Deskription, Evaluation, Präskription: Trialismus und Trifunktionalismus als sprachliche Grundlagen von Ethik und Recht [1 ed.] 9783428476985, 9783428076987


133 87 50MB

German Pages 475 Year 1993

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Deskription, Evaluation, Präskription: Trialismus und Trifunktionalismus als sprachliche Grundlagen von Ethik und Recht [1 ed.]
 9783428476985, 9783428076987

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

DIETMAR v. d. PFORDTEN

Deskription, Evaluation, Präskription

Schriften zur Rechtstheorie Heft 155

Deskription, Evaluation, Präskription Trialismus und Trifunktionalismus als sprachliche Grundlagen von Ethik und Recht

Von Dietmar v. d. Pfordten

Duncker & Humblot * Berlin

Die Arbeit wurde am 1. 1. 1992 abgeschlossen.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Pfordten, Dietmar v. d.: Deskription, Evaluation, Präskription : Trialismus und Trifunktionalismus als sprachliche Grundlagen von Ethik und Recht / von Dietmar v. d. Pfordten. - Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 155) Zugl.: München, Univ., Diss., 1990 ISBN 3-428-07698-2 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-07698-2

Meinen Eltern

Vorwort

Herrn Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Arthur Kaufmann schulde ich großen Dank für die Betreuung der Arbeit, wesentliche Anregungen und langjährige wohlwollende Förderung. Herr Prof. Dr. Lothar Philipps hat zu Beginn meines juristischen Studiums mein Interesse ffir die Rechtsphilosophie geweckt und mich seitdem freundlich unterstützt. Er hat mich insbesondere beim präskriptionslogischen Teil beraten. Herrn Prof. Dr. Roland Wittmann bin ich ffir wichtige Anmerkungen verbunden. Vielfaltigen Dank ffir wertvolle Verbesserungsvorschläge und technische Hilfe schulde ich überdies Frau Dr. Sabine Thürmel, Frau Dorothea Betz, M.A., Frau Agnes Hach, Frau Angela Schütz, Herrn Matthias Grässlin, M.A., Herrn Reinhard Peters, Herrn Dipl. Ing. Hans Uretschläger, Frau Ute Döpfer, Herrn Dr. Lorenz Schulz, Frau Monika Gruber und Frau Dagmar Mirbach, M. A. Viel verdanke ich auch der anregenden und motivierenden Atmosphäre des Münchener Instituts ffir Rechtsphilosophie und Rechtsinformatik und seinen Mitgliedern und Gästen, insbesondere dem traditionellen Donnerstagsseminar. Zu danken habe ich schließlich der Studienstiftung des Deutschen Volkes, die mich nicht nur als Student, sondern auch mit einem Promotionsstipendium unterstützt hat. Dietmar v. d. Pfordten

Inhaltsverzeichnis

Α. Einleitung I. Der Ausgangspunkt Π. Die zentrale These

21 21 23

ΙΠ. Sprachphilosophie und sprachanalytische Philosophie

25

I V . Sprache, Ethik und Recht

26

V . Theorien der Metaethik V I . Ethik und Metaethik V I I . Metaethik und Argumentationstheorie V m . Sprachanalytische Philosophie und Rechtstheorie I X . Der Gang der Untersuchung

28 31 32 35 36

B. Theorien der Bedeutungserklärung

39

I. Methodischer Holismus

39

Π. Empirisch-ontologischer Grundrahmen

41

ΙΠ. Sprache als funktionales menschliches Verhalten

44

I V . Einzelne Modelle der Bedeutungserklärung

46

1. Die realistisch-referentiellen Bedeutungstheorien (Abbildtheorien)

47

a) Die klassisch-dreigliedrige Version

48

b) Herder, Hamann, Hegel, Humboldt

53

c) Frege

55

d) Husserl und Heidegger

57

10

Inhaltsverzeichnis

e) Peirce

59

f) Der frühe Wittgenstein

60

g) Carnap und moderne Versionen des Intensionalismus

62

h) Die Verifikationstheorie der Bedeutung

64

i) Putnam

65

2. Behavioristische Bedeutungstheorien

68

3. Pragmatische Bedeutungstheorien

71

a) Die Position des späten Wittgenstein

72

b) J. L. Austins Sprechakttheorie

76

4. Strukturalistische bzw. kontextuelle Bedeutungstheorien

78

5. Neostrukturalismus bzw. Postmoderne

81

6. Soziale Bedeutungstheorien

82

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung I. Defizite der dargestellten Modelle II. Der trialistische Rahmen

84 84 91

1. Kritik des zweipoligen Kommunikationsmodells

92

2. Das trialistische Modell

96

ΙΠ. Zu einer trialistischen Tradition

98

I V . Habermas* Universalpragmatik

103

V . Die Neutralität des trialistischen Modells V I . Spezifikation des trialistischen Modells

113 114

1. Die Unzulänglichkeit der behavioristischen Theorie

114

2. Die Äußerungssituation

117

a) ülokutionärer Akt, Tätigkeit, Kommunikationssituation, Lebensform

117

b) Fünf Axiome zum Verhältnis von Äußerungsinhalt und -situation

122

c) Schlußfolgeningen

126

Inhaltsverzeichnis

3. Die Referenz

127

a) Amplifikation des Anwendungsbereichs und Reduktion des Erklärungsanspruchs

127

b) Konventionalität

131

c) Extension - Intension

133

d) Meinen und Verstehen

151

e) Bedeutung und Verifikation

154

4. Strukturelle Bestimmung V I I . Zusammenfassung

D. Theorien der Metaethik und der Trialismus I. Metaethik Π. Die Anfange

155 160

164 164 164

ΙΠ. Hobbes' subjektiver Naturalismus

167

I V . Humes differenzierte Position

168

V . Strikter Naturalismus V I . Kritik am Naturalismus V I I . Intuitionismus 1. Moores Version des Intuitionismus

169 170 172 173

a) "Gut" als einfaches, nichtnatürliches Prädikat

173

b) Kritik

175

2. v. Kutscheras Wertobjektivismus

176

a) Das Korrespondenzprinzip

176

b) Kritik

177

V i n . Intersubjektiv-subjektiver Naturalismus

178

I X . Starker Emotivismus

179

X . Gemäßigter Emotivismus

182

12

Inhaltsverzeichnis

1. Die bedeutungstheoretischen Grundlagen

182

2. Emotive und deskriptive Bedeutung

184

3. Zwei Analysemuster

184

4. Zum Verhältnis beider Analysemuster

188

5. Kritik

189

6. Spätere Korrekturen

192

X I . Nowell-Smith' pragmatischer Multifunktionalismus

193

1. Der pragmatische Ansatz

194

2. Kontextuelle Implikationen

195

3. Differierende Grundfunktionen verschiedener Wortarten

196

4. Die Funktion von "gut", "richtig", "sollte"

198

5. Verhältnis zum Emotivismus

200

6. Kritik und Relation zum trialistischen Modell

200

X I I . Kognitivismus - Nonkognitivismus

202

X I I I . Hares Universeller Präskriptivismus

204

1. Hares Position vor Rezeption der Sprechakttheorie

205

a) Satzbedeutung

208

b) Satzbeziehungen

211

c) Wortbedeutung

215

2. Hares Position nach Auseinandersetzung mit der Sprechakttheorie

219

a) Zustimmend radikalisierende Haltung

219

b) Programmatische Infragestellung des dualistischen Modells

221

c) Kritik

222

X I V . Neonaturalistische Positionen

223

1. Restriktion des Bewertungsbereichs

223

2. Antipräskriptiver Sprachpurismus

224

3. Die Attributionstheorie des Wortes "gut"

225

4. Bestimmung des "Moralischen" durch das Wohl des Menschen

226

Inhaltsverzeichnis

E. Der Hiatus zwischen Evaluation und Präskription I. Die Bifunktionalität der praktischen Sprache

228 228

Π. Die Zwitterfunktionalität der "sollte"-Sätze

230

ΠΙ. Die Universalisierbarkeit der "sollte"-Sätze

232

I V . Hares Elimination der evaluativen Komponente

233

V . Der Alltagssprachgebrauch V I . Zur philosophischen Tradition der Unterscheidung

234 235

V n . Fälle des Auseinanderfallens beider Funktionen

238

V m . Konsequenzen fur das Phrastik-Neustik-Modell

240

I X . Radbruch und die Gesetzestreue des Richters

240

X . Sokrates' Haltung im Gefängnis

241

F. Vom Trialismus zum Trifunktionalismus

243

I. Die drei Teilfunktionen

243

1. Deskription

244

2. Evaluation

245

3. Präskription

247

Π. Die drei Verhaltenselemente

249

ΙΠ. Genauere Bestimmung des Gegebenheitsbereichs

249

I V . Frage, Versprechen, Optativ, Zweckaspekt

251

V . Verhältnis zu Referenz, Pragmatik und Struktur V I . Trifunktionale Kategorisierung der Sprechakte

254 255

V n . Eine Methode der Analyse

256

V m . Zur Funktion der Wertung

256

I X . Bewertung, Zweckbestimmung, Bedeutungsgebung X . "gut" als Bilanzwort

259 260

14

Inhaltsverzeichnis

G. Intrafunktionale Beziehungen I. Einengung des Anwendungsbereichs Π. Ausdehnung des Anwendungsbereichs (Universalisierung)

264 264 265

1. Die Universalisierbarkeit von Deskriptionen

265

2. Die Universalisierbarkeit von Evaluationen

266

3. Die Universalisierbarkeit von Präskriptionen

267

H. Interfunktionale Beziehungen

280

I. Beziehungen zwischen Deskriptionen und Evaluationen

280

1. Ableitungen von Deskriptionen aus Evaluationen

280

2. Ableitung von Evaluationen aus Deskriptionen

281

a) Funktionale Einschränkungen des Prinzips freier Bewertbarkeit

282

b) Anthropologische Einschränkungen

283

c) Moralische Einschränkungen

284

d) Personale Einschränkungen

285

3. Ein materiell-strukturelles Begründungsmodell

286

4. Der Dialog

289

Π. Beziehungen zwischen Evaluationen und Präskriptionen

290

1. Ableitung von Evaluationen aus Präskriptionen

290

2. Ableitung von Präskriptionen aus Evaluationen

291

ΠΙ. Beziehungen zwischen Deskriptionen und Präskriptionen

293

1. Ableitungen von Deskriptionen aus Präskriptionen

293

2. Ableitungen von Präskriptionen aus Deskriptionen

294

I V . Zusammenfassung

295

I. Ausgangspunkte einer trifunktionalen Logik der Präskriptionen

296

I. Grundannahmen von deontischer Logik und Normlogik

296

Inhaltsverzeichnis

Π. Die drei logischen Grundoperatoren

300

ΙΠ. Zum Argument des Präskriptionsoperators

300

I V . Intraaigumentative Beziehungen

303

V . Interoperatorische Beziehungen

310

V I . Interfunktionale Beziehungen V n . Das VeAot V m . Erlaubnis und Rücknahme als Deskriptionen I X . Qualifikation

J. Zur Bedeutung der Rechtssprache I. Die deskriptiv-monistische Interpretation der Rechtssprache

318 320 322 328

329 331

1. Das "Sollen" als objektive Tatsache

331

2. Das "Sollen" als psychosoziale Realität

332

3. Die Wahiheitsfunktionalität von Rechtsaussagen

332

4. Rechtsrealismus und Rechtspragmatismus

333

5. Die deskriptive Sanktionstheorie

334

Π. Die präskriptiv-monistische Interpretation der Rechtssprache

335

1. Die Theorie der Zwangsbefehle

335

2. Die Imperativentheorie

336

3. Die Sanktionstheorie der Normen

338

4. Zu einer differenzierten Position

342

5. Die Kulturnormtheorie

344

6. Abgeschwächte Versionen der monistisch-präskriptiven Theorie

345

ΙΠ. Theorien der Zweistufigkeit der Bedeutung

346

1. Bindings Normtheorie

347

2. Die Theorie der geltungsanordnenden Bestimmungssätze

348

3. Norm und Normsatz

349

16

Inhaltsverzeichnis

I V . Eine pragmatische Position V . Die Permissiventheorie V I . Die dualistisch-deskriptiv-präskriptive Interpretation der Rechtssprache V I I . Bestimmungsnorm und Bewertungsnorm

351 351 352 353

1. Mezgers Unterscheidung

353

2. Andere Interpretationen dieser Unterscheidung

354

V i n . Regeln, Prinzipien und Weitungen DC. Die Position von BVerfG und BGH X . Der Multifunktionalismus X I . Eine trifunktionale Bedeutungstheorie der Rechtssprache 1. Die Gesetzessprache

357 359 361 365 365

a) Verhaltensanleitung und Verhaltensbeeinflussung

365

b) Der Adressat von Rechtsnormen

367

c) Subjektive Rechte im Zivilrecht

370

d) Materielle Strafrechtsnormen

371

e) Erlaubnisse und Derogationen

372

f) Ermächtigungen

372

g) Definitionen und Begriffsbestimmungen

373

h) Evaluationen im Recht

374

i) Zusammenfassung

375

2. Die Urteilssprache

376

a) Zivil- und Verwaltungsgerichtsurteile

377

b) Strafurteile

379

c) Zusammenfassung

380

3. Die Gerichtssprache

380

4. Die Verwaltungssprache

381

5. Die Vertragssprache

381

6. Die Rechtswissenschaftssprache

382

Inhaltsverzeichnis

Κ . Sein, Werten, Sollen

386

I. Sein und Sollen

387

1. Anfange

387

2. Humes Formulierung des Sein-Sollen-Dualismus

389

3. Kants Restriktion des Dualismus

390

4. Hegels Kritik

391

5. Die Einfuhrung des Wertbegriffs

392

6. Die Haltung der Rechtsphilosophie

396

7. Methodenlehre und Rechtspraxis

397

8. Deskription und Präskription

398

9. Sein, Werten, Sollen

400

Π. Rechtssprache und Allgemeinsprache

401

1. Die Sonderfallthese

402

2. Die normative, differenzierende Einflußthese

408

ΙΠ. Topoi, System, Struktur

409

1. Die Systemthese

409

a) Ein System der Normen

411

b) Wertrelativistisch-deduktive Systeme

412

c) Ein nichtdeduktives System

415

d) Autopoietische systemtheoretische Ansätze

419

2. Die Topikthese

421

3. Die Strukturthese

423

I V . Von der Wertungsjurisprudenz zu einer trifunktionalen Jurisprudenz

427

1. Die Vereinseitigung der Begriffsjurisprudenz

428

2. Die Vereinseitigung der Interessenjurisprudenz

428

3. Die Vereinseitigung der Wertungsjurisprudenz

429

4. Eine trifunktionale Jurisprudenz

433

V . Auslegung, Bedeutungsbegründung, Rechtsfortbildung

2 v. d. Pfordten

433

Inhaltsverzeichnis

18

1. Auslegung

435

2. Bedeutungsbegründung

438

3. Rechtsfortbildung

440

V I . Recht, Ethik und Moral

440

L. Zusammenfassung

445

Literaturverzeichnis

449

"Die Qual der Sein-Sollen-Problematik ist die Eigenheit des mitteleuropäischen Rechtskreises." Wolfgang Fikentscher (1976), Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. ΙΠ , S. 11.

"Die in Rede stehenden Aufgaben könnten leichter bewältigt werden, wenn zwischen der Metaethik und der Rechtstheorie eine engere Zusammenarbeit bestünde. " Kazimierz Opalek (1986), Theorie der Direktiven und der Normen, S. 12.

"Aus Tatsachen läßt sich aber in keinem Falle ohne weitere Prämissen darauf schließen, wie entschieden werden soll! Als weitere Prämissen sind Bewertungen der Tatsachen erforderlich. H Hans-Joachim Koch und Helmut Rüßmann (1982), Juristische Begründungslehre, S. 227.

Α. Einleitung

Ι . Der Ausgangspunkt

Ausgangspunkt der nachfolgenden Untersuchung ist die Beobachtung, daß sich in unterschiedlichen Bereichen der praktischen Philosophie (im weitesten Sinn) jeweils explizit oder implizit bestimmte grundlegende Problemkonstellationen stellen, fur die sich auffallende Similaritäten konstatieren lassen : In der Rechtsphilosophie taucht immer wieder aufs neue in verschiedenster Form die Frage nach dem Verhältnis von "Sein" und "Sollen", von Faktizität und Normativität auf, die insbesondere auch fur die grundsätzliche Kontroverse zwischen Vertretern naturrechtlicher und rechtspositivistischer Positionen problemgenerierend wirkt 1. In der Metaethik herrscht seit Jahrzehnten Streit, ob die praktische Sprache ähnlich wahrheitsfähig und damit funktional deskriptiv ist, wie die Sprache der Behauptungsäußerungen2. In der deontischen bzw. juristischen Logik findet sich schließlich die Kontroverse, ob Präskriptionen deskriptiv zu interpretieren bzw. durch Deskrip-

1

Vgl. etwa Kaufmann (1976a), Problemgeschichte der Rechtsphilosophie, S. 91 und passim.

Vgl. zu weiteren Nachweisen und einer ausfuhrlichen Darstellung das Kapitel Κ . I. - Zitiert wird hier wie nachfolgend mit Namen des Autors und in Klammern dem Jahr der Erstausgabe - soweit zu ermitteln, sonst das Jahr der verwendeten Ausgabe -, gegebenenfalls mit einem zusatzlichen Kleinbuchstaben bei mehreren Werken eines Autors in einem Jahr. Der Titel des Werks wird nur beim Erstzitat beigefugt. Seitenzahlen mit "p." (wie "page", "page", "pagina") beziehen sich auf die nichtdeutsche orginalsprachige Ausgabe, solche mit "S." auf die deutschsprachige, "m. w. N." bedeutet "mit weiteren Nachweisen", "FN" "Fußnote". Vgl. auch den Beginn des Literaturverzeichnisses. 2

Vgl. v. Kutschern (1982), Grundlagen der Ethik, S. 47ff und das Kapitel D.

22

Α. Einleitung

tionen zu substituieren sind oder eine eigenständige Interpretation mit (partiell) originären logischen Theoremen aufzubauen ist3. Diese drei Problemsyndrome aus unterschiedlichen Zweigen der praktischen Philosophie weisen signifikante Ähnlichkeiten auf: 1. Es handelt sich jeweils um eine Auseinandersetzung zwischen einer dualistischen und einer monistischen Position in der Bestimmung von grundlegenden Theorieelementen. 2. Entscheidet man sich fur den dualistischen Ausgangspunkt, so wird das Problem des Verhältnisses der beiden Grundkategorien virulent, wobei allerdings die entsprechenden Vermittlungsschwierigkeiten auch wieder einen Rückkopplungseffekt auf die Ausgangsentscheidung haben. 3. Für alle drei Teilbereiche der praktischen Philosophie besteht insofern ein basales Problem, dessen Lösung oder Beantwortung weitreichende Folgerungen auf die weitere Theorieentwicklung hat. 4. Bezüglich der Problemlösung stellt sich jeweils die Frage, welche funktionalen Grundkategorien die praktische Sprache aufweist. Es handelt sich somit nicht um ein ontologische oder epistemische, sondern um eine semantisch-funktionale Kategorisierung. Die letzte Aussage mag - außer fur die Metaethik, die ja explizit die Frage nach der Funktion der praktischen Sprache stellt - nicht ohne weiteres einleuchten. Aber auch die deontische Logik kommt im Rahmen der Formalisierung der praktischen Sprache nicht ohne eine - zumindest implizite - semantische Interpretation aus4. Das rechtsphilosophische Sein-Sollen-Problem muß schließlich bei näherer Betrachtung nicht als Verhältnis verschiedener ontischer Gegebenheiten, sondern als Relation divergierender Sprachfunktionen verstanden werden, denn nur mit Bezug hierauf wird es virulent. Die natürlichen Kausalgesetzlichkeiten entfalten keine präskriptive Kraft gegenüber dem Menschen und sind deshalb Bestandteil des "Seins", nicht des "Sollens". Erst die sprachliche Formulierung konstituiert ein "Sollen" als Präskription, dem dann aber nicht das "Sein" gegenüberzustellen ist, sondern die Sprachform der Beschreibung5. 3 Vgl. v. Kutschern (1973), Einführung in die Logik der Normen, Weite und Entscheidungen, S. 14 und das Kapitel 1.1. 4

Vgl. zu einer ausfuhrlicheren Darstellung das Kapitel 1.1.

5

Vgl. zu einer ausfuhrlicheren Argumentation das Kapitel Κ . I. 8.

Π. Die zentrale These

23

Insgesamt fokussieren die drei angesprochenen Problemkonstellationen somit in der Frage nach der Funktion der praktischen Sprache, also der Kernfrage der Metaethik, die aber insoweit nachfolgend auch als "Metarechtstheorie" bzw. "Metalogik" verstanden werden kann, weil man davon ausgehen muß, daß die semantischen Grundkategorien auch für die Rechtstheorie und die deontische Logik einheitlich gelten. Die Untersuchung wird zu einem Ergebnis fuhren, das jenseits der jeweiligen Auseinandersetzung von Monismus und Dualismus steht, diesen gordischen Knoten also nicht entwirrt, sondern quasi durchschlägt.

Π. Die zentrale These

Die Untersuchung entfaltet eine zentrale These, die sich wie ein roter Faden durch alle Überlegungen zieht und im Titel zum Ausdruck kommt. Danach besteht die grundlegende menschliche Kommunikationssituation in einem Dreieck von Sprecher, Hörer und objekthaften Gegebenheiten. Diese unaufhebbare sog. trialistische Konstellation bedingt die Ausprägung dreier zentraler Sprachfunktionen, die jeweils die Bezugnahme auf einen der Dreieckspunkte betonen, nämlich Deskription, Evaluation und Präskription. Darin besteht der Kern der trifunktionalen These. Diese sprachfunktionale triadische Grundkategorisierung hat weitreichende Konsequenzen fur das Verständnis ethischer und juristischer Begründungen. Dabei wird sich erweisen, daß sich aus dieser veränderten semantisch-metaethischen Perspektive auch neue Erklärungen rechtsphilosophischer Probleme ergeben. Führt man Gespräche mit NichtWissenschaftlern, so läßt sich feststellen, daß sowohl das trialistische Modell als auch die trifunktionale Kategorisierung ^

Betont werden muß,

daß diese trialistische Konzeption nichts mit zwei anderen

rechtstheoretischen Positionen zu tun hat, die ähnlich bezeichnet wurden: (1) Nach Radbruch (1914), Rechtsphilosophie, S. 118, F N 3, haben verschiedene Rechtsphilosophen (Lask, Mayer, Sauer u.a.) die Ansicht vertreten, daß zwischen Wirklichkeitsurteil und Wertbeurteilung, zwischen Natur und Ideal, noch die Kultur als vermittelndes Drittes berücksichtigt werden müsse und nannten diese Position ebenfalls "Trialismus". (2) Nach Kubes (1980), Die Brünner Schule der Reinen Rechtslehre, S. 14, versuchten Englis und der späte Weyr als Vertreter der sog. Brünner

rechtstheoretischen

Schule

den

Sein-Sollen-Dualismus

Konzeption von Normologie, Teleologie und Ontologie zu überwinden.

durch

eine

trialistische

Α. Einleitung

24

den Gesprächspartnern zumeist intuitiv relativ einleuchtend erscheinen. Umso mehr verwundert es, daß sich mit Blick auf verschiedene Wissenschaftszweige ein disparates Bild ergibt: In der Linguistik ist die trialistische Konstellation durch das Modell von Bühler7 Allgemeingut. Was dort allerdings - soweit ersichtlich - fehlt, ist die Inbezugsetzung zu den Begriffen der Deskription, Evaluation und Präskription und die Frage nach der Begründungsrelation der einzelnen Sprachfunktionen zueinander. Dagegen verwundert es umso mehr, daß weder sprachanalytische Philosophie, Metaethik, deontische Logik oder Rechtstheorie8 - soweit ersichtlich - bisher, von Ansätzen abgesehen9, in diese Richtung gegangen sind. Wie die oben dargestellten Problemkonstellationen gezeigt haben, herrscht hier nach wie vor die Auseinandersetzung zwischen monistischen und dualistischen Positionen vor. Dazu kommt fur die praktische Philosophie, daß das Verhältnis von Sollen und Wert, von Präskription und Evaluation bisher als ungeklärtes Desiderat gelten muß10. Zwischen den Begriffen "Wert" und "Norm" wird nicht stringent differenziert. Beide werden vielmehr einem diffusen "normativen" Bereich zugeordnet. Die nachfolgenden Teile der Einleitung dienen - insbesondere für den Nichtexperten in der sprachanalytischen Philosophie bzw. Metaethik - dazu, den Kontext der gegenwärtigen philosophischen und rechtsphilosophischen Diskussion zum aufgeworfenen Gegenstand der Untersuchung abzustecken. Wer sich hierin auskennt, mag sie überschlagen.

7

Bühler (1934), Sprachtheorie, S. 28.

ο Im folgenden soll sich "Rechtsphilosophie" wie die Ethik hauptsachlich auf die Frage der inhaltlichen Begrûndbarkeit gesetzlicher und rechtsdogmatischer Entscheidungen beziehen, wahrend sich die Rechtstheorie wie die Metaethik mit sonstigen theoretischen Fragen, insbesondere der Sprachstruktur, beschäftigt, die über die Frage der Begfündbarkeit hinausgehen. Vgl. zur Frage der Abgrenzung von Rechtstheorie und Rechtsphilosophie: Kaufmann (Hg.) (1971), Rechtstheorie; Larenz (1960), Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 183f; Kunz (1977), Die analytische Rechtstheorie: Eine "Rechtstheorie ohne Recht?, S. 8, 17f, 38 und passim m. w. Ν . ; Schroth (1972), Was ist und was soll Rechtstheorie? - Gegen eine Unterscheidung: Kaufmann (1976b), Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtsdogmatik, S. lOf m. w. N . F N 16. Q 7

Bei Habermas und v. Kutschen finden sich immerhin Anknüpfungsansatze an linguistische

Vorarbeiten. Darauf wird noch näher eingegangen. Vgl. unten C. Π Ι., I V . 1 0

Vgl. hierzu Kapitel E. I., Π .

ΠΙ. Sprachphilosophie und sprachanalytische Philosophie

25

I I I . Sprachphilosophie und sprachanalytische Philosophie

Seit philosophiert wird, gibt es Sprachphilosophie im Sinne eines Nachdenkens über Wesen und Funktion der Sprache. Bei Piaton finden sich solche Fragestellungen ζ. B. in den Dialogen "Kratylos"11 und "Sophistes"12, bei Aristoteles in "Peri Hermenias"13. Für Aristoteles war die menschliche Sprachfahigkeit Erklärung dafür, daß der Mensch in höherem Maße staatenbildend ist als andere Wesen14. Insbesondere die in der Tradition des Nominalismus stehenden englischen Theoretiker, wie Hobbes, Locke und Hume, zeigten großes Interesse an sprachphilosophischen Fragen. Das spezifisch Neue des sog. "linguistic furo" 15 der sprachanalytischen Philosophie bestand also nicht in der philosophischen Untersuchung des Wirklichkeitssegments Sprache16, sondern in der Betrachtung der Sprache als privilegierten Zugang zu allen Wirklichkeitsbereichen. Der Subjekt- bzw. transzendentalphilosophischen Wende durch Descartes und Kant vergleichbar, wurde nunmehr von verschiedenen Denkern die Analyse der Sprache als einzige oder zumindest zentrale Methode zur Lösung philosophischer Probleme angesehen17. Ihren Ausgang nahm diese Entwicklung bei Frege und hat über Moore, Rüssel und Wittgenstein im angloamerikanischen Raum ihre stärkste Ausprägung erreicht 18. Die Unterscheidung zwischen Sprachphilosophie und sprachanalytischer Philosophie hat sich allerdings bis zu einem gewissen Grade als lediglich idealtypisch erwiesen, da jeder sprachanalytische Ansatz genaue sprachphiloso1 1

Piaton (1988), Kratylos, passim.

1 2

Platon (1988a), Sophistes, S. HO und passim.

1 3

Aristoteles (1925), Peri Hermenias, passim.

1 4

Aristoteles (1984), Politik, 1253a, S. 49.

1 5

Vgl. Roity (Hg.) (1967), The Linguistic Turn.

1 6

Dies sieht etwa Kunz (1977), S. 16 nicht klar.

1 7

Vgl. dazu: Dummett (1988), Ursprünge der analytischen Philosophie, S. 11. Zu dieser

Unterscheidung: Searle (1969), Speech Acts, p. 3f., S. 12. 1 8

Schon vor Frege gab es im deutschsprachigen Raum mit Hamann, Herder und Humboldt

Denker, die der Sprache zentrale Aufmerksamkeit widmeten. Sie beschrankten sich aber auf sprachmystische, sprachhistorische oder sprachphilosophische Überlegungen, standen nicht im Zentrum der philosophischen Diskussionen ihrer Zeit und hatten auch den spezifisch sprachanalytischen Ansatz nicht in klarer Form ausgeprägt, so daß man in ihnen allenfalls Vorläufer des 8prachanalytischen Denkens sehen kann.

26

Α. Einleitung

phische Vorüberlegungen erfordert. Weil aber schon bei den Vorfragen zwischen den Vertretern der sprachanalytischen Philosophie grundlegende Meinungsverschiedenheiten bestehen, haben sich die Auseinandersetzungen oftmals schon auf dieser Ebene voll entfaltet - und teilweise auch erschöpft. Wie die transzendentalphilosophische Wendung im deutschen Idealismus zur Vereinseitigung und Verabsolutierung gefuhrt wurde, so lassen sich auch beim sprachanalytischen Ansatz entsprechende Radikalisierungen ausmachen. Diese gipfeln einerseits in Wittgensteins berühmter These, die Philosophie sei ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache19 und andererseits im Glauben an die Möglichkeit bzw. Notwendigkeit der Konstruktion idealtypischer Kunstsprachen (ideal language philosophy). Mittlerweile hat aber mit Ansätzen zur sog. "Post-Analytic Philosophy "20 eine realistischere Bewertung der Möglichkeiten der sprachanalytischen Methode eingesetzt. Es kommt nun darauf an, die durch sie unbestreitbar gewonnenen neuen Erkenntnisse im Rahmen eines begründeten Methodenpluralismus zu den Überlegungen anderer Denktraditionen in Beziehung zu setzen und so ihre Ergebnisse zu sichern und auszubauen.

IV. Sprache, Ethik und Recht

Die sprachanalytische These, daß Sprache nicht nur wesentlicher Teil und Bestimmungsfaktor der Lebenswirklichkeit ist, sondern v.a. auch wichtiges Medium21 zu deren Untersuchung sein kann, läßt sich fur Ethik22 und Recht23

1 9

Wittgenstein (1953), Philosophische Untersuchungen, § 109, S. 79.

2 0

Rajchman/West (Hg.) (1985), Post-Analytic Philosophie.

2 1

In doppeltem Sinne: Zum einen als vermittelndes Untersuchungsobjekt, zum anderen als Darstellungswerkzeug. 2 2

Die Begrifflichkeit ist nicht einheitlich. In der Umgangssprache werden "Ethik" und

"Moral" häufig synonym verwendet, ebenso teilweise bei Kant (vgl. Eisler (1930), KantLexikon, S. 146, 371). In neueren philosophischen Untersuchungen hat sich aber folgende Unterscheidung durchgesetzt (vgl. Patzig, (1971), Ethik ohne Metaphysik, S. 4): "Moral" ist der "Inbegriff moralischer Normen, Werturteile, Institutionen", während "Ethik" die Begründung und Rechtfertigung der Moral bezeichnet. "Ethik" (im weiteren Sinne) wird teilweise aber auch als umfassender Begriff fur Moral, Ethik im engeren Sinne, Metaethik und Moralsoziologie (deskriptive Ethik) verstanden. Diese Begriffsunterscheidungen bedeuten keine prinzipielle

IV. Sprache, Ethik und Recht

27

noch in stärkerem Maße fruchtbar machen, als fur andere Untersuchungsgebiete, etwa die Naturwissenschaften und die Ökonomie, die zumindest annehmen, bis zu einem gewissen Grade auf mehr oder weniger befriedigend metrisierbare und wenig sprachabhängige Fakten zurückgreifen zu können24. Moralnormen25 und Rechtsquellen26 sind dagegen unstreitig in hohem Maße sprachlich strukturiert 27. Diese Einsicht hat Hume dazu veranlaßt, das Recht und Rechtsinstitute wie "Eigentum" als bloße "Sprachformen" aufzufassen 28, die einer direkten Bezugnahme auf außersprachliche Gegebenheiten offensichtlich entbehren sollen und mit Blick auf die gesetzte Rechtsordnung zu erklären seien. Für den frühen und mittleren Wittgenstein waren moralische Sätze, soweit sie über den Ausdruck bloßer instrumenteller Gegebenheiten hinausgingen, ohne Sinn oder Wirklichkeitsbezug29.

Einengung auf eine universalistische Sollensethik und Ausgrenzung einer eudämonistischen Klugheitsmoral, also der Frage nach einem gelungenen Leben. Vgl. dazu: Spaemann (1989), Glück und Wohlwollen, S. 10 und passim. ^

Es soll hier den zahllosen Versuchen, "Recht" zu definieren, kein weiterer hinzugefugt

werden, sondern es wird hier als umfassender Begriff fur die Rechtsquellen, aber auch fur Rechtsdogmatik, Rechtstheorie, Rechtsphilosophie, Rechtssoziologie und Rechtsgeschichte verstanden. 2 4

In den Randbereichen der Elementarteilchenphysik ist aber selbst dies zweifelhaft gewor-

den, z. B. bei der Kategorisierung des Photons als Teilchen oder als Welle. 2 5

"Moralnormen" sind ein Teil der Moral und umfassen unmittelbar wirkende Verpflich-

tungs- und Wertsatze. Was darunter genauer zu verstehen ist, wird im Laufe der Untersuchung deutlich werden. 2 6

Verfassungsrecht,

Gesetzesrecht,

Verordnungsrecht,

Einzelakte,

Gewohnheitsrecht,

Richterrecht. 2 7

Vgl.: Kaufmann (1982), Die Parallelwertung in der Laiensphare, S. 25: "Auch die Welt

des Rechts stammt aus der Sprache."; Kirchhof (1987), Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache, S. 21: "Recht lebt in der Sprache und durch die Sprache". McCormick (1981), H. L. A. Hart, p. 12: "Law is essentially and irreducibly, though not only, linguistic. Laws are formulated and promulgated in words. Legal acts and decisions involve articulate thought and public utterance - often also public argument."; vgl. auch Weinbeiger (1979), Logische Analyse in der Jurisprudenz, S. 13; Lampe (1970), Juristische Semantik, S. 15 m. w. N . insbesondere zu älterer Literatur F N 12. 2 8 Hume (1739), Treatise of Human Nature, Bd Π ., p. 263f; S. 234. Vgl. dazu Kaufmann (1983), Recht und Sprache, S. 104f. 2 9 Vgl. Wittgenstein (1921), Tractatus logico-philosophicus, S. 111: "6.4 Alle Sätze sind gleichwertig. 6.41 Der Sinn der Welt muß außeihalb ihrer liegen. In der Welt ist alles wie es ist und geschieht alles wie es geschieht; es gibt in ihr keinen Wert - und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert. Wenn es einen Wert gibt, der Weit hat, so muß er außerhalb alles Geschehens

Α. Einleitung

28

Dem steht jedoch gegenüber, daß sich auch in Sätzen und Äußerungen der Ethik und des Rechts zumindest mit den deskriptiven Wörtern, aber auch im Hinblick auf soziale Institutionen oder Relationen, Bezugnahmen aufweisen lassen, die nicht auf bloße Binnensprachlichkeit oder Emotivität reduzierbar sind30. Auch im Rahmen von Recht und Moral finden sich neben Verpflichtungs- und Wertsätzen assertorische Sätze, wobei diese Unterscheidung keinesfalls eine strikte Grenze markieren kann, sondern auch Zwischen- und Übergangsformen auszumachen sind. Die Frage nach der Rolle der Sprache im Rahmen der praktischen Philosophie und des Rechts läßt sich also mit solchen vorschnellen Verdikten nicht befriedigend beantworten. Trotz der Wichtigkeit der Sprache gerade fur die praktische Philosophie haben die nicht-assertorischen Sätze interessanterweise in der Philosophie bisher weit geringere Aufmerksamkeit gefunden als die assertorischen. Tugendhat31 vermutet hier Nachwirkungen des traditionellen Vorrangs der Ontologie. Mit der sog. "Metaethik" hat sich aber doch ein Zweig der sprachanalytischen Philosophie herausgebildet, der sich mit der Struktur der nichtassertorischen Sprache beschäftigt. Insbesondere diese Theorien sollen im Rahmen der Entfaltung der trialistisch-trifunktionalen These einer kritischen Diskussion unterzogen werden, weil sie fur sich die Darstellung von Lösungsvorschlägen fur die Frage nach der praktischen Sprache32 in Anspruch nehmen.

V. Theorien der Metaethik

Die angelsächsischen Ethiker haben sich im Zuge der Hinwendung zur analytischen Philosophie etwa seit der Wende des 20. Jahrhunderts nicht mehr und SoSeins liegen. Denn alles Geschehen und SoSein ist zufallig. Was es nicht zufallig macht, kann nicht in der Welt liegen; denn sonst wäre dies wieder zufallig. Es muß außerhalb der Welt liegen. 6.42 Damm kann es auch keine Satze der Ethik geben. Sätze können nichts Höheres ausdrücken. 6.421 Es ist klar, daß sich die Ethik nicht aussprechen läßt. Die Ethik ist transzendental." und Wittgenstein (1965), Lecture on Ethics, S. 13ff. 3 0

Vgl. ebenso Kaufmann (1983), S. 105.

3 1

Tugendhat (1976), Vorlesungen zur Einfuhrung in die sprachanalytische Philosophie, S.

3 2

"Praktische" Sprache faßt ethische Sprache ( = Moralsprache und ethische Sprache im

73. engeren Sinne) und Rechtssprache zusammen.

V. Theorien der Metaethik

29

nur mit Fragen der Begründung von Moralnormen, also solchen der Ethik im engeren Sinne, sondern auch mit solchen der Metaethik33, also den Fragen nach der Verwendung und Bedeutung34 normativer bzw. evaluativer Worte 35, Sätze36 und Satzverbindungen, beschäftigt37. An erster Stelle zu nennen sind hier Sidgwick38, Moore 39 und Ross40, bei denen neben ethischen auch metaethische Fragen in den Blickpunkt rücken. Einen Höhepunkt erreichte die Beschäftigung mit der Metaethik im angelsächsischen Sprachraum in den 40er, 50er und 60er Jahren mit den Arbeiten von Stevenson41, Hare 42, NowellSmith43 und Prichard 44 im Zusammenhang mit der fast ausschließlichen Adaption des sprachanalytischen Ansatzes. In den 70er und 80er Jahren sind auch im angelsächsischen Bereich, v. a. mit den Arbeiten von Rawls45, Mackie46 und Parfit 47, wieder stärker Fragen der Ethik in den Vordergrund getreten. Aber auch Hare befaßt sich z. B. in 3 3 3 4

Bezieht sich auf Sätze der Moral wie der Ethik. "Bedeutung" wird hier wie nachfolgend nicht wie bei Frege (1892a), Über Sinn und

Bedeutung, passim, im Gegensatz zu "Sinn" als Objektreferenz, sondern weit und alltagssprachlich-unspezifisch verwendet. 3 5

Wird im umgangsprachlichen Sinn verwendet (also als Folge von Buchstaben, die im nor-

malen typographischen Gebrauch auf beiden Seiten durch einen Zwischenraum begrenzt ist), wenn es auf die Unterscheidung zwischen Lexemen (Wörter, wie man sie im Lexikon findet, also nicht aktuell gebraucht), Ausdrücken (Wörter im Gebrauch) und Phonemen (Wörter in ihrer Lautgestalt) nicht ankommt. Vgl. dazu ähnlich: Lyons (1977), Semantics, S. 32ff, S. 244. 3 6

Wird im umgangssprachlichen Sinn verwendet, wenn es auf die Unterscheidung von

Äußerung (Gebrauch eines Satzes in einer bestimmten Situation, vgl. Alexy (1978), Theorie der juristischen Argumentation, S. 53) und Aussage (unabhängig von einem bestimmten Gebrauch) nicht ankommt. 3 7

Frankena (1963), Ethics, p. 5, 95, S. 21, 114; Hoerster in Frankena (1963), deutsche

Übersetzung, S. 12; Grewendorf/Meggle (1974), Zur Struktur des metaethischen Diskurses, S. 7; Alexy (1978), S. 53. 3 8

Sidgwick (1872), The Methods of Ethics.

3 9

Moore (1903), Principia Ethica.

4 0

Ross (1930), The Right and the Good; (1939).

4 1

Stevenson (1944), Ethics and Language.

4 2

Hare (1952), The Language of Morals; (1963a), Freedom and Reason.

4 3

Nowell-Smith (1954), Ethics.

4 4

Prichard (1949), Moral Obligation.

4 5

Rawls (1972), A Theory of Justice.

4 6

Mackie (1977), Ethics. Inventing Right and Wrong.

4 7

Parfit (1984), Reasons and Persons.

30

Α. Einleitung

seinen neueren Arbeiten48 hauptsächlich mit ethischen Problemen. Durch diese Entwicklung ist eine IJberbetonung der Metaethik im englischsprachigen Raum wieder zurückgenommen worden49. Sie ist Teil der Relativierung des methodenmonistischen Dogmas des sprachanalytischen Ansatzes. Im deutschen Sprachraum wurden metaethische Fragen vor 1945 nicht im gleichen Maße wie im englischsprachigen Bereich zu einer eigenen Methodik entwickelt. Im Vordergrund standen hier Positivismus, Phänomenologie, Wertethik, sowie neukantianische und neuhegelianische Ansätze. Metaethische Probleme wurden dabei nur en passant und als stützende Argumente eingesetzt, so etwa von Scheler50. Allerdings gibt es eine Ausnahme: Der logische Positivismus des Wiener Kreises hatte in den 20er und 30er Jahren eine katalytische Wirkung auf die Entwicklung der Metaethik - insbesondere auch im englischsprachigen Bereich51 -, da er die Wahrheitsfähigkeit ethischer Sätze verneinte und "die metaethische Rekonstruktion moralischer Urteile auf nonkognitivistischer Basis zur Nachfolgedisziplin der traditionellen Ethik* 52 erklärte. Entsprechende Überlegungen finden sich etwa bei Schlick53 und Kraft 54. Nach 1945 setzte im deutschsprachigen Raum allmählich eine gewisse Rezeption der angelsächsischen Metaethik ein. Neben Arbeiten, die vorwiegend den eigenen Standpunkt abgrenzen, wie die von Kaulbach55 und Albert 56, stehen viele hauptsächlich deskriptiv-kritische Abhandlungen, wie ζ. B. bei Riedinger57, Stegmüller58, Grewendorf u. Meggle59 und Berlich60. Nur ver-

4 8

Etwa: Hare (1981), Moral Thinking.

4 9

Vgl. auch Craemer-Ruegenberg (1975), Moralsprache und Moralitüt, S. 11 und die Kritik

von Mackie (1977), S. 17. 5 0

Scheler (1916), Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, S. 199, 203,

221. 5 1

Vgl. Ayer (1936), Language, Truth and Logic, p. 137, S. 136: "Eine strenge philosophi-

sche Abhandlung über Ethik sollte deshalb keine ethischen Meinungen kundtun, sie sollte vielmehr durch eine Analyse ethischer Begriffe die Kategorien aufzeigen, zu der alle solche Meinungen gehören". 5 2

Hegselmann (1984), Logischer Empirismus und Ethik, S. 28.

5 3

Vgl. dazu: Schlick (1930), Fragen der Ethik.

5 4

Kraft (1937), Die Grundlagen der wissenschaftlichen Weitlehre, S. 199.

5 5

Kaulbach (1974), Ethik und Metaethik.

5 6

Albert (1961), Ethik und Meta-Ethik. Das Dilemma der analytischen Moralphilosophie.

5 7

Riedinger (1984), Das Wort "gut" in der angelsachsischen Metaethik.

VI. Ethik und Metaethik

31

einzelt erfolgen Weiterfuhrungen oder eigene Ansätze, wie ζ. B. bei v. Kutschern61. Alexy62 diskutiert zwar auch metaethische Positionen, ist aber der Argumentationstheorie zuzurechnen. Auf das Verhältnis von Metaethik und Argumentationstheorie wird sogleich zurückzukommen sein.

VI. Ethik und Metaethik

Zum Verhältnis von Ethik und Metaethik lassen sich vier Positionen unterscheiden: (1) Einige Metaethiker - z. B. Hare 63 - sind im Zusammenhang mit der Radikalisierung des sprachanalytischen Ansatzes soweit gegangen, die Ethik nur mehr als Sprachanalyse zu betrachten, sie also auf die Metaethik zu reduzieren oder, (2), zumindest eine logische Abhängigkeit zu postulieren64. (3) Demgegenüber wird aber auch die logische Neutralität von Ethik und Metaethik betont65. (4) Schließlich wird jeder Nutzen metaethischer Untersuchungen für ethische Fragen bestritten66. Die Auseinandersetzung über die Abhängigkeit von Ethik und Metaethik ist im Grunde genommen Spiegelbild und Teilfrage der Diskussion um die Fruchtbarkeit des sprachanalytischen Ansatzes fur die Philosophie. Zugespitzt läßt sich zum Verhältnis von Ethik und Metaethik die Frage stellen, ob metaethische Theorien normativ neutral sind. Blackstone67 hat allerdings aufgewiesen, daß diese Frage notorisch mehrdeutig ist, je nachdem, ob man eine kausale, normative oder logische Abhängigkeit annimmt. Für die nachfolgenden Überlegungen soll deshalb in dieser Hinsicht keine abstrakte Vorentscheico J O 5 9

Stegmüller (1952), Hauptströmungen der Gegenwartsphilosophie, Bd. I. Grewendorf/Meggle (1974b), Zur Struktur des metaethischen Diskurses.

6 0

Berlich (1985), Richard M . Hares analytische Ethik.

6 1

v. Kutschern (1982), Grundlagen der Ethik.

62 6 3

Alexy (1978), Theorie der juristischen Argumentation. Hare (1963a), p. V ; S. 9.

6 4

Grewendorf/Meggle (1974b), S. 25.

6 5

Grewendorf/Meggle (1974b), S. 26.

6 6

M . Warnock (1960), Ethics since 1900, p. 91.

6 7

Blackstone (1961), Are Metaethical Theories Normatively Neutral?. Vgl. auch Meggle u. Grewendorf (1974b), S. 25.

32

Α. Einleitung

dung getroffen werden, sondern die Untersuchung konkreter Umsetzungen Vorrang haben.

VII. Metaethik und Argumentationstheorie

Neben Arbeiten zur Metaethik findet man zur Untersuchung der praktischen Sprache immer häufiger solche, die sich in stärkerem Maße mit der Frage ethischer und juristischer Argumentation beschäftigen, ζ. B. die Untersuchungen von Baier, Toulmin, Alexy, Perelman, Habermas, Peczenik und Neumann68. Insbesondere im Bereich der Rechtstheorie überwiegt diese Kategorisierung mittlerweile. Man kann das Verhältnis von Argumentationstheorie zur Metaethik vielleicht als das von zwei Mengen mit gemeinsamer Schnittmenge bestimmen, wobei sich vier Abgrenzungskriterien ausmachen lassen: 1. Die Argumentationstheorie beschäftigt sich vorwiegend mit dem Verhältnis von Äußerungen und Sätzen zueinander, also mit Äußerungs- und Satzverbindungen. Die Metaethik setzt sich dagegen in intensiverem Maße mit Worten und der Binnenstruktur isolierter Sätze und Äußerungen auseinander. Während die Argumentationstheorie von der Makrostruktur der Sprachsequenzen ausgeht69 und allenfalls sporadisch auf die Mikrostruktur zurückgreift, nimmt die Metaethik beide zugleich in den Blick oder wählt sogar die sprachliche Mikrostruktur als Basis. Dabei wird die Abhängigkeit von Wörtern, Sätzen, Texten und der Gesamtsprache voneinander nicht vorausgesetzt, sondern bildet ihrerseits - wie sich noch ergeben wird - unter den Stichworten "Strukturalismus", "Kontextprinzip", "Holismus" und "Isolationismus"70 eine Zentral frage. Für die Untersuchung der praktischen 6 8

Baier (1958), The Moral Point of View; Toulmin (1950), An Examination of the Place of

Reasons in Ethics; Alexy (1978), Theorie der juristischen Argumentation; Perelman (1958) Traité de l'argumentation; (1976); Habermas (1971), Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz; (1976), Was heißt Universalpragmatik?; Peczenik (1983), Grundlagen der juristischen Argumentation; Neumann (1986), Juristische Aigumentationslehre. 6 9

Alexy (1978), S. 83, schließt sich allerdings nach einer eingehenden Darstellung metaethi-

scher Positionen dem metaethischen Programm Hares an und formuliert: "Die Analyse moralischer Ausdrucke eigibt die Regeln der moralischen Argumentation." Sein Hauptaugenmerk liegt aber letztendlich doch auf Problemen der Satzverbindung, wie dem Syllogismus etc. 7 0

Stegmüller (1952), Bd. Π , S. 265.

ΥΠ. Metaethik und Argumentationstheorie

33

Sprache ist dieses Problem noch virulenter, weil das Verhältnis von deskriptiven und nichtdeskriptiven Teilelementen der Sprache geklärt werden muß, also eine größere und stärker differierende Menge von - potentiellen - Integrationselementen vorhanden ist. Metaethische Fragen haben gegenüber argumentationstheoretischen somit in stärkerem Maße Grundlagencharakter und sind weniger anwendungsorientiert. 2. Mit dem Topos des "Arguments" hat die Argumentationstheorie eine Grundlage fur ihre Überlegungen, die den prinzipiellen Hiatus zwischen Sprache und Inhalt überbrückt. Ein Hiatus, der ζ. B. bei der Frage nach der Fruchtbarkeit der sprachanalytischen Methode und dem Problem der Neutralität der metaethischen Untersuchungen aufbricht. 3. Eng damit hängt zusammen, daß die Argumentationstheorie regelmäßig über die reine Sprachanalyse hinausgeht. Ein "Argument" sagt nicht nur etwas, sondern es überzeugt und ist damit auch begründend. Die Argumentationstheorie untersucht also nicht nur, welche Begründungsmöglichkeiten logisch und linguistisch prinzipiell bestehen, sondern auch, welche Moralnormen tatsächlich hierdurch begründet werden können. Dadurch wird sie Teil der Ethik bzw. der Rechtsphilosophie. 4. Schließlich hat die Argumentationstheorie anders als die Metaethik, die sich im wesentlichen auf den sprachanalytischen Ansatz in der Nachfolge Freges stützt, teilweise auch andere geistesgeschichtliche Wurzeln. So greift ζ. B. Perelman mit seiner "Nouvelle Rhetorique"71 auf die Tradition der aristotelischen Rhetorik zurück. Argumentationstheoretische Arbeiten, die im Theoriekreis von Apel und Habermas stehen, haben dagegen oft einen positivistisch-konsensualistischen Hintergrund. Intersubjektivität ist danach nicht Ergebnis eines Kommunikationsvorgangs, sondern grundlegende Voraussetzung. Die Akzeptanz wird damit als Argument zentral, während Objektivität oder Wahrheit einer Äußerung in den Hintergrund treten. Insgesamt steht also die Argumentationstheorie prinzipiell näher an den eigentlich drängenden Begründungsproblemen in Ethik und Rechtsphilosophie als metaethische und rechtstheoretische Untersuchungen und hat eminente Wichtigkeit72. Deshalb kann es nicht verwundern, daß sich die rechtstheore7 1

Vgl. hierzu: v. d. Pfordten (1991), Artikel zu Chaim Perelmann.

