/27, hg. in Verbindung mit der Vereinigung der Freunde Ostasiatischer Kunst Köln vom China-Institut Frankfurt/M. Sign. GHB 204716 17. 62 englische Kriegsschiffe vor Schanghai. Unaufhaltsames Vordringen der Kanonarmee. Gemeinsame Abwehraktion der europäischen und japanischen Streitkräfte; Trebitsch-Lincoln als Ratgeber der Chinesen? Der berühmte Abenteurer bei den Kantonesen gelandet (gez. L. A. H.), in: Neues Wiener Journal, Nr. 11948 vom 26.2.1927, S. 1 u. 7. Sign. GH ZA 111, 1 18. Sauerwein, Jules: Berichte aus dem Fernen Osten. Eine Artikelserie über Rußland und China [mit wechselnden Einzelüberschriften], in: Neue Freie Presse (Wien), Nr. 22442 vom 8.3.1927, S. 2; Nr. 22487 vom 23.4.1927, S. 2f.; Nr. 22471 vom 6.4.1927, S. 2f.; Nr. 22486 vom 22.4.1927, S. 2f.; Nr. 22488 vom 24.4.1927, S. 4. Sign. GH ZA 111, 3 u. 1 19. Ein weltpolitischer Wendepunkt. Die Eroberung von Schanghai durch die Kantontruppen. Ernste Situation für England, in: Neue Freie Presse (Wien), Nr. 22456 vom 22.3.1927, S. 1f. Sign. GH ZA 111, 3 20. China und der häusliche Herd, in: Berliner Tageblatt, Nr. 181 vom 17.4.1927. Sign. GH ZA 111, 3 21. T’ang Leang-Li: China in Aufruhr, mit Vorw. v. Hans Driesch u. Tsai Yuan-Pei, dt. v. Else Baronin Werkmann, Leipzig, Wien 1927. Sign. GHB 204291 22. Forke, Alfred: Geschichte der alten chinesischen Philosophie, Hamburg 1927. Sign. GHB 202617 23 Chinesisch-deutscher Almanach für das Jahr 1927/28, hg. in Verbindung mit der Vereinigung der Freunde Ostasiatischer Kunst Köln vom China-Institut Frankfurt/M. Sign. GHB 974033 24. Confucius: Ta Hio. The great learning, newly rendered into the American language by Ezra Pound. Norfolk, Conn. [1928]. Sign. GHB 202384 Mit Widmung des Übersetzers vom Februar 1939 25. Sinica. Monatsschrift für Chinakunde und Chinaforschung, begründet v. Richard Wilhelm, fortgeführt v. Erwin Rousselle. 12 Hefte aus dem Zeitraum 19281938. Sign. GHB 204882 (1928,1), 204883 (1929, 1/2 u. 6), 204884 (1930),
Gerhart Hauptmanns China-Lektüren nach 1918
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204885 (1931, 1, 3, 5) , 204886 (1934), 204887 (1935, 4), 204888 (1936, 5/6), 204889 (1937, 5/6), 204890 (1938, 1/2). 26. Böhm, Hans: Lieder aus China. Nachdichtungen chinesischer Lyrik, mit Zeichnungen v. Rudolf Grossmann. München 1929. Sign. GHB 202218 27. Li Gi. Das Buch der Sitte des älteren und jüngeren Dai. Aufzeichnungen über Kultur und Religion des alten China, aus dem Chinesischen verdeutscht und erl. v. Richard Wilhelm. Jena 1930. Sign. GHB 203501 Vom China-Institut im November 1930 übersandt; gelesen im November/Dezember 1930 28. Chinesisch-deutscher Almanach für das Jahr 1931, hg. in Verbindung mit der Vereinigung der Freunde Ostasiatischer Kunst Köln vom China-Institut Frankfurt/M. Sign. GHB 204716 Übersandt 1930 29. Deutsche Shanghai Zeitung. Unabhängige Tageszeitung zur Förderung des Deutschtums im Fernen Osten (Shanghai), 27.9.1932-30.11.1935. Sign. GHB 204710 Übersandt 1937 30. Varè, Daniele: Die letzte Kaiserin. Vom alten zum neuen China, dt. v. Annie Polzer, Berlin, Wien, Leipzig 1936. Nicht in Hauptmanns Bibliothek erhalten Gelesen 1937 31. Schucht, Elisabeth: Eine Frau fliegt nach Fernost, München 1942. Sign. GHB 204135 Gelesen 1943 32. Seele Ostasiens. Chinesisch-japanischer Zitatenschatz, zusammengest. u. hg. v. Waldemar Oehlke, Berlin 1941. Sign. GHB 974409
Volker Mertens
Vom Land des Lächelns zum Land des Grauens China auf der Musikbühne der zwanziger Jahre1
Doch wenn uns Chinesen das Herz auch bricht – Wen geht das was an? Das zeigen wir nicht! Immer nur lächeln und immer vergnügt, Immer zufrieden wie’s immer sich fügt! Lächeln trotz Weh und tausend Schmerzen – Denn wie’s da drin aussieht ... Geht niemand was an.2
Mit diesem Lied tritt Prinz Sou Chong Chwang in Franz Lehárs Operette Die gelbe Jacke von 1923 auf – weltberühmt wurde es in der Neufassung Das Land des Lächelns von 1929.3 Ein ganz anderes Bild von China wurde im Jahre 1926 auf der Opernbühne gezeigt. Die Henkersknechte singen: „Nimmer mangelt es an Arbeit bei Prinzessin Turandot. Kopf ab! Kopf ab! Ha, ha!“ Das hörte man in der deut-
1 Zur China-Darstellung auf der Musikbühne der zwanziger Jahre vgl. Peter Revers: Das Fremde und das Vertraute. Studien zur musiktheoretischen und musikdramatischen Ostasienrezeption, Stuttgart 1997. Revers bietet eine methodisch und thematisch weitgespannte Analyse. Oberflächlich und aus zweiter Hand dagegen: Hyunseon Lee: „so wundersam exotisch dieses Lied“. Franz Lehárs Operettenmusik als Medium kultureller Identifikation, in: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 141 (2006), I, S 103–115. 2 Victor Léon: Die gelbe Jacke. Musik von Franz Lehár. Soufflierbuch mit Regiebemerkungen, Leipzig u. Wien 1923. Das Soufflierbuch enthält die Texte der Gesangsnummern und der gesprochenen Dialoge; der Klavierauszug enthält nur die Gesangsnummern und Stichworte. Die Dialoge wurden nicht selten verändert für die jeweilige Bühnenproduktion. Klavierauszug: Die gelbe Jacke. Operette in 3 Akten von Victor Léon. Musik von Franz Lehár. Klavierauszug mit Text, Leipzig u. Wien 1922, Wienbibliothek im Rathaus (Wien). Das Titelblatt (Abb. 9) von V. Martens ist japonisierend mit einer schwarzen Bogenbrücke, Pagoden und gelben Lampions vor blauem Hintergrund gestaltet. Japonistische Elemente waren gängiger als chinesisches Dekor. 3 Der Text dort geringfügig modifiziert: Ludwig Herzer u. Fritz Löhner: Das Land des Lächelns. Musik von Franz Lehár. Klavierauszug mit Text, Wien 1929. Regie- und Soufflierbuch: Das Land des Lächelns. Romantische Operette in drei Akten nach Viktor Léon von Ludwig Herzer und Fritz Löhner. Musik von Franz Lehár. Vollständiges Regie- und Soufflierbuch, Wien 1929. Ich danke dem Verlag Musik und Bühne, Wiesbaden, für ein Exemplar dieses Textes und eine Kopie des Soufflierbuchs der Gelben Jacke.
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schen Erstaufführung von Puccinis letzter, unvollendeter Oper Turandot in Dresden 1926.4 Unterschiedlicher könnten das China der Operette und das der Oper kaum sein. Ich gehe im Folgenden der Genese der Bilder der Chinesen und ihres Landes in ihren Voraussetzungen und Konsequenzen nach und ordne sie in den zeitgenössischen Diskurs ein. Die Operette steht für flüchtige Zeitlichkeit, die Oper für mythische Unergründlichkeit.5 Sie wird quasi industriell innerhalb kurzer Zeit in eingespielter Arbeitsteilung von Librettisten, Komponisten, Sängern und Regisseuren produziert. Sie bedient ein Massenpublikum; erfolgreiche Operetten erreichen Hunderttausende. Die Operette reagiert schnell auf gesellschaftliche Stimmungen und Bedürfnisse. Da sie ein sozial weitgefächertes Publikum bedient, ist sie zumeist nicht oder kaum subversiv. „Das wahre Zeittheater“, nannte der Kritiker Herbert Ihering die Operette – mit Blick auf Das Land des Lächelns.6 Die Oper im 20. Jahrhundert ist hingegen in der Regel eine langsame Gattung. Sie wendet sich verstärkt dem Mythos zu oder überhöht eine realistische Handlung mythisch, wie Alban Berg in seiner Lulu nach Frank Wedekind. Kurz gesagt: Die Protagonistin der Operette ist bis Mitte der zwanziger Jahre die Lebedame, die lustige Witwe, die der Oper dagegen das ‚Weib 4 Giacomo Puccini: Turandot. Lyrisches Drama in 3 Akten und 5 Bildern von G[iuseppe] Adami und R[enato] Simoni. Ins Deutsche übertragen von A[lfred] Brüggemann, Mailand u.a. 1926. Diese in Dresden gespielte Fassung wird im Folgenden zitiert. 5 Unsinnig ist die ‚Verfallsgliederung‘ der Operettengeschichte in eine ‚goldene‘ ( Johann Strauß, Jacques Offenbach) und eine ‚silberne‘ (Leo Fall, Franz Lehár) Operette, die der Entwicklung im Zusammenhang mit anderen Unterhaltungsgenres wie dem Tonfilm oder der Revue in keiner Weise gerecht wird. Ich blende die heftigen Polemiken gegen die Operette aus, die sich vor allem mit dem Namen von Karl Kraus verbinden, der mit Franz Lehár den Untergang der Kultur hereinbrechen sah. Seine Polemiken haben nicht selten einen antisemitischen Unterton. Jacques Offenbach war für Kraus allerdings der (fragwürdige) Maßstab des Genres. Vgl. bspw. Karl Kraus: Mer lächelt, in: Die Fackel, Nr. 820–826, Oktober 1929, S. 51–52. Auch Theodor W. Adorno gehört zu den kulturkritisch motivierten Kritikern: vgl. Theodor W. Adorno: Frankfurter Oper- und Konzertkritiken (1930) in: Musikalische Schriften V (Gesammelte Schriften, Bd. 18), hg. v. Rolf Tiedemann u. Klaus Schulz, Frankfurt/M. 1984, S. 170; ders.: Zur gesellschaftlichen Lage der Musik (1932), in: ebd., S. 769. Von der (zumindest kompositions- und instrumentationstechnisch völlig ungerechtfertigten) Abwertung Lehárs ist ebenfalls infiziert: Volker Klotz: Sieben Jahre lebt’ ich in Batavia. Kult, Spiel und Spott mit dem Exotismus in der Operette, in: Thomas Koebner u. Gerhadt Pickerodt: Die andere Welt. Studien zum Exotismus, Frankfurt/M. 1987, S. 267–290; und ders.: Operette, Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst, München 1991, S. 442, wo allerdings die musikalische Virtuosität Lehárs erwähnt wird. Einen relativ neutral gehaltenen Überblick gibt Harald Haslmayer: Operette, in: MGG, Sachteil, Bd. 7 (1997), S. 706–715. Ich halte es mit dem engagierten und kompetenten Einspruch von Moritz Csáky: Ideologie der Operette und Wiener Moderne. Ein kulturhistorischer Essay, Wien 1998; und der Monographie von Stefan Frey: Was sagt ihr zu diesem Erfolg? Franz Lehár und die Unterhaltungsmusik im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1999. 6 Zit. n. Otto Schneidereit: Richard Tauber – ein Leben, eine Stimme, Berlin 1981, S. 99.
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an sich‘, wie Lulu oder – Turandot. Musikalisch ist die Operette von den leichten Formen geprägt, dem Couplet, dem Lied, dem Tanz – zuerst vor allem vom Walzer, dann aber auch von den neuen Tänzen, Ragtime, Foxtrott, Shimmy und Tango. Die Oper ist durch die Arie beziehungsweise den durchkomponierten Mono- und Dialog (die sogenannte ‚unendliche Melodie‘) charakterisiert sowie durch komplexe Ensembles (Concertati) und Chöre. Das Orchester der Operette ist kleiner, die Instrumentalpartien sind weniger anspruchsvoll als in der Oper. Die Sänger müssen vor allem eine erotisierende Bühnenpräsenz besitzen – Prototyp Fritzi Massary.7 Die Forderungen an die Gesangstechnik sind nur für die Protagonisten, also Tenor und Sopran, anspruchsvoll. Beim Opernsänger kommt es dagegen viel mehr als in der Operette auf eine ausgebildete, technisch vorzüglich funktionierende, schöne Stimme an. Von den Primadonnen erwartet man auch eine attraktive Erscheinung; bei den Tenören ist man nachsichtiger, wie das Beispiel von Enrico Caruso zeigt. Drei Werke des Musiktheaters behandele ich im Folgenden: 1. Die gelbe Jacke – leichte Liebe, ernste Liebe, 2. Turandot – Liebe in den Zeiten der Gewalt, 3. Das Land des Lächelns – nicht „so grausam wie China“. In einem 4. Abschnitt frage ich: Projektion eigener Konflikte – und was noch? I. Die gelbe Jacke – leichte Liebe, ernste Liebe Franz Lehár komponierte die Operette Die gelbe Jacke auf ein Libretto von Victor Léon (i.e. Viktor Hirschfeld), der ihm bereits das Textbuch der Lustigen Witwe (1905) geschrieben hatte und ein höchst erfahrener Bühnenautor war. Der Titel bezieht sich auf die zentrale Ausstattungsszene des Stücks, die Verleihung der höchsten chinesischen Auszeichnung – die Investitur in kaiserlichem Gelb – an den Helden, von dem die Zuschauer bereits wissen, dass er als Chinese sein Inneres verbirgt und immer nur lächelt. Über die Entstehungsgeschichte der Operette geben zwei Dokumente aus dem Nachlass Victor Léons in der Wienbibliothek Auskunft.8 Aus ihnen wird ersichtlich, dass China nicht von Anfang an als Handlungsort vorgesehen war: Lizzy Léon, die Tochter des Librettisten, hatte im Jahre 1915 im Zusammenhang einer Romanlektüre 7 Zu Fritzi Massary vgl. Michael Jürgs: Gern hab’ ich die Frau’n geküßt. Die Tauber-Biographie, München 2000, S. 109–112. 8 Konzept eines Briefs von Victor Léon (Wienbibliothek, ZPH 906, Box 16) und ein Brief von Hubert Marischka vom 22.6.1930 (Box 20) an seinen Schwiegervater im Zusammenhang mit dem Rechtsstreit um das ‚Kinderkonto‘, auf dem Léon die Tantiemen der Gelben Jacke und des Land des Lächelns für seine Enkel anlegen wollte. Ich danke Barbara Denscher, Wien, für die großzügige Überlassung einer Transkription des Briefkonzepts Léons.
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Abb. 9: Titelblatt des Klavierauszugs der Gelben Jacke (Leipzig u. Wien 1922), gestaltet von V. Martens
die Idee zu einer Operette mit dem Thema „Das Exotische zog sie an“. Eine junge Engländerin verliebt sich darin in den japanischen Gesandtschaftsattaché, weil er ‚anders‘ ist, heiratet ihn und geht mit ihm nach Japan. Dort aber sind alle so wie er. Daraus resultieren starke Konflikte. Japan war jedoch als exotisches Land im Grunde schon ‚abgenutzt‘. William Gilbert und Arthur Sullivans Mikado (Deutsche Erstaufführung 1886 im Wiener Carl-Theater), vor allem aber Sidney Jones’ Die Geisha (Wiener Erstaufführung 1896) und schließlich Giacomo Puccinis Madame Butterfly (Wiener Erstaufführung 1907) besetzten das Feld. Zudem war Japan 1915 in der Habsburger-Monarchie und im Deutschen Reich unpopulär, da es Gegner im Weltkrieg war („Jeder Klaps ein Japs“).9 Lizzy und ihr Vater erwogen 9 Im Kriege beobachteten Passanten zwei asiatisch aussehende Männer und riefen die Polizei, die diese festnahm. Es waren jedoch Angehörige der chinesischen Botschaft und das Außenministerium musste sich entschuldigen. (Akten des österreichischen Außenministeriums, Ordner „China“)
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daraufhin Indien als Handlungsort. Da Emmerich Kálmán eine Indienoperette (Die Bajadere) plante, verfiel man auf China. China-Operetten waren selten. Seit Jaques Offenbachs Persiflage Ba Ta Clan (1855, mit erfundenem Chinesisch) gab es nur in London entsprechende Stücke; nach Wien waren sie nicht gelangt. Mit Chinesen kannte sich Léon zudem aus: Zu seinem Freundeskreis gehörte der Zweite Sekretär der chinesischen Botschaft, der dem neuen Helden der Operette seinen Namen lieh: Tchou Tsong Han.10 Der Librettist konstatierte dann auch, dass die Eigenart der Chinesen und der ‚chinesische Konservativismus‘ stärker ausgeprägt seien als der der Japaner und ein Chinese als Held sich daher besser eigne. Léons Libretto wurde 1917 fertig. Es sollte von Oscar Nedbal komponiert werden, der jedoch ablehnte. So wurde 1922 Franz Lehár gewonnen, der in enger Kooperation mit dem Librettisten die Musik komponierte. Wie aus den Skizzen in Léons Nachlass und dem Libretto hervorgeht, schickte der Komponist ihm Melodien, zu denen er dann die Texte schrieb.11 Die gelbe Jacke ist eine Wiener Salonoperette mit exotischem Mittelteil; Anfang und Happyend spielen im Salon, der Mittelakt in China. Die Zeit der Handlung, 1910–1912, ist klug gewählt: Sie berührt das Ende des chinesischen Kaiserreichs. Am 1. Januar 1912 wurde die Republik ausgerufen, am 12. Februar 1912 dankte der letzte Kaiser ab. Die Heldin geht 1910 in das noch kaiserlich regierte Peking, 1911 kehrt sie zurück, und 1912 kommt dann Sou Chong als Gesandter der Republik nach Wien. (Tatsächlich ernannte die neue chinesische Regierung im Jahre 1913 den bisherigen kaiserlichen Botschafter Shen Sui Lin zu ihrem Vertreter.) Die Umbruchszeit bietet eine geeignete Folie, chinesische Traditionen und fortschrittliche Individuen wie den Helden gleichzeitig vorzustellen. Der zentrale Konflikt 10 So erscheint er in den Akten des österreichischen Außenministeriums. Die Transkription der Namen ist dort unterschiedlich und wenig zuverlässig. Der Sekretär kam am 26.2.1914 aus Berlin und konnte anscheinend gut deutsch. Wegen der Revolutionswirren in China und des Kriegs in Europa blieben die Botschaftsangehörigen mindestens bis 1917 in Wien. In der Gelben Jacke kommen transkribierte chinesische Texte vor, die anscheinend in einer Privatumschrift aufgezeichnet wurden. Es handelt sich jedenfalls um keines der gängigen Transkriptionssysteme. Vermutlich wurden die Texte nach mündlichem Vortrag aufgezeichnet; sie sind im Anhang wiedergegeben. Revers: Das Fremde (wie Anm. 1) hat „Leas Lied“ mit Hilfe einer Muttersprachlerin übersetzt. 11 Wienbibliothek, MHc 16.167, 9 Blätter v. Okt./Nov. 1922 u. Jan. 1923 für das „chinesische Quartett“, Nr. 8, für Nr. 11 (Wien-Lied), Nr. 15 (Duett) und das Finale I (irrtümlich als Finale II bezeichnet). In den ‚Texten der Gesänge‘ sind die Nummern gekennzeichnet, die erst nachträglich ihre Texte erhielten. Léon versieht folgende Stücke mit einem Asterisk, um klarzustellen, welche Texte von ihm „im Sinn der Handlung frei komponierten Piècen“ unterlegt wurden: Nr. 1, den Mittelteil des Apfelblütenliedes Nr. 4, Nr. 5, Nr. 7, Nr. 10 (Drachenliedchen Mis), Nr. 11 (WienWalzer), Nr. 12, Nr. 13 („Liebes Schwesterlein“, Hochzeitstanz), Nr. 14 (Sehnsuchtslied Leas), Nr. 15 (Duett) und Nr. 16 (Shimmy). Diese Arbeitsweise stellt auch klar, dass die Neutextierung als Land des Lächelns sich im Rahmen der gängigen Produktionspraxis von Operetten hielt.
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ist zweifach gefasst: zum einen als Enttäuschung der Protagonistin darüber, dass, was als exotisch gelten kann, von der Umgebung abhängt; und zum anderen als interkulturelle Dissonanz, da der Held sich chinesischen Ehepraktiken beugen muss, die im Widerspruch zu europäischen Traditionen stehen. Für einen vergleichbaren Konflikt gibt es ein Beispiel aus der Entstehungszeit der Operette: Ein Angehöriger der chinesischen Botschaft in Wien, der Attaché Tscheng Yi Fu, war mit einer protestantischen Österreicherin verheiratet und hatte einen Sohn Bao Hua Karl Yesco Tscheng. Er wollte ihn nicht taufen lassen; vielmehr sollte der Sohn ‚im konfuzianischen Glauben seines Vaters’ erzogen werden. Dadurch geriet der Attaché mit dem Gesetz in Konflikt und wurde vor dem Bezirksgericht angeklagt. Die chinesische Botschaft bestritt lange, dass er zum Personal gehöre. Als das nicht mehr möglich war, versetzte man ihn am 24. April 1913 nach Rom. Wichtig für das Bild der Chinesen in der Operette ist die Zeichnung der Figuren. Sou Chong ist Sympathieträger: Er tritt elegant auf, spricht vorzüglich Deutsch, kann auch Französisch. Er spricht „mit leichtem fremdländischem Akzent, sehr höflich, mild und weich im Ton, der etwas höhere Färbung hat“12 – nur gelegentlich fällt er in die Fistelstimme; wenn er verletzt ist, schreit er auch. Sonst ist er souverän und poetisch. So besingt er die geliebte Lea unter anderem mit zwei Gedichten aus Hans Bethges Sammlung von Nachdichtungen Die Chinesische Flöte:13 Ma Huang Tschungs Gedicht Der Verschmähte („Von Birnbaumblüten einen Kranz ...“ wird zu „Von Apfelblüten einen Kranz ...“ Nr. 4), La Ksu Fengs Der Unwürdige wird im Duett Nr. 9 zitiert. Bethges (nicht direkt aus dem Chinesischen übersetzte) Anthologie war zu ihrer Zeit sehr populär; sie hat Vorlagen unter anderem für Gustav Mahlers Lied von der Erde und Anton von Webern geliefert. Sou Chong verwendet die durch diese Sammlung vermittelte poetische chinesische Sprache – „Blüten und Blumen hauchen ihren duftigen Gruß Dir Himmelsblüte zu, Dir Lotosblume“ –, vergleicht Lea rühmend mit einem Drachen und spricht auch seine Schwester als „bezaubernden Drachen“ an (Phönix wäre wohl passender). Im Salon im ersten Akt wehrt er sich gegen eine Geringschätzung der chinesischen Kultur. Diese sei nicht durch den sprichwörtlich rückständigen Zopf charakterisiert, vielmehr habe sie der Welt das Pulver, das Porzellan, das Papier und die Buchdruckerkunst geschenkt. Sous Nationalstolz äußert sich ganz direkt als Mi sagt: „Ich komme mir gegenüber ihm [Claudius, V.M.] so unwürdig vor als Chinesin“. Sou antwortet darauf in ernstem Ton: „Das darfst Du nicht sagen, Rosenknospe, das darfst Du nicht sagen. Deine hohen Ahnen waren schon vor vielen tausend Jahren Träger der höchsten Kultur, während [verächtlich] seine Vorfahren noch auf vier Füßen durch die Wälder spazieren ge12 Alle Zitate im Folgenden nach dem Soufflierbuch: Léon: Die gelbe Jacke (wie Anm. 2). 13 Zuerst erschienen Leipzig 1907; 1922 erschien das 27.–31. Tausend.
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gangen sind“. Solche Äußerungen mögen das Verhalten des historischen Vorbilds der Figur des Sou, des Botschaftssekretärs Tchou Tsong Han, reflektieren. Für den Operettenhelden dagegen ist die gelbe Jacke keine Zwangsjacke. Gegenüber seinem traditionsbewussten Oheim, der von ihm verlangt, vier Frauen zu heiraten, ist er zunächst standfest. Er will sich dem für Lea erniedrigenden Brauch der Polygamie nicht fügen und stimmt diesem erst zu, als er sich aufgrund einer Briefintrige von ihr verraten glaubt. Auch seine Schwester Mi zieht die Sympathien der Zuschauer auf sich: Sie ist eine junge Frau, die sich durch ihre Schwägerin von den Traditionen ihres Heimatlandes entfernt. Sie lernt auch österreichisches Deutsch – „Servus Freunderl! G’schamer Diener! Allweil gsund und munter? Millirahmstrudel“ – und tanzt einen Wiener Walzer, später sogar einen Shimmy. Sie hat wenig chinesische Züge, ist vielmehr eine typische Soubrette. Die ‚rückständigen Seiten‘ Chinas sind auf den Hüter der Tradition, Oheim Mi-a-o konzentriert. Er spricht „schnarrend“ und „näselnd“, ist intrigant, denn er will Claudius überreden, Lea für sich mitzunehmen. Komisch wirken die chinesischen Gerichte, die er diesem servieren lässt: gebackene Regenwürmer und „gemästete Solo-Heuschrecken“, die mit Stäbchen, von Claudius „Familienzahnstocher“ genannt, gegessen werden. Komisch wirkt auch seine übertriebene Höflichkeit – „Wolle der hochgeschätzte Herr auf diesem elenden Sessel seine erhabenen Sitzteile sanft niedergleiten lassen?“ –, die er jedoch mit Ironie verwendet. Eher grotesk sollen die Zeremonien wirken, bei denen Chinesisch gesprochen und gesungen wird.14 Die erotische Pikanterie der Polygamie wird dagegen nur dezent eingesetzt, da Sou ja gar kein Interesse an seinen chinesischen Bräuten hat.15 Mi ist als unerfahren charakterisiert, was europäische Zärtlichkeitsformen angeht: Sie weiß nicht, was küssen ist, lernt aber schnell, als Claudius es ihr beibringt. Das gehört zu den Stereotypen bei der Darstellung chinesischer Traditionen. Lea ist der Typ einer impulsiven, kapriziösen Operettendame, deren Liebe zu Sou-Chong zuerst mehr seinem exotischen Flair als seiner Person zu gelten scheint. Dann heiratet sie ihn standesamtlich und geht mit ihm nach Peking.16 Ihr Heimweh nach Wien ist vor dem Hintergrund der traditionellen Wien-Nostalgie der Operette positiv besetzt. Als Sou Chong aufgrund der Briefintrige die vier Frauen heiratet, verlässt sie den Prinzen im Zorn. Sie versucht nicht, seinen Irrtum aufzuklären, sondern kehrt in ihre Heimat zurück. Ihre Sehnsucht und Liebe bleibt jedoch beste14 Bei seiner Berliner Inszenierung von Land des Lächelns (2008, Komische Oper Berlin) hat Peter Konwitschny einen chinesischen Darsteller für einige chinesische Sätze eingesetzt. 15 Gleiches gilt für die Eunuchen. In der Interimsfassung Das Land des Lächelns wird davon ausführlich Gebrauch gemacht, auch, wenngleich weniger, in der Endfassung Das Land des Lächelns. 16 Die fakultative Zivilehe war in Österreich seit Mitte des 19. Jahrhunderts möglich.
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hen, ja wird durch die Trennung noch verstärkt. Deshalb können sie im dritten Akt, als Sou Chong auf die angebotene Position in Peking verzichtet, seine vier Frauen fortgeschickt hat und zum Gesandten in Wien ernannt worden ist, glücklich wieder vereint werden. Claudius ist ein nicht unsympathischer, leicht vertrottelter Wiener Aristokrat, der am Schluss „perfekt chinesisch“ werden will, um seine Mi zu heiraten. Er ist die eigentlich komische Figur der Operette. Mit ihr verspottet der Librettist die einstige Faszinationsfigur des habsburgischen Aristokraten, der früher den Repräsentanten eines modernen Lebensgefühls und einer modernen Individualität abgab. Victor Léon und Franz Lehár stellen also (abgesehen von den Statisten) nicht groteske Chinesen, sondern einen Altösterreicher als komische Figur auf die Bühne. Der Gegensatz zwischen Wien und Peking wird in der Operette auch klanglich verdeutlicht. So wird die europäische Seite vor allem mit dem Walzer, aber auch mit modernen Tänzen wie Foxtrott und Shimmy, die chinesische Seite dagegen mit pentatonischen Melodien, Quart- und Quint-Parallelen charakterisiert. Anders als Puccini hat Lehár dabei anscheinend keine chinesischen Originalmelodien benutzt.17 Er hat vielmehr Musik in einem chinesischen Stil erfunden, die auf den Zuhörer den Eindruck machte, sie sei ostasiatischen Ursprungs. Wahrscheinlich hatte er chinesische Musik in unmittelbarem Vortrag gehört und nicht nur von den Schallplatten, die es zu dieser Zeit bereits gab. Möglicherweise hat ihm die Frau eines Botschaftsangehörigen etwas vorgesungen – ähnlich wie die japanische Botschaftergattin in Rom, Hisako Oyama, Puccini originale Lieder für Madama Butterfly vermittelt hat. Jedenfalls wusste Lehár, dass die chinesische Stimmästhetik anders ist als die europäische. So schreibt er in seiner Operette vor, dass Lea ihre Liebesromanze in chinesischer Sprache in „knautschender chinesischer Manier“ beziehungsweise „mit gepresster, kindlich naiver Stimme“ singen soll. Als Claudius sie daraufhin mit „Miau! Mi-i-au!“ parodiert und meint: „Na, schön ist anders!“, repliziert sie: „Anders ist schön! Nicht immer das, was man schon kennt.“ Chinesisch klingt auch Sou Chongs Romanze „Von Apfelblüten einen Kranz…“ mit den pentatonischen Vokalisen auf A. Die Musik der Zeremonie im zweiten Akt ist vor allem in der Instrumentation ‚chinesisch‘. Traditionell stehen Piccolo-Flöte, Glockenspiel sowie Gong und Tamtam für ostasiatische Musik, und so werden diese Instrumente auch hier eingesetzt. Dazu treten allerdings Trompeten und Posaunen als Bühnenmusik, die als europäische Herrschaftsinstrumente eigentlich nicht zu China passen. Die Szene wird auf diese Weise zum traditionellen grand cortège, zu einem repräsentativen Aufzug mit exotisch-asiatiaschem Flair.