7 2

Diese Darstellung kann nur idealtypisch sein. Eine einheitliche Wortverwendung existiert

bisher nicht. Es lassen sich deshalb selbstverständlich Gegenbeispiele finden: So setzt die argumentationstheoretische Untersuchung von Alexy (1978) mit der Darstellung metaethischer 3 v. d. Pfordten

34

Α. Einleitung

tische Forschung in den letzten Jahren v. a. mit Problemen der Argumentationstheorie beschäftigt hat. Man vergleiche hier v. a. die schon erwähnten Arbeiten von Alexy, Neumann und Peczenik. Die rechtstheoretische Methodendiskussion zwischen Vertretern eines topischen Modells73, eines Analogiemodells74 und solchen eines Subsumtionsmodells75 ist in weitem Maße eine argumentationstheoretische, wiewohl die einzelnen Modelle natürlich auch unterschiedliche Ansichten zu angelagerten oder anderen Problemsyndromen, ζ. B. zur "Natur der Sache", implizieren76. Allerdings birgt der Zentraltopos des "Arguments" innerhalb der Argumentationstheorie die große Gefahr in sich, daß damit semantische Detailprobleme, die bei der Rechtsanwendung oft entscheidende Bedeutung erlangen können, "großzügig" übergangen werden. Dies gilt insbesondere für die von Alexy und Habermas vertretenen diskurs- und konsenstheoretischen Formen. So können ζ. B. die von Alexy77 erarbeiteten "Regeln und Formen des allgemeinen praktischen Diskurses" sehr präzise bestimmen, wie ein Diskurs vor Gericht oder unter Rechtsgelehrten über die Lösung eines Falles oder die Auslegung einer Norm idealiter auszusehen hätte. Aber wenn dann praktische rechtsdogmatische Auslegungsfragen beantwortet werden sollen, etwa wenn im Rahmen der verfassungsrechtlichen Problematik der Strafbarkeit von Schwangerschaftsabbrüchen zu klären ist, was "Leben" im Rahmen des Art. 2 II 1 GG bedeutet bzw. bedeuten soll78, beschränkt sich die semantische Klärung weitgehend auf einen Verweis auf den praktischen Syllogismus und die klassischen Auslegungsformen, die zu "sättigen"79 sind. Die Argumentationstheorie kommt in ihren diskurs- und konsenstheoretischen Formen über einen exakten, aber doch formalen Rahmen, den sie normativ für den praktischen Diskurs vorgibt und der ohne Zweifel nützlich und notwendig ist, nicht hinTheorien ein, während die metaethische Arbeit von Hare (1952), The Language of Morals, zuerst Satzverbindungen untersucht. - Dies zeigt aber auch, daß eine vollständige Trennung nicht sinnvoll ist. Viehweg (1954), Topik und Jurispnidenz. Kaufmann (1965), Analogie und Natur der Sache. Koch/Rüßmann (1982), Juristische Begründungslehre. Geht man ζ. B. wie Kaufmann (1986b), Vorüberlegungen zu einer juristischen Logik und Ontologie der Relationen, von einer Ontologie der Relationen aus, so tritt das Moment der Wirklichkeitserkenntnis gegenüber dem der Argumentation starker in der Vordergrund. 7 7 7

Alexy (1978), S. 361ff.

® Vgl. dazu: v. d. Pfordten (1990), Gibt es Argumente fur ein Lebensrecht des Nasciturus?

7 9

Alexy (1978), S. 302, 365.

V m . Sprachanalytische Philosophie und Rechtstheorie

35

aus80. Der Versuch, über Argumentationsregeln zu einem Verständnis des semantischen Inhalts einer Äußerung zu kommen, mutet an, wie wenn man auf die Frage, wie die Kupplung eines Autos ausgetauscht werde, auf die Sicherheitsvorschriften einer Reparaturwerkstatt verwiese. Ohne Beachtung dieser Vorschriften gelingt keine sachgemäße Reparatur, aber allein die Einhaltung genügt auch nicht. Trotz ihrer Wichtigkeit kann die Argumentationstheorie somit keinen Alleinvertretungsanspruch bei der Klärung der Struktur der praktischen Sprache als Voraussetzung für das Verständnis von Begründungszusammenhängen erheben.

VIII. Sprachanalytische Philosophie und Rechtstheorie

Der grundlegende Ansatz der sprachanalytischen Philosophie wurde im Rahmen der sog. "analytischen Rechtstheorie" v.a. von Hart 81 herausgearbeitet. Dabei verwendet Hart zwar sprachanalytische Methoden, bezieht sich aber nur am Rande auf metaethische Theorien82. Ein größer angelegter Versuch, die Metaethik für Rechtstheorie und Rechtsphilosophie fruchtbar zu machen, fehlt dagegen - soweit ersichtlich. Im folgenden soll ein solcher Versuch unternommen werden. Ein solches Unternehmen erscheint auch deshalb notwendig, weil nicht nur die Rechtsprechung mit kaum reflektierten semantischen Grundüberzeugungen im Rahmen der Auslegung operiert 83, sondern auch in der Rechtstheorie im-

8 0

Ebenso Kaufmann (1990), Rechtsphilosophie in der Nach-Neuzeit, S. 39.

8 1

Hart (1953), Definition and Theory in Jurisprudence; (1961), The Concept of Law: Dazu:

Eckmann (1969), Rechtspositivismus und sprachanalytische Philosophie; McCormick (1981). Kritisch zur analytischen Rechtstheorie: Kunz (1977), S. 11, 13 und passim. 8 2

Hart (1961), The Concept of Law, ζ . Β. p. 235, 240; S. 332, 342.

8 3

Vgl. hierzu: Neumann (1976), Der "mögliche Wortsinn" als Auslegungsgrenze in der

Rechtsprechung der Strafsenate des BGH.

Α. Einleitung

36

mer wieder Stimmen laut werden, die nach semantischer Klärung verlangen, so ζ. B. bei Wittmann84. Trotz ihrer stärkeren Grundlagenorientierung sollte daher der Wert metaethischer Untersuchungen nicht unterschätzt werden. Sie können nicht nur das Verständnis und die Sensibilität fur Nuancenreichtum, Vielgestaltigkeit und Wandlungsfähigkeit der Sprache85 schärfen, sondern auch Hilfe bei der Lösung von Problemen der Rechtsdogmatik liefern, die in jedem Fall auch Probleme der Sprachinterpretation sind86.

IX. Der Gang der Untersuchung

Zwei methodische Kritikpunkte lassen sich hinsichtlich der meisten Untersuchungen der praktischen Sprache vorab anbringen: Zum einen erfolgt oft kein ernsthafter Versuch, die Überlegungen zu Theorien der allgemeinen Semantik und Pragmatik in Beziehung zu setzen oder eine entsprechende implizite Bezugnahme fundiert auszuweisen. Ein solches Vorgehen wäre aber nur gerechtfertigt, wenn man wie der frühe Wittgenstein87 oder auch Ayer 88 eine strikte Trennungsthese verträte, d. h. die praktische Sprache von vornherein aufgrund eines bestimmten Kriteriums von der deskriptiven abtrennte. Diese Vorentscheidung unterliegt aber ihrerseits einer

8 4

Wittmann (1986), Die Signifikanz der Sprachphilosophie H. Putnams für die Semantik der

Rechtssprache, S. 371: "Auf welch unsicheres Gelände man geraten kann, wenn man die Grundfrage der Semantik nicht explizit auch für die Rechtssprache stellt, zeigt die Rechtsprechung des BGH in Strafsachen... Hier wird von der Rechtsprechung in Wirklichkeit eine laienhafte semantische Theorie praktiziert. Die Rechtswissenschaft ist daher nicht nur für die Handhabung einzelner Begriffe, sondern auch für die Rationalitätskontrolle ihrer Entscheidungsverfahren auf den Dialog mit der modernen Sprachphilosophie angewiesen." 8 5

Vgl. dazu Kaufmann (1983), S. 106, der die Zweidimensionalität der Sprache betont und

v. a. auf ihre Innovationsfahigkeit hinweist. 8 6

Daß das Interesse der Rechtsdogmatik an Problemen der Sprache - insbesondere auch der

Verständlichkeit des Rechts - gewachsen ist, zeigt neben vielen wissenschaftlichen Publikationen eine Veranstaltung, die 1982 unter dem Thema "Recht und Sprache" stattfand, vgl. die Dokumentation bei: Wassermann/Petersen (Hg.), Recht und Sprache, (1983). 8 7

Wittgenstein (1921), 6.4ff, S. 111.

8 8

Ayer (1936), p. 144, S. 145.

IX. Der Gang der Untersuchung

37

gewissen Begründungspflicht, weil sie dem intuitiven Sprachverständnis zuwiderläuft, das wohl eher von einer "Verwobenheit" von deskriptiver und praktischer Sprache ausgeht. Um aber eine solche Begründung zu liefern, wäre es auch hier nötig, Modelle der allgemeinen Semantik und Pragmatik zu ventilieren. Zum anderen mißachten die metaethischen Untersuchungen vielfach basale Einsichten der Linguistik und Semiotik. Das Modell von Bühler89, die grundlegenden Arbeiten von Saussure90 wurden bisher ζ. B. kaum registriert. Beide Phänomene mögen - zumindest bei Hare und anderen in der Tradition der ordinaiy-language-philosophy stehenden Autoren - ihre tieferen Wurzeln in der vom späten Wittgenstein, aber auch von Austin propagierten Methode der Beobachtung, Kritik und Verwendung der Normalsprache haben91. Allerdings greift diese Überlegung zu kurz. Denn die Fundierung und Formulierung einer philosophischen Theorie in normalsprachlichen Sätzen schließt ja nicht aus, auch andere wissenschaftliche Arbeiten zu einer Fragestellung zu berücksichtigen. Zentrales Anliegen der vorliegenden Untersuchung wird es deshalb sein, die metaethischen Überlegungen in den Entwurf eines allgemeinen semantisch-pragmatischen Modells einzubetten. Aus diesem Grunde werden zu Beginn kurz die sechs grundlegendsten Modelle zur Bedeutungserklärung dargestellt, wobei nicht nur die neueren sprachphilosophische Arbeiten, wie die von Putnam und Quine, berücksichtigt werden sollen, sondern auch linguistische Ansätze (Kapitel B.). Dabei kann allerdings nicht mehr als ein kursorisch-deskriptiver Überblick geboten werden, weil alles andere den Rahmen der Arbeit sprengen würde. Diese Darstellung rechtfertigt sich darüber hinaus dadurch, daß sie unter dem trialistischtrifunktionalen Gesichtspunkt erfolgt, der fur die weiteren Überlegungen zentral sein wird. Es wird also besonderes Augenmerk darauf gerichtet, welche ontologischen bzw. funktionalen Kategorisierungen den jeweiligen Theorien zugrunde liegen. Aus diesem Überblick wird sich ein weiterentwickeltes, trialistisches, semantisch-pragmatisches Fundament ergeben, das in der Lage sein soll, alle

8 9

Bühler (1934).

ΩΛ v

9 1

Saussure (1916), Cours de Linguistique Générale. Dazu: Savigny (1969a), Philosophie und normale Sprache, (1969b), Die Philosophie der

normalen Sprache.

38

Α. Einleitung

zentralen Formen sprachlicher Äußerungen zu umfassen (Kapitel C.). Im Anschluß daran erfolgt die Darstellung und Kritik metaethischer Theorien (Kapitel D.)· Diese soll allerdings aus zwei Gründen weder sehr ausfuhrlich sein noch Vollständigkeit beanspruchen: Zum einen liegen neben den mittlerweile unübersehbar vielen darstellenden Arbeiten im angelsächsischen Bereich inzwischen auch in deutscher Sprache mit den Untersuchungen von Albert (1961), Kaulbach (1974), Grewendorf u. Meggle (1974), Craemer-Ruegenberg (1975), Alexy (1978), Stegmüller (1978), v. Kutschera (1982), Riedinger (1984) und Berlich (1985) schon sehr ausfuhrliche und brauchbare Darstellungen vor. Mit der vielbeachteten Arbeit von Alexy (1978) hat die Metaethik im übrigen - allerdings im Rahmen einer argumentationstheoretischen Erörterung - auch Eingang in die deutsche rechtstheoretische Diskussion gefunden. Zum anderen soll das Schwergewicht der Untersuchung - wie eingangs erwähnt - in der Entwicklung der trialistisch-trifunktionalen These bestehen. Diese beginnt in Kapitel C. mit dem Aufweis des trialistischen Rahmens, setzt sich in Kapitel D. mit der Darstellung von Brüchen in verschiedenen metaethischen Theorien fort. In Kapitel E. wird die Entfaltung der trifiinktionalen These mit einer Rechtfertigung für die Trennung von Evaluation und Präskription vorbereitet. Kernstück der Arbeit bildet die Begründung der trifiinktionalen semantischen Unterscheidung von Deskription, Evaluation und Präskription aus dem trialistischen Modell (Kapitel F.). Im Anschluß daran werden von dieser Grundlage aus intrafunktionale (Kapitel G.) und interfunktionale (Kapitel H.) Beziehungen zwischen Äußerungen erörtert. In Kapitel I. wird die zweite eingangs erwähnte Problemkonstellation wieder aufgenommen und auf der Grundlage der bisher entwickelten These eine trifunktionale Logik und Semantik der Präskriptionen vorgeschlagen. Die folgenden Kapitel dienen der Anwendung des neuen Modells in Rechtstheorie und Rechtsphilosophie: Kapitel J. befaßt sich mit der Semantik der Rechtssprache. In Kapitel K. wird die dritte zu Anfang erwähnte Problemkonstellation aufgegriffen. Es erfolgt eine Darstellung und Kritik der Sein-Sollen-Dichotomie. Zum Abschluß werden die einzelnen Kapitelthesen zusammengefaßt (Kapitel L.).

Β. Theorien der Bedeutungserklärung

Will man dem Phänomen der Moral- und Rechtssprache gerecht werden, muß man zunächst einige grundsätzliche Fragen zum Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit zu klären versuchen1. Bevor hierzu ein kursorischer Überblick über verschiedene Modelle der Bedeutungserklärung erfolgt, werden zwei methodische Grundthesen aufgestellt.

I. Methodischer Holismus

Wie schon erwähnt, gehen auch die Theoretiker der Metaethik zumindest implizit von einem bestimmten allgemeinen Modell der Bedeutungserklärung aus. Stevensons Emotivismus liegt ζ. B. eine dispositional-behavioristische Bedeutungstheorie zugrunde2, Hares Position der Ansatz der ordinary-language-philosophy. Kaulbach, ein Kritiker metaethischer Theorien, versucht in Anlehnung an Kant eine Fundierung der praktischen Sprache in einem "Stand" auf dem Boden der praktischen Vernunft 3. Umgekehrt blenden Sprachphilosophen und Linguisten bei ihrer Frage nach den Hauptfunktionen der Sprache oft Werturteile, Wunschsätze, Fragen und

1

Dabei darf man die Sprache nicht als etwas Ephemeres oder Nichtwirkliches der Wirklich-

keit gegenüberstellen, denn dann hat man sich schon fur einen unüberbrückbaren Dualismus entschieden. Die Sprache ist vielmehr selbst Teil der Wirklichkeit, allerdings nicht im mythischarchaischen Verständnis, in dem Zeichen und Gegenstand nicht getrennt wurden und das Aussprechen des Wortes Einfluß auf die Realität des Gegenstandes hatte. Vgl. hierzu Cassirer (1923), Philosophie der symbolischen Formen, S. 56. 2

Lyons (1977), Bd. I, S. 147.

3

Kaulbach (1974), Ethik und Metaethik, passim.

40

Β. Theorien der Bedeutungserklärung

Befehle aus und konzentrieren sich v. a. auf Behauptungssätze4. Diese Haltung findet sich schon bei Aristoteles5, der die Überlegungen über andere als behauptende Sätze in die Rhetorik oder Poetik verwies6. Der frühe Wittgenstein hat in ähnlicher Weise ein rein auf Behauptungs- bzw. Deklarativsätze7 und logische Verknüpfungen gestütztes Weltverständnis postuliert. Später hat er jedoch mit seiner Sprachspieltheorie eine Position vertreten, die alle Arten der Sprache umfaßt. Bei Quine findet sich ein kompliziertes Erklärungsmodell fur den kindlichen Spracherwerb, das auf primitiven Beobachtungssätzen aufbaut und zu immer ausdifferenzierteren Worten und Sätzen aufsteigt, bis sogar Worte fur abstrakte Gegenstände gebildet werden8. Aber die praktische Sprache erfahrt dabei keinerlei Berücksichtigung. Nach Quine soll das Kind also offensichtlich ab einer gewissen Stufe über "blaue Äpfel", sprechen können, ohne "gib mir" oder "das ist gut" sagen zu können. Tugendhat9 stellt schließlich die Behauptung auf, daß in den Wissenschaften nur assertorische Sätze vorkommen. Eine in sprachanalytischer Hinsicht spiegelbildliche Richtung schlagen Normtheorien ein, die das normative Sprachelement im Rahmen des Rechts als ausschließlich ansehen, wie ζ. B. Kelsen10. Demgegenüber muß man Wittmann11 darin folgen, daß auch die Semantik der Rechtssprache die Berücksichtigung deskriptiver Elemente erfordert, um z. B. Worte wie "Heimtücke" oder "kurze Ehedauer" erklären zu können. Der Gebots- oder Normkontext ist dabei zwar relevant, aber damit ist die Erklä4

v. Kutschern (1971), S. 25, 31. Dies kritisieren auch: Searle (1969), Speech Acts, p. 50f,

S. 79; Frank (1983), Was ist Neostiukturalismus?, S. 492f. 5

Aristoteles (1925), Peri Hermenias, 17a, S. 4. Dazu: Ogden u. Richards (1923), p. 36.

6

Nach Arens (1984), Aristotle's Theory of Language and its Tradition, S. 204, erweitert dies

Boethius in seinem Kommentar zu "Peri Hermenias" dahingehend, daß nur die Behauptungs&tze zu einem Philosophen passen würden, während alle anderen Satzarten nur fur Poeten und Rhetoren wichtig seien. Nach Arens (1984), S. 398, seien auch für Thomas v. Aquin in der Expositio zu "Peri Hermenias", Wunschsätze oder Imperative nur dazu bestimmt, Affekte auszudrücken, nicht aber festzuhalten, was im Geiste sei. 7

Stegmüller (1986), S. 78.

8

Quine (1960), Word and Object, p. 108ff, S. 194ff; (1969), Ontological Relativity and other Essays, S. 14ff. 9

Tugendhat (1976), S. 73.

^ Kelsen (1960), S. 4: "Denn das Recht, ..., ist eine normative Ordnung menschlichen Verhaltens und das heißt, ein System von menschliches Verhalten regelnden Normen." 1 1

Wittmann (1986), S. 369f.

Π. Empirisch-ontologischer Grundrahmen

41

ningsmôglichkeit noch nicht ausgeschöpft. Man kann nicht nur das Ganze der Satz-, Text- oder Äußerungsstruktur in den Blick nehmen und die Einzelelemente vernachlässigen. Um nicht von vornherein die Dimension der praktischen Sprache auszublenden, muß der gesuchte Grundrahmen der Bedeutungsermittlung so umfassend sein, daß er in der Lage ist, (praktisch) sämtliche sprachlichen Äußerungen zu erfassen und zu erklären 12. Eine solche theoretisch-holistische Grundposition wird außer vom späten Wittgenstein in neuerer Zeit ζ. B. von Davidson13 und Dummett14 vertreten. Auch Tugendhat bemüht sich trotz der oben (FN 9) wiedergegebenen Behauptung um eine Untersuchung aller Satzformen und nicht nur der assertorischen Sätze15. Allerdings behandelt er zuerst und praktisch ausschließlich die assertorischen Sätze und strebt erst am Schluß eine Ausweitung der Begrifflichkeit an 16 . Von den Metaethikern betont etwa Stevenson17, daß es fur die volle Erfassung ethischer Probleme nicht genügt, sich mit der Analyse ethischer Terme zu begnügen. Gemäß der These des methodischen Holismus soll nachfolgend ein empirisch-ontologischer Rahmen gesucht werden, der deskriptive wie praktische Sprache umfaßt. Erst von diesem Ausgangspunkt aus kann eine weitere Spezifizierung erfolgen.

II. Empirisch-ontologischer Grundrahmen

Semantik und Bedeutungstheorie können nur zu befriedigenden Ergebnissen kommen, wenn das Nachdenken über Sprache einen empirisch-ontologischen Grundrahmen berücksichtigt. Man könnte zeigen, daß alle semantischen Theorien in Geschichte und Gegenwart von solchen Minimalannahmen ausgehen, 17 Nur nicht auf eine kommunikative Funktion gerichtete Äußerungen, wie "Ah", können außer Betracht bleiben. 13 1 4

Davidson (1984), Inquiries into Truth and Interpretation, S. Χ Ι Π und passim. Dummett (1988), S. 176.

1 5

Tugendhat (1976), S. 73, 122.

1 6

Tugendhat (1976), S. 136.

1 7

Stevenson (1944), p. 23; 42.

Β. Theorien der Bedeutungserklärung

42

sie aber nicht oder nur vage explizieren. Beim frühen Wittgenstein bilden ζ. B. Tatsachen und Gegenstände solche Grundannahmen. Seine gesamte Sprachtheorie ruht - wie noch darzustellen sein wird - auf diesem ontologischen Gerüst. Beim späten Wittgenstein ergeben Tätigkeit und Lebensform einen solchen Rahmen. Gleiches gilt fur Frege: Die Annahme, daß die Bedeutung eines Satzes sein Wahrheitswert sei, ist nur möglich, wenn man Wahrheitswerte als logische Entitäten postuliert. Die nachfolgende Darstellung soll diesen jeweils implizierten Grundrahmen erhellen. Das bedeutet nicht, daß im Rahmen dieser Arbeit die zentrale Rolle der Sprache verkannt und die sprachanalytische Philosophie wieder zu einem Derivat der Ontologie zurückgestutzt würde. Aber zur vollen Entfaltung kommen Sprach- und sprachanalytische Philosophie erst, wenn man sie in ein Wirklichkeitsverständnis einbettet, wenn man Sprache nicht isoliert einer wie immer gearteten Wirklichkeit gegenüberstellt bzw. zum isolierten Untersuchungsgegenstand macht. Die Entfaltung der "Pragmatik" bzw. die "Pragmatische Wende"18 haben hier wichtige Erkenntnisse gebracht19. Ihre Wirksamkeit im Sinne des soeben geäußerten Ziels wird bisher aber durch zwei Umstände behindert: Eine überzeugende Systematisierung der einzelnen Wirklichkeitsumstände, die Einfluß auf die Bedeutungsbestimmung haben, konnte noch nicht vorgelegt werden. Außerdem ist es bisher nicht gelungen, eine befriedigende Erklärung der Rückwirkung der pragmatischen Komponente auf die Gesamtbedeutung einer Äußerung zu geben. Der frühe Wittgenstein hat das Paradox, daß man gewisse Wirklichkeitsannahmen braucht, um über Sprache und Erkenntnis Aussagen treffen zu können, da Sprache und Erkenntnis ihrerseits wieder Teil der Wirklichkeit sind, dadurch ausgedrückt, daß er darauf insistierte, daß auch Bilder - seien es nun mentale oder linguistische - Tatsachen sind20. Nach Lyons darf sich die Feststellung der Sprachfunktion nicht allein auf die Analyse von Sprechakten

1 8

Hierzu: Böhler u. a. (1986), Die pragmatische Wende.

1 9

Auf die Übernahme des Begriffs "Pragmatik" wird im Folgenden fur das trialistische

Grundmodell nur deshalb verzichtet, weil damit entweder die veränderliche und wandelbare Situation im Sinne von Wittgensteins Sprachspielpragmatik oder die diskurstheoretischen Implikationen der Schule um Apel und Habermas konnotiert würden. 2 0

Wittgenstein (1921), S. 16, "2.141 Das Bild ist eine Tatsache."

Π. Empirisch-ontologischer Grundrahmen

43

richten, sondern muß fragen, "b es Bedingungen der Wirklichkeit gibt, die fur diese Funktionen ausschlaggebend sind21. Wirklichkeit und Sprache sind also wie Stangen und Plane eines Zeltes. Die Stangen müssen stehen, um die Plane spannen zu können. Aber umgekehrt bleiben die Stangen nur aufrecht, wenn die Plane gespannt ist. Das heißt, die empirischen Wirklichkeitsannahmen stehen nicht isoliert. Sie müssen in der Struktur der Sprache eine Bekräftigung erhalten, denn sie erheben keinen Anspruch, "notwendig", "a priori" oder in "allen möglichen Welten"22 gültig zu sein. Man kann ζ. B. nicht von vornherein ausschließen, daß es eine Hydra gegeben hat, gibt oder geben wird, deren Köpfe miteinander kommunizieren. In einem solchen Fall wären auch die empirisch-ontologischen Grundannahmen andere. Die modernen Sprachphilosophen und sprachanalytischen Philosophen scheinen in ihren Auseinandersetzungen, bildlich gesprochen, beständig an der Plane des Zeltes herumzuzerren. In Wirlichkeit sind sie sich oft über die Stangen nicht einig. Die Annahme von negativen Tatsachen durch Meinong23 und seine Auseinandersetzung mit Russell darüber wäre ein Beispiel. Der Streit zwischen den Intensionalisten in der Nachfolge Carnaps und Intensionsskeptikern, wie Quine und Putnam ist ein anderes. Man könnte einwenden, daß solch ein empirisch-ontologischer Rahmen allenfalls fur die Erklärung der deskriptiven Sprache fruchtbar sein könnte, jedoch nicht fur das Verständnis der praktischen Sprache. Aber genau das Gegenteil wird sich erweisen: Gerade für die Erklärung praktischer Sprache ist die Ausweisung und Diskussion eines entsprechenden Grundgerüsts besonders dringlich. Will man diese zweite methodische Grundthese in einen geistesgeschichtlichen Rahmen einordnen, so kann man einen Weg vom Primat des Seins in der Ontologie (Antike) über die Akzentuierung des erkennenden Subjekts in der Erkenntnistheorie (Neuzeit) zur Betonung und Emanzipation der Sprache

2 1

Lyons (1977), Bd. I, S. 65.

11 Ich halte diese wieder - v. a. durch Kripke - en vogue gewordene Kennzeichnung fur unglücklich, weil sie zum einen die Modalität ohne voiherige Diskussion ontologisiert und zum anderen die Denkmöglichkeit einer völlig verschiedenen Welt voigaukelt. Diese mußte aber auch andere Denkgesetze enthalten. Wie läßt sich aber unter den gegebenen Denkgesetzen ein völlig anderes Denken denken? - Erkenntnis und Ontologie werden hier vollkommen entkoppelt. 2 3 Meinong (1904), Über Gegenstandstheorie, S. 7ff.

Β. Theorien der Bedeutungserklärung

44

in der sprachanalytischen Philosophie (Moderne) nachzeichnen. In jeder Periode gab es Versuche, eines der drei Momente zu vereinseitigen oder zu verabsolutieren. Jeder dieser Versuche ist gescheitert und mußte scheitern, weil die Realitât nicht in entsprechender Weise monistisch erklärbar ist. Sprachtheorie, Erkenntnistheorie und Ontologie sind untrennbar verbunden und bedingen sich gegenseitig. Jede Vereinseitigung eines dieser Momente oder die Nichtbeachtung der Beziehung zu den anderen ist dabei von Übel und fuhrt in die Irre. Diese Basisüberlegung steht hinter der These von der Notwendigkeit gewisser empirisch-ontologischer Grundannahmen. Der Ring schließt sich erst, wenn die sprachanalytische Philosophie die schon erwähnten Vereinseitigungen abstreift und sich wieder einer gewissen Wirklichkeitsbezogenheit bewußt wird. Im Rahmen der Ethik ist mit der Belebung der Ethik gegenüber der Metaethik im angelsächsischen Raum seit den 70er Jahren bereits eine entsprechende Entwicklung festzustellen. Diese weiterzufuhren ist ein Ziel der folgenden Untersuchungen.

I I I . Sprache als funktionales menschliches Verhalten

Von bloßen natürlichen Anzeichen, etwa den Föhnwolken, die Föhn anzeigen, oder den Schmerzen, die eine Krankheit signalisieren, unterscheidet sich die Sprache dadurch, daß sie Teil des Verhaltens ist 24 . Umstritten ist allerdings, inwieweit man auch tierische Signalsysteme als sprachlich ansehen kann25. Da die menschliche Sprache jedenfalls am vielfältigsten ausdifferenziert ist 26 und Moral und Recht offenbar 27 auch nur beim Menschen anzutref-

2 4

Diese Einsicht findet sich schon bei Piaton (1988), Kratylos, 387, S. 43f.

2 5

Lyons (1977), Bd. I, S. 101, 104flf. v. Kutschern (1971), S. 88ff; Eco (1972), Einfuhrung

in die Semiotik, S. 20. 2 6

Vgl. Lyons (1977), Bd. I, S. 84ff. Heidegger (1947), Über den Humanismus, S. 17 gibt

eine ontologische Begründung, warum Tiere keine Sprache haben: "Weil Gewächs und Getier zwar je in ihrer Umgebung verspannt, aber niemals in die Lichtung des Seins, und nur sie ist 'Welt', frei gestellt sind, deshalb fehlt ihnen die Sprache." Auch fur Aristoteles (1984), 1253a, S. 49, ist die Antwort klar: Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das Sprache besitzt. Bei Hobbes (1651), Leviathan, S. 18, liegt dagegen der Unterschied zwischen Mensch und Tier bezüglich

ΠΙ. Sprache als funktionales menschliches Veihalten

45

fen sind, soll im folgenden nur die Sprache als Teil menschlichen Verhaltens untersucht werden. Allerdings kann nur ein im weitesten Sinne funktionales menschliches Verhalten als sprachlich gelten28, also ein zielgerichtetes Handeln29. Schon Piaton hatte das Wort und damit die Sprache als "organon", als Werkzeug, also funktional bestimmt30. Ob man diese Funktionalitat als Vorhandensein einer inneren Intention31 - wie der Intentionalismus meint - oder nur aufgrund der Beobachtung äußeren Verhaltens - wie der Positivismus und Behaviorismus annehmen - bestimmt, mag dabei an dieser Stelle offen bleiben. Bloße körperliche und stimmliche Reflexe, wie Räuspera oder Gähnen sind damit von der Betrachtung ausgeschlossen, außer, sie werden erkennbar als Zeichen eingesetzt. Allerdings ist diese Kennzeichnung der Sprache als funktionales menschliches Verhalten noch nicht hinreichend, um sie von außersprachlichem Verhalten abzugrenzen. Ein Handballwurf oder das Steuern eines Autos sind ebenso funktional, ohne daß man hierin sprachliches Verhalten sehen könnte. Zur näheren Eingrenzung bieten sich zwei Möglichkeiten: Man kann zum einen gewisse weitere empirische Eigenschaften der Sprachhandlung aufzufinden versuchen, die sie von anderen Handlungen unterscheidet 32 . Dieser Weg fuhrt in die Linguistik und zur empirisch-deskriptiven Beschreibung bestehender Sprachen. Zum anderen kann man aber auch die Eigenschaft der Funktionalität noch weiter zu spezifizieren suchen. Diesen Weg der weiteren Bedeutungserklärung ist schon Piaton gegangen. Nach ihm ist die Sprache ein benennendes, belehrendes und unterscheidendes Werkzeug33. Bevor nun verschiedene Antworten auf diese Frage nach einer weiteren funktionalen Spezifikation dargestellt werden, soll auf zwei Gesichtspunkte hingewiesen werden: Die Frage nach der Bedeutung einer sprachlichen Äußeder Spracherfassung lediglich darin, daß der Mensch nicht nur den Willen, sondern auch die Vorstellungen und Gedanken des anderen versteht.

η 2 8

Zweifel kann man hieran haben, wenn man der sog. Evolutionsbiologie folgt. Lyons (1977), Bd. 1, S. 64ff.

2 9 Andere Bestimmungen von "funktional" - etwa systemtheoretische - bleiben hier außer Betracht. 3 0

Piaton (1988), Kratylos, 387f, S. 43ff.

3 1

Vgl. Stegmüller (1986), S. 15. Vgl. dazu ζ. B. J. Lyons (1977), Bd. I, S. 84ff, der insgesamt zwölf verschiedene Merk-

male angibt. 3 3

Piaton (1988), Kratylos, 388, S. 45.

46

Β. Theorien der Bedeutungserklärung

rung und deren Wahrheit stehen in engem Zusammenhang, ja fallen nach einigen Theoretikern im AnschluB an Frege und Tarski zusammen bzw. bedingen sich sogar gegenseitig34. Weiterhin ist zu betonen, daß die Frage nach der "Bedeutung" keinen monistischen Bedeutungsbegriff impliziert. Es wird sich vielmehr erweisen, daß nur ein komplex strukturiertes Modell als einigermaßen akzeptable Antwort angesehen werden kann, wenn man die Differenziertheit sprachlicher Kommunikation verdeutlichen und nicht bloß zum Verschwinden bringen will.

IV. Einzelne Modelle der Bedeutungserklärung Innerhalb der mittlerweile unzähligen Bedeutungstheorien35 lassen sich sechs große Gruppen36 unterscheiden, die im folgenden dargestellt werden sollen. Allerdings verstärken sich in allerneuester Zeit wieder Bemühungen, z. B. bei Putnam, aber in Ansätzen auch bei Quine, zu einer partiellen Integration verschiedener Theorieelemente. So finden sich bei Quine trotz des behavioristischen Ausgangspunktes auch realistische, pragmatische und strukturalistische Überlegungen. Das hier als Ergebnis vertretene Modell wird ebenfalls verschiedene Aspekte synthetisieren.

3 4 Davidson (1967), Truth and Meaning, p. 23, bemüht sich um eine Rückführung der Bedeutung auf eine modifizierte Tarskische Wahrheitsdefinition. Der Begriff der Wahrheit wird damit zum nicht weiter definierbaren Grundbegriff der Semantik. Nach Eco (1972), S. 72, soll dagegen das semiotische Programm unabhängig von der Wahrheit oder Falschheit von Behauptungen sein. Vgl. auch Wagner/Haag (1970), Die moderne Logik in der Rechtswissenschaft, S. 72.

IS J J

Den besten Uberblick über eine Geschichte der semantischen Theorien findet man bei

Kretzman (1967), History of Semantics, Encyclopedia of Philosophy Bd. 4, p. 359ff und Cassirer (1923), Philososophie der symbolischen Formen, 1. Teil, Die Sprache. Ein umfassendes Werk über die Geschichte der semantischen Theorien fehlt aber bisher. Ansonsten vgl. z. B. v. Kutschern (1971), Sprachphilosophie, S. 31ff; Ogden u. Richards (1923), p. 185ff, 269ff; Wunderlich (1974), Grundlagen der Linguistik, S. 236ff. -

Diese Werke blenden aber

Überlegungen zur Philosophie der praktischen Sprache aus. Soweit ersichtlich, existiert zur Geschichte der Semantik der praktischen Sprache überhaupt keine größere Abhandlung. Tugendhat (1976), S. 265 kennt sieben Gruppen. Nicht berücksichtigt werden nachfolgend die von Davidson (1984); (1967), vertretene Wahrheitsbedingungen-Semantik und die von Grice propagierte intentionalistische Semantik. Vgl. hierzu m. w. N. und zu einer meines Erachtens berechtigten Kritik: Koch/Rüßmann (1982), S. 139ff; Habermas (1988), S. 106ff.

IV. Einzelne Modelle der Bedeutungserklärung

1. Die realistisch-referentiellen

Bedeutungstheorien

47

(Abbildtheorien

Bis zum Ende des 19. Jh. wurde in Philosophie und Linguistik insgesamt gesehen ein realistisch-referentielles Abbildmodell der Bedeutung vertreten 37, wobei allerdings im Detail große Unterschiede bestanden. Erst mit dem verstärkten Einsetzen sprachphilosophischer Reflexion ergaben sich mit behavioristischen, pragmatischen, strukturalistischen, neostrukturalistischen und sozialen Modellen grundlegende Kontrapositionen. Die Referenzsemantik faßt die Bedeutung als konventionelle38 Beziehung zwischen Zeichen und Entitäten auf 39. Dabei bleibt meist ungeklärt, ob tatsächlich eine Abbildung oder nur eine Verweisung vorliegt. Die Entitäten, auf die Bezug genommen wird, sind im Regelfall nicht oder zumindest nicht notwendig selbst sprachliche Zeichen oder Äußerungen. Allerdings kann es sich im Einzelfall auch um Zeichen oder Äußerungen handeln40, so daß ein Verhältnis von Objekt- und Metasprache entsteht. Von dieser Grundposition aus lassen sich mehrere Versionen der Referenzsemantik unterscheiden. Als basalstes Abgrenzungskriterium muß man gemäß der zweiten methodischen Grundthese bestimmen, welche und wieviele bezeichnete Entitäten postuliert werden und wie die Bezugnahme auf sie aus* sieht. Empirisch-ontologische Differenzen fuhren also zu Differenzierungen in der Bedeutungserklärung. Diese Feststellung ist weder philosophiehistorisch noch von der Sache her überraschend, weil bei der Referenzsemantik noch innerhalb des semantischen Modells die Trennungslinie zwischen Zeichen und bezeichneter Wirklichkeit, zwischen Sprachphilosophie und ontologischen Annahmen verläuft. Der mittelalterliche Universalienstreit kann als paradigmatisch für die Auseinandersetzung um den Verlauf dieser Trennungslinie gelten. Er ist nicht nur ein ontologischer Streit, wie die Zusammenfassung der einzelnen Positionen (ante res, in 37 J

Vgl. Mayer (1989), Der Weit der Gedanken. Die Bedeutungstheorie in der philosophi-

schen Logik, S. 40. J O Zumindest im Regelfall, von wenigen onomatopöietischen Ausnahmen, wie "Kuckuck", abgesehen; vgl. v. Kutschern (1971), S. 33. 3 9 4 0

v. Kutschern (1971), S. 32.

Etwa bei der indirekten Rede oder bei wörtlichen Zitaten. Zu Modellen zur Erklärung der indirekten Rede vgl. Davidson (1968), On Saying That, p. 93ff.

48

Β. Theorien der Bedeutungserklärung

rebus, post res) 41 im Rahmen des mittelalterlichen Vorrangs des ontologischen Blickwinkels glauben läßt, sondern auch eine Auseinandersetzung zwischen Ontologie, Erkenntnistheorie und Bedeutungsverständiiis. Das bedeutet allerdings nicht, daß im Rahmen der realistischen Semantik schon eine vollständige ontologische Determination erfolgt. Die Abbildtheorie ist zwar wohl mit dem radikalen Solipsismus unvereinbar, sofern er einen Monismus des Denkens oder - wie neuestens in der "Postmoderne" - des Sprechens vertritt, läßt aber ansonsten Raum fur verschiedenste empirisch-ontologische Annahmen42.

a) Die klassisch-dreigliedrige Version

Piaton43 geht im Dialog "Kratylos" von einem zweigliedrigen abbildenden Verhältnis zwischen Worten und Entitäten aus. Zentrale Frage ist, ob die Relation durch die Entitäten vorgegeben oder konventionell ist. Piaton bejaht eine natürliche Beziehung nur fur die Stammwörter als ideale Namen. Aus diesen sollen sich aber die anderen Wörter ableiten lassen44. Neben dieser Abbildrelation zwischen Namen und Gegenstand findet sich bei Piaton im "Siebten Brief" ein am Beispiel des Kreises dargestelltes funfgliedriges Abbild- und Partizipationsmodell von Name, definierender Kennzeichnung, sinnlicher Darstellung, mentaler Kenntnis und dem in der Seele liegenden "Fünften" 45. Dieses Modell, das die platonische Ontologie berücksichtigt, dürfte Piatons eigentlichen semantischen Vorstellungen näher kommen als das Grundschema des "Kratylos". Die klassische dreigliedrige Version des Referenzmodells findet sich jedoch bei Aristoteles in "Peri Hermenias"46: "Es sind also die Laute, zu denen die Stimme gebildet wird, Zeichen der in der Seele hervorgerufenen Vorstellungen, und die Schrift ist wieder ein Zeichen der Laute. Und wie nicht

4 1

Vgl. Hoffmeister (1955), Wörterbuch der philosophischen Begriffe, S. 631; Stegmüller

(1978), Das Universalien - Problem, S. Iff. 4 2

v. Kutschern (1971), S. 332.

4 3

Zum voiplatonischen und sophistischen Denken der Sprache: Kretzmann (1967), p. 359f;

Cassirer (1923), S. 57ff. 4 4

Ob hier nur Ironie vorliegt, wie Cassirer (1923), S. 62, meint, ist zweifelhaft.

4 5

Piaton (1988b), 7. Brief, 342 S. 73.

4 6

Aristoteles (1925), Peri Hermenias, 16al, S . l .

IV. Einzelne Modelle der Bedeutungserklärung

49

alle dieselbe Schrift haben, so sind auch die Laute nicht bei allen dieselben. Was aber durch beide an erster Stelle angezeigt wird, die einfachen seelischen Vorstellungen, sind bei allen Menschen dieselben und ebenso sind es die Dinge, deren Abbilder die Vorstellungen sind."47 Die äußere Wirklichkeit bewirkt beim Sprecher bestimmte Vorstellungen48. Diese werden von konventionell49 gebildeten Zeichen (Lauten/Schrift) ausgedrückt, die sich als Bilder sowohl auf die Vorstellung als auch auf den Gegenstand beziehen50.

Erzeugung: Bezogenheit:

4 7

Vgl. hierzu auch die Übersetzung und Interpretation von Heidegger (1959), Unterwegs zur

Sprache, S. 244f. Man muß beachten, daß das griechische "logos" sowohl für Gedanke, als auch für sprachliche Äußerung stehen kann. 4 8

Vgl. Kretzmann (1967), p. 362f.

4 9

Mit der Betonung der Konventionalität der Zeichenbildung schließt sich Aristoteles an die

platonische Diskussion im "Kratylos" an. 5 0

Anders hier Tugendhat (1976), S. 350, der bloß eine Beziehung auf den Gegenstand an-

nimmt und Kretzmann (1967), p. 377 und Frank (1983), S. 36, die offenbar bloß von einer Beziehung auf die Vorstellungen ausgehen. 4 v. d. Pfordten

Β. Theorien der Bedeutungserklärung

50

Als Kernstück enthält dieses Modell die klassische Auffassung der Korrespondenz von Vorstellung/Begriff und Gegenstand. Dem Vorrang der Ontologie in der antiken Philosophie entsprechend, wird dabei von Aristoteles die Abhängigkeit der Vorstellung vom Ding angenommen. Innerhalb des Bedeutungsdreiecks ist auf diese Weise die mental-ontologische Relation betont. Zwischen Sprache und Welt besteht dagegen nur ein indirektes Verhältnis. Die Sprache hat die Funktion, den Gedanken auszudrücken. Sie ist beliebig austauschbar und hat als solche keinen Einfluß auf das Denken51. Verschiedene Sprachzeichen können sich im Rahmen der Synonymie auf einen einzigen Gegenstand beziehen, und umgekehrt gibt es auch eine homonyme Verwendung eines Sprachzeichens fur verschiedene Gegenstände52· Da die Schrift "Peri Hermenias" sowohl Teil der logica vetus als auch Grundlage des Logikunterrichts im Rahmen des Triviums war, kam ihr während der gesamten Spätantike und im Mittelalter große Bedeutung zu. Eine wichtige Vermittlung leistete dabei die Übersetzung ins Lateinische durch Boethius. Zur aristotelischen Schrift bzw. der Übersetzung von Boethius existieren ζ. B. Kommentare von Ammonius, Boethius, Abaelard, Albertus Magnus, Thomas v. Aquin, Martinus von Dacien53. Die Wirkung der aristotelischen Schrift dauert bis heute an. Noch Heidegger hat sie ζ. B. zum Ausgangspunkt seines Denkens über die Sprache genommen54. Eine zweite antike Traditionslinie55 bildet die stoische Logik und Semantik, die sich auch mit platonischem Gedankengut verband56. Nach diesem Modell verweist der Ausdruck nicht direkt auf eine Sache, sondern zuerst auf einen Sinn (lekton)57. Zwischen Sinn und Sache besteht dann ein konventioneller

5 1

Eine solche Position findet sich nach Mayer (1989), S. 59, noch bei Frege.

5 2

Aristoteles (1925a), Kategorien l a i , S. 35. Bemerkenswert ist im Rahmen der starken on-

tologischen Orientierung der Griechen daß die Adjektive "synonym" und "homonym" bei Aristoteles noch auf die Dinge bezogen waren, während sie heute (im Deutschen) die Sprache kennzeichnen. Vgl. Ubersetzung und Darstellung dieser Kommentare bei Arens (1984). 5 4 5 5

Heidegger (1959), S. 244. Eine dritte, aber mehr oder minder marginale Linie, findet sich bei Epikur: Diogenes

Laertius (1968), Lib. X , § 75, S. 63. Danach ist die Sprache Ausdruck der menschlichen Seelenregungen und Vorstellungen. Vgl. dazu: Cassirer (1923), S. 91; Kretzmann (1967), p. 365. 5 6

Pinborg (1972), Logik und Semantik im Mittelalter, S. 31ff.

5 7

Cassirer (1923), S. 135. Kretzmann (1967), p. 363f. Mates (1961), Stoic Logic, p. 11.

IV. Einzelne Modelle der Bedeutungserkläng

51

Zusammenhang. Das lekton ist nicht mit der individuellen Vorstellung gleichzusetzen. Es ist etwas Unkörperliches, das nur durch den Ausdruck existiert58. Hier erscheint zum erstenmal Freges Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung59.

Zeichen

lekton

Sache

In der Neuzeit60 bleibt das dreigliedrige Abbildmodell bei Descartes61 und Leibniz62 erhalten. Die aristotelische Unterordnung der Sprache unter das Denken manifestiert sich dabei in der Forderung, fur das menschliche Wissen eine Universalsprache zu finden 63. Der Empirismus hat zwar die Dreigliedrigkeit des aristotelischen Modells übernommen, aber die Relation zwischen Zeichen und Gegenstand gekappt. 5 8

Pinborg (1972), S. 31f. Barwick (1957), Probleme der stoischen Sprachlehre und Rheto-

5 9

Dies betont auch Wittmann (1986), S. 372.

6 0

In der Frühscholastik findet sich nach Pinborg (1972), S. 43 f, bei Anselm von Canterbury

rik.

mit der Differenzierung zwischen appellatum (Gegenstand) und significatum (Bedeutungsinhalt) zwar eine ahnliche Unterscheidung wie in der Stoa. Diese fuhrt offensichtlich aber nicht zur Annahme einer Intension als eigener Entität, sondern wird rein extensional - also als Bezug auf die zu bezeichnende Wirklichkeit - erklärt: Beim Substantiv fallen appellatum und significatum zusammen, während sie bei Adjektiven verschieden sind. Die Substanz wird so beim Adjektiv nur mittelbar bezeichnet. Wie sich im Lauf der Untersuchung herausstellen wird, nimmt Anselm hier im Gegensatz zur Intensionslehre in der Tradition der Stoa bis hin zu Frege die richtige Lösung der Referenzproblematik voraus. Nach Pinborg (1972), S. 53, besteht bei Abaelard neben einer Extensions-Intensions-Unterscheidung die Aristoteles näher stehende Position, daß sowohl Subjekt als auch Prädikat extensional Bezug nehmen. Bemerkensweit ist v.a., daß Wörter fur Abaelard nicht direkt auf Dinge verweisen, sondern nur Vorstellungen hervorrufen (Abaelard (1927), Peter Abaelardus Philosophische Schriften, Glossae, Teil m , S. 307ff. Arens (1984), p. 232, 234. Kretzmann (1967), p. 369). Diese Vorstellungen stellen nicht bloß gegenständliche Bilder dar, sondern willenüiche Schöpfungen (Arens (1984), p. 308). - Dieser kurze Überblick soll genügen, um die Vielgestaltigkeit der semantischen Diskussion im Mittelalter zu verdeutlichen und einen Eindruck davon zu geben, daß die heute diskutierten Problemlagen teilweise auch schon damals erkannt wurden. 6 1

Vgl. Cassirer (1923), S. 68.

6 2

Leibniz (1966), Unvorgreifliche Gedanken Nr. 5, S. 450: "...daß die Worte nicht nur der

Gedanken, sondern auch der Dinge Zeichen seyn,... ". 6 3

Cassirer (1923), S. 69ff.

Β. Theorien der Bedeutungserklärung

52

Bei Hobbes64 und Locke65 dienen die sprachlichen Zeichen nicht zur Bezugnahme auf die Dinge selbst, sondern einzig dem Ausdruck der Vorstellungen des Sprechenden66 bzw. dem Hervorrufen entsprechender Vorstellungen beim Hörer. Allerdings erfolgt dadurch mittelbar doch eine Bezugnahme auf die Dinge.

Ding

; > Vorstellung

^

Zeichen

Kant war dieser Version prinzipiell ebenfalls verpflichtet 67, wenn er sprachphilosophischen Erwägungen auch nur verhältnismäßig wenig Beachtung schenkte. Die erkenntnistheoretische Wende betraf bei ihm im wesentlichen das Verhältnis von Wirklichkeit und Erkenntnis, erfaßte jedoch nicht den Ausdruck im sprachlichen Zeichen68. Folge dieser wenig sprachkritischen Haltung bei Kant war, daß bis zur Mitte des 19. Jhd. oft zwischen mentalen Ausdrücken wie "Urteil" oder "Begriff" und sprachlichen wie "Satz" oder "Name" nicht unterschieden wurde. In neuerer Zeit haben Ogden und Richards mit ihrem berühmten unvollständigen Bedeutungsdreieck die realistische Auffassung in der Version des Empirismus vertreten 69, wobei aber behavioristische Grundanschauungen das referentielle Modell schon zu überlagern beginnen: 6 4

Hobbes (1651), S. 25: "Allgemein wird die Sprache dazu gebraucht, unser sich im Geiste

abspielendes Denken in wörtlich geäußertes oder die Folge unserer Gedanken in eine Folge von Wörtern zu übertragen,..."; Vgl. Kretzmann (1967), p. 377. 6 5

Locke (1690), An Essay Concerning Human Understanding, Paît Π Ι, Kap. 2, p. 405:

"Words in their primary or immediate Signification, stand for nothing, but the Ideas in the mind of him that uses them,..." Vgl. Kretzmann (1967), p. 380. 6 6

Vgl. hierzu: Cassirer (1923), S. 75. Siehe auch Tugendhat (1976), S. 350, 353.

6 7

Kant (1798), Bd. Χ Π , Anthropologie in pragmatischer Absicht, 1. T . , § 36, S. 500: "Alle

Sprache ist Bezeichnung der Gedanken, und umgekehrt die vorzüglichste Art der Gedankenbezeichnung ist die durch Sprache, ...". Vgl. auch Simon (1977), Sprachphilosophische Alternative, S. 3f. 6 8

Auch Reckermann (1979), Sprache und Metaphysik, S. 38 weist daraufhin, daß Sprache

für Kant primär ein empirisches Bezeichnungsvermögen sei. Allerdings könne die Sprache in ihrer formalen Struktur einen Hinweis auf die kategoriale Verfaßtheit des Denkens geben. Diesen Sachverhalt habe Kant am Begriff der transzendentalen Grammatik expliziert. 6 9

Vgl. Ogden u. Richers (1923), p. 10.

I V . Einzelne Modelle der Bedeutungserklärung

THOUGHT

OR

53

REFERENCE

(ι an imputed relation) *

TRUE

b) Herder, Hamann, Hegel, Humboldt

Um die Wende vom 18. zum 19. Jhd. erfahrt die Charakterisierung der Sprache als bloßes Abbild oder Werkzeug der Gedanken, also die Betonung der ontologisch-mentalen Relation des Dreiecks, bei verschiedenen Denkern Kritik 70 . Insbesondere im deutschen Sprachraum setzt - auch katalysiert durch wachsendes Nationalbewußtsein und zunehmenden Historismus - ein verstärktes Interesse an der Sprache ein. Herder moniert in seiner "Metakritik" an Kant die völlige Mißachtung der Sprache innerhalb der transzendentalen Wende71. Nach Herder ist es ein und derselbe Akt, in dem die Bestimmung der Eindrücke zu Vorstellungen und deren Benennung sich vollzieht72. Hamann postuliert: "Sprache ist Vernunft." 73

7 0

Vgl. Heintel (1972), Einfühlung in die Sprachphilosophie, S. 13.

7 1

Herder (1799), Aus "Verstand und Erfahrung", S. 183ff. S. 183: "Die menschliche Seele

denkt mit Worten."; S. 184: "Mithin wird Metaphysik eine Philosophie der menschlichen Sprache." Vgl. Reckennann (1979), S. 13ff.

54

Β. Theorien der Bedeutungserklärung

Sprache und Denken sind unauflöslich und unaufklärlich ineinander verwoben74. Bei Hegel heißt es: "Die Sprache aber ist, wie wir sehen, das Wahrhaftere; in ihr widerlegen wir selbst unmittelbar unsere Meinung. " 7 5 Aufgrund seiner philosophischen Verwurzelung im Deutschen Idealismus ist fur Humboldt76 das Verhältnis zwischen Geist und Sprache entscheidend, also die mentalistisch-linguistische Relation. Die Sprache ist kein Werk (Ergon), sondern eine Tätigkeit (Energeia)77. Zwischen Sprache und Geistestätigkeit besteht eine untrennbare Verwobenheit und gegenseitiger Einfluß 78. In seinen frühen Schriften lehnte Humboldt die Abbildtheorie vollständig ab 79 . Dagegen erkennt80 er in den späteren Arbeiten die Referenzbeziehung im Sinne des dreigliedrigen Modells zumindest als Teilfunktion an 81 .

7 2

Cassirer (1923), S. 97. Herder (1767), Aus den Fragmenten m , S. 157: "...den Gedanken

nur im Vehiculum des Ausdrucks verschlingen, ist unnützlich; aber Begriffe aus den gegebenen Woiten entwickeln und deutlich machen, das ist Philosophie." 7 3

Hamann (1784), Briefen Herder, S. 177; vgl auch Cassirer (1923), S. 94; Heintel (1972),

S. 19f. 7 4

Hier stehen romantische Vorstellungen gegen ein mechanistisches Weltbild. Konsequen-

terweise lehnt Hamann deshalb jeden Versuch, die gottgegebene, natürliche Sprache durch eine künstliche Universalsprache zu ersetzen, ab (Kretzmann (1967), S. 387). 7 5

Hegel (1807), Phänomenologie des Geistes, Bd. 3, S. 85. Allerdings findet sich bei Hegel

auch ein Bekenntnis zum klassischen Wahlheitsbegriff der Korrespondenztheorie ohne Berücksichtigung der Sprache: "Wahrheit in der Philosophie heißt, daß der Begriff der Realität entspreche." ((1821), Grundlinien der Philosophie des Rechts, Bd. 7, S. 73). 7 6

Zu Humboldt: Cassirer (1923), S. 99ff, V I I ; Heintel (1972), S. 69. Dieser kritisiert nach

Heintel jedes Abbildverhältnis der Sprache. 7 7 Humboldt (1836), Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts (Einleitung zum Kawi-Werk), S. 36. 7 8

Humboldt (1836), S. 35, 31:"Die Sprache auf der anderen Seite ist das Organ des inneren

Seins, dies Sein selbst, wie es nach und nach zur inneren Erkenntnis und zur Äußerung gelangt"; Humboldt (1896), Über die Natur der Sprache im allgemeinen, S. 13: "ein selbständiges, den Menschen ebensowohl leitendes, als durch ihn erzeugtes Wesen;..." und entscheidendes Bindeglied zwischen dem inneren Sein und der Realität (Kretzmann (1967), p. 392). 7 9

Humboldt (1896), S. 9: "So wenig das Wort ein Bild der Sache ist, die es bezeichnet,

ebenso wenig ist es auch gleichsam eine bloße Andeutung, daß diese Sache mit dem Verstände gedacht, oder der Phantasie vorgestellt werden soll."; vgl. (1903), Thesen zur Grundlegung einer Allgemeinen Sprachwissenschaft, S. 13: "und der Irrtum ist längst verschwunden, daß sie ein Inbegriff von Zeichen von, außer ihr, für sich bestehenden Dingen, oder auch nur Begriffen sei." 8 0

Humboldt (1836), S. 34:"...mehr von demjenigen abstrahieren, was sie (die Sprache - D.

v. d. P.) als Bezeichnung der Gegenstände und Vermittlung des Verständnisses wirkt, ...". Vgl. auch: Humboldt (1836), S. 44: " ... und der von ihr (der Lautform - D . v. d. P.) zur Bezeichnung der Gegenstände und Verknüpfung der Gedanken gemachte Gebrauch."

IV. Einzelne Modelle der Bedeutungserklärung

55

c) Frege

Frege 82 erkannte83, daß deskriptive Worte innerhalb von Sätzen, obwohl sie auf das selbe empirische Objekt verweisen, nicht einfach wahrheitswertneutral ersetzbar sind (keine freie Substituierbarkeit gemäß dem Gesetz von Leibniz)84. Überdies gebe es Worte, Satzteile und Sätze, denen kein reales Objekt zugeordnet werden könne. Schließlich seien die Identitätsrelationen a=b und a=a von unterschiedlichem kognitivem Wert, auch wenn sie auf dasselbe Objekt verwiesen85. Um diese Beobachtungen erklären zu können, unterschied Frege zwischen Bedeutung (Referenz) und Sinn: "Es liegt nun nahe, mit einem Zeichen (Namen, Wortverbindung, Schriftzeichen) außer dem Bezeichneten, was die Bedeutung des Zeichens heißen möge, noch das verbunden zu denken, was ich den Sinn des Zeichens nennen möchte, worin die Art des Gegebenseins enthalten ist." 86 Der Sinn hat also nichts mit subjektiven Vorstellungen beim Sprecher oder Hörer zu tun, sondern ist rein objektiv87. Damit ist zwar die Abbildung des subjektiven Denkens durch das Zeichen nicht völlig aufgegeben, aber doch fur zweitrangig erklärt. Neben dem Referenzobjekt ist dafür eine weitere Entität (mit unklarem Status) etabliert. Stegmüller spricht in diesem Zusammenhang von einer platonistischen Position88. Man könnte diese neue Version der Abbildtheorie so veranschaulichen: Zeichen

Sinn

>> Bedeutung

81 0 1

Eine weiterentwickelte idealistische Version der Referenzsemantik vertritt in Anlehnung an

Humboldt auch Cassirer (1923), S. 44: "In Wahrheit zeigt sich, daß jeder sprachliche Ausdruck, weit entfernt, ein bloßer Abdruck der gegebenen Empfindungs- oder Anschauungswelt zu sein, vielmehr einen bestimmten selbständigen Charakter der Sinngebung in sich faßt." Wie bei Humboldt soll die Sprache als "symbolische Form" zwischen Geist und Realität vermitteln, wobei mit Kunstwerk, Mythos und Religion noch weitere derartige Vermittlungsformen existieren. 8 2 Vgl. zu Frege v.a. Dummett (1973), Frege; Kretzmann (1967), p. 397ff; Mayer (1989). 8 3

Frege (1891), Funktion und Begriff, S. 27.

8 4

Vgl. Frege (1892a), Über Sinn und Bedeutung, S. 47.

8 5

Frege (1892a), S. 40f. Vgl. Dummett (1973), p. 94ff.

8 6

Frege (1892a), S. 41. Eine ausfuhrliche Auseinandersetzung mit dieser Problematik unter starker Bezugnahme auf Frege erfolgt im Teil C. ΙΠ . 3. c). 8 7

Dummett (1973), p. 88.

8 8

Stegmüller (1986), S. 64.

Β. Theorien der Bedeutungserklärung

56

Dabei kann die Darstellung89 die herausragende Position des Sinnes bei Frege nicht vollkommen wiedergeben, denn zwar wird der Sinn einerseits durch das Zeichen ausgedrückt, aber gleichzeitig fuhrt er erst zu einer Verknüpfung von Zeichen und Denotat90. Neben der Unterscheidung von Sinn und Bedeutung fuhrt Frege ein neues Verständnis von Subjekt, Prädikat und ganzen Sätzen ein: Nur fur das Subjekt eines Satzes ist seine Bedeutung ein Gegenstand. Die Bedeutung des Prädikats ist dagegen ein Begriff 91. "Begriff" wird dabei "rein logisch"92 gebraucht und "was logisch einfach ist, kann nicht eigentlich definiert werden. " 9 3 Da ein Satz aus Subjekt und Prädikat besteht, ist die Bedeutung eines ganzen Satzes fur Frege sein "Wahrheitswert", also das Wahre oder das Falsche als zwei Gegenstände. Der Satz kann als Eigenname dieser Gegenstände aufgefaßt werden94. Der Sinn eines ganzen Satzes ist ein Gedanke. Darunter versteht Frege allerdings nicht das "subjektive Tun des Denkens, sondern dessen objektiven Inhalt, der fähig ist, gemeinsames Eigentum von vielen zu sein."95. Frege postuliert somit objektive logische Entitäten, wie Wahrheitswerte, Begriffe, Gedanken und sogar Zahlen, auf die die Sprache verweisen kann96.

8 9

Diese ist dadurch gerechtfertigt, daß nach Frege einem Zeichen ein bestimmter Sinn und

diesem wiederum ein bestimmter Gegenstand entspricht (Frege (1892a), S. 42). Vgl. Wittmann (1986), S. 372. Bei Frege (1976), S. 96f, findet sich in einem Brief an Husserl vom 24. 5. 1891 genau dieses Schema, bloß daß hier jeweils Satz, Eigenname und Begriffswort getrennt werden. 9 0

Stegmüller (1986), S. 64.

9 1

Frege (1892b), Über Begriff und Gegenstand, S. 72: "Begriff ist Bedeutung eines Prädi-

kates, Gegenstand ist, was nie die ganze Bedeutung eines Prädikats, wohl aber Bedeutung eines Subjekts sein kann." 9 2

Frege (1892b), S. 66.

9 3

Frege (1892b), S. 67.

9 4

Frege (1892a), S. 48.

9 5

Frege (1892a), S. 46.

9 6

Dazu: Mayer (1989), S. 78, 129, 132, 139. v. Kutschern (1971), S. 59.

IV. Einzelne Modelle der Bedeutungserklärung

57

d) Husserl und Heidegger

Anders als Frege blendet Husserl in Anlehnung an seinen Lehrer Brentano die Psyche der Zeichenbenutzer bei seiner Bedeutungstheorie nicht aus97. Zeichen müssen vielmehr von jemandem als etwas aufgefaßt werden können, das einem "bedeutungsverleihenden Akt" als Moment subjektiver Intentionalitat entspringt98. Wie Frege unterscheidet Husserl darüber hinaus auch die Bezugnahme auf einen Sinn (= "Bedeutung" bei Husserl) und einen Gegenstand: "Jeder Ausdruck...hat nicht nur seine Bedeutung, sondern er bezieht sich auch auf irgendwelche Gegenstände... Niemals aber fallt der Gegenstand mit dem Bezug zusammen. " 9 9 Das Bewußtsein bezieht sich somit fur Husserl im intentionalen Akt über den Ausdruck und die objektive Bedeutung auf den Gegenstand100, so daß sich folgendes Schema ergibt:

intentionaler Akt —

Ausdruck

: > Bedeutung

; > Gegenstand

Heideggers Philosophie ist voll von einzelfallbezogenen Sprachreflexionen, sprachkritischen Überlegungen und Neologismen. Sein allgemeines Denken über die Sprache101 nimmt zwar seinen Ausgangspunkt bei Aristoteles und Humboldt102, überschreitet aber die Pole des Abbildmodells. Die fundamentalontologische Grundhaltung und das Bemühen um die Überwindung der 9 7

Hierzu und zum Folgenden: Tugendhat (1976), S. 143ff.

QO 7 0

Husserl (1900), Logische Untersuchungen Π /1, § 9, S. 44: "Vermöge dieser letzteren

Akte (der bedeutungsverleihenden) ist der Ausdruck mehr als ein bloßer Wortlaut. Er meint etwas und indem er es meint, bezieht er sich auf Gegenständliches." 9 9

Husserl (1900), § 12, S. 52; § 28, S. 86:"...es schwanken die subjektiven Akte, welche

den Ausdrücken Bedeutung verleihen... Nicht aber verändern sich die Bedeutungen selbst, ja diese Rede ist geradezu eine widersinnige." 1 0 0

Heintel (1972), S. 24; Stegmüller (1952), Bd. 1, S. 61flf.

1 0 1

Vgl. hieizu und zu weiterer Literatur: Jaeger (1971), Heidegger und die Sprache. Die

vorliegende Darstellung verdankt dieser Untersuchung nicht viel, da Jaeger kaum den Versuch unternimmt, Heideggers Denken über die Sprache zu anderen semantischen Modellen in Beziehung zu setzen. Vgl. auch Hennigfeld (1982), Die Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts, S. 206ff. 1 0 2

Heidegger (1959), S. 244, 246.

58

Β. Theorien der Bedeutungserklärung

Subjekt-Objekt-Spaltung, bedingen eine radikale Reduktion des Bedeutungsdreiecks. Allenfalls die ontologisch-linguistische Relation103, also das Verhältnis von Sein und Zeichen, bleibt in den früheren Arbeiten ansatzweise erhalten. So spricht Heidegger von der Sprache als "Haus des Seins"104. "Die Bedeutungslehre ist in der Ontologie des Daseins verwurzelt." 105 "Redend spricht sich Dasein aus." 106 Mit der zunehmenden Hinwendung Heideggers zur Dichtung und deren Verschmelzung mit der Philosophie, erfolgt nochmals eine Radikalisierung und Reduktion: Da das Vermögen zu sprechen den Menschen zum Menschen auszeichnet107 und der Mensch selbst immer schon spricht, wenn er über die Sprache spricht, ist das Verständnis der Sprache als Relationspunkt zu Vorstellungen oder Seiendem verfehlt. Die Sprache wird damit von jeder Relation abgelöst und autonom: "Die Sprache allein ist es, die eigentlich spricht. Und sie spricht einsam."108 Heidegger überwindet damit - theoretisch109 - das dreigliedrig-relationale Modell und kehrt bis zu einem gewissen Grade zu mystisch-archaischen Sprachvorstellungen zurück. In Heideggers Denken liegt eine der Wurzeln für das Sprachverständnis der Autoren des sog. "Neostrukturalismus", wie Lyotard oder Derrida. Die Sprache ist hier autonom. Sie wird nicht "gebraucht", sondern "widerfährt" 110

1 0 3

Da Heidegger aber das Sein vom Dasein aus bestimmt, hat sich mit der Veränderung des

ontologischen Relationspunktes auch die Relation selbst verändert. Das vorher zweidimensionale Dreieck ist quasi eindimensional geworden. 1 0 4

Heidegger (1947), Brief über den Humanismus, S. 51. Vgl. auch S. 18: "Die Sprache ist

in ihrem Wesen nicht Äußerung eines Organismus, auch nicht Ausdruck eines Lebewesens. Sie läßt sich daher auch nie vom Zeichencharakter her, vielleicht nicht einmal aus dem Bedeutungscharakter wesensgerecht denken. Sprache ist lichtend-verbergende Ankunft des Seins selbst." 1 0 5

Heidegger (1927), Sein und Zeit, S. 166.

1 0 6

Heidegger (1927), S. 162.

1 0 7

Heidegger (1959), S. 241.

1 0 8

Heidegger (1959), S. 265, S. 266: Sie wird zum Ereignis: "Die im Ereignis beruhende

Sage ist als das Zeigen die eigenste Weise des Ereignens." 1 AQ

In einer Fußnote zu diesem Text fallt er aber in das Abbildmodell zurück, so daß Heideggers Überlegungen als Deutung der Wirklichkeit nur von zweifelhaftem Wert sind: (1959), S. 260, F N 1: \ . . , m a g es vielen unglaubwürdig erscheinen, daß der Verfasser seit mehr als fünfundzwanzig Jahren das Wort Ereignis fur die hier gedachte Sache in seinen Manuskripten gebraucht." 1 1 0

I V . 5.

Dazu z. B: Rub (1989), Konsens, Dissens und Individualität. Vgl. dazu unten Kapitel B.

IV. Einzelne Modelle der Bedeutungserklärung

59

e) Peirce

Bei Peirce findet sich neben der klassischen Referenzthese behavioristisches und pragmatisches Gedankengut. Er markiert einen der möglichen Übergänge zu einem nichtrealistischen Modell. Peirce versteht unter einem semiotischen Prozeß "a cooperation of three subjects, such as a sign, its object, and its interprétant, this thri - relative influence not being in any way resolvable into actions between pairs" 111. Dabei ist "interprétant" ein Effekt (Bezeichnungen von Peirce: "habit", "outcome", "sign"), der beim Interpretierenden ausgelöst wird 112 . Damit 113 ergibt sich folgendes Dreieck 114:

sign

^/

/

/

/

/

/

interprétant

1 1 1

^

\

\

\

\

\ \ object

Peirce (1934), A survey of pragmatism, § 484, p. 332. Dazu: Eco (1972), S. 29; Witt-

mann (1986), S. 372. 1 1 2

Peirce (1934), § 473, p. 325. Vgl. zu weiteren Differenzierungen: Ogden u. Richards (1923), p. 280, 287. 1 1 3 1 1 4

Vgl. Kretzmann (1967), p. 395; Philipps (1987), Artikel "Semiotik" 2/550. Peirce (1905), What Pragmatism is, § 427, p. 284: Auf die Frage, welcher Satz von

vielen möglichen Erklärungssätzen nun aber im Einzelfall durch das Zeichen ausgelöst wird, gibt Peirce eine pragmatische Antwort: "But of the myriads of forms into which a proposition may be translated, what is that one which is to be called its very meaning? It is, according to the pragmaticists, that form in which the proposition becomes applicable to human conduct,...that form which is most directly applicable to self-control under eveiy situation and to every purpose. This is why he locates the meaning in future time; for future conduct is the only conduct that is subject to self-control". Auf diese Weise soll sich dann ein "ultimate logical interprétant" ergeben, also eine letzte Auslegungsversion ((1934), § 494, p. 343).

Β. Theorien der Bedeutungserklärung

60

f) Der frühe Wittgenstein

Wittgensteins "Tractatus" (1921) geht von ontologischen Fragen aus und kommt über Probleme der Erkenntnis schließlich zu den Zeichen115. Er kennt ein vollständiges Bedeutungsdreieck, wie es schon bei Aristoteles zu finden war. Man beachte nur folgende zentrale Sätze: "3 Das logische Bild der Tatsachen ist der Gedanke. " "3.1 Im Satz drückt sich der Gedanke sinnlich wahrnehmbar aus.N "4.01 Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit. Der Satz ist ein Modell der Wirklichkeit, so wie wir sie uns denken. "

Satz

/

/

/

Gedanke < r

/

/

Ή

\

\

\

\

\

Tatsache

Wittgensteins Theorie liegt ein konventionelles Verständnis von Wahrheit als Übereinstimmung eines Satzes mit einer Tatsache zugrunde (Korrespondenztheorie der Wahrheit). Wichtig ist darüber hinaus eine schon erwähnte Konsequenz des positivistischen Denkens: "2.141 Das Bild ist eine Tatsache."116 Sowohl der Satz wie

1 1 5

So Stenius (1960), Wittgensteins Tractatus, S. 19; Stegmüller (1952), Bd. 1, S. 526; v.

Kutschern (1971), S. 52 mit Hinweisen auf Autoren, die die Semantik des Tractatus als nichtrealistisch deuten. 1 1 6

Wittgenstein (1921), S. 16; vgl. auch: "3.14 Das Satzzeichen ist eine Tatsache."

IV. Einzelne Modelle der Bedeutungserklärung

61

der Gedanke sind selbst Tatsachen und unterscheiden sich in ihrem ontologischen Status nicht von der abgebildeten Tatsache. Probleme bereitet ein Verständnis dessen, was Wittgenstein "Sachverhalt" nennt und so bestimmt: "2. Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten. 2.01 Der Sachverhalt ist eine Verbindung von Gegenständen (Sachen, Dingen). 2.06 Das Bestehen und Nichtbestehen von Sachverhalten ist die Wirklichkeit." 117 Als bloß mögliche Gegebenheit scheint somit der Sachverhalt zwischen Tatsachen und Gedanken zu stehen. Dabei wird auch nicht klar, ob der "Gedanke" subjektiv-psychologisch oder objektiv verstanden wird, wie bei Frege 118. Wittgensteins Originalität liegt ähnlich deijenigen Freges in einer speziellen Weiterentwicklung der klassischen Referenztheorie. Zur These der referentiellen Beziehung zwischen Zeichen, Gedanke und Gegenstand tritt erstmals eine spezielle Isomorphietheorie, die die Abbildungsbeziehung zu erklären versucht119. Danach besteht eine nichtverbalisierte und nichtverbalisierbare Isomorphiebeziehung von Satz und Gedanke: "2.2 Das Bild hat mit dem Abgebildeten die logische Form der Abbildung gemein." Deshalb ist auch keine direkte Beziehung zwischen den Einzelelementen von Tatsache, Satz und Gedanke möglich, denn diese würde die strukturelle Einbindung nicht wiedergeben. Aus diesem Grunde sind nicht die Namen Gundbausteine der Sprache, sondern der Elementarsatz als molekulare Einheit. Alle komplexen Aussagen können nach Wittgenstein als Wahrheitsfunktionen von solchen molekularen Elementarsätzen bzw. Negationen davon angesehen werden 120. Dabei haben die logischen Zeichen als Verknüpfungen der Sätze anders als die Namen keine ihnen entsprechenden Gegenstände, sondern sind nach Wittgenstein als "Interpunktionen" anzusehen121. 1 1 7

Wittgenstein (1921), S . l l , 16.

1 1 8

Nach Tugendhat (1976), S. 62, vgl. auch S. 280ff, ist "Sachverhalt" eine Bezeichnung,

die fur Gedachtes steht, bei Wittgenstein aber von allen subjektiven Konnotationen frei ist. Weitere Fragen wirft schließlich der Terminus "Sinn" auf: "2.22 Das Bild stellt dar, was es darstellt, unabhängig von seiner Wahr- oder Falschheit, durch die Form der Abbildung. 2.221 Was das Bild darstellt, ist sein Sinn. 3.3 Nur der Satz hat Sinn; nur im Zusammenhang des Satzes hat ein Name Bedeutung." 1 1 9

Dazu: Stenius (1960), S. 118ff; ders. (1975); Stegmüller (1952), Bd. 1, S. 539ff.

1 2 0

Wittgenstein (1921), T L P 5.3, S. 69; Stegmüller (1986), S. 78.

1 2 1

Wittgenstein (1921), TLP 5.4611, S. 74; 4.441, S. 53f; vgl. Hookway (1988), Quine.

Language, Experience, Reality, p. 16.

Β. Theorien der Bedeutungserklärung

62

g) Carnap und moderne Versionen des Intensionalismus

Carnap 122 unterscheidet in Anlehnung an Freges "Sinn" und "Bedeutung" zwischen "Intension" und "Extension" . Während die Extension eines Prädikats eine Klasse von Gegenständen darstellt, verweist die Intension auf ein einstelliges Attribut 123. Die Extension eines Satzes ist wie bei Frege dagegen sein Wahrheitswert, die Intension seine Proposition. Die Frage der Intensionsgleichheit ist eine linguistische Frage, die der Extensionsgleichheit eine empirische 124. Intensionsgleiche Prädikate haben auch die gleiche Extension, nicht aber umgekehrt. Die Extension ist also von der Intension abhängig. Das vollständige Verstehen einer Sprache erfordert die Fähigkeit, den Sinn jedes Namens in der Sprache zu verstehen, aber nicht die Kenntnis der jeweiligen Denotate. Unklar bleibt der ontologische Status der Intensionen. Church spricht von "abstract entities"125. Eine Stabilisierung erfolgt nur über die Definition der Intensionsgleichheit126. Danach sind zwei Prädikate intensionsgleich, wenn logisch beweisbar ist, daß sie genau auf die gleichen Argumente zutreffen, zwei Namen, wenn die Identität der Objekte, die sie bezeichnen, logisch beweisbar ist und zwei Sätze, wenn ihre Äquivalenz logisch beweisbar ist 127 . Dies ist der Fall, wenn der Satz A=B logisch wahr ist, d. h. wenn beide Sätze in allen möglichen Welten dieselbe Extension, d. h. denselben Wahrheitswert, haben. Grundlegend hierfür ist die sog. logische Äquivalenz128. Aber selbst die Unterscheidung von Intension und Extension läßt nach Carnap noch "nichtintensionale Kontexte"129, wie z. B. Glaubenssätze übrig, da die Ersetzung von deren Inhaltssätzen durch einen logisch äquivalenten Satz

171 Carnap hat seine Theorie ständig modifiziert. Hier kann dieser Entwicklungsgang nicht dargestellt werden, sondern es sollen nur die folgenreichen Gedanken in Carnap (1947), Meaning and1Necessity, Beachtung finden. 2 3 Carnap (1947), p. 19; v. Kutschern (1971), S. 66. 1 2 4

v. Kutschern (1971), S. 66.

1 2 5

Church (1951), The Need for Abstract Entities in Semantic Analysis.

1 2 6

v. Kutschera (1971), S. 67.

1 2 7

v. Kutschera (1971), S. 67.

1 2 8

Carnap (1947), p. 13ff, 19.

1 2 9

v. Kutschera (1971), S. 69.

I V . Einzelne Modelle der Bedeutungserklärung

63

die Intension bzw. den Wahrheitswert des Gesamtsatzes ändern kann 130 . Das Problem der salva-veritate-Ersetzung in Glaubenssätzen, das ein wesentliches Argument fur die Einfuhrung von Intensionen ist, wird also durch sie nicht gelöst. Carnap begegnet dieser Schwierigkeit, indem er eine noch engere Relation zwischen Sätzen als die logische Äquivalenz definiert: die intensionale Isomorphie131. Danach sind zwei Sätze intensional isomorph, wenn sie mit den gleichen logischen Junktoren und in der gleichen Anordnung aus deskriptiven Konstanten gleichen Typs und gleicher Intension aufgebaut sind 132 . Diese Anforderung können aber nurmehr Kunstsprachen erfüllen und sie ist somit fur die Analyse normalsprachlicher Sätze nicht verwertbar. Wie kann man anders zu einer weiteren Präzisierung des Intensionsbegriffs gelangen? Nach v. Kutschera kennen wir die Intension eines Satzes, "wenn wir nicht nur seinen tatsächlichen Wahrheitswert kennen, sondern seine Wahrheitsbedingungen; wenn wir wissen, unter welchen Umständen er wahr und unter welchen er falsch ist." 133 "In jedem Fall ist eine Relation der direkten oder zwischenweltlichen Identität oder Korrespondenz zwischen den Objekten verschiedener Welten notwendig, damit die Definition der Intension adäquat wird." 134 Für v. Kutschera kann man den Intensionsbegriff trotz der obigen Schwierigkeit mit den Glaubenssätzen zu einem Bedeutungsbegriff verschärfen, "wenn man nicht nur logisch mögliche Welten betrachtet, sondern auch logisch unmögliche Welten... Wenn nun eine Funktion f jeder in diesem weiteren Sinn möglichen Welt i eine Extension des Ausdrucks A in i zuordnet, so kann man f als Bedeutung von A bestimmen. A und Β sind dann bedeutungsgleich, wenn sie in allen (im weiteren Sinn) möglichen Welten dieselbe Extension haben."135 v. Kutschera hat später diese von Kripke propagierte Lösung wieder verworfen und ist zu Carnaps Ansatz der intensionalen Isomorphie zurückgekehrt 136.

1 3 0

Carnap (1947), p. 53ff.

1 3 1

Carnap (1947), p. 56ff.

1 3 2

v. Kutschera (1971), S. 69.

1 3 3

v. Kutschera (1976), S. I X .

1 3 4

v. Kutschera (1971), S. 230.

1 3 5

v. Kutschera (1971), S. 71.

1 3 6

v. Kutschera (1976), S. 155ff.

64

Β. Theorien der Bedeutungserklärung

Auf diesen Grundüberlegungen aufbauend, wurde in den letzten Jahrzehnten eine intensionale Semantik entwickelt, die nach Meinung v. Kutscheras der extensionalen Semantik nicht an Gesundheit und Präzision nachstehe137. Erst die intensionale Semantik erlaube danach die Entwicklung der Modallogik, der normativen Logik, der epistemischen Logik, der Zeitlogik, der Konditionallogik und biete eine ausreichende Basis zur logischen Analyse natursprachlicher Kontexte138.

h) Die Verifikationstheorie der Bedeutung

Diese semantische Theorie hat ihren Ursprung im positivistischen und empiristischen Denken des Wiener Kreises. Sie findet sich ζ. B. bei Schlick139, in neuerer Zeit aber auch bei Tugendhat140 und in Ansätzen bei Davidson141. Dabei werden im Ausgang vom klassischen Bedeutungsdreieck die Relationen Zeichen-Gegenstand und Gedanke-Gegenstand positivistisch zusammengefaßt und unter dem Gesichtspunkt ihrer Wahrheitsfahigkeit als bedeutungskonstitutiv propagiert. Hierzu müssen die Regeln festgestellt werden, nach denen die Zeichen mit der Welt verknüpft sind. Dies ist nach Schlick jedoch dasselbe, wie die Art und Weise zu bestimmen, in der ein Satz verifiziert (oder falsifiziert) werden kann 142 : "Die Bedeutung einer Aussage ist die Methode ihrer Verifikation. " 1 4 3 "Verifikation" bedeutet in diesem Zusammenhang weder die tatsächliche Überprüfung "hier und jetzt" oder auch nur die Möglichkeit einer empirischen Verifikation, sondern es genügt die bloße "logische Möglichkeit"144. Dabei sollen eine Tatsache oder ein Prozeß "logisch möglich" sein, "wenn sie be1 3 7

v. Kutschera (1971), S. 103.

1 3 8

v. Kutschera (1976), S. IXf.

1 3 9

Etwa in Schlick (1936), Bedeutung und Verifikation.

1 4 0

Tugendhat (1976), S. 259, 398, 416 und passim.

1 4 1

Vgl. die Beiträge in Davidson (1984).

1 4 2

Schlick (1936), S. 268.

1 4 3

Schlick (1936), S. 268; (1938), S. 144.

1 4 4

Schlick (1936), S. 277.

IV. Einzelne Modelle der Bedeutungserklärung

65

schrieben werden können, d. h. wenn der Satz, der sie beschreiben soll, den Regeln der Grammatik gehorcht, die wir fur unsere Sprache vereinbart haben" 145 .

i) Putnam

Nach Putnam146 haben sowohl die traditionelle Philosophie als auch die klassische sprachanalytische Philosophie, also v. a. der auf Frege und Carnap zurückgehende Intensionalismus, in ihrer Bedeutungstheorie sowohl die "Welt" als auch die "anderen Menschen" übergangen147. Beide Auffassungen gehen von zwei miteinander inkommensurablen Annahmen aus 148 : (1) Um einen Ausdruck zu verstehen, muß man sich in einem bestimmten psychischen Zustand befinden. (2) Die Bedeutung eines Ausdrucks im Sinne von Intension bestimmt seine Extension. Wenn man beide Thesen zusammennimmt, so gelangt man zu dem Ergebnis, daß psychische Zustande die Extension bestimmen. Putnam versucht dies an Beispielen als falsch zu erweisen. Auch wenn eine Person in ihrem psychischen Zustand "Ulmen" und "Buchen" nicht auseinanderhalten kann, so fuhrt dies doch nicht dazu, daß die Ausdrücke extensionsgleich sind. Die sog. kalifornische Semantik (Intensionstheorie bei Carnap, Church, Montague) bleibt in dieser Problematik gefangen, auch wenn sie nicht von psychischen Zustanden, sondern vom Sinn bzw. den Intensionen als abstrakten Entitäten ausgeht. Sie bestimmt zwar, was Intensionen sind, aber sie erklärt nach Putnam in keiner völlig zirkelfreien Weise, wie es zugeht, daß wir dazu imstande sind, sie

1 4 5

Schlick (1936), S. 277.

1 4 6

Vgl. zum Folgenden: Stegmüller (1952) Bd. 2, S. 345ff; Koch/Rüßmann (1982), S.

145ff; Wittmann (1986), S. 369ff. Allerdings scheint Wittmann in seiner Darstellung Putnams Intensionsskepsis nicht richtig einzuschätzen. 1 4 7

Putnam (1975), The Meaning of "Meaning", p. 271, S. 98.

1 4 8

Putnam (1975), p. 219, S. 27.

5 v. d. Pfordten

Β. Theorien der Bedeutungserklärung

66

zu erfassen, sie mit Wörtern zu verbinden, sie geistig zu bewegen, über sie zu sprechen etc. 149 Putnam versucht, sein Ergebnis durch folgende Beobachtungen zu untermauern, die er schließlich zur Normalformbeschreibung der Bedeutung eines Wortes integriert: Es besteht eine sog. "linguistische Arbeitsteilung", d. h. fachlich nicht besonders qualifizierte Sprecher beherrschen bei ihrer Verwendung eines Wortes regelmäßig nur eine beschränkte Anzahl von Kennzeichnungen. So wissen sie ζ. B. bei einem Tiger, daß es sich um ein katzenartiges Raubtier von bestimmter Größe mit schwarzen und gelben Streifen handelt. Daneben gibt es einige Experten (in diesem Fall Biologen), die aufgrund besonderer morphologischer und genetischer Kenntnisse eine genaue Extensionsbestimmung vornehmen können. Die individuelle und die kollektive Fähigkeit zur Referenzbestimmung ergänzen sich gegenseitig150. Nach Putnam weist jede Sprachgemeinschaft die eben beschriebene Art von sprachlicher Arbeitsteilung auf. Die Ersetzung durch eine präzise Idealsprache ohne Kennzeichnungsunschärfen wäre zwar prinzipiell, aber nicht in praktischer Hinsicht möglich, weil die Sprache - wie eine Volkswirtschaft - zumindest auf ein gewisses Maß an Arbeitsteilung angewiesen ist. Kommunikation setzt nur voraus, daß beide Sprecher ein bestimmtes Stereotyp haben und um die Kenntnis des anderen Sprechers von der eigenen Stereotypkenntnis wissen151. Es handelt sich also um eine linguistische Minimalkompetenz152. Im Zusammenhang mit Putnams Intensionsskepsis steht folgende Einsicht: Nicht nur offenkundig indexikalische Wörter, wie "ich", "hier", "jetzt" haben eine indexikalische Komponente, sondern alle deskriptiven Worte und Prädikate. Die reale Umgebung hat somit entscheidenden Einfluß auf Extension und Bedeutung153. Diese pragmatisch anmutende Position unterläuft Putnam aber selbst, indem er sie auf die sog. kausale Referenztheorie von Kripke ver-

1 4 9

Putnam (1975), p. 264, S. 87.

1 5 0

Stegmüller (1952), Bd. 2, S. 361ff.

1 5 1

Putnam (1975), p. 256f, S. 76f.

1 5 2

Dies erinnert an Searles (1969), p. 85ff, S. 133ff, Prinzip der Identifikation, nach dem

ein Sprecher, der beabsichtigt, mit der Äußerung eines Ausdrucks auf einen partikularen Gegenstand zu verweisen, die Fähigkeit haben muß, eine identifizierende Beschreibung jenes Gegenstandes zu geben. 1 5 3

Stegmüller (1952), Bd. 2, S. 367.

IV. Einzelne Modelle der Bedeutungserklärung

67

engt: Danach wird einem Namen das als Designat zugeordnet, was ihm von der Person zugewiesen wurde, von der man ihn gelernt hat 154 . Neben Kennzeichnungsmerkmalen, die in den Stereotypen mit den Worten verknüpft sind und die sich bei neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen ohne größere Schwierigkeit revidieren lassen, gibt es aber auch "KategorialindikatorenN, die zwar nicht absolut unwandelbar, aber doch qualitativ schwerer zu revidieren sind, ζ. B. weil sie wie bei der Aussage "Tiger sind Tiere" 155 Teil eines weitverbreiteten Klassifikationssystems sind. Putnam nennt solche Kennzeichnungen "semantische Marker" 156. Man ist hier stark an eine linguistische Wendung der aristotelischen und kantischen Kategorien bzw. der Verzweigungen des porphyrischen Baums erinnert. Insgesamt ergibt sich somit nach Putnam eine Normalformbeschreibung der Bedeutung in Form eines vierfachen Vektors. Er besteht fur "Wasser" ζ. B. aus 157 : -dem syntaktischen Marker: also der syntaktischen Kennzeichnung dieses Wortes, ζ. B. als "Substantiv" - dem semantischen Marker: "natürliche Art, Flüssigkeit" - dem Stereotyp: "farblos, durchsichtig, ohne Geschmack, durstlöschend" - der Extension: " H 2 0 " 1 5 8 Putnam kommt zum Ergebnis, daß gemäß der Eingangsthese II zwar die Bedeutung in dieser reformulierten Form die Extension bestimmt, nicht aber, wie These I meinte, der psychische Zustand eines Sprechers die Bedeutung159. Man kann also nach Putnam im Gegensatz zu Quine "einen Begriff von etwas haben". Dies ist aber nicht wie bei den Intensionalisten eine Funktion, die über alle möglichen Welten verläuft, sondern bleibt mit einem Stereotyp ver-

1 5 4

Putnam (1975), p. 246, S. 63 mit Berufung auf ähnliche Gedanken bei Kripke.

1 5 5

Putnam (1975), p. 267f, S. 92.

1 5 6

Putnam (1975), p. 266, S. 91.

1 5 7

Putnam (1975), p. 269, S. 94. Zu einer sehr guten Explikation vgl. Wittmann (1986), S.

375. 1 5 8

Dazu ist anzumerken, daß nach Putnam "Extension" im realistischen Sinne zu verstehen

ist und daß mit Ausnahme der Extension die Angabe der Komponenten des Bedeutungsvektors in der Aufstellung von Hypothesen über die Kompetenz des individuellen Sprechers besteht. 1 5 9

Putnam (1975), p. 270, S. 95.

68

Β. Theorien der Bedeutungserkläng

knüpft, das partiell sozial bestimmt ist und nur eine Komponente des Bedeutungsbegriffs ausmacht160.

2. Behavioristische Bedeutungstheorien

Grundlage dieser Theorien ist die Untersuchung der Sprache als menschliches Verhalten 161, die Ablehnung mentalistischer bzw. introspektiver Termini und entsprechender Gegebenheiten und eine mechanistische bzw. deterministische Ausgangsposition162. Die Kommunikation wird in doppelter Weise in den klassischen Verhaltensbegriffen Reiz und Reaktion beschrieben163: Ein Sprecher reagiert auf bestimmte Umstände und der Hörer verhält sich seinerseits in spezifischer Weise auf die Äußerung164. Hauptvertreter dieser Richtung sind Morris (1946), Skinner (1957) 165 , Stevenson166 und - mit Einschränkungen - Quine. Zwei Gründe waren bestimmend, sich innerhalb der behavioristischen Bedeutungstheorien nur mit letzterem auseinanderzusetzen: Zum einen stellt seine Position die in jüngster Zeit wohl am meisten diskutierte Sprach- und Bedeutungstheorie dar. Ein Großteil der Stichworte, die die sprachphilosophische Diskussion in den letzten drei Jahrzehnten beherrscht haben, wie "Holismus", "Unbestimmtheit der Übersetzung" und "Intensionsskepsis", stammen von Quine. Zum anderen ist Quines Theorie von Interesse, weil sie zwar von strikt behavioristischen Grundannahmen ausgeht, aber doch auch strukturalistische, referentielle, soziale und pragmatische Züge trägt und damit auf ein differenziertes Bedeutungsmodell verweist.

1 6 0

Stegmüller (1952), Bd. 2, S. 389.

1 6 1

v. Kutschera (1971), S. 79.

1 6 2

Lyons (1977), Bd. I, S. 133.

1 6 3

v. Kutschera (1971), S. 80.

1 6 4

Vgl. Tugendhat (1976), S. 220.

1 6 5

Zu deren Theorien: v. Kutschera (1971), S. 80ff.

1 6 6

Stevenson (1944), p. 70: Die deskriptive Bedeutung eines Zeichens sei seine Disposition, das Bewußtsein zu affizieren.

I V . Einzelne Modelle der Bedeutungserklärung

69

Sprache ist fur Quine ein soziales Vermögen167, dessen Grundlage gesellschaftliche Reaktionen gegenüber den sprachlichen Reaktionen eines Sprechers auf Sinnesreizungen darstellen. Dabei bilden Sätze die fundamentalen Einheiten, nicht Wörter 168 , denn letztere haben nur insofern Bedeutung, als ihr Gebrauch in Sätzen auf andere Sätze konditioniert ist. Unter diesen verdienen nach Quine wiederum die Beobachtungssätze als Basissätze des Spracherwerbs besondere Beachtung. Sie werden dadurch erlernt, daß die konventionell-korrekte Verknüpfung einer Sinnesreizung mit einer sprachlichen Äußerung durch die Gesellschaft belohnt und die falsche Verknüpfung bestraft wird 169 . Sieht das Kind also ein Eis, so fuhrt die Belobigung und eventuell der Erwerb des Eises als Reaktion auf seine Äußerung "...Eis..." zu einer Stabilisierung dieser Reaktionsdisposition. Dieses Modell funktioniert nach Quine auch bei privaten Sinneseindrücken, wie Schmerzempfindungen, indem hier auf beobachtbares Begleitverhalten wie ζ. B. Stöhnen - Bezug genommen wird, das regelmäßig mit dem verborgenen Reiz verbunden ist 170 . Unterschiedliche Sinneswahrnehmungen bei verschiedenen Mitgliedern der Sprachgemeinschaft werden durch einen "Zug zur Objektivität"171 ausgeglichen, der die chaotische Vielfalt der Verknüpfungen von Worten und Erfahrungen überlagert 172, und zwar dort am stärksten, wo die Gesellschaft am weitestgehendsten tangiert ist: "Different persons growing up in the same language are like bushes, trimmed and trained to take the shape of identical elephants. " 1 7 3 Daneben können Sätze aber auch durch rekursiven Aufbau aus Wörtern, die in der oben beschriebenen Weise gelernt wurden, entstehen. Da aber auch diese Erweiterung nicht über eine ausdrucksarme Beschreibungssprache hinausführen würde, werden schließlich auch interverbale Assoziationen benötigt, die die Benutzung neuer Sätze erlauben, ohne sie - sei es auch bloß derivativ an nonverbale Stimuli anzubinden174: "Ein Satz belebt den anderen."175

1 6 7

Quine (1960), p. I X , S. 13. Vgl. dazu: v. Kutschera (1971), S. 94ff.

1 6 8

Quine (1960), p. 17, S. 44; Hoolcway (1988), p. 8ff.

1 6 9

Quine (1960), p. 5, S. 24. Vgl. Lauener (1982), Willard V . Ο. Quine, S. 68.

1 7 0

Quine (1960), p. 5, S. 25.

1 7 1

Quine (1960), p. 8, S. 28.

1 7 2

Quine (1960), p. 8, S. 29.

1 7 3

Quine (1960), p. 8, S. 29.

1 7 4

Quine (1960), p. 10, S. 32.

Β. Theorien der Bedeutungserklärung

70

Die Theorie als Ganze - einschließlich der Philosophie, die keinen Sonderstatus einnimmt - ist ein Gewebe aus Sätzen, die durch den Mechanismus der Konditionierung vielfältig miteinander und mit nonverbalen Reizen verbunden sind. Letztere bilden quasi die Ränder oder Fundamente dieses Gewölbes. Quines These des Holismus besteht nun neben der Annahme einer solchen einheitlichen Gesamttheorie darin, daß man einzelne Sätze keiner empirischen Überprüfung unterziehen bzw. als a priori wahr kennzeichnen kann, wie der Empirismus mit seiner Dichotomie zwischen analytischen und empirisch-synthetischen Sätzen annahm176. Das fuhrt zu einem semantischen Holismus177. Quines sprachphilosophische Zentralkritik richtet sich gegen die von Carnap und seinen Nachfolgern propagierte intensionale Bedeutungstheorie mit ihrer Annahme von Intensionen (Propositionen, Attribute, Relationen, Begriffe) und der "Synonymie" als Schlüsselbegriff. Dem Aufweis der Unmöglichkeit exakt synonymer Ausdrücke, aber auch einer letztgültigen Extensionsbestimmung, dient Quines berühmte These der "Unbestimmtheit der Übersetzung"178: Der Versuch einer sog. "radikalen Übersetzung", d. h. der Übersetzung zwischen zwei nichtverwandten Sprachen, ohne gemeinsame kulturelle Basis179, kann zwar praktisch gelingen, bleibt aber letztendlich von einer Vielzahl analytischer Übersetzungshypothesen abhängig, die nicht überprüfbar sind 180 . Man kann zwar die Reizbedeutung eines Satzes als Klasse aller Reizeinflüsse definieren, die den Sprecher zur Zustimmung bzw. Ablehnung anspornen würden 181, und hierauf aufbauend zwei Sätze als approximativ reizsynonym ansehen, wenn sie dieselben Reizeinflüsse erfordern 182. Aber wenn ein Kaninchen vorbeiläuft und der Eingeborene "Gavagai" ausruft (so Quines Standardbeispiel), kann der Sprachforscher doch 1 7 5

Quine (1960), p. 9, S. 30ff.

176 Quines berühmter Angriff auf dieses Dogma des Empirismus findet sich in Quine (1951), Two Dogmas of Empiricism; vgl. ν. Kutschera (1971), S. 104ff; Lauener (1982), S. 72flf, 85. 1 7 7 Vgl. Hookway (1988), p. 39, 134, 165ff. 1 7 8

Quine (1960), p. 26ff, S. 59ff, p. 28: "The infinite totality of sentences of any given

speaker's language can be so permuted, or mapped onto itself, that (a) the totality of the speaker's dispositions to verbal behavior remains invariant, and yet (b) the mapping is no mere correlation of sentences with equivalent sentences, in any plausible sense of equivalence however loose". Vgl. Hookway (1988), S. 127ff; Lauener (1982), S. 87ff; Stegmüller, S. 288f. 1 7 9

Quine (1960), p. 28, S. 62; Stegmüller S. 290.

1 8 0

Quine (1960), p. 71, S. 135.

1 8 1

Quine (1960), p. 32f, S. 69f.

1 8 2

Quine (1960), p. 52, S. 102.

I V . Einzelne Modelle der Bedeutungserklrung

71

nie sicher sein, ob sich der Eingeborene nicht auf ein Kaninchenstadium, einen integralen Kaninchenteil, auf die Verschmelzung der Kaninchen oder die Manifestation der Kaninchenheit bezieht183. Denkbar ist auch der bloße Schluß auf die Anwesenheit eines Kaninchens aufgrund einer Kaninchenfliege, die dem Sprachforscher nicht bekannt ist 184 . Bei beobachtungsferneren Sätzen verschärft sich die Problematik, da hier schon die Reizbedeutung eines Satzes schwerer oder gar nicht bestimmbar ist. Auch wenn sich somit vielleicht die Reizsynonymie befriedigend feststellen läßt, kann man doch nicht zu einem allgemeinen Begriff der Synonymie übergehen185. Auf dieser Basis setzt sich Quine mit verschiedensten sprachlichen Erscheinungsformen, wie singulären und allgemeinen Termini etc., auseinander. Dabei reduziert er die fur wissenschaftliche Theorien geeignete Sprache auf ein Grundgerüst. Dies geschieht durch Ausschluß von propositionalen Einstellungen, Modalitäten, intensionalen Abstraktionen und durch Rückführung der singulären Termini mit Ausnahme der Variablen - also v. a. der Kennzeichnungen (im Anschluß an Russell186) und der Namen - auf allgemeine Termini. Das logische Grundgerüst besteht nurmehr aus der Prädikation, der Allquantifikation und den Wahrheitsfunktionen 187. Auch wenn Quine keine vollkommene Neukonstruktion der Wissenschaftssprache anstrebt, so findet sich hier doch ein Grundimpetus der "ideal-language-philosophy*. Bezeichnend ist aber, daß seine Reduktion der semantischen und syntaktischen Formen der Sprache sich nur am Ideal einer adäquaten Sprache fur wissenschaftliche Theorien orientiert. Die praktische Sprache bleibt ausgeklammert.

3. Pragmatische Bedeutungstheorien

Grundthese der Pragmatik ist, daß die klassische Abbildsemantik in ihrer verengten Betrachtung der bloßen Referenzbeziehung zwischen Zeichen und

1 8 3

Quine (1960), p. 52f, 72, S. 103, 135.

1 8 4

Quine (1960), p. 37, S. 77.

1 8 5

v. Kutschera (1971), S. 131.

1 8 6

Russell (1905), On Denoting.

1 8 7

Quine (1960), p. 228, S. 393.

Β. Theorien der Bedeutungserklärung

72

Entitäten und ihrer Konzentration auf die deskriptive Sprachbedeutung zu kurz greift. Aus diesem Grund wurden pragmatische Ansätze in letzter Zeit gerade auch fur Theorien der praktischen Sprache bzw. entsprechende Versuche in der Rechtstheorie interessant. Nicht das isolierte Sprachzeichen im Verhältnis zu bestimmten Gegebenheiten ist bedeutungskonstitutiv, sondern der "Gebrauch in der Sprache"188. Die Sprache wird in ihrer konventional vermittelten Einbettung in bestimmte Handlungs-, Situations- und Interaktionskontexte betrachtet. Anders als beim behavioristischen Modell wird keine strikt-kausale Auslösung der sprachlichen Äußerung durch die wahrgenommene Realität angenommen, sondern eine konventionale Bedeutungsbestimmung durch die Einbettung in äußere Umstände189. Die zwei einflußreichsten pragmatischen Positionen sollen kurz dargestellt werden:

a) Die Position des späten Wittgenstein

Die Gedanken des späten Wittgenstein finden sich am ausgeprägtesten in den "Philosophischen Untersuchungen" (PU), in deren §§ 1-137 er zuerst mehrere der Zentralthesen des Tractatus zerstört: An die Stelle der ausschließlichen Konzentration auf Deklarativsätze und deren logische Verknüpfungen tritt der Zentralbegriff des "Sprachspiels". Damit ist eine dreifache Erweiterung verbunden: (1) Es wird nicht mehr bloß die deskriptive Sprache untersucht, sondern alle Arten der Sprache (PU § 23). (2) Das atomistisch-molekularistische Konzept des aus Gegenständen zusammengesetzten Elementarsatzes als Grundbaustein wird zugunsten einer materiell holistischen Theorie der Gesamtsprache erweitert. Diese erfordert dann auch einen methodischen Holismus. (3) Kernpunkt der pragmatischen Bedeutungstheorie bei Wittgenstein ist aber, daß man Sprache nur in ihrer Einbettung in einen nichtsprachlichen 1 8 8

So die oft zitierte, aber wegen ihrer Vagheit auch ebensooft kritisierte Grundformel des

späten Wittgenstein (1953), PU § 43, S. 41. 1 8 9

Dies verkennt Tugendhat (1976), S. 222ff, wenn er nur die kausale Heivornifung durch

die Umstände berücksichtigt.