17 Im Fall des chinesischen Liedchens im 1. Akt (Nr. 1 1/2) scheint mir das jedoch nicht sicher.
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Der kulturelle Konflikt dient in der Gelben Jacke als Medium für einen Liebeskonflikt. Er entsteht aus dem Gegensatz zwischen der leichten, in der Faszination des Exotischen gründenden, Liebe der Frau und der ernsten Liebe des Mannes und wird zugunsten letzterer gelöst. Das Problem der Polygamie ist nicht der Grund, sondern nur der Anlass für die Trennung. Der leichten Liebe entspricht Leas Sehnsucht nach dem mondänen Wien, wo sich Prater auf Burgtheater reimt und das Wichtigste der Korso auf der Kärntnerstraße ist. Die schon penetrante Beschwörung der Attraktivität Wiens bot nach dem Zusammenbruch des Habsburger Reiches offensichtlich einen diffusen Ersatz für die einstige Größe Österreichs. Die Rezension der Uraufführung in der Neuen Freien Presse vom 10. Februar 1923 von Ludwig Hirschfeld vermisste – bei aller Anerkennung für die Musik, die „Chinesisches und Lehársches in reizvoller Weise“ verbinde – „Humor und Satire“ auf Kosten der Chinesen und sparte auch sonst nicht mit rassistischen Bemerkungen. So merkte er kritisch an, dass „die heutigen Frauen nicht mehr für grüne Jungen schwärmen – aber gleich für gelbe?“, oder, dass der Darsteller des Sou Chong, Hubert Marischka, „trotz der Echtheit in Maske und Spiel […] sympathisch“ gewirkt habe.18 Erwartet wurde also eine China-Karikatur, vor der sich Léon und Lehár gerade gehütet hatten. Dass es in der Gelben Jacke im Kern nicht um chinesische Probleme geht, erkannte ein anderer Rezensent: „Die gelbe Jacke ist Franz Lehárs Hausrock nicht, den Hausrock kenn’ ich; er ist ungarisch verschnürt, slawisch gefüttert und wienerisch ausgeschlagen: die Uniform der alten Donaumonarchie“.19 China ist für die Operette vor allem eine neue Ausstattungsgelegenheit: Nach der Ausbeutung Ungarns und des Balkans bot das Reich der Mitte neue optische und akustische Reize. Die Liebeskonflikte sind letztlich privat, sie werden lediglich in ein exotisches Ambiente versetzt und entsprechend optisch und musikalisch eingefärbt. China ist dekorativ auf die Bühne gebracht mit vielen Drachen und Phoenixen, roten und weißen Bannern, Lampions, Blumenvasen und Weihrauchkesseln. Daher wird in dem Artikel der Neuen Freien Presse gerade die Ausstattung des 2. Aktes gelobt: Sie biete „in Linie und Farbe, in Glanz und Fülle ein für sich sehenswertes Bild, das es [das Auge, V.M.] auf einer Operettenbühne wohl noch nie gesehen hat.“ Dass eine ‚chinesische‘ Ausstattung als Accessoire eines gehobenen Lebensstils in Europa schon lange bekannt war und in den zwanziger Jahren wieder belebt wurde, wird im Schlussbild deutlich. Lea hat in ihrem Boudoir aus Sehnsucht nach 18 Ludwig Hirschfeld in: Neue Freie Presse, 10.2.1923. 19 Illustriertes Wiener Extrablatt, 10.2.1923; hier zit. n. der aspekt- und materialreichen Dissertation von Martin Lichtfuss: Operette im Ausverkauf. Studien zum Libretto des musikalischen Unterhaltungstheaters im Österreich der Zwischenkriegszeit, Wien u. Köln 1989, S. 222.
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ihrem Prinzen ein chinesisches Zaubertheater eingerichtet. In kürzester Zeit werden entsprechend bemalte Vorhänge heruntergelassen, asiatische Paravents verdecken die modernen Möbel, Lampions werden über die Kandelaber gezogen, Tücher und Kimonos ausgebreitet und Blumengestecke aufgestellt. So kann die Versöhnung von Lea und Sou Chong in einem europäischen Dekor-China stattfinden. Was für ein China-Bild nahmen die Zuschauer und Zuhörer von der Aufführung mit? Das einer alten Kultur, das der Operettenheld Sou Chong entwirft? Dieser kulturelle Nachhilfeunterricht könnte allerdings als chinesische Anmaßung aufgenommen worden sein. Denn als Sou Chong sich nach der Briefintrige Lea gegenüber als Herr aufspielt, wird vielmehr die Vorstellung der ‚gesellschaftlichen Rückständigkeit‘ Chinas bedient: Lea ist „sein Gegenstand“: „Konfuzius, der uns Gesetze gab, er sprach: ,Das Weib darf nicht nach eig’nem Willen handeln, Das Weib hat den Weisungen des Mannes zu gehorchen.‘“. Leas Kommentar dazu: „Oh, welche tiefe Barbarei!“, dürfte den Zuschauerinnen aus der Seele gesprochen gewesen sein. Dass Sou diese Haltung überwindet, entspricht seiner Charakterzeichnung. Er erkennt, dass Lea die chinesischen Konventionen als unerträglichen Zwang empfindet und erreicht eine Lösung außerhalb Chinas. Ob er auf diese Weise als moderner Chinese präsentiert werden soll, der von der Traditionskritik des modernen China und der Ablehnung der konfuzianischen Lehre – der „Zertrümmerung des Laden Konfuzius“ (Chen Duxiu)20 – beeinflusst ist, bleibt zweifelhaft. Modern ist jedenfalls, dass ein so verwestlichter Chinese wie Sou Chong zum Minister ernannt wird und die höchste Auszeichnung des Landes erhält. Der Text gibt außerdem Hinweise darauf, dass es in China divergierende Traditionen im Umgang mit Fremden gibt. Konfuzius steht für die autoritäre, Buddha für die pragmatische Variante. Das wird vor allem in der Neubearbeitung der Operette deutlich: In Land des Lächelns schenkt Sou Chong Lisa (in der Gelben Jacke: Lea) gleich zu Beginn eine alte Buddha-Statue aus dem Besitz seiner Familie. Er möchte damit eine mögliche Einheit über die kulturellen Grenzen hinweg beschwören. Am Schluss des 3. Aktes wird seine Entsagung, die auf liebender Akzeptanz beruht, mit dem Namen Buddhas verknüpft: „Ich weine nicht. So hat es Buddha gelehrt.“ Victor Léon nahm trotz (oder wegen) seiner Kontakte mit dem Botschaftssekretär die Chinesen als stark traditionsverhaftet wahr. Ebenso dürfte das Publikum die misogyne Tendenz im Verhalten der chinesischen Figuren als typisch chinesisch betrachtet haben, zumal es vermutlich wenig andere Informationen über die zeitgenössischen gesellschaftlichen Entwicklungen in China hatte. Eine generelle Abwertung der chinesischen Gesellschaft wird durch die Operette allerdings nicht vermittelt. 20 Zit. n. Kuo Heng-Yü: China und die Barbaren. Eine geistesgeschichtliche Standortbestimmung, Pfullingen 1967, S. 123.
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II. Turandot – Liebe in den Zeiten der Gewalt Puccinis Turandot hat eine lange Entstehungsgeschichte.21 Im Jahre 1920 schlug der Journalist und Librettist Renato Simoni dem Komponisten das Sujet vor. Simoni kannte China aus dem Revolutionsjahr 1912, in dem er das Land als Zeitungskorrespondent bereist hatte. China war in den zehner Jahren auf der internationalen Bühne populär.22 Und eine solche Aktualität war dem Komponisten immer wichtig gewesen. Puccini hatte die musikalische Komödie Chu-Chin-Chow und das Melodram Mr. Wu 1919 in London gesehen. Im Unterschied zu diesen sollte seine Oper aber ein „originelles und – vielleicht einzigartiges Werk“ werden. 23 Er wollte eine mythisch-psychologische Oper schreiben, vergleichbar mit der Frau ohne Schatten von Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss, die er 1920 in Wien besucht hatte. Ihn interessierte – wie immer – ‚das Rätsel Weib‘, in diesem Fall die Frigidität von Turandot, die ihre natürliche Leidenschaftlichkeit unterdrückt. Diese Thematik wird in der Oper in drei Ritualen dargestellt: der Hinrichtung des erfolglosen Werbers im ersten Akt, der Freierprobe mit den Rätseln im zweiten und der gewaltsamen Bemächtigung der Frau (im Zerreißen des Schleiers und dem Kuss) im dritten Akt. Gewalt prägt die Handlung von Beginn an – das ‚Henkermotiv‘ eröffnet die Oper: fünf gemeißelte Akkorde, vergleichbar dem Beginn von Puccinis Tosca und Straussens Elektra. Es ertönt abgewandelt wieder, als der persische Prinz, der die Probe nicht bestanden hat, geköpft wird, als der Henker das Haupt vorzeigt, im eingangs zitierten Marsch der Henkersknechte sowie im zweiten und dritten Akt, wenn von Gewalt die Rede ist oder sie ausgeübt wird – an Liù, die heimlich den Prinzen Calaf liebt. „Vernichten, ermorden, nur zu! Hinrichten und so fort!“,24 das sei die Tagesordnung, singen die Minister Ping, Pang und Pong. Calaf verliebt sich in Turandot zwar schon vom Hörensagen, aber seine Faszination steigt ins Unbezwingliche, als sie, ohne ein Wort, mit einer gebieterischen Handbewegung das Todesurteil über den persischen Prinzen spricht. Turandots mörderische Praxis ist das Ergebnis eines übertragenen Traumas: Sie rächt ihre Ahnin Lou Ling, die einst entführt und vergewaltigt wurde. Ihre Erzählung von diesem Ereignis („In questa reggia“) ist Bestandteil des Rätselrituals.25 Calaf 21 Vgl. John Nicholas: Turandot. Giacomo Puccini, in: ders. Opera Guide 27, London 1984; Volker Mertens: Giacomo Puccini. Wohllaut, Wahrheit und Gefühl, Leipzig 2008. 22 Vgl. Kii-Ming Loo: ‚Turandot’ auf der Opernbühne, Frankfurt/M. u.a. 1996; Ferruccio Busonis Oper Turandot (1917) blieb Puccini unbekannt. 23 Carteggi pucciniani, a cura di Eugenio Gara, Mailand 1958, Brief Nr. 766, S. 490. 24 Puccini: Turandot (wie Anm. 4). Im Folgenden wird im Text diese Ausgabe zitiert. 25 Ein Rätselritual besteht aus Galster (Narration) und dem eigentlichen Rätsel.
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besteht es, aber Turandot erkennt seinen Sieg nicht an; sie will nie einem Mann gehören. Daraufhin stellt er ein Gegenrätsel: Wenn sie seinen Namen errät, gibt er sich verloren. Um zu erfahren, wie er heißt, wendet sie Gewalt an. Sie foltert Liù, bis diese sich selbst tötet. Damit endete Puccinis Partitur; für die folgenden Szenen hat er nur Skizzen hinterlassen. Diese zeigen, dass er anscheinend große Schwierigkeiten hatte, das Happyend zu gestalten: Durch Calafs gewaltsames Zerreißen ihres Schleiers und den Kuss wird Turandot erweckt. Sie verkündet, sie kenne nun den Namen: „Amor“ – in der deutschen Fassung „Gemahl“ – und das Volk jubelt. Das bleibt unbefriedigend, denn die einzig wahre Liebende, Liù, ist tot. Calaf hat sich nicht der lebendigen Frau, sondern einem versteinerten – oder vereisten – Idol zugewendet, befangen in männlichem Konkurrenzdenken, das nicht auf Liebe, sondern auf den Sieg fixiert ist – zuerst im Rätselspiel, später im psychologischen Duell mit Turandot. „Vincerò!“ („mein Sieg“) singt er am Schluss seiner berühmten Arie Nessun dorma. Die musikalische Darstellung Chinas in dieser Oper beruht auf der Verarbeitung originaler Quellen. Puccini hatte schon in Madama Butterfly mit japanischer Musik, die er nicht nur von Ausgaben her, sondern auch durch unmittelbaren Vortrag kannte, komponiert. Auch für Turandot griff er auf fernöstliches Tonmaterial zurück, insgesamt auf sieben Melodien, von denen meist nur Teile verwendet wurden.26 Am bekanntesten ist das in Gänze benutzte Lied Mò Lì Huâ (Jasminblüte), das man noch heute in der Werbung in der Pekinger U-Bahn hört. Puccini transkribierte es von der Spieluhr des italienischen Diplomaten Eduardo Fassini, der lange in China gelebt hatte.27 Der Komponist setzte es ein, um Turandots unter ihrer Grausamkeit verborgene Reinheit und Kindlichkeit anzudeuten. Ein Knabenchor singt das Lied, begleitet von zwei Saxophonen mit gesummten Akkorden des Chores sowie Harfen und Holzbläsern mit chinesischen Gongs – ein sehr apartes Klangbild, das einen bedeutungsvollen Kontrast zu den Henkerschören bildet. Jasminblüte beendet auch den ersten Akt im Fortissimo: eine Vorausdeutung darauf, dass Calaf die Verletzlichkeit der Prinzessin spürt und heilen wird. Im Unterschied zu Lehár, der im flexiblen Metrum und in der Stimmcharakteristik seine Kenntnis von aufgeführter chinesischer Musik verrät, behandelt Puccini die chinesischen Melodien metrisch und im stimmlichen Vortrag europäisch. Lediglich das instrumentale Klangbild orientiert sich an dem, was westliche Hörer mit ostasiatischer Musik verbinden.
26 Vgl. die Nachweise bei Loo: Turandot (wie Anm. 22), S. 325–334. 27 Die Spieluhr existiert noch; sie war in einer Radiosendung von William Weaver in der Pause einer Übertragung der Turandot aus der Metropolitan Opera im Jahre 1974 zu hören.
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Die Uraufführung in Mailand am 25. April 1926 präsentierte ein dekoratives China mit aufwändigen Bühnenbildern und Kostümen.28 Der Dirigent Arturo Toscanini brach nach dem Tod der Liù ab: „Hier endet das Werk, an dieser Stelle ist der Maestro gestorben“, soll er gesagt haben.29 2007 spielte man in Venedig diese „originale unvollendete Fassung“ und nicht eine der Ergänzungen von Franco Alfano oder Luciano Berio.30 Beide Schlüsse sind weder psychologisch noch musikalisch überzeugend, denn dass Calaf die traumatisierte Turandot ausgerechnet durch einen Gewaltakt erlösen kann, leuchtet nicht ein.
Abb. 10: Szenenfoto der Dresdner Turandot-Aufführung von 1926
28 William Ashbrook: Turandot and it’s Posthumous Prima, in: The Opera Quarterly 2 (1984), Nr. 3, S. 125–132. Vgl. die Abbildungen in: Fondazione Teatro la Fenice Venezia (Hg.): Giacomo Puccini, Turandot [Programmbuch], Venedig 2007, nach S. 8. 29 Die Worte sind unterschiedlich überliefert; vgl. Mertens: Giacomo Puccini (wie Anm. 21), S. 233. 30 Vgl. Mertens: Giacomo Puccini (wie Anm. 21), S. 233.
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In Dresden, bei der deutschen Erstaufführung am 4. Juli 1926, spielte man den ersten Alfano-Schluss. Es war eine Aufführung mit hervorragender Besetzung. Fritz Busch dirigierte, die Ungarin Anne Roselle sang die Turandot. Als Kalaf war Curt Taucher vorgesehen, der erste Wagner-Tenor der Oper, heldischer als der Mailänder Calaf Miguel Fleta. Doch Taucher wurde drei Tage vor der Premiere krank und der Dirigent überredete Richard Tauber, die Partie zu lernen. Und der tat es. Tauber galt schon seit 1922 als der „beliebteste tenorale Herzensbrecher“; er sang Oper und Operette, blieb aber immer „ein Bursche von Takt und Geschmack“ um Thomas Mann zu zitieren.31 Seine vokale Charakterisierung des Prinzen verlagerte die Gewichte: Aus dem heldischen Macho wurde der romantische Liebende. Dem kam Taubers besondere Stimme entgegen, eine baritonale Mittellage mit einer nicht heldentenoralen, sondern etwas kopfigen Höhe.32 Er konnte einen Heldentenor allenfalls täuschend ähnlich nachahmen. Sein Kalaf wurde allgemein bejubelt, im gleichen Jahr bei der Wiener und im folgenden Jahr bei der Berliner Erstaufführung. Die Dresdner Besetzung brachte, ähnlich wie die Mailänder Premiera, ein anderes Protagonistenpaar auf die Bühne, als es heute üblich ist: leichtere, lyrische, sinnlich ansprechende Stimmen,33 keine heldischen Kraftmeier. Dadurch wirken Turandot und Kalaf menschlicher. Die wechselseitige Faszination beruht weniger auf Gewalt, als auf sinnlich vermittelter Sensibilität und Verletzbarkeit. Zum Glück sind zentrale Arien von beiden im Jahr der Dresdner Aufführung aufgenommen worden. Gut nachvollziehbar ist deshalb die Kritik der Dresdner Musik-Zeitung über Tauber: „Er sang mit der rechten Mischung von dichterischem Schwung und meisterhafter italienischer Kantilene“.34 Welche Schlüsse lassen sich aus dieser Aufführung für die Wahrnehmung Chinas auf der Opernbühne im Unterschied zur Operette in den zwanziger Jahren ziehen? An der Dominanz von Grausamkeit und Gewalt änderte sich wenig. Sie wurde durch das wankelmütige Volk, das erst die Hinrichtung des persischen Prinzen fordert, dann um Mitleid fleht, Liù erst bedroht, dann beweint, als ‚typisch chinesisch‘ 31 Tauber singt auf der Platte, die Hans Castorp in Thomas Manns Zauberberg im Grammophonkapitel ‚Fülle des Wohllauts‘ hört, Schuberts Lindenbaum (Aufnahme vom 14.3.1923); vgl. dazu Volker Mertens: Elektrische Grammophonmusik im ‚Zauberberg‘ Thomas Manns, in: Dietrich von Engelhardt u. Hans Wißkirchen: Der ‚Zauberberg‘ – die Welt der Wissenschaften in Thomas Manns Roman, Stuttgart u. New York 2003, S. 194–202, dort auch das Zitat. 32 Jens Malte Fischer: Große Stimmen von Enrico Caruso bis Jessye Norman, Stuttgart 1993, hier S. 125–135. 33 Anne Roselle hat 1926 im Zusammenhang mit der Erstaufführung die Arien In diesem Schlosse und Die ersten Tränen eingespielt (Leitung: Fritz Busch). Es handelt sich um eine der frühen elektrischen Aufnahmen der Schallplattenfirma Minerva: Minerva A65 (mit einer falschen Angabe zum Jahr der Aufnahme). 34 Zit. nach Jürgs: Gern hab’ ich die Frau’n geküßt (wie Anm. 7), S. 196.
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wahrnehmbar, aber sie wurde zugleich menschlich überhöht. Turandot war die verletzte Verletzende und Kalaf von eben dieser Dimension fasziniert. In aufwändigem chinesischem Ausstattungspomp, der Beifall auf offener Szene auslöste, spielte sich ein zeitloses psychologisches Drama ab. Die verwundete Seele ist hier ein Land des Grauens, China nur ein möglicher Ort. III. Das Land des Lächelns – nicht so „grausam wie China“ Der Kalaf war Richard Taubers letzte Einstudierung einer großen Opernrolle. Er hatte damals bereits die Grundlage für seine Weltkarriere als der Operettentenor des zweiten Viertels des 20. Jahrhunderts gelegt. Am 30. Januar 1926 sang er in Berlin im Künstlertheater den Paganini in Franz Lehárs gleichnamiger Operette, einen Helden, der nicht die attraktive Primadonna bekommt, sondern als der Prototyp des einsamen romantischen Künstlers mit seiner Geige allein bleibt. Lehár hatte damit einen neuen Typus der Operette geschaffen, die lyrische Operette, wie man sie in Anlehnung an die Terminologie Opera lyrique nennt. Auch von ‚Verzichtoperette‘ hat man gesprochen. Sie war die Antwort auf eine Krise der Gattung, denn sie schlug – ebenso wie die Revue-Operette – einen neuen Weg ein, weg vom herkömmlichen Salon mit seinen abgestandenen Frivolitäten. Kennzeichnend für diese Modernisierung der Operette ist die Annäherung an die Oper. Diese zeigt sich am unhappy ending, aber auch an der größeren musikalischen Durcharbeitung und der weitgehenden Reduzierung der komischen Momente. „Speziell die Lehár-Operetten stehen auf einem Niveau, das an den Künstler keine geringeren Anforderungen stellt als etwa eine Puccini-Oper“, sagte Richard Tauber im Jahre 1930, wobei er nur wenig übertrieb.35 Tauber wurde der ideale Interpret der ebenso starken wie schmerzlichen Gefühle, und Lehár schrieb seit dem Paganini (1925) die Partien auf seine Stimme, den Titelhelden im Zarewitsch (1927) ebenso wie den Goethe in Friederike (1928). Für die Entwicklung der lyrischen Operette durch Lehár dürfte Puccini wichtig gewesen sein, denn das erste Beispiel dieses Typus stammte von diesem: La Rondine, im Jahre 1913 in Auftrag gegeben von der Direktion des führenden Wiener Operettenhauses, des Carl-Theaters. Die Uraufführung fand wegen des Krieges in Monte Carlo statt; Wien hörte die Schwalbe, so der deutsche Titel, erst am 9. Oktober 1920. Doch man fand dort keinen rechten Zugang zu dem Werk, das unentschieden zwischen den Gattungen angesiedelt schien. Lehár aber ging dann sechs Jahre später einen ganz ähnlichen Weg zur Erneuerung der Operette. Nach den Erfolgen 35 Jürgs: Gern hab’ ich die Frau’n geküßt (wie Anm. 7), S. 246.
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von Paganini, Zarewitsch und Friederike suchte der Komponist ein neues Thema und verfiel auf die nunmehr fünf Jahre alte Gelbe Jacke. Sie enthielt einen ernsthaften Konflikt und viel lyrische Musik. Sie war, anders als meist zu lesen ist, kein Misserfolg gewesen, sondern hatte fast einhundert Aufführungen in Wien erlebt und war in Budapest nachgespielt worden.36 Die gelbe Jacke musste Mitte der zwanziger Jahre als völlig unmoderne Salonoperette gelten. Lehár beauftragte daher zwei seiner Librettisten, Ludwig Herzer und Fritz Löhner, mit der Umarbeitung zur lyrischen Operette. Victor Léon wurde zwar noch auf dem Titelblatt genannt, hatte eine Mitwirkung an der Überarbeitung aber abgelehnt. Das Ergebnis wurde übrigens nicht auf Anhieb erreicht; es existiert ein Übergangs-Libretto, das den nicht einfachen Prozess der Neugestaltung zeigt.37 Schließlich wurde es aber die erfolgreichste Operette aller Zeiten: Das Land des Lächelns, uraufgeführt am 10. Oktober 1929 in Berlin, wo sie 180 Vorstellungen en suite gespielt wurde. Von der Schallplatte, die Richard Tauber eine Woche vor der Premiere besungen hatte, wurden 500.000 Exemplare verkauft. Was hatte sich im Vergleich zur Gelben Jacke geändert? Aus Lea war Lisa (im Übergangslibretto: Vera)38 geworden, aus der kapriziöseren Salondame mit dem jüdischen Namen eine ernsthafte junge Frau, die bewusst das Wagnis der Ehe mit einem ‚Gelben‘ eingeht. In der alten Operette wurde die bürgerliche Ehe als überlebtes Ideal verspottet: „Verlieb dich oft, verlob dich selten, heirate nie!“, war dort das Motto gewesen. Im Land des Lächelns meint Lisa es von Beginn an ernst mit der Ehe. Sie verlässt ihren Mann erst, als sie erkennt, dass sie nach den Regeln der fremden Kultur (auch hier symbolisiert in den vier Frauen Sou Chongs) nicht zu leben vermag. Die Briefintrige ist eliminiert, der kulturelle Konflikt hingegen von zentraler Bedeutung. Sous Aufrichtigkeit in der Liebe wird durch die berühmteste Nummer, das „Tauber-Lied“39 Dein ist mein ganzes Herz, das als Introspektion, als Monolog gedacht ist, zum höchsten vokalen Ausdruck gesteigert. In der Gelben Jacke stand die Melodie (in der gleichen Tonart Des-dur) im Vorspiel und am Schluss der Operette vor der Versöhnung noch mit anderem Text: Duft lag in Deinem Wort wie Blütenhauch vom Rosenstrauch. Hast Du mich einst geliebt? 36 Es existiert sogar eine spanische Übersetzung für das Teatro Alcazar in Madrid. Vgl. den Durchschlag im Nachlass Victor Léon, Wienbibliothek, ZPH 906 Box 20. 37 Vgl. den Durchschlag im Nachlass Victor Léon, Wienbibliothek, ZPH 906 Box 7. 38 Vgl. die Notiz in MHc 16375e: „Comtesse Vera“ (also nicht der Name der Sängerin der Uraufführung, Vera Schwarz). 39 Von Lehár selbst so benannt; vgl. das Faksimile bei Schneidereit: Richard Tauber (wie Anm. 6), S. 95.
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Abb. 11: Titelblatt des Klavierauszugs des Land des Lächelns (Wien 1929), gestaltet von Lilian Marischka Karczag
Kann’s möglich sein? Du warst doch mein? All’ Deiner Küsse Glut, die heiß erschauern mir machte das Blut, nichts war sie? Nichts? Und ein armer Tor steht traurig da, der all sein Glück verlor.40
Erst im Land des Lächelns mit dem neuen Text und am neuen Ort war die Melodie der große Erfolg. Sie wurde zum emotionalen Zentrum der neuen Konzeption. In Sous Rolle gehen Momente der beiden vorangegangenen Verzichtoperetten ein: aus dem Zarewitsch die Unmöglichkeit, ein politisch herausgehobenes Amt mit priva40 Léon: Die gelbe Jacke (wie Anm. 2).
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tem Liebesglück zu vereinbaren, und aus der Goethe-Operette die schwärmerische Projektion von Subjektivität im Medium des Liebeslieds. Sou Chongs neu geschaffene Arie bewirkt eine momentane ‚Wertherisierung‘ des Prinzen; die Melodie klingt an das Goethe-Lied „Mädchen, mein Mädchen, wie lieb’ ich dich“ an – und greift eine Formel Puccinis aus dem 1. Akt von La Bohème auf.41 Auch die anderen Figuren sind ernsthafter konzipiert: Aus dem leicht depperten, komischen Claudius wurde der fesche Offizier Graf Gustav. Und Mi hat gleich zu Beginn westliche Neigungen zu Tennis und kurzen Röcken; sie ist eine emanzipierte Frau, die sich in einem Tanzlied von der Tradition distanziert: „Keinen Hut und keine Handschuh. Das ist nichts für eine Mandschu. Und ein Dekolletee tut den Bonzen weh [...]. Unser einziges Vergnügen, das soll sein das Kinderkriegen und das Dasein für den Herren Gemahl.“ Der Konflikt zwischen dem Alten und dem Neuen wird zwar als innerchinesischer inszeniert, kann aber als Projektion eines innereuropäischen Generationenkonflikts aufgefasst werden: „Bei uns in Europa gibt es auch so alte Chinesen, die sich über die kurzen Röcke und die nackten Beine aufregen“, kommentiert Gustl. Symptomatisch für die neue Gattung ist die ‚Entwienerung‘. Das ist nicht nur der angestrebten Breitenwirkung über Österreich hinaus geschuldet, sondern entspricht der konzeptionellen Erneuerung, wie sie sich in der Neutextierung des Heimwehwalzers der Protagonistin zeigt. Lisas Wunsch ist nicht mehr Prater und Burgtheater, sondern „das Haus, die alten Bäume, durch die stillen Straßen gehen in der Stadt meiner Sehnsuchtträume“. Aus der Großstadt ist die Idylle geworden, aus der vergnügungssüchtigen Salondame die gefühlvolle Seele. Der Walzer allerdings verrät noch, dass sie aus Wien kommt. Das Happyend des dritten Aktes muss fallen:42 am Schluss steht die Konfrontation zwischen Lisa und Sou Chong in schmerzlicher Resignation. Sou Chang zitiert dabei seinen Apfelblüten-Traum: „Ein Lied wollt ich von Seligkeiten singen und meine Laute sollt wie Silber klingen“. Er gibt die geliebte Frau großmütig frei, ähnlich dem Thoas in Goethes Iphigenie oder dem Bassa Selim in Mozarts Entführung aus dem Serail. Am Ende bleibt das Leid – „Lächeln trotz Weh und tausend Schmerzen“. Lisa hatte ihm vorgeworfen: „Du bist so grausam, wie es nur in China ist.“ Doch er ist nicht grausam. Die Liebe befähigt ihn zur Entsagung. Seine Einfügung in die traditionelle chinesische Ordnung geht nicht so weit, dass er diese seiner Frau gegenüber durchsetzt. Allerdings wird er für seine Resignation nicht durch eine Ak-
41 Zu den Worten „Talor dal mio forziere“ in Rodolfos Che gelida manina. Der absteigende melodische Gestus ist typisch für Puccini. 42 Frey spricht von der „Lüge des Happy-End“: Frey: Erfolg (wie Anm. 5), S. 265.
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Abb. 12: Vera Schwarz und Richard Tauber als Prinz Sou Chong in der Uraufführung von Das Land des Lächelns im Berliner MetropolTheater (1929)
klamation der Gesellschaft entschädigt. Anders als in Richard Wagners Meistersingern gibt es zum Schluss keine Huldigung aller, wie sie Hans Sachs über den Verzicht auf die Liebe Evas tröstet. Sou Chong ist schon in der Gelben Jacke ein differenzierter Charakter. In Land des Lächelns ist das in gesteigertem Maß der Fall, markiert durch die Tragik des Verzichts – und durch Richard Taubers Interpretation. Tauber war kein ‚Schmalztenor‘, wie Karl Kraus behauptete. Denn der Sänger verfügte nicht nur über ein betörendes Timbre, sondern er besaß auch eine hohe Gesangskultur, die ihm Ausdrucksmöglichkeiten eröffnete, die sonst eher der Oper vorbehalten waren. Tauber brachte den existenziellen Ernst seines Kalaf in die Gestaltung des Sou Chong ein, der dadurch fast die Statur eines Puccini-Helden erhielt.
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Dass Lehárs Operettenheld Assoziationen zu Puccinis Figuren hervorrufen konnte, lag übrigens nicht nur an Taubers Interpretation. Denn Lehár hatte Puccini 1913 im Zusammenhang mit der geplanten Aufführung von La Rondine in Wien persönlich kennen gelernt und war mit ihm danach bis zu seinem Tode befreundet gewesen. Puccini hatte ihn zur Wiener Erstaufführung seines Trittico in seine Loge eingeladen und seinerseits die Uraufführung von Lehárs Gelber Jacke besucht. Bei dieser Gelegenheit hatte er seinem österreichischen Kollegen auch den letzten Akt der Turandot auf dem Klavier vorgespielt. Lehár war dann auch Gast bei der postumen Uraufführung von Puccinis unvollendeter Oper im Jahre am 25. August 1926 in der Mailänder Scala gewesen. Es ging sogar das Gerücht, statt Franco Alfano hätte Lehár diese Oper vollenden sollen, was der Dirigent Arturo Toscanini verhindert hätte. (Toscanini teilte Puccinis Respekt vor dem Meister der leichten Muse nicht.) Jedenfalls war es wohl kein Zufall, dass Lehár genau zu dieser Zeit den Weg zu einer Neupositionierung der Operette einschlug. Die Freundschaft mit Puccini hatte ihn dafür disponiert. Ab 1926 überhöhte er das Unterhaltungstheater mit den Themen und den Mitteln der Oper. Es ging ihm nun auch um die Tragik des modernen Menschen schlechthin. Lehár wurde nach der Uraufführung von Land des Lächelns dafür kritisiert, dass er die Ehe zwischen weiß und gelb so ernst genommen habe. Er antwortete darauf, er könne die Meinung der Kritiker nicht teilen, denn er „habe schon mehrere Chinesen kennen gelernt, die überaus wertvolle Menschen sind.“43 Liebesenttäuschung ist allgemein menschlich. In der Fledermaus hatte es noch geheißen: „Glücklich ist, wer vergißt, was nicht mehr zu ändern ist.“ Diese Weisheit – oder Torheit – des leichten Lebens gilt im Land des Lächelns nicht mehr. Das unabänderliche Schicksal kann man nicht vergessen, es bringt „Weh und tausend Schmerzen“. Und dazu muss man „immer nur lächeln“. Das gilt in dieser Operette übrigens nicht nur für China. Auch die moderne europäische Gesellschaft erlaubt kein Aufgehen im Liebesschmerz, auch ihre Mitglieder müssen, unabhängig von ihren Gefühlszuständen, funktionieren. Es ist die letztlich romantische Idee von der einen Menschennatur in allen Ländern, die die Operette trägt. „Stark ist der Zauber des Begehrenden, stärker der des Entsagenden“ (Richard Wagner)44 – mit beidem gewann Tauber als Sou Chong alle Herzen. Nicht, weil er eine exotische Person verkörperte, sondern weil er die Einsamkeit des Liebenden durch seinen Gesang verklärte. Der Verzicht als Verinnerlichung der Unmöglich43 Zit. n. Lichtfuss: Operette (wie Anm. 19), S. 212. Falsch zitiert bei Lee: „so wundersam exotisch dieses Lied“ (wie Anm. 1), S. 310 („übrigens“ statt „überaus“). 44 Richard Wagner: Parzival [Prosaskizze zu ‚Parsifal‘], in: ders.: Sämtliche Schriften und Dichtungen, Band 11, S. 372–413, hier S. 413 (CDRom Digitale Bibliothek 107).
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keit einer gelingenden Liebe wird allerdings in starkem Maße sentimentalisiert und damit dem Trivialitätsverdacht ausgesetzt. Die Erfahrung der nicht mehr realisierbaren Liebe hat dabei mit Exotismus, mit China nichts zu tun; sie ist eine zeitgenössische Befindlichkeit. Die Utopie des Liebesglücks ist nur noch als Kindertraum verfügbar: Mi und Gustl singen vom Paradies, wo alle Menschen gleich waren. In der Liebe allein sei ein Rest davon bewahrt; nur wenn die Herzen sprechen, sei es genauso wie im Paradies: „Meine Liebe, deine Liebe, die sind beide gleich.“ Diese Zeilen werden jedoch durch Lehárs Musik dementiert. Nein, kommentiert die Kinderlied-Melodie, das gilt nicht für uns Erwachsene.45 IV. Fazit: Projektion eigener Konflikte – und was noch? Was hat das Land des Lächelns mit China zu tun? Die Projektion von zeitgenössischen gesellschaftlichen Konflikten auf den ‚clash of civilisations‘ gehört zur alten Praxis des Exotismus. Es geht dabei nicht um die Denunziation der fremden Kultur als rückständig, sondern um das Anschaulichmachen des eigenen Konflikts durch die Transposition in ein fernes Land. Lisa und Sou Chong (oder Mi und Gustl) könnten auch Eliza Doolittle und Professor Henry Higgins heißen, die in George Bernard Shaws Komödie Pygmalion (Vorlage des späteren Musicals My Fair Lady) nicht zueinander kommen können. Dort bleibt der Wissenschaftler einsam. Aber die Operette hat mehr zu bieten: Schöner als der Salon im (nach der nicht mehr allerneuesten William-Morris-Mode dekorierten) Haus von Mrs. Higgins wirkt die Pracht der chinesischen Kultur als optisches und musikalisches Ambiente auf der Bühne. Und sich in einen fernöstlichen Prinzen zu verlieben, ist allemal romantischer als in einen Linguisten. China hat wohl niemand von den Zuschauern der drei Werke für ein Land des Lächelns oder ein Land des Grauens gehalten. Berührt wurde das Publikum von etwas anderem: vom Miterleben einer Liebesgeschichte mit fast unüberwindlichen Hindernissen; von einer Liebesgeschichte, die scheitern musste, wie im Land des Lächelns, oder, wie in Turandot, nur äußerlich gelang, in einer Utopie, an die keiner so recht zu glauben vermochte. Puccini gestaltete die Unmöglichkeit des Liebesglücks in seiner letzten Oper am radikalsten: Liùs Liebe kann Calaf nicht erreichen, seine Faszination durch Turandot macht ihn blind für sie, das finale Glück ist scheinhaft.
45 Die Perspektive, dass Lisa und Gustl zusammenkommen, bleibt vage, aber möglich: Im 1. Akt (Nr. 29) hatte Gustl davon gesungen, die Absage an die Verlobung könne sich wieder ändern (Formulierungen neu gegenüber der Gelben Jacke). Er ist so viel ernsthafter als sein Vorgänger und damit ein möglicher Partner für Lisa.
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Was bleibt von China? Die Last der Tradition, die Turandot zur eisigen Prinzessin macht, konnte man als typisch chinesisch empfinden. Sie ist jedoch nicht als kulturell bedingt, sondern als individuelles psychisches Trauma musikalisch gestaltet. Mit dem Zitat des Gedichts Jasminblüte wird allerdings eine poetische (chinesische) Alternative zur Vereisung der Prinzessin geboten: „Weich dem Lenze, Winterfrost, Sonne, schmilz den weißen Schnee“, lautet der Text in enger Anlehnung an das chinesische Original. Puccini konnte ihn aus einer der gedruckten Fassungen kennen.46 Die Sehnsucht danach, dass es in der Liebe weder weiß noch gelb noch schwarz, weder arm noch reich gebe, von der Mi und Gustl singen, bleibt bestehen. Ebenso das Wissen, dass es in der realen Welt eben nicht so ist. Das lässt sich sowohl an chinesischen Prinzessinnen wie an Wiener Grafentöchtern, an chinesischen Gesandten oder tatarischen Prinzen zeigen. Und wie es da drin aussieht – das geht in der Oper wie der Operette alle etwas an. Gerade das will das Publikum hören und sehen.47 Wurde darüber hinaus ein bestimmtes Bild von China vermittelt? Aus dem Land des Lächelns konnten die Zuschauer mitnehmen, dass es ein zwischen Modernität und Tradition zerrissenes Land ist – was zumindest in der Entstehungszeit sicher zutraf. Mit Turandot konnte das Klischee der ‚asiatischen Grausamkeit‘ bestätigt werden, auch das einer grundsätzlichen ‚asiatischen Maskenhaftigkeit‘ – so durch das Aufzeigen der unter einer starren Oberfläche verborgenen Leidenschaftlichkeit Turandots, die der Haltung des Prinzen in den Lehár-Operetten ähnelt. Wie unter Sou Chongs lächelnder Selbstbeherrschung in der Gelben Jacke ‚ungestüme asiatische Leidenschaft‘ lodert, so ist unter der Grausamkeit Turandots die sich nach Liebe sehnende kindliche Seele verborgen. China also ein Land der Masken? Das Exotische hat immer etwas Bedrohliches und stellt die eigene kulturelle Identität infrage – soweit geht das Theater-China jedoch nicht. Es spiegelt vielmehr in der fremden Welt die eigene. Gerade in der modernen europäischen Gesellschaft ist man mit seinen Gefühlen allein – ob das in China auch so war, blieb letztlich unerheblich.
46 Vgl. Loo: ‚Turandot’ auf der Opernbühne (wie Anm. 22), S. 326f. 47 Vgl. das einleitende Zitat.
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ANHANG „Chinesisch“ in Die gelbe Jacke 1. Leas Lied Erste Fassung (Mskr.; Transskription Michael Drenik): Inen Jang Lungsu zü Pe-ja Wen-Tschung tsi tschi (?) Inen tai tu Jang Hie-ka Li-La/o
Zweite Fassung (Transskription Michael Drenik): Tschu-en hen ziu bäi dzai dsu jöe Chua jun ju-e (Sü-e?) mau né schu-i ni-en
Druckfassung: Tschu en hen ziu bä i Dsiha i dau jö e chua jun Sü e mao uo sihu i ni en....48
2. Verleihung der gelben Jacke Tao-Tai (Exzellenz?) Chuang ma goa (die gelbe Jacke?) Tschan-to [Platz machen] Litschen [Halt!] Kili-ho [Schultert] Woan Woan Se (Ehrentitel des Kaisers?) Kai-tu-zo [Marsch] 3. Quartett (Nr. 8): Choi, choi (Blast die Flöte?) 4. zig zig zig ih (sagt man, wenn man sich freut)
48 In der Übertragung von Peter Revers: „Frühlingserinnerung und Herbsttraurigkeit bringen den ersten Mondschein. Das Ansehen der Blume und des Mondes: an wen denke ich wohl?“ (Revers: Das Fremde und das Vertraute (wie Anm. 1), S. 142, Anm. 112.)
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5. Hochzeitschor Fu-lu Cha-u Sou-Cong Tao-Tai Pa-o Li-Tschang tse Sou-Chong Ta-la-o Je Sou-chong Tao-Tai Pa-o Li-Tschang tse Fu-lu Cha-u... (Sou-Chong, Li-Tschang = Personen) Tschua an he en ze en ba i Hu a fu un dzjeu Mau uè Sho e a ä eyemen ä ä ä
Volker Mertens
Gregor Streim
Das Erwachen des Kulis China in den Reisereportagen der Weimarer Republik (Richard Huelsenbeck – Arthur Holitscher – Egon Erwin Kisch)
Das „sogenannte Erwachen des Orients“ sei größtenteils „auf den Reklamezetteln der Reporterbücher geboren“, konstatierte der Reiseschriftsteller und Journalist Richard Huelsenbeck 1928.1 Diese Bemerkung war zwar polemisch gemeint, weist aber auf einen wichtigen medienhistorischen Zusammenhang hin. Sie erinnert daran, dass die Wahrnehmung und Thematisierung von Modernisierungstendenzen im Nahen und Fernen Osten – die seit der Jahrhundertwende mit dem Schlagwort vom ‚Erwachen des Orients‘ belegt wurden – eng mit der Entwicklung der journalistischen Berichterstattung in Deutschland verbunden war. Tatsächlich gehört das Aufkommen von Korrespondentenberichten und Reisereportagen zu den wichtigsten strukturellen Veränderungen in der deutschen China-Rezeption im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts. Hatte man Informationen über das fernöstliche Land im 19. Jahrhundert fast nur in Expeditionsberichten und Berichten geographischer und ethnologischer Forschungsreisender finden können, so bildete sich mit dem Boxeraufstand (und der Entsendung des deutschen Expeditionskorps) im Jahr 1900, dem japanisch-russischen Krieg 1904 und dem Sturz der Mandschu-Dynastie 1911/12 erstmals eine journalistische China-Berichterstattung heraus.2 Und damit verschob sich der Fokus der Wahrnehmung: Neben der alten Kultur gelangte nun mehr und mehr das moderne China ins Blickfeld der deutschen Öffentlichkeit. Dieses Interesse hielt nach dem Ersten Weltkrieg an, wobei es zu einer medialen und ideologischen Diversifizierung der 1 Richard Hülsenbeck: Afrika in Sicht. Ein Reisebericht über fremde Länder und abenteuerliche Menschen, Dresden 1928, S. 105. 2 Um die Jahrhundertwende erschienen erste politisch ausgerichtete Korrespondentenberichte von Autoren wie Ernst von Hesse-Wartegg, Paul Goldmann und Eugen Wolf, die allerdings noch in den deutschen Kolonialdiskurs eingebunden waren. Vgl. dazu Ingrid Schuster: China und Japan in der deutschen Literatur 1890–1925, Bern u. München 1977, S. 61f. u. 85; Harald Bräuner u. Mechthild Leutner: „Im Namen einer höheren Gesinnung“. Die Kolonialperiode, 1897–1914, in: Exotik und Wirklichkeit. China in Reisebeschreibungen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hg. v. Mechthild Leutner u. Dagmar Yü-Dembski, München 1990 (Berliner China-Studien, Bd. 18), S. 41–52, hier S. 41f.
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Berichterstattung kam. Die Modernisierung des Landes wurde nun nicht mehr nur negativ konzeptualisiert.3 Hatte Graf Hermann Keyerserling 1912 noch gemeint, die aktuellen revolutionären Umwälzungen würden den Blick auf das „Eigentliche“, das „Wesen“ der chinesischen Kultur behindern und könnten von einem ernsthaft an China – dem „Land des ewigen Friedens und der Ordnung“ – interessierten Betrachter „überhaupt nicht ernst“ genommen werden,4 so erschien gerade dieses ‚oberflächliche‘ Revolutionsgeschehen vielen Reportern in den zwanziger Jahren als das eigentlich Interessante. China rückte damit medial und zeitlich näher an Deutschland und Europa heran. Diese Entwicklung steht in engem Zusammenhang mit zwei wichtigen Epochentendenzen der Weimarer Republik. Zum einen mit dem Ausbau der modernen Massenmedien, der eine Nachfrage nach aktuellen Berichten und neuen informativunterhaltsamen Genres wie der Reisereportage erzeugte. Und zum anderen mit der Krise des politischen Systems, vor deren Hintergrund die revolutionären Bewegungen in Asien eine aktuelle politische Bedeutung auch für Deutschland erhielten. So nimmt die Berichterstattung aus und über China in dem Maße zu, in dem sich die Unruhen dort ausweiten und das Land zu einem Brennpunkt weltpolitischer Konflikte wird. Das belegen die zahlreichen Korrespondentenberichte, die in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre in deutschen Tageszeitungen erschienen, wie die von Richard Huelsenbeck im Berliner Börsen-Courier und im Vorwärts, die von Agnes Smedley in der Frankfurter Zeitung, die von Hans Shippe (alias Asiaticus) in der Roten Fahne oder die von Egon Erwin Kisch in der Arbeiter-Illustrierten-Zeitung und der Roten Fahne. Besonders stark war das Interesse an den chinesischen Vorgängen naturgemäß auf Seite der linksbürgerlichen und kommunistischen Intellek3 Die Rede vom erwachenden China bzw. vom erwachenden Riesen war schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbreitet, damals allerdings noch negativ konnotiert. Sie war verknüpft mit dem Topos der ‚gelben Gefahr‘, der im Zusammenhang mit dem Boxeraufstand und dem japanischrussisch Krieg aufkam. Damit verband sich zum einen die ökonomische Angst vor der Konkurrenz des sich industrialisierenden Riesenreichs – wie in Franz Mehrings Schrift Die gelbe Gefahr (1904) – und zum anderen das rassistische Schreckenszenario einer Vernichtung der weißen Rasse und der westlichen Kultur – wie in Stefan von Kotzes Broschüre Die gelbe Gefahr (1904). Vgl. dazu Heinz Gollwitzer: Die gelbe Gefahr. Geschichte eines Schlagworts. Studien zum imperialistischen Denken, Göttingen 1962, 163–218; Ute Mehnert: Deutschland, Amerika und die „gelbe Gefahr“. Zur Karriere eines Schlagworts in der großen Politik, 1905–1917, Stuttgart 1995 (Transatlantische historische Studien, Bd. 4). Neben dem idealistischen Topos der ‚alten Kultur‘ dominierte der kolonialistische Topos der ‚gelben Gefahr‘ die deutsche China-Wahrnehmung in der Vorkriegszeit. Vgl. dazu Deutsch-chinesische Beziehungen 1911–1927. Vom Kolonialismus zur „Gleichberechtigung“. Eine Quellensammlung, hg. v. Mechthild Leutner, verfasst v. Andreas Steen, Berlin 2006 (Quellen zur Geschichte der deutsch-chinesischen Beziehungen 1897–1995), S. 495–498. 4 Graf Hermann Keyserling: Das Reisetagebuch eines Philosophen, München u. Wien 1980 [E. 1919], S. 379f.
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tuellen.5 In deren Artikeln erhält der aus der kolonialistischen Publizistik vertraute Topos vom erwachenden China eine neue, revolutionäre Semantik. Den historischen und diskursiven Wendpunkt markiert dabei der Shanghaier Generalstreik von 1925. Karl August Wittfogel erklärt ihn in seiner Broschüre Das erwachende China (1926) zum „Wendpunkt in der Geschichte Ostasiens“, mit dem das „wirkliche Erw achen Chinas“ begonnen habe, das nicht mehr nur ein nationales sei.6 Und Arthur Holitscher spricht sogar von einem „Wendepunkt in der Geschichte der westlichen Zivilisation“.7 Mit dem chinesischen Erwachen verbindet sich so eine revolutionäre Erwartung auch für die westliche Welt. Aus der ‚gelben Gefahr‘ wird die ‚gelbe Hoffnung‘. Dieser Wahrnehmungswandel soll im Folgenden beispielhaft an drei China-Reportagen aufgezeigt werden. Es handelt sich um Richard Huelsenbecks Der Sprung nach Osten von 1928, Arthur Holitschers Das unruhige Asien, 1926 erschienen, sowie Egon Erwin Kischs Reportage China geheim aus dem Jahr 1933. Alle drei Texte sind von der Faszination durch das revolutionäre China geprägt, und alle drei versuchen, den deutschen Lesern einen authentischen Eindruck der chinesischen Gegenwart zu vermitteln. Gleichwohl – dies die hier vertretene These – weisen auch diese Reportagen einen hohen Anteil an Projektion auf. Aus diesem Grund erscheint es auch als problematisch, wenn man die an der ‚alten Kultur‘ interessierten, essayistischen Reisebeschreibungen im Stil Keyserlings von den aktuell-politischen, das ‚erwachende China‘ in den Blick nehmenden Reisereportagen streng abgrenzt. Eher scheint es sich hier um verschiedene Ausprägungen eines Diskurses zu handeln. Denn beide Textgruppen weisen ähnliche Wahrnehmungs- und Beschrei5 Vgl. dazu u.a. Dagmar Yü-Dembski: Traum und Wirklichkeit. Rezeption und Darstellung Chinas in der Weimarer Republik, in: Exotik und Wirklichkeit. China in Reisebeschreibungen vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, hg. v. Mechthild Leutner u. Dagmar Yü-Dembski, München 1990 (Berliner China-Studien, Bd. 18), S. 53–65, hier S. 61f.; Ulrich von Felbert: China und Japan als Impuls und Exempel. Fernöstliche Ideen und Motive bei Alfred Döblin, Bertolt Brecht und Egon Erwin Kisch, Frankfurt/M., Bern u. New York 1986 (Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 9), 59–64; Thomas Lange: China: Fluchtort vor europäischem Individualismus. Über ein philosophisches und literarisches Motiv der zwanziger Jahre, in: Fernöstliche Brückenschläge. Zu deutsch-chinesischen Literaturbeziehungen im 20. Jahrhundert, hg. v. Adrian Hsia u. Sigfried Hoefert, Bern u.a. 1992 (euro-sinica, Bd. 3), S. 49–92, hier S. 66. 6 Karl August Wittfogel: Das erwachende China. Ein Abriß der Geschichte und der gegenwärtigen Probleme Chinas, Wien 1926, S. 6. Hans Shippe alias Asiaticus spricht von der „Geburtstunde der chinesischen Revolution“, da das chinesische Proletariat hier erstmals dem Imperialismus und aller Welt „sein Erwachen zum Kampf “ angezeigt habe (Asiaticus: Von Kanton bis Shanghai 1926– 1927, Wien u. Berlin 1928, S. 13). – Zu den Shanghaier Ereignissen und ihrer Bedeutung für den weiteren, kommunistisch geprägten Verlauf der chinesischen Revolution vgl. a. Jürgen Osterhammel: Shanghai, 30. März 1925. Die chinesische Revolution, München 1997, S. 7–22. 7 Arthur Holitscher: Das unruhige Asien. Reise durch Indien – China – Japan, Berlin 1926, S. 239.
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bungsmuster auf, beide bedienen sich poetischer Verfahren, und beide reflektieren in der Schilderung des fremden Landes die aktuelle deutsche Situation. Das zeigt sich schon daran, dass die hier untersuchten Reisereportagen – auf unterschiedliche Weise – ebenfalls auf die tradierte dichotomische Struktur von Orient und Okzident zurückgreifen und diese für die Darstellung und Deutung der aktuellen politischen Situation nutzen. An der unterschiedlichen Perspektivierung der revolutionären Vorgänge lassen sich dabei die differenten politischen, ästhetischen und kulturkritischen Positionen der drei Autoren ablesen. Will man deren Sichtweisen grob charakterisieren, so kann man die Huelsenbecks als avantgardistisch-antibürgerlich, die Holitschers als romantisch-sozialistisch und die Kischs als neusachlichmarxistisch bezeichnen. I. Richard Huelsenbeck: Der Sprung nach Osten Richard Huelsenbecks Reisebericht ist nicht nur der von der Entstehung her früheste in der Reihe der hier vorgestellten, sondern er hebt sich auch literarisch von den anderen ab. Der Sprung nach Osten geht auf eine Schiffsreise zurück, die Huelsenbeck von Dezember 1924 bis Juni 1925 als Schiffsarzt auf einem deutschen Frachtdampfer nach Indien, den Philippinen, Japan und China unternahm.8 (Sein Chinabesuch fiel dabei noch in die Zeit vor dem Shanghaier Aufstand.) Trotz der reportageartigen Schreibweise hat sein Reisebericht einen romanhaften Charakter. Vor allem deshalb, weil er die Eindrücke aus den fernen Ländern in die abenteuerliche Erzählung einer Schiffsreise einbindet.9 Die Schilderung des Fremden wird auf diese Weise mit der Schilderung des deutschen Schiffes und der Erlebnisse an Bord in Beziehung gesetzt, und zwar so, dass die überkommene Vorstellung der kulturellen Superiorität des Westens radikal destruiert wird. Bezeichnend ist bereits der Zustand des Frachtschiffes. Der ‚Coyote‘ ist ein halbes Wrack, das von den internationalen Hafenbehörden kaum eingelassen wird. Ähnlich heruntergekommen sind die Männer an Bord, die allerdings noch die Fassade früherer, besserer Zeiten aufrechtzuerhalten versuchen: Kapitän Mackendaus sammelt Briefmarken, hat sich 8 Huelsenbeck schrieb auf dieser Reise auch Zeitungsreportagen, die im Vorwärts, dem Berliner Börsen-Courier und anderen Blättern erschienen. Im Frühjahr 1929 unternahm er eine zweite Reise auf dem Landweg über Russland nach China, diesmal im Auftrag des Ullstein-Verlags bzw. der Berliner Illustrirten Zeitung. Vgl. dazu Herbert Kapfer u. Lisbeth Exner: „nun soll weiss schwarz und blau sein“. Richard Huelsenbeck in und über China, in: Richard Huelsenbeck: China frisst Menschen, hg. und mit einem Nachwort von Herbert Kapfer und Lisbeth Exner, München 2006, S. 375–405. 9 Dieses Verfahren verwendete er auch in seinem zeitgleich, ebenfalls im Dresdner Wolfgang Jess Verlag erschienenen Reisebericht Afrika in Sicht (1928).
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aber längst dem Alkohol ergeben; der Offizier Schnippling versucht vergeblich die Mannschaft nach preußischem Reglement zu kommandieren; ‚Onkel Herrmann‘, der in der Inflation sein Vermögen verloren hat, siecht an Tuberkulose dahin; der Funker ergibt sich der Christian Science, während beim Kochsmaat eine offene Syphilis diagnostiziert wird. Die grelle Beleuchtung der Szenerie erinnert an die Karikaturen eines George Grosz und verrät den ehemaligen Dadaisten Huelsenbeck, der 1920 das Pamphlet Deutschland muss untergehen verfasst hatte. Der Coyote (der eigentlich ‚Brasilia‘ hieß) wird bei ihm zur Metapher für das durch Krieg und Inflation heruntergekommene, quasi proletarisierte Deutschland und die Erosion seiner bürgerlichen Kultur. Zugleich spiegelt sich in der Geringschätzung, mit der das Schiff in den von Briten, Niederländern und Amerikanern kontrollierten Häfen behandelt wird, der internationale Machtverlust Deutschlands wider. Hatte das Wilhelminische Kaiserreich noch den Ehrgeiz gehabt, in den Kreis der imperialistischen Großmächte aufzusteigen, so ist das Nachkriegsdeutschland selbst auf das Niveau eines Koloniallandes herabgesunken und zum weltpolitischen Underdog bzw. Coyoten geworden. Dies illustriert auch eine Szene, in der Huelsenbeck auf einen historischen Fall deutschen Waffenschmuggels nach China anspielt, den er später auch in seinem erfolgreichen Roman China frißt Menschen (1930) verarbeitete. Bereits in seiner am 4. Juli 1925 im Vorwärts erschienenen Reportage China im Aufruhr hatte Huelsenbeck das brisante Thema des deutschen Waffenhandels aufgegriffen und war auf die Affäre um das Frachtschiff ‚Stadtrat Fischer‘ eingegangen, mit dem deutsches Kriegsmaterial nach China, an den Bürgerkriegsgeneral Zhang Zuolin, verschoben werden sollte.10 Im Reisebericht taucht dieses Schiff unter dem Namen ‚Stadtrat Müller‘ auf, dessen Funker der Besatzung des Coyoten von der brisanten Ladung erzählt: „,Das Schiff bringt Munition nach China für Tschangtsolin, feine Sache, was? Da liegen Hundertausend von Leichen im Schiffsraum ... ich sehe immer im Traum die Chinesen, die sich mit den Gewehren totschießen, die wir geladen haben.‘“11 Wichtig ist hier die Perspektivierung des Waffenschmuggels aus der Sicht der Matrosen, die durch die verbotene Fracht ebenso zum Spielball der im Hintergrund agierenden Geschäftemacher werden wie die Chinesen, die sich mit diesen Waffen totschießen sollen („,Wenn die Engländer uns erwischen, gehen wir hopps ...‘“).12 Die deutschen Matrosen unterscheiden sich in dieser Sicht kaum von den chinesischen Kulis, die 10 Vgl. dazu das Kapfer/Exner: „nun soll weiss schwarz und blau rot sein“ (wie Anm. 8), S. 382f. Allgemein zum deutschen Waffenhandel mit China vgl. den Kommentar in: Deutsch-chinesische Beziehungen 1911–1927 (wie Anm. 3), S. 339–343. 11 Richard Hülsenbeck: Der Sprung nach Osten. Bericht einer Frachtdampferfahrt nach Japan, China und Indien, Dresden 1928, S. 117. 12 Hülsenbeck: Der Sprung nach Osten (wie Anm. 11), S. 118.
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ihre Haut zu Markte tragen müssen.13 Die implizite Parallelisierung von Matrosen und Kulis kennzeichnet auch die Beschreibung der Mannschaft des Coyoten, die ihr Leben ebenfalls für die Profitinteressen anderer aufs Spiel setzt: „,Schieber ... [...] kenne doch die Bande ... [...] aber unsereiner, der auf den verdammten Seelenverkäufern durch die Taifune gondelt, muß den Buckel hinhalten‘“.14 Der unverkennbare Exotismus in Huelsenbecks China-Imagination wird auf diese Weise proletarisch grundiert. Wie in manchen proletarisch-revolutionären Texten der Weimarer Republik dient der Kuli hier als Metapher für eine bis zur körperlichen Vernichtung gehende Ausbeutung:15 Wenn das Schiff ruhig liegt, strömt das Wasser mit einem eigentümlichen Gurgellaut an seinen Wänden vorbei [...]. Manchmal ein Reiben, als striche ein Körper vorbei ... ein Ertrunkener, ein Chinese, ein Kuli, einer von den vierhundert Millionen, die dieses Land bewohnen.16
Die proletarisch-revolutionäre Perspektive prägt auch die Beschreibung des Landes selbst, das sich – so legt es Huelsenbecks Bericht jedenfalls nahe – in einem ähnlichen Übergangszustand befindet wie Deutschland bzw. die Besatzung des Coyoten. Es ist konfrontiert mit den Alternativen von kultureller Tradition und westlicher Modernisierung, die beide nicht zukunftweisend erscheinen. Der Verfasser illustriert dies mit zwei exemplarischen Szenen. Die eine ist der Besuch der Ming-Gräber bei Nanjing, die ebenso marode wirken wie der Coyote und allenfalls noch bei amerikanischen Touristen auf Interesse stoßen: „Der Verfall rieselt und bohrt hinter den Wänden, es tropft, knarrt, Mörtel fällt; vor irgendwo weht ein braunes Blatt vor unsere Füße.“17 Die andere Szene spielt in Shanghai, im eleganten Hotel Majestic, in dem die neureiche chinesische Oberschicht verkehrt. Mit deutlichem Sarkasmus beschreibt der Erzähler deren Stolz, eine vermeintlich höhere Kulturstufe erreicht zu haben: Eine Gesellschaft arrivierter Chinesen schnattert in unserer Nähe; [...] alle ihre Bewegungen, wenn sie Stühle zurechtrücken, Mäntel anreichen, Papierservietten aufheben, sehen so aus, als wären sie frisch aus der Tanzstunde exportiert. Der Smoking streift ihnen den Rücken, sie sitzen auf einer anerkannt moralischen Unterlage [...]. Die Frauen glänzen in seidenen 13 „Weiß der Teufel, ob ich je Geld kriege .... [...] diese Piraten ... sind hohe Senatoren, die in Rom in weichen Sesseln sitzen ... wir halten unsere Haut hin, schneiden sich schöne Riemen draus“ (Hülsenbeck: Der Sprung nach Osten (wie Anm. 11), S. 118). 14 Hülsenbeck: Der Sprung nach Osten (wie Anm. 11), S. 201. 15 Die proletarische Indienstnahme des exotistischen Bildes vom Kuli lässt sich etwa an Theodor Pliviers Reportageroman Des Kaisers Kulis. Roman der deutschen Kriegsflotte (Berlin 1930) festmachen, in dem die meuternden Matrosen der deutschen Kriegsmarine im Jahr 1917 als Kulis beschrieben werden. 16 Hülsenbeck: Der Sprung nach Osten (wie Anm. 11), S. 202. 17 Hülsenbeck: Der Sprung nach Osten (wie Anm. 11), S. 212.
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Strümpfen und feingeschweiften Stöckelschuhen, nur tragen sie noch das bunte chinesische Seidenjäckchen, und die langen Haare werden durch eine ganz unmoderne Nadel turmbauartig gehalten. Die zarten Gesichtchen sehen aus, als hätten sie gerade eine lange Krankheit überstanden. Vielleicht ist es die Krankheit ihrer konfuzianischen Knechtschaft ...18
Die doppelte Negation von alter Kultur und moderner Zivilisation, von Konfuzianismus und Amerikanismus findet sich mehrfach in dem Reisebericht und kann als sein Spezifikum angesehen werden. Er unterscheidet sich darin klar von der ChinaFaszination bildungsbürgerlicher Autoren der zehner und zwanziger Jahre, die sich – wie Graf Hermann Keyserling – von der Begegnung mit der ‚uralten Kultur‘ und insbesondere der konfuzianischen Philosophie und Ethik eine geistig-spirituelle Regeneration erhofften.19 Huelsenbecks Blick auf China (und andere asiatische Länder) ist dagegen ein radikal kultur- und zivilisationskritischer.20 Und diese Einstellung prägt auch seine Wahrnehmung der revolutionären Bewegung in China. Deren Hauptantrieb ist in seiner Darstellung weniger die soziale oder nationale Befreiung, als das Aufbegehren gegen die herrschende Kultur, und zwar sowohl gegen einen lähmenden Traditionalismus als auch gegen die globale Ausbreitung der kapitalistischen Zivilisation. Die in Stein gehauenen Tiere vor den Ming-Gräbern scheinen zu sprechen: „Der Gedanke, hier Hunderte von Jahren umsonst zu hocken, ist schrecklich. Es muß etwas geschehen, die Revolution von Sunyatsen hat einen guten Anfang gemacht ... aber nun dalli ...“21 Präziser und weniger literarisch als in dem Reisebericht formulierte Huelsenbeck seine Gedanken zur Umwälzung in China in einem Aufsatz, der unter dem Eindruck seiner zweiten Reise Anfang 1929 entstand und in der Literarischen Welt erschien, unter dem Titel Die chinesische Kulturrevolution. In diesem Artikel wirft er dem Westen vor, das eigentlich Neue der chinesischen Revolution nicht erkennen zu können, weil er noch im alten Glauben an die Gültigkeit und Überlegenheit der eigenen Werte befangen sei. Das Einzigartige und Andere dieser Revolution liege jedoch gerade darin, dass sie mit allen überkommenen Werten und Traditionen breche: 18 Hülsenbeck: Der Sprung nach Osten (wie Anm. 11), S. 235. 19 Zur bürgerlich-idealistischen Verklärung Chinas als Gegenbild des westlichen Materialismus vgl. u.a. Thomas Lange: China: Fluchtort vor europäischem Individualismus (wie Anm. 5). 20 „Was wird werden, wenn jedes, auch das versteckteste indische Heiligtum von der Neugier der widerlichen alten amerikanischen Ladys abgewetzt sein wird, wenn die Nacktheit des Kulis den Fortschritten der Zivilisation weichen mußte, und auch die letzte Giftschlange vor den Beschwörungen der Baptistenprediger in die zoologischen Gärten floh? Die Erde ist zu dreiviertel zivilisiert; das letzte Viertel der Unberührtheit genügt uns noch, um ein Leben des Wagemuts und des Abenteuers zu führen. Wenn alles aufgebraucht ist, wo stehen wir dann ..?“ (Hülsenbeck: Der Sprung nach Osten (wie Anm. 11), S. 308.) 21 Hülsenbeck: Der Sprung nach Osten (wie Anm. 11), S. 211.