IV. Einzelne Modelle der Bedeutungserklärung

73

Kontext verstehen kann (PU § 7, § 23 :"Eine Geschichte erfinden;... Theater spielen - Reigen singen - Rätsel raten - ...") 1 9 0 . Dabei gibt es zwei Kontexte, einen engeren und einen weiteren, PU § 23: "Das Wort ' Sprachspiel ' soll hier hervorheben, daß das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit oder einer Lebensform. " Das realistische semantische Modell des Tractatus wird somit zwar nicht als gänzlich falsch verworfen 191. Zur semantischen Erklärung ist es jedoch untauglich - da viel zu eng - und kann allenfalls einen kleinen Teil der Sprachspiele erfassen und auch diese nur unbefriedigend. Die Abkehr vom einen Extrem des strikten Monismus des Tractatus fuhrt über diese dreifache Erweiterung zum anderen Extrem des Indeterminismus: PU § 23: "Wieviele Arten der Sätze gibt es aber? Etwa Behauptung, Frage und Befehl? - Es gibt unzählige solcher Arten: unzählige verschiedene Arten der Verwendung alles dessen, was wir 'Zeichen1, 'Worte', 'Sätze' nennen." Stenius hat in dieser radikalen Wandlung eine Tendenz gesehen, "das Kind mit dem Bade auszuschütten"192. Ziel der Untersuchung wird es sein, trotz der Übernahme des methodischen Holismus mit Hilfe der empirisch-ontologischen Grundannahmen eine gewisse Strukturierung der Vielzahl der Sprachspiele zu erreichen, um so ein semantisch-pragmatisches Modell aufbauen zu können, das sich nicht nur im bloßen mehr oder minder lapidaren Hinweis auf den "Gebrauch der Sprache" erschöpft. Neben diese dreifache Erweiterung tritt aber bei Wittgenstein auch eine zweifache inhaltliche Revision: An die Stelle der Korrelation referentieller Namensbedeutung mit einem strukturell tatsachenisomorphem Satzsinn (Isomorphietheorie der Abbildung) und einer rekursiv aus Elementarsätzen aufbaubaren Gesamtsprache tritt der Begriff der Familienähnlichkeit, d. h. ein "kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten"193 sprachlicher und nichtsprachlicher Gegebenheiten. Darüber hin1 9 0

Vgl. auch Wittgenstein (1953), PU § 117: "...Wenn ζ. B. Einer sagt, der Satz "Dies ist hier", (wobei er vor sich hin auf einen Gegenstand zeigt) habe fur ihn Sinn, so möge er sich fragen, unter welchen besonderen Umstanden man den Satz tatsachlich verwendet. In diesen hat er dann Sinn." 1 9 1

Vgl. Wittgenstein (1953), PU § 15: "Etwas benennen, das ist etwas Ähnliches, wie einem Ding ein Namentafelchen anheften." Ebenso Alexy (1979), S. 73. 1 9 2

Stenius (1975), S. 37.

1 9 3

Wittgenstein (1953), PU § 66; S. 56ff.

Β. Theorien der Bedeutungserklärung

74

aus geht aber noch ein fundamentalerer Wandel vonstatten: Das Denken in Wahrheitsbedingungen, d. h. in der Verknüpfung von Satz und Tatsache wird aufgehoben 194. In den §§ 138-242 PU sieht Kripke das eigentliche Herzstück der Philosophischen Untersuchungen195. Es wird darin die hyperskeptische Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Sprache überhaupt gestellt196. In der Form impliziter Skepsis zeigt Wittgenstein, daß jeder erdenkliche Versuch, das Faktum des Regelfolgens - das er als zentrale Frage von Sprache ansieht auf herkömmliche Weise zu erklären, zum Scheitern verurteilt ist 197 . Es gibt danach keine Standardbedeutung eines Wortes oder Satzes, keine Begrenzung gegen die völlige Beliebigkeit der Sprachverwendung. Auf die Frage, woher ich denn wisse, daß nicht eine Nichtstandardbedeutung statt der Normalbedeutung die mit meiner früheren Verwendung eines Wortes im Einklang stehende Bedeutung ist, gibt es keine Antwort. Regelhaftes Verhalten bei der Verwendung von Worten bzw. deren Verknüpfung mit mentalen Vorstellungen läßt sich weder über den Begriff der Gleichheit noch des Algorithmus198 oder der Iteration von Regeln (willkürlicher Abbruch oder infiniter Regreß) erklären 199. Auch eine Dispositionstheorie der Bedeutung, nach der das, was ich meine oder intendiere, von meinen Dispositionen abhängt, fuhrt nach Kripkes Interpretation von Wittgenstein nicht weiter, denn die Dispositionen können höchstens ein endliches Teilstück möglicher Verwendungen eines Wortes umfassen 200. Die Disposition, Fehler zu machen, kann nicht erklärt werden 201.

1 9 4

ige i y j

Stegmüller (1986), S. 80f. Aus der Vielzahl der Interpretationen der teilweise kryptischen Äußerungen des späten

Wittgenstein soll hier für den zweiten Teil der Philosophischen Untersuchungen die aktuellste und in neuerer Zeit wohl am meisten diskutierte von Kripke (1982), On Rules and Private Language,

herangezogen werden. Vgl. Stegmüller (1986), der sich dieser Position offensichtlich

weitgehend angeschlossen hat. Zu einer Kritik an Kripkes Interpretation vgl. z. B. Baker/Hacker (1984), Critical study: On Misunderstanding Wittgenstein: Kripke's Private Language Argument, und die von Stegmüller (1986), S. 135 zitierte Literatur. 1 9 6

Kripke (1982), p. 62. Stegmüller (1986), S. 8.

1 9 7

Wittgenstein (1953), PU § 202, S. 128. Kripke (1982), p. 60. Stegmüller (1986), S. 9.

1 9 8

Kripke (1982), p. 16. Stegmüller (1986), S. 21.

1 9 9

Kripke (1982), p. 17f. Stegmüller (1986), S. 23f.

2 0 0

Kripke (1982), p. 26, 28, 57. Stegmüller (1986), S. 38.

2 0 1

Kripke (1982), p. 30, 57. Stegmüller (1986), S. 36.

I V . Einzelne Modelle der Bedeutungserklärung

75

Selbst ein Rekurs auf die innere Wahrnehmung nützt nichts, da man auch dann nie mit Sicherheit die Gleichheit zweier Erlebnisse behaupten kann 202 . Alle diese Erklärungsversuche machen nach Kripke den Fehler, daß sie zwischen einem gegenwärtigen und zukünftigen Wortgebrauch eine deskriptive Relation annehmen, während es sich vielmehr um eine normative handelt203: "Der Begriff des Meinens (Regelfolgens, einen Begriff Erfassens) ist so zu verstehen, daß das, was ich jetzt meine, dasjenige bestimmt, was ich künftig sagen sollte, nicht jedoch das, was ich künftig sagen werde. " 2 0 4 Wittgenstein vertritt somit nicht nur eine skeptische Position, sondern eine hyperskeptische: Er leugnet jedes Faktum, das als irgendgeartete Gegebenheit das Meinen stabilisieren könnte205. Diese Position ist jedoch noch nicht das letzte Wort, denn Wittgenstein kommt doch zu einer Lösung für die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Sprache überhaupt206: Nimmt man lediglich eine einzelne Person in den Blick, kann nach dem oben Ausgeführten ein regelhaftes Verhalten nicht erklärt werden. Nur wenn man sie als Glied einer umfassenden Gemeinschaft betrachtet, ändert sich die Situation207. Die beliebigen Äußerungsbedingungen des einzelnen werden durch Zustimmungsbedingungen der Gemeinschaft ergänzt. Die Gemeinschaft muß eine Sprachverwendung eines Mitgliedes nicht ohne weiters hinnehmen, sondern kann zwischen den Fällen unterscheiden, in denen ein korrekter Gebrauch von Regeln vorliegt und solchen, in denen dieser Gebrauch inkorrekt ist 208 . Nicht das individuelle Meinen ist also konstitutiv fur die Stabilisierung des Verhältnisses von Zeichen und Bezeichnetem, sondern die Übereinstimmung in den Urteilen ist umgekehrt konstitutiv für die Bestimmung des Meinens und Regelfolgens durch einzelne209. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß Wittgenstein entgegen behavioristischen Interpretationen damit eine mentale Beteiligung

2 0 2

Kripke (1982), p. 41ff.

2 0 3

Kripke (1982), p. 37.

2 0 4

Stegmüller (1986), S. 42.

2 0 5

Stegmüller (1986), S. 68.

2 0 6

Stegmüller (1986), S. 72.

2 0 7

Kripke (1982), p. 109. Stegmüller (1986), S.88.

2 0 8

Kripke (1982), p. 74. Stegmüller (1986), S. 88f.

2 0 9

Stegmüller (1986), S. 90.

Β. Theorien der Bedeutungserklärung

76

beim Sprechen nicht völlig negieren oder ausklammern will, sondern über die soziale Einbindung vielmehr eine Stabilisierung des Meinens erfolgt 210. Mit Hilfe der regelskeptischen Haltung und der einzigen Lösung einer externen Stabilisierung der Regeln hat Wittgenstein das Privatsprachenargument begründet211: Es gibt keinen privaten Gebrauch von Ausdrücken, keine selbsterfundene Sprache212.

b) J. L. Austins Sprechakttheorie

Nach J. L. Austin213 ist die vorherrschende Bedeutungstheorie zu sehr auf die Aufklärung dessen fixiert, was man sagt, also auf den Inhalt oder "propositionalen Gehalt"214 einer Äußerung, und vernachlässigt den Teil der Äußerung, den man tut, indem man etwas sagt215. Verantwortlich hierfür ist v.a. der verunklarende Gebrauch des mehrdeutigen Begriffs "Bedeutung" y der auch nicht durch die Ersetzung durch "Gebrauch" 216 aufgehellt werden kann 217 .

2 1 0

Vgl. Kripke (1982), p. 50, F N 33.

2 1 1

Das allerdings eine zweifache Ausprägung hat: vgl. v. Kutschera (1971), S. 183ff. Der Frage, ob man Ober private Empfindungen etwas aussagen kann, wendet sich Wittgenstein in den §§ 243ff der PU zu.

211 Dieses kannte übrigens auch schon Bühler (1934), Sprachtheorie, S. 298: "Ein rechtes Wort muß im intersubjektiven Verkehr verwendbar sein." 213 Der Sprechakttheoretiker J. L. Austin ist von dem Rechtstheoretiker J. Austin zu unterscheiden. 2 1 4 Der Ausdruck "propositionaler Gehalt", der außer von Austin auch von Searle verwendet wird, soll so weit als möglich vermieden werden, da damit immer schon das Bestehen von Propositionen konnotiert wird und so eine implizite Entscheidung fur die intensionale Semantik erfolgt. 2 1 5

Austin (1962), How to Do Things with Words, p. 109, S. 126; der sog. deskriptive Fehl-

schluß, p. 100, S. 117. Vgl. zu Austin: Craemer-Ruegenberg (1975), S. 4Iff; zur Entwicklung seiner Position: Opalek (1986), S. 12Iff. 2 1 6

Den Wittgenstein in den "Philosophischen Untersuchungen" verwendet, (1953), § 43, S.

2 1 7

Austin (1962), p. 100, S. 118.

41.

I V . Einzelne Modelle der Bedeutungserklärung

77

Um die verschiedenen Aspekte einer Äußerung und ihr Verhältnis zueinander besser analysieren zu können, unterscheidet Austin den lokutionären, den perlokutionären und den illokutionären Akt, die allerdings nicht nacheinander oder als Ursache und Folge ablaufen, sondern in einer einzigen Äußerung verwirklicht werden 218. Die Bezeichnung "Akt* fur alle drei Teile der Äußerung, also auch fur den propositionalen Teil, zeigt Austins Sprachverständnis, das eine vollkommene Abstraktion des Sprachinhalts von der Sprachhandlung nicht zuläßt219. Der lokutionäre Akt besteht im Äußern eines Satzes mit einer bestimmten Bedeutung, also dem, was man sagt220. Dies hängt von spezifischen Konventionen ab. Dabei unterscheidet J. L. Austin die Äußerung bestimmter Geräusche (phonetischer Akt; Phon), bestimmter Wörter (Vokabular) gemäß einer bestimmten Grammatik mit bestimmter Intonation (phatischer Akt; Phem) und deren Benutzung, um über die Wirklichkeit mit Hilfe von Sinn und Referenz etwas Inhaltliches auszusagen, also ein Verständnis zu bewirken (rhetischer Akt; Rheni) 221. Der Vollzug des rhetischen Akts hängt dabei vom phonetischen und phatischen und der des phatischen vom phonetischen ab 2 2 2 . Ein Phem kann zu unterschiedlichen Rhemen fuhren und umgekehrt223 (Homonymie, Synonymie). Der illokutionäre Akt einer Äußerung ist die Sprachhandlung, die wir vollziehen, indem wir etwas sagen, also z.B. fragen, informieren, eine Entscheidung verkünden, eine Absicht erklären, ein Urteil fallen etc. 224 Der perlokutionäre Akt sind die Wirkungen, die eine Äußerung im Hörer (intendiert oder nicht) hervorruft 225, und die über das bloße Verstehen hinausgehen, also ζ. B. das Überzeugen, Überreden, Abschrecken, Überraschen, Irreführen und Beunruhigen226. Erst wenn auch dieser Teilakt gelingt, kann man nach Austin von einer gelungenen Äußerung sprechen. Der Unterschied 2 1 8

Austin (1962), p. 113, S. 131.

2 1 9

Ebenso: Hare (1971a), Appendix. A Reply to M r . G. J. Warnock, p. 94.

2 2 0

Austin (1962), p. 94, S. 112.

2 2 1

Austin (1962), p. 93, 94f, S. 110, 112f und passim.

2 2 2

Austin (1962), p. 95f, S. 113.

2 2 3

Austin (1962), p. 97f, S. 115.

2 2 4

Austin (1962), p. 98f, S. 116.

2 2 5

Austin (1962), p. 101, S. 118.

2 2 6

Austin (1962), p. 109, S. 126.

78

Β. Theorien der Bedeutungserklärung

zwischen illokutionärem und perlokutionärem Akt soll darin bestehen, daß es sich bei ersterem um ein konventionales Benutzen der Sprache handelt, das explizit performativ vor sich gehen kann (Das Fragen kann als "Ich frage..." expliziert werden), während dies beim perlokutionären Akt nicht möglich sein soll. Austin kennt fünf Sprechaktklassen. Er will mit dieser Einteilung u. a. den "value/fact fetish" 227 überwinden: verdiktive (Wertungen, Schätzungen), exerzitive (Machtausübung: Raten, Anweisen, Warnen), kommissive (Versprechen), konduktive (haben mit Verhalten in der Gesellschaft zu tun: Empfehlen, Beglückwünschen) und expositive Äußerungen (zeigen Situierung unserer Äußerung in einer Unterhaltung).

4. Strukturalistische

bzw. kontextuelle Bedeutungstheorien

Nach diesem Ansatz ergibt sich die Bedeutung eines Zeichens nur oder hauptsächlich aus dem Kontext mit anderen Zeichen innerhalb eines Zeichensystems228. Das strukturalistische Modell sieht den bedeutungsbestimmenden Kontext also anders als das pragmatische in den anderen Zeichen des Zeichensystems. Folgt man der strukturalistischen Grundthese, kann man somit nicht die einzelnen Spracheinheiten in ihrer referentiellen Bedeutung bezüglich Vorstellungen oder Gegebenheiten identifizieren und dann im darauffolgenden Schritt der Analyse fragen, welche kombinatorischen oder sonstigen Beziehungen zwischen ihnen bestehen, sondern die Einheiten lassen sich nur aus ihrer Struktur definieren, oder etwas schwächer formuliert: man identifiziert gleichzeitig sowohl die Einheiten als auch ihre Beziehungen zueinander229. Dabei lassen sich fünf verschiedene Kontextstufen unterscheiden: Wort, Satz, Satzverbindungen, Text und Gesamtsprache. Dementsprechend kann man ato-

2 2 7 Austin (1962), p. 151ff, S. 168ff. Interessanterweise übersetzt Eike v. Savigny dies nicht mit "Wert/Tatsache-Fetisch\ sondern mit "Sein-Sollen-Fetisch", "Weit" und "Sollen" werden also synonym verwandt. 2 2 8

Vgl. dazu ausführlich: Lyons (1977), Bd. I, S. 242ff, Bd. Π , S. 220ff.

2 2 9

Lyons (1977), Bd. I, S. 243.

IV. Einzelne Modelle der Bedeutungserklärung

79

mistische, molekulare, kontextuelle, textuelle und holistische Positionen kennzeichnen. Im Rahmen strukturalistischer Bedeutungstheorien läßt sich eine philosophische und eine linguistische Entwicklungslinie unterscheiden:

a) Linguistischer Nestor war Saussure230. Er postulierte, daß es die Linguistik ausschließlich mit dem abstrakten Sprachsystem ("langue") und nicht dem einmaligen, realen Sprachverhalten ("parole") 231 zu tun habe. Dabei sei die Sprache "ein System von bloßen Werten, das von nichts anderem als dem augenblicklichen Zustand seiner Glieder bestimmt wird" 232 . Denken und Laute sind fur sich selbst gestaltlose und unbestimmte Massen, die erst in der Sprache zu einer gegenseitigen Strukturierung finden 233. Saussure vertrat also eine Zwischenposition zwischen der realistischen und einer rein strukturalistischen These. Auch wenn sich in der Nachfolge Saussures viele Schulen (so etwa die Prager Schule und die Kopenhagener Schule234) als "strukturalistisch" zeichneten, wird die oben dargestellte semantisch-strukturalistische Position nur von einem Teil der Linguisten vertreten (teilweise bezieht sich der Strukturalismus auch auf die Phonologie etc.). Etwas weitergehend als Saussure ist die Lehre des linguistischen Relativismus (Whorfsche Hypothese)235. Danach ist die Referenz auf außersprachliche Gegebenheiten nicht bedeutungskonstitutiv. Es wird vielmehr umgekehrt eine unstrukturierte Wirklichkeit, ein "Weltkontinuum" erst durch das binnenstrukturell ausdifferenzierte System Sprache strukturiert.

2 3 0

Saussure (1916), Cours de Linguistique Générale. Vgl. Frank (1983), S. 33, 41ff. Es ist

umstritten, ob die Interpretation von Bally und Sechehaye wirklich den authentischen Saussure treffen. 2 3 1

Saussure (1916), S. 17.

2 3 2

Saussure (1916), S. 95.

2 3 3

Saussure (1916), S. 133. Vgl. Frank (1983), S. 43f.

2 3 4

Vgl. Szemerenyi (1971), Richtungen der modernen Sprachwissenschaft, S. 53ff.

2 3 5

Vgl. dazu Lyons (1977), Bd. I, S. 257.

be-

80

Β. Theorien der Bedeutungserklärung

b) In der philosophischen Traditionslinie erfolgte der schrittweise Aufbau einer Gegenposition zur atomistischen Vorstellung der Einzelwortbedeutung. Aristoteles ging zwar gemäß dem oben wiedergegebenen Zitat (Β. IV. 1. a)) von der Bedeutung einzelner Wörter aus, aber schon bald befaßte er sich mit der "Rede"236 und konstatierte, daß das Wort als atomarer Teil zwar etwas anzeigen, aber nicht bejahen oder verneinen kann. Wahrheit oder Falschheit ist erst beim Satz bzw. verbundenen Vorstellungen möglich237. Schon in der Spätantike wurde dann mit der Unterscheidung zwischen kategorematischen und nicht-kategorematischen Ausdrücken238 festgestellt, daß zumindest ein Teil der Worte nur in Verbindung mit anderen sinnvoll bzw. wahrheitswertändernd ist. Erst Frege 239 vertrat aber im Rahmen des sog. "Kontextprinzips" eine strikter molekularistische Position: Da die Bedeutung des Satzes sich nicht aus den Einzelbedeutungen der Wörter aufbaue, sondern den Wahrheitswert darstelle, ergebe sich, "daß in der Bedeutung des Satzes alles einzelne verwischt ist" 240 . Allerdings resultiert der Gedanke als Sinn des Satzes offenbar aus dem Sinn der Einzelwörter. Bei Russell findet Freges Position insofern eine Fortsetzung, als Kennzeichnungen fur ihn nie eine Bedeutung haben, sondern immer nur jede Aussage, in deren verbalem Ausdruck sie vorkommen241. Auch beim frühen Wittgenstein geschieht eine Verlagerung der Bedeutungsbestimmung auf die Satzebene242, also eine molekularistische Konzeptionsentwicklung 243 . Allerdings verbleibt mit der Korrelation von Namen und Gegenständen ein atomistisches Residuum.

236 Aristoteles (1925), Peri Hermenias, 16bl, S. 4. Es wird hier der Rolfes-Ubersetzung von "logos" gefolgt, was aber auch "Wort" bedeuten kann. Die griechische Sprache war an diesem Punkt also nicht differenziert genug. 2 3 7 Aristoteles (1925), Peri Hermenias, 16al, S. 1. 2 3 8

Vgl. mit weiteren Nachweisen: Pinborg (1972), S. 34. 239 ^ Dazu: Mayer (1989), S. 71: Es ist umstritten, inwieweit Frege dieses Prinzip später aufrechterhalten hat. 2 4 0 Frege (1892a), S. 50. 2 4 1

Russell (1905), S. 5, 15, 19.

2 4 2

Wittgenstein (1921), "3.3 Nur der Satz hat Sinn; nur im Zusammenhang des Satzes hat

ein Name Bedeutung". 2 4 3

Auch im Rahmen der Sprechakttheorie rückte die gesamte Äußerung und damit der mo-

lekulare Zusammenhang in den Vordergrund, vgl. Kerner (1966), The Revolution in Ethical Theory, p. 158: "What has meaning in the primary sense,..., is the utterance of a full sentence."

IV. Einzelne Modelle der Bedeutungserklärung

81

Davidson244 und Quine vertreten eine holistische Position, die die Sprache als ganzes System bei der Bedeutungsbestimmung berücksichtigt245. Dabei behält aber der Satz als molekulare Einheit eine gewisse eigenständige Stellung. Zumindest bei unmittelbar mit nonverbalen Sinnesreizungen verbunden Beobachtungssätzen kann man von einer einigermaßen befriedigend abgrenzbaren Reizbedeutung sprechen. Quines empirische Grundposition verhindert somit eine konsequent strukturalistisch-holistische Haltung. Neben solchen bis zu einem gewissen Grade einheitlichen oder um Einheitlichkeit bemühten strukturalistischen Theorien gibt es aber auch vermittelnde Positionen: Brentano hat der spätantiken Differenzierung folgend ζ. B. zwischen autosemantischen (=mit selbständiger Bedeutung) und synsemantischen Ausdrücken (=ohne selbständige Bedeutung) unterschieden, und nach Carnap bestehen graduelle Abstufungen in bezug auf die Selbständigkeit sprachlicher Ausdrücke246.

5. Neostrukturalismus

bzw. Postmoderne

Manfred Frank hat den Ausdruck "Neostrukturalismus" für eine Theorierichtung geprägt247, die sich seit Mitte der 60er Jahre in Fortfuhrung des Strukturalismus in Frankreich entwickelt hat und von Denkern wie Lacan, Deleuze, Lyotard und insbesondere Derrida repräsentiert wird. Derrida radikalisiert 248 die "Strukturalität" der Struktur, indem er jedes metaphysische Zentrum, jedes außerstrukturelle Prinzip ausschaltet249 und nur mehr die "différance " (mit "a" statt wierichtig mit "e") als namenlose250 Konstitution

2 4 4

Davidson (1967), p. 22; vgl. auch (1974), On the Very Idea of a Conceptual Scheme, p.

186 oben. 2 4 5

Zu einer holistischen Position kommt auch Habermas (1973), Wahrheitstheorien, S. 247.

2 4 6

Vgl. hierzu: Stegmüller (1952) Bd. 1, S. 381.

2 4 7

Frank (1983), Was ist Neostrukturalismus?

2 4 8

Frank (1983), S. 102.

2 4 9

Derrida (1967), La structure, le signe et le jeu dans le discours des sciences humaines, p.

409f, S. 422; Frank (1983), S. 84ff. 2 5 0

Derrida (1968), La différance, S. 51.

6 v. d. Pfordten

Β. Theorien der Bedeutungserklärung

82

des Gewebes bzw. Spiels von Differenzen postuliert251. Konsequenz fur die Frage nach der Bedeutung ist, daß jede Zeichen-Bezeichnetes-Relation zurückgewiesen wird. Es besteht keine feste Bedeutung252. Kein Zeichen ist sich selbst gegenwärtig253, sondern immer nur durch alle anderen bestimmt. Es gibt kein transzendentales oder privilegiertes Signifikat. Da das Feld oder das Spiel des Bezeichnens von nun an keine Grenzen mehr hat, müßte man sogar den Begriff und das Wort des Zeichens zurückweisen254. Normal ist: "die Erfahrung der unendlichen Derivation der Zeichen, die umherirren und die Schauplätze wechseln und wechselseitig ohne Anfang und ohne Ende ihre Vergegenwärtigung verzaubern. " 2 5 5

6. Soziale Bedeutungstheorien

Nach Lyons 256 , Kirchhof 257 und Kaufmann 258 - aber etwa auch Botho Strauß 259 - besteht eine wesentliche Funktion der Sprache darin, soziale Beziehungen anzubahnen, zu errichten oder zu stabilisieren. Dabei wird jedoch regelmäßig nicht postuliert, daß sich die Zeichenbedeutung in dieser Sozialfunktion erschöpft. Die schon dargestellten jeweiligen Bedeutungstheorien werden also insofern nur in das Modell einer umgreifenden, gesellschaftlichen Interaktionsbeziehung eingebettet, die ihrerseits partiell funktionsbestimmend wirkt. Eine ähnliche Position findet sich in Habermas Zeichenbestimmung als Kommunikativa wieder 260. Hierher gehört auch Jakobsons261 Sprachfunktion,

2 5 1

Derrida (1968), S. 38.

2 5 2

Kimmerle (1988), Derrida zur Einführung, S. 25.

2 5 3

Frank (1983), S. 95.

2 5 4

Derrida (1967), p. 412, S. 425.

2 5 5

Derrida (1967a), La voix et le phénomène, S. 164f.

2 5 6

Lyons (1977), Bd. I, S. 65.

2 5 7

Kirchhof (1987), Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache, S. 7.

2 5 8

Kaufmann (1983), Recht und Sprache, S. 108; (1982), Die Parallelweitung in der Lai-

ensphäre, S. 27: Menschliche Gemeinschaften sind Gemeinschaften durch Sprache. 2 5 9

Strauß (1981), Paare, Passanten, S. 88.

2 6 0

Habermas (1971), Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen

Kompetenz, S. 11 Iff.

I V . Einzelne Modelle der Bedeutungserklärung

83

die sich auf die Eröffnung oder Aufrechterhaltung des Kommunikationskanals bezieht262. Die Grenze zwischen sozialer und pragmatischer Bedeutungsbestimmung läßt sich allerdings offensichtlich nur schwer ziehen.

2 6 1

Jacobson (1960), Linguistics and Poetics, S. 91.

2 6 2

Dazu: Lyons (1977), Bd. 1, S. 66. Vgl. auch S. 67 mit einem Verweis auf Malinowskis

"phatische Kommunion".

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

I. Defizite der dargestellten Modelle Im folgenden sollen einige grundlegende Defizite der dargestellten Modelle aufgezeigt werden. Dies wird insbesondere im Hinblick auf die Basisforderung des methodischen Holismus und eine mögliche Erklärung des Phänomens der praktischen Sprache geschehen.

1. Von anderen Schwächen abgesehen können die realistisch-referentiellen Bedeutungstheorien in den dargelegten Formen der Grundforderung des methodischen Holismus nicht genügen. Sie bieten allenfalls eine befriedigende Erklärung für die deskriptive, nicht aber für die praktische Sprache. Dabei lassen sich von der realistisch-referentiellen Position aus drei Haltungen gegenüber der praktischen Sprache unterscheiden:

a) Die dualistisch-mystifizierende Position des frühen Wittgenstein wurde schon erwähnt (Α. IV.). Die praktische Sprache wird dabei scharf von der deskriptiven getrennt. Ethische Sätze verschleiern entweder eine Deskription, sind also eigentlich deskriptive Sätze, oder aber sie versuchen, etwas Unaussprechbares auszusprechen, etwas "Höheres", was nicht möglich ist1. Diese monistische Beschränkung auf die deskriptive Sprache fuhrt in Verbindung mit einem gegen die Position des ethischen Wertobjektivismus (z.B. bei Moore) gerichteten Erkenntnis- und Sprachskeptizismus zu einem strikten Dualismus, der keine Erklärung fur die praktische Sprache bietet.

1

Vgl. Wittgenstein (1921), 6.42 und oben Α. I., S. 3.

I. Defizite der dargestellten Modelle

85

b) Nach der dualistisch-irrationalisierenden Position, wie sie sich ζ. B. be Ayer2, Ogden & Richards3 und den anderen logischen Positivisten bzw. strikten Emotivisten4 findet, ist die praktische Sprache allenfalls ein irrationales Mittel zum Ausdruck oder dem Hervorrufen von Gefühlen. Sie ist ein Instrument im komplizierten Wechselspiel unserer divergenten Interessen und Einstellungen5. Damit wird jedoch jede Unterscheidung zwischen bloß rhetorischen bzw. persuasiven und überzeugenden Argumenten in praktischen Diskussionen unerklärbar. Es wäre bloßer Wahn, wenn Diskussionspartner ein Argument fur besser halten als ein anderes, da alle nur der Überredung des Gesprächspartners dienen. Gesteht ein Gesprächsteilnehmer zu, daß ein Argument stärker ist als ein anderes, meint er nicht nur dessen Überredungskraft, sondern eine größere Sachadäquanz. Im übrigen kann diese Position auch Äußerungen, die noch etwas anderes als Gefühle hervorrufen sollen - wie etwa Verpflichtungssätze -, nicht erklären.

c) Schließlich findet sich eine strikt monistisch-deskriptive Position. wurde im Rahmen des ethischen Intuitionismus ζ. B. von Moore6 vertreten, wird etwa in neuester Zeit von v. Kutschera7 propagiert und hat unter den ethischen Naturalisten Anhänger, so etwa Schlick8. Danach ist die praktische Sprache in gleicher Weise abbildend und beschreibend wie die theoretische9. Wertsätze verschleiern nur ihren deskriptiven Gehalt und sind auf deskriptive Sätze rückfuhrbar. Mag diese Position im Zusammmenhang mit der Annahme objektiver Werte bei Wertsätzen noch konsistent sein, so gerät sie jedoch bei der Erklärung von 2

Ayer (1936), p. 144, S. 144.

3

Ogden & Richards (1923), p. 10, 12, 125.

4

Zur historischen Entwicklung dieser Position vgl. v. Kutschera (1982), S. 93ff; Grewen-

dorf/Meggle (1974b), S. 15. 5

Grewendorf/Meggle (1974b), S. 17.

6

Moore (1903), S. 54.

7

v. Kutschera (1982), S. 227fif.

8

Schlick (1930), Fragen der Ethik, S. 112: "Das Wort 'gut' hat den moralischen Sinn, wenn

es 1. sich auf menschliche Willensentschlüsse bezieht und 2. eine Billigung durch die menschliche Gesellschaft ausdrückt." 9

Vgl. Grewendorf/Meggle (1974b), S. 13.

Sie

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

86

Verpflichtungssätzen 10 in unlösbare Schwierigkeiten. Denn was bildet eine Verpflichtung ab? Hier bleibt dann nur die gleichermaßen unbefriedigende Möglichkeit, zwischen Wertsätzen und Verpflichtungssätzen eine scharfe dualistische Grenze zu ziehen oder sogar die Imperative als deskriptiv anzusehen. Im ersten Fall wird die Grenzlinie, die der frühe Wittgenstein und die strikten Emotivisten noch zwischen theoretischer und praktischer Sprache gezogen haben, in die praktische Sprache verlagert:

deskriptive Sätze

Wertsätze

|

Verpflichtungssätze

Im zweiten Fall ergibt sich dagegen ein Monismus der deskriptiven Sprache. So meint etwa Peirce, daß das Objekt, auf das ein Offizier bei einem Befehl verweise, sein Wille sei11. Diese Erklärung ist aber kaum haltbar, denn die Anweisung, daß etwas geschehen soll, und die Beschreibung des eigenen Willens zur Ausführung sind strikt zu unterscheiden. In dem Satz "Ich will, daß Du A tust, aber ich sehe ein, daß es jetzt nicht geht. " wird ein Ausfuhrungwille beschrieben, ohne daß eine Anweisung erfolgt. v. Kutschera wählt eine Kompromißmöglichkeit, die gleichermaßen kunstvoll wie bedenklich ist: Er unterscheidet nicht zwischen Verpflichtungs- und Wertsätzen, sondern innerhalb der Verpflichtungssätze zwischen Gebotssätzen und Imperativen12. Erstere sind Behauptungssätze, mit denen man behauptet, daß Gebote, Obligationen oder Verpflichtungen bestehen oder nicht bestehen. Sie können wie andere deskriptive Sätze wahr oder falsch sein und bilden die Grundlage der deontischen Logik und der Ethik. Davon sind die Imperative zu unterscheiden, die weder wahr noch falsch sein können, sondern mit denen ein Sprecher etwas gebietet, verbietet oder erlaubt. Letztere bilden nach v. Kutscheras kognitivistischer Position keine plausible Grundlage der Ethik:

deskriptive Sätze Wertsätze Gebotssätze

1 0

|

Imperative

Diese enthalten Imperative, also einzelfallbezogene, konkrete Verpflichtungen, und Nor-

men, also abstrakte Verpflichtungen. 1 1

Peirce (1934), § 473, p. 324.

1 2

v. Kutschera (1982), S. 3ff; (1976), S. 158; (1973), S. 126.

I. Defizite der dargestellten Modelle

87

Durch diese subtile Unterscheidung verschiebt v. Kutschera die dualistische Scheidelinie abermals und teilt die Verpflichtungssätze. Er glaubt somit die Deskriptivität und Wahrheitsfahigkeit der Verpflichtungssätze wenigstens fur die Gebotssätze retten zu können. Aber diese Operation ist aus mehreren Gründen unbefriedigend: Zum einen bleiben die Imperativischen (nach v. Kutscheras Terminologie) Verpflichtungssätze unerklärt. Die dualistische Grenze zwischen Erklärbarem und Irrationalem wird nur noch ein Stück weiter verschoben, der Forderung des methodischen Holismus aber trotzdem nicht genügt. Zum anderen verfehlt diese Operation ihren Zweck. Dabei soll nicht in Abrede gestellt werden, daß es Deklarativsätze Dritter über Verpflichtungssätze bzw. Verpflichtungsäußerungen gibt. Aber bei diesen Sätzen geht das Spezifische des Verpflichtungssatzes verloren, da die Wahrheit des Satzes - zumindest bei direkter Rede13 - nur davon abhängt, ob die Äußerung tatsächlich erfolgte. Dabei ist gleichgültig, ob es sich hierbei um einen Verpflichtungssatz oder einen Deklarativsatz handelte, ja, ob überhaupt ein sinnvoller Satz vorliegt, und nicht vielmehr nur eine bloße Aneinanderreihung von Worten, v. Kutschera nimmt quasi das, was Frege als die "ungerade Rede"14 eines Satzes bezeichnet hat, als seine Hauptbedeutung. Die Wahrheitsfahigkeit bzw. spezifische Richtigkeit des Imperativsatzes steht so außer Betracht. Übrig bleibt eine Aussage über die Tatsache eines Sprechaktes. Damit ergibt sich eine Pseudoerklärung der Verpflichtungssätze. v. Kutschera versucht diese Konsequenz mit großem Geschick zu umgehen, indem er die Gebotssätze ontologisiert und von ihrer Äußerungsbasis ablöst. Sie werden von Behauptungen darüber, daß jemand eine Norm setzt, unterschieden. "'Eine Norm setzen' heißt nicht soviel wie 'eine Norm in Geltung setzen'."15 Wenn v. Kutschera aber auf diese Weise einerseits nur auf die äußerlich beschriebene Sprachhandlung rekurrieren, andererseits aber nicht auf das empirisch-soziologisch feststellbare Gebot als Ausfluß eines Gebotsakts oder einer gesellschaftlichen Konvention (Moral) abstellen will, so gerät er in einen Widerspruch. Alis diesem Widerspruch kann er sich nur mittels eines metaphysischen "objektiven Gebotenseins" befreien.

1 3

Bei indirekter Rede ist die Analyse umstritten; vgl. Davidson (1968), On Saying That.

1 4

Frege (1892a), S. 51.

1 5

v. Kutschera (1982), S. 4.

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

88

Damit hat er aber trotz aller Subtilität den Bereich der Sprachanalyse verlassen und ist bei der Annahme objektiver Gebotstatsachen angelangt und damit bei einer radikal objektivistischen Ethik, nach der nicht nur objektive Werte, sondern auch objektive Verpflichtungen bestehen. Aber selbst wenn man diese ethische Position teilt und damit auch die korrespondierende metaethische der deskriptiven Beschreibung dieser objektiven Gebote, bleibt damit die subjektiv wertende und Imperativische Sprache unerklärt. Auf eine solche Erklärung könnte man aber nur im Rahmen einer weiteren Radikalisierung des Wertbzw. Verpflichtungsobjektivismus verzichten: dann nämlich, wenn man annähme, alle Äußerungen bezögen sich auf objektive Werte oder Gebote. Eine solch strikte Position lehnt aber selbst v. Kutschera ab. Er läßt auch subjektive Werthaltungen zu 16 .

2. Die pragmatischen Bedeutungstheorien sind zwar ohne Schwierigkeiten in der Lage, auch die praktische Sprache in ihr Erklärungsmodell zu integrieren, und genügen damit der Grundforderung des methodischen Holismus. Aber zumindest die oben dargestellten Versionen von Austin und Wittgenstein bleiben bei allgemein gehaltenen Erläuterungen stehen. Die Betonung der beliebigen Funktionalisierung und Einbettung der Sprache in prinzipiell unendliche Situationskontexte verhindert eine konsistente Erklärung einzelner Äußerungen oder die Abgrenzung einzelner Teilbereiche, wie den der praktischen Sprache. Auch die vage Berufung Wittgensteins auf die "Lebensform" fuhrt nicht weiter, denn sie eröffnet keinen Spielraum fur weitere Differenzierungen. Wie Austin bemerkt, ist die Ersetzung des Bedeutungsbegriffs durch "Gebrauch in der Sprache" kein Gewinn an Klarheit17. Searle hat kritisiert, daß die sprachphilosophischen Einzeluntersuchungen, die v. a. in England nach dem Ende des zweiten Weltkrieges bis in die Sechziger Jahre auf dieser Grundlage durchgeführt wurden, zwar feinnervig waren, aber ohne Einbettung in ein höheres Theoriekonzept erfolgten 18. Die von Austin eingeführte Unterscheidung zwischen lokutionärer, illokutionärer und perlokutionärer Rolle ist zwar wichtig, aber sie erlaubt keine nähere Erklärung der praktischen Sprache. Sowohl bei praktischen als auch bei deklarativen Sätzen lassen sich diese Unterscheidungen machen. Im übrigen 1 6

v. Kutschera (1982), S. 239ff.

1 7

Austin (1962), p. 100, S. 118. Ebenso: Searle (1969), p. 146, S. 221.

1 8

Searle (1969), p. 131, 146; S. 199, 221.

I. Defizite der dargestellten Modelle

89

handelt es sich dabei auch lediglich um idealtypische Differenzierungen, die in alltagssprachlichen Sätzen oft verschwimmen. Austins fünffache Einteilung der Sprechaktklassen überzeugt ihn selbst nicht19. Sicherlich ist es illusorisch, jeder einzelnen Äußerung eine vollkommen exakte Funktion oder Bedeutung zuweisen zu wollen. Aber es ist nicht einzusehen, warum es unmöglich sein sollte, bestehende Differenzierungen, wie ζ. B. die zwischen deskriptiver und praktischer Sprache, die sich im intuitivunreflektierten Verständnis des Alltagssprechers findet, zu präzisieren.

3. Die strukturalistischen und neostrukturalistischen Modelle genügen zwar prinzipiell den Anforderungen des methodischen Holismus, sehen sich aber der gleichen Kritik wie die pragmatischen Theorien ausgesetzt. Ihr Grundtheorem der Zusammenhangsbedeutung bleibt zu allgemein, um das spezifischere Phänomen praktischer Sprache zu erklären. Man könnte hier allenfalls zur differenzierteren Position Carnaps Zuflucht nehmen und nach Gradabstufungen suchen. In der Tat ließe sich vielleicht die Vermutung aufstellen, daß Worte der praktischen Sprache in stärkerem Maße von anderen abhängen als solche der theoretischen. So erfordert "sollen" eine Infinitivergänzung und wird grundsätzlich als zweistelliges Prädikat verwendet "x soll z" oder "Du sollst z", während es bei deskriptiven Prädikaten auch viele einstellige gibt, ζ. B. "x schwimmt". Aber sobald die (neo-)strukturalistische Position sich nicht auf das Dogma des absoluten Strukturalismus - auf welcher Stufe auch immer - zurückzieht und Gradabstufungen zugibt, die nicht bloß als zufällig oder willkürlich anzusehen sind, muß erklärt werden, wozu diese dienen, oder worauf sie beruhen. Dazu ist das strukturalistische Konzept nicht in der Lage. Will man diese Fragen wirklich beantworten, so muß man zusätzlich andere Gesichtspunkte heranziehen.

4. Auch beim sozialfunktionalen Modell ist die Grundthese zu allgemein, als daß Spezifizierungen ausgearbeitet werden könnten20. Man könnte zwar 1 9

Austin (1962), p. 151; S. 168: "I distinguish five very general classes: but I am far from

equally happy about all of them." 2 0

Vgl. Albeit (1978), Traktat über rationale Praxis, S. 54: "Eine der wichtigsten soziologi-

schen Entdeckungen ist die, daß die soziale Bedeutung einer Tätigkeit nicht unbedingt das wich-

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

90

auf den ersten Blick annehmen, daß durch die praktische Sprache in besonderem Maße Geltungsansprüche innerhalb der Gesellschaft erhoben und Rollen fixiert werden sollen. Aber will nicht ein Wissenschaftler - Max Webers Postulat der Werturteilsfreiheit der Wissenschaft folgend - durch betont deskriptives, an der Sachproblematik orientiertes Sprechen eine besonders herausgehobene Position im "Wissenschaftlerpantheon" erringen? Gerade das Bemühen um eine möglichst deskriptive Sprache kann in besonderem Maße einer sozialen Funktion dienen. Hinzu kommt, daß die soziale Funktion Teil jeder sozialen Interaktion ist. Geht man mit jemandem ins Kino oder nimmt man ihn im Auto mit, wird ebenso eine soziale Funktion erfüllt, wie bei sprachlichen Äußerungen. Der Sozialaspekt der Sprache ist somit zum einen zu allgemein, zum anderen aber wiederum zu situationsabhängig, um eine einleuchtende Differenzierung zu ermöglichen und auf diese Weise zu einer adäquaten Funktionsbestimmung der praktischen Sprache vorzudringen.

5. Wert- und Verpflichtungssätze könnten nach der behavioristischen Grundthese allenfalls dahingehend naturalistisch interpretiert werden, daß auch bei ihnen verbale oder nonverbale Sinnesreize zum Auslöser werden. Dabei gäbe es zwei Alternativen: Zum einen könnte man nur Sätze der praktischen Sprache als Auslöser anderer praktischer Sätze zulassen. Verpflichtungssätze würden durch andere Verpflichtungen aktiviert. Kelsens Modell der Normenhierarchie21 ließe sich so behavioristisch interpretieren. Dann müßte man aber entweder einen regressus ad infinitum annehmen oder wie Kelsen mit seiner Grundnorm22 die ReizReaktionskette an einem bestimmten Punkt abbrechen lassen. Quines Modell der deskriptiven Sätze bleibt von dieser Schwierigkeit nur verschont, weil er die nonverbalen Stimuli als letzte Auslöser annehmen kann. Weiterhin wäre mit dieser Annahme ein völlig unabhängiges Reich der praktischen Sprache postuliert, was mit der Beobachtung des Übergangs von tigste oder auch nur eines der Motive für ihre Ausübung darstellt und daher auch fur ihre Erklärung herangezogen werden muß". Ähnlich Habermas fur die Universalpragmatik (1976), Was heißt Universalpragmatik?, S. 217: "Deshalb ist Herstellung einer Beziehung ein Kriterium, das fur unsere Zwecke nicht selektiv genug ist." 2 1

Kelsen (1960), Reine Rechtslehre, S. 228ff.

2 2

Kelsen (1960), S. 196ff.

Π. Der trialistische Rahmen

91

deskriptiver zu praktischer Sprache im Alltagssprachgebrauch und der Existenz gemischt deskriptiver-wertender Worte wie "fleißig" nicht zu vereinbaren ist. Eine weitere Erklärung der praktischen Sprache wäre unmöglich, weil ja immer nur andere praktische Sätze Auslöser sein können. Schließlich sind moralische Imperative nach der Alltagserfahrung häufig nicht durch andere ausgelöst. Das gilt ζ. B. für die Gebote von Vätern gegenüber ihren Kindern (wenn die Mutter nicht gerade das Nudelholz über dem Kopf des Vaters schwingt)23. Die andere Alternative wäre, auch Deklarativsätze oder nonverbale ObjektStimuli24 als auslösende Reize zuzulassen. Dann geriete man aber in eine radikal deterministisch-naturalistische Position. Die praktische Sprache würde im Netz der theorethischen verschwinden. Die Forderung des methodischen Holismus ließe sich so erfüllen, aber man verlöre jede Möglichkeit, zwischen praktischer und theoretischer Sprache zu unterscheiden.

6. Insgesamt scheint man sich also bei jedem der Modelle zwischen Skylla und Charybdis entscheiden zu müssen: Entweder man genügt der Forderung des methodischen Holismus, wie die strukturalistische, pragmatische und soziale Theorie, dann verliert man aber die Möglichkeit einer spezifizierenden Erklärung der praktischen Sprache. Oder man begnügt sich mit einer mehr oder minder plausiblen Kennzeichnung der deskriptiven Sprache und gerät wie die referentiellen Theorien - bei der praktischen Sprache in Erklärungsprobleme. Beim behavioristischen Modell entfaltet sich dieses Dilemma sogar innerhalb der Theorie.

II. Der trialistische Rahmen

Ein Ausweg aus diesem Dilemma könnte sich ergeben, wenn man sich zu Beginn des empirisch-ontologischen Grundrahmens versicherte, innerhalb dessen sich Sprache entfaltet. Man muß sich des Kreises vergegenwärtigen, in 2 3

Und wenn man von Erziehungsanweisungen eines autoritären Staates absieht und auch die

Psyche des Vaters nicht als Auslöser gelten läßt. 2 4

D . h. keine objektiven Werttatsachen, sondern empirische Tatsachen, die deskriptiver Be-

schreibung zugänglich sind.

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

92

dem Kommunikation stattfindet. Man muß die "Stangen" überprüfen, die das "Zelt" der Sprache stützen.

i. Kritik des zweipoligen Kommunikationsmodells

a) Ahnliches versucht das berühmte linguistische Kommunikationsmodell25 von Shannon und Weaver26:

Signal

Sender -^>Übertragungsapp. -^Kanal ^>Empfangsapp.-^> Empfänger

Das Modell übersteigt mit seiner grundlegenden Entscheidung, Sender und Empfanger miteinzubeziehen, den Kreis der klassischen Annahmen der referentiellen Positionen (anders etwa Peirce) und bringt so das kommunikative Element der Sprache zur Geltung27. Allerdings bietet es keinen Ansatzpunkt fur die Frage nach der Funktion der Signalübermittlung und damit auch keine Möglichkeit der Entfaltung spezifischer Strukturen der praktischen Sprache. Es wird zwar erklärt, wie Signale übertragen werden, aber nicht wozu. Man könnte darauf erwidern, Signale würden eben zur Kommunikation übertragen. Aber eine solche Aussage stellt bei näherer Betrachtung nicht mehr als eine Tautologie dar, denn "Kommunikation" heißt im Grunde nichts anderes als "Signalübermittlung" ohne Ansehen der (möglicherweise) übermittelten Information. 2 5

Zu einer ontologischen Basis anderer Ait: Lyons (1977) Bd. Π , S. 69.

2 6

Shannon u. Weaver (1949), The Mathematical Theory of Communication, S. 16. Vgl.

Lyons (1977), Bd. I, S. 49. 2 7

Nach Tugendhat (1976), S. 217, darf eine "befriedigende Klärung der Bedeutung unserer

sprachlichen Ausdrücke ... weder den kommunikativen Aspekt der Sprache noch die Identität der Bedeutung fur Sprecher und Hörer ignorieren".

Π. Der trialistische Rahmen

93

Es soll nicht in Abrede gestellt werden, daß solche informationslose Kommunikation vorkommt. Viele Gespräche - Paradebeispiel sind solche über das Wetter - dienen tatsächlich nur dem bloßen Zeitvertreib, der Höflichkeit oder der Herstellung oder Aufrechterhaltung von Gemeinschaftlichkeit. In diesen Fällen tritt die soziale Funktion stark in den Vordergrund. Dabei spielen Blicke, Gesten, Bewegungen und Körperhaltungen eine große Rolle. Aber die Schriftsprache mit ihrer Beschränkung auf die bloßen Zeichen ist hierfür kaum geeignet. Sie dient im wesentlichen der Informationsweitergabe. Und auch bei der Lautsprache ist es der Regelfall, daß das Sprachzeichen eine gewisse Information vermittelt und damit über seine eigene bloß physische Existenz und die Verbindung von Sender und Empfanger hinausweist28.

b) Diese Zusammenhänge lassen sich am besten an Hand eines Beispiels erläutern: Ein Wanderwegweiser ist nicht nur ein Stück Holz, das an einen Baum genagelt ist, sondern soll über die Richtung und eventuell auch die Länge des Weges informieren. Ist er beschriftet, so bestehen hierüber keinerlei Zweifel. Die Zentralfunktion der Schrift als besonders elaboriertes und allgemeinverbreitetes Zeichensystem ist die Information. Aber es gibt - v.a. bei nichtschriftlichen Zeichen - auch Grenzfalle, bei denen man nicht weiß, ob es sich um ein Zeichen handelt. So bei den in den Bergen ebenfalls gebräuchlichen kleinen Steinhaufen als Wegweisern. Ist ein solcher Steinhaufen schon etwas überwuchert oder teilweise abgetragen, kann man nicht sicher sein, hier eine Wegmarkierung vor sich zu haben und nicht bloß eine natürliche Ansammlung von Steinen. Aber auch eine dritte Möglichkeit ist nicht auszuschließen: Jemand hat nur aus Jux und Tollerei Steine aufeinandergehäuft. Damit beschränkt er sich auf die bloße informationslose Signalübermittlung, wenn er nur bezweckt, daß andere den Steinhaufen sehen. Damit ist die Notwendigkeit der Unterscheidung zwischen Nichtkommunikation (natürlicher Steinhaufen), informationsloser Kommunikation (Steinhaufen aus Jux errichtet) und informationshaltiger Kommunikation (Steinhaufen als Wegweiser) verdeutlicht. Wichtig ist aber noch etwas anderes: Während man Steinhaufen als solche und ihrer selbst genügend oder zu anderen Zwecken (Schutz etc.) errichten kann, ist es unmöglich über nichts zu reden 2 8

So mahnt denn auch Lyons (1977), Bd. I, S. 46f: "Die kommunikative Komponente im

Gebrauch der Sprache, so wichtig sie auch ist, sollte nicht auf Kosten der nichtkommunikativen, aber trotzdem informativen Komponente ...vernachlässigt werden."