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Was ist geschehen? Als Folge des Fremdeneinbruchs, unter dem Druck der Bibeln, Maschinengewehre, Dieselmotoren und Hebekräne hat man in China begriffen, daß es heutzutage, wenn man nicht restlos von seinen lieben Nachbarn aufgefressen werden will, unmöglich ist, konfuzianisch-taoistisch zu leben. Sunyatsen stürzte das vollkommen verrottete, in seiner Eunuchen- und Betrugswirtschaft erstickte Regime der Mandschus. Unter heftiger Staubentwicklung fielen die alten Götzen von ihren Drachenthronen.22
Es handelt sich in den Augen des Verfassers hierbei um eine andere Form der Modernisierung als den von Kanonen- und „Phrasendonner“ orchestrierten Raubzug der „lichten Söhne des Nordens“ (der Engländer), nämlich um eine ökonomische, politische und kulturelle Umwälzung, die – gerade weil sie die ‚bürgerlichen‘ Kulturwerte des Westens in Frage stellt – auch für das europäische Leben „schwerwiegende Folgen“ haben werde.23 Huelsenbeck bezieht sich dabei auf die von Sun Yatsen angestoßenen Reformprojekte, wie den Kampf gegen den Analphabetismus.24 Die packende und aufreizende Wirkung seines Artikels resultiert aber daraus, dass er darin bei aller Sachlichkeit zugleich zwei alt vertraute und eigentlich gegensätzliche Topoi der deutschen Chinarezeption aktualisiert und variiert. Zum einen die Angstvision von der Vernichtung der westlichen Kultur, das Schreckensbild der ‚gelben Gefahr‘, das hier affirmiert wird. Und zum anderen der Topos von China als Quelle der kulturellen Erneuerung für den Okzident, die in diesem Fall nicht als Regeneration, sondern als Revolution gedacht wird.
22 Richard Huelsenbeck: Die chinesische Kulturrevolution, in: Die literarische Welt 5 (1929), Nr. 34 (23.8.1929), S. 3–4, hier S. 3. Der Artikel wurde fortgesetzt: Die chinesische Kulturrevolution, in: Die literarische Welt 6 (1930), Nr. 6, (7.2.1930), S. 3–4. Es folgten Huelsenbecks Artikel: Schwierigkeiten und Erfolge der Modernisierung in China, in: Die literarische Welt 6 (1930), Nr. 9 (28.2.1930), S. 3–4; Laotse und die chinesische Gegenwart, in: Die literarische Welt 6 (1930), Nr. 19 (9.5.1930), S. 3–4. 23 Richard Huelsenbeck: Die chinesische Kulturrevolution, in: Die literarische Welt 5 (1929), Nr. 34 (23.8.1929), S. 3–4, hier S. 3. 24 Im Unterschied zu den politisch eher oberflächlichen Bemerkungen in Der Sprung nach Osten befasst sich Huelsenbeck in den anlässlich der Reise von 1927 entstandenen Artikeln sehr detailliert mit den politischen und sozialen Entwicklungen in China und reflektiert auch die Spaltung der revolutionären Bewegung in einen nationalistischen und einen sozialistischen Flügel. Seine Bemerkungen zur chinesischen ‚Kulturrevolution‘ referieren dabei auf das späte, antibürgerliche Modernisierungsprogramm von Sun Yatsen und die Projekte zur Reform des Rechts- und des Schriftsystems und zur Alphabetisierung der Bauern und Arbeiter: „Es handelt sich nicht nur darum, daß die Handarbeit durch die Maschine ersetzt wird, die Leute sollen anders denken lernen. [...] An die Stelle des Himmels ist die Partei getreten. Geschriebene Gesetze, geschriebene Kulturregeln sollen angewandt werden. Das ist etwas Unerhörtes für den Sohn des Han, diese Änderung greift tief in seine Mentalität, er muß sich um und umkrempeln.“ (Richard Huelsenbeck: Die chinesische Kulturrevolution, in: Die literarische Welt 5 (1929), Nr. 34 (23.8.1929), S. 4). Indirekt polemisiert der Autor dabei gegen die Vorstellung unveränderbarer ‚Kulturseelen‘.
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II. Arthur Holitscher: Das unruhige Asien Obwohl Arthur Holitschers Das unruhige Asien zwei Jahre vor Der Sprung nach Osten erschien, hatte Holitscher seine darin geschilderte Reise nach Indien, China und Japan etwas später als Huelsenbeck unternommen. China besuchte er im Winter 1925/26, also in der Zeit nach den Ereignissen in Shanghai.25 Nicht nur deshalb ist dieser Reisebericht deutlich politischer. Während Der Sprung nach Osten abenteuerliche und romanhafte Züge aufweist, entspricht Das unruhige Asien dem Typus der politisch-kulturellen Reisereportage, in der durchaus auch poetische Verfahren zur Anwendung kommen. Ihr Anspruch ist es, einen authentischen Eindruck der aktuellen politischen Situation in dem Land zu geben, aber auch, das subjektiv-visionäre Erlebnis des Reiseschreibers literarisch zu gestalten.26 Holitscher schildert die Lage in Hongkong während des Boykotts. Er besucht die „Hauptstadt des revolutionären Südchina“, Kanton, wo er als offizieller Gast am Zweiten Kongress der Guomindang teilnimmt und deren Moskauer Berater Michail Borodin interviewt.27 Er berichtet von seinem Besuch im „Chicago des Ostens“, Shanghai, und von seiner Besichtigung der alten Tempel in Peking.28 Dabei macht der Autor keinen Hehl aus seiner Sympathie für die Revolutionsbewegung, genauer gesagt für deren linken Flügel. Seine Reportage ist getragen vom Geist einer antiimperialistischen Solidarität. Fremd fühlt der Reporter sich in der britisch-französischen Enklave Schamien, die bei ihm zum Inbild des faulenden und durch den Boykott zum Absterben verurteilten Imperialismus wird. In den chinesischen Vierteln (und in der russischen Wohngegend) Kantons dagegen sieht er sich unter Freunden. Der Vergleich zwischen den fremd- und den selbstverwalteten Gebieten wird dabei durch die geschichtsphilosophische und politische Polarität von Alt und Neu, Vergangenheit und Zukunft strukturiert. Dem Bild vom britischen Colonel im Kimono, der seinen Hund in der Wanne badet, korrespondiert das der revolutionären chinesischen Studentinnen mit kurz geschnittenem Haar und verwegenem Gesicht. Holitscher stilisiert das junge China so als Avantgarde der kommenden Weltrevolution: 25 Einzelne Teile des Reiseberichts erschienen noch während Holitschers Reise in der Neuen Rundschau. Die Reise selbst wurde vom S. Fischer-Verlag, der die Neue Rundschau und Holitschers Buch verlegte, mitfinanziert. 26 Zur poetischen Schreibweise Holitschers vgl. Wolfgang Reif: Exotismus im Reisebericht des frühen 20. Jahrhunderts, in: Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, hg. v. Peter J. Brenner, Frankfurt/M. 1989, S. 434–462, hier S. 452f.; und Andreas Herzog: ‚Writing Culture‘ – Poetik und Politik. Arthur Holitschers „Das unruhige Asien“, in: KulturPoetik 6 (2006), S. 20–36, hier S. 34f. 27 Holitscher: Das unruhige Asien (wie Anm. 7), S. 208. 28 Holitscher: Das unruhige Asien (wie Anm. 7), S. 247.
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China ist jedenfalls der Brennpunkt eines neuen Weltgeschehens, allem Anschein nach eines neuen Weltkriegs. Die Chinesen, dieses nüchterne Volk, wissen das und sind auf der Hut. Vielleicht ist China, das Schicksalsland der östlichen Welt, die Geburtsstätte der neuen Weltordnung.29
Dem wilhelminischen Topos von der ‚gelben Gefahr‘ setzt Holitscher in diesem Zusammenhang den neuen, revolutionären Topos der „gelben Hoffnung“ entgegen.30 Dieser neue Topos jedoch ist nicht weniger voraussetzungsreich als der alte, worauf bereits die Verwendung des Wortes ‚Schicksalsland‘ hinweist. Holitschers Wahrnehmung des politischen Chinas ist mit einer eschatologischen Erwartung aufgeladen. Und dies ist nur vor dem Hintergrund der tradierten Dichotomie von Orient und Okzident zu verstehen. Dass Holitschers Blick auf Asien orientalistisch geprägt ist, wird schon zu Beginn seines Reiseberichts deutlich, als er – noch in Berlin – über die Beweggründe seiner Reise reflektiert. Da beklagt er die „Atmosphäre dieses gottverfluchten entgötterten Okzidents“ voller „Dummheit, Niedertracht, Gefühlsträgheit“: „Inflation, Deflation, herrliche Sinnbilder der Zeit, Erzengel zu beiden Flanken des Throns, auf dem dieser stupide Götze sitzt: Fortschritt des Behagens.“31 Dieses Europa hofft er im Osten aus dem Körper ‚herauszuschwitzen‘: „O Ceylon, Benares, Penang, wundervolles fernes China, du heilige Geburtsstätte immer erneuter Legenden der Weisheit, der Befreiung, aufwachender, neu erstehender Götterorient! – Ferner!“32 Bewusst oder unbewusst stellt der moderne Reisereporter sich damit in die Tradition der europäischen Orientpilger des 19. Jahrhunderts.33 Wie diese verbindet er mit dem Orient die Hoffnung auf eine zeitweise Befreiung von europäischen Denkgewohnheiten und Sitten. Bemerkenswert an Holitschers Reisebericht ist dabei, dass diese romantische Erlösungshoffnung in der Begegnung mit dem modernen, politischen Asien keineswegs korrigiert wird. Vielmehr verbindet sich die Imagination vom ganz anderen, sinnlich-spirituellen Volkscharakter der Orientalen in ihm mit einer emphatischen Parteinahme für die Armen und Unterdrückten.34 Gut erkennbar ist Holitscher: Das unruhige Asien (wie Anm. 7), S. 225. Holitscher: Das unruhige Asien (wie Anm. 7), S. 223. Holitscher: Das unruhige Asien (wie Anm. 7), S. 77. Holitscher: Das unruhige Asien (wie Anm. 7), S. 77. Zu den orientalistischen ‚Pilgerfahrten‘ des 19. Jahrhunderts vgl. Edward Said: Orientalismus, Frankfurt/M. 2009, S. 195–228. 34 „Ja, das ist das herrliche Erlebnis des Ostens. Ob es Indien, China, Japan, die Mandschurei, das weite Rußland ist: ein letztes, nur selten, nur unwillig getrübtes, schließlich überwältigendes Gefühl für das arme, niedere, unwissende, seinen Instinkten nachlebende, der Not, dem Geschick der Zeit überantwortete Volk, für den Niederen, den Armen!“ (Holitscher: Das unruhige Asien (wie Anm. 7), S. 344). – Von diesem religiös-expressionistischen Menschheitspathos und dem Wunsch nach Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft sind sämtliche Reiseberichte Holitschers geprägt. Vgl. 29 30 31 32 33
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dies an seiner exotistisch gefärbten Schilderung der Kulis, deren immergleicher Gesang den Autor sowohl in Indien als auch in China in seinen Bann zieht: Die Kulis, die an dicken Bambusstäben schwere Kisten, Säcke voll Reis, Kohle, Zement aus den Leichterschiffen in die Magazine am ‚Bund‘ schleppen, die an Stricken, tief in die nackte Schulter, den nackten Rücken, die nackte Brust schneidenden Stricken, hoch beladene Karren vorwärtsziehen – alle singen ihren rhythmisch dem Trab oder dem langsamen Tempo der schweren Mühe angepaßten, klagenden, monotonen, zuweilen wild modulierten Gesang.35
Holitscher greift hier gleich mehrere Elemente der orientalistischen Anthropologie auf, allen voran die Vorstellungen von der Kindlichkeit und von der unermüdlichen Vitalität des Orientalen. „[D]iese Kinder, die Chinesen, dieses alte, nimmer ermüdete, lebendige, unbändige Volk.“36 Diese Zuschreibungen begründen in seiner Darstellung allerdings nicht – wie im kolonialistischen Diskurs – die Überlegenheit der westlichen Zivilisation. Vielmehr sind es gerade die spezifisch orientalischen Eigenschaften, die den Sieg der Chinesen über die imperialistischen ‚Raubvölker‘ in Holitschers Augen unausweichlich erscheinen lassen. Es sei die besondere „Freiluftverfassung des chinesischen Körpers“, es sei die „chinesische Seele“, die sich gegen die Zwänge von Industrialisierung und Kapitalismus wehre, erklärt er.37 Der Widerstand gegen die Interventionsmächte scheint damit weniger durch politische Ideen motiviert zu sein als durch die Unvereinbarkeit von orientalischem Wesen und westlicher Moderne: Wenn ein wildgewordener Machthaber ihm [dem Chinesen, G.S.] verbietet, sich mit seinem Reistopf auf den Boden zu setzen, werden die Scherben bald um einen blutigen Kopf fliegen. Die Zeit ist vorbei. Sogar der systematischen Vergiftung [...] der Volkskraft durch Opium [...] hat die Natur des Chinesen Widerstand geleistet, und an dem Eingang des neuen, revolutionären Jahrhunderts des erwachten China steht, ungebrochen, formidabel, breitbeinig und mit aufgestreiften Ärmeln über dem sehnigen Bizeps eine bisher verachtete, unbekannte, drohende und grandiose Gestalt: der Letzte der Letzten, der Erste der Ersten: der Kuli!38
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dazu Gert Mattenklott: Der Reiseführer Arthur Holitscher, in: Arthur Holitscher: Der Narrenführer durch Paris und London, mit Holzschnitten von Frans Masereel und einem Nachwort von Gert Mattenklott, Frankfurt/M. 1986, S. 156–174, hier S. 160–164. Holitscher: Das unruhige Asien (wie Anm. 7), S. 231. Holitscher: Das unruhige Asien (wie Anm. 7), S. 202. – Holitscher selbst spricht an einer Stelle von der „kindlichen Vitalität“ (ebd., S. 230) der Chinesen. Außerdem reproduziert er die verbreitete Vorstellung, die Orientalen seien unfähig, sich in technisch-exakte Arbeitsabläufe einzufügen. Zu diesen völkerpsychologischen Stereotypen vgl. a. Herzog: ‚Writing Culture‘ (wie Anm. 26), S. 29. Holitscher: Das unruhige Asien (wie Anm. 7), S. 246. Holitscher: Das unruhige Asien (wie Anm. 7), S. 246 (Hervorhebung im Original). – Zur Idealisierung des Kulis als Vorbild des ‚neuen Menschen‘ vgl. a. Reif: Exotismus im Reisebericht des frühen 20. Jahrhunderts (wie Anm. 26), S. 454.
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Man muss allerdings festhalten, dass Holitischer die semantische Opposition von Orient und Okzident nicht unverändert übernimmt. Die entscheidende Veränderung besteht darin, dass er das zweipolige Schema um eine dritte Position erweitert. Denn zwischen Orient und Okzident hat sich im 20. Jahrhundert mit der Sowjetunion eine dritte Größe geschoben. So steht dem Bild des Kulis im Reisebericht auf der einen Seite das Negativbild des amerikanischen Geschäftsmanns gegenüber, des „mit tadellosen Vitaminen genährte[n] Beherrscher[s] der zivilisierten Welt“, und auf der anderen Seite das positivere Bild der sowjetischen Berater, der „Eroberer und Pioniere [...] einer anderen Art“, der „Pioniere einer Idee, die die Welt zu erobern im Begriff steht.“39 Diese antithetische Konstellation muss man im Blick haben, um Holitschers Interpretation der chinesischen Revolution verstehen zu können. Implizit erklärt er diese nämlich mit der doppelten Konfrontation des chinesischen ‚Wesens‘ mit dem Industriekapitalismus einerseits und der Idee des Kommunismus andererseits. Beide, die „zwei aktuellsten Strömungen aus dem Westen, aus dem Osten“, habe das alte chinesische Volk, so schreibt er, „wie durch einen elektrischen Kontakt durch seinen Körper schlagen gefühlt“.40 Das Alte wird dadurch nicht ausgelöscht, sondern bildet die spirituelle Basis der Erneuerung. Diese Konzeption korrespondiert mit Holitschers schwärmerischer Bewunderung für die alte chinesische Kultur, die vor allem in seiner Schilderung der Verbotenen Stadt zum Ausdruck kommt. Während Huelsenbeck den radikalen Bruch mit der kulturellen Tradition zur notwendigen Bedingung des Erfolgs der chinesischen Revolution erklärt, beschwört er das ‚ewige China‘ und beklagt die Beschädigung der heiligen Stätten durch revolutionäre Gruppen.41 Im Unterschied zu marxistischen Autoren der Zeit konzipiert Holitscher die chinesische Revolution nicht einfach nach dem Vorbild der russischen Revolution. Zwar zieht auch er – wie die meisten kommunistischen Beobachter in den zwanziger Jahren – immer wieder Vergleiche zur russischen Revolution und fügt auch gelegentlich Erinnerungen an seinen ersten Moskauaufenthalt im Herbst 1920 ein.42 Gleichzeitig schreibt er dem chinesischen Aufstand aber eine ganz eigene Qualität zu. Seiner Darstellung nach verbindet sich in ihm die chinesische Kultur und Natur mit der Idee des Kommunismus zu etwas Neuem. Das Erstarken der revolutionären Bewegung bedeute „nicht so sehr den Triumph des Kommunismus in China [...], sondern daß durch das Zusammenwirken Rußlands und Chinas die
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Holitscher: Das unruhige Asien (wie Anm. 7), S. 254 u. 211. Holitscher: Das unruhige Asien (wie Anm. 7), S. 283. Vgl. Holitscher: Das unruhige Asien (wie Anm. 7), S. 263f. u. 270. Vgl. dazu a. Arthur Holitscher: Drei Monate in Sowjet-Rußland, Berlin 1921.
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Vorstufe für die kommunistische Zukunftsära der Menschheit erklommen wird“.43 Hierbei überträgt der Autor seine alte Hoffnung, dass der Kommunismus nicht mehr nur als seelenlose Methode begriffen werde, sondern sich zu einer religiösen Bewegung weiterentwickeln möge, offensichtlich auf Asien und China.44 Es ist die besondere „Resistenzkraft und Vitalität“ des „chinesische[n] Geist[es]“, die China in seinen Augen zur Hoffnung auch für Europa werden lässt.45 Das lange Leiden der Chinesen unter kolonialer und imperialistischer Besatzung erscheint in dieser Perspektive als notwendige Zwischenstufe auf dem Weg zu einer zukünftigen Erlösung der gesamten Menschheit. Damit aber erweist sich der Topos der ‚gelben Hoffnung‘ letzten Endes als romantische Utopie. Denn im Grunde aktualisiert Holitscher mit ihm das alte Projekt einer Regeneration der Moderne durch die Berührung mit dem Orient.46 III. Egon Erwin Kisch: China geheim Egon Erwin Kischs Reportage China geheim erschien Anfang 1933 und war die letzte Publikation Kischs in Deutschland vor dem Exil. China geheim unterscheidet sich von den anderen Reiseberichten zunächst im Hinblick auf den historischen und politischen Hintergrund der Reise. Kisch reiste im März 1932 aus der Sowjetunion kommend unter fremden Namen über den japanischen Marionettenstaat Mandschuko nach China ein.47 Den aktuellen Anlass bildeten die Mandschureikrise 43 Holitscher: Das unruhige Asien (wie Anm. 7), S. 245 (Hervorhebungen im Original). 44 „Den Völkern Europas ist der Glaube abhanden gekommen. Sie glauben an nichts. Gott hat sie verlassen. Die Völker des Ostens, deren Leben durch die Religion bestimmt ist, sind durch den Krieg aufgewacht. [...] Es gibt in Europa wohl eine Bewegung, die eine religiöse Bewegung genannt werden kann: es ist der Kommunismus. Doch sie wird verkannt, mißdeutet, und zwar [...] von Leuten, die [...] im Kommunismus nur die Methode, die zu seiner Herbeiführung dienen soll, die Diktatur des Proletariats, zu erkennen behaupten [...].“ (Holitscher: Das unruhige Asien (wie Anm. 7), S. 159.) 45 Holitscher: Das unruhige Asien (wie Anm. 7), S. 245. 46 Zum romantischen Orientalismus vgl. Said: Orientalismus (wie Anm. 33), S. 138f. 47 Kisch reiste mit der Transibirischen Eisenbahn von Moskau kommend über den Grenzort Chita ein. Diese Einreise wird in dem Text der Erstausgabe nicht erwähnt. Auch die genaue Route seiner von März bis Juni 1932 dauernden Reise (neben Shanghai besuchte er auch Nanjing, Peking und Qindao/Tsingtao) lässt sich auf Grundlage der Reportage nur schwer rekonstruieren. Dies liegt daran, dass der Autor die einzelnen Szenen darin anachronisch aneinander montiert und keine Hinweise auf die genauen Umstände seiner Reise und seine Kontakte in China gibt. Allerdings hat er seine Einreise nach China an anderer Stelle beschrieben: in einer Reportage mit dem Titel Ein Schnellzug wittert Morgenluft, die zuerst 1935 in seiner in der UdSSR veröffentlichten ReportagenSammlung Abenteuer in fünf Kontinenten erschien. Sie wurde 1950 von Bodo Uhse im Rahmen der vom Aufbau-Verlag veranstalteten Kisch-Werkausgabe dem Text von China geheim nachträglich als
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sowie die Besetzung chinesischer Viertel Shanghais durch japanische Marinetruppen im Januar 1932 und der kontroverse Bericht, den die Völkerbundskommission unter Lord Lytton über diese Vorgänge angefertigt hatte. Kischs Reportage ist in gewisser Weise als Gegenbericht zu diesem Kommissionsbericht angelegt.48 Sie hat einen investigativen Charakter. Mit fremder Identität getarnt besucht der Reporter den Ort des Geschehens, Shanghai, um sich ein eigenes Bild von der Situation zu machen. Ob seine Reise zugleich mit einem politischen Auftrag der Komintern verbunden war, lässt sich nicht sicher sagen, ist jedoch wahrscheinlich. Jedenfalls traf er in Shanghai mit einer Reihe kommunistischer Kontaktpersonen zusammen, so mit Agnes Smedley und mit Ruth Werner, die mit dem sowjetischen Agenten Richard Sorge zusammenarbeitete.49 Offenbar kam es in Shanghai auch zu einem Zusammentreffen mit linksgerichteten chinesischen Intellektuellen, unter anderen mit Lu Xun.50 China geheim unterscheidet sich aber auch in der Präsentationsweise von den Berichten Huelsenbecks und Holitschers. Kischs Reportage ist deutlich politischer und faktenorientierter und entspricht damit der Genrekonvention der neusachlichen Reisereportage. So konzentriert sich der Verfasser bei seiner Berichterstattung auf die soziale Gegenwart. Er beschreibt die von japanischen Bomben angerichteten Zerstörungen, schildert die Kinderarbeit in einer japanischen Spinnerei, berichtet von einer Gerichtsverhandlung im Special-District-Court ebenso wie vom Auftritt japanischer Tanzmädchen in einer amerikanischen Bar. Seine Darstellung ist offen parteiisch, kommt jedoch zumeist ohne explizite Wertungen aus. Die Leserlenkung erstes Kapitel hinzugefügt. Vgl. dazu auch die Nachbemerkung in: Egon Erwin Kisch: Zaren Popen Bolschewiken/Asien gründlich verändert/China geheim, 5. Aufl. Berlin 1993 (Gesammelte Werke in Einzelbänden, Bd. 4), S. 585. 48 Kischs Reportage war zwar kein agitatorischer Text, stand aber in engem Zusammenhang mit der kommunistischen Propaganda der damaligen Zeit, die die japanische Besetzung der Mandschurei und die Bombardierung Shanghais als Vorspiel zu einem Interventionskrieg gegen die Sowjetunion anprangerte. Vgl. bspw. die illustrierte Broschüre von Paul Dietrich: Krieg in China. Intervention. Weltkrieg, Hamburg, Berlin, o.J. [1932], bes. S. 22. Kisch sucht alle in der Broschüre benannten Orte auf, kritisiert mit derselben Tendenz die Politik des Völkerbundes sowie die Geschäfte der internationalen Rüstungsfirmen und weist (im Kapitel „Nanking und die Roten“) ebenfalls auf die Bedrohung der Sowjetunion hin. 49 Vgl. dazu Marcus G. Patka: Egon Erwin Kisch. Stationen im Leben eines streitbaren Autors, Wien, Köln u. Weimar: Böhau 1997 (Literatur in der Geschichte – Geschichte in der Literatur, Bd. 41), S. 125f. – Werner äußerte sich später in ihrer Autobiographie Sonjas Rapport (Berlin 1977, S. 102f.) über Kischs Besuch. Vgl. dazu a. Fritz Gruner: Egon Erwin Kisch und China, in: Fernöstliche Brückenschläge. Zu deutsch-chinesischen Literaturbeziehungen im 20. Jahrhundert, hg. v. Adrian Hsia u. Sigfried Hoefert, Bern u.a. 1992 (euro-sinica, Bd. 3), S. 179–188, hier S. 182. 50 Dies berichtet Bodo Uhse in seiner China-Reportage aus der Nachkriegszeit, wobei er sich auf die Aussage eines Augenzeugen stützt (Bodo Uhse: Reise- und Tagebücher I, Berlin 1981, S. 121). Vgl. dazu auch Gruner: Egon Erwin Kisch (wie Anm. 49), S. 185.
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erfolgt in erster Linie durch die Technik der kontrastiven Montage verschiedener Szenen, die durch Hintergrundinformationen und Datenmaterial, etwa zum Waffenhandel oder zum Lohnniveau, ergänzt wird.51 Durch die Gegenüberstellung von Tanzbar und Kinderarbeit, humanistischer Rhetorik und Bombentrichtern wird die Völkerbundpolitik auch ohne Kommentar als Element des Imperialismus entlarvt. Shanghai selbst dient Kisch als Paradebeispiel für „hemmungsloseste Ausbeutung“ und die militärische Durchsetzung von Kapitalinteressen.52 Wenn man es positiv fassen will, kann man sagen: Kischs Reportage scheint frei von dem Ballast orientalistischer Romantik, der Holitschers Reisebericht beschwert. Besonders deutlich zeigt sich dies an seiner Beschreibung des Kulis, die sich wie ein sachliches Gegenbild zu dessen schwärmerischer Beschwörung in Das unruhige Asien liest: Zwölf Mark dafür, daß er [der Rikschakuli, G.S.] dreißigmal im Monat, wochentags und sonntags, vom frühen Nachmittag bis zum frühen Morgen, tagaus, tagein, hafenaus, hafenein, [...] auf und ab, Schritt und Trab, federnd und zerrend, durchschnittlich hundertdreißig Meter in der Minute macht, bis zu zehn Kilometer die Stunde. [...] Überanstrengung, Herzkrankheit, Lungenschwindsucht, Gefahr und Mißhandlung sind des Rikschakulis Los. Fünfeinhalb Jahre lang. Dann stirbt er.53
Wo Holitscher die kindliche Vitalität der orientalischen Natur bewundert, sieht Kisch nur einen Extremfall von Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft. Sachlich distanziert referiert er Arbeitszeiten, zurückgelegte Wegstrecken, typische Berufskrankheiten und durchschnittliche Lebenserwartung. Der Kuli ist in seiner Reportage kein kulturelles Phänomen, sondern ein soziales. Und als solches unterscheidet er sich nur dem Grad der Ausbeutung, nicht aber dem Wesen nach von einem Arbeiter in Chicago oder Berlin. Kischs Darstellung verzichtet auf die Beschreibungskategorien der anthropologischen und kulturellen Differenz und setzt an ihre Stelle den kulturell indifferenten Gegensatz von Kapital und Arbeit, der das Leben in der gesamten kapitalistischen Welt bestimmt. Indirekt referiert auch er dabei auf die tradierte Vorstellung von Orient und Okzident, allerdings in ideologiekritischer Weise. Es geht ihm in seinem Buch ganz offensichtlich darum, das orientalistische China-Bild als bürgerliche Verklärung zu entlarven. So kann man den Titel China geheim auch als ironische Anspielung auf den Topos vom geheimnisvollen Orient lesen. Denn das China, das Kisch beschreibt, wird zwar bewusst dem Blick der Weltöffentlichkeit entzogen, ist aber an sich vollkommen geheimnislos. 51 Kisch bezieht sich dabei u.a. auf Arbeiterkorrespondentenberichte aus China und auf Karl August Wittfogels Broschüre Wirtschaft und Gesellschaft Chinas (1924). 52 Egon Erwin Kisch: China geheim, Berlin 1933, S. 39. 53 Kisch: China geheim (wie Anm. 52), S. 67.
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Bei kritischer Betrachtung lässt sich allerdings gerade an der demonstrativen Negation der kulturellen Alterität das Ideologische bzw. Tendenziöse von Kischs Reportage erkennen. Denn er unterlegt seiner Darstellung eine universelle Fortschrittsteleologie, auf deren Hintergrund Andersartiges als Rückständiges erscheint. Das gilt insbesondere für seine Beschreibung der traditionellen Kultur Chinas. Die kommt in seinem Buch zwar nur am Rande, dafür aber besonders prononciert in den Blick. Und zwar montiert er zwischen die in Shanghai spielenden Szenen, die den größten Teil der Reportage bilden, immer wieder einzelne Beobachtungen ein, die er bei seinem kurzen Besuch in Peking machte. Die Montage erfolgt dabei mit der unverkennbaren Absicht, altes und neues China kontrastiv gegeneinander zu setzen. Repräsentiert Shanghai sowohl den entwickelten Kapitalismus als auch dessen zukünftige Überwindung, so steht Peking pars pro toto für das vormoderne und reaktionäre China. Die fremde Kultur wird in Kischs Reportage somit nicht ignoriert, wie oft angenommen.54 Vielmehr wird ihr Bild in eine modernistisch geprägte Argumentation eingefügt, die kulturelle Tradition und politische Rückständigkeit implizit gleichsetzt. Dies zeigt etwa die Schilderung vom zufälligen Besuch eines abgelegenen Gutshofs bei Peking: Es waren durchweg alte Frauen, offenbar Arbeiterinnen des Gutshofs [...]. Sie hatten dunkelblaue Hosen an, wie es bei arbeitenden Frauen hierzulande Sitte ist, jedoch waren, allem Gebrauch zuwider, ihre Oberkörper nackt, die Brüste hingen schamlos herab. Die Matronen sprachen miteinander, und obwohl sie nicht schrieen, klang ihre Stimme schrill, genauer gesagt: ein schrilles Nebengeräusch begleitete jeden Laut. [...] Alle Arbeit leisteten die alten Frauen. Locker wackelte ihr Kinn im Kiefergelenk. Kahlgeschoren der Kopf, nur auf dem Scheitel ein ‚Dutt‘, ein so dünnes, so graues Büschel Haare, daß es das vorgeschrittene Alter der Trägerin verriet.55
Diese grotesk-gruselige Szene bereitet eine effektsicher inszenierte Desillusionierung vor: Als die vermeintlichen Arbeiterinnen stehend ihre Notdurft verrichten, erkennt der Berichterstatter, dass er sich in einem Heim für ehemalige kaiserliche Hofbeamte, Eunuchen, befindet. Der schaurig-triviale Exotismus dient Kisch somit als Präsentationsmodus politisch-kultureller Rückständigkeit. Die gleiche Funktion erfüllt die Komik in seiner ironischen Schilderung des „altchinesischen Theater[s]“, der Peking-Oper, in der die immergleichen Stücke in immergleichen Masken gespielt werden, die Figuren „im Falsett sprechen“ und Männer Frauenrollen übernehmen.56 Der Verfasser erklärt dies damit, dass es sich um eine „höfisch-feudale Kunstform“ handle, die nur der „Glorifizierung von Dynastie und Adel und Manda54 Vgl. bspw. Thomas Lange: China als Metapher – Versuch über das Chinabild des deutschen Romans im 20. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Kulturaustausch 36 (1986), S. 341–349, hier S. 344. 55 Kisch: China geheim (wie Anm. 52), S. 82f. 56 Kisch: China geheim (wie Anm. 52), S. 251.