94

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

oder gar über nichts zu schreiben29. Selbst wenn ein Fall der informationslosen Kommunikation vorliegt, besteht im Rahmen der Sprache die Notwendigkeit eines wenigstens scheinbaren Kommunikationsthemas. Es wird lediglich ζ. B. im Falle eines Gesprächs über das Wetter - aus der äußeren Situation oder bestimmten Konventionen deutlich, daß der Informationszweck dieser Kommunikation nur ein scheinbarer ist oder völlig in den Hintergrund tritt. Dabei gilt: Je elaborierter und situationsunabhängiger das Zeichensystem ist, desto größer wird die Vermutung für informationshaltige Kommunikation. Gegenüber der Alltagssprache erfolgt insofern noch einmal eine Steigerung bei Fach- und Wissenschaftssprachen, die zusätzliche Differenzierungsmöglichkeiten erschließen. Man könnte diesen Zusammenhang das Gesetz der Proportionalität zwischen Elaboration und regelmäßiger Informationsh keit eines Zeichensystems nennen.

c) Die informationshaltige Verwendung ist also bei elaborierten Zeichensystemen, wie es die Sprache darstellt, die Regel30. Allerdings muß betont werden, daß dies nur für einen relativ eng verstandenen Begriff der Sprache (Schriftsprache, Lautsprache) gilt 31 : Sobald man weitere menschliche Signalzeichen, wie das Handaufheben, das Handgeben, das Umarmen usw. betrachtet, wandelt sich das Bild und eine wesentlich auf soziale Funktionen gerichtete Kommunikation ohne spezifischen Informationsgehalt, die nur das Verhältnis zwischen den Kommunikationspartnern erfaßt, wird die Regel: Man macht sich bemerkbar; man grüßt; man zeigt Sympathie etc. Natürlich lassen sich diese stark sozial orientierten Momente der Kommunikation auch verbal ausdrücken. Aber umgekehrt ist es sehr schwierig - wenn auch nicht prinzipiell unmöglich - jemandem durch Handzeichen die Funktionsweise oder den Bau eines Flugzeugs oder einer menschlichen Zelle zu erklären. Grund hierfür ist, daß die Schrift- und Lautsprache viel stärker ausdif2 9

Ebenso: Snell (1952), Der Aufbau der Sprache, S. 57f.

3 0

Vgl. Habermas (1976), S. 220: "Die propositional ausdifferenzierte Rede räumt dem Han-

delnden gegenüber einem anerkannten normativen Hintergrund mehr Freiheitsgrade ein als die nichtsprachliche Interaktion." Larenz (1960), Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 203, betont: "In einer Sprache wird immer über etwas gesprochen; Verständigung durch das Medium der Sprache ist Verständigung über eine Sache, die 'zur Sprache gebracht' wird." 3 1 Prinzipiell können alle menschlichen Sinne zur Zeichenübertragung genutzt werden, auch etwa Geruch und Geschmack; vgl. Junker (1924), Die indogermanische und die allgemeine Sprachwissenschaft, S. 15.

Π. Der trialistische Rahmen

95

ferenziert ist und eine unüberschaubar große Anzahl von Wort- und Satzvariationen erlaubt, während ζ. B. die Signaldifferenzierung durch Bewegung der Hände wesentlich beschränkter bleibt. Allerdings zeigt die Taubstummensprache, daß man auch auf dieser Basis eine hochdifferenzierte Sprache entwickeln kann32. Ein noch extremeres Beispiel wäre das binäre System der elektronischen Datenverarbeitung. Die beliebige Iterierbarkeit der Zeichen, ermöglicht eine prinzipiell unbeschränkte Differenzierung. Nur die Praktikabilität setzt Schranken und verhindert die Entwicklung und Benutzung solcher Sprachen.

d) Weiteres Indiz für die regelmäßig informationshaltige Kommunikation im Rahmen der Laut- und Schriftsprache ist die Dreistelligkeit des Prädikats "x informierte y über z". Man findet zwar auch einen zweistelligen Gebrauch ("Peter informierte Klaus"). Aber diese Verwendungsweise ist nur in einem Kontext möglich, indem klar ist, worüber Peter Klaus informierte. Der zweistellige Gebrauch dient der Wiederholungsvermeidung, verschleiert aber die irreduzible Dreistelligkeit. Dieses Prädikat trägt gleichsam paradigmatisch die grundsätzliche Ausgestaltung der Kommunikationssituation in sich und verweist auf den gesuchten empirisch-ontologischen Grundrahmen: Neben dem Kommunikationsverhältnis von Sender und Empfanger muß man immer auch die Gegebenheit berücksichtigen, auf die sich das Zeichen informierend bezieht. Deshalb lauten die vollständigen Sätze: "Der Sprecher33 informiert den Hörer über eine Gegebenheit", oder: "Der Sprecher sagt dem Hörer etwas".

31

Man könnte in diesem Zusammenhang die interessante Frage stellen, warum sich in der

Evolution beim Menschen nicht eine Gebärdensprache, sondern die Lautsprache herausgebildet hat, bzw. warum, wie Cassirer (1923), Philosophie der symbolischen Formen, S. 132 meint, erstere in zweitere übergegangen ist? - Vermutlich deshalb, weil letztere einige Vorteile bietet: höhere Übermittlungsgeschwindigkeit; die Hände bleiben frei und können anderweitig eingesetzt werden; es ist auch eine Übermittlung auf weitere Distanz ohne Sichtkontakt möglich. Bemerkenswert ist Cassirers Theorie (1923), S. 133: Während die Gebärde v.a. geeignet ist, Körperliches auszudrücken, kann die Lautsprache v.a. auch Schwankungen des Vorstellungsprozesses darstellen. 33 Hier und nachfolgend wird statt "Sender" und "Empfänger" "Sprecher" und "Hörer" verwendet, ohne daß eine Einschränkung auf die lautliche Kommunikation erfolgt. Die technizistischen Worte "Sender" und "Empfänger" werden vermieden, weil bei ihnen nicht deutlich wird, ob wirklich ein Kommunikationsteilnehmer oder bloß ein Verstärker bzw. Transmitter gemeint ist.

96

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

2. Das trialistische

Modell

a) Man gelangt so zu einem trialistischen Modell der Kommunikation:

Sprecher

Zeichen —



Gegebenheit/Designatum/Situation

ν

Hörer

Dabei kann es sich im Rahmen der jeweiligen Dreieckspunkte selbstverständlich auch um eine Mehrzahl von Sprechern und/oder Hörern, also ein Auditorium, sowie um eine Mehrzahl von Gegebenheiten handeln. Der Terminus "Gegebenheit" steht hier als primär semantisch definierter Ausdruck ffir die nicht notwendig spezifizierte Wirklichkeit bzw. Welt, also für das "was der Fall ist" 34 oder für die "unbestimmte Unmittelbarkeit"35, umfaßt aber auch spezifizierte Teile der Wirklichkeit wie Gegenstände oder Tatsachen. Er schließt auch das "Ich", die Kommunizierenden, also Sprecher und Hörer, aber auch Werte, Normen und Gefühle ein und ist erheblich weiter als das empirische Sinnkriterium, das ja schon eine gewisse restringierte Vorentscheidung trifft. Durch die Wahl dieses Ausdrucks ist schon die Unmöglichkeit ei-

3 4

Wittgenstein (1921), T L P 1, S. 11.

3 5

Hegel (1812), Wissenschaft der Logik, Bd. 5, S. 82.

Π. Der trialistische Rahmen

97

nes naiven Realismus angedeutet, der nicht erkenntnistheoretisch und sprachanalytisch gebrochen ist 36 . Die Berücksichtigung von Sprecher und Hörer (gegenüber der Mehrzahl der realistisch-referentiellen Modelle), erfolgt dabei vom Ergebnis her im Anschluß an Wittgensteins Privatsprachenargument. Allerdings ist zweifelhaft, ob man wirklich jede private Sprache ausschließen kann: Man könnte sich ζ. B. Robinson Crusoe vorstellen, der fur sich selbst als Erinnerungshilfe Schnitte in die Rinde eines Baumes macht, um sich die Dauer seiner Schiffbrüchigkeit zu vergegenwärtigen. Auf die Frage, ob er bei seiner Tätigkeit einer Regel folge, würde er dies bejahen. Allerdings kann man nicht sicher sein, ob dies stimmt, wenn man die Regel und damit die Zeichenbedeutung nicht kennt. Das Zeichensetzen bzw. das Sprechen als regelhaftes Tun muß also gesellschaftlich verständlich sein, damit man es als regelhaftes Tun identifizieren kann. Aber an diesem Punkt beginnt die Argumentation zirkulär zu werden. Es ist dann nur noch eine terminologische Frage, ob man das nicht verständliche und nicht kontrollierbare Verhalten Robinsons als Privatsprache ansehen will, wenn er selber glaubt, einer Regel zu folgen. Die Gesellschaftlichkeit ist zwar notwendige Verstehens- und Erklärungsvoraussetzung, aber im Einzelfall nicht konstitutiv. Das entscheidende Argument, bei der Analyse der Sprache und der Annnahme eines Kommunikationsrahmens von einer grundsätzlich gesellschaftlichen Situation auszugehen, ergibt sich vielmehr aus dem empirisch hinterfragten Untersuchungsgegenstand selbst: Sprache wird praktisch ausschließlich in der Kommunikation mit anderen erlernt (vgl. das Beispiel Kaspar Hausers) und verwendet. Es ist davon auszugehen, daß diese Kommunikationssituation nicht ohne Folgen für die Verwendung bleibt. Sie darf nicht ausgeblendet werden. In Abwandlung des berühmten Marxschen Dictums könnte man sagen: Das Sein bestimmt die Funktion. Die Fälle echter Privatsprache werden im übrigen äußerst selten sein. Selbst im Falle Robinsons muß man annehmen, daß er die Baumrinden nicht irgendwie ritzt, sondern fur jeden Tag einen Strich macht, so wie er es im Rahmen sozialer Kontakte in seinen früheren Lebensjahren adaptiert hat. Dann sind aber sogar diese Zeichen, die nur für ihn selbst bestimmt sind, allgemein verständlich.

3 6

Vgl. Tugendhat (1976), S. 342f.

7 v. d. Pfordten

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

98

Auch Tagebücher werden regelmäßig nicht in einer privaten Sprache geführt, außer vielleicht von Backfischen, die ihre ersten Liebeserlebnisse vor ihrer Mutter verheimlichen wollen. Aber selbst Geheimsprachen erweisen sich letztlich als entschlüsselbar, notfalls unter Zuhilfenahme eines Computers. Sie sind damit nicht wirklich privat. Wenn man Experten glauben darf, sind nur noch Sprachen, die ihrerseits von einem Computer chiffriert wurden, selbst von Computern nicht dechiffrierbar. Das Privatsprachenproblem wird letztendlich eine Frage der Leistungsfähigkeit der elektronischen Datenverarbeitung.

b) Das trialistische Modell verdoppelt quasi das schon im Rahmen der realistischen Bedeutungstheorien erwähnte Dreiecksmodell Zeichen-Begriff-Sache. Die individuellen Dreieckswelten von Sprecher und Hörer werden über die Gemeinsamkeit des Zeichens ineinander verschmolzen. Die klassischen semantischen Überlegungen können somit als Vorstufe des trialistischen Modells angesehen werden37.

I I I . Zu einer trialistischen Tradition

1. Sucht man über diese Vorstufen hinaus nach einer Tradition des trialistischen Modells, so stößt man auf einige deutsche Sprachtheoretiker und Linguisten in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, wie etwa Bühler, Junker und Snell38.

3 7

Diese Vorstufe findet an verschiedensten Stellen in der philosophischen Literatur, so etwa

bei Goigias: 1. Es gibt nichts, 2. Wenn es etwas gäbe, könnte es nicht erfaßt werden, 3. Wäre es erfaßbar, könnte man es nicht mitteilen (zitiert nach Volpi/Nida-Rümelin (1988), S. 523). Sie taucht auch im neuplatonisch-nacharistotelischen Streit über den Status der aristotelischen Kategorien auf. Die Kategorien sind danach entweder sprachliche Ausdrücke (phonai), Begriffe (noemata), oder Sachen (pragmata) (vgl. Pinborg (1972), S. 33). Bei Peirce findet sich eine grundlegende Differenzierung in "I, It, Thou" (vgl. Schulz (1988), S. 126ff; v. a. S. 129 F N 36). Aber auch in der Literatur begegnen entsprechende Einsichten: Nach Arno Schmidt (1951), Schwaize Spiegel, S. 229f, sind die Menschen in Gefahr, "alle Augenblicke Worte mit Begriffen und Begriffe mit Sachen zu verwechseln". 3 8

Der Verfasser dieser Untersuchung hatte den trialistischen Grundrahmen gefunden, bevor

er diese Traditionslinie entdeckte. Dies mag Indiz fur die Plausibilität der Überlegungen sein.

ΠΙ. Zu einer trialistischen Tradition

99

Junker, der sich an einer kurzen Beschreibung dieser Tradition versuchte39, lokalisiert ihren Ursprung bei Wunderlich40, der bei der Inteijektion einerseits zwischen "Reflexlaut" und "zweckbewußter Mitteilung" unterschieden41 und andererseits festgestellt habe, daß die Einwirkung auf andere eine doppelte, sowohl die aktive als auch die passive Anteilnahme bezweckende, sein könne; wobei sich aus ersterer die Heischeformen entwickelten, aus letzterer die Formen der Mitteilung42. Aber diese Zuschreibung bleibt zweifelhaft, denn im ersten Fall übersieht Wunderlich den dritten Pol des Angesprochenen und im zweiten nimmt er die Darstellung des Gegebenen zu diesem dritten Pol mit hinzu. Trotz Junkers gegenteiliger Beteuerung43 muß deshalb Bühler als Urheber der trialistischen Tradition gelten. Erst bei ihm findet sich eine klare Formulierung des Modells und nicht bloße Erwähnungen einzelner Komponenten44. Nach Bühlers "Organon-Modell" - das geeignet sein soll, die Dominanz der Darstellungsfunktion einzugrenzen45 - weist die menschliche Sprache eine dreifache Leistung auf: Kundgabe, Auslösung und Darstellung46. Das Sprachzeichen hat drei Funktionen: "Es ist Symbol kraft seiner Zuordnung zu Gegenständen und Sachverhalten, Symptom (Anzeichen, Indicium), kraft seiner Abhängigkeit vom Sender, dessen Innerlichkeit es ausdrückt, und Signal kraft

39 J 4 0

Junker (1924), Die indogermanische und die allgemeine Sprachwissenschaft. Wunderlich (1892), Der Deutsche Satzbau.

4 1

Wunderlich (1892), S. X X I V .

4 2

Wunderlich (1892), S. X X V I .

4 3

Junker (1924), S . l l . Man kann bei Junker ein Beispiel fur die wissenschaftliche Mißgunst

des Philologen gegenüber der Entdeckung des fachfremden Psychologen Bühler sehen. Auf S. 9ff gibt Junker noch weitere wenig haltbare Verweise an. 4 4

Bühler (1918), Kritische Musterung der neueren Theorien des Satzes, S. Iff. Eine umfas-

sende Ausarbeitung findet sich dann in dem grundlegenden Werk (1934), Sprachtheorie, das im folgenden herangezogen wird. 4 5

Bühler (1934), S. 30.

4 6

Buhler (1934), S. 2. Bühler behauptet auf den S. 1, 11, 24 ohne Beleg, daß sich dieses

Modell schon bei Piaton im "Kratylos" finden lasse. Dort erfolgt aber keine klare Herausstellung der einzelnen Komponenten und keine Zuordnung zu Sprecher, Hörer und Gegegebenheit. Die bloße funktionale Betrachtungsweise der Sprache, also ihre Auffassung als Organon, ist aber nicht gleichbedeutend mit einer spezifischen Bestimmung dieser Funktionen durch die drei Eckpunkte des trialistischen Modells. Aus diesem Grunde wurde hier die Bühlersche Bezeichnung "Organon-Modell" auch nicht übernommen.

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

100

seines Appells an den Hörer, dessen äußeres oder inneres Verhalten es steuert wie andere Verkehrszeichen. " 4 7

Gegenstände und Sachverhalte

Nach Snell48 soll auch Mauthner mit seiner Schrift "Die drei Bilder der Welt" (1925) in dieser Tradition stehen. Aber diese Zuschreibung ist nicht nur zweifelhaft, sondern falsch. Mauthners Einteilung der Welt in eine substantivische, adjektivische und verbale Welt 49 ist gerade nicht auf die drei Elemente Sprecher, Hörer, Gegegebenheit bezogen, sondern beschreibt drei unterschiedliche Gegebenheitsweisen der Welt, also Grundkategorien, die den Bereich der Wirklichkeitsdarstellung bestimmen. Snell selber hat sich aber zu Recht als innerhalb der trialistischen Tradition stehend angesehen. Nach seinen Überlegungen bestimmen die drei Urphänomene Zweck, Ausdruck und Nachahmung den gesamten Aufbau der Spra-

4 7

Bühler (1934), S. 28.

4 8

Snell (1952), Der Aufbau der Sprache, S. 56, F N 1.

4 9

Mauthner (1925), Die drei Bilder der Welt, S. 5.

ΠΙ. Zu einer trialistischen Tradition

101

che50. Jede Äußerung muß auf den Hörer die beabsichtigte Wirkung ausüben, den Sachverhalt, wie er ist, darstellen und ausdrücken, was der Sprecher meint51. Die Bedeutung von Wörtern und Sätzen entsteht durch die Verschränkung der drei Elemente52. Dabei lassen sich die Wortarten des Substantivs, des Adjektivs und des Verbs unterscheiden, die den Urphänomenen des Seins, Habens und Wirkens zuzuordnen sind53.

2. Bühlers Modell wurde von Jacobson im Anschluß an frühere Überlegungen der Prager Schule54 modifiziert und erweitert 55. Er ersetzt Bühlers "Appell" durch "konativ"56 und nimmt drei weitere Funktionen des kommunikativen Prozesses an: die phatische, die metasprachliche und die poetische Funktion. Diese Ergänzungen übersteigen allerdings den Rahmen des trialistischen Modells nicht57, sondern stellen nur eine Supplementierung und Ausdifferenzierung dar: Im Rahmen der phatischen Funktion besteht eine "Einstellung auf den Kontakt"58 bzw. den Kommunikationskanal. Die Kommunikation wird initiiert, verlängert oder unterbrochen59. Dabei wird allerdings nicht explizit auf das Kontaktmedium Bezug genommen, sondern nur die Gegebenheitsbezogenheit bei normaler informationshaltiger Kommunikation ausgeklammert. Es handelt sich nicht um eine zusätzliche Funktion, sondern um eine Degenerationsform der informationshaltigen Kommunikation bzw. eine soziale Handlung, die sich der Sprache bedient.

5 0

Snell (1952), S. 56.

5 1

Snell (1952), S. 15.

5 2

Snell (1952), S. 57.

5 3

Snell (1952), S. 78f.

5 4

Dazu: Holenstein (1979), Von der Poesie und Plurifunktionalitat der Sprache, S. lOfif.

5 5

Jacobson (1960), Linguistics and Poetics, S. 88ff. Vgl. Lyons (1977), Bd. I, S. 66ff; Rie-

dinger (1984), S. 314ff. 5 6

Nach Lyons (1977), Bd. I, S. 66 wird damit die reine Bezogenheit auf den Angespro-

chenen mit den beim Sprecher bestehenden Absichten angereichert und die Funktion wird zur instrumentellen. Diese bloße Vermutung von Lyons ist aber zweifelhaft, denn Jacobson (1960), S. 90, bezieht sich direkt auf Bühlers Funktionen, ohne selber diesen Unterschied herauszustellen. 5 7

Jacobson äußert sich zu dieser Frage nicht.

5 8

Jacobson (1960), S. 91.

5 9

Jacobson (1960), S. 91.

102

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

Eine metasprachliche Funktion liegt nach Jacobson vor, wenn Sender und Empfänger kontrollieren wollen, ob beide denselben Kode gebrauchen60. Es erfolgt eine Bezugnahme auf die Zeichenverwendung, die bei Entfaltung des trialistischen Modells ausdrücklich auch als mögliche Gegebenheit avisiert wurde. In der Ausrichtung auf die Botschaft "um ihrer selbst willen" besteht die poetische Funktion der Sprache61, also in der direkten, teilweise auch formalen (Stilmittel: Chiasmus, Reim, Rhythmus etc.) Rückbezogenheit der Zeichen auf andere Zeichen. Aber auch diese Funktion stellt nur einen Spezialfall der oben definierten Gegebenheitsbezogenheit dar.

3. Wahrend das Bühlersche Modell in Linguistik und Psychologie weiterhin diskutiert wird 62 , hat die angelsächsische Sprachphilosophie bzw. sprachanalytische Philosophie bisher - soweit ersichtlich - weder diese Tradition, noch das trialistische Modell beachtet. Entsprechendes gilt fur die deutschsprachige Rezeption dieser Philosophie, mit drei Ausnahmen: Unter den deutschen Sprachphilosophen findet sich zwar bei v. Kutschera ein prinzipiell zustimmender Verweis auf Bühler63, in seinen metaethischen Überlegungen zieht v. Kutschera hieraus aber keine Konsequenzen, sondern verharrt bei der Erklärung der praktischen Sprache im Deskriptivismus (bzw. "Kognitivismus" in seiner Terminologie). Wie bereits dargestellt (C. I.), versucht v. Kutschera, die deskriptive Funktion soweit als möglich in das Gebiet der praktischen Sprache zu verschieben.

6 0

Jacobson (1960), S. 92.

6 1

Jacobson (1960), S. 92.

6 2

Vgl. etwa Eschbach (1984), Bühler-Studien, 2 Bände.

6 3

v. Kutschera (1982), S. 88f, 91. v. Kutschera versucht aber überdies - ohne ausdrück-

lichen Verweis auf Bühler - die nichtdarstellenden Komponenten der Kundgabe und des Appells zu restringieren. So soll die Kundgabe weder implizites Symptom der Gefühle des Sprechers sein, was aber klar den Bühlerschen Aussagen, wonach hier ein "Symptom" der Innerlichkeit des Senders vorliegt, (1934), S. 28, zuwiderläuft, noch das enthalten, was der Sprecher explizit über sich selber sagt. Zum Appell sollen weder alle tatsächlichen oder beabsichtigten Wirkungen der Äußerung auf den Hörer, noch das, was der Sprecher in seiner Äußerung explizit über seine Absichten in Bezug auf den Hörer sagt, gehören, v. Kutschera kann zu dieser Bestimmung kommen, weil Bühler seine drei Funktionen nicht detailliert bestimmt.

IV. Habermas' Universalpragmatik

103

Auch Popper bezieht sich zustimmend auf Bühler64, sieht aber die drei von diesem vorgeschlagenen Funktionen nicht als genügend an und fügt noch eine weitere "argumentative" bzw. "erklärende" Funktion hinzu. Damit verneint er aber gleichzeitig die funktionsbestimmende Kraft der grundlegenden Kommunikationssituation. Schließlich greift Habermas seit 1981 auf Bühlers Modell zurück:

IV. Habermas1 Universalpragmatik

1. Habermas hat 1971 die pragmatischen Theorien von Austin und Searle aufgegriffen und sie in ein weitergehendes und ehrgeizigeres Untersuchungsprogramm eingebettet65. Die Sprache soll als Bedingung der Möglichkeit von Vernunft ausgewiesen werden66. Während Austin und Searle noch empirisch aufgefundene und allenfalls verallgemeinerte Typen illokutionärer Akte heranzogen, ist Habermas zu diesem Zweck auf der Suche nach allgemeinen Standardbedingungen möglicher Redesituationen, "die durch die Performanz einer bestimmten Klasse von sprachlichen Ausdrücken jedesmal von neuem erzeugt werden."67 Diese allgemeinen Strukturen elementarer Äußerungen sind Gegenstand der sog. Universalpragmatik. Wir können Sätze in Äußerungen nur verwenden, indem wir mit Hilfe der pragmatischen Universalien die Bedingungen möglicher Kommunikation und damit die Sprechsituation erst hervorbringen 68. Dabei unterscheidet Habermas 1971 zwei prinzipielle Arten von Kommunikation: Äußerungen sind als kommunikatives Handeln zu erkennen, wenn sie in den Kontext außersprachlicher Äußerungen eingelassen sind69. Im Diskurs 6 4

Popper (1962), Conjctures and Refutations, p. 134f, 293, 295.

6 5

Habermas (1971), Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen

Kompetenz, S. 102; (1963), Einleitung zur Neuausgabe von "Theorie und Praxis", S. 23ff; (1973), Wahlheitstheorien, (1976), Was ist Universalpragmatik?. Vgl. hierzu: Gripp (1984), Jürgen Habermas, S. 36fif; Alexy (1978), S. 134ff; Riedinger (1984), S. 93ff; S. 209ff. 6 6

Vgl. hierzu: Gripp (1984), S. 31, 39.

6 7

Habermas (1971), S. 102.

6 8

Habermas (1971), S. 110.

6 9

Vgl. Habermas (1971), S. 115.

104

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

werden dagegen Zweifel an der Gültigkeit dessen, was im kommunikativen Handeln als Einverständnis erzielt werden konnte, diskutiert und deshalb sind regelmäßig nur sprachliche Äußerungen als solche thematisch zugelassen70. Im Diskurs treten wir aus Handlungs- und Erfahrungszusammenhängen heraus71. Er ist handlungs- und erfahrungsfrei. Dabei lassen sich verschiedene Ebenen diskursiver Begründung unterscheiden72: Nach dem Eintritt in den Diskurs durch Problematisierung eines Geltungsanspruchs erfolgt auf der zweiten Stufe eine theoretische Erklärung der problematisierten Behauptung, also die Angabe eines weiteren Arguments (theoretischer Diskurs). Auf der dritten Stufe geschieht die Abwägung der Angemessenheit alternativer Sprachsysteme (metatheoretischer bzw. metaethischer Diskurs). Schließlich erfolgt je nachdem, ob es sich um einen theoretischen oder praktischen Diskurs handelt, die Nachkonstruktion dessen, was als Erkenntnis gelten soll bzw. die Einigung über die Interpretationen unserer Bedürfnisse im Lichte der vorhandenen Informationen. Nicht nur im Ansatz dieses universalpragmatischen Untersuchungsprogramms, sondern auch in seinen Ergebnissen, nähert sich Habermas dabei mit folgender Einsicht - wenn auch noch ohne Rekurs auf Bühler - dem empirisch-ontologischen Rahmen des trialistischen Modells an: Eine Verständigung kommt nicht zustande, wenn nicht mindestens zwei Subjekte gleichzeitig zwei Ebenen betreten: "a) Die Ebene der Intersubjektivität, auf der die Sprecher/Hörer miteinander sprechen, und b) die Ebene der Gegenstände, über die sie sich verständigen..."73 Als Ergebnis der Suche nach Standardbedingungen unterscheidet Habermas zu diesem Zeitpunkt vier Klassen von Sprechakten74: Die " Kommunikat iva als erste von ihm angenommene Klasse sollen dazu dienen, "den pragmatischen Sinn der Rede überhaupt auszusprechen". Beispiele: sagen, sich äußern, sprechen, reden.

7 0

Habermas (1971), S. 114f; (1971a), Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Eine

Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann, S. 213; vgl. hierzu: Alexy (1978), S. 139. 7 1

Habermas (1973), S. 214.

7 2

Habermas (1973), S. 252ff.

7 3

Habermas (1971), S. 105.

7 4

Habermas (1971), S. l l l f . Vgl. hierzu: Riedinger (1984), S. 209ff.

I V . Habermas' Universalpragmatik

105

Die "Konstativa " dienen dazu, "den Sinn der kognitiven Verwendung von Sätzen auszudrücken. " Beispiele: beschreiben, berichten, mitteilen, versichern, beteuern, bejahen etc. Die "Repräsent cu iva* sollen "den pragmatischen Sinn der Selbstdarstellung eines Sprechers vor einem Hörer" aussprechen. Beispiele: offenbaren, enthüllen, preisgeben, gestehen, verbergen etc. Die "Regulativa" sollen schließlich "den Sinn der praktischen Verwendung von Sätzen" ausdrücken und "den Sinn des Verhältnisses, das Sprecher/Hörer zu Regeln einnehmen, die sie befolgen oder verletzen können", explizieren. Beispiele: befehlen, auffordern, bitten, verlangen, ermähnen, verbieten, erlauben, nahelegen, versprechen, vereinbaren etc. Der illokutionäre Teil eines Sprechaktes generiert bestimmte Geltungsansprüche75, die jeder Sprecher im Rahmen des Sprachgebrauchs notwendig erheben muß. Dies sind fur die oben erwähnten Sprechaktklassen die Geltungsansprüche der Verständlichkeit, der Wahrheit, der Wahrhaftigkeit 16 der Richtigkeit . Dabei kommt in jeder Äußerung das System aller vier Geltungsansprüche ins Spiel - "diese sind universal, d. h. sie müssen stets gleichzeitig erhoben und als berechtigt anerkannt werden, obwohl sie nicht alle zugleich thematisch sein können". Dagegen ist die Einlösung der Geltungsansprüche asymmetrisch. Während die Wahrhaftigkeitsansprüche nur darauf angelegt sind, in Handlungszusammenhängen, also in feststellbarer Verhaltenskonsistenz des Betroffenen, eingelöst zu werden, erfolgt die Einlösung bei den Ansprüchen auf Wahrheit und Richtigkeit diskursiv77. Die Verständlichkeit stellt dagegen kein bloßes Versprechen dar, sondern ist im Rahmen der Kommunikationsaufnahme immer schon erfüllt 78.

2. Zwei grundsätzliche Unterschiede zwischen dem trialistischen Modell und Habermas' Universalpragmatik lassen sich ausmachen:

7 5

Habermas (1976), S. 216, 246; Gripp (1984), S. 49.

7 6

Habermas (1971), S. 123ff; (1973), S. 221; (1976), S. 259.

7 7

Habermas (1973), S. 221f.

7 8

Habermas (1973), S. 222.

u

106

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

Das trialistische Modell postuliert einen Rahmen, der noch vor der Unterscheidung zwischen Semantik und Pragmatik, zwischen lokutionärem und illokutionärem Akt liegt und beide gleichermaßen bestimmt. Habermas' universalpragmatische Annahmen stellen dagegen eine notwendige pragmatische Einbettung dar, die sich nicht gleichermaßen im illokutionären wie im lokutionären Teil der Handlungsäußerung wiederfindet. Er betont: "Die allgemeinen Strukturen der Rede werden auch auf der Ebene von Satzstrukturen abgebildet. Aber soweit wir einen Satz als grammatisches Gebilde, d. h. unabhängig von Redesituationen, in denen er geäußert werden kann, betrachten, sind diese allgemeinen pragmatischen Funktionen noch nicht 'besetzt'."79 Habermas destilliert einen strukturell invarianten propositionalen Gehalt des Satzes heraus, der erst im Rahmen einer Äußerung mit einem pragmatischen Modus versehen wird 80 . Unmittelbare Folge ist eine starke Betonung der Pragmatik, die zur bestimmenden Funktion wird. Der performative Satz ist der dominierende, während der Satz mit dem propositionalen Gehalt davon abhängig ist 81 . Habermas Position mißachtet aber die Einsicht, daß schon im Rahmen eines Satzes eine Vorbestimmung des illokutionären Aktes getroffen wird. So ist der Satz "Du sollst nach Hause kommen!" schon im Rahmen seiner äußerungsunabhängigen Semantik auf den Ausdruck eines Imperativs hingerichtet82. Der zweite fundamentale Unterschied zwischen Habermas' Programm und dem des Trialismus besteht darin, daß Habermas zwar, wie oben gezeigt wurde, ähnliche ontologische Grundannahmen macht, diese aber bei der Bestimmung der Sprechaktklassen nicht wirksam werden und - zumindest noch zu diesem Zeitpunkt - bloß "rhapsodisch" zusammengesucht erscheinen. Dies manifestiert sich darin, daß die Regulativa nicht nur Verpflichtungs- und Wertäußerungen, sondern auch Versprechen usw. zusammenfassen83. Diese Gruppe soll alle sozial relevanten und intersubjektiv geregelte Sprechakte vereinigen. Habermas übersieht aber, daß alle Sprechakte regelgeleitet sind und eine Grenzziehung zwischen bloß sprachlichen und institutionellen Regeln unscharf bleiben muß. Wie sich noch ergeben wird, hat Habermas 1981 diese

7 9

Habermas (1976), S. 208.

8 0

Habermas (1976), S. 224.

8 1

Habermas (1971), S. 104.

82 Auf diesen Umstand hat für Weit- und Verpflichtungssätze auch schon Alexy (1978), S. 145, aufmerksam gemacht. 8 3 Hieraufhat schon Alexy hingewiesen (1978), S. 145.

I V . Habermas' Universalpragmatik

107

Problematik zu lösen versucht. An dieser Kritik wird eine von Habermas' Sprechaktklassen abweichende Entfaltung der Sprachfunktionen im Rahmen des trialistischen Modells ansetzen.

3. Die Sprechaktklassifikation wird 1976 stärker fundiert. Habermas ordnet nunmehr den Geltungsansprüchen und damit den Sprechakten bestimmte "Realitätsbereiche" zu 84 , den Konstativa: die "äußere Natur", den Regulative: die "Gesellschaft", den Repräsentativa, die er nunmehr auch als "expressiv" kennzeichnet85: die "innere Natur", also die Intentionen, schließlich den Kommunikativa: die "Sprache". Wie sich leicht ersehen läßt, besteht bis auf die Konstativa, die man als Gegebenheitsbezogenheit verstehen kann, nach wie vor ein beträchtlicher Unterschied zum trialistischen Modell. Die relative Unbestimmtheit der Regulativa bleibt erhalten. Bemerkenswert ist, daß Habermas 1976 die K o m m u n i k a t i v a zwar noch mitauffuhrt, ihnen aber anders als den anderen Sprechakten keine eigene allgemeine Sprachhandlungsfunktion zuweist86.

4. Schon 1971 hatte Habermas festgestellt87, daß diese Überlegungen auch Auswirkungen auf das Problem der Wahrheit haben würden. Diesen Gedanken hat er 1973 zu der sog. "Konsensustheorie der Wahrheit" ausgebaut88. Wahrheit ist danach ein Geltungsanspruch, den wir mit Aussagen verbinden, indem wir sie behaupten. "Der Sinn von Wahrheit läßt sich daher mit Bezugnahme auf die Pragmatik einer bestimmten Klasse von Sprechakten klären. " Diese These versucht Habermas durch die grundsätzliche Unterscheidung von Gegenständen und Tatsachen zu untermauern89. Während Gegenstände Teil der Erfahrung sind, werden die Tatsachen als Korrelate der Aussagen nicht erfahren, sondern behauptet. Die Korrespondenztheorie der Wahrheit nehme dagegen fälschlicherweise an, daß auch Tatsachen Teil der Welt seien. 8 4

Habermas (1976), S. 255ff, v. a. S. 259.

8 5

Habermas (1976), S. 244.

8 6

Habermas (1976), S. 259.

8 7

Habermas (1971), S. 123ff.

8 8

Habermas (1973), S. 21 Iff. Vgl. hierzu: Kaufmann (1990), Rechtsphilosophie in der

Nach-Neuzeit, S. 35. 8 9

Habermas (1973), S. 215.

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

108

Auf diese Weise hat Habermas zwar einerseits die Korrespondenz von Tatsache und Aussage erhalten, aber andererseits den Tatsachenbegriff jeder ontologischen Implikation - wie er ihn etwa noch beim frühen Wittgenstein hatte (Β. IV. 1. f)) - beraubt. Einen neuen Status fur den Tatsachenbegriff findet Habermas darin, daß nur im Diskurs die Tatsachen überhaupt thematisch sind, weil im kommunikativen Handeln die in Sprechakte eingebetteten Aussagen ja nicht problematisiert werden90. Die scharfe Trennung zwischen Diskurs und kommunikativem Handeln ermöglicht es somit, ein weiteres Argument gegen die Erfahrungsbezogenheit der Tatsachen heranzuziehen. So ergibt sich: "Der gleiche Sprechakt bringt dort eine Erfahrung zum Ausdruck..., hier einen Gedanken, der wahr oder falsch ist."91 Folgerichtig kann der Sinn von "Tatsache" nicht ohne Bezug auf den Diskurs geklärt werden92. Der Wahrheitsanspruch wird nur durch Argumentation eingelöst: "Die Bedingung für die Wahrheit von Aussagen ist die potentielle Zustimmung aller anderen... Wahrheit meint das Versprechen, einen vernünftigen Konsensus zu erzielen."93 Etwas anders verhält es sich beim praktischen Sprechakt. Dort ist der Geltungsanspruch der faktischen Geltung einer jeweils schon vorausgesetzten Norm entliehen94. Die bisherige Darstellung hat schon die schwerwiegendsten Bedenken gegen Habermas1 Wahrheitstheorie deutlich werden lassen. Der Tatsachenbegriff wird seiner ursprünglichen Bedeutung beraubt und diskursabhängig definiert. Es ist dann ein leichtes, im Rahmen der Thematisierung von Tatsachen im Diskurs die völlige Argumentations- und Konsensabhängigkeit zu behaupten. Zuzugeben ist zwar, daß man - wie der Nominalismus - die erkenntnistheoretische These aufstellen kann, daß nur einzelne Gegenstände wahrgenommen werden können und erst in der Ratio oder gar erst in der Sprache eine Zusammenfassung erfolgt. Nur hat sich damit notwendig auch die Wahrheitsfrage 9 0

Habermas (1973), S. 216.

91 7 1

Die Reminiszenz an Freges "Gedanken" als Sinn des Satzes ist unverkennbar, nur daß

Frege nie einen Gedanken als wahr oder falsch bezeichnet hätte, weil dem Sinn ja nicht notwendig eine Bedeutung korrespondieren muß, die aber für Frege beim Satz die Wahrheit bzw. Falschheit ist. Nebenbei bemerkt, verläßt Habermas mit dieser Formuliemng keineswegs ein Korrespondenzmodell der Wahiheit, weil ja Aussage und Gedanke in Korrespondenz stehen. Die Stelle zeigt aber, in welche Schwierigkeiten man gerät, wenn man den Tatsachenbegriff völlig von jeder Erfahrung ablöst. 9 2 Habermas (1973), S. 217. 9 3

Habermas (1973), S. 219.

Habermas ( 1 9 ) , S.

.

IV. Habermas' Universalpragmatik

109

verändert. Es geht dann nurmehr um die Binnenkonsistenz von Intellekt bzw. Sprachsystem. Folgerichtig sind fur Habermas die induktiv zur Bestätigung oder Widerlegung einer Begründung zugelassenen Daten "durch das gewählte Sprachsystem unvermeidlicherweise soweit selegiert, daß 'Erfahrung* keine schlechthin unabhängige Instanz der Überprüfung darstellen kann"95. Weitere Folge ist eine holistische Position: Das Sprachsystem wird nur insgesamt mit der Realität konfrontiert 96. Damit ist aber die von Habermas postulierte Sprachkritik jedes Maßstabs beraubt. Ein weiterer Einwand muß sich gegen die strenge Unterscheidung von kommunikativem Handeln und Diskurs richten. Auch wenn Behauptungen problematisiert werden, ist damit nicht notwendig völlige Situations- und Erfahrungsunabhängigkeit der Argumentation verbunden. Mit jedem deskriptiven Wort können fur die Sprecher empirische Erfahrungen verknüpft sein. Das soeben angeführte Zitat zeigt gerade, in welches Dilemma Habermas bei der Frage gerät, wie im Rahmen der induktiven Begründung im Diskurs Daten zuzulassen sind. Er muß ihre sprachliche Selektion behaupten, damit die "Erfahrungsreinheit" des Diskurses nicht verloren geht. Diese Annahme geht aber an der Realität vorbei: Jede Diskursbehauptung kann wieder erfahrungsorientiert sein. Wird ζ. B. die Behauptung, daß Schwäne weiß sind, problematisiert, so greift die Begründung eines Sprechers, er habe in seinem ganzen Leben noch nie einen schwarzen Schwan gesehen, auf Erfahrungen zurück. Quines Modell eines Gesamtnetzes verdient gegenüber der strikten Abtrennung eines erfahrungsunabhängigen Diskurses durch Habermas den Vorzug.

5. 1981 hat Habermas seine Konzeption in mehrfacher Weise modifiziert 97: Er greift nunmehr auf das Bühlersche Modell zurück98, benutzt es aber gleich-

9 5

Habermas (1973), S. 247.

9 6

Ebenda.

9 7

Habermas (1981), Bd. 1, S. 427ff.

9 8

Habermas (1981), Bd. 1, S. 372, 412, 531, 375: "Bühlers Theorie der Sprachfunktionen

kann mit den Methoden und den Einsichten der analytischen Bedeutungstheorie verknüpft und zum Kernstück einer Theorie verstündigungsorientierten Handelns gemacht werden, wenn es gelingt, den Begriff der Geltung, Ober die Wahrheitsgeltung von Propositionen hinaus, zu verallgemeinern und Gültigkeitsbedingungen nicht mehr nur auf der semantischen Ebene fur Sätze, sondern auf der pragmatischen Ebene fur Äußerungen zu identifizieren''. Anregung zu diesem Rückgriff war möglicherweise ein von Holenstein (1979), S. 16, angestellter Vergleich zwischen den Habermasschen Sprechaktgruppen und dem Bühlerschen Funktionenschema.

110

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

sam nur als allgemeinen Rahmen, ohne eine wirklich fruchtbare Entfaltung des Modells zu leisten. Die Kommunikativa werden nun endgültig von den anderen Sprechakten abgesondert, da sie sich durch die reflexive Bezugnahme auf den Kommunikationsvorgang definieren lassen". Mit den "Imperativen" wird eine neue Sprechaktklasse eingeführt. Die "Repräsentativa" tauchen nicht mehr auf. Darüber hinaus erfolgt eine weitere Ontologisierung der Bestimmung der einzelnen Sprechakte, so daß sich folgende Klassifikation ergibt 100: Mit den Imperativen bezieht sich der Sprecher auf einen erwünschten Zustand in der objektiven Welt, und zwar in der Weise, daß er den Hörer dazu bewegen will, diesen Zustand herbeizufuhren. Mit konstativen Sprechhandlungen bezieht sich der Sprecher auf etwas in der objektiven Welt. Er will einen Sachverhalt wiedergeben und erhebt den Geltungsanspruch der Wahrheit. Mit regulativen Sprechhandlungen bezieht sich der Sprecher auf etwas in einer gemeinsamen sozialen Welt. Er möchte eine als legitim anerkannte interpersonale Beziehung herstellen und den Geltungsanspruch der Richtigkeit erheben. Mit expressiven Sprechhandlungen bezieht sich der Sprecher schließlich auf etwas in seiner subjektiven Welt. Er enthüllt ein ihm privilegiert zugängliches Erlebnis vor einem Publikum und erhebt den Geltungsanspruch der Wahrhaftigkeit. Die Differenzierung zwischen Regulativa und Imperativen wird durch Habermas Grundunterscheidung zwischen strategischem und kommunikativem Handeln bedingt. Während erstere den Geltunganspruch der Richtigkeit erheben, entfalten letztere lediglich Wirksamkeit101. Diese Funktionsspaltung wird nicht durch Bezugnahme auf die kommunikationskonstituierenden Grundannahmen motiviert, sondern durch die Kontrastierung von realer und idealer Sprechsituation innerhalb des Grundrahmens. Sie erscheint bezüglich der grundlegenden Funktionsbestimmung der Sprache nicht plausibel. Insbeson-

9 9

Habermas (1981), Bd. 1, S. 436.

1 0 0

Habermas (1981), Bd. 1, S. 435ff.

1 0 1

Habermas (1981), Bd. 1, S. 439.

IV. Habermas' Universalpragmatik

111

dere beschrankt sich die Differenzierung zwischen direkten und begründenden Äußerungen nicht nur auf die Imperative. Die Unterscheidung zwischen einer Bezugnahme auf die objektive Welt und die soziale Welt kann möglicherweise eine Differenzierung innerhalb der Gruppe der gegebenheitsorientierten Sprachfunktionen erlauben, nicht aber eine basale funktionale Spaltung102.

6. In einer 1988 erschienen Arbeit bezieht sich Habermas noch stärker auf das Bühlersche Modell 103 , wobei aber die grundsätzlichen ontologischen Bestimmungsmomente die gleichen wie 1981 bleiben. Die geltungstheoretische Deutung des Bühlerschen Modells fuhrt Habermas zu der Annahme, daß sich der Sprecher gleichzeitig auf etwas in der objektiven, auf etwas in der subjektiven und auf etwas in der gemeinsamen sozialen Welt bezieht104. Die illokutionären Kräfte lassen sich danach auf drei Grundmodi zurückfuhren: Sie gehören entweder zu konstativen, expressiven oder regulativen Sprechhandlungen 105 . Kommunikativa und Repräsentativa werden nicht erwähnt. Die 1981 eingeführten "Imperative" tauchen in dieser Arbeit ebenfalls nicht mehr auf. Der Grund, warum Habermas offensichtlich nunmehr glaubt, auf deren gesonderte Ausweisung verzichten zu können, manifestiert sich in der These, daß der Hörer auch den Sprechakt einer nicht in normative Kontexte eingebetteten, nicht autorisierten Aufforderung 106 erst verstünde, wenn er "jene Bedingungen kennt, die den Sprecher zu seiner Aufforderung autorisie-

1 0 2

Schließlich fuhrt Habermas als Neuerung (1981), Bd. 1, S. 436, noch eine weitere

Sprechaktklasse ein, die "Operative", die die Anwendung konstruktiver Regeln (der Logik, Grammatik, Mathematik) bezeichnen und einen performativen, aber keinen genuin kommunikativen Sinn haben. 1 0 3

Habermas (1988), Zur Kritik der Bedeutungstheorie, S. 105, 123. "Die geltungstheoreti-

sche Deutung des Bühlerschen Funktionenschemas bietet sich als Ausweg aus den Schwierigkeiten der Sprechhandlungstheorie an, weil sie allen drei Aspekten des sich/mit einem Anderen/über etwas/Verstandigens gerecht wird. Sie nimmt den Wahrheitsgehalt der Gebrauchstheorie der Bedeutung in sich auf und überwindet zugleich die spezifischen Einseitigkeiten der intensionalistischen und der formalen Semantik." 1 0 4

Habermas (1988), S. 126.

1 0 5

Habermas (1988), S. 127.

106

Habermas (1988), S. 134.

112

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

rai"107. Die mit Befehlen verknüpften Geltungsanspr&che beziehen sich unmittelbar auf die normativen Bedingungen, die eine Seite berechtigen, von der anderen das Wahrmachen eines vorgestellten Sachverhalts zu erwarten 108. Das sprachliche Verständnis einer Verpflichtungsäußerung ist abhängig von denkbaren ethischen oder rechtlichen Begründungen fur die entsprechende Verpflichtung. Diese These ist Teil des Habermasschen Versuchs einer Radikalisierung der pragmatischen Wende, die die bei Austin noch angenommene Unabhängigkeit des propositionalen Gehalts gegenüber dem illokutionären Akt negiert. Habermas übersieht aber, daß Funktion und Leistung der Sprache gerade darin bestehen, unabhängig von solchen bedeutungskonstituierenden Begründungen bzw. pragmatischen Kontexten dem anderen ζ. B. Aufforderungen mitteilen zu können. So richtig es ist, Begründungskomponenten als ein strukturell bedeutungsbestimmendes Moment mitheranzuziehen, so falsch ist ihre Verabsolutierung. Zum einen gibt es Imperative und Befehle, die außerhalb jeder denkbaren rechtlichen oder ethischen Begründung stehen, die nackte Willkür und Gewalt darstellen und trotzdem verständlich sind: Der Vergewaltiger, der sein Opfer zum Stillhalten auffordert, wird verstanden, ohne daß irgend eine Begründung denkbar wäre. Zum anderen gibt es viele Situationen, in denen zwar vielleicht eine Begründung bestehen könnte, der Hörer sie aber nicht kennt und nicht kennen kann, weil ihm die nötigen Informationen fehlen. Trotzdem versteht er die Äußerung. Gerade fur die Verhaltensanforderungen durch das Recht gilt das in besonderem Maße. Der Verurteilte versteht, daß er jetzt zahlen muß, weil sich dies nach dem Richterspruch aus dem Gesetz ergibt, ohne daß ihm eine wirkliche juristische Begründung bekannt sein müßte bzw. von ihm verstanden werden könnte. Auch hier gilt sinngemäß Putnams These von der linguistischen Arbeitsteilung. Es genügt, wenn Experten mögliche Begründungen kennen. Mit dieser neuerlichen Variante seiner Theorie hat Habermas die normativ notwendige und wünschenswerte Begründungsebene unzulässigerweise mit der davon unabhängigen sprachfunktionalen Verständigungsebene verknüpft. 1 0 7

Habermas (1988a), Bemerkungen zu J. Searle: Meaning, Communication and Represen-

tation, S. 143. 1 0 8

Habermas (1988a), S. 146.

V . Die Neutralität des trialistischen Modells

113

V. Die Neutralität des trialistischen Modells

Fraglich ist nunmehr die Kompatibilität der dargestellten Bedeutungstheorien mit dem trialistischen Rahmen. Das klassisch-referentielle Modell ist in seinen verschiedenen Variationen mit dem trialistischen Rahmen vereinbar. Dabei wird die Verbindung zwischen Zeichen und Gegebenheit als einseitig-referentielle Abbildungsbeziehung angesehen. Je nach metaphysisch-ontologischer Grundüberzeugung werden darüber hinaus unterschiedliche Gegebenheitsannahmen gemacht. Die Unterscheidung zwischen Sinn und Bedeutung, zwischen Extension und Intension, kann man als Frage interpretieren, ob man eine grundsätzliche Dichotomie zwischen diesen Gegebenheitsbereichen annehmen soll. Sie ist somit auch eine ontologische, nicht nur eine sprachliche Frage. Die pragmatischen Theorien sind ebenfalls grundsätzlich mit dem trialistischen Rahmen kompatibel. Man kann sogar weitergehen: Sie setzen für ihre Bedeutungstheorie eine zeichenunabhängige Gegebenheit voraus, in die die Sprachzeichen eingebettet werden können. Dabei wird - zumindest beim späten Wittgenstein - das Verhältnis von Gegebenheit zu Sprache praktisch umgekehrt: Nicht das Zeichen verweist auf eine Tatsache als Gegebenheit, sondern eine Gegebenheit als Situation bestimmt nunmehr die Funktion des Zeichens. Austin geht weniger weit und erhält mit dem Rhem im Rahmen des lokutionären Aktes - neben der Situationseinbettung des Zeichens im illokutionären Akt - auch noch die gegenläufige referentielle Funktion aufrecht. Auch die behavioristischen Theorien lassen sich ohne größere Probleme in das trialistische Modell integrieren. Man braucht dazu die auf den Sprecher einwirkende Gegebenheit nur als Reiz zu deuten und die Zeichenerzeugung als kausal determiniert anzusehen. Wie bei Ogden und Richards109 darf dann allerdings die Verknüpfung von Zeichen und Denotatum lediglich als mittelbarer Ausfluß dieser Reiz-Reaktions-Relation angesehen werden. Das strukturalistische bzw. neostrukturalistische Bedeutungskonzept wird durch das trialistische Modell ebenfalls prinzipiell mitabgedeckt, denn es ist nicht ausgeschlossen, die Gegebenheit, auf die durch das Zeichen verwiesen wird - immer oder im Regelfall - wiederum als Zeichen zu deuten. 1 0 9

Ogden/Richards (1923), p. 12, F N 1: "In the normal situation we have to recognize, that

our triangle is without its base, that between Symbol and Referent no direct relation holds." 8 v. d. Pfordten

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

114

Die Berücksichtigung einer sozialen Teilfunktion wird durch den trialistischen Rahmen nicht ausgeschlossen, weil die Interaktionsbeziehung SprecherZeichen-Hörer integriert ist. Mit der Imputation des Gegebenheitsbezugs wäre lediglich die Beschränkung auf diese Interaktionsbeziehung unvereinbar. Zusammenfassend läßt sich die weitgehende semantische Neutralität des trialistischen Modells in dieser unspezifizierten Form konstatieren110. Darüber hinaus ist das Modell aber auch ontologisch weitgehend kompatibel. Man könnte allenfalls mit einem absoluten, objektiven Idealismus111, wie ihn ζ. B. Berkeley vertreten hat, oder mit Heideggers Überwindung des Subjekt-ObjektGegensatzes in Schwierigkeiten geraten.