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rinentugend“ diene, also ein „Eiapopeia fürs Volk“ sei.57 Der Versuch einer Reform dieser vermeintlich überholten Kunstform, wie von Mei Lanfang unternommen, ist in Kischs Augen daher von vornherein zum Scheitern verurteilt. Mei Lanfang selbst erscheint in seinem Buch – nicht zuletzt aufgrund der spöttisch akzentuierten homosexuellen Züge – als eine eher komische Figur. Wesentlich schärfer fällt Kischs Bericht über seinen Besuch in einem Pekinger Irrenhaus aus. Darin empört er sich nicht nur über die sozialen Missstände, sondern auch über die traditionellen medizinischen Methoden. Die Anwendung der Akupunktur etwa beschreibt er als ein barbarisches, auf Aberglauben beruhendes Ritual: „Mindestens drei Zentimeter tief waren die Stiche, das Blut spritzte hervor. Diese Art der Accupunktation ist also das Um und Auf der chinesischen Psychiatrie.“58 So findet auch Kisch in China noch den Orient, der bei ihm mit sexueller Ambivalenz, Grausamkeit und Leidensfähigkeit konnotiert ist – und deshalb erlösungsbedürftig erscheint. Gerade in der Schilderung des traditionellen China weist Kischs Reportage ebenfalls romantisch-orientalistische Züge auf. Der Autor orientiert sich in diesen Passagen offenbar an Marx’ Kritik des orientalischen Despotismus. Dieser hatte in der traditionellen Kultur- und Gesellschaftsform bereits achtzig Jahre zuvor die Ursache geistiger und sozialer Unfreiheit und in der kolonialistischen Zerstörung dieser Formen die notwendige Voraussetzung für eine zukünftige „social revolution“ erkannt.59 Kischs ‚orientalische Szenen‘ fügen sich in diesen Diskurs ein. Zugleich begründen sie implizit die Vorbildlichkeit des sowjetischen Modells für China.60 Während Holitscher die Opposition von Orient und Okzident heranzieht, um Chinas Erwachen als Synthese von Tradition und Moderne zu beschreiben, legitimiert die Imagination des rückständigen Orient bei Kisch den russischen Weg. Seine Reportage basiert auf dem Glauben an den geschichtlichen Fortschritt und die Erlösung der Menschheit durch eine soziale Transformation der Moderne. Statt einer gelben Hoffnung kennt Kisch nur eine rote Hoffnung.
57 Kisch: China geheim (wie Anm. 52), S. 251. 58 Kisch: China geheim (wie Anm. 52), S. 176. 59 Karl Marx: The British Rule in India (1853), in: Karl Marx u. Friedrich Engels: Werke, Artikel, Entwürfe. Januar bis Dezember 1953, Berlin 1984 (MEGA, Abt. I, Bd. 12), S. 166–173, hier S. 173. Vgl. dazu a. Said: Orientalismus (wie Anm. 33), S. 180f. – Kisch zitiert in seinem Buch selbst längere Passagen aus Marx’ Aufsatz Revolution in China and in Europe (1853); vgl. Kisch: China geheim (wie Anm. 52), S. 74–76. 60 Explizit beruft Kisch sich auf Sun Yatsen, der sich an der russischen Revolution orientiert und gefordert habe, China möge sich politisch und militärisch „einzig und allein die Sowjetrussen zum Vorbild nehmen“ (Kisch: China geheim (wie Anm. 52), S. 220).
Almut Hille
„Tausendjährige Augen“ Beobachtungen in China von Autorinnen der Weimarer Republik
In seiner Reportage Die Chinesen beweinen ihre Toten, veröffentlicht in der Frankfurter Zeitung am 23. März 1925, berichtet Joseph Roth über die Trauerfeier der Berliner chinesischen Kolonie für Sun Yatsen. Joseph Roth beobachtet die Versammelten, die chinesischen „Studenten, Diplomaten, kleinen Kaufleute und Proletarier“, und er begreift, warum im Hintergrund des Saales in so großer Zahl „die chinesischen Proletarier stehen, ein bisschen schüchtern, in viel zu engen, blank gewetzten Kleidern, die ärmsten Proletarier der Erde. Es ist ihr Toter, um den hier geklagt wird.“1 In Berlin lebten zu dieser Zeit nur wenige chinesische Proletarier, kleine Händler und Restaurantbesitzer vorwiegend in der Gegend um die Jannowitzbrücke.2 Mit der von Sun Yatsen gegründeten Republik verbanden sie, wie die Bevölkerung in China, große Hoffnungen. Lina Bögli, eine Schweizer Reisende, die Ende 1912, Anfang 1913 einige Monate in der jungen Republik unterwegs war, und ihre Reisebriefe 1915 in dem Buch Immer vorwärts zusammengefasst veröffentlichte, beschreibt diese Hoffnungen vorrangig als Hoffnungen auf Verbesserungen der ökonomischen Situation von Millionen. Den ersten Jahrestag der Republik erlebt Bögli in Nanjing als ein drei Tage währendes, mit „außerordentlichem Enthusiasmus“ begangenes Fest, das den Eindruck erweckte, die Republik habe zumindest in dieser Region „festen Fuß gefaßt“,3 während die Kämpfe im Land weiter andauern und die Sitzungen des im April 1913 zusammengetretenen ersten chinesischen Parlaments, das eine Verfassung verabschieden und einen Präsidenten wählen soll, nur unter Schwierigkeiten verlaufen.4 Auch Lina Bögli empfindet als Gast des Festes vielleicht Ergriffenheit angesichts einer Begeisterung, die sie wie Joseph Roth, europäischer Gast der Zeremonie in Berlin, am Geschehen ‚teilnehmen‘ lässt. Der Zuschauer konnte, so schreibt Roth, während der Feierlichkeiten nicht „nur interessiert“ bleiben: „Er musste ergriffen 1 Joseph Roth: Die Chinesen beweinen ihre Toten, in: Joseph Roth: Werke, hg. und eingeleitet v. Hermann Kesten, Vierter Band, Köln 1976, S. 38–40, hier S. 38. 2 Vgl. Dagmar Yu-Dembski: Chinesen in Berlin, Berlin 2007, S. 20f. 3 Lina Bögli: Immer vorwärts, Frauenfeld 1915, S. 252f. 4 Vgl. Bögli: Immer vorwärts (wie Anm. 3), S. 311.
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werden. So wurde aus dem Zuschauer ein Teilnehmer.“5 Bronislaw Malinowskis im Kontext von Feldforschungen in der Südsee nach 1914 entwickeltes Theorem der ,teilnehmenden Beobachtung‘, das für die Ethnologie im 20. Jahrhundert produktiv wurde, klingt hier an. Malinowskis Studie Argonauts of the Western Pacific war 1922 erschienen. Lina Böglis Ergriffenheit und ‚Teilnahme‘ beschränkt sich jedoch auf wenige Momente während ihres Aufenthalts in China. Aus Japan kommend fühlte sie sich 1912 in China plötzlich ‚lärmender Anarchie‘ ausgesetzt,6 erlebt besonders den Norden des Landes als „deprimierend“.7 An den modernen Entwicklungen in China nimmt sie nicht (An)teil. Als ihr ein Lehrstuhl für Deutsch und Französisch an der 1913 in Gründung befindlichen Frauenuniversität in Nanjing angeboten wird, schlägt sie diesen nach Darstellung in ihrem Buch aus, obwohl sie Bewunderung hegt für die „entschlossene[n], selbstständige[n] Chinesinnen“,8 die an Universitäten studieren und die Revolution unterstützen.9 Sie, die sich in ihrem um 1900 ungewöhnlichen Lebensentwurf als Reisende behauptet und 1896 auf einer vorhergehenden Fahrt die politischen Rechte und die enorme berufliche Selbstständigkeit von Frauen in Neuseeland bewunderte,10 bemerkt, dass sie in China nie an
Roth: Chinesen (wie Anm. 1), S. 38. Vgl. Bögli: Immer vorwärts (wie Anm. 3), S. 232f. Bögli: Immer vorwärts (wie Anm. 3), S. 251. Bögli: Immer vorwärts (wie Anm. 3), S. 281. 1842 wurden von Missionaren, die sich der Aufgabe verschrieben hatten, Kinder aus ärmeren Verhältnissen zu alphabetisieren, die ersten Mädchenschulen in China eröffnet. Zwischen 1844 und 1890 sind insgesamt 22 Missionsschulen für Mädchen nachgewiesen. Modernisierer wie Cai Yuanpei griffen den Gedanken der Bildung für Mädchen und Frauen auf. Cai Yuanpei gründete 1903 die Vaterländische Schule für Mädchen. Viele Mädchen wurden als Lehrerinnen ausgebildet. 1907 verabschiedete die Qing-Regierung einen Lehrplan für Grundschullehrerinnen. Die Regierung der Republik gestattete 1912 die Einführung gemischter Schulen für Jungen und Mädchen, erst nach der 4. Mai-Bewegung 1919 entstanden diese aber in zunehmendem Maße. Frauen wurden seit dieser Zeit auch an Universitäten wie der Peking Universität aufgenommen. Die Erwerbstätigkeit von Frauen wurde gefördert. Seit 1913 war es Frauen möglich, sich um ein staatliches Stipendium für ein Studium im Ausland zu bewerben (zuvor hatten einige Frauen aus wohlhabenden Familien auf eigene Kosten in Japan studiert). Den Statistiken des Erziehungsministeriums zufolge studierten von Beginn der Republik bis 1931 mehr als 10.000 Frauen in Übersee, vorwiegend in Japan, wobei die Fächer, für deren Studium sie Stipendien erhielten, traditionell ‚weibliche‘ waren, z.B. Pädagogik und Bildende Kunst bzw. Kunstgewerbe. Vgl. Xu Hong: Malerinnen im Shanghai des frühen 20. Jahrhunderts, in: Shanghai modern 1919–1945, hg. v. Jo-Anne Birnie Danzker, Ken Lum u. Zheng Shengtian, München u. Ostfildern-Ruit 2004, S. 200–215, hier S. 202, 203, 207. 10 Vgl. Doris Stump: „Ja, ein Mann zu sein, das wäre Freiheit“ Lina Bögli (1858–1941), in: Die Reisen der Frauen. Lebensgeschichten von Frauen aus drei Jahrhunderten, hg. von Susanne Härtel u. Magdalena Köster, Weinheim u. Basel 1994, S.109–131, hier S. 121. 5 6 7 8 9
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der „Hebung und Besserung des elenden Volkes mitarbeiten könnte“,11 und zieht es vor, schnell nach Europa zurückzukehren. Die Reiseberichte, Reportagen und Romane über China von Autorinnen wie Lina Bögli, Hannah Asch, Lili Körber und Vicki Baum sind mit Oliver Lubrichs Überlegungen zu (post)kolonialen Poetiken als „Ausschreitungen geographischer Räume und als Auslotungen kultureller Fremdheiten“ zu lesen, sie entwerfen „symbolische Topographien und entwickeln geographische Imaginationen, die sich implizit zu einer kolonialen Raum-Konstruktion zusammenfügen“.12 Gemeinsam ist den Texten, dass sie – einem Medientrend der Weimarer Republik entsprechend – vorrangig für Leserinnen verfasst sind. In ihnen wird13 vor allem über den (schweren) Alltag der Frauen berichtet, über die Erziehung und Bildung bzw. Arbeit der Kinder, über das Leben in den größer werdenden Städten und den Dörfern. Mitunter entgeht ihnen dabei vielleicht das Revolutionäre der Zeit, wie ein Rezensent bissig bereits über einen anderen Text Lili Körbers – Eine Frau erlebt den roten Alltag. Ein Tagebuch-Roman aus den Putilow-Werken – schrieb, den sie 1932 nach einem Aufenthalt als ‚ausländische Genossin‘ in den Putilow-Traktorenwerken in Sankt Petersburg veröffentlichte: Aber vielen Reportageromanen von Frauen, die jetzt zahlreich werden, ergeht es bei redlichem Eifer ganz unerwartet. Ihre Neugier wird gleich vom Anbeginn von besonderen Einzelheiten angelockt, verführt, verschleppt. Die Details erregen sie, wenn sie fremdartig sind, und die großen Tatsachen, die sie aufspüren, über die sie reportieren sollten, sehen sie eigentlich kaum. So passiert es wirklich, daß eine zum erstenmal revolutionäres Neuland betritt und ihr gleich ungefähr die Frage auf den Lippen brennt: Wie ist es hier mit der Liebe und was bekommen die Kinder überhaupt zum zweiten Frühstück? Gewiß ganz interessante Details. Doch die ungeheuerlich großen Tatsachen der Revolution, die bleiben irgendwo, ganz fern, hoch über ihnen.14
Weniger als eine Verliebtheit in Details scheint es aber eine große Fremdheit gegenüber China zu sein, die Teilnahme, differenzierende Betrachtungen oder gar
11 Bögli: Immer vorwärts (wie Anm. 3), S. 310. 12 Oliver Lubrich: Das Schwinden der Differenz. Postkoloniale Poetiken, Bielefeld 2004, S. 36. 13 Die Berichte sind auf der Folie eigener Projektionen der Autorinnen, die auch Leserinnen sind und vor ihren Reisen viele Texte über China rezipiert haben, die ihre ‚Wahrnehmungen‘ nun beeinflussen, verfasst. Zur Theorie des ‚kognitiven Konstruktivismus‘, nach der Akteure in gesellschaftlichen bzw. kulturellen Transferprozessen externe Reize oder Informationen nicht einfach abbilden, sondern aktiv mit bestehenden kognitiven Strukturen verbinden, vgl. auch den Beitrag von Arnd Bauerkämper in diesem Band. 14 Emil Kläger: Erlebte Bücher von Frauen, in: Neue Freie Presse (31.7.1932), zit. nach: Ute Lemke: Lili Körber: Von Moskau nach Wien. Eine österreichische Autorin in den Wirren der Zeit (1915– 1938), Siegen 1999, S. 96.
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eine nachhaltige Begeisterung der Autorinnen für die revolutionäre Bewegung der Volksmassen behindert. Hannah Aschs 1927 erschienener Reisebericht Fräulein Weltenbummler. Reiseerlebnisse in Afrika und Asien ist in ähnlichem Duktus wie die über zehn Jahre zuvor erschienenen Reisebriefe Lina Böglis gehalten. Gerade im Vergleich mit Japan wird China auch in ihm zum absolut Fremden stilisiert, zu einer „andere[n] Welt“, grundverschieden von allem bisher Gesehenen und Erlebten“.15 Expliziter Bezugspunkt der Wahrnehmungen Hannah Aschs in China bleibt immer Deutschland, die „europäische Kultur“ bzw. „westliche Zivilisation“.16 Japan wird von Lina Bögli und anderen weltreisenden Frauen der Zeit als zwischen europäischer Moderne und asiatischer Tradition stehendes Land wahrgenommen.17 Wie schwach die Position Deutschlands in der nach dem Ersten Weltkrieg neu geordneten, von neuen, dynamischen Machtverhältnissen geprägten Welt ist, muss Hannah Asch schon bei ihrer Ankunft in Asien erfahren. Als Inhaberin eines deutschen Passes lassen englische Regierungsbeamte sie nicht in Bombay von Bord ihres Schiffes gehen, sondern nötigen ihr eine mehrtägige Gefangenschaft im Hafen und schließlich eine Weiterfahrt nach Japan auf einem englischen Frachtdampfer auf, dessen Beschreibung in vielem der des ‚Coyoten‘ in Richard Huelsenbecks 1928 veröffentlichtem Reisebericht Der Sprung nach Osten ähnelt.18 Auch die ‚Bangala‘ ist ein „alter, vollständig verrosteter“19 Dampfer, der bereits als Alteisen ausgemustert worden war, bevor er notdürftig repariert wieder in Betrieb genommen wurde und nun von einer Mannschaft bestehend aus achtzig indischen Kulis und neun Engländern über das Meer gefahren wird. In den Augen einer ‚deutschen Dame‘ diskreditieren die Engländer durch den Zustand des Schiffes wie ihren eigenen die Kolonialmacht. Antideutsche Ressentiments des Kapitäns, gespeist aus Erzählungen und Bildern, versucht Hannah Asch durch Verweise auf den Konstruktionscharakter von Fotografien und Kinobildern zu relativieren. Der persönlichen Begegnung wohnt in dieser Perspektive ein aufklärerischer Charakter inne. Für eine 1932 erscheinende weitere Sammlung von Reiseerlebnissen von Hannah Asch, Birmanische Tage und Nächte, wirbt der Verlag August Scherl damit, dass die Autorin keine Reisebeschreibung vorlege sondern „,das große Erlebnis einer das Ferne suchenden Frau‘“ schildere: „Die Erlebnisse der Autorin erhielten ihre Prä15 Hannah Asch: Fräulein Weltenbummler. Reiseerlebnisse in Afrika und Asien, Berlin 1927, S. 98. 16 Asch: Fräulein Weltenbummler (wie Anm. 15), S. 11 u. 109. 17 Vgl. zu Texten von Marie von Bunsen und Alma Karlin den Aufsatz von Mechthild Leutner: Die Fremde und das eigne Ich: Reisebeschreibungen von Frauen über China, in: Newsletter Frauen und China 9 (1995), S. 47–61. 18 Zu dem Reisebericht Richard Huelsenbecks vgl. den Beitrag von Gregor Streim in diesem Band. 19 Asch: Fräulein Weltenbummler (wie Anm. 15), S. 36.
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gung durch den Umstand, dass sie allein in ein ihr unbekanntes Land reiste.“20 Die Auseinandersetzung mit der persönlichen Situation einer ‚weltreisenden Dame‘ – „Reisende ‚Damen‘ (bürgerlich, weiß) sind ungewöhnlich, werden in den vorherrschenden Diskursen und Praktiken als etwas Besonderes vermerkt.“21 – prägt neben der Exotisierung alles Außereuropäischen sämtliche Reiseberichte Hannah Aschs. Ihr Blick auf die Verhältnisse bleibt ein flüchtiger, stärker von Abenteurertum und Auseinandersetzungen mit der eigenen Identität als von Teilnahme oder analytischer Schärfe geprägt. Vieles von dem, was sie „während wochenlanger Forschungsfahrten durch Peking“,22 später durch Shanghai und Kanton beobachtet, was in distanzierter Wahrnehmung „wie ein langsam gekurbelter Filmstreifen“23 vor ihr abläuft, gehört zu den Topoi der europäischen China-Berichte der Zeit: Menschenmassen, Armut, Lärm, Schmutz, Bettelei, Krankheiten, überfüllte Verkehrsmittel, die gebundenen Füße der (älteren) Frauen, in Nordchina die Zöpfe der Männer aus vorrevolutionären Zeiten, die fremden Essgewohnheiten, arbeitende Kinder und Lastträgerinnen. Den in europäischen Zeitungen und Zeitschriften „hier und da“ zu lesenden Berichten „über die Emanzipation der chinesischen Frau“24 widerspricht Hannah Asch: Die Frauen lebten in Gehorsam gegenüber einer patriarchalischen Gesellschaft, nur Einzelne von ihnen wären im modernen Berufsleben, etwa als Stenotypistinnen,25 als weibliche Angestellte zu finden. Tradierte westliche Betrachtungsweisen des Lebens der chinesischen Frau, wie sie auch in den überaus erfolgreichen zeitgenössischen Büchern der Missionarsgattin Elisabeth Oehler-Heimerdinger zu finden sind,26 20 Hans Bernd Zöllner: Birma zwischen „Unabhängigkeit zuerst – Unabhängigkeit zuletzt“. Die birmanischen Unabhängigkeitsbewegungen und ihre Sicht der zeitgenössischen Welt am Beispiel der birmanisch-deutschen Beziehungen zwischen 1920 und 1948, Hamburg 2000, S. 262. 21 James Clifford: Kulturen auf der Reise, in: Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung, hg. v. Karl H. Hörning u. Rainer Winter, Frankfurt/M. 1999, S. 476–513, hier S. 498. 22 Asch: Fräulein Weltenbummler (wie Anm. 15), S. 103. 23 Asch: Fräulein Weltenbummler (wie Anm. 15), S. 140. 24 Asch: Fräulein Weltenbummler (wie Anm. 15), S. 101f. 25 Vgl. Asch: Fräulein Weltenbummler (wie Anm. 15), S. 102. 26 Elisabeth Oehler-Heimerdinger war eine der bekanntesten Missionsschriftstellerinnen der Weimarer Republik. Von 1909 bis 1920 lebte sie in China. Zahlreiche von ihr verfasste Berichte, Erzählungen und Traktate erreichten hohe Auflagenzahlen. 1911 erschien ihr erstes, bis 1929 fünfmal aufgelegtes Buch Ich harre aus. Geschichten von chinesischen Frauen. Auch chinesische Lyrik wurde von ihr übersetzt, offensichtlich mit der Intention, über das schwere Los der chinesischen Frauen, aber auch ihre Stärke und ihr Gemeinschaftsgefühl, das die christliche Religion weiter zu befördern vermag, zu informieren. Die Lastträgerinnen erscheinen als das ‚Rückgrat‘ Chinas, das auf sie angewiesen ist. 1925 erschien das Traktat Lastträgerinnen. Bilder aus dem chinesischen Frauenleben, in dem China mit Deutschland verglichen wird: „Wo wir in Deutschland die Boten haben mit ihren Planwagen, die Lastkraftwagen, die Leiterwagen, da hat der Chinese nichts als die Achseln
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werden von Hannah Asch in trivialliterarischer Verfahrensweise reproduziert und gegen den populären Topos der ‚Neuen Frau‘ in der Weimarer Republik ausgespielt. Entwicklungen wie in Shanghai, wo – geprägt von in Europa ausgebildeten Künstlern und Gelehrten – eine frühe chinesische Moderne in Malerei, Architektur, Film und Werbekommunikation entsteht, entgehen der Reisenden. Einige Errungenschaften der chinesischen Republik, so die nun für alle Menschen geöffneten „alten, früher geheimnisvoll abgeschlossenen Kultstätten“27 wie der Himmelstempel in Peking, finden hingegen ihre Anerkennung. Die Schritte in Richtung Moderne, über die Hannah Asch ihren Leserinnen im Plauderton der Ullstein-Zeitschriften Die Dame oder Uhu berichtet, sind oberflächlich betrachtet und werden in Vergleichen mit Deutschland und ‚dem Westen‘ zusätzlich trivialisiert. So ähnele der Bund in Shanghai, dieser Babel gleichenden, vielleicht internationalsten Stadt der Welt, dem Jungfernstieg in Hamburg;28 übertreffe „das Getümmel“ in der Shanghaier Nanjing Road „weit das der Berliner Hauptstraßen“;29 gleiche das Promenieren ‚Jung-Chinas‘ im Zentralpark von Peking dem Sehen und Gesehen-Werden im Zoologischen Garten in Berlin.30 Ein so kontrastreiches Nebeneinander von Arm und Reich wie in China sei im ‚Westen‘ eigentlich nicht vorstellbar und wenn überhaupt – so ein weiterer Seitenhieb gegen England – höchstens in einer chaotischen Stadt wie London, die nur auf den ersten Blick eine „stolze Millionenstadt westlicher Zivilisation“ ist.31 Asch beobachtet eine neue, moderne chinesische Elite, an Universitäten im Ausland ausgebildet, aber dennoch in ‚chinesischen Mustern‘ ver-
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der Kulis und der Lastträgerinnen, die vom Schiff oder Flußboot aus eine Fracht um die andere in die entfernten Märkte und Dörfer tragen […]. Ohne die lasttragenden Frauen würde Handel und Wandel stocken; kein Kaufmann bekäme seine Ware in den Laden, kein Haus könnte gebaut werden ohne die Frauen; denn wer wollte sonst Sand aus dem Bach, Kalk aus dem Kalkofen, Ziegel aus der Brennerei, Bauholz vom Markt herbeischleppen? Wer würde dem Töpfer Brenngras und Holz liefern? Und wie hätte vor fünfzehn Jahren die Eisenbahn von Hongkong nach Kanton gebaut werden können ohne die Tausende von Frauen, die emsig wie die Ameisen durcheinanderliefen und fortwährend in zwei flachen Körben von den Berghängen Erde herbeitrugen, bis endlich der Bahndamm aufgefüllt war?“, Elisabeth Oehler-Heimerdinger: Lastträgerinnen. Bilder aus dem chinesischen Frauenleben, Stuttgart u. Basel 1925, S. 6 u. 7. Es sei Armut, die die Frauen zu so harter Arbeit nötige, aber auch das Verhältnis zwischen den Geschlechtern und den Generationen, das gerade jüngeren Frauen schwere Arbeit und große Entbehrungen abverlange. Diese Beobachtungen stellt die Autorin in dem Missionsdorf Tschonghankang an. Oft von ihren Männern, die in die großen Städte oder ins Ausland gingen, um Geld zu verdienen, verlassen, seien sie es, die die Familien mit schwerer Arbeit ernährten und die Modernisierung des Landes vorantrieben. Asch: Fräulein Weltenbummler (wie Anm. 15), S. 100. Vgl. Asch: Fräulein Weltenbummler (wie Anm. 15), S. 133. Vgl. Asch: Fräulein Weltenbummler (wie Anm. 15), S. 133. Vgl. Asch: Fräulein Weltenbummler (wie Anm. 15), S. 108. Vgl. Asch: Fräulein Weltenbummler (wie Anm. 15), S. 109.
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harrend: So zöge etwa der vornehme Chinese die prächtige Pferdekutsche dem modernen Auto vor, „um zu beweisen, dass er [ganz anders als in Berlin, London oder New York, A.H.] keine Eile hat“.32 Und die Kohle aus den Gruben der Mongolei werde, obwohl die Eisenbahn inzwischen zur Verfügung stünde, in monatelanger Wanderung von Kamelkarawanen nach Peking transportiert.33 Aber auch in das (post)koloniale Reisen und Schauen Hannah Aschs bricht das Politische, brechen die revolutionären Veränderungen in China ein. Um die Bahnlinie Hongkong-Kanton kämpfen Sun Yatsens Truppen, so dass die Reisende diese Strecke per Schiff bewältigen muss. Sie bezieht die Erfahrung umgehend auf eine „fast stehende täglich in allen Zeitungen der Welt erscheinende Rubrik“ Kämpfe in China, in der „nur die Namen der Orte, an denen gekämpft wird, die Namen der Führer, die gerade siegreich sind, […] von Zeit zu Zeit [wechseln]“, für den „Durchschnittseuropäer“ kaum entwirrbar und letztendlich auch gleichgültig.34 Zum Schreibverfahren Hannah Aschs gehört es, im Rekurs auf westliche Medien die Lektüren ihrer Leser(innen) zu bestätigen oder zu korrigieren. Die Beobachtungsperspektive Aschs bleibt die der privilegierten reisenden Europäerin, die sich – wie es Nicole Nottelmann in Bezug auf Vicki Baum formuliert hat – „die vielleicht größte Freiheit überhaupt nahm, die Freiheit, unbewaffnet, wohlhabend und neugierig den schönen Rest der Welt zu erkunden“.35 Das „Schicksal des Chinesenvolks […] geknechtet und gequält nicht nur von den Fremden“,36 ermisst sie zwar und fühlt sich dem Volk und damit einem Leben “wahr […] und ohne Maske“37 näher als andere Europäerinnen und Europäer in China, die sich nur in den Konzessionsvierteln der Großstädte aufhalten und nie in die Chinesenstädte gehen. Trotzdem bleibt sie eine Außenstehende, die abends in eleganter Ballrobe über ihre Erlebnisse des Tages plaudert. Eine andere Perspektive prägt das Schreiben Lili Körbers. Gleich am Beginn des in der Forschung bislang kaum beachteten zweiten Teils ihres Reiseberichtes Begegnungen im Fernen Osten, 1936 im Biblos-Verlag in Budapest erschienen, zitiert sie den französischen Journalisten Louis Roubaud, einen der wenigen Europäer, der nach mehrwöchentlichem Aufenthalte in China verstanden hat, dass er von China nichts versteht: ‚[…] Nicht 10 Meter neutraler Zone gibt es zwischen dem China der Buildings und dem China der Pagoden. Manchesmal berühren sie einander, ein und dasselbe Zement vereinigt sie in einem gemeinsamen Hause. […] Sie kennen sich nicht 32 33 34 35 36 37
Asch: Fräulein Weltenbummler (wie Anm. 15), S. 109. Vgl. Asch: Fräulein Weltenbummler (wie Anm. 15), S. 120. Vgl. Asch: Fräulein Weltenbummler (wie Anm. 15), S. 137. Nicole Nottelmann: Die Karrieren der Vicki Baum. Eine Biographie, Köln 2007, S. 215. Asch: Fräulein Weltenbummler (wie Anm. 15), S. 146. Vgl. Asch: Fräulein Weltenbummler (wie Anm. 15), S. 127.
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einmal. Ein Ozean trennt sie, grösser als der Pacific: ein Ozean von Jahrhunderten, von Geschichte und von Hochmut.‘38
Dem Hochmut des europäischen Kolonialismus versucht Lili Körber die Teilnahme am Alltag der chinesischen Massen und an revolutionären Kämpfen entgegenzusetzen. Ihr Reisebericht ist als Sozialreportage zu lesen. In neusachlicher Manier beschreibt sie Arbeitszeiten, Gewerkschaftsinitiativen, Kalorienwerte von Nahrungsmitteln, Arbeitslöhne und die kleinen Freizeitvergnügen, die mit diesen ab und zu finanzierbar sind. Sie besucht Seidenspinnereien und Arbeitersiedlungen, lebt in der ‚Hölle Shanghai‘ in einem bevorzugt von armen russischen Emigranten bewohnten Viertel. Lili Körber nimmt Shanghai – und das fällt in den 1930er Jahren sicher leichter als noch Mitte der 1920er Jahre – aber auch als Ort einer entstehenden Moderne wahr. Sie analysiert chinesische Kinofilme, deren Ästhetik sie an russischen Filmen geschult sieht.39 Sie begrüßt die Bemühungen um die Aufnahme der Umgangssprache in die chinesische Literatur,40 vergleicht das traditionelle und das moderne chinesische Theater miteinander41 und besucht volle Schwimmbäder – das erste des Landes war 1934 im Shanghaier Stadtteil Pudong gegründet worden –, in denen auch „junge Mädchen das hochgeschlossene Kleid mit dem Schwimmtrikot“42 vertauschen. Das ‚Sportsgirl‘ der Weimarer Republik klingt hier an. Körber stellt Überlegungen über das „Unrecht in der Welt“43 an, erklärt die Gründung der ersten Mädchenschulen in China durch Missionare im 19. Jahrhundert zur Grundlage der Frauenemanzipation im Land,44 berichtet über die Bemühungen, Ausbildungsstätten, etwa in der Landwirtschaft, einzurichten.45 Eigene Beobachtungen der politischen Lage ergänzt sie durch Zitate aus chinesischen Zeitungen, die sie sich übersetzen ließ. Chinas internationalen Status der Zeit bezeichnet Lili Körber als den einer „Halbkolonie“, darin politikwissenschaftlichen Analysen entsprechend.46 Sie fragt, wie sich die Welt durch China verändern wird – insofern versteht sie sich selbst nicht nur als Beobachterin der enormen Veränderungen im Land, sondern auch als 38 Lili Körber: Begegnungen im Fernen Osten, Budapest 1936, S. 179. 39 Vgl. Körber: Begegnungen (wie Anm. 38), S. 195. 40 Vgl. Körber: Begegnungen (wie Anm. 38), S. 242. Vgl. dazu auch Ken Lum: Gleichklang der Ideale: Ästhetische Erziehung im republikanischen China, in: Shanghai modern (wie Anm. 9), S. 216–233, hier S. 218. 41 Vgl. Körber: Begegnungen (wie Anm. 38), S. 288f. 42 Körber: Begegnungen (wie Anm. 38), S. 272. 43 Körber: Begegnungen (wie Anm. 38), S. 243. 44 Vgl. Körber: Begegnungen (wie Anm. 38), S. 242. 45 Vgl. Körber: Begegnungen (wie Anm. 38), S. 209f. 46 Körber: Begegnungen (wie Anm. 38), S. 241. Vgl. auch Shih Shu-Mei: The Lure of the Modern: Writing Modernism in Semicolonial China 1917–1937, Berkeley 2001.
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,teilnehmende‘ Betroffene. Dies unterscheidet sie von anderen Autorinnen und Autoren der Zeit, aber auch von den „europäischen Gespenstern“,47 unter denen sie am Ende ihrer Reise in der ehemaligen Gesandtschaft Österreich-Ungarns in Peking lebt. Diese wähnen sich in China nur im Exil bis zur Wiederherstellung der Vorkriegsordnung in Europa. Es unterscheidet sie auch von den Anhängern des chinesischen Kaisertums, die der 1911 gegründeten Republik kaum Lebensdauer voraussagen.48 Lili Körber glaubt Anfang der 1930er Jahre an republikanische Entwicklungen in China und Europa. Sie ist weder eine reisende Flaneurin wie Hannah Asch, noch eine Beobachterin durch den Zeitraffer wie Vicki Baum, sondern eine Autorin, die durch authentische Erfahrungsberichte aus der Arbeitswelt der Sowjetunion, Japans und Chinas zu politischen Veränderungen in der Welt beizutragen versucht. Vicki Baum, seit 1932 in Los Angeles lebend und bei verschiedenen Filmproduktionsfirmen unter Vertrag stehend, unternahm nach 1935 ausgedehnte Reisen nach Polynesien, Australien, Neuseeland, Japan und China, überall „in der Landschaft herum [angelnd] nach einem Filmstoff “.49 Filmstoffe, Drehbücher und Romane dieser bereits in den zwanziger Jahren in Deutschland als Starautorin vermarkteten Schriftstellerin sind nach ihren Reisen zahlreich entstanden. Der Roman Hotel Shanghai wurde zuerst unter dem Titel Shanghai ’37 in englischer Fassung als Fortsetzungsroman im Magazin Cosmopolitan gedruckt. 1939 erschien Hotel Shanghai in deutscher Fassung im Querido Verlag in Amsterdam.50 Auf ihren Reisen konzentrierte Vicki Baum sich zunächst auf das Beobachten: „,die automatische Kamera‘ in ihrem Kopf klickte unaufhörlich und speicherte […] Eindrücke, die […] über Jahre hinaus in ihrem visuellen Gedächtnis abrufbar sein würden“.51 Erst später, auf dem Schiff, unterwegs zum nächsten Reiseziel, machte sie sich Notizen und schickte sie als Grundlage späterer Erinnerungen nach Hause. Aus den kurzen Beobachtungsskizzen – in Shanghai zum Beispiel war Vicki Baum nur wenige Tage – und vielen anderen Zutaten, Klischees, Bildern und Versatzstücken von Texten entstanden später ihre Romane: sachlich, flott, dem Zeitgeschmack entsprechend, über weite Strecken frei von Engagement oder Wertungen. Hotel Shanghai, ein farbenprächtiges, kontrastreiches Porträt der zeitgenössischen Metropole,
Körber: Begegnungen (wie Anm. 38), S. 303. Vgl. Bögli: Immer vorwärts (wie Anm. 3), S. 245f. Vicki Baum an Richard Lert, 18.2.1935, zit. nach: Nottelmann: Karrieren (wie Anm. 35), S. 217. Geschrieben hatte Vicki Baum, die sich seit Jahren bemühte, Romane auch in englischer Sprache zu schreiben, den Text halb auf Englisch; 1940 gelang es ihr, die 1938 amerikanische Staatsbürgerin geworden war, den ersten Roman The Ship and the Shore ganz in englischer Sprache vorzulegen. 51 Nottelmann: Karrieren (wie Anm. 35), S. 225. 47 48 49 50
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ist ein typischer „Vicki-Baum-Roman“.52 Auf ihn trifft auch zu, was Willy Haas 1931 zur Uraufführung von Vicki Baums Komödie Pariser Platz 13 in den Berliner Kammerspielen anmerkte: Vicki Baum liefere soziologisch orientiertes, „großstädtischfolkloristisches Beobachtungsmaterial“.53 In Hotel Shanghai greift sie in ähnlicher Weise wie in ihrem Erfolgsroman Menschen im Hotel ein modernes, urbanes Thema auf. Sie macht das Hotel, nach Theodor W. Adorno in der Tradition des Theaters ein beliebter Handlungsort „weil dort ohne gar zu auffällige dramaturgische Gewalttat alle möglichen Personen, auch solche sozial sehr verschiedener Kreise, sich treffen und miteinander konversieren können“,54 zu „eine[r] Art große[m] Hauptquartier“55 im ‚neuen China‘. Sie bringt Symbole der Gegensätze zwischen alter und neuer Zeit, zwischen Europa, den USA und Asien, zwischen Moderne und Tradition gegeneinander in Stellung, führt im Zeichen Yin und Yang zusammen, was gegensätzlich und doch zusammengehörig sei: „das männliche und das weibliche Element, Himmel und Erde, Kälte und Hitze, Hell und Dunkel, Tag und Nacht, […] Hunger und Sattheit, arm und reich“.56 Der Roman, die Stadt und das Hotel sind polyphon gestaltet, verschiedene Stimmen, Perspektiven und Haltungen werden in den Figuren von chinesischen Revolutionären und Kapitalisten, Tänzerinnen und Liftboys, armen und reichen Fremden, Spioninnen und Trinkern vorgeführt. Eine Motivation, den Roman zu schreiben, war für die erfolgshungrige Vicki Baum – die Spekulation sei erlaubt – sicher auch das starke Interesse des damaligen amerikanischen Publikums an China. Auf dieses verweist der Erfolg von Pearl S. Bucks China-Roman The Good Earth, der 1931 an der Spitze der amerikanischen Bestsellerliste stand, während die englische Übersetzung von Vicki Baums Menschen im Hotel, Grand Hotel Platz vier erreichte. Es handelt sich bei Bucks Roman um den ersten Teil einer Trilogie über eine chinesische Bauernfamilie, über die großen Umbrüche in China im frühen 20. Jahrhundert und das Aufeinandertreffen von chinesischer Tradition und westlicher Zivilisation, für den die Autorin 1938 52 Nicole Nottelmann: Strategien des Erfolgs. Narratologische Analysen exemplarischer Romane Vicki Baums, Würzburg 2002, S. 46. 53 H. [d.i. Willy Haas]: Berliner Theaterwinter 1930/31, in: Die literarische Welt 7 (12.6.1931), zit. nach: Julia Bertschik: Die Ironie hinter der Fassade. Vicki Baums neusachliche Komödie aus dem Schönheitssalon »Pariser Platz 13« (1930), in: Vicki Baum: Pariser Platz 13. Eine Komödie aus dem Schönheitssalon und andere Texte über Kosmetik, Alter und Mode, hg. und mit einem Nachwort von Julia Bertschik, Berlin 2006, S. 192–212, hier S. 206. 54 Theodor W. Adorno: Wien, nach Ostern 1967, in: Theodor W. Adorno: Kulturkritik und Gesellschaft I. Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann, Bd. 10/I, Frankfurt/M. 1977, S. 423–431, hier S. 428. 55 Adorno: Wien (wie Anm. 54), S. 428. 56 Vicki Baum: Hotel Shanghai, Köln 1985, S. 17.
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den Literaturnobelpreis erhielt. China war ein Modethema der Zeit in Europa und den USA. „Die Stadt […] hat ihr Gesicht verändert, wie so oft zuvor.“57 – mit diesen Worten beginnt der Roman Hotel Shanghai, der ein facettenreiches Bild Chinas in den 1920er und 1930er Jahren zeichnet. Der Bürgerkrieg, die Unterdrückung und Armut weiter Teile der Bevölkerung, die Konflikte mit den Japanern, den Europäern und Amerikanern, der aussichtslos scheinende Kampf gegen den Verkauf und Genuss von Opium und die popularisierten Lehren des Konfuzius sind Versatzstücke, aus denen Vicki Baums China-Fiktion entsteht. Ihre Figuren reisen durch das Land, auf Flößen und Schiffen, zu Fuß, mit der neuen Eisenbahn, den „Feuerwagen“,58 leisten schwere körperliche Arbeit als Lastträger und Kulis im Hafen von Shanghai, bewirtschaften in gemeinsamer Arbeit seit Generationen die Felder, setzen Hoffnungen in die Regierung Sun Yatsens eines Mannes, „von dem gesagt wurde, daß er größer sei als Konfuzius, nach dessen Regeln das Land seit zweitausendfünfhundert Jahren lebte“.59 Vicki Baum erzählt, ganz nah am amerikanischen Traum, von Chang Bo Gums Aufstieg vom Kuli zum mächtigsten Banker von Shanghai, der Rebellion seines Sohnes Yu Tsing gegen ihn und sein Lebensmodell,60 von den ersten Kinopalästen in Shanghai, den Auftritten von Pei Yu Shan, der ‚chinesischen Marlene Dietrich‘. Deutlich wird, wie viel Neues die Fremden ins Land bringen, und auch die jungen Chinesen, vorrangig „junge Männer der guten Familien“, die deren Schulen und Universitäten in Europa und den USA besucht hatten: „[Sie] riefen den Stolz und die Würde der Männer an und versprachen den Frauen ein leichteres Leben“.61 Die Frauen sind in den Bildern der „kleinen, fein gedrechselten“ Persönchen mit „winzigen“ gebundenen Füßchen62 im Roman scheinbare Quellen besonders raffinierter ‚Exotik‘. Aber in diesen Bildern ist auch ihre „implizite Ironisierung“63 enthalten, eine versteckte Kritik an Geschlechter- und Generationenrollen wie an Schönheitsidealen. Die Frauen werden in China, so suggeriert und kritisiert es der Roman, als Eigentum ihrer Familien bzw. Ehemänner betrachtet, sie müssen arrangierte Ehen eingehen, und ihren Männern dienen, wenn sie sich nicht, wie in dem seltenen Fall der Revolutionärin und Ehefrau Yu Tsings Fong Yung, als Gleichgesinnte ihrer Baum: Hotel Shanghai (wie Anm. 56), S. 8. Baum: Hotel Shanghai (wie Anm. 56), S. 32. Baum: Hotel Shanghai (wie Anm. 56), S. 121. Die Rebellion der Söhne gegen die Väter gilt als einer der Topoi der Literatur der Vierten-MaiBewegung in China. 61 Baum: Hotel Shanghai (wie Anm. 56), S. 125. 62 Vgl. Baum: Hotel Shanghai (wie Anm. 56), S. 29. 63 Nottelmann: Strategien (wie Anm. 52), S. 160 u. 167. 57 58 59 60
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Männer im wahrsten Sinne des Wortes entpuppen und zu deren Gefährtinnen im Kampf für ein neues China werden bzw. sich der Frauenbewegung anschließen.64 Auf die Frauenbewegung in China im frühen 20. Jahrhundert blickt auch Julia Kristeva in ihrer 1974 erstmals im französischen Original erschienenen „Blitzreportage“65 Die Chinesin. Die Rolle der Frau in China. Es handelt sich um eine Sammlung von Informationen, Fragen, Gesprächen und Analysen nach einem Aufenthalt in der Volksrepublik, über die Homi K. Bhaba in seiner Studie The location of culture neben anderen Texten schrieb: „Montesquieu’s Turkish Despot, Barthes’s Japan, Kristeva’s China, Derrida’s Nambikwara Indians, Lyotard’s Cashinahua pagans are part of this strategy of containment where the Other text is forever the exegetical horizon of difference, never the active agent of articulation“.66 Kristeva misst die chinesische Frauenbewegung an den Emanzipationsbestrebungen europäischer Frauen im 20. Jahrhundert. Die chinesische „bürgerliche Revolution des beginnenden Jahrhunderts“ sieht sie anhand ihrer Lektüren von Büchern zur Geschichte Chinas durch drei Faktoren gekennzeichnet: die nationale Befreiung, die sozialistische Ideologie und das Aufbegehren der Frau,67 letzteres belegt durch Frauen, die den bewaffneten Kampf unterstützten und sich nach Gründung der Republik in einer „echte[n] chinesische[n] Feministinnenbewegung“68 zusammenfanden, welche sich im Januar 1912 in Nanjing konstituierte – von Lina Bögli in ihren Reisebriefen nicht erwähnt – und Forderungen nach „Rechtsgleichheit von Frauen und Männern, höhere[r] Schulbildung für die Mädchen, Abschaffung von Polygamie und Mädchenhandel, freie[r] Wahl des Ehepartners, Veränderung der Familienbräuche“69 für die neue Verfassung formulierte. Vicki Baums Revolutionärin Fong Yung ist in diese Bewegung, ihre Ausprägung nach 1925, involviert. Sie kämpft bis zu ihrem Tod in Südchina: „[S]ie ging herum und rüttelte die Frauen auf, die stummen Tiere, die unaufhörlich gebaren und Kinder umbrachten, Kinder verhungern ließen und Kinder verkauften […]. Wenn es ihr gelang, in den dumpfen Gesichtern einen Funken anzuzünden, dann jubelte sie leise und zart wie ein Vogel, der als erster am Morgen erwacht.“70
64 Zur Frauenbewegung Chinas bzw. einigen ihrer Aspekte vgl. Nicola Spakowski: „Mit Mut an die Front“ Die militärische Beteiligung von Frauen in der kommunistischen Revolution Chinas (1925– 1949), Köln u.a. 2009 65 Julia Kristeva: Die Chinesin. Die Rolle der Frau in China, Frankfurt/M. u.a. 1982, S. 9. 66 Homi K. Bhaba: The location of culture, London u. New York 1994, S. 31. 67 Vgl. Kristeva: Chinesin (wie Anm. 65), S. 88. 68 Kristeva: Chinesin (wie Anm. 65), S. 90. 69 Kristeva: Chinesin (wie Anm. 65), S. 91. 70 Baum: Hotel Shanghai (wie Anm. 56), S. 259.
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Das Ideal der asiatischen Frauen, der ‚fein gedrechselten‘ Persönchen, bleibt jedoch, wie Vicki Baum ironisch andeutet, auch in den revolutionären Kämpfen erhalten. So muss Yu Tsings zweite Frau, Pearl Fong aus Chinatown in New York, die nach China ging, um sich mit ihrem Mann gemeinsam für seine Ideale zu engagieren, am Ende der Konkubine weichen, die sein Vater Chang Bo Gum für ihn aussucht – ein ‚Vögelchen‘, das er trotz anfänglicher Vorbehalte letztendlich mehr liebt als das ‚freie amerikanische‘ Mädchen, das zu seiner zweiten Kampfgefährtin wurde. Solche „impliziten Ironisierungen“71 sind in vielen Texten Vicki Baums zu erkennen, wenn auch nicht immer ganz einfach; sie könn(t)en ebenso gut als triviale Plattheiten gelesen werden. Ihren Bestseller Menschen im Hotel, in dem sie – nahezu unbemerkt von Kritik und Publikum – die Kolportage-, Unterhaltungs- oder Trivialliteratur der Zeit zu ironisieren suchte,72 hatte die Autorin ursprünglich mit dem Untertitel Ein Kolportageroman mit Hindergründen versehen. Dieser Untertitel und mit ihm die Hintergründigkeit des Textes ist im Zuge der Rezeption des Erfolgsromans, besonders seiner Theater- und Filmfassung(en), verloren gegangen. Strategien der Ironisierung des Beobachteten und Erzählten waren auch in Pariser Platz 13, einer Komödie um Jugendwahn, Schönheitskult, Zeitschriftendiäten und blonde Bubiköpfe in Berlin erkennbar.73 Nach Berlin blickt Vicki Baum auch von Shanghai aus, der in den 1930er Jahren fünftgrößten Metropole der Welt, die sie während ihrer kurzen Aufenthalte durcheilte, um ‚alles‘ zu sehen: Menschengewimmel, Geschäftigkeit, die immer höher aufragende Skyline, Nachtclubs und Opiumhöhlen. In Hotel Shanghai blickt sie allerdings nicht auf das zeitgenössische Berlin der späten dreißiger, sondern auf das der zwanziger Jahre zurück, das sie selbst erlebt hatte – das Berlin, in dem die Zeit eine „neue Maske“ angelegt hatte: „Jazz, kurze Röcke, kurze Haare; Frauenwahlrecht, Überzahl der weiblichen Studenten, Geburtenkontrolle; neue Sachlichkeit, Relativitätstheorie, Fliegerrekorde, Amerikanisierung, Filme, Pazifismus, Tempo, Tempo, Tempo“.74 Im Rückblick erscheint Shanghai als ebenso dynamisch und modern wie das Berlin der zwanziger Jahre, das Tempo auf der Nanjing Road sogar höher als das auf dem Potsdamer Platz. Ein wenig unterbelichtet scheint in dem Roman, der durchaus als Exilroman zu lesen ist, das Exil in Shanghai. Die Veränderungen der politischen Situation in Deutschland Anfang der 1930er Jahre, die Vertreibungen, das Exil in verschiedenen Ländern Europas, Armut und zunehmende Hoffnungslosigkeit werden anhand der 71 72 73 74
Vgl. Bertschik: Ironie (wie Anm. 53), S. 204. Vgl. Bertschik: Ironie (wie Anm. 53), S. 204. Vgl. Bertschik: Ironie (wie Anm. 53), S. 206. Baum: Hotel Shanghai (wie Anm. 56), S. 60f.
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Figuren des jüdischen Arztes Dr. Hain wie auch des jungen Kommunisten und Musikers Kurt Planke in den Anfangskapiteln ausführlich thematisiert. Mit der Flucht nach Shanghai werden diese Figuren zu kleinen Steinchen im großen Mosaik. Es ergeht ihnen im Roman wie in der riesigen Stadt: Sie verschwinden nahezu. „Das Nichts, in dem die Emigranten lebten, wurde schwarz und tief und undurchdringlich dicht wie nie zuvor. Die fremde Stadt schluckte sie auf.“75 Über ihr Leben und vielleicht das anderer Exilanten in Shanghai ist im Roman kaum etwas zu erfahren. Als Bewohner des Hotels Shanghai, in dem sie als Hotelarzt bzw. Barpianist ein karges Auskommen haben, treten Dr. Hain und Kurt Planke zwar noch in Erscheinung, dienen aber vorrangig als Verknüpfungen zwischen anderen Figuren. Als Ausnahme ist eine Szene in einem öffentlichen Krankenhaus der Stadt zu betrachten, in dem Dr. Hain als Kollege der ‚Amerikanerin‘ Pearl Fong arbeitet. Es erregt Verwunderung, dass dieser deutsche Arzt arme, opiumanhängige Kulis in Shanghai behandelt. Dass diese Arbeit für Dr. Hain die einzig verbliebene Möglichkeit zu praktizieren ist, nachdem sich alle Hoffnungen auf eine Approbation in Frankreich oder den USA zerschlagen haben, wird (den Chinesen) jedoch kaum deutlich. Sie wissen, so legt es der Roman Vicki Baums nahe, inmitten ihrer revolutionären Auseinandersetzungen und der Konfrontation mit Japan nichts über den Nationalsozialismus in Deutschland, die Vertreibung und Bedrohung der Juden, den heraufziehenden Krieg in Europa. In diesem Nicht-Wahrgenommen-Werden des Exilschicksals durch die Shanghaier, dem Verschwinden der neu angekommenen Menschen in der Stadt, in der nicht nur räumlich immer weiteren Entfernung von der Heimat steckt (hintergründig) auch der Abgrund des Exils. Als die letzten Verbindungen abreißen, die Briefe aus Berlin ausbleiben, sind Dr. Hain und Kurt endgültig nur noch Dahintreibende, zwei Teilchen des Mikrokosmos Hotel Shanghai, mit dem sie am Ende konsequent untergehen. Die Hoffnung auf Veränderungen der Welt aus eigener Kraft liegt auf Seiten der Chinesen, auch wenn die Situation im Lande weiterhin instabil ist (und es bis 1949 bleiben wird), auch wenn verlustreiche Kämpfe in Gebieten oft wechselnder Machtund Einflusssphären geführt werden. Über die Gäste der Trauerfeier für Sun Yatsen in Berlin schreibt Joseph Roth, ihre „tausendjährigen Augen sehen gar nicht auf das nächste Ziel, weil es selbstverständlich ist, dass man es erreicht. Die tausendjährigen Augen sehen in eine Zukunft nach tausend Jahren.“76
75 Baum: Hotel Shanghai (wie Anm. 56), S. 95. 76 Roth: Chinesen (wie Anm. 1), S. 40.
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Bilder und NachBilder vom Exil in Shanghai in Literatur und Film Vicki Baum – Ulrike Ottinger – Ursula Krechel
I. ‚Exil Shanghai‘ im erinnerungspolitischen Diskurs der Gegenwart Wie für die Erforschung des Holocaust insgesamt gilt auch für die Beschäftigung mit dem Thema ‚Exil in Shanghai‘ die Beobachtung, dass sich der Druck auf die Forschung erhöht hat, seitdem die Zahl der Zeitzeugen immer kleiner wird und die zweite und dritte Generation der Überlebenden eigene Formen der Erinnerung ausbildet. Diese beruhen zwar auf den Erzählungen der Elterngeneration, sind aber durch den späteren Geschichtsverlauf und das inzwischen angehäufte historische Wissen so überformt, dass zwischen Fakt und Fiktion nur schwer entschieden werden kann. Gegenüber anderen Exilorten ist Shanghai lange Zeit von der Exilforschung vernachlässigt worden, seit den neunziger Jahren aber verstärkt ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Die von Pan Guang herausgegebene chinesischund englischsprachige Bild- und Textdokumentation zeigt,1 wie viel Material inzwischen zusammengetragen worden ist. Nach Ausstellungen in Salzburg 1995 und New York 1996 fand im Jahre 1997 die Ausstellung „Leben im Wartesaal. Exil in Shanghai 1938–1947“ in Berlin statt. Erstmals wurde einem breiteren deutschen Publikum deutlich gemacht, dass Shanghai zwischen 1938 und 1947 ein besonderer Zufluchtsort für Juden gewesen ist. Für Shanghai benötigten die Emigranten weder ein Einreisevisum, eine Arbeitserlaubnis noch Kapitalnachweise oder Bürgschaften – Papiere, die in anderen Ländern unabdingbar waren: Sofern es gelungen war, eine Schiffspassage nach China oder eine Fahrkarte für die Transsibirische Eisenbahn zu erwerben, genügte ein Reisepaß, der zur Überschreitung der deutschen Grenze berechtigte und gültige Transitvisa. Nur Zollformalitäten waren noch zu bewältigen. Selbst Häftlinge in deutschen Konzentrationslagern und Gefängnissen konnten unter Umständen freigelassen werden, wenn jemand sie mit einer Schiffspassage freikaufte.2
1 The Jews in Shanghai, compiled and edited by Pan Guang, Shanghai 2005. 2 Petra Löber: Leben im Wartesaal. Exil in Shanghai 1938–1947, in: Amnon Barzel: Leben im Wartesaal. Exil in Shanghai 1938–1947, Berlin 1997, S. 10–41, hier 13.
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Aus den zahlreichen Zeitzeugenberichten, historischen Darstellungen und Einzelstudien lässt sich inzwischen ein recht genaues Bild vom Alltag in Shanghai gewinnen, auch wenn es sicherlich noch manche Forschungslücke gibt.3 Mein Beitrag will nicht diese Forschungslücken schließen, sondern den Blick auf eine Problematik lenken, die nicht spezifisch für das Exil in Shanghai ist, sondern generell im Zusammenhang mit der Darstellbarkeit des Holocaust diskutiert worden ist. In seiner Studie Beschreiben des Holocaust (1997) hat James E. Young die These vertreten, dass man die Darstellung des Holocaust und die Ereignisse des Holocaust nicht losgelöst voneinander interpretieren kann. Denn sowohl die Ereignisse als auch ihre Darstellungen sind letztlich von den Formen, der Sprache und der kritischen Methode abhängig, mit denen sie erfasst werden.4
Was vom Holocaust erinnert wird, hängt unmittelbar davon ab, wie „es erinnert wird, und wie die Ereignisse erinnert werden, hängt wiederum von den Texten“,5 Filmen und Kunstwerken ab, die diesen Ereignissen eine Form geben. Dass es dabei zu historischen Abweichungen und bewussten Umschreibungen von vorgeprägten Bildern kommt, kann also nicht verwundern, stößt aber verständlicherweise gerade bei der ersten Generation regelmäßig auf heftige Gegenwehr. „Die Differenz zur Generation der Zeugen könnte nicht größer sein“,6 haben Manuel Köppen und Klaus R. Scherpe in ihrem Buch Bilder des Holocaust (1997) festgestellt: Deren durch das Mitleiden und Miterleben erzeugter holistischer Anspruch der Darstellung geht mit der Zeit über in eine kaum zu begrenzende Heterogenität der Erfahrungs- und Darstellungsexperimente. Den Zeugen der ersten Generation muß dieses Fortschreiben und Überschreiben als Frevel am primären Text erscheinen, der ja auch Darstellung ist, aber dennoch für sakrosankt erklärt wurde.7
Nicht zuletzt deshalb stellt sich für die zweite und dritte Generation die Frage nach den adäquaten Ausdrucksmitteln und der ‚richtigen‘ Darstellung in besonderer Schärfe, wie James E. Young in seinem Buch Nach-Bilder des Holocaust in zeitgenössischer Kunst und Architektur (2002) konstatiert hat. Die zweite und dritte Generation arbeitet grundsätzlich „nicht mit der Repräsentation von Ereignissen,
3 Vgl. Exil Shanghai 1938–1947. Jüdisches Leben in der Emigration, Berlin 2000 (inkl. CD-Rom mit der Liste von rund 14.800 Ausländern, die im Jahre 1944 im Stadtteil Hong Kew lebten). 4 James E. Young: Beschreiben des Holocaust, Frankfurt/M. 1997, S. 13. 5 Young: Beschreiben des Holocaust (wie Anm. 4), S. 13. 6 Bilder des Holocaust, hg. v. Manuel Köppen u. Klaus R. Scherpe, Köln u.a. 1997, S. 5. 7 Bilder des Holocaust (wie Anm. 6), S. 5.
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die ihrer Erfahrung vorausgehen“, sondern thematisiert „ihre eigene, notwendigerweise hypervermittelte Erfahrung der Erinnerung“.8 Die Erinnerungsarbeit wird „zur Erinnerung an die Erinnerung, eine Vergangenheit aus zweiter Hand.“9 Die Nachgeborenen interessieren sich weniger für die mögliche ‚Authentizität‘ des Dargestellten, sondern lassen vielmehr die Erzähl- und Vorstellungsprozesse hervortreten, welche die Erinnerung prägen. Denn im Gegensatz zur Zeitzeugengeneration vertritt die zweite und dritte Generation die Auffassung, dass „[p] ostmemoriales Eingedenken [...] auf die Erinnerung zurückreflektieren, sie als gleichermaßen konstruiert, als gleichermaßen durch Erzähl- und Vorstellungsprozesse vermittelt offen legen“ sollte.10 Im Falle des Exils in Shanghai weist diese Erinnerungsarbeit eine Besonderheit auf, die sie von Exilerfahrungen in anderen Ländern, zum Beispiel in Mexiko,11 unterscheidet. Die erste Generation der Zeitzeugen tritt mit ihren Erinnerungen mit einer so großen Verzögerung an die Öffentlichkeit, dass sich ihre Aufzeichnungen zeitlich nicht nur mit denen der zweiten und dritten Generation überlagern, sondern auch mit der Forschung überschneiden, die in den neunziger Jahren einsetzt. Es entsteht eine schwierige Gemengelage zwischen ganz verschiedenen Textsorten. Tagebuchnotizen,12 autobiografische Aufzeichnungen,13 Erinnerungen der Kinder
8 James E. Young: Nach-Bilder des Holocaust in zeitgenössischer Kunst und Architektur, Hamburg 2002, S. 7. 9 Young: Nach Bilder (wie Anm. 8), S. 8. 10 Young: Nach-Bilder (wie Anm. 8), S. 26. Vgl. auch Nachbilder des Holocaust, hg. v. Inge Stephan u. Alexandra Tacke, Köln u.a. 2007. 11 Als ‚exotischer‘ Ort hat das ferne Mexiko vielleicht deshalb eine stärkere Aufmerksamkeit gefunden, weil eine Reihe von prominenten Autoren dort Zuflucht gefunden hat. Vgl. Fluchtort Mexiko. Ein Asylland für die Literatur, hg. v. Martin Hielscher, Hamburg u. Zürich 1992; Marcus G. Patka: Zu nahe der Sonne. Deutsche Schriftsteller im Exil in Mexico, Berlin 1999. 12 Survival in Shanghai. The Journals of Fred Marcus 1939–49, hg. v. Audrey Friedman Marcus u. Rena Krasno, Berkeley 2008. Siehe auch Rena Krasno: Strangers always. A Jewish Family in Wartime Shanghai, Berkeley 1992. Krasno ist auch eine der Protagonistinnen in Ottingers Dokumentarfilm Exil Shanghai (1997). 13 Ernest G. Heppner: Fluchtort Shanghai. Erinnerungen 1938–1948, Berlin 2001; Sonja Mühlberger: Geboren in Shanghai als Kind von Emigranten. Leben und Überleben (1939–1947) im Ghetto von Hong Kew, Berlin 2006.
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und Enkel,14 Interviews mit Zeitzeugen,15 Briefausgaben,16 historische Arbeiten zum Exil in Shanghai im Besonderen und zur Geschichte der Juden in China im Allgemeinen17 zeigen, wie komplex das Verhältnis von Geschichten und Geschichte ist. Dieses wird dadurch weiter kompliziert, dass einige der Betroffenen Fiktionalisierungen sehr bewusst einsetzen, um ihre Familiengeschichte dem Vergessen zu entreißen und einem breiteren Adressatenkreis nahe zu bringen. So schreibt Vivian Jeanette Kaplan in ihrem Buch Von Wien nach Shanghai (2005) aus der Perspektive ihrer verstorbenen Mutter und greift dabei auf all die Geschichten zurück, die sie in ihrer Kindheit gehört hat. In ihrem Vorwort schreibt sie: Ich sehe mich nicht als unvoreingenommene, distanzierte Chronistin. Ich bin in Shanghai geboren, das Deutsche ist meine Muttersprache, die deutsche oder, besser gesagt, die Wiener Kultur mein Bildungshintergrund, und die hier versammelten Geschichten habe ich wieder und wieder von meiner Mutter gehört. Die Einzelheiten ihrer Lebensgeschichte sind mir so vertraut, dass mir fast so ist, als hätte ich das alles selbst erlebt.18
Eine solche Form der einfühlenden Fiktionalisierung – die Autorin spricht von einem „kreativen Sachbuch“19 – ist der historischen Distanz zu dem Geschehen geschuldet, im Falle des Exils in Shanghai lässt sie sich interessanterweise jedoch schon während der Exilzeit beobachten. Mit Hotel Shanghai (1939) legte Vicki Baum einen Roman vor, der in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert ist und daher den Auftakt zur Auseinandersetzung mit Narrationen des Exils in Shanghai in Film und Literatur der Gegenwart bilden soll.