VI. Spezifikation des trialistischen Modells

Die weitgehende semantische Neutralität des trialistischen Modells erlaubt es, von diesem Fundament aus eine vertiefte Auseinandersetzung mit den verschiedenen Bedeutungstheorien zu fuhren. Um als Rahmen für die Erklärung der praktischen Sprache dienen zu können, bedarf das trialistische Modell einer solchen weiteren Spezifizierung. Denn über die damit festgelegten Grundannahmen hinaus ist beinahe jeder "Eckpunkt" des Dreiecks und jede Verknüpfungsbeziehung umstritten. Dabei wird sich nur der behavioristische Erklärungsversuch als unzulänglich erweisen, während aus den anderen Modellen Teilstücke Verwendung finden:

1. Die Unzulänglichkeit

der behavioristischen

Theorie

a) Die sprachlichen Reaktionsdispositionen sind im Gegensatz zu den behavioristischen A n n a h m e n von Individuum zu Individuum nicht einheitlich,

1 1 0

Vgl. Habermas (1988), S. 105, 123, der die intensionalistische und formale Semantik

und die Gebrauchstheorie der Bedeutung als Vereinseitigungen des Bühlerschen Modells ansieht. 1 1 1

Vgl. Hoche/Strube (1985), Analytische Philosophie, S. 27.

VI. Spezifikation des trialistischen Modells

115

sondern verschieden112. Sie hängen von unterschiedlichen Stimmungen, Kenntnissen, Bildungsständen, Wahrnehmungsfähigkeiten etc. ab 1 1 3 . Die Wahrscheinlichkeit einer bestimmten sprachlichen Reaktion liegt wegen der Fülle von Reaktions- und Formulierungsmöglichkeiten nahe Null. Dies gilt sowohl für die Reaktion eines Sprechers auf verbale und nichtverbale Stimuli als auch für die des Hörers auf die Äußerung eines Sprechers114. Quines Beschränkung auf die deskriptive Sprache verstellt ihm die Einsicht, daß man auf den Anblick einer Orchidee nicht nur mit einem Hinweis auf ihre Farbe oder ihre Blütenblätter reagieren kann, sondern auch mit einer Bewertung oder mit der Aufforderung an den anderen "Laß sie blühen!" Unser Erfahrungswissen ist bis zu einem gewissen Grade (abgesehen von Vorkenntnissen, Beobachtungsgenauigkeiten etc.) kausal durch Sinnesreizungen determiniert. Aber diese Festlegung führt nicht kausal zu einer bestimmten Äußerung, sondern bildet nur den Situationskontext, der - hier haben die pragmatischen Bedeutungstheorien Recht - die Interpretation der Äußerung mitbestimmt115. Bei verbalen Stimuli führt Quine v. a. die Frage als Paradigma des auslösenden Reizes an. Aber selbst wenn man konzediert, daß die Frage eine Äußerungsart ist, die die Reaktionsmöglichkeiten des Gegenübers am meisten einschränkt, so bleiben auch hier diverseste Variationsmöglichkeiten übrig. Von inhaltlich divergierenden Antworten abgesehen, kann man eine Frage aus den unterschiedlichsten Gründen zurückweisen. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß in bestimmten Spezialfällen eine hochstandardisierte Reaktion auf Äußerungen erfolgt, ζ. B. bei der Begrüßung. Weiterhin ist der Behaviorismus auch offensichtlich nicht in der Lage, den Erwerb der Kompetenz zur Generierung beliebig vieler sprachlicher Ausdrücke zu erklären 116.

1 1 2

v. Kutschera (1971), S. 94f.

1 1 3

Zu einer detaillierteren Kritik auch Lyons (1977), Bd. I, S. 145ff.

1 1 4

Vgl. etwa Tugendhat (1976), S. 220f.

1 1 5

Auch eine abgeschwächte behavioristische Theorie, die als dispositionale Bedeutungs-

theorie nur die Auslosung von Dispositionen annimmt (so bei Stevenson (1944) und Morris (1946)) fuhrt hier nicht weiter (vgl. dazu: Lyons (1977), Bd. I, S. 146f): Es ist den Vertretern dieser Theorie bisher nicht gelungen zu beweisen, daß es iigendeine spezifische Disposition gibt, die mit den meisten Wörtern und Äußerungen unseres alltäglichen Sprachverhaltens assoziiert ist. Vgl. Tugendhat (1976), S. 221. 116

Habermas (1988), S. 106f.

116

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

b) Von Seiten des Behaviorismus könnte als genereller Gegeneinwand auf den Modus des Spracherwerbs verwiesen werden. Es ist kein Zufall, daß Quine sich so ausfuhrlich mit dem Spracherwerb des Kindes117, aber auch der Spracherforschung durch den Sprachforscher im Rahmen der radikalen Übersetzung befaßt. Bezüglich des Spracherwerbs haben seine Thesen hohe Plausibilität: Es ist einsichtig, daß verbale und nonverbale Sinnesreizungen zum Spracherwerb nötig sind und die individuelle Wort- und Satzverwendung durch gesellschaftlich vorgegebene Konventionen weitgehend bestimmt wird. Aber Quine konzediert ja, daß Sätze auch auf andere Weise erlernt werden als durch unmittelbare Adaption. Wie soll aber die Neubildung eines Satzes118, wenn sie nicht durch äußere Reize hervorgerufen wird, erklärt werden, wie die Bildung eines Neologismus? Beschränkt man sich hier wie Quine auf den Hinweis auf andere schon bestehende Sätze, reißt die kausale Determinationskette zwangsläufig ab. Es wird ein kreatives, freiheitliches Moment bestimmend. Die anderen Sätze dienen quasi nur als Steinbruch und liefern das Wortmaterial für den neuen Satz. Wie er aber zusammengesetzt wird, bleibt der jeweiligen Intention des Sprechers überlassen. Dazu kommt noch folgendes: Je weiter sich der Verwendungszeitpunkt eines Zeichens vom Zeitpunkt des Erlernens entfernt und je häufiger der Sprecher es in wechselnden Zeichen- und Situationskontexten gebraucht hat, desto unabhängiger wird er von der ursprünglichen Kausaldetermination des Erwerbsvorgangs. Mag man diese beim Kleinkind vielleicht noch in gewissem Maße ausmachen können, so gewinnt der Mensch in der Regel mit zunehmendem Alter eine immer größere Souveränität über seine Sprachverwendung. Es bleibt zwar dabei, daß er nur mit bestimmten allgemeinverständlichen Werkzeugen in der Gesellschaft kommunizieren kann. Aber er erreicht eine immer größere Freiheit in der unterschiedlichsten Verwendung. Die überraschendsten Kombinationen der Worte, Wortspiele und lyrischer Wortgebrauch werden möglich. Die höchste Souveränität haben regelmäßig Schriftsteller und Philosophen, die neben der Kombination von Worten auch Worte und Redewendungen in ihrer laut- oder schriftsprachlichen Gestalt verändern und verschiedene Sprachen und Dialekte verbinden können, wie man es ζ. B. bei James Joyce in "Finnegans Wake" oder "Ulysses", Heidegger und Arno Schmidt findet.

1 1 7

Vgl. dazu auch Quine (1974).

1 1 8

Dazu eingehend Stenius (1975).

VI. Spezifikation des trialistischen Modells

117

c) Aber selbst wenn man von diesen Einwänden absähe, müßte man doch gegen die reduktionistisch-behavioristische Beantwortung der Frage nach der Funktion durch den Spracherwerb Bedenken erheben. Nicht das durch Sinnesreizungen vermittelte Erlernen, sondern der Gebrauch, der von einem sprachlichen Zeichen gemacht wird, ist das Primäre. Den Versuch, die Bedeutungsfrage über die Frage der Spracherlernung zu beantworten, könnte man als Spracherwerbsfehlschluß charakterisieren. Man kommt bei der Frage nach dem Gebrauch nicht weiter, wenn man, wie Quine, auf das Erlernen, d. h. die Konditionierung auf einen bestimmten Gebrauch durch die Gesellschaft verweist. Denn dann muß aufgezeigt werden, in welcher Weise die Gesellschaft bestimmte Zeichen verwendet, um über die bloß abstrakte Konstatierung des Erlernensvorgangs hinauszukommen. Die Verwendung der Sprachzeichen durch die Gesellschaft ergibt sich aber wiederum aus einer gewissen Gleichförmigkeit der Einzelverwendungen. Man kommt also nicht umhin, den Blick auf die konkrete Zeichenverwendung in der Funktionsbestimmung durch den trialistischen Rahmen zu werfen. Erst im Wege eines induktiven Wahrscheinlichkeitsurteils kann die generelle Sprachkonvention bestimmt werden.

2. Die Äußerungssituation

a) Illokutionärer Akt, Tätigkeit, Kommunikationssituation, Lebensform

aa) Aus dem trialistischen Rahmen jeder sprachlichen Kommunikation ergibt sich, daß nicht isolierte Wörter oder Sätze die Basiseinheiten der Sprache ausmachen, sondern von einem Sprecher an einen Hörer gerichtete Äußerungen, die man im Anschluß an Austin und Searle 119 als "Sprechakte" bezeichnen kann.

1 1 9

Searle (1969), p. 21, S. 36.

118

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

Allerdings muß man beachten, daß die pragmatischen Theorien von Austin und Searle, aber auch etwa diejenige von Habermas120, eine Verengung der ursprünglichen pragmatischen Theorie des späten Wittgenstein darstellen, da sie sich nur auf die Sprachhandlung konzentrieren, also nur die handlungsbeeinflußten Elemente der Kommunikationssituation erfassen. Diese Verengung ist nicht gerechtfertigt. Man muß die Einbettung der sprachlichen Zeichen weiter ziehen als bloß bezüglich Sprachhandlungen, wie des Fragens, Behauptens, Befehlens etc. Der Primat der Sprachhandlung ist zu relativieren. Dabei dürfen die äußeren Umstände allerdings nicht - wie vom Behaviorismus - als Kausalfaktoren verstanden, sondern müssen als Komplementärergänzung der erzeugten Sprachzeichen angesehen werden 121. Ausgeklammert werden muß im Rahmen der pragmatischen Überlegungen als Sonderfall der Situationskontext anderer sprachlicher Zeichen, wie er von den strukturalistischen Bedeutungstheorien betont wird. Hier handelt es sich zwar prinzipiell auch um ein Situationsmoment, aber das Einbettungsverhältnis weicht einer gleichberechtigten Wechselwirkung, die ihren eigenen Gesetzen unterliegt. Prinzipiell ist jeder einzelne Ausdruck in die gesamte Wirklichkeit der Welt eingebettet, so wie auch andere Gegebenheiten als Tatsachen in die Gesamtwirklichkeit integriert sind. Dabei lassen sich allerdings unterschiedliche Radien des Situationskontextes ausmachen, die man unter Verbindung der Terminologie von Wittgenstein und Austin und bei abnehmender Unmittelbarkeit zum einzelnen sprachlichen Ausdruck als illokutionärer Akt, Tätigkeit, munikationssituation lind Lebensform bezeichnen kann: Im Rahmen des "illokutionären Aktes" wird von den einzelnen Worten und Sätzen und ihrem Inhalt abstrahiert. Er stellt die unmittelbare Sprachhandlung dar, die durch die sprachliche Äußerung vollzogen wird. Der Übergang von

Habermas (1971), S. 102: Aufgabe der Universalpragmatik "ist die Nachkonstruktion des Regelsystems, nach dem wir Situationen möglicher Rede überhaupt hervorbringen oder generieren." - Hier wird die Ursache fur diese Verengung bei Habermas deutlich: Nur die durch die Kommunizierenden erzeugten Situationsbestandteile werden miteinbezogen. Folgerichtig erschöpft sich dann auch eine zukünftig zu realisierende Lebensform bei Habermas im idealisierten Gespräch; vgl. S. 140. 121 1 X 1

Tugendhat (1976), S. 226, macht z. B. den Fehler, nicht zwischen einer kausal die Ent-

stehung herbeiführenden und einer komplementär die Bedeutung ergänzenden Bestimmung durch die Situationsumstände zu unterscheiden. Folgerichtig differenziert er auch nicht zwischen pragmatischen und behavioristischen Theorien .

Kom-

V I . Spezifikation des trialistischen Modells

119

der Zeichensetzung über sog. parasprachliche Erscheinungen122 (wie Augenbewegungen, Kopfnicken, Gesichtsausdruck) zu Sprachhandlungen, wie Fragen, Antworten, Behaupten, Befehlen, Versprechen123, ist allerdings fließend. Unter "Tätigkeit" wird eine Zusammenfassung verschiedener mehr oder minder gut unterscheidbarer illokutionärer Akte untereinander und/oder mit nichtsprachlichen Handlungen verstanden: Theater spielen, verkaufen, arbeiten, Feste feiern, diskutieren, eine Gerichtsverhandlung leiten 124 . Die "Kommunikationssituation m bildet den raum-zeitlichen Rahmen, in dem illokutionäre Akte und Tätigkeiten stattfinden: während einer Busfahrt, nach einem Unfall, im Gerichtssaal, im Restaurant, in der Vorlesung, in der Universität, im Kino. Schließlich verbleibt noch die "Lebensform" als allgemeiner Rahmen, in den illokutionärer Akt, Tätigkeit und Kommunikationssituation eingebettet sind. Auch hier ist Wittgenstein wenig präzise: "Das Hinzunehmende, Gegebene - könnte man sagen - seien Lebensformen." 125 An folgende Beispiele könnte man denken: Sitten und Gebräuche, Ladenschlußzeiten, politische Verhältnisse, Familienordnungen, Lebensgewohnheiten, aber auch rechtliche und moralische Regeln, wenn sie nicht in der Situation explizit gemacht sind. Man muß sich den Satz einer Sprache wie den Keim einer Zwiebel vorstellen, der auf diese Weise in (die gerade eingeführten) vier Situationsschalen eingebettet ist. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen: (1) Man nehme den Satz: "Diese kosten fünfzig Mark", den eine Verkäuferin gegenüber einer Kundin gebraucht. Der illokutionäre Äußerungsakt ist eine Antwort auf eine Frage. Die Tätigkeit, in die dieser illokutionäre Akt eingebettet ist, ist das Verkaufen eines Gegenstandes. Dabei werden nicht nur Fragen nach dem Preis beantwortet, sondern auch Waren aufgestellt und angepriesen, Preise ausgezeichnet, Geld kassiert und die Ware verpackt. Kommunikationssituation ist ein Kaufhaus in einer Straße in einer bestimmten Stadt.

1 2 2

Vgl. dazu: Lyons (1977), Bd. I, S. 77ff.

1 T)

Searle (1969) gibt selbst keine präzise Beschreibung des Terminus "illokutionärer Akt", sondern behilft sich mit Beispielen; p. 23f; S. 40. Wie sich oben Β. I V . 3. b) ergab, war auch Austins Charaktersierung nicht präziser. 1 2 4

Auch Wittgenstein gibt hier nur Beispiele an, wie wir oben bei Β. I V . 3. a) sahen.

1 2 5

Wittgenstein (1953), S. 363.

120

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

Käufer und Verkäufer stehen vor einem Regal mit Töpfen einer bestimmten Marke und Qualität. Lebensform ist eine geldwirtschaftlich organisierte Verkaufswirtschaft. (2) Der Satz "Haben Sie das Auto gestohlen?" ist Teil des illokutionären Aktes der Frage durch einen Richter an einen Angeklagten, die im Rahmen der Tätigkeit der Leitung einer Gerichtsverhandlung erfolgt und auch das Anlegen der Robe, das Betreten des Gerichtsaals, das Aufschlagen der Akten, die Belehrung der Zeugen, das Schließen der Verhandlung etc. umfaßt. Kommunikationssituation ist der Gerichtssaal eines bestimmten Landgerichts mit einem Rechtsanwalt X in der Strafsache Y unter dem Aktenzeichen Z. Lebensform ist eine bestimmte Eigentums- und Rechtsordnung und das Leben in einem Rechtsstaat, der Straftaten im Rahmen von Gerichtsverhandlungen aburteilt. Die Sprechakttheorie beschränkt sich, wie schon erwähnt wurde, auf den illokutionären Akt. Dieser wird dabei teilweise weiter verstanden und umfaßt als "übergeordneter Akt" oft auch die hier definierten Tätigkeiten. Die Sprechakttheorie übersieht aber, daß manche Äußerungen - gerade bei indexikalischen Ausdrücken126 - erst im Rahmen der Kommunikationssituation oder Lebensform ihre Funktion erfüllen können (wie das "diese" bezüglich der Töpfe im Beispiel (1)). Es genügt hier zur Bedeutungsbestimmung nicht, das Augenmerk nur auf die engste Situationsschale der Sprachhandlung zu legen.

bb) Die Unterscheidung von vier pragmatischen Situationsschalen ist in mehrfacher Hinsicht idealtypisch: Zum einen sind die Randbereiche der einzelnen Sphären unscharf und die Übergänge fließend. Im Einzelfall lassen sich noch weitere Zwischenstufen ausmachen, ζ. B. die Lebensform in einer Stadt, einer Region, einem Land etc. So könnte man im Beispiel (2) die Vernehmung des Angeklagten zwischen dem illokutionärem Akt des Fragens und der Tätigkeit des Leitens der Gerichtsverhandlung ansiedeln. Weiterhin können die einzelnen Situationsschalen ganz unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Im Rahmen der Versendung eines Briefes fallen ζ. B. Tätigkeit und Kommunikationssituation mehr oder weniger zusammen. Aber sie 1 2 6

v. Kutschera (1976), S. 151: Wörter wie "Ich", "du", "dieser", "jetzt" etc., die erst durch

den pragmatischen Kontext einer Äußerung einen bestimmten Bezug erhalten, nennt man nach Bar-Hillel "Indexausdrücke".

V.

e i t

des trialistischen Modells

121

sind so allgemein und undifferenziert, daß hierdurch kaum eine eingehendere Funktionsbestimmung erfolgen kann. Briefe können zu allen möglichen Zwekken versandt werden. Dies wäre allenfalls dann anders, wenn der Inhalt des Briefes ausnahmsweise etwa mit den Worten "Übergeben Sie dem Überbringer dieses Briefes das Paket! " auf die Situation Bezug nähme. Die Situationsschalen sind zwar in vielen Fällen mitbestimmend fur den Inhalt einer Äußerung, so im Beispiel ( l ) 1 2 7 . Allerdings kann diese Mitbestimmung auf den verschiedensten Ebenen der umgebenden Situation erfolgen: Steht ζ. B. in einem Brief "Ich nehme Ihr Vertragsangebot an", so genügen weder der Satz, noch illokutionärer Akt, Tätigkeit und engere Kommunikationssituation, um die Bedeutung vervollständigen zu können. Man muß schon den vorhergehenden Brief als weitere Kommunikationssituation mitheranziehen. Je allgemeiner eine Situationsschale ist, desto geringer ist allerdings in der Regel ihre prägende Kraft. Es ist nur selten nötig, die allgemeinste Situationsschale der Lebensform zur Interpretation eines Satzes heranzuziehen. Eine bestimmte Lebensform ist regelmäßig auch mit den unterschiedlichsten Sätzen kompatibel. Allenfalls bestimmte ζ. B. in der jüngeren deutschen Vergangenheit geäußerte Sätze sind vermutlich nur im Rahmen der Lebensform eines wilhelminischen Offiziers oder NS-Schergen verständlich. Weiterhin gibt es Sätze, die weniger situationsabhängig sind, als andere, weil sie schon sehr präzise semantische Informationen enthalten: ζ. B.: "Die Kochtöpfe der Marke X, Typ Y kosten am 1. 1. 1989 im Kaufhaus Ζ fünfzig Mark". Dies hat zur Folge, daß solche Sätze nur in wenigen Situationen verwendbar sind. Gleichzeitig bestimmen sie ihrerseits die Situation, in der sie Verwendung finden, stärker als andere. Die Situationsschalen müssen also nicht nur zur Interpretation des Äußerungsinhalts mitherangezogen werden, sondern der Äußerungsinhalt bestimmt umgekehrt auch die Äußerungssituation. Dies hat schon Hare 128 in einer kritischen Auseinandersetzung mit Austins Sprechakttheorie angemerkt: Schon der Satz als solcher besitzt illokutionäre Kraft. Auch Searle 129 stellt fest: 1 2 7

Bei Searle (1969), p. 57, 63, S. 89, 97. findet sich das Beispiel, daß im Rahmen der Si-

tuation eines Versprechens nur ein zukünftiger Satz als Inhalt stehen kann. po Hare (1971c), Austin's Distinction between Locutionary and Elocutionary Acts, p. 107. 1 2 9

Searle (1969), p. 155, S. 233. Er geht allerdings trotz dieses Zugeständnisses von einer grundsätzlichen Unabhängigkeit von illokutionärem Akt und "Proposition" (wie er den Zei-

122

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

"Grundsätzlich besteht allerdings immer die Möglichkeit der Abhängigkeit der illokutionären Rolle einer Aussage von ihrer Bedeutung. * Im Beispiel (2) genügt die bloße Kenntnis des Satzes, um zu wissen, daß es sich bei der Äußerung um eine Frage handelt. Bemerkenswert ist, daß ebenso wie bei der umgekehrten Bestimmung des Satzinhalts durch die Situation mit zunehmender Verallgemeinerung auch die Bestimmung der Situation durch den Satz abnimmt. Je weiter die umgebende Wirklichkeit von der Äußerung wegrückt, desto geringer wird der Situationseinfluß. Damit nimmt auch die Selbstverständlichkeit ab, mit der Situationselemente einbezogen werden. Der Sprecher muß in besonderer Weise auf eine solche weiter entfernte Gegegebenheit hinweisen. Der Satz in Beispiel (2) ist ζ. B. mit den verschiedensten Tätigkeiten und Kommunikationssituationen (bei einer Versicherung etc.) und erst recht mit unterschiedlichsten Lebensformen zu vereinbaren.

b) Fünf Axiome zum Verhältnis von Äußerungsinhalt und -situation

Diese Überlegungen haben Hinweise auf fünf Axiome bezüglich des Verhältnisses von Äußerungsinhalt (propositionaler Gehalt) und Äußerungssituation gegeben:

aa) Axiom der Komplementarität von Äußerungsinhalt und Äußerungssituation: Äußerungsinhalt und Äußerungssituation stehen nicht isoliert nebeneinander. Die Situation bestimmt auch nicht nur den Inhalt, wie der späte Wittgenstein offensichtlich annahm, sondern beide bilden ein komplementäres Bestimmungsverhältnis und konstituieren gemeinsam die Bedeutung einer Äußerung. Äußerungsinhalt und Äußerungssituation sind wie ein Puzzlestück im cheninhalt nennt) aus, etwa: p. 154, S. 232. Diese Position findet in den von ihm aufgewiesenen Fehlschlüssen ihre Ausprägung, dem Sprechaktfehlschluß und dem Fehlschluß der Kritik am naturalistischen Fehlschluß. Seine Ansicht, daß die Proposition völlig gleichbleibt, wenn der Sprechakt wechselt, ist jedoch wohl für den Regelfall kaum haltbar, weil Äußeningsinhalt und Äußerungssituation sich wechselseitig ergänzen.

V I . Spezifikation des trialistischen Modells

123

Verhältnis zum Gesamtpuzzle. Das Ganze bestimmt, wie das Teilstück aussehen muß, das noch fehlt. Und das Teilstück bestimmt, welches Gesamtbild entsteht. Ob beide zueinander passen, kann nur in einer Zusammenschau beider festgestellt werden 130.

bb) Axiom der Abstraktion und Konkretion: Dabei besteht insofern eine "Arbeitsteilung", als durch den Satzinhalt eine abstrakte Bedeutungsvorbestimmung erfolgt, die durch die Situationsschalen konkretisiert wird. Vergleichsbeispiel wäre die abstrakte Funktionsbestimmung eines Hammers durch seinen Hersteller. Bevor man nicht die konkrete Verwendungssituation kennt, weiß man nur, daß damit nicht gesägt oder gebohrt wird. Erst im Rahmen der Anwendung wird dann die Funktion - ζ. B. das Einschlagen von Nägeln - genau bestimmt. In gleicher Weise hat man sich das Verhältnis von Äußerungsinhalt und Äußerungssituation vorzustellen. In jüngster Zeit hat Ferber auf diesen Sachverhalt hingewiesen. "Ist" kann nach ihm ζ. B. eine normative Bedeutung annehmen131. Er fuhrt aus, daß der "illokutionäre Handlungskontext auch fur die Bedeutung des Wörtchens "ist" relevant bleibt, insofern sich erst ihm entnehmen läßt, ob es konstative oder normative Bedeutung hat" 132 . Und: "Zwischen der indikativischen Form von "ist" und seiner Funktion besteht kein notwendiger Zusammenhang, so daß das Entymem von der indikativischen Form auf die indikativische bzw. konstative Funktion trotz seiner Popularität fehlbar ist. " Dem ist prinzipiell zuzustimmen, allerdings stellt diese Feststellung nur die halbe Wahrheit dar, denn obwohl in der Tat die Möglichkeit besteht, daß der illokutionäre Akt bzw. die Äußerungssituation die Bedeutung des Äußerungsinhalts verändert, bleibt dessen Bedeutung gleichsam "im Hintergrund" doch immer präsent. Der Äußerungsinhalt ist selbst bei einem so wenig inhaltsbestimmten Wort wie "ist" nicht völlig disponibel, wie Ferber anzunehmen scheint: Nur so ist das oft zu beobachtende Phänomen erklärbar, daß die normative Kraft von Normen durch indikativisch-deskriptive Fassung des Ver130 Man muß Habermas (1988), S. 119, aber darin zustimmen, daß sich eine strikte sachliche Unterscheidung der Bedeutung von lokutionärem und illokutionärem Akt, d. h. von Äußerungsinhalt und Äußeningssituation, nicht aufrechterhalten läßt. 1 3 1 Ferber (1988), Das normative "ist" und das konstative "soll", S. 185-198. 1 3 2

Ferber (1988), S. 190.

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

124

pflichtungssatzes verstärkt wird 133 , etwa in Art. 11GG: "Die Menschenwürde ist unantastbar". Insbesondere Rechtsnorm»! wird dadurch gleichzeitig ein besonderer Objekivitäts- und Unverrûckbarkeitseindruck verliehen134. Auch das Phänomen der Ironie ist nur verständlich, wenn man keine völlig beliebige Disponibilität des Äußerungsinhalts durch die Äußerungssituation annimmt: Der Inhalt der Äußerung wird durch das Hineinstellen in einen bestimmten Kontext oder durch eine bestimmte Gestik oder Mimik konterkariert. Die Normalbedeutung wird mit Hilfe der Äußerungssituation eingeklammert, aber sie kann nicht völlig wegfallen, soll nicht die Gesamtäußerung bedeutungslos werden.

cc) Axiom der komplementären Sättigung: Ist die Bestimmung durch den Äußerungsinhalt stärker ausgeprägt, kann die Situationsbestimmung zurücktreten, ist sie schwächer ausgeprägt (Beispiel (1)), muß eine stärkere Situationsbestimmung gegeben sein, um eine bedeutungsvolle Äußerung zu erhalten. Dabei läßt sich keine genaue Grenze angeben, wann eine Äußerung im Zusammenspiel von Inhalt und Situation genügend bestimmt ist. Man kann ζ. B. nicht sagen, der Satz "Laß uns ins Kino gehen", der nicht vor einem bestimmten Kino geäußert würde, sei prinzipiell so unbestimmt, wie der - ohne entsprechende Situationsergänzung geäußerte Satz "Laß uns dahin gehen". Es besteht vielmehr eine Übergangszone der Anreicherung der Bedeutung.

dd) Axiom der abnehmenden wechselseitigen Bedeutungsbestimmung bei zunehmendem Abstand von Äußerungsinhalt und Äußerungssituation: Mit zunehmender Allgemeinheit der Situationsschale nimmt die wechselseitige Bestimmung von Äußerungsinhalt und Äußerungssituation prinzipiell ab. Oder metaphorisch ausgedrückt: Je weiter außerhalb die einzelne Schale der Zwiebel liegt, desto weniger ist sie an die unmittelbare Form des Keims angepaßt.

133 S. 132. 1 3 4

Ebenso: Kaufmann (1949), Das Unrechtsbewußtsein in der Schuldlehre des Strafrechts, FeAer (1988), S. 196.

V.

e i t

des trialistischen Modells

125

ee) Axiom der wechselseitigen Ersetz- und Übersetzbarkeit: Am wichtigsten ist das Axiom der wechselseitigen Ersetz- und Übersetzbarkeit: Wie schon Austin hinsichtlich der Explikation des performativen Aktes gesehen hat 135 , läßt sich prinzipiell jede Äußerungssituation auch durch den Äußerungsinhalt ausdrücken und umgekehrt136, wobei aber immer ein letzter Rest jedes Teiles übrigbleiben muß, da weder ein Inhalt ohne Situation möglich ist noch vice versa. Man könnte einwenden, es gebe sehr komplizierte Äußerungsinhalte, wie "Kernfusionsreaktor" oder "reine Apperzeption", bei denen es kaum vorstellbar ist, sie ohne Verbalisierung zu verdeutlichen. Aber wenn die Kommunikationssituation in einer anderen Äußerung besteht, geht auch dies: Man kann auf die kompliziertesten Fragen mit "Ja" antworten. Im Grunde genommen benützt man dann allerdings einen Äußerungsinhalt, der in der Äußerung eines anderen verpackt ist 137 . Kulturgeschichtlich konstatierbar ist, daß mit zunehmender Komplizierung und Diversifikation der Worte und Sätze die Komplementierung durch nonverbale Äußerungssituationen schwieriger geworden ist und eher abgenommen haben dürfte 138. Allerdings gibt es auch Bereiche des modernen Lebens mit gegenläufiger Tendenz. So ist die Situierung von Straßenverkehrsschildern unabdingbarer Teil ihrer Bedeutung. Auch zwischen Verschiedensprachigen wird die Kommunikation oft durch allgemeinverständliche Äußerungssituationen erleichert. Nur in einem Spezialfall ist das Axiom der wechselseitigen Ersetz- und Übersetzbarkeit von Äußerungsinhalt und Äußerungssituation nicht anwendbar: Bilden illokutionärer Akt und inhaltliche Explikation desselben eine eigenständige neue Bedeutung, so kann dieses "compositum" kaum mehr adäquat durch eine Explikation oder Performation ersetzt werden: ζ. B. bei dem Satz "Ich sage dir, daß...", der in einem bestimmten ultimativen und herausfordernden Tonfall geäußert wird. 1 3 5

Austin (1962), p. 91, S. 109.

1 3 6

Nach Searle (1969), p. 70, S. 112 könnte man sich z. B. vorstellen, daß es im

Englischen ein illokutionäres Verb "rubrify" gab, mittels dessen etwas "rot" genannt wurde. 1 3 7

Bei Habermas (1971), S. 119, findet sich das soeben daigelegte Axiom in folgender

Form: Jeder Kommunikationsteilnehmer habe die Imputation, daß alle extraverbalen Äußerungen erforderlichenfalls durch sprachliche Äußeningen substituiert werden könnten. 1 3 8

Diesen Gedanken verdanke ich Matthias Grässlin.

C. Der Trialismus als Bedeutungserklarung

126

c) Schlußfolgerungen

Als Ergebnis festzuhalten ist, daß die pragmatischen Theorien mit ihrer Betonung der Äußerungssituation zwar eine wichtige Komponente des Bedeutungsbegriffs ans Tageslicht gehoben haben, dieser Aspekt jedoch den Bedeutungsbegriff nicht erschöpft, sondern nur ergänzt139. Die frühen Sprechakttheoretiker, wie Austin oder Searle, haben eine solche inhaltliche Komponente der sprachlichen Äußerung auch nicht bestritten. Sogar bei Quine ergibt sich im Ergebnis nichts anderes, wenn er von Extensionen von Äußerungen bezüglich Klassen spricht. Selbst der späte Wittgenstein mit seiner starken Betonung der Einbettung der Äußerung in den Gesamtzusammenhang einer Situation leugnet nur die Möglichkeit der Trennung einer referentiellen Komponente von der pragmatischen140. Prominentester Vertreter einer eindeutig dominant pragmatischen Komponente ist Habermas. Nach ihm verlagert sich der "Sitz der Rationalität aus dem propositionalen in den illokutionären Bestandteil"141. Entscheidend für die Bedeutungsbestimmung sind die Geltungsansprüche, die mit einer sprachlichen Äußerung verbunden sind: "Wir verstehen eine Sprechhandlung, wenn wir die Art von Gründen kennen, die ein Sprecher anfuhren könnte, um einen Hörer davon zu überzeugen, daß er unter den gegebenen Umständen berechtigt ist, Gültigkeit für seine Äußerung zu beanspruchen."142 Habermas übersieht aber, daß zwar sämtliche Zeichenbedeutungen tatsächlich in Äußerungssituationen geprägt bzw. erlernt werden, die Zeichen aber eine abstrakte Funktion gewinnen, die sie von der jeweiligen Äußerungssituation bis zu einem gewissen Grade unabhängig machen. Hiergegen könnte man zwar einwenden, daß diese Bedeutungsprägung der Zeichen ja auch wieder Teil des pragmatischen Kontextes sei und allenfalls einen Grenzfall darstelle. Aber die pragmatisch geprägte Erlernung ändert nichts an der partiell situationsunabhängigen Verwendung. Wie schon angedeutet, liegt aber der eigentliche Grund für Habermas' Mißinterpretation darin, daß er die Basisannahmen 1 3 9

Vgl. Williams (1972), Morality, S. 54, p. 59: Referentielle und pragmatische Bedeutung

schließen sich nicht gegenseitig aus. 1 4 0

Wittgenstein (1953), S. 27f.

1 4 1

Habermas (1988), S. 125.

1 4 2

Habermas (1988), S. 128.

VI. Spezifikation des trialistischen Modells

127

des trialistischen Modells nicht als vorgängig aus der Unterscheidung lokutionärer-illokutionärer Akt heraushält. Gerade in schriftsprachlichen Zusammenhängen, in denen uns ζ. B. meistens Rechtsnormen gegenübertreten, bleibt die Frage nach dem Inhalt einer Äußerung unbeantwortet, wenn man keine in hohem Grade vom pragmatischen Äußerungskontext selbständige Bedeutung des Äußerungsinhalts annimmt. Allein die pragmatischen Umstände des Gesetzgebungsverfahrens helfen ζ. B. bei der Auslegung einer Norm nicht weiter. Im übrigen ist die Bezugnahme auf die Äußerungssituation oft inpraktikabel, so wenn ζ. B. im Beispiel (1) der Preis auf der anderen Seite des Regals angeschlagen wäre. Die Verkäuferin könnte kaum antworten, "Diese kosten soviel, wie auf der Tafel auf der anderen Seite des Regals steht!", denn die Kundin müßte dann erst dorthin gehen, um die gewünschte Information zu erhalten. Festzuhalten bleibt, daß die vollständige Reduktion der Bedeutung auf den illokutionären Akt bzw. die Äußerungssituation nicht gelingt.

3. Die Referenz

a) Amplifikation des Anwendungsbereichs und Reduktion des Erklärungsanspruchs

Die Auseinandersetzung mit den behavioristischen und pragmatischen Ansätzen hat gezeigt: Es gelingt weder, die Verwendung eines Zeichens lediglich als eindeutig determinierte Reaktion auf einen Reiz zu interpretieren. Noch geht die Funktion des Zeichens vollständig in der Spezifikation eines Sprechaktes auf oder wird allein durch die Totalität der Situationsmomente der Äußerungssituation bestimmt. Es bleibt (jedenfalls fur bestimmte Ausdrücke) eine Bedeutungskomponente übrig, die der einzelne Sprecher allein mit Hilfe des konventionell bestimmten Zeichens, unabhängig von einer Reiz- oder Situationsdetermination oder der Explikation eines Sprechaktes, vermittelt. Im

128

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

Rahmen der Sprachhandlung bezieht sich der Sprecher schon allein mit seinen Zeichen auf ein Bezeichnetes, im obigen Beispiel (1) ζ. B. auf den Preis der Ware. Dabei ist wichtig, daß alle drei Eckpunkte des trialistischen Modells auf diese Weise bezeichnet werden können, nicht nur die Gegebenheit. Was dies genauer heißt, wird sich noch erweisen. Im gleichen Atemzug mit der Anerkennung einer auch unabhängig von der pragmatischen Einbettung mit dem Zeichen Bezug nehmenden Sprachkomponente muß aber betont werden, daß damit vier Implikationen nicht übernommen werden, die zu berechtigter Kritik am klassischen Abbildmodell geführt haben:

aa) Die Anerkennung der Bezugnahme von Zeichen ist ontologisch oder metaphysisch vollkommen neutral. Sie enthält vor allem keinerlei Existenzimplikation. Dies kann an Hand der Diskussionen in der Philosophiegeschichte auf das Schönste verdeutlicht werden: Man kann über platonische Ideen ebenso sprechen, wie über Gott, Engel, Universalia, Bedeutungen, Werte, Imperative oder behavioristische Verhaltensweisen. Das Sprechen über etwas setzt nicht seine Existenz voraus. Diese Annahme läuft allerdings zentralen Überlegungen der modernen Sprachphilosophie zuwider, die Searle143 als "Axiom der Existenz" formuliert hat: "Alles, worauf verwiesen wird, muß existieren." In "Zerberus existiert nicht" wäre "Zerberus" danach ein nichthinweisender Eigenname144. Auch nach Habermas verbinden wir mit Aussagen die Supposition, daß der Gegenstand, über den die Aussage gemacht wird, existiert 145. Die geistesgeschichtliche Ursache dieses Axioms besteht in der Verknüpfung der sprachphilosophischen Entwicklung seit Frege 146 bzw. insbesondere

1 4 3

Searle (1969), p. 77, S. 121.

1 4 4

Searle (1969), p. 77, 82, S. 121, 129. Die Annahme dieses Axioms fuhrt dann bei Searle

zu solchen absurden Konsequenzen, p. 114, S. 176: "Die Existenz eines Universels folgt daraus, daß der korrespondierende allgemeine Ausdruck oder Prädikatausdruck bedeutungsvoll ist." Vgl. zur Problematik der Existenzannahmen bei intentionalen Kontexten auch Tugendhat (1976), S. lOlff. 1 4 5

Habermas (1971), S. 105. Vgl. auch Tugendhat (1976), S. 157.

1 4 6

Frege selber war selbstverständlich kein Positivist, aber mit seiner Ausschaltung der Indi-

vidualvorstellung zu Gunsten der Intension als bedeutungsbestimmend hat er wichtige Vorarbeit geleistet.

VI. Spezifikation des trialistischen Modells

129

seit dem Wiener Kreis mit dem Positivismus. Während für Aristoteles noch galt, daß ein Wort nicht notwendig die Existenz des entsprechenden Gegenstandes impliziert 147, fand die prinzipielle ontologische Skepsis des Positivismus in dieser sprachphilosophischen Restriktion ihren Niederschlag. Insbesondere auf Russell wird die These zurückgeführt, daß jede erfolgreich vollzogene Referenz die Existenz ihres Bezugsgegenstandes voraussetzt148. Folge war dann die Intension-Extension-Spaltung und beim späten Wittgenstein die weitgehende Aufgabe des realistischen Modells. Dort findet sich auch eine Kritik des Axioms der Existenz149. Danach hängt es von einer Konvention im Rahmen des jeweiligen Sprachspiels ab, ob ein Wort nur dann bedeutungsvoll ist, wenn der jeweilige Träger des Wortes existiert 150. Auch bei Searle besteht im Rahmen der Einbettung des realistischen Modells in die Sprechakttheorie eine Aufweichung und partielle Nichtanerkennung des Axioms der Existenz. Die Behauptung der Existenz bleibt auf den Äußerungsinhalt (nach Searle die "Proposition") beschränkt und bestimmt nicht automatisch die Behauptung des Sprechaktes. Bei Fragen und Befehlen werde z. B. auf diese Weise nicht die Existenz des Erfragten oder Befohlenen behauptet151. Man muß aber noch einen Schritt weiter gehen und nicht nur wie Searle die beliebige Modifizierbarkeit des Existenzaxioms behaupten, sondern sogar die bloße Einfuhrung der Existenzbehauptung im Einzelfall zusätzlich zur Referenz des Äußerungsinhalts152. Die Ablehnung des Axioms der Existenz bedeutet somit nicht, daß jede implizite Behauptung der Existenz bei bezugnehmenden Wörtern und Sätzen ausgeschlossen würde. Aber diese ergibt sich nicht von vornherein, sondern aus der Verknüpfung mit anderen Zeichen bzw. dem Gesamtcharakter der Äußerung und dem Äußerungskontext. Für einen deskriptiven Satz ist die Existenzimplikation der Regelfall, aber nicht zwingend, wie futurische und verneinende Sätze beweisen. Aber im

1 4 7

Aristoteles (1925), Peri Hermenias, 16al, S. 1.

1 4 8

Vgl. Searle (1969), p. 157ff, S. 235ff.

1 4 9

Wittgenstein (1953), PU §§ 39-41, S. 39ff.

1 5 0

Wittgenstein (1953), PU § 41, S. 40f.

1 5 1

Searle (1969), p. 160ff, S. 239AF.

1 5 2

Das bedeutet nicht, daß die Einführung der Existenzbehauptung Existenzprädikation

wäre, die zu einem anderen Gegenstand hinzuträte, denn dies enthielte eine ungerechtfertigte ontologische Implikation. 9 v. d. Pfordten

130

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

Rahmen von Fragen und Imperativen können verschiedene Worte bzw. Namen oder Kennzeichnungen auch ohne Existenzimplikation gebraucht werden, wie etwa in folgenden Sätzen: "Soll ich ein Bild malen? - Malen Sie ein Bild! " Auf den ersten Blick erscheint es unverständlich, wie man eine Bezugnahme von Zeichen auf Gegebenheiten annehmen kann, ohne daß diese bestehen müssen . Man muß dann offensichtlich die von Russell an Meinong inkriminierten 153 abstrakten Gegenstände annehmen. Dies ist aber ein Irrtum. Auf diese Problematik wird bei der Frage des Bestehens von Intensionen noch näher einzugehen sein (C. VI. 3. c)).

bb) Die Annahme einer referentiellen Zeichenverwendung begrenzt die Bezugnahme innerhalb des trialistischen Rahmens nicht. Der Forderung des methodischen Holismus ist also Genüge getan. Es könnte allerdings trotzdem der Verdacht aufkommen, daß damit klammheimlich doch wieder einem ethischen Deskriptivismus Tür und Tor geöffnet würde. Aber die nachfolgenden Überlegungen werden diese Befürchtungen zerstreuen. Die genauere Ausgestaltung des Verhältnisses von Zeichen und Bezeichnetem ist nämlich noch offen und richtet sich in ihrer grundsätzlichen Ausrichtung nach den unterschiedlichen Dreieckspunkten, auf die Bezug genommen wird. Es ist streng zwischen der bisher angenommen allgemeinen Bezugnahme innerhalb des trialistische Rahmens und einer deskriptiven Bezugnahme zu unterscheiden.

cc) Gemäß den vorangegangen Überlegungen wird nicht behauptet, daß die Bedeutung einer Äußerung sich allein aus ihrem Inhalt, d. h. der Bezugnahme ihrer Zeichen, ergibt, oder daß jedes Wort so erklärt werden könnte. Die pragmatische Komponente als wichtige Ergänzung und die soziale Komponente als überwölbender Aspekt behalten ihre Berechtigung.

dd) Schließlich muß man sich bezüglich der referentiellen Zeichenfunktion von jeglichen Bildanalogien lösen. Die Verknüpfungsstruktur der Zeichen steht in keinem Bildverhältnis zur Struktur der Wirklichkeit, wie der frühe Wittgenstein annahm. Man kann nur die negativ abgrenzende Vermutung auf-

1 5 3

Russell (1905), On Denoting, S. 8.

VI. Spezifikation des trialistischen Modells

131

stellen, daß unterscheidbare Zeicheneinheiten wie Worte und Sätze teilweise mit den in der Wirklichkeit wahrgenommenen Struktureinheiten korrelieren.

ee) Zusammenfassend ist das nicht weiter spezifizierte referentielle Modell also nur dann brauchbar, wenn man es unter Vermeidung von Abbildvorstellungen auf die bloß abstrakte Bezugnahme reduziert und auf jede implizite ontologische Bestimmung oder Begrenzung des Bezeichneten und jede Verabsolutierung des Modells verzichtet.

b) Konventionalität

Das trialistische Fundament impliziert, daß der Hörer eine Äußerung des Sprechers prinzipiell verstehen kann. Wie dieser Verständnisvorgang aussieht, ist umstritten154. Konsens dürfte aber sein, daß nur die Befolgung bestimmter Konventionen bzw. Regeln eine solche sprachliche Verständigung ermöglichen kann 155 . Man könnte sich als Gedankenexperiment zur Verdeutlichung dieses Sachverhalts eine Vereinbarung zwischen Sprecher und Hörer vorstellen, daß der Sprecher nur Wörter und Sätze benutzt, die nicht schon in irgendeiner Weise konventionell zu einer Bezugnahme verwendet werden. Der Hörer würde die Wörter und Sätze nicht verstehen, wenn zwischen den Protagonisten nicht eine Regel vereinbart wäre, wie der Sprecher seine neuartigen Bezugnahmen bildet. Die Konventionen unterscheiden sich nun je nach Gegebenheit, Zweck der Gesamtäußerung und Kommunikationssituation wenigstens in dreifacher Hinsicht: Sie sind unterschiedlich stark ausgeprägt (aa), von unterschiedlicher Festigkeit bzw. Flexibilität (bb) und verknüpfen unterschiedlich präzise (cc):

1 5 4

Vgl. ζ. B. die Auseinandersetzung von Searle (1969), p. 42ff., S. 68fif. mit Grice (1957),

Meaning. Während Grice das Erzielen der Wirkung, also des perlokutionären Aktes beim Hörer, fur entscheidend hält, muß der Hörer nach Searle zum Verständnis einer Äußerung erkennen, daß der Sprecher beabsichtigt, einen bestimmten illokutionären Akt hervorzubringen. 1 5 5

Nach Searle (1969), p. 71, S. 113, wäre die Eliminierung der Regeln allenfalls durch Reduktion der Sprache auf die perlokutionäre Wirkung durchfuhrbar, was aber nicht möglich ist.

132

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

aa) Die beiden Extremfalle eines völligen Fehlens jeder Konvention und ganz strikter konventioneller Bezugnahme finden sich bei Eigennamen vor und nach ihrer Festsetzung: Die Bezugnahme auf eine Gegebenheit im Rahmen einer Benennung oder Taufe bzw. eines Neologismus folgt keinen sprachlichen Konventionen, sondern allenfalls gesellschaftlichen: Ein Junge erhält keinen Mädchennamen; neue Fachtermini sind oft ein bedeutungsvermittelndes Kompositum aus schon bekannten etc. Nötig ist im Rahmen einer solchen Neubenennung allerdings, daß die presumptive neue Bezugnahme - bis auf den eigentlichen Namen - schon festgelegt ist, sei es durch anderweitige sprachliche Benennung oder Kennzeichnung oder deiktisches Verhalten. Eine Gegebenheit kann nur benannt werden, weil sie schon individualisiert und bekannt ist - sei es durch verbale Kennzeichnung oder durch nonverbale Situationsbestimmung (Fingerzeigen etc.). Der Eigenname tritt also mit seinem Bestehen schon in einen umfassenden sprachlichen und interaktiven Kontext ein: Nur weil es klar ist, daß sie ständig nur einander meinen, können ζ. B. Verliebte sich mit immer neuen Kosenamen überraschen.

bb) Ist eine solche Benennung aber einmal erfolgt, so bleibt sie in der Regel fest undrichtetsich auf eine einzelne singuläre Gegebenheit (dies besagt die Kennzeichnung "Eigenname*), außer es ist, wie im soeben erwähnten Beispiel, gemäß der Maxime "variatio delectat", gerade eine Regel des Spiels, immer neue Namen zu erfinden. Die Festigkeit der konventionellen Bezugnahme folgt also ihrerseits einer (sekundären) Konvention. Bei Vor- und Zuname einer Person hat der Staat ζ. B. die Norm aufgestellt, daß diese nicht beliebig geändert werden können.

cc) Unbestimmt kennzeichnende Ausdrücke wie "ein Baum" sind zwar konventionell auf eine bestimmt Klasse von Gegebenheiten festgelegt, aber die Konvention ist nicht so präzise, daß eine einzelne singuläre Gegebenheit identifiziert würde. Dies bedeutet nicht, daß die Äußerung im Einzelfall nicht verstanden würde oder bedeutungslos wäre. Sie ist nur in ihrer Gegebenheitsbestimmung weniger eindeutig als eine singuläre bestimmte Kennzeichnung oder ein Eigenname. Dabei kann ein Ausdruck bzw. eine Kennzeichnung mit unterschiedlich großen Klassen von Gegebenheiten verknüpft sein. So

VI. Spezifikation des trialistischen Modells

133

beziehen sich die Worte "Entitat" oder "Objekt" auf sehr große, umfassende Klassen von Gegebenheiten. Die Ungenauigkeit bzw. Variabilität konventioneller Verknüpfungen kennzeichnet Wittgenstein mit seinem Terminus "Familienähnlichkeit"156. Putnam hat mit seinen Überlegungen zur linguistischen Arbeitsteilung gezeigt (Β. IV. 1. i)), warum es oft vernünftig ist, auf größere Präzision zu verzichten. Eine reduzierte Bestimmung durch Konventionen findet man insbesondere auch bei indexikalischen Wörtern, wie "dieses", "er" etc. Hier muß aus dem verbalen oder pragmatischen Kontext eine Ergänzung erfolgen, um überhaupt eine Bezugnahme zu ermöglichen.

c) Extension - Intension

Die Frage, ob es Intensionen (Sinn, Propositionen etc.) als sprachfunktionale Elemente oder gar als ontische Entitäten gibt, ist eine der meistumstrittenen der neueren Sprachphilosophie. Quine und Putnam157 wenden sich gegen den von Frege eingeführten und von Carnap weiterentwickelten Extension-Intension-Dualismus158. Auch der frühe Wittgenstein hat trotz Kenntnis der Fregeschen Schriften nicht zwischen Bedeutung und Sinn unterschieden1».

156 Yg| luitisch zu einem unreflektierten Gebrauch dieses Terminus: Searle (1969), p. 55, S.

86. 1 5 7

Wittmann (1986), S. 373, fuhrt zwar zutreffend aus, daß Putnam den rein extensionalen

Standpunkt verwirft, berücksichtigt aber nicht, daß er sich ebenso vehement gegen den Intensionalismus in der Nachfolge Carnaps wendet. Putnam übersteigt mit seiner Theorie somit die Spaltung zwischen Extension und Intension. 1 5 8

Vgl. zu diesem: Stegmüller (1969), S. 94ff.

159 Vgl γ Kutschera (1971), S. 56 dessen Formulierung andeuten soll, daß der späte Wittgenstein diese Unterscheidung getroffen hat. Dies kann man aber bezweifeln, denn zum einen wird von Wittgenstein der referentielle Ansatz stark restringiert. Darüber hinaus wird der Terminus "Sinn" zwar in den "Philosophischen Untersuchungen" verwendet, aber dies geschieht nicht mit der Fregeschen Bedeutung. Schließlich verneint Wittgenstein im Rahmen der inhaltlichen Auseinandersetzung mit einer feststehenden Kennzeichnung eine solche: vgl. (1953), PU § 79, S. 64f. Dazu: Dummett (1973), p. 101, 111.

134

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

In der rechtsphilosophischen Literatur plädiert z. B. Wittmann160 fur die Annahme von Intensionen: "Zur praktischen Seite der Rechtswissenschaft gehört ja gerade, wie ich die Extension eines rechtlichen Ausdrucks feststellen kann. Ein mit totaler Intensionsskepsis verbundener, rein extensionaler Standpunkt Quinescher Prägung wäre daher mit der Funktionsweise des Rechts unvereinbar." Gleiches gilt fur Koch/Rüßmann, die aber zugeben161: "Die Intension eines Ausdrucks ist grundsätzlich nur über den 'Umweg* einer Extensionsermittlung bestimmbar, wobei mit gewissen Schwierigkeiten zu kämpfen ist." So recht also Wittmann mit seinem Insistieren auf der Notwendigkeit der Feststellung der Extension eines rechtlichen Ausdrucks im Rahmen der Rechtswissenschaft hat, so zweifelhaft ist, ob die Einführung feststehender Intensionen mit unklarem sprachtheoretischen bzw. ontologischen Status hier weiterhilft. Mit der Favorisierung der Figur des "Typus"162 in der neueren Rechtstheorie wird vielmehr implizit Abschied von feststehenden Intensionen genommen.

aa) Freges Argumentation

Um beurteilen zu können, ob die Annahme von Intensionen berechtigt ist, soll Freges ursprüngliche Argumentation eingehender untersucht werden:

(1) Sinn und Bedeutung163 lassen sich nach Frege sowohl am einzelnen Wort als Zeichen, als auch am Satz als Zeichenverbindung aufweisen. Eigennamen "drücken" danach "einen Sinn aus" und "bezeichnen eine Bedeutung"164. Die Bedeutung verweist für Frege auf das "Bezeichnete" selbst. Bei einem Eigennamen ist dies ein "bestimmter Gegenstand", jedoch kein Be1 6 0

Wittmann (1986), S. 372f.