14 Steve Hochstadt: Shanghai-Geschichten. Die jüdische Flucht nach China, Berlin 2007, S. 8f.: „Ich habe eine besondere Methode gewählt ihre Worte aufs Papier zu bringen. Aus hundert Interviews, die ich mit Shanghaier Juden führte, wählte ich zwölf Erzähler aus. Ich glaube, daß zu viele Erzähler es dem Leser erschwert hätten, einzelne Erzähler als Personen kennenzulernen. Weniger Erzähler hätten es dem Leser nicht ermöglicht, die Vielzahl der Stimmen zu hören, die wichtig sind, um die schicksalhafte Einwirkung der gewalttätigsten Diktatur der westlichen Welt auf einzelne Familien zu verstehen. Die Verschiedenheit der Herkunft, der Persönlichkeit und des Verhaltens in Europa und in China zeigen deutlich, wie untauglich Stereotypen über Juden sind.“ 15 Henry Greenspan: On listening to Holocaust survivors. Recounting and life history, London 1998. 16 An: Karl Steiner, Shanghai. Briefe ins Exil an einen Pianisten der Wiener Schule, hg. v. Hartmut Krones, Wien 2009. Siehe a. Hellmut Stern: Saitensprünge. Die ungewöhnlichen Erinnerungen eines Musikers, der 1938 nach China fliehen mußte, 1949 nach Israel einwanderte, ab 1956 in den USA lebte und schließlich zurückkehrte als Erster Geiger der Berliner Philharmoniker, Berlin 1990. 17 Vgl. Izabella Goikhman: Juden in China. Diskurse und ihre Kontextualisierung, Berlin 2007. 18 Vivian Jeanette Kaplan: Von Wien nach Shanghai. Die Flucht einer jüdischen Familie, München 2005, S. 9. 19 Kaplan: Von Wien nach Shanghai (wie Anm. 18), S. 9.
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II. „Heimatlos“ – Vicki Baums Hotel Shanghai als Exilroman Hotel Shanghai ist ein merkwürdiger Text. Vicki Baum, eine der erfolgreichsten Autorinnen der Weimarer Republik, die bereits vor der Machtergreifung Hitlers Deutschland verließ und sich erfolgreich in Hollywood etablieren konnte, hat auf einer Asienreise 1937 zwar nur einen kurzen Zwischenstopp in Shanghai eingelegt,20 den Eindruck dieses Aufenthalts aber in einem umfangreichen Roman zum Thema gemacht. Anknüpfen konnte sie dabei an das bewährte Erzählmuster ihres Romans Menschen im Hotel (1929), der international hohe Auflagen erlebte und erfolgreich verfilmt wurde. Das Hotel – Inbegriff einer gesteigerten Mobilität und zunehmenden Vereinzelung und Anonymisierung im Zeichen der Moderne – ist ein idealer Handlungsort, um Menschen aus verschiedenen Kontexten zusammenzubringen. Hotel Shanghai ist aber mehr als ein ‚Hotel-Roman‘, er ist ein ‚Stadt‘-, aber auch ein ‚Exilroman‘, der von der Forschung wenig beachtet worden ist. Baums Protagonisten stammen aus unterschiedlichen Ländern, sozialen Milieus, religiösen und politischen Kontexten. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie alle von den politischen Umwälzungen und den rasanten Modernisierungsprozessen des 20. Jahrhunderts gezeichnet sind. Ihren ursprünglichen familiären und nationalen Kontexten sind sie entfremdet, lange bevor sie im mondänen Shanghai-Hotel von der Autorin zusammengeführt werden. Die Selbstwahrnehmung des Japaners Yoshio Murata, dass er eigentlich „heimatlos“ ist, gilt in gewisser Weise für alle neun Hauptfiguren, gleich ob sie aus Japan, China, Russland, Amerika oder Deutschland stammen.21 Von der Anlage her ist Baums Roman kein ‚klassischer‘ Exilroman, sondern eine Geschichte von Heimatverlust, den auch andere Autorinnen der Weimarer Republik in ihren Romanen zum Thema gemacht haben.22 Baums Roman erzählt von Fremdheitserfahrungen, die neun Menschen nach Shanghai verschlagen, wo sie bei einem Bombenangriff getötet werden. Die Einsicht, nicht wirklich selbst zu leben, sondern nur gelebt zu werden, verweist auf Entfremdungsmomente, die im Rahmen der Geschlechterforschung seit den neunziger Jahren theoretisch neu perspektiviert worden sind. Race, class und gender spielen in Baums Roman eine entscheidende Rolle ebenso wie postmoderne Diskurse über nomadische Existenzformen – auch wenn diese Kategorien erst sehr viel später diskurstheoretisch relevant
20 Vgl. Nicole Nottelmann: Die Karrieren der Vicki Baum. Eine Biographie, Köln 2007, S. 223–226. 21 Vgl. Vicki Baum: Hotel Shanghai, Berlin 1953, S. 230. Zur Entfremdung vgl. a. S. 218. 22 Vgl. Sabine Rohlf: Exil als Praxis – Heimatlosigkeit als Perspektive? Lektüre ausgewählter Exilromane von Frauen, München 2002. Zum aktuellen Stand der Exilforschung in Hinsicht auf literarische Narrative der Erinnerung vgl. Gedächtnis des Exils. Formen der Erinnerung, hg. v. Claus-Dieter Krohn u. Lutz Winckler, München 2010 (Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch, Bd. 28).
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geworden sind. Baums Protagonisten pendeln – zumeist unfreiwillig – zwischen den internationalen Metropolen. Die Autorin führt jedoch an keiner Stelle einen rückwärtsgewandten Heimatdiskurs. Grenzüberschreitende Mobilität erscheint in ihrem Roman durchaus als Chance, die von den Einzelnen jedoch nur sehr unterschiedlich genutzt werden kann. Die Perspektive der Autorin ist dabei einem Emanzipationsdenken verpflichtet, das geprägt ist von ihren eigenen Erfahrungen in der Weimarer Republik. Zugleich reflektiert sie sehr genau die Kosten, welche die Einzelnen für ihre erzwungene oder freiwillige Mobilität zahlen müssen. Die Geschichte der beiden Exilanten, des Berliner Arztes Emanuel Hain und des aus einer nationalsozialistischen Familie stammenden Widerstandskämpfers Kurt Planke, die sich gemeinsam von Paris aus nach Shanghai einschiffen, sind zwei Mosaiksteine in einem vielstimmig angelegten atmosphärisch dichten Roman, der die politische Geschichte aus dem Blickwinkel der krisenhaften Entwicklungen in Europa, Asien und Amerika erzählt. Das Schicksal von Hain, der als Arzt in Shanghai nur unter schwierigen Bedingungen weiter praktizieren kann, und von Planke, der als Barpianist Unterschlupf in einer schäbigen Abstellkammer im Hotel Shanghai findet, sind im Vergleich etwa zu dem Schicksal des chinesischen Kuli Lung Yen zwei relativ unspektakuläre Beispiele für den harten Überlebenskampf, den sowohl die chinesischen Protagonisten als auch die Emigranten „auf dem erbarmungslosen Pflaster von Shanghai“23 führen müssen. Sie bilden dennoch in gewisser Weise das Herzstück des Romans. Baum entwirft das Bild einer Stadt, in dem die berühmt-berüchtigte „Shanghai-Magie“24 – an der sie mit ihrem Roman durchaus partizipiert – gebrochen wird durch den kritischen Blick auf die sozialen Verhältnisse und die Trennungen zwischen den verschiedenen Ethnien. So gibt es im Shanghai-Hotel einen Lift, „um darin Chinesen, Japaner, Inder, Siamesen, Koreaner und all die anderen bunten Gäste zu befördern, deren Nähe und Berührung von den meisten nicht gewünscht wurde.“25 Doktor Hain und Planke gehören zwar zu den privilegierten „Weißen“, als mittellose Exilanten sind sie aber stets in Gefahr, von der fremden Stadt aufgeschluckt zu werden und im „Nichts“26 zu versinken. Zugleich haben in Shanghai, das „moderner als Paris“27 ist, die Unterscheidungen zwischen ‚Ariern‘ und ‚Juden‘ ihre Bedeutung keineswegs verloren, wie Doktor Hain mehrfach erleben muss. Bei der Entfremdung zwischen den beiden Exilanten spielen auch verdeckte antisemitische Ressentiments eine 23 Baum: Hotel Shanghai (wie Anm. 21), S. 146. 24 Vgl. Emily Hahn: Shanghai Magie. Reportagen aus dem New Yorker, aus dem Amerik. übers., hg. mit einem Vorwort von Dagmar Yu-Dembski, Berlin 2009. 25 Baum: Hotel Shanghai (wie Anm. 21), S. 324. 26 Baum: Hotel Shanghai (wie Anm. 21), S. 96. 27 Baum: Hotel Shanghai (wie Anm. 21), S. 349.
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Rolle, wie die folgende Bemerkung von Planke zeigt: „Ich bin in Verhältnisse geraten, die nur ein Jude aushalten kann, ohne zugrunde zu gehen. Die Juden blühen auf im Exil und in der Verfolgung. Unsereiner geht vor die Hunde.“28 Vergeblich versucht Hain, Kontakt zu seiner Frau in Berlin zu halten. Er träumt davon, mit ihr gemeinsam ein neues Leben in San Francisco zu beginnen. Ein Brief reißt ihn jedoch schlagartig aus solchen Fantasien. Seine Frau schreibt an ihren Mann im Exil: Lieber Emanuel! Ich habe lange gezögert, Dir diesen Brief zu schreiben, aber einmal muß es ja doch sein. Ich glaube, daß Du schon ahnen wirst, was er enthält. Du mußt es ebenso gefühlt haben wie ich, daß wir uns in diesen drei Jahren fremder und fremder geworden sind und daß wir einen Punkt erreicht haben, wo überhaupt keine Gemeinschaft mehr zwischen uns besteht. Du bist in fremde Länder gegangen und hast Dich angepaßt. Ich bin hier geblieben und habe eingesehen, daß Deutschland das einzige Land ist, wo ich hingehöre und wo ich leben kann. Ich habe eingesehen, daß unser Führer Recht hat, und ich habe gelernt, an ihn und an das Dritte Reich zu glauben. Damit ist alles gesagt. Es war ein tiefer Fehler, daß wir uns geheiratet haben, und wir haben für diesen Fehler mit unserm Herzblut bezahlt. Ich weiß, daß Du es mir vergönnst, wenn ich versuche, mir aus den Trümmern noch einmal ein Leben aufzubauen, das meinem Wesen und meiner Herkunft entspricht. Dir wünsche ich Glück für die Zukunft, und ich bin sicher, daß Du es mit dem Ehrgeiz, der Geschicklichkeit und der Anpassungskraft Deiner Rasse auch in der Fremde weit bringen wirst. Ich habe die Scheidung gegen Dich eingereicht, die in unserm Fall ohne weiteres gewährt wird. Vergiß mich, wie ich versuche, Dich zu vergessen – Irene29
Obwohl fiktiv, ist dieser Brief so gut erfunden, dass er als Dokument und als hellsichtige Vorwegnahme einer Entwicklung gelesen werden kann, die nach Erscheinen des Romans sehr rasch politische Realität geworden ist. Vicki Baum ist als Erzählerin äußerst sensibel für Antisemitismus und Rassismus jeglicher Art. In ihrer Momentaufnahme einer Stadt – wobei gewisse kolportagehafte Züge nicht verschwiegen werden sollen – stehen die Schicksale der beiden Exilanten beispielhaft für die Ausgrenzungs- und Abstoßungsmechanismen, die in Shanghai trotz seines multikulturellen Flairs wirksam sind. Lange bevor die beiden Exilanten Hain und Planke mit den anderen Protagonisten im Bombenangriff auf das Hotel sterben, geistern sie bereits als ‚Untote‘ durch den Roman: Kurt Planke als „entgleister Mensch“ und Dr. Hain als „verwischtes Gespenst“ aus einer untergegangenen Epoche.30
28 Baum: Hotel Shanghai (wie Anm. 21), S. 583. 29 Baum: Hotel Shanghai (wie Anm. 21), S. 555f. 30 Baum: Hotel Shanghai (wie Anm. 21), S. 614.
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III. Ulrike Ottingers Exil Shanghai als Reiseerzählung Nicht um Fiktion, sondern um Dokumentation geht es in dem Film Exil Shanghai (1997) von Ulrike Ottinger, der sich auf die Lebensgeschichten von sechs Flüchtlingen konzentriert, welche die Filmemacherin in Amerika interviewt hat. Ottingers Film unterscheidet sich von den anderen Dokumentarfilmen zum Thema ‚Exil in Shanghai‘31 zum einen durch seine aufwändige Recherche und ausufernde Länge (281 min), zum anderen durch seinen Anspruch, Exilerfahrung im ‚alten‘ Shanghai mit Eindrücken im ‚neuen‘ Shanghai zu verbinden. Eine solche Montagetechnik ist nicht unproblematisch: Die mit einer fest installierten Kamera aufgenommenen Interviews mit den sechs Exilanten werden mit alten Fotos, Postkarten, Zeitungsausschnitten etc. bebildert und mit populären Schlagern unterlegt und zugleich mit Impressionen aus dem gegenwärtigen Shanghai überblendet, die mit einer mobilen Kamera aufgenommen sind. Die von der Filmemacherin sicherlich nicht intendierten Effekte einer solchen Überlagerung und Konfrontation sind fatal, wie Tanja Nusser in ihrer harschen Kritik an der voyeuristischen und touristischen Kameraführung ausgeführt hat: Scheint der Film den Spuren der deutsch-jüdischen Vergangenheit in Shanghai folgen zu wollen, so überlagert sich diese Spurensuche mit unzähligen Aufnahmen verschiedener Stadttopographien, scheinbar typischer ‚asiatischer Straßenszenen‘, von Radfahrern oder auch Schiffen, die weitaus eher den oben angesprochenen Authentisierungsstrategien folgen, als sich auf die Geschichten beziehen lassen, so dass in dieser Kombination des Bildmaterials ein nicht nur die Erzählungen unterstützender, rückwärts gewandter, mit Melancholie behafteter ‚Erzählgestus‘, sondern auch eine nach vorne gerichtete touristische Wahrnehmung entsteht, die die Geschichten konterkariert. Indem wir den Film, die Geschichte(n) durch das Objektiv von Ottingers Kamera sehen, entsteht das Gefühl eines voyeuristischen Eindringens in das Leben und die Kultur des Fremden und Anderen auf beiden Ebenen.32
In gewisser Weise fällt Ottinger mit ihrer „Überlagerung der beiden ‚Reiseformen‘ Exil und Tourismus“33 hinter die multiperspektivische Erzählweise zurück, die Baum für ihre Narration von Shanghai gefunden hat. Während Baum in ihrem Roman westlich geprägte Positionen ihrer Protagonisten ironisch ausstellt, so zum Bei31 Neben Ottingers Film gibt es eine Reihe von weiteren Dokumentarfilmen: Die Flucht nach Shanghai. Regie: Lutz Mahlerwein, Deutschland 1982 (58 min); Flucht zur aufgehenden Sonne – Überleben in Shanghai. Regie: Diane Perelsztejn, Belgien 1990 (95 min); Hier sind meine Wurzeln, hier bin ich zuhaus. Regie: Chrissy Hemming, Deutschland 1991 (25 min); A place to save your life. Regie: Karen Shopsowitz, Kanada 1992 (52 min); Zuflucht in Shanghai – The port of Last Resort. Regie: Joan Grossman u. Paul Rosdy, Österreich/USA 1998 (76 min). 32 Tanja Nusser: Ein Schiff wird kommen: Das Exil in Shanghai, in: dies.: Von und zu anderen Ufern. Ulrike Ottingers filmische Reiseerzählungen, Weimar u. Wien 2002, S. 165–177, hier S. 175. 33 Nusser: Ein Schiff wird kommen (wie Anm. 32), S. 165.
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spiel wenn die als sympathisch gezeichnete Amerikanerin Ruth sich erstaunt zeigt, wie viele Chinesen in Shanghai leben, und ihr Freund Frank daraufhin trocken bemerkt: „wir sind ja auch in China“,34 produziert Ottinger mit ihren Filmbildern eben diesen Eindruck, dass es in Shanghai von Chinesen nur so wimmelt. Vor allem die Eingangsszene mit den Fahrrad fahrenden Chinesen im Regen, die musikalisch mit dem Sportpalastwalzer unterlegt ist und im Film immer wieder eingeblendet wird, ruft stereotype China-Bilder auf. Mehrfach wird das legendäre Cathay-Hotel in den Blick gerückt, dem gegenüber das 1937 verwüstete Palace-Hotel lag, dem Vicki Baum mit ihrem Roman Hotel Shanghai ein Denkmal setzte. Jenseits der Gemeinsamkeiten gibt es jedoch einen gewichtigen Unterschied: Baum thematisiert Antisemitismus, Fremden- und Frauenfeindlichkeit sowie „Rassenvorurteile“35 direkt und indirekt und unterläuft – wenn auch nicht durchgängig – einen nostalgischen, nationalistisch gefassten Heimatdiskurs, Ottingers Film dagegen basiert auf einem letztlich statischen Begriff von Heimat und bedient gängige Klischees und Vorurteile, obwohl sie sich als Ethnologin bzw. Ethnographin versteht und als Filmemacherin eine eurozentristische Wahrnehmung und Darstellung des Anderen/Fremden gerade überwinden will. Vermutlich ist sie von der Fülle des Interviewmaterials und der Dynamik der Stadt so überwältigt gewesen, dass sie Schwierigkeiten gehabt hat, eine angemessene Erzählform zu finden. Der verständliche Wunsch, die Erinnerungen der Zeitzeugen an ein längst historisch gewordenes Shanghai der dreißiger und vierziger Jahre möglichst authentisch zu bewahren, und die ebenso nachvollziehbare Faszination, die vom Shanghai der neunziger Jahre auf die Filmemacherin ausgegangen ist, produzieren eine filmische Narration, die in ihrer starren Fixierung auf die Interviewten einerseits und in ihrem Schwelgen in touristischen Bildern andererseits in problematischer Weise auseinanderfällt. Neben den Mythos Shanghai tritt eine unfreiwillige Mythisierung des Exils in Shanghai, das in der nostalgischen Rückerinnerung zur verlorenen Heimat verklärt wird. Ungeachtet dessen bleibt der Film aber durch seine ausführlichen Interviews eine wichtige Quelle für die Exilforschung. IV. Ursula Krechels Shanghai fern von wo als Gedächtnisraum Einen anderen Weg geht Ursula Krechel in ihrem Roman Shanghai fern von wo (2008). Ihr Roman ist Dokumentation und Fiktion zugleich. Er schlägt einen Bogen vom Exil in Shanghai in die Gegenwart, lenkt den Blick aber nicht auf den ‚al34 Baum: Hotel Shanghai (wie Anm. 21), S. 404. 35 Baum: Hotel Shanghai (wie Anm. 21), S. 414.
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ten‘ Exilort, sondern wendet sich auch dem ‚alten‘ Heimatort kritisch zu, aus dem die Juden vertrieben worden sind und in dem sie auch in der Gegenwart immer noch unerwünscht sind. Die Autorin ist seit den siebziger Jahren vor allem als Lyrikerin, Essayistin und Hörspielautorin hervorgetreten. Für ihren Roman hat sie mehr als zehn Jahre recherchiert und sich zweimal in Shanghai aufgehalten. Zunächst hat sie die Hörfolge Deutsche Lebensläufe in Shanghai (SWR 1996) verfasst, die Aufnahme in eine von der Hamburger Exilstelle herausgegebene wissenschaftliche Publikation gefunden hat.36 1998 ist im SWR das Hörspiel Shanghai fern von wo gesendet worden. Auf der Basis dieser ‚Vorarbeiten‘ und weiterer intensiver Recherchen in zahlreichen Archiven und Museen in Deutschland und in Israel, die 2002 und 2007 durch Stipendien gefördert worden sind, ist schließlich der Roman entstanden, der von der Kritik hoch gelobt und mit dem „Rheingau Literatur Preis“ (2008) ausgezeichnet worden ist.37 Im Folgenden möchte ich mich auf die Erinnerungspraktiken im Roman konzentrieren. In ihrem Buch Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses (1999) hat Aleida Assmann den Begriff ‚Gedächtnis-Kunst‘ geprägt. Im Gegensatz zur alten Tradition der ars memoria, wo die Kunst dem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen hat, kommt die neue Gedächtniskunst „nicht vor, sondern nach dem Vergessen; sie ist keine Technik oder Präventivmaßnahme, sondern bestenfalls eine Schadenstherapie, ein behutsames Einsammeln zerstreuter Reste, eine Bestandsaufnahme des Verlustes.“38 Um ein solches „behutsames Einsammeln zerstreuter Reste“ und eine „Bestandsaufnahme des Verlustes“ geht es in dem Roman von Ursula Krechel. Vorangestellt sind zwei Zitate, die sich auf den Ort und die Schwierigkeiten des Erzählens beziehen. Das erste Zitat stammt von Salcia Landmann, die sich an ein Gespräch zwischen zwei Emigranten39 erinnert: „,Nach Shanghai.‘ ,Was? So weit?‘ ,Weit von wo?‘“40 Landmann wird damit zur Stichwortgeberin für den Titel von Krechels Buch.41 Das 36 Ursula Krechel: Fluchtpunkte – Deutsche Lebensläufe in Shanghai, in: Exil. Forschung – Erkenntnisse – Ergebnisse 27 (2007), H. 2, S. 60–72. 37 Vgl. die ausgezeichnete Rezension von Ariane Thomalla: http://www.arte.tv/de/J-L/2322114. html (letzter Zugriff: 11.11.2010). 38 Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 360. 39 Krechel verwendet in ihrem Roman durchgängig den Begriff ‚Emigrant‘. Ich folge ihr in dieser Wortwahl, wohl wissend, dass der Ausdruck ‚Exil‘ den Zwang deutlicher macht als der Begriff ‚Emigration‘, mit dem die dauerhafte Umsiedlung in ein anderes Land bezeichnet wird. 40 Die Frage erinnert an die Bildunterschrift „zirka 2000 km Luftlinie weit entfernt – aber von wo?“ in: W[infried] G[eorg] Sebald: Die Ausgewanderten, Frankfurt/M. 1992, S. 83. Siehe a. Antonia Finnane: Far from Where? Jewish Journeys from Shanghai to Australia, Victoria 1999. 41 Ursula Krechel: Shanghai fern von wo. Roman, Salzburg u. Wien 2008.
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zweite Zitat stammt von einem anonymen Emigranten und handelt von der Scham der Überlebenden: „Wir trauten uns nicht, von unserem Überleben in Shanghai zu erzählen. Andere hatten so viel Schlimmeres erlebt und nicht überlebt.“ Als ‚Nachgeborene‘ übernimmt Ursula Krechel als Autorin die Aufgabe, von dem Überleben, aber auch von dem Sterben der Emigranten zu erzählen. Kunstvoll verschränkt sie in den fünfzehn Kapiteln des Romans die Lebensgeschichten von mehr als einem Dutzend Emigranten, die allein – wie der Buchhändler Ludwig Lazarus, der Kunsthistoriker Lothar Brieger und die junge Annette Bamberger –, als kinderloses Paar – wie die kommunistischen Widerstandskämpfer Gunter und Genia Nobel – oder als Familie – wie die Tausigs, Rosenbaums und Kronheims – auf abenteuerlichen Fluchtwegen nach Shanghai gelangt sind. Bis auf die Nobels, die einen klaren politischen Auftrag haben und als ‚Genossen‘ rasch Anschluss an Gleichgesinnte finden, haben die anderen, aus bürgerlichen oder intellektuellen Kreisen stammenden Emigranten es schwer, sich in Shanghai zurechtzufinden. Sie kennen das Land nicht, sprechen die Sprache nicht und kommen überdies in politische Verhältnisse, die sie nicht durchschauen. Sie erleben Shanghai nicht als Metropole der Moderne, sie erliegen nicht dem viel beschworenen Mythos Shanghai, sondern erfahren die Stadt als einen zutiefst gespaltenen Ort, in dem neben unvorstellbarem Reichtum bitterste Armut herrscht. Zunächst dominieren internationale ‚settlements‘ in alter kolonialer Manier, dann wüten die japanischen Invasionstruppen und Besatzer in der Stadt und deutsche Diplomaten versuchen, die ‚Endlösung‘ auf Geheiß Hitlers auch in Shanghai durchzusetzen.42 Später übernehmen die US-Amerikaner die Macht und schließlich erobern die Rotarmisten die Stadt. Die Emigranten fühlen sich als Spielball einer Entwicklung, die von extremer Gewalt geprägt ist. Diese gilt jedoch in erster Linie der chinesischen Bevölkerung und nicht ihnen – auch wenn durch die Einrichtung des Ghettos im Jahre 1943 eine Drohkulisse aufgebaut wird, welche die Flüchtlinge mit Recht das Schlimmste befürchten lässt. Drei Figuren stehen im Mittelpunkt des Romans. Sie sind in ein Geflecht von Beziehungen eingebunden, das hier nicht in den Einzelheiten entfaltet werden kann. Franziska Tausig, auf deren Erinnerungen Shanghai-Passage. Flucht und Exil einer Wienerin (1987) sich die Autorin stützen kann, hat mit ihrem Mann Wien verlassen können, nachdem sie für den Sohn einen Platz in einem Kindertransport nach England organisieren konnte – immer in der Hoffnung, dass sie als Familie irgendwann einmal wieder vereint würden. Während die praktisch veranlagte und tüchtige Franziska Tausig alsbald als Köchin und Bäckerin Arbeit findet, verfällt der Rechtsanwalt Tausig – „Was kann ein österreichischer Rechtsanwalt in Shang-
42 Vgl. Astrid Freyeisen: Shanghai und die Politik des Dritten Reichs, Würzburg 2000.
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hai?“ – zunehmend in Apathie und stirbt schließlich an Tuberkulose.43 Dem Sohn in England verheimlicht die Mutter den Tod des Vaters. Als sie den Sohn schließlich 1947 in Wien auf dem Bahnsteig trifft, sind sich die beiden fremd geworden. „Da kam ein junger Mann auf sie zu und fragte leise: Entschuldigung, gnädige Frau, sind Sie vielleicht meine Mama?“44 Die zweite zentrale Gestalt ist der aus Berlin stammende Kunsthistoriker Lothar Brieger, der nicht durch autobiografische Aufzeichnungen wie Franziska Tausig, sondern durch Gedichte, vor allem durch seine kunsthistorischen Studien Spuren hinterlassen hat, welche die Autorin aufnehmen kann. Bereits in Ottingers Film ist ein Text von Brieger als Dokument eingeblendet. Krechel stößt in Archiven auf Briefe von Brieger an Walter Benjamin, mit dem er über dessen Frau Dora verbunden war. Und sie findet ein Telegramm der Berliner Hochschule für Bildende Künste, mit dem er im Frühjahr 1947 zur Rückkehr nach Berlin aufgefordert wurde, was er als verspätete Anerkennung seiner Arbeit versteht: „Er war der einzige der Emigranten in Shanghai, der zur Rückkehr aufgefordert wurde“.45 Diese Rückkehr wird zum Desaster. In einem Nachruf der Weltbühne heißt es: In dem durch Hitlers Machtwahn zerstörten Berlin, in den völlig veränderten Lebensumständen konnte er sich nicht wieder zurechtfinden. Emigration und die beschwerliche Heimreise hatten seinen anfälligen Körper erschöpft und auch seinen Lebensmut beeinträchtigt.46
Von den zahlreichen kunsthistorischen Arbeiten Briegers werden von Krechel zwei Studien hervorgehoben: das 1918 veröffentlichte Buch Theorie und Praxis des Kunstsammelns, wo er sich über die Schwierigkeiten „des Sammelns ostasiatischer Kunst“47 äußert, und das 1930 erschienene Werk Das Frauengesicht der Gegenwart, in dem er über Gesichter von Frauen nachdenkt, die als Ärztin, Bildhauerin, Rennfahrerin, Studentin, Schauspielerin oder Schriftstellerin den Typus der neuen Frau verkörperten. In Shanghai, so legt es Krechels Roman nahe, sucht er vergeblich nach diesem Typ: In Shanghai gab es solche Gesichter nicht, die Frauen trugen eine andere Bürde, sie waren niedergedrückt vom Notwendigsten, das machte ihn, den Betrachter, traurig, und traurig machte ihn, wie unendlich weit er mit seinen Überlegungen zum Frauengesicht in der Gegenwart von diesen vorbeihuschenden Gesichtern (Gesichterchen?) entfernt war, die schöne Chinesin war
43 Krechel: Shanghai fern von wo (wie Anm. 41), S. 21. 44 Krechel: Shanghai fern von wo (wie Anm. 41), S. 477. Vgl. Franziska Tausig: Shanghai-Passage. Flucht und Exil einer Wienerin, Wien 1987. Dort lautet die Passage: „,Entschuldigung, gnädige Frau‘, sagte er sichtlich verlegen, ‚sind Sie vielleicht meine Mama?‘“ (S. 154). 45 Krechel: Shanghai fern von wo (wie Anm. 41), S. 421. 46 Krechel: Shanghai fern von wo (wie Anm. 41), S. 444. 47 Krechel: Shanghai fern von wo (wie Anm. 41), S. 116.
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eine schöngemachte Chinesin, sie entsprach einem Ideal, sie war biegsam und aufmerksam, sie wollte gefallen, gefiel auch zweifellos, und das war langweilig.48
Die wichtigste Figur im Roman ist der Buchhändler Ludwig Lazarus, der wie Brieger aus Berlin stammt. Er erlangt diese Wichtigkeit nicht nur aufgrund seiner Biografie – zunächst führt er eine renommierte Buchhandlung und nach der Machtübernahme verdient er seinen Lebensunterhalt mit dem kleinen Bücherladen „Die Fundgrube“ und engagiert sich in der Widerstandsbewegung „Neu beginnen“ –, sondern weil er die entscheidende Erzählstimme im Roman ist. Auszüge aus den von ihm besprochenen Tonbändern, Briefen und Eingaben machen Lazarus zu einer Informationsquelle, die über die engere Exilzeit hinaus verweist. Von der Autorin werden die Aufzeichnungen von Lazarus als „Glücksfall des Archivs“49 bezeichnet – in Wahrheit ist er ein geniales Produkt der Imagination. Krechel entwirft Lazarus als eine Figur, die mit allen Emigranten des Romans in Verbindung steht; gleichzeitig unterhält er ein Netz von Korrespondenzen rund um den Globus während des Exils in Shanghai und danach. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland – nicht nach Berlin, sondern nach Hannover – ficht er einen kafkaesken Kampf mit den Wiedergutmachungsbehörden. Die Akten, die sich in den Archiven befinden und aus denen die Autorin zitiert, zeigen, dass Lazarus auf verlorenem Posten steht. In der Konferenz der obersten Wiedergutmachungsbehörde der Bundesrepublik Deutschland wird 1951 lapidar festgestellt: „Das sog. Shanghaier Ghetto war keine Haftstätte“50 und entsprechende Entschädigungsanträge werden daher als unbegründet abgelehnt. Die Liste der verlorenen Bücher, die Lazarus auf Nachfragen der Behörden schließlich in wochenlanger Fleißarbeit zusammenstellt, wird vom Gericht zurückgewiesen: „Es entspreche nicht der Lebensrealität, daß jemand eine so große Zahl von Büchern, die er vor mehr als fünfzehn Jahren in Berlin zurückgelassen habe, aus dem Gedächtnis rekonstruieren könne.“51 Lazarus wird zu einem psychiatrischen Fall. Mit seinem Tod endet das Buch, das mit der Frage „Was ist Tausig für ein Mensch?“52 eröffnet worden ist – eine Frage, die sich auch im Falle von Lothar Brieger, Annette Bamberger wie den Rosenbaums, Nobels und Kronheims stellt. Im Folgenden möchte ich mich jedoch nicht auf diese Frage konzentrieren, sondern den Blick darauf richten, wie im Roman Geschichte erzählt wird. Nicht zufällig spielt die deutsche Sprache – als gesprochene, geschriebene, gedruckte, gehörte und 48 49 50 51 52
Krechel: Shanghai fern von wo (wie Anm. 41), S. 129. Krechel: Shanghai fern von wo (wie Anm. 41), S. 79. Krechel: Shanghai fern von wo (wie Anm. 41), S. 483. Krechel: Shanghai fern von wo (wie Anm. 41), S. 493. Krechel: Shanghai fern von wo (wie Anm. 41), S. 7.