1 6 1

Koch/Rüßmann (1982), S. 189.

162 Etwa: Kaufmann (1965), Analogie und "Natur der Sache". Zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Typus, S. 47 und passim. 1 6 3 Frege (1891), Funktion und Begriff, S. 27. 1 6 4

Frege (1892a), Über Sinn und Bedeutung, S. 46.

VI. Spezifikation des trialistischen Modells

135

griff und keine Beziehung165. Bei einem Prädikat ist die Bedeutung der Begriff, der wiederum Gegenstände umfaßt 166. Bei einem Satz stellt der Wahrheitswert die Bedeutung dar 167 . Dieser ergibt sich aus der Bedeutung der einzelnen Worte 168 . Freges "Bedeutung" wird gemeinhin - v.a. im angelsächsischen Bereich als "Bezug" (reference) bezeichnet169. Hier wird aber bei genauerem Hinsehen schon eine gewisse Verschiebung des Gemeinten deutlich, denn Frege hatte ja gerade keine Beziehung bezeichnen wollen: Die Bedeutung "ist" der Gegenstand170 und das Zeichen "bezeichnet seine Bedeutung"171. Gemeint ist bei Frege mit "Bedeutung" also nicht wie im normalsprachlichen Kontext die Relation bzw. der Bezug zwischen Zeichen und Bezeichnetem, sondern der bezeichnete Gegenstand selber. Diese Definition ist nicht nur beim späten Wittgenstein auf heftigen Widerstand gestoßen172, sondern hat auch Dummett dazu veranlaßt, Freges "Bedeutung" ganz aus der Frage nach sprachlicher Bedeutung auszuklammern173. Da es aber Freges Grundimpetus war, die Funktion der sprachlichen Zeichen aufzuklären, konnte er die Repräsentationsfunktion des Zeichensystems nicht völlig vernachlässigen und quasi mit der Wirklichkeitserkenntnis des Gegenstandes verschmelzen. Frege kommt so mit seinem Bedeutungsbegriff im Verhältnis zum Gegenstand in ein ähnliches Dilemma wie Kant mit seiner Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich. Umfaßt "Bedeutung", wie "Erscheinung" bei Kant, schon alles, was ausgedrückt oder erkannt werden kann, so hat das Wort "Gegenstand", wie "Ding an sich", keine eigenständige semantische Funktion mehr. Die Verschiebung der Bedeutung von "Bedeutung" durch Frege erfüllt aber einen Zweck, wenn man bedenkt, daß mit dem "Sinn" ja noch eine zweite 1 6 5

Frege (1892a), S. 41.

1 6 6

Frege (1969), Ausfuhrongen über Sinn und Bedeutung, S. 128; (1976), Brief an Husserl

vom 24. 5. 1891, S. 96. 1 6 7

Frege (1892a), S. 48.

1 6 8

Frege (1892a), S. 48. Vgl. dazu: Dummett, p. 159ff.

1 6 9

v. Kutschera (1971), S. 46, S. 40.

1 7 0

Frege (1892a), S . 4 1 , 4 4 .

1 7 1

Frege (1892a), S. 46.

1 7 2

Wittgenstein (1953), PU § 40, S. 40.

1 7 3

Dummett (1973), p. 84, 94.

C. Der Trialismus als Bedeutungserkläng

136

semantische Komponente aufgewiesen werden soll und deshalb, bildlich gesprochen, "Platz geschaffen werden muß", um ihr eine Funktion zuweisen zu können. Die Explikation des Terminus "Sinn" erfolgt nicht durch Definition, denn Frege geht von der Undefinierbarkeit dieses einfachen Begriffs aus. Der Leser oder Hörer soll vielmehr durch Winke angeleitet werden, "unter dem Wort das Gemeinte zu verstehen"174. Dies geschieht auf dreifache Weise: (a) durch logische Untersuchung der Funktion der Gleichsetzung a=b, (b) durch das Anfuhren von Beispielen mit gleicher Bedeutung und unterschiedlichem Sinn und (c) durch verschiedene Versuche einer paraphrasierenden Explikation:

(a) Der Satz a=b hat bei entsprechender Einsetzung gegenüber a=a offenbar einen nicht bloß analytischen Erkenntniswert. Könnten a und b jedoch nur die Referenz auf ein einziges Objekt bezeichnen, hätten sie also bloße Bedeutung, so würde der Satz über die Wirklichkeit nicht mehr aussagen, als a=a, nämlich die Objektidentität. Er würde allenfalls etwas über die Verwendung von zwei verschiedenen Zeichen für dasselbe Objekt sagen. Dies widerspricht nach Frege aber der Intuition. Ein Unterschied muß also in einem Dritten liegen, so daß der "Unterschied des Zeichens einem Unterschied in der Art des Gegebenseins des Bezeichneten entspricht"175. Dieses Dritte bezeichnet Frege als "Sinn".

(b) Als Beispiele führt er die Worte "Abendstern" und "Morgenstern" an, die beide das gleiche Objekt, die Venus, bedeuten, aber nicht denselben Sinn aufweisen. Denn in einem Satz kann der eine Ausdruck nicht durch den anderen substituiert werden, ohne den Sinn des ganzen Satzes zu verändern. Gleiches gilt für die Wortverbindungen "Schnittpunkt von a und b" und "Schnittpunkt von b und c" - wobei a, b und c die Geraden sind, welche die Ecken eines Dreiecks mit den Mitten der Gegenseiten verbinden176 - und die Zahlenverknüpfungen "24" und "4x4" 177 .

1 7 4

Frege (1891), S. 30; Frege (1892b), S. 67.

1 7 5

Frege (1892a), S. 41. Vgl. Dummett, p. 95.

1 7 6

Frege (1892a), S. 41.

1 7 7

Frege (1891), S. 27.

V I . Spezifikation des trialistischen Modells

137

(c) Frege versucht weiterhin, die Bedeutung der semantischen Komponente "Sinn* mit folgenden Paraphrasen zu explizieren:

(aa) Es werde dadurch "auf die Art des Gegebenseins gedeutet"178. (bb) Der Sinn "wird von jedem erfaßt, der die Sprache oder das Ganze von Bezeichnungen hinreichend kennt, der er angehört"179. (cc) Der Sinn könne "gemeinsames Eigentum von vielen" sein und sei also nicht "Modus der Einzelseele", wie die subjektiven Vorstellungen, "denn man wird wohl nicht leugnen können, daß die Menschheit einen gemeinsamen Schatz von Gedanken hat, den sie von einem Geschlechte auf das andere übertragt" 180. Gekennzeichnet ist das Verhältnis von Sinn und Bedeutung dadurch, daß mit einer Bedeutung verschiedene Sinngehalte korrespondieren können und damit wiederum verschiedene Zeichen181. Der Sinn bestimmt dabei die Bedeutung, aber nicht umgekehrt182.

Zeichen

\

Zeichen

Sinn

\ Bedeutung

Zeichen — Zeichen

1 7 8

Frege (1892a), S. 41.

1 7 9

Frege (1892a), S. 42.

1 8 0

Frege (1892a), S. 44.

1 8 1

Frege (1892a), S. 42.

1 8 2

Dummett (1973), p. 159.

Sinn ^

138

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

(2) Im folgenden soll die These vertreten werden, daß Freges Terminus "Sinn" nicht einfach ist. Seine verschiedenen Komponenten sind von anderen semantischen und psychologischen Bestimmungen entlehnt. Er hat deshalb neben einem relationalen und differenzierten Bedeutungsterminus, einem intersubjektiv erweiterten Vorstellungsterminus und grammatischen bzw. referentiellen Sprachkonventionen keine eigene Bedeutung.

(a) Dazu sollen zuerst Freges Explikationsversuche untersucht werden:

(aa) Wird durch den Sinn eines Ausdrucks "auf die Art des Gegebenseins gedeutet" (Explikation (1) (c) (aa)), so wird gerade nichts "ausgedrückt", sondern auf etwas Bezug genommen, etwas bezeichnet. Es erfolgt wie mit der Referenz eine Deixis, allerdings nicht direkt auf den Gegenstand selbst, sondern auf bestimmte Eigenschaften, auf seine Situierung in seiner Umwelt, auf eine Struktur, der der Gegenstand zugehört, sei diese nun raum-zeitlich bestimmt oder anders (ζ. B. beim Zahlensystem). Dann wäre die Bedeutung des Terminus "Sinn" aber nur eine andere Art der Referenz, nämlich eine Referenz auf die Umwelt des Gegenstandes durch die dieser selbst selektiv und ex negativo bezeichnet wird. Diese Interpretation könnte man die referentielle, genauer die strukturreferentielle Interpretation der Bedeutung des Terminus "Sinn" nennen.

(bb) Freges zweite Explikation ((1) (c) (bb)) enthält zwei Teile, "das Ganze von Bezeichnungen" und die "Sprache", wobei aus der Formulierung nicht ganz deutlich hervorgeht, ob der Sinn nur einen Teil dieser Bestimmungen ausmacht oder das Ganze183. Hält man sich an die erste Bestimmung, so ergäbe sich der Sinn aus der Summe der Bedeutungen. Auch hier würde der Sinnbegriff also auf den Bedeutungsbegriff zurückgeführt, wobei hier nicht nur eine Referenz auf die Umgebung des Gegenstandes gemeint sein kann, sondern deren Gesamtheit einschließlich des direkten Bezugs (also Freges "Bedeutung"). Man könnte dies die gesamtreferentielle Interpretation nennen. Sind aber auf solche Weise

1 8 3

bezieht.

Frege (1892a), S. 42; je nachdem, ob man das "er" auf "Sinn" oder auf "Eigennamen"

VI. Spezifikation des trialistischen Modells

139

im Sinn eines Eigennamens sämtliche Kennzeichnungen enthalten - was, nebenbei bemerkt, Überlegungen von Quine entspricht -, so wird dessen Bedeutung extrem unbestimmt184 und Sätze, in denen der Eigenname mit einer Kennzeichnung (=Strukturreferenz) oder diese untereinander identifiziert würden, wären bloße Tautologien. Im zweiten Teil der Explikation versucht Frege dagegen offenbar den Sinnbegriff von jeder Referenz abzukoppeln und als referenzunabhängiges Element der Sprache auszuweisen. Damit würde er die Lücke einnehmen, die durch die oben beschriebene Funktionsverschiebung des Bedeutungsbegriffs entstanden ist. Wir können diese Interpretation die linguistische Interpretation nennen. Wie dieses Sprachmoment aber zu verstehen ist und inwieweit es über bloße Grammatik- und Referenzkonventionen (zur Verknüpfimg von Zeichen und Gegenstand) hinausgeht, wird von Frege nicht dargelegt.

(cc) Mit der dritten Explikation ((1) (c) (cc)) und dem Ausdruck "gemeinsamer Schatz von Gedanken" will Frege offensichtlich auf ein kollektives Bewußtsein, eine kollektive Vorstellung hindeuten, die aber von den subjektiven Vorstellungen unabhängig sein soll. Diese idealistische Bestimmung erinnert an Hegels überindividuelle Weltvernunft, an den "Geist". Wir können dies die idealistisch-sozialpsychologische Interpretation des Terminus "Sinn" nennen. Sie ist zum einen in der strikten Annahme der Unabhängigkeit des kollektiven Bewußtseins von subjektiven Vorstellungen nicht überzeugend, denn feuch intersubjektive Vorstellungen müssen durch ein Subjekt mit seinen subjektiven Vorstellungen erkannt werden. In jede Bezugnahme auf intersubjektive Vorstellungen fließen überdies subjektive Vorstellungen ein und verändern sie. Dies läßt sich gerade an Freges Gebrauch des Begriffs "Bedeutung" zeigen, der vom normalsprachlichen Gebrauch bis zu einem gewissen Grade abweicht, aber prägend für den sprachphilosophischen Gebrauch wurde. Man könnte also allenfalls vom "Sinn" als intersubjektiver Vorstellung ausgehen; aber worin soll dieser - im Rahmen der behauptenden Sprache - noch über einen Objekt- und Strukturbezug und bestimmte Grammatik und Referenzkonventionen hinaus liegen? Was soll der Ausdruck "intersubjektive Vorstellung" mehr aussagen, als die mentale Spiegelung dieser Momente? Die An1 8 4

Vgl. v. Kutschera (1971), S. 50f.

C. Der Trialismus als Bedeutungserkläning

140

nähme einer weiteren selbständigen semantischen Komponente ist hierdurch nicht gerechtfertigt 185.

(dd) Die völlig unterschiedlichen Interpretationsweisen des Terminus "Sinn", die Frege - mehr oder minder vage - andeutet, stützen Zweifel, ob der Terminus "Sinn" als Wort mit einfacher Bedeutung - diese Forderung stellt Frege, nebenbei bemerkt, an exakte Sprache186 - angesehen werden kann. Man muß vielmehr vermuten, daß die zutreffende Beobachtung, daß sich die Bedeutung von Worten nicht in ihrer Objektreferenz erschöpft, zur ungerechtfertigten Konstruktion eines philosophischen mixtum compositum gefuhrt hat.

(b) Um diese Vermutung zu überprüfen, sollen nunmehr Freges Beispiele untersucht werden: Die Tatsache, daß die Worte "Venus", "Morgenstern" und "Abendstern" das gleiche Referenzobjekt, also nach Frege die gleiche Bedeutung, haben, ist nicht zu bestreiten. Da diese Worte sich in direkter Weise auf den gleichen Gegenstand beziehen, können wir noch präziser von der gleichen Objekt- oder Direktreferenz sprechen. Damit ist über den Gegenstand an sich nichts ausgesagt, wir könnten ihn deshalb auch "Mars" oder "Merkur" nennen. Würden sich die Ausdrücke "Abendstern", "Morgenstern" etc. allerdings in ihrer Direktreferenz auf den Planeten Venus erschöpfen, wären sie also Synonyme, so wären sie in Sätzen vollständig substituierbar, ohne daß sich der Sinn des Satzes ändern würde. Die Sätze "Der Morgenstern ist mit dem Morgenstern identisch" und "Der Morgenstern ist mit dem Abendstern identisch" unterscheiden sich jedoch offenbar. Während der erste eine Tautologie ist, ist der zweite ein empirischer Satz 187 . Worin geht aber nun die Funktion der Worte über den bloßen Objektbezug hinaus? Würde man gefragt, wie man den "Stern" dort oben nennt, so könnte man alle drei Namen anfuhren. Auf die weitere Frage nach einem Grund dieser Be-

1 8 5 Nach Dummett (1973), p. 93, besteht dagegen fur Frege der Sinn eines Wortes in Mitteln, mit denen das Referenzobjekt dieses Wortes bestimmt wird. 1 8 6

Frege (1882), Über die wissenschaftliche Berechtigung einer Begriffsschrift, S. 92.

1 8 7

v. Kutschera (1971), S. 44.

VI. Spezifikation des trialistischen Modells

141

nennung188, könnte man, wenn man auf die erste Frage mit "Venus" geantwortet hätte, nichts mehr sagen, außer auf irgendwelche etymologischen Zusammenhänge zu verweisen, die nur etwas über die Konvention der Zeichenverwendung mitteilen. Hat man dagegen auf die erste Frage mit "Abendstern" geantwortet, so kann man nun darauf verweisen, daß dieser Stern eben am Abend (hell) am Himmel stehe (entsprechend am Morgen, wenn mit "Morgenstern" geantwortet wurde). Oder wenn man dem Fragenden pädagogisch kommen wollte, könnte man ihn auffordern, die Frage selber zu beantworten. Er würde zu dem Ergebnis kommen, daß der Stern am Abend (bzw. am Morgen) am Himmel steht. Er könnte die Frage beantworten, auch wenn er nie Kenntnis von einer intersubjektiven Vorstellung (idealistisch-sozialpsychologische Interpretation des Terminus "Sinn") hinsichtlich dieses Wortes erlangt hätte oder ihm entsprechende spezielle Sprachkonventionen (linguistische Interpretation) unbekannt wären. Nur die alltagssprachliche189 Bedeutung der Worte "Stern" und "Morgen" müßte er kennen und wissen, daß man im Deutschen bisweilen Klassennamen verbindet, um die Schnittmenge ihrer Elemente zu kennzeichnen. Die Worte "Stern" und "Morgen" haben zwar keinen Bezug auf eine wohlbestimmte Einzelgegebenheit, aber direkten Bezug auf Klassen von Gegebenheiten, der sich vom Direktbezug des Eigennamens "Venus" auf eine Einzelgegebenheit nicht prinzipiell unterscheidet. Zusammengenommen ergibt sich die Schnittmenge dieser beiden Klassenbezüge, die als neuer einheitlicher Bezug neben dem Direktbezug auch auf den Planeten Venus hinweist. Vom bloßen Direktbezug unterscheidet sich dieser Bezug aber dadurch, daß er die Gegebenheit nicht direkt bezeichnet, sondern sie nur indirekt durch Selektion von Umwelt- bzw. Strukturbestimmungen kennzeichnet. Die Strukturreferenz kann in gleicher Weise zutreffend oder unzutreffend sein wie die Direktreferenz. Sie ist allerdings regelmäßig nicht so genau bestimmt wie diese. In unserem Fall könnte der Fragende z.B. weiterfragen, welcher Stern am Abend gemeint sei. Man müßte die Strukturreferenz dann 1XX Eine beliebte Frage von Kindern, die auf den ersten Blick naiv erscheint, aber auf den zweiten nicht. Gerade Kinder, die die sie umgegebende Welt kennenlernen wollen, stellen keine nutzlosen Fragen! 1 8 9 Damit ist Dummetts (1973), p. 97, etwas sophistischer Einwand ausgeräumt, daß es sich bei der Venus ja eigentlich um einen Planeten und nicht um einen Stern im technischen Sinne handle.

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

142

weiter spezifizieren, indem man auf die Helligkeit oder eine Himmelsrichtung verwiese. Eine vollständige Bestimmung müßte theoretisch die Beschreibung der ganzen Welt umfassen und ist deshalb praktisch ausgeschlossen. Aber selbst wenn eine solche Beschreibung gelänge, würde sie nicht auch die Direktreferenz mitumfassen? Denn eine solche Beschreibung müßte auch etwas über den Akt der urspünglichen direktreferentiellen Bezugnahme sagen. Man könnte auf diese Weise einwenden, daß die Beschreibung der Bezeichnung auch zur vollständigen Bestimmung der Strukturbedingungen eines Gegenstandes gehöre. Damit wäre Quines These, daß sich alle Eigennamen als Kennzeichnungen ausdrücken lassen, gerechtfertigt 190. Auf diese Weise wäre aber gleichzeitig die grundlegende Unterscheidung zwischen direkt- und strukturreferentiellem Bezug aufgegeben. Bei dieser Frage dürfen nicht erkenntnistheoretische und sprachphilosophische Fragen verwechselt werden. Die erkenntnistheoretische Einsicht, daß man Gegebenheiten nicht als solche, sondern immer nur Tatsachen, also Gegebenheitsverknüpfungen, wahrnimmt, schließt das sprachphilosophische Postulat eines direktreferentiellen Wirklichkeitsbezugs nicht aus. Mit Hilfe der Strukturreferenz erreicht man bei Zusammenfassung aller bekannten Kennzeichnungen zwar eine höhere Bestimmtheit und Eindeutigkeit als mit der Direktreferenz. Aber bei der Direktreferenz (bzw. Eigennamen) besteht der Vorteil, daß man gerade keine Kennzeichnungen benutzen muß, um sich auf einen Gegenstand zu beziehen. Dies ist zur Aufwandsersparnis beim Sprechen nützlich. Sie ermöglicht überdies, eine bisher als gegeben angenommene Kennzeichnung zu verneinen. An dieser Stelle muß auch Putnams Prinzip der "linguistischen Arbeitsteilung" erwähnt werden: Man kann sich auf wenige, allgemein bekannte Kriterien einer Gegebenheit beziehen. Searle betont schließlich: "...die einzigartige Bedeutung und der große praktische Vorteil der Eigennamen in unserer Sprache beruhen gerade darauf, daß sie es uns ermöglichen, uns im Gespräch mit anderen auf Gegenstände zu beziehen, ohne uns darüber streiten und einigen zu müssen, welche deskriptiven Eigenschaften es genau sind, die die Identität des Gegenstandes konstituieren. Die Eigennamen funktionieren nicht als Beschreibungen, sondern als Nägel, an denen Beschreibungen aufgehängt werden." 191

1 9 0

Quine (1948), On what there is, p. 8; v. Kutschera (1971), S. 50f.

1 9 1

Searle (1969), p. 172, S. 257f.

V I . Spezifikation des trialistischen Modells

143

Bei den Worten "Morgenstern" und "Abendstern" läßt sich sowohl eine direkt- als auch eine (unterschiedliche) strukturreferentielle Bedeutungskomponente unterscheiden. Deshalb ist der Satz "Morgenstern und Abendstern sind identisch" keine Tautologie: Neben der Objektidentität wird ausgesagt, daß dem gleichen Objekt unterschiedliche Strukturbedingungen zukommen. Es wird behauptet, daß der gleiche Stern unter verschiedenen Umweltbedingungen zu sehen sei. Dies ist die Erkenntnis, die Frege als Drittes fur die Gleichsetzung fordert. Wie der Ausdruck "Venus" zeigt, gibt es Worte mit bloßer Direktreferenz (von der zweiten Bedeutung, der Göttin Venus, abgesehen). Bei anderen Ausdrücken findet sich nur die Strukturreferenz. Z. B. wurden die überschweren chemischen Elemente vor ihrem empirischen Nachweis gemäß ihrer Stellung im chemischen Ordnungssystem bezeichnet (z. B. Element 106 usw.). Solche strukturreferentiellen Worte bzw. Wortverbindungen, die gleichsam nur auf eine Leerstelle, auf etwas Vermutetes verweisen, sind aber - wie dieses Beispiel zeigt - unvollständig bzw. ungesättigt. Sie haben eine bloß prädikative Struktur. Dies ist aber die Bestimmung, die Frege als "Begriff" bezeichnet192.

(c) Gegen diese strukturreferentielle Interpretation des Terminus "Sinn" könnte eingewandt werden, daß sie die idealistisch-sozialpsychologische Interpretation ganz außer acht lasse. Aber selbst wenn man trotz der obigen Einwände eine solche intersubjektive Vorstellung annehmen will, stellt sich die Frage, was diese Implikation zur Beantwortung der semantischen Frage nach der Bedeutung beiträgt. Verwendet ein Sprecher den Ausdruck "Helmut Kohl", dann mag er zwar die verschiedensten (wahren wie falschen, freundlichen wie unfreundlichen) Vorstellungen mit diesem Namen verbinden. .Aber seine aktuelle Äußerung drückt nur bestimmte strukturreferentielle Kennzeichnungen aus. Auf die Eigenschaft Helmut Kohls, Bundeskanzler zu sein, wird z.B. erst strukturreferentiell verwiesen, wenn von irgendwelchen Regierungsentscheidungen die Rede ist. Wie Wittgenstein193 und Dummett194 zu Recht betonen, gibt es jedoch keine klaren festumrissenen Kennzeichnungen, die notwendig beherrscht werden müssen, um die Äußerung verstehen zu können. Wird in ihr nur etwas über Helmut Kohls Privatleben 1 9 2

Frege (1892b), S. 80.

1 9 3

Wittgenstein (1953), PU § 79, § 80.

1 9 4

Dummett (1973), p. 98ff.

144

C. Der Trialismus als Bedeutungserkläng

ausgesagt, so kann die volle Bedeutung erfaßt werden, ohne die nicht explizierte Strukturreferenz auf die Eigenschaft, Bundeskanzler zu sein, zu kennen. Man kann allenfalls empirisch-soziologisch bestimmte Kennzeichnungen feststellen, die in einer Gesellschaft zu einer Zeit in bestimmter Häufigkeit mit einzelnen Worten verbunden sind, Putnams "Stereotype".

(3) Mit dieser strukturreferentiellen Interpretation ist im übrigen keine erkenntnistheoretische Implikation verbunden. Empirismus, Rationalismus oder Kants transzendentalphilosophische Position sind damit vereinbar, denn Gegenstände der Objekt- bzw. Strukturreferenz müssen nicht ausschließlich empirische Objekte sein. Man kann durchaus annehmen, daß nicht nur auf empirische Wahrnehmung, sondern auch auf Verstandeskategorien verwiesen wird. Die Unterscheidung von Struktur- und Direktreferenz impliziert nur, daß kein völlig monistisch-undifferenzierter Gegenstandsbereich angenommen werden kann. Man muß eine gewisse multidimensionale Differenziertheit der Wirklichkeit anerkennen. Ein weiterer Einwand könnte darauf hinweisen, daß man Eigennamen, die scheinbar eine Strukturreferenz haben, oft direktreferentiell gebraucht. So ist es zweifelhaft, ob in "Kirchdorr eine Kirche steht und ob es sich noch um ein Dorf handelt, oder nicht vielmehr um eine Stadt. Und mit "Frankfurt" will man natürlich nicht auf eine Fuit hinweisen, weil es mittlerweile genügend Mainbrücken gibt. Tatsächlich werden diese Ausdrücke heute nur mehr direktreferentiell verwendet. Aber dies spricht nicht gegen die prinzipielle Annahme einer strukturreferentiellen Komponente, sondern dafür. Wie das Beispiel von "Venus" gezeigt hat, ist ein rein direktreferentieller Eigenname durchaus möglich und bei Personennamen sogar die Regel. Bei Ortsnamen hat aber oft eine Bedeutungsverschiebung von der strukturreferentiellen zur direktreferentiellen Bezeichnung stattgefunden. Denkbar sind im übrigen auch Namensverbindungen, die beide Komponenten enthalten, ζ. B. "Frankfurt am Main" oder "Johannes Paul II.". Auch das zweite von Frege angeführte Beispiel fuhrt nicht zu einer eigenständigen semantischen Sinnkomponente: Bei dem Ausdruck "Schnittpunkt der Geraden von a und b" handelt es sich um eine Kennzeichnung, die eine,

V I . Spezifikation des trialistischen Modells

145

allerdings ex negativo zu einer präzisen Objektbedeutung führende, Strukturreferenz enthält. Auch hier bestätigt sich die Beobachtung, daß die Strukturreferenz unabhängig von einer Objektreferenz bestehen kann 195 , wobei allerdings nur die Strukturreferenz ex negativo auf das Objekt verweist, die Objektreferenz aber nicht auf die Struktur. Bezeichnet wird ein Objekt somit schon allein durch die Objektreferenz oder eine möglichst eindeutige Strukturreferenz. Eine wissenschaftlichen Maßstäben genügende Kennzeichnung erfordert dagegen neben der Objektreferenz auch die möglichst vollständige Angabe aller Strukturreferenzen.

(4) Auf diese Art und Weise lassen sich auch Beispiele aufklären, die immer wieder in der Literatur als Belege für die Notwendigkeit der Annahme von Intensionen angeführt werden 196: Bei "Lebewesen mit Herz" und "Lebewesen mit Nieren" wird etwa behauptet, hier sei die Extension gleich, da alle Lebewesen mit Herz auch Nieren hätten, aber die Intension sei verschieden197. Es läßt sich aber feststellen, daß nicht einmal die empirisch-extensionale Grundprämisse stimmt, denn es gibt Menschen, die nach einer Nierenoperation mit Herz aber ohne Nieren leben. Aber selbst wenn man annähme, es seien bisher wirklich bei allen untersuchten Lebewesen im Falle des Vorhandenseins eines Herzens auch Nieren festgestellt worden, so liegt trotzdem in der Annahme einer gleichen Extension ein Irrtum: Durch die strukturreferentielle Kennzeichnung mögen zwar zwei gleiche empirische Klassen bezeichnet werden, aber die Bezugnahme erfolgt eben nicht nur rein direktreferentiell, sondern mit Bezugnahme auf eine Wirklichkeitsstruktur. Damit hängt die Wahrheitsbedingung der Bezugnahme nicht mehr nur von der Existenz der Klasse an sich ab, sondern auch von der Einbettung in die Strukturbezugnahmen, also der strukturrelationalen Situierung bezüglich anderer Klassen. Die salva-veritate-Ersetzbarkeit von referenzgleichen Ausdrücken ist somit prinzipiell nur bei rein direktreferentiell verwendeten Eigen- oder Klassennamen möglich. Und selbst hier ist Vorsicht geboten, wenn diese Namen, z. B.

1 QC Dies korrespondiert mit Freges Beobachtung, daß Ausdrucke Sinn haben können, aber keine Bedeutung (Referenz); vgl. Frege (1892a), S. 42 und Dummett (1973), p. 160. 1 9 6 Vgl. etwa Putnam (1975), p. 217, S. 24 und Tugendhat (1976), S. 195. 1 9 7

Stegmüller (1969), S. 95f.

10 ν. d. Pfordten

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

146

Künstlernamen, entweder nur in bestimmten Satzzusammenhängen auftauchen198 oder sich der Satz auch noch auf den Benennungsakt bezieht199.

(5) Der gewichtigste Einwand gegen die hier vertretene Konzeption ergibt sich allerdings aus einem weiteren Argument für die Annahme einer semantischen Sinnkomponente, das sowohl von Frege 200 als auch in der Literatur allenthalben angeführt wird 201 : Es wird darauf verwiesen, daß es Eigennamen gibt, wie "Odysseus", "Atlantis" oder Kennzeichnungen wie "der gegenwärtige König von Frankreich", die zwar einen Sinn haben, aber keine Bedeutung, weil kein Referenzobjekt bestehe. Diese Annahme hat ihre geistesgeschichtlichen Wurzeln einmal in der sog. Verifikationstheorie der Bedeutung, die nur empirisch verifizierbare oder tautologische Sätze (also solche der Logik und Mathematik) als wahr ansah und zum anderen - wie schon ausgeführt - im Axiom der Existenz. Aber beim letzten Beispiel wird gerade nicht direkt auf eine bestimmte Person verwiesen, sondern nur indirekt über ihre Kennzeichnung. Eine solche Referenz ist jedoch nicht erst dann bedeutungsvoll, wenn die Person existiert, sondern es genügt, daß die einzelnen Elemente und ihre Verknüpfimg bedeutungsvoll sind: "Frankreich" verweist auf ein bestehendes Land. Die Bestimmung "König" bezieht sich - zuerst einmal ohne zeitliche Einschränkung - auf die Klasse der Könige. Diese Verweisung bleibt auch bedeutungsvoll, wenn sie auf die Klasse der "gegenwärtigen Könige" beschränkt wird. Erst wenn wir alle drei Kennzeichnungen "König", "gegenwärtig" und "Frankreich" zusammennehmen, ist die Schnittmenge leer. Dann ist diese Strukturreferenz nicht wahr 202 , da die Stelle in unserem Weltsystem, auf die sie verweist, nicht be1QO 1

In

"Heino gab

ein Konzert"

kann

"Heino"

nicht durch

das

extensionsgleiche

"berühmtester blonder Schnulzensänger" ersetzt werden, weil der Künstler nur unter seinem Künstlernamen Konzerte gibt. 1 9 9 In "Nach der Taufe der Titanic ging sie auf Jungfernfahrt" könnte "Titanic" nicht durch einen extensionsgleichen Ausdruck ersetzt werden. 2 0 0

Frege (1892a), S. 42.

2 0 1

v. Kutschera (1971), S. 45.

202 Seit Aristoteles (1925), Perì Hermenias, 16al, S. 1 und bestärkt durch die Aussagenlogik bei Frege und Wittgenstein besteht das Dogma, nur Sätze als wahr anzusehen, nicht aber bloße Worte oder Wortverknüpfiingen. Aber wenn man Kennzeichnungen ohne weiteres in Prädikationen überfuhren kann ("Der gegenwärtige König von Frankreich" - "Frankreich hat gegenwärtig einen König"), wie v. Kutschera (1971), S. 49f mit Recht betont, ist es nicht einzusehen, warum

V I . Spezifikation des trialistischen Modells

147

setzt ist. Wenn aber alle Teilkennzeichnungen an sich bedeutungsvoll sind, so kann man nicht von einer vollständig bedeutungslosen Kennzeichnung sprechen. Anders ist es ζ. B., wenn die Kennzeichnung "Der gegenwärtige Giki von Frankreich" heißt, weil dann "Giki" keine Klasse denotiert. Was man in dem Ausdruck "der gegenwärtige König von Frankreich" als "Sinn" auszumachen glaubt, ist also nichts anderes, als daß lauter strukturreferentiell-bedeutungsvolle Teilkennzeichnungen vorliegen. Beim Ausdruck "Odysseus" liegt der Sachverhalt etwas anders, weil es sich hier nicht um eine strukturreferentielle Kennzeichnung, sondern um einen direktreferentiellen Namen handelt: Allerdings besteht kein Grund, nur eine Direktreferenz auf physisch existierende Personen zuzulassen. Sowohl auf gestorbene Personen, als auch auf fiktionale oder bloß in gemeinsamer Vorstellung bestehende kann verwiesen werden. Bühler hat letzteres als sog. "Deixis am Phantasma" bezeichnet203. Auch nach Searle kann man sich gerade deswegen auf erdichtete Gestalten beziehen, "weil sie in der Dichtung existieren"204. Etwas anders ist die Situation bei direktreferentiellen Eigennamen, wie "Atlantis", bei denen man (bisher) über die tatsächliche Existenz der Gegebenheit nicht entscheiden konnte. In einem solchen Fall weiß man nicht, ob die Einführung des Namens eine echte Taufe bzw. Benennung oder nur eine Fiktion war. Anders als bei bekanntermaßen fiktionalen Gestalten wäre es hier künstlich, einen Verweis auf diefiktionale Erwähnung anzunehmen. Der Eigenname wird vielmehr unabhängig von der Existenz des Objekts durch seine konventionelle Verknüpfung mit einer strukturreferentiell-bedeutungsvollen Kennzeichnung bedeutungsvoll. An diesem Beispiel zeigt sich die Überlegenheit dieser Konzeption gegenüber derjenigen, die im Axiom der Existenz verhaftet bleibt. Man muß nicht annehmen, daß der Name "Atlantis" wirklich die Existenz impliziert, denn der Name wird durch Verknüpfung mit der strukturreferentiellen Kennzeichnung "antiker Name einer sagenhaften Insel, nach Piaton 'außerhalb der Meerenge' gelegen"205 bedeutungsvoll. Damit ist ausgemacht, welchen Platz Atlantis in

man nur den prädikativen Satz, nicht aber die entsprechende Kennzeichnung als "wahr" bezeichnen soll. 2 0 3

Bühler (1934), Sprachtheorie, S. 121flf.

2 0 4

Searle (1969), p. 78, S. 123.

2 0 5

Dtv Brockhaus-Lexikon Bd. 1, S. 315.

148

C. Der Trialismus als Bedeutungserklng

der Welt einnehmen soll und auf diese festgelegte "Koordinate" wird dann mit dem Namen "Atlantis" direktreferentiell verwiesen. Auf diese Weise läßt sich auch ein Paradoxon lösen, das mit dem Axiom der Existenz zwangsläufig auftaucht: Wenn man ζ. B. bei "Atlantis existiert nicht" vom Axiom der Existenz ausgehend annimmt, das erste Wort des Satzes werde verwendet, um auf etwas Existierendes zu verweisen, so hebt sich diese Aussage selbst auf. Wie Searle zutreffend feststellt 206, muß diese Aussage falsch sein, um sie überhaupt machen zu können. Im Rahmen des Alltagssprachgebrauchs ergibt sich dagegen im Gegenteil der Eindruck, daß hier die Aussage einerseits wahr ist und der Gebrauch des Eigennamens "Atlantis" andererseits in gleicher Weise wie in "Atlantis liegt hinter Gibraltar" erfolgt. Russeis Lösung des Paradoxons207 erfolgte durch die Annahme, das grammatische Subjekt eines Existenzsatzes werde nicht zum Verweisen verwendet. Aber dieses Ergebnis läuft offenbar der soeben angeführten alltagssprachlichen Verwendung zuwider. Man muß vielmehr mit unseren bisherigen Überlegungen davon ausgehen, daß auch in solchen Existenzsätzen Eigennamen (eventuell im Rahmen einer Verknüpfung mit einer Kennzeichnung) direktreferentiell auf eine Strukturstelle Bezug nehmen. Der Existenzsatz drückt dann nichts anderes aus, als daß diese Strukturstelle besetzt ist oder nicht.

(6) Sowohl die direktreferentielle als auch die strukturreferentielle Bezugnahme läßt sich weiter differenzieren: Im Rahmen der Direktreferenz kann man eine weiter gestreute oder eine konzentriertere Referenz unterscheiden, wie bei einem mehr oder weniger gebündelten Lichtstrahl. Völlig falsch wäre es, eine direktreferentielle Bezugnahme nur auf atomare Gegebenheiten anzunehmen. Der Name "Frankreich" verweist z. B. auf eine vielgestaltige und vielgegliederte Gegebenheit, auf deren Teilgegebenheiten wiederum direktreferentiell verwiesen werden kann. Im Rahmen des Strukturbezugs lassen sich unterschiedlichste Formen unterscheiden und zwar je nach einer weiteren strukturellen Bestimmung: räumlicher Strukturbezug ("Otto steht neben der Tür"), zeitlicher Strukturbezug ("Mitternacht ist um 24 Uhr"), reihenstruktureller Strukturbezug ("5 kommt

2 0 6

Searle (1969), p. 78, S. 122.

2 0 7

Rüssel (1924), Logical Atomism, S. 30. Vgl. dazu: Searle (1969), p. 78, S. 122.

VI. Spezifikation des trialistischen Modells

149

nach 4") und unzahlige inhaltliche Strukturbezugnahmen ("Das Haus hat eine Jugendstilfassade").

(7) Insgesamt macht somit die Unterscheidung von direkt- und strukturreferentiellem Bezug die Annahme eines "Sinns" oder von "Intensionen" entbehrlich.

bb) Andere Intensionalisten

Auch andere Argumente als die ursprünglichen Freges können nicht überzeugen, sofern man "Intension" einerseits unabhängig vom individuellen Meinen und andererseits nicht als strukturreferentiellen Bezug versteht.

(1) So schaffen moderne Intensionsdefinitionen, die sich an die Überlegungen Carnaps anschließen, kaum Klarheit 208: - "Zwei Ausdrücke haben dieselbe Intension genau dann, wenn sie in jeder möglichen Welt dieselbe Extension haben. " - "Die Intension eines Ausdrucks ist jene Funktion, die jeder möglichen Welt die Extension von A in dieser Welt zuordnet. "

Dem liegt der Gedanke zugrunde, daß ich, "wenn ich den Sinn eines Eigennamens kenne", unter beliebigen Umständen feststellen kann, welches Objekt er bezeichnet209. Dies basiert aber auf der falschen Vorstellung, es gäbe keine feststehende Gegebenheit und die Welt ließe sich als solche ändern oder dies wäre auch nur vorstellbar oder sprachlich auszudrücken. Aber wie wir festgestellt haben, hängt ja jede direktreferentielle Bezugnahme mit strukturreferentiellen zusammen genauso wie diese untereinander. Sobald man irgendetwas im Gesamtsystem ändert, wandeln sich alle strukturreferentiellen Kenn-

2 0 8

v. Kutschera (1976), S. 24.

2 0 9

v. Kutschera (1976), S. 23.

150

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

Zeichnungen. Bildlich gesprochen: Verschiebt man in einem cartesischen Koordinatensystem die Ordinate in ihrem Winkel zur Abszisse nur um 1 Grad, so ändern sich alle Koordinatenpunkte. Man kann nicht quasi eine Strukturebene vollkommen konstant halten, die dann in allen möglichen Welten den Strukturpunkt bestimmt, der bezeichnet werden soll, während sich eine oder alle anderen ändern: Denn alle Strukturebenen sind selbst nur als Relationspunkte anderer Ebenen bestimmt. Man könnte einwenden, es sei falsch, die Intensionen mit strukturreferentiellen Bezugnahmen in Verbindung zu bringen. Blickt man dann aber auf die direktreferentielle Bezugnahme, so zeigt sich die andere Seite der Medaille: Während jede strukturreferentielle Veränderung prinzipiell von anderen abhängig ist und auf andere einwirkt, kann bei direktreferentieller Verwendung eines Ausdrucks ohne Probleme eine synonymes Wort definiert werden. Aber diese Synonymiebeziehung sagt dann nichts über das Wissen um den gleichen direktreferentiellen Gegebenheitsbezug hinaus: es ist prinzipiell gleichgültig, ob es sich um alle möglichen oder die wirkliche Welt handelt, denn auch unter Bezugnahme auf mögliche Welten wissen wir nicht mehr als in der wirklichen Welt: nämlich daß das Wort direktreferentiell auf eine Gegebenheit Bezug nimmt. Hierin liegt der Grund, warum moderne Theoretiker - anders als Frege - verschiedentlich bei ostensiven Eigennamen eine Intension ablehnen210.

(2) Als praktisches Argument wird angeführt, daß die intensionale Semantik ihre Nützlichkeit mittlerweile erwiesen habe: "Mit Hilfe der intensionalen Semantik wurde die Modallogik auf eine neue Basis gestellt, es wurden Systeme der normativen, der epistemischen Logik, der Zeitlogik, der Konditionallogik entwickelt..."211 Es sei nunmehr eine logische Analyse natürlicher Sprachen möglich212. Die intensionale Semantik stehe der extensionalen Semantik nicht an Präzision nach213. Im Rahmen dieser Untersuchung können solche Argumente nicht geprüft, geschweige denn verifiziert oder falsifiziert werden. Aber es wäre zu fragen, ob die intensionalen Systeme bei Zuhilfenahme der Unterscheidung von direkt2 1 0

Kripke (1972), S. 84 und passim. Vgl. ν. Kutschera (1971), S. 72.

2 1 1

v. Kutschera (1976), S. Χ .

2 1 2

Ebenda.

2 1 3

v. Kutschera (1971), S. 103.

VI. Spezifikation des trialistischen Modells

151

und strukturreferentiellem Bezug nicht auch extensional interpretierbar wären. Es ist ζ. B. nicht einzusehen, warum man Modalsätze nicht als Ausdruck propositionaler Einstellungen ansehen und diese extensional analysieren soll.

d) Meinen und Verstehen

Nach der These des trialistischen Modells muß die durch Sender, Empfänger und Gegebenheiten konstituierte kommunikative Basissituation bei der Bedeutungsbestimmung einer Äußerung berücksichtigt werden. Somit beschränkt sich die Frage nach dem "Meinen" nicht auf die Untersuchung einer kognitiven Fähigkeit214, sondern verweist auf den Prozeß, der bei Sender und Empfänger im Rahmen der kommunikativen Interaktion abläuft. Gegen die traditionelle Vorstellung eines den Sprachzeichen im Regelfall korrespondierenden Gedankenbildes sind von den Opponenten der referentiellen Semantik Bedenken erhoben worden. Außer der empirisch feststellbaren Handlung der Spracherzeugung (Bewegung des Kehlkopfes etc.) fände kein korrespondierender "mentaler" Vorgang statt oder - gemäßigter - dieser lasse sich zumindest nicht feststellen, so etwa beim späten Wittgenstein: "Wenn ich in der Sprache denke, so schweben mir nicht neben dem sprachlichen Ausdruck noch 'Bedeutungen' vor: sondern die Sprache selbst ist das Vehikel des Denkens."215... "Wenn ich sage 'Ich meinte ihn', da mag mir wohl ein Bild vorschweben, etwa davon, wie ich ihn ansah, etc.; aber das Bild ist nur wie eine Illustration zu einer Geschichte. Aus ihr allein wäre meistens gar nichts zu erschließen; erst wenn man die Geschichte kennt, weiß man, was es mit dem Bild soll." 216 Wittgenstein schließt "Denken" und "Meinen" nicht völlig aus, sondern betont nur ihre sprachliche Verfaßtheit und die Notwendigkeit einer sprachlichen Bestimmung217.

2 1 4

Zu so einer Bestimmung: Tugendhat (1976), S. 27. Anders S. 271f.

2 1 5

Wittgenstein (1953), PU § 329.

2 1 6

Wittgenstein (1953), PU § 663; vgl. auch PU § 678, § 661.

2 1 7

Bei Davidson, dem Meisterschüler Quines, findet sich in manchen Passagen eine Abwendung vom Verständnis der Vorgänge bei Sender und Empfänger als bloß feststellbarer Zeichen-

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

152

In ihrer Abwehr bloß spekulativer mentalistischer Annahmen hat die positivistische Skepsis durchaus ihre Berechtigung. Die häufige und meistens auch problemlose Verwendung von Worten wie "Meinen" oder "Verstehen" im Alltagssprachgebrauch verlangt allerdings nach einer Erklärung. Diese könnte sich unter Zuhilfenahme von Russeis Interpretation von "Ockhams Rasiermesser" 218 ergeben: "Ersetze Schlüsse auf unbekannte Entitäten durch Konstruktionen aus bekannten Entitäten, wo immer es möglich ist." Einige Beispiele sollen die Erklärung verdeutlichen:

(1) A:"Am Marienplatz ist jetzt eine Bank" B: "Interessant, ich werde mal hinschauen. " A:"Sie hat ab 8.30 Uhr geöffnet." B:"Ach so, du meintest keine Parkbank, sondern eine Geschäftsbank."

(2) A:"Am Marienplatz ist jetzt eine Bank." B:"Was meinst Du damit? Eine Parkbank oder eine Geschäftsbank."

(3) A:"Ich bestelle ein Dutzend Säcke, also 100 Stück." Β :"Was meinst Du mit 'einem Dutzend'?"

Das "Meinen" taucht regelmäßig nur im Rahmen des Verstehens bzw. Nichtverstehens einer Äußerung durch einen anderen als Problem auf. Auch wenn der Sprecher von sich aus an eine Äußerung mit "Ich meine damit..." anschließt, antizipiert er im Regelfall, daß der Hörer die Äußerung nicht vollständig erfaßt hat und noch eine Spezifikation nötig ist. Die Beispiele zeigen, daß es zwei Fälle des Nichtverstehens gibt, in denen das "Meinen" relevant wird. Einmal den Fall eines Widerspruchs zwischen zwei Äußerungen (Bsp. 1 erzeugung, ζ. B.: (1984), p. 186 "It is clear that speech regimes a multitude of finally discriminated intentions and beliefs." Fur Tugendhat ist das Meinen nicht nur unselbständiger Teil eines propositionalen Bewußtseins, sondern beruht seinerseits auf einem eigenen propositionalen Bewußtsein, dem Fürwahrhalten eines Existenzsatzes ((1976), S. 102). 2 1 8

Vgl. Rüssel (1924), S. 27.

V I . Spezifikation des trialistischen Modells

153

und 3) und den der mangelnden Spezifikation (Bsp. 2), wobei die Kombination beider Fälle dergestalt möglich ist, daß die Unbestimmtheit zu einem falschen Verständnis beim Hörer fuhrt und somit ein Widerspruch erst in Folge dieser Auslegung durch den Hörer entsteht (Bsp. 3). Wichtig ist aber: Nur der Hörer kann feststellen, daß der Sprecher zwar etwas behauptet hat, es aber nicht so meinen kann, nicht aber der Sprecher selbst219.

Damit liegen der Kommunikation zwischen Sprecher und Hörer zwei basale Annahmen zu Grunde: (1) Die Äußerung eines Sprechers kann widersprüchlich sein, sein Meinen ist es aber nicht {Annahme der Widerspruchsfreiheit). (2) Die Äußerung des Sprechers kann unbestimmt sein, aber sein Meinen muß so bestimmt sein, wie es sich in einem solchen Fall normalerweise ergibt: Wenn jemand von "Bänken" redet, weiß er, ob es sich um eine Parkbank oder eine Geschäftsbank handelt, denn es gibt kein tertium comparationis (Annahme der situations- und äußerungsgemäßen Kenntniss Hier finden sich Putnams Stereotype wieder. In beiden Fällen ergibt sich also ein Hinweis auf eine Diskrepanz zwischen "Meinen" und der Äußerung aus einem Rückschluß des Hörers aus der manifesten Äußerung des Sprechers. Die Feststellung dieser Diskrepanz setzt die beiden soeben angeführten Annahmen voraus220. Da allerdings diese Diskrepanz nur durch sprachliche Äußerung des Sprechers erkannt wurde und auch nur durch weitere Äußerungen aufgeklärt werden kann und nicht durch mentale Introspektion, bleibt ein direkter Zugriff auf das "Meinen" ausgeschlossen. Dies ist jedoch kein Grund, jede Bestimmung und Untersuchung des Meinens zu verwerfen, denn es bleibt immer noch der Weg indirekter Bestimmung. Eine solche indirekte Bestimmung einer Gegebenheit aufgrund bestimmter Wirkungen ist auch in anderen Wissenschaften an der Tagesordnung. Die Kernfusion in der Sonne läßt sich vom Physiker ebenfalls nur aufgrund der abgegebenen Strahlung bestimmen. Trotzdem zweifelt keiner an ihrer Existenz. In gleicher Weise rechtfertigt es die indirekt stattfindende Bestimmung aufgrund sprachlicher Äußerungen, beim Sprecher und Hörer einen Vorgang des "Meinens" und "Verstehens" anzunehmen, der im Einzelfall nicht mit dem

2 1 9

Tugendhat (1976), S. 273.

2 2 0

Dem Juristen ist die Feststellung einer solchen Diskrepanz im Rahmen von Inhalts-, Er-

klärung s- und Eigenschaftsirrtum bei einer Willenserklärung gemäß § 119 BGB vertraut.

154

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

empirisch ohne weiteres feststellbaren Vorgang der Zeichenhervorbringung bzw. -rezeption zusammenfallt. Wichtig ist hierbei die Feststellung der Diskrepanz "im Einzelfair. Nur im Rahmen der konkreten Äußerung wird die Diskrepanz bedeutungsbestimmend. Der oft geäußerte Einwand, das Denken bzw. Meinen sei ebenfalls "sprachlich verfaßt" bzw. "sprachlich strukturiert" kann diese feststellbare Diskrepanz im Einzelfall nicht erklären. Es handelt sich um eine Spekulation, die weder verifiziert noch falsifiziert werden kann 221 . Die denkbare sprachliche Verfaßtheit ändert aber fur die einzelne Äußerung nichts an dieser durch Rückschluß aus der sprachlichen Äußerung feststellbaren Diskrepanz, die es rechtfertigt, zwischen sprachlicher Äußerung und dem Meinen bzw. Verstehen zu unterscheiden. Man hat sich die sprachlichen Äußerungen wie zwei Geraden vorzustellen, die eigentlich parallel laufen sollten. Tun sie es, kann man darauf schließen, daß sie es auch jenseits des Zeichenblatts tun. Ansonsten muß man annehmen, daß sie sich dort an einem bestimmten Punkt schneiden. Meinen und Verstehen sind somit im Wege eines Rückschlusses aus anderen sprachlichen Äußerungen auch für die Bedeutungsbestimmung einer Äußerung im Einzelfall relevant.

e) Bedeutung und Verifikation

Der Verifikationstheorie der Bedeutung liegt insofern eine zutreffende Überlegung zur Funktion der Sprache zugrunde, als sie von einer Beziehung zwischen Zeichen und Gegebenheiten ausgeht. Aber sie kann den Bedeutungsbegriff nicht erschöpfen 222: Gerade aufgrund der von Schlick vertretenen realistischen Grundannahme der Unabhängigkeit der Welt von unserer Erkenntnis223, können beim Spre-

2 2 1

Mit zunehmender sprachlicher Kompetenz und zunehmenden Lebensalter des Sprechers

wächst die Fähigkeit, auch etwas auszudrücken, was noch nicht so sprachlich formuliert ist, also "kreativ" zu kommunizieren. 222 Yg|

m

e i n e r

Kritik

auc

h : Lampe (1970), Juristische Semantik, S. 42ff; Koch/Rüßmann

(1982), S. 142. 2 2 3

Schlick (1936), S. 287f, 297.