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gelesene – eine wichtige Rolle im Roman. Für alle Figuren bedeutet sie ein Stück Heimat in der Fremde. Deutsche Bücher stellen eine Verbindung zu einem Kulturkreis her, aus dem die Exilanten gewaltsam vertrieben worden sind. Bücher werden zu einer Ersatzheimat, zu einem Schutzwall gegen die fremde Umgebung. Beim Lesen kann man „in eine erzählte stimmige Welt“53 eintauchen oder überraschende Parallelen zum eigenen Leben herstellen. Franziska Tausig zum Beispiel ist eine begeisterte Leserin. In ihrer knappen Freizeit vertieft sie sich in Bücher, die sie bei dem Buchhändler Lazarus kauft. In ihrem Lieblingsroman Die Leute von Seldwyla von Gottfried Keller54 stellt sie eine merkwürdige Übereinstimmung zwischen den Leuten von Seldwyla und den ‚Shanghailandern‘ fest und fühlt sich dadurch ein Stück weit getröstet und erleichtert in ihrem aufreibenden Alltag. Die zentrale Bedeutung der deutschen Sprache hat aber auch einen ganz einfachen Grund: Niemand der Emigranten im Roman spricht Chinesisch oder unternimmt ernsthafte Anstrengungen, es vor Ort zu lernen. Auch Englisch oder andere Fremdsprachen sprechen nur wenige, so dass sie in einer multilingualen Umgebung notgedrungen auf das Deutsche angewiesen sind. Eine Ausnahme ist die kommunistische Untergrundkämpferin Genia Nobel, die aufgrund ihrer Zweisprachigkeit einen Posten beim russischen Radiosender TASS erhält: Genia Nobel hatte ihre Klasse verlassen, aber das Gepäck und die Privilegien ihrer Herkunft hatte sie mitgenommen, die Kontaktfähigkeit, die Weltläufigkeit, die Fähigkeit, sich in eine Sprache einzufühlen, eine Muttersprache, eine Vatersprache, ein angeborenes Russisch, ein rasch erlerntes Deutsch, ein ordentliches Schulenglisch, das Internationale als eine Haltung.55
Auch die junge Annette Bamberger, die „es ganz allein aus Berlin nach Shanghai verschlagen hat“,56 findet sich relativ gut zurecht in Shanghai: „Sie konnte Englisch und Französisch und Autofahren und Stenographie und Maschineschreiben.“57 Sie tippt die Artikel des Kunsthistorikers Brieger und übersetzt sie ins Englische. Die mangelnden Sprachkenntnisse der meisten Emigranten haben jedoch einen interessanten Nebeneffekt: Abgeschnitten von der chinesischen Bevölkerung und den kosmopolitisch orientierten Kreisen in den ‚settlements‘ bauen sich die jüdischen Emigranten eine eigene Kommunikations- und Infrastruktur auf: Die gelbe Post und andere deutschsprachige oder jiddische Zeitungen versorgen die Exilanten mit Nachrichten, deutsche und österreichische Cafes und Geschäfte sprießen wie Pilze aus dem Boden und Theater- und Konzertveranstaltungen bilden Höhe53 54 55 56 57
Krechel: Shanghai fern von wo (wie Anm. 41), S. 33. Krechel: Shanghai fern von wo (wie Anm. 41), S. 314. Krechel: Shanghai fern von wo (wie Anm. 41), S. 224. Krechel: Shanghai fern von wo (wie Anm. 41), S. 123. Krechel: Shanghai fern von wo (wie Anm. 41), S. 123.
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punkte des gesellschaftlichen Lebens für die deutschen Juden. „Im nachhinein wird die Bedeutung der Shanghaier Exilkultur maßlos überschätzt“,58 hat Günter Nobel später als pensionierter Diplomat in der DDR missbilligend zu Protokoll gegeben. Seine Frau und er haben an dieser Exilkultur, die in den letzten Jahren von der Forschung zunehmend in ihrem Reichtum und ihrer Vielseitigkeit erforscht worden ist, nicht teilgenommen. „Unsere persönliche kulturelle Veranstaltung bestand darin, unser Parteilehrjahr zu absolvieren.“59 Für Emigranten wie Lazarus und Brieger ist die Shanghaier Exilkultur dagegen lebensrettend. Mit Unterstützung eines Hilfskomitees gründet Lazarus eine Buchhandlung60 und zieht als „Bücher-Hausierer“61 durch die Emigrantencafes und Geschäfte. Er baut einen Lesezirkel auf, in dem neben Büchern auch Zeitschriften und Zeitungen getauscht werden können. Brieger kann als Buchautor zwar nicht mehr in Shanghai aktiv werden – dazu fehlen ihm die Bücher und die Bilder –, er verfasst jedoch kleinere kunsthistorische Beiträge, die in verschiedenen Shanghaier Zeitungen gedruckt werden. Außerdem schreibt er Gedichte, aus denen sich seine Befindlichkeiten sehr genau ablesen lassen. Beiden Männern gelingt es, durch diese Aktivitäten ein Stück ihrer alten Identität zu bewahren und zugleich am Aufbau des kulturellen Lebens in Shanghai mitzuwirken. Sie wollen aber nicht nur Teil der Exilgeschichte sein, sondern von dieser auch Zeugnis ablegen. Vor allem Ludwig Lazarus versteht sich als Chronist und Erzähler des Exils in Shanghai und wird von der Autorin systematisch in dieser Doppelfunktion in ihrem Roman aufgebaut. Er ist nicht nur ein Sammler von Büchern, sondern auch ein Kollektor von Informationen, die er aus Zeitungen zusammenträgt und weitervermittelt. Durch den Kauf eines gebrauchten Radios62 gelangt er an zusätzliche Nachrichten, die er mit denen aus den Zeitungen abgleicht. Bei seiner Suche nach Neuigkeiten stößt er plötzlich auf einen deutschen Nazi-Sender, der ihm die Erinnerungen an all das wachruft, was er glaubt, in Deutschland zurückgelassen zu haben: „Das Radio vergegenwärtigte das Trauma“.63 Lazarus versucht, die Fülle der auf ihn einstürmenden Nachrichten zu ordnen. Auf einem Tonband hält er fest, was er in Shanghai erlebt, was er hört und liest. Dabei verliert er sich jedoch „immer wieder im Anekdotischen“,64 aus der Geschichte werden Geschichten, die von Ursula Kre-
58 59 60 61 62 63 64
Krechel: Shanghai fern von wo (wie Anm. 41), S. 226. Krechel: Shanghai fern von wo (wie Anm. 41), S. 227. Vgl. Krechel: Shanghai fern von wo (wie Anm. 41), S. 83. Krechel: Shanghai fern von wo (wie Anm. 41), S. 400. Krechel: Shanghai fern von wo (wie Anm. 41), S. 248. Krechel: Shanghai fern von wo (wie Anm. 41), S. 249. Krechel: Shanghai fern von wo (wie Anm. 41), S. 399.
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chel wie Splitter zu einem Erinnerungskaleidoskop neu zusammengefügt werden. Lazarus erzählt und erzählt, aber er findet keine Form für seine Geschichte(n): Die Geschichte von Lazarus stand in keinem Buch, das war ein Fehler für einen Buchhändler. Er konnte sich ein Buch vorstellen, das er schreiben würde, weiträumig, ja, auch ein bisschen uferlos, das Buch läge auf dem Ladentisch in großen Stößen wie eine Hoffnung, Trompetenstöße, Hoffnungsstöße, das Buch, der Mensch, der Buchhandel, der beide auf nützliche und einleuchtende Weise zusammenbrachte. Vielleicht war das Tonband, das er besprochen hatte, eine Hoffnung diesseits des Buches, die zu einem Ergebnis jenseits des Buches führen könnte. Wenn er mündlich erzählte, ergäbe sich daraus eine Schriftlichkeit, und die Schrift tropfte, flösse zuerst nur als ein Rinnsal, dann anschwellend, sprudelnd rauschte sie in ein Buch.65
Es ist die Autorin Ursula Krechel, die dieses Buch, das Lazarus nicht geschrieben hat, nicht schreiben konnte, für ihn schreibt. Darin ist die Geschichte des Lazarus und die der anderen Emigranten zu einer vielstimmigen und eindrucksvollen Erzählung verschmolzen, indem die Autorin die einzelnen Personen in diskreter Weise zueinander in Bezug setzt, Begegnungen erfindet und in Archiven das aufstöbert, was dem Vergessen längst anheim gefallen ist oder vor dem Erinnern bewahrt werden soll. Sie schafft eine Erzählung, in der die verschiedenen Personen und deren Schicksale integriert werden: Alle die Personen waren miteinander verwoben, obwohl sie einzeln waren, vereinzelt, von einer harten Hand in die Welt hinausgeworfen, sie waren miteinander verbunden, Papiere waren aufgehoben oder vergessen worden, abgeschriebene Bänder, Manuskriptbündel, Blätter ohne Seitenzahlen, die leicht durcheinanderfliegen, vergilbte Papiere, beiseite gelegt in Archiven und wieder hervorgeholt von anderen Händen.66
Durch ihre Erzählung, die sich souverän über den „Strom des Geschwätzes“67 und die „Anekdotenmasse“,68 die bereits Lazarus wortreich beklagt, hinwegsetzt, gelingt es Krechel, den Opfern die Würde zurückzugeben, die ihnen zuerst von den Nationalsozialisten, später von den sog. Wiedergutmachungsbehörden geraubt worden ist. Die „Einzelheiten“69 werden zu einem Gesamtbild zusammengefügt, in dem die unterschiedlichen Geschichten aufgehoben sind und als Teil einer gemeinsamen Geschichte erkennbar werden, die bis in die Gegenwart reicht. Im Jahre 2006 kommt Ernst Kronheim, der inzwischen in Israel lebt, erstmals nach Berlin70 – nicht auf Einladung des Berliner Senats wie seine Schwester, die an einem offiziellen Besuchsprogramm teilnimmt, sondern als Teilnehmer einer wissenschaftlichen Konferenz. 65 66 67 68 69 70
Krechel: Shanghai fern von wo (wie Anm. 41), S. 82f. Krechel: Shanghai fern von wo (wie Anm. 41), S. 449. Krechel: Shanghai fern von wo (wie Anm. 41), S. 475. Krechel: Shanghai fern von wo (wie Anm. 41), S. 473. Krechel: Shanghai fern von wo (wie Anm. 41), S. 473. Vgl. Krechel: Shanghai fern von wo (wie Anm. 41), S. 449.
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Diese Rückkehr wird zu einer bedrückenden Bestandsaufnahme von Verlusten. Als er auf eigene Faust das alte Haus in Halensee aufsucht, wird dieses gerade in protzige Eigentumswohnungen mit großen Balkonen umgebaut: „Alles war bereitet für Käufer ohne Gedächtnis, die ihre unschuldige Erinnerungslosigkeit im Sommer auf einem großen Balkon der Sonne aussetzen wollten.“71 Das Grab von Brieger auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee findet Kronheim trotz angestrengter Suche nicht. Stattdessen stößt er bei der Friedhofsverwaltung auf Dokumente, die ihm schmerzlich bewusst machen, dass Brieger in Berlin völlig vereinsamt gewesen sein muss. Krechel bietet keine versöhnliche Erzählung. Anders als manche ‚Shanghailander‘, die im Nachhinein ihrem Schicksal und Leiden einen Sinn zu geben versuchen, verzichtet die Autorin konsequent auf eine solche Sinnstiftung. Sie lenkt den Blick auf die Verluste und verweigert sich jeglicher nachträglichen Heroisierung. Ihr Roman ist aber auch nicht als neutraler Gedächtnisraum angelegt, in dem sich die Grenzen zwischen Opfern und Tätern verwischen, sondern er bezieht engagiert Stellung in den Debatten um Erinnern und Vergessen und zeigt eindrucksvoll, wie literarische Erinnerungsarbeit auf autobiografischen Dokumenten, historischen Arbeiten und eigenen Recherchen im Archiv beruht und wie durch behutsame Fiktionalisierungen und Erfindungen eine neue Narration erzeugt werden kann, die ihre eigene Wahrheit besitzt.
71 Krechel: Shanghai fern von wo (wie Anm. 41), S. 451.
Zu den Autoren
Arnd Bauerkämper, Professor für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Geschichte Großbritanniens im 19. und 20. Jahrhundert; Faschismus in Europa; Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland und der DDR sowie Vergleichs- und Verflechtungsgeschichte Europas. Wichtige Publikationen: Die „radikale Rechte“ in Großbritannien. Nationalistische, antisemitische und faschistische Bewegungen vom späten 19. Jahrhundert bis 1945. Göttingen 1991; Ländliche Gesellschaft in der kommunistischen Diktatur. Zwangsmodernisierung und Tradition in Brandenburg 1945–1963. Köln u.a. 2002; Die Sozialgeschichte der DDR. München 2005; Der Faschismus in Europa, 1918–1945. Stuttgart 2006. Marco Haase, stellvertretender Direktor des Chinesisch-Deutschen Instituts für Rechtswissenschaften an der China-Universität für Politik- und Rechtswissenschaften in Peking. Forschungsschwerpunkte: Rechtstheorie; politische Philosophie; Verfassungsrecht. Wichtige Publikationen: Grundnorm, Gemeinwille, Geist – Der Grund des Rechts nach Kelsen, Kant und Hegel. Tübingen 2004; Der Wille des Volkes und das Problem der Repräsentation. In: K. Graf Ballestrem/V. Gerhardt u.a. (Hg.): Politisches Denken. Jahrbuch 2005, Berlin 2006; Das Ende des Kulturstaates? In: A. Arndt/H. Ottmann (Hg.): Hegels politische Philosophie. Hegel Jahrbuch 2007, Berlin 2008. Almut Hille, Juniorprofessorin für „Deutsch als Fremdsprache: Kulturvermittlung“ an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Kulturstudien, Literatur- und Mediendidaktik im Fach Deutsch als Fremdsprache; Literatur des 20. Jahrhunderts. Wichtige Publikationen: Identitätskonstruktionen. Die „Zigeunerin“ in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Würzburg 2005; Mitherausgeberin des Bandes Weltfabrik Berlin. Eine Metropole als Sujet der Literatur. Würzburg 2006. Hu Wei, Dozentin am Institut für Germanistik an der Peking Universität; Promotion 2006 an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Wichtige Publikationen: Auf der Suche nach der verlorenen Welt. Die kulturelle und poetologische Konstruktion autobiographischer Texte im Exil. Am Beispiel von Stefan Zweig, Heinrich Mann und Alfred Döblin. Frankfurt/M. u.a. 2006; Aufsätze über Johann Wolfgang von Goethe, Bertolt Brecht und Herta Müller.
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Zu den Autoren
Michael Jaeger, Privatdozent für Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin, Autor und Publizist. Zahlreiche Arbeiten zu Goethe und zur Goethe-Rezeption sowie zur Ideengeschichte der Moderne, darunter die Monographien Fausts Kolonie. Goethes kritische Phänomenologie der Moderne. Würzburg 2004 (3. Aufl. 2010) und Global Player Faust oder das Verschwinden der Gegenwart. Zur Aktualität Goethes. Berlin 2008 (3. Aufl. 2010). Luo Wei, außerordentliche Professorin am Institut für Germanistik der Peking Universität; Promotion 2003 an der Freien Universität Berlin. Wichtige Publikationen: „Fahrten bei geschlossener Tür“. Alfred Döblins Beschäftigung mit China und dem Konfuzianismus. Frankfurt/M. u.a. 2004; chin. Übersetzung von Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. Shanghai 2003 (2. Auflage 2008). Volker Mertens, von 1977 bis 2006 Professor für Ältere deutsche Literatur und Sprache an der Freien Universität Berlin. Zahlreiche Publikationen zur Literatur des 12. bis 16. und des 20. Jahrhunderts, zur Musik des Mittelalters und zur Oper; zuletzt: Groß ist das Geheimnis: Thomas Mann und die Musik. Leipzig 2005; Giacomo Puccini. Wohllaut, Wahrheit und Gefühl. Leipzig 2008. Peter Sprengel, Professor für Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Drama und Theater, Literatur um 1900. Zahlreiche Publikationen zur Literatur des 18. bis 20. Jahrhunderts, darunter die Bände zur Literatur zwischen 1870 und 1918 in der Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart. München 1998 u. 2004; zuletzt: Der Dichter stand auf hoher Küste. Gerhart Hauptmann im Dritten Reich. Berlin 2009. Inge Stephan, bis 2009 Inhaberin des Lehrstuhls für „Geschlechterproblematik im literarischen Prozess“ am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen zur deutschen Literatur vom 18. bis 20. Jahrhundert, zu Frauenforschung, feministischer Literaturwissenschaft und Geschlechterstudien; zuletzt: Medea. Multimediale Karriere einer mythologischen Figur. Köln u.a. 2006; Mitherausgeberin der Sammelbände NachBilder des Holocaust. Köln u.a. 2007; NachBilder der RAF. Köln u.a. 2008; NachBilder der Wende. Köln u.a. 2008; Carmen. Ein Mythos in Literatur, Film und Kunst. Köln u.a. 2010. Gregor Streim, Privatdozent am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Literatur der Jahrhundertwende, Literatur- und Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit, Literarische Anthropologie, Erinnerungskultur der Nachkriegszeit. Zahlreiche Publikationen
Zu den Autoren
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zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts; zuletzt: Das Ende des Anthropozentrismus. Anthropologie und Geschichtskritik zwischen 1930 und 1950. Berlin, New York 2008; Einführung in die Literatur der Weimarer Republik. Darmstadt 2009. Dagmar Yu-Dembski, Geschäftsführerin des Konfuzius-Instituts an der Freien Universität Berlin; Herausgeberin der Vierteljahreszeitschrift das neue China. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Sprache und Kultur Chinas; zuletzt: Chinesen in Berlin. Berlin 2007.
Bildnachweis
Abb. 1: Freundlich zur Verfügung gestellt vom Konfuzius Institut, Berlin. Abb. 2: Bundesarchiv, Bild 146-2005-0165. Mit freundlicher Genehmigung des Bundesarchivs. Abb. 3: Freundlich zur Verfügung gestellt von Dagmar Yu-Dembski. Abb. 4: Freundlich zur Verfügung gestellt von Dagmar Yu-Dembski. Abb. 5: Bildvorlage in: Lang Shaojun: Lin Fengmian, Hebei 2002, S. 64. Abb. 6: Bildvorlage in: Lang Shaojun: Lin Fengmian, Hebei 2002, S. 89. Abb. 7: Nachlass Gerhart Hauptmann, Staatsbibliothek Berlin, Sign. GHB 202384. Mit freundlicher Genehmigung der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Abb. 8: Nachlass Gerhart Hauptmann, Staatsbibliothek Berlin, Sign. GHB 204887. Mit freundlicher Genehmigung der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Abb. 9: Titelblatt von: Die gelbe Jacke. Operette in 3 Akten von Victor Léon. Musik von Franz Lehár. Klavierauszug mit Text, Leipzig u. Wien 1922. Abb. 10: Berliner Illustrirte Zeitung vom 18. Juli 1926. Abb. 11: Titelblatt von: Ludwig Herzer u. Fritz Löhner: Das Land des Lächelns. Musik von Franz Lehár. Klavierauszug mit Text, Wien 1929. Abb. 12: bildarchiv preußischer kulturbesitz/Press-Photo-Dienst Schmidt. Mit freundlicher Genehmigung der bpk Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte.
Personenregister
Adorno, Theodor W. 132, 182 Ai Weiwei 9 Alfano, Franco 143f., 150 Amann, Gustav 24, 30 Anz, Thomas 36, 39 Asch, Hannah 17, 175–179 Assmann, Aleida 196 Ba Jing 71 Backhouse, Edmund 108, 122 Bahr, Hermann 124 Bamberger, Annette 197, 200 Bao Hua Karl Yesco Tscheng 136 Baudelaire, Charles 40, 45f. Bauer, Wolfgang 65 Baum, Vicki 17f., 175, 179, 181–185, 190–195 Becker, Carl Heinrich 24, 31 Benjamin, Dora 198 Benjamin, Walter 198 Berg, Alban 132 Berio, Luciano 143 Bernheim, Ernst 30 Bethge, Hans 37, 136 Bhaba, Homi K. 184 Bland, John Otway Percy 108, 122 Boerschmann, Ernst 91 Bögli, Lina 17, 173–176, 184 Böhm, Hans 126 Borodin, Michail 163 Brecht, Bertolt 118 Brieger, Lothar 197f., 201, 203 Buber, Martin 91f., 109, 117 Buck, Pearl S. 182 Busch, Fritz 144 Caesar, Julius 87 Cai Yuanpei 10f., 13, 23, 29, 35, 174 Calvin, Johannes 83 Caruso, Enrico 133 Chen Duxiu 58, 61f. Chen Mingshu 67 Chi Kang 126
Chiang Kai-schek 20, 105 Cixi (Kaiserin-Witwe) 20, 108, 122 Cohn, William 11 Cuno, Wilhelm 113 Dante Alighieri 68 Darwin, Charles 123f. Dauling Hsü 121 Dewey, John 23, 27 Dietrich, Paul 168 Döblin, Alfred 15f., 91–104 Dollfuss, Engelbert 107 Eckermann, Johann Peter 71 Ehrenstein, Albert 91 Eisenberg, Christiane 26 Engels, Friedrich 55, 69, 90 Erkes, Eduard 28 Fang-hsiung Dscheng 91 Fleta, Miguel 144 Forke, Alfred 123 Francken-Sierstorpff, Bertha Gräfin von 118 Frank, Bruno 37 Freud, Sigmund 13, 74 Frobenius, Leo 109 Fu Sinian 30f. Gao Xingjian 9 Gilbert, William 134 Gladstone, William E. 87 Goethe, Johann Wolfgang von 13f., 40, 49–51, 53f., 56, 59–63, 65–75, 97, 99f., 123, 148 Goldmann, Paul 155 Göring, Hermann 115 Groot, Johann Maria de 91 Grosz, George 159 Grube, Wilhelm 91 Grün, Karl 69 Gundolf, Friedrich 69 Guo Moruo 13f., 58, 59–63, 65, 71–75, 90 Haas, Willy 182 Han Ruixin 38 Hauptmann, Gerhart 16, 105–127
212 Hauptmann, Margarete 105, 108, 118, 120 Hauser, Otto 38 Heberle, Brunhilde 37 Heckel, Erich 41 Hedin, Sven 112 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 49, 78, 85–88, 90, 97 Heilmann, Hans 38 Heine, Heinrich 47, 98 Herzer, Ludwig 146 Hesse, Hermann 123 Hesse-Wartegg, Ernst von 155 Hirschfeld, Ludwig 139 Hitler, Adolf 69, 114–116, 197f. Hofmannsthal, Hugo von 141 Holitscher, Arthur 17, 157f., 163–166, 168f., 171 Hu Shi 71 Huelsenbeck, Carl Wilhelm Richard 17, 155–163, 166, 168, 176 Hui Neng 120 Hung Hsiu-ch`ün 122 Humboldt, Wilhelm von 10 Ihering, Herbert 132 Jeschke, Harald 45 Jesus Christus 87, 100 Jones, Sidney 134 Kálmán, Emmerich 135 Kang Youwei 20 Kant, Immanuel 13 Kaplan, Vivian Jeanette 190 Kapp, Wolfgang 113 Katz, Richard 105 Kawakami Hajime 74 Ken Lum 47 Keller, Gottfried 200 Keyserling, Hermann Graf 15, 156f., 161 Kirchner, Ernst Ludwig 36, 41f. Kisch, Egon Erwin 17, 156–158, 167–171 Klabund (i.e. Alfred Henschke) 15, 35–40, 44, 47, 121 Koeppen, Carl Friedrich 91 Kolbenheyer, Erwin Guido 102 Konfuzius 13–15, 50, 51–55, 57–60, 62f., 71, 77, 78–85, 88, 93, 96f., 101f., 109, 118f., 123f., 140, 161, 183
Personenregister
Konwitschny, Peter 137 Köppen, Manuel 188 Körber, Lili 17, 175, 179–181 Kotze, Stefan von 156 Kramer, Arnold 111 Kraus, Karl 132, 149 Krechel, Ursula 18, 195–199, 201–203 Kristeva, Julia 9, 184 Kronheim, Ernst 202f. Ku Hung-Ming 13f., 16, 50–55, 62f., 109f. Kuttner, Stephan 121 La Ksu Feng 136 Landmann, Salcia 196 Lang Shaojun 43 Laotse 96f., 99, 109, 117f., 123 Lazarus, Ludwig 197, 199, 201f. Léhar, Franz 16, 36, 131–133, 135, 138f., 145f., 150, 152 Léon, Lizzy 133f. Léon, Victor (i.e. Viktor Hirschfeld) 133–135, 139f., 146 Li Bai 37–39 Li Hongzhang 52 Li Jinfa 13, 35f., 40f., 44–47 Liang Qichao 20, 67, 124 Liang Zongdai 70f., 75 Lin Fengmian 13, 35f., 40–47 Lin Wengzheng 41, 44 Liu Simu 14, 66, 68–70, 75 Löhner, Fritz 146 Lord Lytton, Victor 168 Lu Xun 10, 13, 58f., 61f., 67, 168 Lubrich, Oliver 175 Ludwig, Otto 111 Luther, Martin 83 Ma Huang Tschung 136 Mach, Ernst 124 Mahler, Gustav 136 Malinowski, Bronislaw 174 Mann, Heinrich 110 Mann, Thomas 144 Mao Zedong 15, 63, 90 Marischka, Hubert 139 Marx, Karl 13, 55f., 62, 74, 78, 85–87, 90, 171 Massary, Fritzi 133
Personenregister
Mehring, Franz 156 Mei Lanfang 171 Mellen, Philip 109, 122 Mozart, Wolfgang Amadeus 148 Müller, Eva 47 Muschg, Walter 91 Napoleon Bonaparte 87 Nedbal, Oscar 135 Nietzsche, Friedrich 13, 40, 97 Nobel, Genia 197, 200 Nobel, Günter [Michael] 197, 200 Nottelmann, Nicole 179 Nusser, Tanja 194 Oehler-Heimerdinger, Elisabeth 177 Offenbach, Jacques 132, 135 Ottinger, Ulrike 18, 194f., 198 Oyama, Hisako 138 Pan Guang 187 Pei Yu Shan 183 Perzyński, Friedrich 122 Piaggio, Manlio 105 Piscator, Erwin 35 Plath, Johann Heinrich 91 Platon 68, 123 Plivier, Theodor 160 Pound, Ezra 115–117 Preetorius, Emil 119 Puccini, Giacomo 16, 132, 134, 138, 141f., 145, 148–152 P’u Sung-ling 120 Ranke, Leopold von 30 Rathenau, Walther 110 Ribbentrop, Joachim von 25 Roda, Elise von 43 Rodgers, Daniel 31 Röhm, Ernst 107 Roselle, Anne 144 Rosenberg, Alfred 69 Roth, Joseph 173, 186 Roubaud, Louis 179 Rousseau, Jean-Jacques 67, 72 Rousselle, Erwin 120, 125f. Russell, Bertrand 111f., 121 Sachs, Hans 149 Schang Yang 123 Scherpe, Klaus R. 188
213 Schiller, Friedrich von 40, 87 Schmidt-Glintzer, Helwig 57 Schmitt, Erich 120 Schopenhauer, Arthur 40 Schuster, Ingrid 37, 103 Schwarz, Vera 149 Shaw, George Bernard 151 Shen Congwen 71 Shen Sui Lin 135 Shippe, Hans (i.e. Heinz Grzyb, Ps. Asiaticus) 156 Simon-Eberhard, Max 105f. Simoni, Renato 141 Smedley, Agnes 156, 168 Sokrates 123 Sorge, Richard 168 Stehr, Hermann 118 Strauss, Richard 141 Stumm-Halberg, Karl Ferdinand von 118 Sullivan, Arthur 134 Sun Fo 105 Sun Yatsen 17, 20, 23, 58, 162, 171, 173, 179, 183, 186 Sun Yushi 45f. Tacitus 117 T’ang Leang-Li 16, 110 Tauber, Richard 16, 144–146, 149f. Taucher, Kurt 144 Tausig, Franziska 197f., 200 Tchou Tsong Han 135, 137 Thomas von Aquin 66 Thyssen, Fritz 69 Tian Han 72f. Toscanini, Arturo 143, 150 Toyka-Fuong, Ursula 41 Trautmann, Oskar P. 11 Tscheng Yi Fu 136 Tschuang-Tse 109, 114, 117 Turner, Samuel 91 Uhse, Bodo 167f. Ular, Alexander 97, 109, 113f., 117f., 123 Valéry, Paul Ambroise 40 Vergil 54 Verlaine, Paul 40, 45 Wagner, Richard 149f. Wang Hsiang-Tschen 120
214 Wang We 121 Weaver, William 142 Weber, Max 14f., 77–90 Webern, Anton von 136 Wedekind, Frank 121, 132 Wei Yuan 56 Werner, Ruth 168 Wilhelm, Richard 11, 15, 53, 55, 91, 109, 117–120, 124 Wilhelm II. 109 Wilson, Woodrow 57 Wittfogel, Karl August 157, 169 Wolf, Eugen 155 Wolf, Friedrich 35
Personenregister
Xu Beihong 48 Xu Zhimo 48 Yang Wuneng 60, 65 Young, James E. 188 Yu Dafu 71 Yuan Shikai 20 Zhang Jingsheng 14, 66–69, 75 Zhang Jungmai 11, 13 Zhang Yimou 9 Zhang Zhidong 50, 52 Zhang Zuolin 159 Zhu De 27 Zhu Jiahua 10f. Zong Baihua 72
Nicol a Spakowski
»Mit Mut an die Front« Die militärische Beteiligung von Fr auen in der kommunistischen Revolution Chinas (1925–1949)
In einem historisch kaum vergleichbaren Ausmaß waren Frauen an den Aufständen und Kriegen im Rahmen der kommunistischen Revolution Chinas beteiligt. Ihre Tätigkeiten reichten vom Sanitäts- und Propagandadienst über die Produktion kriegsrelevanter Güter bis zur Teilnahme am Kampf und der Befehligung militärischer Einheiten. Das Buch beleuchtet die unterschiedlichen Motive und Erwartungen von Frauen, die zur Unterstützung der Verteidigung bereit waren, und verfolgt die Herausbildung militärischer Strukturen, in denen Frauen je nach Kontext unterschiedliche Funktionen wahrnahmen. Insgesamt wird gezeigt, dass die militärische Beteiligung von Frauen in der kommunistischen Revolution nicht Voraussetzung, sondern integraler Bestandteil der Umgestaltung der chinesischen Gesellschaft war. In enger Zusammenarbeit zwischen Armee, Partei und Frauenorganisationen wurden Frauen für den Krieg und den Aufbau einer neuen Gesellschaft mobilisiert, in der sie mit Rechten ausgestattet wurden und öffentliche Rollen wahrnehmen konnten. Die subjektiven Erwartungen einzelner Frauen wurden in der konkreten militärischen Praxis hingegen vielfach enttäuscht. 2009. XI, 420 S. Gb. 155 x 230 mm. ISBN 978-3-412-20294-1
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