VI. Spezifikation des trialistischen Modells

155

eher und Hörer unterschiedliche Erfahrungen und damit divergierende Verifikationsmöglichkeiten zur selben Bedeutung eines Satzes fuhren. So wie der Direktbezug durch die verschiedensten Strukturbezüge quasi überdeterminiert wird und es nichts ausmacht, wenn nicht alle Strukturbezüge jedem bekannt sind, so können auch differierende Verifikationsmöglichkeiten bestehen. Ein Beispiel: Sagt etwa A zu Β "Dieses Haus ist rot", so genügt die Angabe der Methode "Geh hin und schau, welche Farbe es hat! " zur Verifikation nicht. Man muß vielmehr Gegenstande mit ähnlicher Farbe als Vergleichsobjekte heranziehen. Nun ist aber denkbar, daß A und Β "rot" unter Bezugnahme auf verschiedene Gegenstände verifizieren würden, so daß sich unterschiedliche Methoden der Verifikation ergäben. Trotzdem können beide den Satz bejahen, wenn die Farbe des Hauses ζ. B. jeweils einen Grenzfall darstellt. Oder ein anderes Beispiel: Die Lufttemperatur läßt sich ζ. B. mit Hilfe des Aggregatszustands bzw. der Ausdehnung verschiedenster Stoffe bestimmen. Man gelangt hier in eine ähnliche Situation, wie bei dem Versuch, die direktreferentielle Bedeutung durch strukturreferentielle Kennzeichnungen ersetzen zu wollen. Die Wirklichkeitsmomente der möglichen Verifikationen einer Tatsache können zwar die Tatsache bezüglich bestimmter Einzelstrukturen fixieren, aber der Satz, der auf diese Tatsache verweist, kann nicht durch einzelne Verifikationen erschöpfend bestimmt werden. Die Verifikationstheorie der Bedeutung sagt also insofern etwas Richtiges und Wichtiges aus, als es nötig ist, die direktreferentielle Beziehung durch die Angabe von kennzeichnenden Verifikationsmöglichkeiten zu stützen. Sie kann den Bedeutungsbegriff aber nicht stärker verdeutlichen, als dies schon durch das trialistische Modell, die pragmatische Einbettung und die Unterscheidung von Struktur- und Direktbezug geschehen ist.

4. Strukturelle

Bestimmung

a) Man kann kaum bestreiten, daß es je nach Verwendungskonvention selbständig-informationshaltigere und weniger selbständig-informationshaltige Sprachzeichen gibt. Pronomina wie "er" oder Junktionen wie "oder" sind Bei-

156

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

spiele fur letztere. Sie können in den divergierendsten Verbindungen auftauchen und auf die verschiedensten Worte verweisen. Am selbständigsten informationshaltig sind dagegen Worte, die neben direktreferentiell eindeutiger Bezugnahme auch eine ebenfalls möglichst eindeutige und präzise strukturreferentielle Kennzeichnung enthalten: Freges " Abendstern " ist hierfür ein Beispiel. Aufgrund des zusätzlichen strukturreferentiellen Elements ist anders als beim rein direktreferentiellen "Venus" (mit seiner weiteren virtuellen Bezugnahme auf die Göttin) keine Homonymie möglich. Anders als vielfach angenommen kann man aber keine wirklich strenge Dichotomie zwischen kategorematischen und synkategorematischen Worten postulieren, sondern es besteht ein kontinuierlicher Bereich, der zwischen den soeben geschilderten Extrempolen die unterschiedlichsten Gradabstufungen zuläßt. Wie bei der Bedeutungsbestimmung im Rahmen der Situationsschalen der Pragmatik ist auch hier trotz relativer Selbständigkeit oft durch die Einbeziehimg weiterer struktureller Zeichenebenen noch eine Bedeutungspräzisierung möglich. Die gleichen Beobachtungen gelten nicht nur fur Worte, sondern gleichermaßen fur Sätze, Satzverbindungen oder einen ganzen Text. Auch hier gibt es Beispiele fur selbständig kaum verständliche Sätze, wie "Er tat dies. " und fur verständliche Sätze, wie "Am 10. 9. 1989 um 15.30 Uhr regnete es im Stadtgebiet von München. " Gerade bei Rechtsnormen kann erst eine textuelle oder wenigstens kontextuelle Bestimmung über ihren normativen Status Aufschluß geben. Es ist von entscheidender Bedeutung für sein Verständnis, ob man den Satz "Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates" in einem politologischen oder soziologischen Lehrbuch als empirische Beobachtung oder als Art. 7 I im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland findet.

b) Die in der neueren Sprachphilosophie sehr stark propagierte molekularistische Variante der strukturalistischen Theorie (z. B. bei Frege, dem frühen Wittgenstein, Tugendhat usw.; vgl. oben Β. IV. 4.) versucht ihr Axiom des Primats oder sogar der Ausschließlichkeit der Satzbedeutung auf fünf Beobachtungen zu stützen. Diese Beobachtungen treffen zwar alle zu, können aber die molekularistische Position nicht begründen:

VI. Spezifikation des trialistischen Modells

157

aa) Es gibt Wortverknüpfungen v. a. idiomatischer bzw. metaphorischer Art, in denen die einzelnen Worte keinerlei selbständige Funktion erkennen lassen, wie ζ. B. "in der Tat" oder "sein Licht unter den Scheffel stellen". Aber zum einen lassen sich diese Wortverknüpfungen dann regelmäßig auch durch einzelne Worte innerhalb des Satzes ersetzen, wie bei unseren Beispielen durch "tatsächlich" oder "bescheiden sein". Weiterhin läßt sich eine solche Beobachtung eben nur bei einzelnen Wortverknüpfiingen machen, und eine genauere etymologische Untersuchung offenbart, daß die einzelnen Worte früher sehr wohl selbständige Bedeutung hatten. Schließlich kann hierdurch die molekularistische These überhaupt nicht gestützt werden, weil solche idiomatischen Verknüpfungen sehr oft gar keine Sätze sind, sondern nur Satzteile.

bb) Mit der zunehmenden Größe der Struktureinheiten erhöht sich die Wahrscheinlichkeit der semantischen Selbständigkeit. Dies hängt mit dem schon weiter oben konstatierten Zusammenhang zwischen Differenzierungsfähigkeit und Informationshaltigkeit zusammen: Je größere Differenzierungsmöglichkeiten bestehen, desto größer ist tendenziell die Informationshaltigkeit und damit auch die Wahrscheinlichkeit relativer semantischer Selbständigkeit. Im Rahmen von Wortverknüpfungen kommt durch die Grammatik eine zusätzliche potentiell informationshaltige Differenzierungsmöglichkeit hinzu. So zeigt ζ. B. die Inversion im Deutschen eine Nebensatzkonstruktion oder eine Frage an. Hinzu kommt, daß sich parasprachlich und pragmatisch bedeutungsbestimmende Elemente regelmäßig auf die Gesamtäußerung beziehen und nicht nur auf Teile. Damit ergeben sich auf der Satzebene noch zusätzliche Differenzierungsmöglichkeiten. Die Satzebene bietet insgesamt also gegenüber der Wortebene eine Steigerung an potentieller Informationshaltigkeit. Das berechtigt aber nicht zur molekularistischen Annahme, daß nur die Sätze Bedeutung haben bzw. daß die Wortbedeutung nur von der des Gesamtsatzes abhängt.

cc) Der Annahme, daß nur (assertorische) Sätze wahr oder falsch sein können, und der mit Frege anhebenden Betonung der Aussagenlogik liegt die richtige Beobachtung zugrunde, daß in der Regel Sätze als Verknüpfungen von Worten geäußert werden (von Einwortsätzen abgesehen), um Informationen weiterzugeben. Dies hat seine Ursache darin, daß Information, die über die selbständig vollzogene sinnliche Wahrnehmung des Hörers hinausgeht, immer

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

158

die erst durch Wortverknüpfungen ermöglichte Verknüpfung von Bekanntem und Unbekanntem erfordert. Die einzelnen Worte sind dabei in der Regel bekannt, die Verknüpfung unbekannt. Den Satz "Auf dem Dach ist ein Kamin" kann man nur verstehen, wenn man die Worte "Dach* und "Kamin" kennt224. Es ist also richtig, daß regelmäßig erst durch Wortverknüpfungen etwas Neues225 mitgeteilt wird. Aber man kann die strukturreferentielle Kennzeichnung verstehen, ohne zu wissen, ob die gekennzeichnete Stelle in der Welt wirklich besetzt ist oder nicht. Die Tatsache, daß in der Regel nur Wortverknüpfungen informationshaltig sind, schließt nicht aus, daß der rekursive Aufbau eines Satzes bzw. einer Satzbedeutung aus Einzelelementen zumindest eine zentrale Rolle für die Gesamtbedeutung des Satzes spielt.

So liegt der Unterschied zwischen der Kennzeichnung "der glatzköpfige König von Frankreich" und dem Satz "Der König von Frankreich ist glatzköpfig" nicht in der Informationshaltigkeit und Wahrheitsfahigkeit, sondern nur darin, daß im zweiten Fall die Wortstellung und die Subjekt-Prädikatkonstruktion mit "ist" anzeigt, daß hier eine neue Information vermittelt wird. Bei der bloßen Kennzeichnung soll dagegen durch diese selbst noch keine Information gegeben werden. Man könnte diese falsche Annahme, daß der Satz als informationsgesättigte Spracheinheit gleichzeitig auch die elementare Bedeutungseinheit ist, als den molekularistisch-strukturalistischen Fehlschluß b zeichnen. Man kann zwar nur mit einem Satz etwas zu verstehen geben226, aber das heißt noch lange nicht, daß nur der Satz als Gesamtstruktur funktionsbestimmend ist. Das wäre, wie wenn man die Funktionsweise eines Motors als Teil eines Autos nur aus der Gesamtfunktion des Fortbewegung erklären wollte.

dd) Ein wesentliches Argument für die molekularistische Position glauben ihre Vertreter in der Fähigkeit zur Erklärung der Subjekt-Prädikat-Struktur von Sätzen zu erblicken. Da man in der Prädikation keinen Gegenstandsbezug

2 2 4

Snell (1952), S. 68, 70 versucht dies durch die Unterscheidung zwischen dem vorgängi-

gen "Ins-Bild-Setzen" des Hörers und der darauf aufbauenden "Mitteilung" auszudrücken. 2 2 5

D . h . etwas, was nach Ansicht des Senders beim Empfanger im Moment nicht gedanklich

präsent ist. 2 2 6

Vgl. Tugendhat (1976), S. 142.

VI. Spezifikation des trialistischen Modells

159

annehmen könne, dürfe man den prädikativen Satz nicht als Abbild der Synthese von Attribut und Gegenstand verstehen, sondern es käme nur umgekehrt der prädikative Satz infrage, um diese Grundrelation zu begreifen 227. Aber es bleibt zweifelhaft, wie die bloß abstrakte Subjekt-Prädikat-Struktur wirklich bedeutungsbestimmend sein kann. In den Sätzen "Das Haus ist rot * und "Das Haus ist blau " erfahren wir über die wirkliche Farbe des Hauses aus der abstrakten prädikativen Struktur gar nichts, wenn wir nicht wissen, welche Objekte als "rot* oder "blau" bestimmt werden. Im übrigen kann und muß man einen bezugnehmenden Charakter solcher Prädikate annehmen, ohne von einer Zusammensetzung auszugehen. Das Prädikat verweist auf ein Element der Klasse der roten bzw. blauen Dinge. Das Haus wird durch den Satz als solches Element ausgewiesen, also strukturreferentiell gekennzeichnet. Die Beobachtung, daß die Subjekt-Prädikat-Struktur nur auf der Satzebene auftaucht, kann somit nicht zu der Schlußfolgerung fuhren, daß die Funktion des jeweiligen Prädikats vollständig vom Satzganzen her bestimmbar ist.

ee) Ins Feld geführt wird schließlich fur die molekularistische Position, daß sich der Modus der Behauptung, der Frage, des Befehls usw. nur im Rahmen von Sätzen zeige228. Dies ist wohl das ernstzunehmendste Argument. Aber aus zwei Gründen kann es nicht überzeugen: Zum einen gibt es einzelne Worte, die schon unabhängig vom Gesamtsatz den Modus zumindest vorbestimmen, ζ. B. "fragen", "müssen" etc. Das heißt nicht, daß hier nicht im Gesamtsatz eine Präzisierung oder Änderung erfolgen könnte. Es gibt sogar, wie wir schon sahen, Sätze, deren Modus durch den Äußerungskontext noch umgestaltet wird: ζ. B. Sätze, die wie Aussagesätze mit "ist" aufgebaut sind, aber als Normen aufgefaßt werden müssen. Obwohl sich der Sprechaktmodus des Gesamtsatzes somit regelmäßig erst im Rahmen der Satzebene vollständig ausgeprägt zeigt, ist er doch sowohl von den einzelnen Worten, als auch von Kontext und Äußerungssituation abhängig. Wichtig ist aber v. a., daß der Modus einer Äußerung, wie wir oben bei der Kritik des pragmatischen Modells sahen, nur ein bedeutungsbestimmender Faktor ist. Es ist zwar wichtig zu wissen, ob mit einer Äußerung eine Frage gestellt oder ein Befehl gegeben wird, aber damit ist die Frage nach der Be2 2 7

Tugendhat (1976), S. 172, 246.

2 2 8

Tugendhat (1976), S. 136ff.

160

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

deutung nicht erschöpft. Der Modus ist nur ein Bedeutungselement unter mehreren und sein ausgeprägtes Hervortreten auf der Satzebene kann deshalb eine molekularistische Position nicht begründen.

c) Insgesamt läßt sich somit feststellen, daß weder eine dezidiert atomistische noch eine molekularistische oder höherrangig strukturalistische Position allein oder primär zu einer befriedigenden Bedeutungsbestimmung fuhren kann. Das Problem von Teil und Ganzem, von Partikular- und Gesamtfunktion läßt sich nicht durch Vereinseitigung lösen. Die Wörter und submolekularen Wortverknüpfungen haben bestimmte Grundbedeutungen, die einerseits die Bedeutung des Gesamtsatzes mitbestimmen, aber andererseits durch die Gesamtbedeutung modifiziert oder ganz in ihrer Ausgangsbedeutung konterkariert werden können229. Metapher und Ironie sind gute Beispiele fur letzteres. Man findet hier eine Wurzel dafür, warum im Rahmen der rechtswissenschaftlichen Methodik die Wortlautauslegung und die systematische Auslegung im Verhältnis zueinander nicht prinzipiell als vorrangig ausgewiesen werden können230. Hierzu wird noch Stellung zu nehmen sein.

Zum Neostrukturalismus mag eine Bemerkung genügen: Konstatieren läßt sich bei Derrida ein metaphysisch-semantischer Fehlschluß. Aus der plausiblen Ablehnung eines obersten metaphysischen Prinzips wird fälschlich auf das beliebige Spiel der Zeichen geschlossen. Aber die konventionale Verknüpfung zwischen Zeichen und Gegebenheiten als empirische Tatsache ist von einem metaphysischen Orientierungszentrum oder archimedischen Punkt unabhängig.

VII. Zusammenfassung Die Überlegungen zu einem allgemeinen Rahmen, der (fast) alle sprachlichen Äußerungen erfassen kann und von dem aus eine Untersuchung der praktischen Sprache möglich ist, lassen sich wie folgt zusammenfassen:

2 2 9

Ebenso v. Kutschera (1971), S. 220.

2 3 0

Das gilt fur alle Auslegungsgmndsatze; vgl. Alexy (1978), S. 303.

ΥΠ. Zusammenfassung

161

1. Ausgangspunkt jeder Frage nach der Bedeutung sprachlicher Äußerungen muß das trialistische Grundmodell der Bezogenheit der Zeichen auf Sender, Empfanger und Gegebenheiten sein.

2. Die unterschiedlichen Erklärungsversuche der einzelnen Bedeutungstheorien setzen von dieser Prämisse aus an zwei Punkten an: einmal bei der Frage, wie die Relation zwischen den Zeichen und diesen Polen bzw. den Polen untereinander zu bewerten ist, zum anderen, wie die einzelnen Pole des Dreiecks zu verstehen sind und welchen Einfluß dies auf die Bedeutungsbestimmung hat.

3. Die klassisch-referentielle Position übersieht, daß das Zeichen nicht lediglich Bild der subjektiven Vorstellung sein kann, sondern erst eine intersubjektiv durch Regeln stabilisierte, gegebenheitsbezogene Verwendung die Verständigung zwischen Sender und Empfänger ermöglicht. Überdies wird die pragmatische und strukturelle Einbindung der Zeichen verkannt. Die an Frege anschließende intensionalistische Theorie kommt zu einer verfehlten Trennung in Extensionen und Intensionen. Der Behaviorismus meint fälschlicherweise, das Verhältnis der kausalen Sinnesreizung zwischen Gegebenheiten und Sender bzw. Empfänger auch auf die Relation zum Zeichen übertragen zu können. Damit wird der sprechende Mensch irrtümlich zum bloßen Reaktionspunkt im kausalen Sprachereignis herabgestuft. Die pragmatische Position verabsolutiert - zumindest beim späten Wittgenstein - die Vielgestaltigkeit und den Einfluß der Äußerungssituation, ohne zu beachten, daß eine sprachliche Äußerung dann ihre auswählende und unterscheidende Funktion verliert und keine Information mehr vermitteln kann. Die Sprechakttheorie verkürzt den pragmatischen Aspekt ungerechtfertigt auf die Sprachhandlung. Die strukturalistisch-molekularistische Position zieht aus größtenteils zutreffenden Beobachtungen über die Besonderheiten der molekularen Struktureinheit "Satz" den verfehlten Schluß, daß nur der Satz als Ganzes bedeutungskonstitutiv sei.

11 V. d. Pfordten

162

C. Der Trialismus als Bedeutungserklärung

Die Überlegungen zu einer sozialen Funktionserklärung sprachlicher Zeichen sind als solche zutreffend, verweisen aber als notwendige Komponente menschlicher Interaktion in einer Gemeinschaft über die spezielle Funktion einzelner Äußerungen in der Regel hinaus.

4. Anders als die Vertreter dieser Modelle teilweise annehmen, läßt sich die Frage nach der Bedeutung sprachlicher Zeichen nicht monofunktional beantworten. Vielmehr enthalten die sprachlichen Zeichen eine nichtreduzierbare referentielle y eine pragmatische und eine strukturalistische Bedeutungsko ponente231. Oder im Rahmen des trialistischen Modells ausgedrückt: Das Zeichen wird auf einen bestimmten Dreieckspol hingeordnet, aber auch durch seine Situations- und Zeichenumgebung bestimmt. Dabei bildet die auf Konventionen beruhende Bezugnahme auf die Dreieckspole den Ausgangspunkt, weil sie in hohem Maße situations- und kontextunabhängig sein kann. Eine direkt- und eine strukturreferentielle Bezugnahme läßt sich als Grunddifferenzierung ausmachen, die an die Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit anknüpft. Jede Äußerung ist als Gegebenheit in verschiedene unterschiedlich nahe Situationsschalen eingebettet. Diese nehmen entsprechend der oben (C. VI. 2. c)) formulierten fünf Grundaxiome konventionell auf die Bedeutungsbestimmung Einfluß und können die referentielle Komponente nicht nur modifizieren, sondern sogar konterkarieren. Die verschiedenen Kontextstufen der Zeichen tragen zur Bedeutungsbestimmung einzelner Teileinheiten bei.

5. Um die Bedeutung einer Äußerung festzustellen, muß man also alle drei Bedeutungsaspekte als Bestandteile des trialistischen Grundrahmens aufzuklären versuchen. Dabei ergibt sich aber aus mehreren Gründen keine letztendliche, absolute Bedeutungsbestimmung, sondern es ist nur eine mehr oder weniger befriedigende Annäherung möglich:

Ml Ebenso prinzipell Habermas, aber mit anderen Schwerpunkten, wie wir sahen (1976), S. 211: "Diese vorläufigen Überlegungen sollen nur die Vermutung stützen, daß die Semantiktheorie nicht aussichtsreich als eine einheitliche Theorie entwickelt werden kann. Wenn sie aber heterogen zusammengesetzt ist,..."

ΥΠ. Zusammenfassung

163

Die referentielle Komponente müßte sämtliche strukturreferentiellen Kennzeichnungen enthalten. Sie kann damit potentiell unendlich erweitert werden. In der Praxis genügen allerdings gewisse Grundkennzeichnungen im Rahmen eines Stereotyps. Beim pragmatischen Aspekt wären sämtliche Situationsschalen und damit alle Gegebenheiten zu berücksichtigen. Im Rahmen der strukturalistischen Komponente müßten alle Einheiten der Gesamtäußerung enthalten sein. Beides ist praktisch ausgeschlossen.

6. Das Gewicht, das jede der drei Bedeutungskomponenten für eine Äußerung im Einzelfall einnimmt, kann nicht im voraus festgelegt oder bestimmt werden. Jeder Aspekt bestimmt im Rahmen jeder einzelnen Äußerung seine eigene Wertigkeit, wobei der referentielle aus den soeben geschilderten Gründen im Vorrang ist, aber durch die anderen Komponenten konterkariert werden kann.

D. Theorien der Metaethik und der Trialismus

I. Metaethik Gemäß dem bereits (Α. V.) definierten Begriff von Metaethik wird sich die folgende Darstellung und Kritik metaethischer Theorien strikt auf den sprachanalytischen Gesichtspunkt beschränken. Zuzustimmen ist jedoch Kutschera, wenn er eine Metaethik ohne normative Ethik für "gegenstandslos" hält1 und gegen eine strikte Trennung von Metaethik und Ethik votiert. Allerdings gilt dies nur dann, wenn die Metaethik an die Stelle der Ethik gesetzt werden soll und nicht fur eine wissenschaftlich-methodische Trennung der Untersuchungsgebiete.

II. Die Anfange Als zugespitzte Fragestellung und eigenständige Untersuchungsdisziplin setzte die Metaethik erst um die Wende zum 20. Jahrhundert ein. Allerdings hatten auch die Denker früherer Epochen eine bestimmte - mehr oder minder vage - Vorstellung von der Funktion der praktischen Sprache2:

1

v. Kutschera (1982), S. 42.

Eine eingehendere Untersuchung zu einer solchen "Geschichte der Metaethik" konnte nicht ausgemacht werden. Die einschlägigen Zusammenfassungen beschränken sich meistens nur auf die Darstellung der neueren Theorien. Kurze Untersuchungen zu Hume finden sich bei Stevenson (1944), p. 273, Foot (1963), Urmson (1968), p. 19f und Hoerster (1969), S. 12f, m. w. N. in F N 10.

Π. Die Anfange

165

1. Für Platon war nicht nur das höchste theoretische Wissen, sondern auch Ethik und Moral auf die Wahrheit der Ideen bzw. einer höchsten Idee bezogen. Diese höchste "Idee des Guten" sollte intuitiv - im Rahmen der Dialektik - erkannt werden3. Somit bestand keine Notwendigkeit, zwischen der Abbildfunktion von praktischer und theoretisch-deskriptiver Sprache zu unterscheiden. Man kann Piaton eine monistisch-deskriptive Theorie der Sprachfunktion zuschreiben.

2. Umgekehrt sah Gorgias, der fuhrende sophistische Rhetor, vom Standpunkt eines radikalen Relativismus und Skeptizismus aus jegliches Sprechen als von Wahrheit oder Norm abgelöst an4. Sprache diente nur dem Zweck der Beeinflussung und Propaganda. Man kann bei Gorgias eine monistisch-propagandistische Funktionstheorie der Sprache ausmachen, die er - in der Darstellung Piatons5 - auch und gerade auf das "Gerechte" und "Ungerechte" bezog.

3. Aristoteles wählte dagegen einen Kompromiß. Wie schon erwähnt (B. I.), verwies er in "Peri Hermenias" Überlegungen über andere als behauptende und damit wahrheitsfahige Sätze in die Rhetorik oder Poetik6 und begründete damit die ersten Ansätze fur einen Dualismus zwischen deskriptiver und praktischer Sprache, der sich - wie noch gezeigt wird - auch in modernen Positionen, etwa bei Stevenson und Hare, findet. In der "Poetik" setzt sich Aristoteles zwar außer mit den literarischen Gattungen auch mit der Sprache als solcher auseinander7, gibt aber entgegen seiner Ankündigung keine spezielle Erklärung fur die praktische Sprache. An einer Stelle, wo er auf den möglichen Unterschied zwischen äußerer imperativischer Form und der tatsächlichen Funktion des Ausdrucks als Weisung zu sprechen kommt (er bejaht ein entsprechendes Auseinanderfallen), begnügt er sich mit dem Hinweis, diese Fragen seien Gegenstand einer anderen Disziplin und nicht der Dichtkunst8. 3

Piaton (1988c), Politeia, 508, S. 264.

4

Vgl. Fuhrmann (1982), S. 164.

5

Piaton (1988d), Goigias, 454, S. 38.

6

Aristoteles (1925), Peri Hermenias, 17a, S. 4.

7

Aristoteles (1982), Poetik, S. 61-71.

8

Aristoteles (1982), 1456b, S. 63.

166

D. Theorien der Metaethik und der Trialismus

In der "Rhetorik" beschäftigt sich Aristoteles nicht mit der praktischen Sprache, sondern erweitert vielmehr den Blick auf das "dem Wahren ähnliche"9. Ziel ist nicht mehr wie in den Analytiken, die Methode der Wahrheitsfindung darzustellen, sondern die Art und Weise zu untersuchen, "das Glaubenerweckende zu erkennen"10. Er berücksichtigt dabei - nebenbei bemerkt ausdrücklich die trialistische Redesituation11: "Es basiert nämlich die Rede auf dreierlei: dem Redner, dem Gegenstand, über den er redet, sowie jemandem, zu dem er redet..." 12. Zu beachten ist, daß Aristoteles auch in der "Rhetorik" von der mimetischen Kraft des Wortes spricht13 und ebenso wie in der "Poetik" seine Überlegungen auf die Mimesis stützt14. Auch die praktische Sprache hat fur ihn also mimetische Kraft. Insgesamt kennt Aristoteles somit keinen strengen Dualismus zwischen deskriptiver und praktischer Sprache, sondern erstere weist als qualifizierte Teilmenge der Gesamtsprache nur die Besonderheit der vollen Wahrheitsfähigkeit im Rahmen der Apodeiktik auf, während letztere regelmäßig durch den Ausgang von Meinungen (doxa)15, die topisch-dialektische Methode und die Verwendung der Schlußweise des Enthymems gekennzeichnet ist 16 . Dieser gemäßigten sprachtheoretischen Differenzierung entspricht im übrigen auch eine methodische und wahrheitstheoretische17.

9

Aristoteles (1987), Rhetorik, 1355a, S. 10.

1 0

Aristoteles (1987), 1355b, S. 12.

1 1

Aristoteles (1987), 1358, S. 20.

1 2

Aristoteles (1987), 1356a, S. 13: Diesen drei Grundelementen entsprechen drei Arten von

Überzeugungsmitteln: (1) den Charakter (ethos) des Redners herauszustellen, (2) den Zuhörer in eine gewisse Stimmung (pathos) zu versetzen, (3) in der Rede selbst etwas darstellen, d . h . durch Beweisen oder scheinbares Beweisen des Gegenstandes. 1 3

Aristoteles (1987), 1404a, S. 168.

1 4

Aristoteles (1982), 1447a, 1448b, S. 5, 11.

1 5

Vgl. zur Dialektik im Gegensatz zur Apodeiktik: Aristoteles (1968), Topik, 100a, S. 1.

Zum Ausgangspunkt der doxa, ebenda: "Wahrscheinliche Sätze aber sind diejenigen, die Allen oder den Meisten oder den Weisen wahr erscheinen, und auch von den Weisen wieder entweder Allen oder den Meisten oder den Bekanntesten und Angesehensten." Vgl. Nowell-Smith (1954), p. 19f, der hierin eine entscheidende Abkehr durch Aristoteles vom platonischen Programm einer "wissenschaftlichen Moral" sieht. 1 6

Aristoteles (1987), Rhetorik, 1355a, S. 10.

1 7

Aristoteles (1968), Topik, 102b, S. 8: "Darum darf man jedoch nicht eine gemeinsame

Methode für alle Probleme ohne Unterschied fordern. Einmal wäre eine solche Methode nicht

ΠΙ. Hobbes' subjektiver Naturalismus

167

Im Vorgriff auf später vertretene Positionen bei Hare, Stevenson und Nowell-Smith soll schon an dieser Stelle bemerkt werden, daß Aristoteles die große Variabilität der Bedeutungen von "gut" durchaus bewußt war 18 . Er stellt fest, daß "gut" in allen Kategorien ausgesagt werde und schließt - in impliziter Kritik an Piaton -, daß es so etwas wie "das Gut" als etwas Gemeinsames im Sinne einer einzigen "Idee" nicht gebe19.

I I I . Hobbes1 subjektiver Naturalismus Hobbes verband das klassische Abbildmodell der Sprache mit einer materialistischen Ontologie und einer sensualistischen Erkenntnistheorie. Er erweiterte es auch auf die praktische Sprache. Eine monistische, subjektiv-naturalistische Position war das Ergebnis. Die praktische Sprache beschreibt danach die Wünsche, Befürchtungen bzw. sonstigen Gefühle des Menschen20. Im Rahmen der Beratung und Belehrung zeigen wir dem anderen die Kenntnisse, die wir erworben haben. Bei normativen Sätzen machen wir anderen unseren Willen und unsere Absicht21 bzw. unser Verlangen oder unsere Abneigung22 bekannt. Die Objekte unseres Triebes oder Verlangens nennen wir "gut"23. Entsprechend bezieht sich die Ethik als Wissenschaft auf die Folgen unserer Leidenschaften24.

leicht ausfindig zu machen, und dann wäre sie, wenn auch gefunden, ganz unbestimmt und für die vorliegende Aufgabe unverwendbar."; (1980), Nikomachische Ethik, 1103b, S. 36: "...daß von einer Untersuchung über ethische Fragen nur umrißhafte Gedankenfuhrung, nicht aber wissenschaftliche Strenge gefordert werden darf. Wir haben ja schon eingangs ausgesprochen, daß die Form der Untersuchung, die wir verlangen dürfen, dem Erkenntnisgegenstand entsprechen muß." 1 8

Aristoteles (1980), Nikomachische Ethik, 1096a, S. 11.

1 9

Aristoteles (1980), Nikomachische Ethik, 1096b, S. 13.

2 0

Hobbes (1651), Leviathan, p. 20, 28, S. 25, 31.

2 1

Hobbes (1651), p. 20, S. 25.

2 2

Hobbes (1651), p. 50, S. 47. Hobbes (1651), p. 41, S. 41. Etwas anders, aber undifferenziert: Stevenson (1937), S.

117. 2 4

Hobbes (1651), p. 73, S. 65.

168

D. Theorien der Metaethik und der Trialismus

Bemerkenswert ist, daß Hobbes ausdrücklich dazu mahnt, beim Denken auf Worte zu achten, die nicht nur die Vorstellung bezeichnen, die wir von der äußeren Natur haben, sondern auch Neigungen und Interessen dessen, der sie ausspricht, wie ζ. B. die Namen von Tugenden und Lastern25. So erklärt er, daß die Menschen aufgrund ihrer verschiedenartigen Leidenschaften ein- und demselben Ding verschiedene Namen geben26. Hobbes sah also, daß in einzelnen Spracheinheiten objektiv-deskriptive und subjektiv-deskriptive (praktische) Funktionselemente verbunden sein können.

IV. Humes differenzierte Position

Hume vertritt zwar wie Hobbes eine Theorie der subjektiv-naturalistischen Darstellung der eigenen Gefühle 27. Hierauf ist aber die Funktion der praktischen Sprache nicht beschränkt, sondern daneben tritt ein intersubjektiver Naturalismus, der das eigentliche moralische Sprechen betrifft: Mit bestimmten moralischen Worten wie "lasterhaft", "hassenswert", "verdorben" wird ein allgemeines Gefühl der Menschen dargestellt28. Im Rahmen einer solchen Wortverwendung bleibt man aber nicht bei der bloßen Darstellung stehen, sondern der Gegenstand wird zur generellen Billigung "empfohlen" und die Zuhörer sollen dieses Gefühl mit dem Sprecher teilen29. Wegen dieser Überlegungen wird Hume auch als Ahnherr einer emotivistischen Position angesehen30. Trotz der deskriptiv-intersubjektiven Grundanlage bricht bei ihm in vielfältiger Weise auch eine emotiv-evokative Position durch. Der deskriptiv-monistische Ansatz von Hobbes wird aufgeweicht und mit anderen Elementen angereichert.

2 5

Hobbes (1651), p. 29, S. 31.

2 6

Hobbes (1651), p. 90, S. 79.

2 7

Hume (1751), Enquiry concerning the Principles of Morals, S. 121.

2 8

Hume (1751), S. 120. Stevenson (1937), S. 117 und (1944), S. 273ff verkürzt Humes Überlegungen auf diesen Aspekt. 2 9

Hume (1751), S. 120.

3 0

Von Urmson (1968), p. 19f.

V. Strikter Naturalismus

169

Zu dieser differenzierten Behandlung der Moralsprache tritt schließlich die berühmte Dichotomie zwischen indikativischen und normativen Sätzen: das sog. Humesche Gesetz31. Darin wendet sich Hume gegen jeden Versuch, aus einer Beobachtung über menschliche Dinge, die mit "ist" oder "ist nicht" beschrieben wird, ohne weiteres einen normativen Satz mit "sollte" oder "sollte nicht" abzuleiten32. Er begründete damit einen strikten Dualismus zwischen deskriptiv-wertenden und präskriptiven Sätzen. Humes Position ist für die tri funktionale These von besonderem Interesse, weil bei ihm - soweit ersichtlich - zum erstenmal eine wenigstens implizite Unterscheidung zwischen wertender und präskriptiver Sprache aufscheint33.

V. Strikter Naturalismus

Will man die naturalistischen Positionen, die sich bei Hobbes und - mit den soeben gemachten Einschränkungen - bei Hume fanden, zusammenfassen und verallgemeinern, so ergibt sich: Die Worte der praktischen Sprache bezeichnen grundsätzlich Eigenschaften. Zentralthese des strikten Naturalismus ist, daß solche Worte vollständig durch deskriptiv-empirische Kennzeichnungen definierbar sind34. Für die Verknüpfimg von Sätzen gilt dann entsprechend, daß Wert- und Normsätze aus nichtnormativen bzw. nichtevaluativen Prämissen abgeleitet werden können35. Im Rahmen eines konsequenten Naturalismus wären Ethik und "deskriptive Ethik", also Moralpsychologie oder Moralsoziologie, dann ein- und dieselbe Disziplin. Die Ethik könnte auf eine Naturwissenschaft reduziert werden. Die 3 1

Hierzu ausfuhrlich: v. Kutschera (1982), S. 29ff.

3 2

Hume (1739), A Treatise of Human Nature, Bd. 2, S. 211. Hoerster (1969), S. 13 stellt die Frage, ob eine Inkonsistenz zwischen dem Humeschen

Gesetz und der subjektivistischen metaethischen Position bestehe, sieht aber nicht, daß man das Problem auch dadurch lösen kann, daß man klar zwischen Präskription und Evaluation unterscheidet. 3 4

Alexy (1978), S. 54; v. Kutschera (1982), S. 49, der eine weitere Fassung vertritt: S. 50:

Alle normativen Aussagen ließen sich in nichtnormative übersetzen; vgl. auch S. 51, F N 15; Frankena (1963), p. 97f, S. 117; Grewendorf u. Meggle (1974b), S. 9; Moore (1903), S. 77. 3 5

Hare (1963a), p. 86, S. 105.

D. Theorien der Metaethik und der Trialismus

170

Begründung moralischer Äußerungen erfolgte durch empirische Untersuchungen. Die alte Streitfrage der Ableitung des Seins aus dem Sollen wäre damit entgegen dualistischen Ansätzen, wie sie z.B. Kelsen und Hare vertreten 36 , positiv entschieden37. Da eine Definition oder Reduktion praktischer Äußerungen auf andersartige38 erfolgt, bezeichnet man solche Theorien auch als "Definismus" oder "Reduktionismus"39 bzw. "Deskriptivismus" (bei einer Reduktion auf deskriptive Aussagen40).

VI. Kritik am Naturalismus

1. Nach Moores Kritik am Naturalismus im sog. "Argument vom naturalistischen Fehlschluß" bzw. "Open-question-argument"41 kann man bei jeder beliebigen naturalistischen Definition von "gut" nach einer entsprechenden Ersetzung immer noch sinnvoll fragen, ob ein gemäß der Definition bestimmter Gegenstand oder eine Handlung wirklich gut sind42. Die Funktion des Wortes "gut" läßt sich damit nicht - oder zumindest nicht vollständig - auf eine naturalistische Definition (wie etwa den Interessen dienend etc.) reduzieren.

2. Frankena hat die Kritik Moores zu einem "Definitions-Fehlschluß" erweitert43. Dieser bestehe darin, zwei Eigenschaften gleichzusetzen oder

3 6

Dazu: Kapitel K.

3 7

Alexy (1978), S. 55.

q) 3 9 · v. Wright hat diese so verstanden, daß "wir uns durch die Ausführung der mit Α (ρ) bezeichneten Handlung verpflichten, die mit Β (q) bezeich3 5

Ähnlich: Philippe (1974), S. 38.

3 6

Vgl. ζ . B. Klug (1951), Juristische Logik, S. 21. Die Detailunterschiede zwischen den

einzelnen Kalkülen der Aussagenlogik können hier außer Betracht bleiben. 3 7

Vgl. ζ. B. Kutschera (1973), S. 16f: Also bindet in der Reihe - , & , v, > , < > der weiter

links stehende Funktor stärker. 3 8

Vgl. hierzu allgemein: Haberstumpf (1981), Bemerkungen zu einigen Paradoxien der

deontischen Logik. 3 9

Vgl. Hintikka (1971), Some Main Problems of Deontic Logic, p. 87; v. Kutschera (1973), S. 24fif.

304

I. Ausgangspunkte einer trifunktionalen Logik der Präskriptionen

nete Handlung auszufuhren" 40. Auch Follesdal/Hilpinen41 gehen offensichtlich davon aus, daß die präskriptive Kraft des Operators sich im Rahmen einer solchen Implikation nur auf das Konsequens bezieht und das Antecedens rein deskriptiv zu interpretieren ist, also "wenn ρ besteht, dann soll q. " Diese Interpretation ist aber aus zwei Gründen falsch: Zum einen binden Operatoren die Variablen, auf die sie sich beziehen42 - und zwar alle, nicht nur das Konsequens einer Implikation. Zum anderen gelten innerhalb des Arguments des Präskriptionsoperators nach der prima facie aufgestellten Voraussetzung alle aussagenlogischen Gesetze, ζ. B. auch das der Kontraposition: p>q impliziert logisch -q>-p. Dann gilt aber: Ρ (p>q) impliziert logisch Ρ (-q>-p). Würde man nun das Antecedens deskriptiv interpretieren, so würde "Wenn ρ besteht, dann soll q!" logisch "Wenn q nicht besteht, dann soll nicht p! " implizieren. Also würde aus: "Wenn Du zur Wahl gehst, wähle die Partei x!" folgen: "Wenn Du die Partei χ nicht wählst, dann gehe nicht zur Wahl! " Dies ist aber nicht akzeptabel, weil der Sprecher durchaus ein Interesse haben kann, daß der Hörer zur Wahl geht, auch wenn er die Partei χ nicht wählt, also der Ausgangspräskription nicht folgt. Zur Auflösung dieses Problems wird vorgeschlagen, bei Ρ (p>q) auch das Antecedens präskriptiv zu interpretieren, so daß sich ergibt: "Wenn man ρ soll, dann soll man q." Hier bereitet die Kontraposition "Wenn man q nicht soll, dann soll man auch nicht p!" keine Probleme. Als Einwand gegen diese Interpretation der intraargumentativen Implikation könnte vorgebracht werden, es sei dann aber nicht realisierbar, die - im Alltag häufige - deskriptiv bedingte Präskription zu symbolisieren. Es wird sich aber noch erweisen, daß es hierfür eine Möglichkeit gibt, nämlich die Form D (p) > Ρ (q). An dieser Stelle soll nur noch gesagt werden, daß Ρ (D (p)>q) eine dritte mögliche Form symbolisiert: "Wenn man ρ beschreiben soll, so soll man q!" 43 .

4 0

v. Wright (1951), S. 5. - Die Symbolisiemngen in Klammern sind von mir - D . v. d. Pf.

4 1

Follesdal/Hilpinen (1971), p. 23.

4 2

Weinberger (1970), S. 64.

4 3

Entsprechend geht dann auch "Ρ ( Ρ (ρ) >q)", "Wenn man ρ vorschreiben soll, so soll man

q!" und "P ( E (p)>q)", "Wenn man ρ beweiten soll, so soll man q!".

IV. Intraargumentative Beziehungen

305

Interpretiert man auf diese Weise das Antecedens der Implikation präskriptiv, so gilt gleiches für das Bikonditional: "P (p< >q)" symbolisiert "Wenn ρ getan werden soll, dann soll q getan werden und umgekehrt. "

2. Folgende Paradoxien werden diskutiert:

a) Das bekannteste ist das sog. Ross'sehe Paradox44: Aufgrund des aussagenlogischen Gesetzes der Adjunktionseinfuhrung müßte "P (p)" logisch "P (pvq)" implizieren"45. Aus dem Gebot, einen Brief zur Post zu bringen, würde dann folgen, daß es ebenfalls geboten wäre, ihn zur Post zu bringen oder zu verbrennen. Intuitiv wäre eine solche Implikation nicht verständlich. Sie wird deshalb auch - v.a. von Rechtstheoretikern - oft abgelehnt46. Es sind jedoch die verschiedensten Versuche gemacht worden, eine befriedigende Interpretation zu finden 47. Nach v. Kutschera48 soll es sich etwa deshalb um kein Paradox handeln, weil trotz der Abschwächung das Ausgangsgebot Ρ (ρ) weiterbestehe und diesem Gebot durch die Erfüllung von Ρ (pvq) nicht Genüge getan werde. Neben Ρ (ρ) gäbe es zudem noch andere Normen, die q verboten, so daß man nicht sagen könne, man verhalte sich mit q normgerecht. Dagegen ist aber einzuwenden, daß Ρ (ρ) und Ρ (pvq) sich gegenseitig ausschließen. Im einen Fall wird dem Angesprochenen eine Entscheidungsmöglichkeit eröffnet, im anderen nicht. Beides ist aber nicht zugleich möglich. Ob noch andere Normen q verbieten, ist fur die Frage, ob die logische Implikation gerechtfertigt ist, gänzlich irrelevant. Demgegenüber muß man betonen, daß die Adjunktionseinfuhrung aus folgendem Grunde im Argument der Präskriptionsoperators nicht möglich ist: Gegenüber dem Deskriptionsoperator weist der Präskriptionsoperator bzw. die präskriptive Zentralfunktion - die Besonderheit auf, daß er sich 4 4

A. Ross (1941), Imperatives and Logic; (1968), p. 160f, 176.

4 5

Vgl. Weinbeiger (1970), S. 224; Kalinowski (1971), S. 39ff; Haberstumpf (1981), S.

413ff; Keuth (1974), Deontische Logik und Logik der Normen, S. 75f. 4 6

Etwa von Weinbeiger (1970), S. 224; Philipps (1974), S. 44, 46; Rödig (1980), S. 206f.

4 7

Ζ . B. Follesdal u. Hilpinen (1971), p. 21.

4 8

v. Kutschera (1973), S. 20.

20 v. d. Pfordten

306

I. Ausgangspunkte einer trifunktionalen Logik der Präskriptionen

notwendigerweise auf zukünftiges Verhalten bezieht. Damit ist aber wegen dieser Bestimmung durch den Präskriptionsoperator das Argument in Ρ (ρ) nicht in gleicher Weise real wie bei D (p). Das verhaltensbezogene Argument des Präskriptionsoperators ist immer nur "möglich", nicht "wirklich" wie bei D (p). Hier taucht also das erwähnte Moment der Modalität auf. Nur die Qualifizierung des Satzradikals im Argument eines Operator als "real" erlaubt aber die Abschwächung von "p" zu "p oder q". Wenn ρ assertorisch behauptet wird, so kann es auch in ρ ν q als möglich behauptet werden. Ist jedoch "p" aufgrund des Präskriptionsoperators schon als bloß "möglich" eingestuft, so stellt die Adjunktionseinfuhrung gar keine wirkliche Abschwächung dar, sondern es wird vielmehr noch ein weiteres Glied auf derselben Ebene - nämlich der Möglichkeitsebene - hinzugefügt. Damit hätte die Adjunktionseinfuhrung quasi denselben Status wie eine Konjunktionseinfuhrung, bei der ein gleichberechtigtes Glied hinzukommt, ohne daß das bestehende abgeschwächt wird. Die Konjunktionseinfuhrung ist aber bekanntlich nicht zulässig. Die Verwendung des Präskriptionsoperators hat also Auswirkungen auf das Argument und schließt die Adjunktionseinfuhrung als logische Regel aus.

b) In gleicher Weise umstritten ist die Konjunktionsbeseitigimg49. Weinberger 50 lehnt sie mit folgender Begründung ab 51 : Aus Ρ (p&q), "Singe und halte das Fenster geschlossen" (1), folge Ρ (ρ), "Singe", unabhängig davon, ob das Fenster geschlossen gehalten werde oder nicht, obwohl ρ sogar verboten sein könne, wenn q nicht erfüllt sei (d. h. das Fenster offen ist). Diese Schlußweisen seien deswegen paradox, weil bei Gebots- und Verbotssätzen immer die Möglichkeit der Nichterfüllung bestehe. Auf das Gesolltsein von q allein dürfe nicht geschlossen werden, da es möglich sei, daß ρ nicht erfüllt werde, obwohl es geboten sei. Damit wird aber auf eine Gebotsvoraussetzung abgestellt (die Erfüllung), die mit Ρ (p&q) gar nicht ausgesprochen ist, denn Ρ (ρ) ist hier ja nur vom Gebotssatz Ρ (q) abhängig, nicht aber vom Erfüllungssatz D (q).

4 9

Vgl. Haberstumpf (1981), S. 410.

5 0

Weinbeiger (1970), S. 224, 246, 248.

5 1

Ebenso ablehnend: v. Wright (1963), p. 181, S. 179.

IV. Intraagumentative Beziehungen

307

Überdies stellt das von Weinberger gewählte Beispiel keinesfalls die einzige Möglichkeit der Interpretation der konjunktiven Verknüpfung von Präskriptionen dar: Bei einem Satz wie "Gehe heute nachmittag zum Einkaufen und hole die Kinder vom Kindergarten ab!" (2) ist durchaus die Konjunktionsbeseitigung jedes der beiden Glieder denkbar, denn man muß annehmen52, daß jedes Gebot allein bestehen bliebe, auch wenn die Ausführung des anderen nicht erfolgte. Schließlich gibt es auch Beispiele - und dies sind offensichtlich die weitaus meisten -, bei denen nur die eine der beiden Präskriptionen von der Erfüllung des anderen Gebots abhängt, wie etwa in: "Gehe in die Schule und nimm Dein Pausenbrot mit!" (3). Die zweite Präskription ist hier von der Erfüllung der ersten abhängig, nicht aber die erste von der zweiten: Man kann annehmen, daß die Mutter das Kind auf jeden Fall in die Schule schicken wird, auch ohne Mitnahme des Pausenbrots. Auffallend ist, daß in der Umgangssprache bei solchen Konstellationen regelmäßig die zweite Präskription die abhängige ist. Die Zeichenfolge symbolisiert hier die zeitliche Abfolge, denn man muß sich auf jeden Fall zuerst fur die Erfüllung der ersten Präskription entscheiden53. Bestehen aber nun so unterschiedliche inhaltliche Interpretations- und Gestaltungsmöglickeiten, so darf die logische Symbolisierung nicht im Sinne der stärksten Forderung verstanden werden, sondern muß sich auf die schwächste beziehen, sofern die stärkeren Forderungen durch zusätzliche Bedingungen darstellbar sind. Dies ist wie folgt fur die drei Varianten bzw. Beispiele (1), (2), (3) möglich:

(1) (D (ρ) > Ρ (q)) & (D (q) > Ρ (ρ)) schlossen.

(2) Ρ (p&q) möglich.

M 5 3

Damit sind Ρ (ρ) und P(q) ausge-

Damit ist die Konjunktionsbeseitigung zu Ρ (ρ) oder P (q)

Auch hier geben mangels Verbalisierung Situation und Kontext weiteren Aufschluß. Hier bewahrheitet sich ein winziger Zipfel von Wittgensteins früher Theorie der Isomor-

phiebeziehungen der Abbildung. Vgl. Β. I V . 1. f)·

308

I. Ausgangspunkte einer trifunktionalen Logik der Präskriptionen

(3) Ρ (ρ) & (D (ρ) > Ρ (q)) Damit ist die Konjunktionsbeseitigung zu Ρ (ρ) möglich, nicht aber zu Ρ (q) 54 .

Ein wesentlicher Vorteil dieser Interpretation liegt auch darin, daß hier klar zwischen der Abhängigkeit der einen Präskription von der anderen, also von Ρ (q), oder von deren Erfüllung, also von D (q), unterschieden werden kann. So mag es anders als in den soeben dargestellten Beispielen und dem Beispiel von Weinberger Fälle geben, bei denen nicht die Voraussetzung der tatsächlichen Erfüllung, sondern schon die des bloßen Gebietens die Konjunktionsbeseitigung ausschließt. Dies kann mit (P (q) > Ρ (ρ)) & (Ρ (ρ) > Ρ (q)) symbolisiert werden. Die angeführten Symbolisierungen überschreiten schon den Rahmen der intraargumentativen Beziehungen und werden im weiteren Fortgang näher erläutert. Zusammenfassend läßt sich also feststellen, daß die Konjunktionsbeseitigung zulässige Regel im Präskriptionsargument ist. Soll sie ausgeschlossen sein, muß dies entsprechend symbolisiert werden.

c) Zweifelhaft könnte nach Ausschluß der Adjunktionseinführung auch erscheinen, ob die Abschwächung Ρ (ρ) impliziert Ρ (q>p) zulässig ist. Hier ist aber die Situation eine andere als beim Ross'schen Paradox. Anders als bei der "Möglichkeit" macht bei der "Bedingtheit" nicht schon allein die Verwendung des Präskriptionsoperators das Argument zu einem bedingten. Die Abschwächung ist deshalb eine echte und nicht nur eine scheinbare. Auch intuitiv besteht hier kein Problem: Was unbedingt geboten ist, ist auch unter der Bedingung einer anderen Präskription geboten: Allerdings ergibt sich wie bei der Adjunktionseinfuhrung auch hier, daß es sich um zwei unterschiedliche Verhaltensanweisungen handelt, die nicht in einem Abstufungs-, sondern in einem Ausschlußverhältnis stehen: Entweder es ist der Polizei geboten, für Sicherheit

5 4

Falsch ist hier die Symbolisiening Ρ (p&q) & (D (-q) > Ρ (-ρ)) von Haberstumpf (1981),

S. 412, die dann mit der zusätzlichen Tatsachenprämisse D (-q) und modus ponens zu den widersprüchlichen Ergebnissen Ρ (ρ) und Ρ (-ρ) fuhrt. Der Fehler liegt darin, daß das ursprüngliche Gebot schon als bedingt symbolisiert werden muß und nicht ein zusätzliches bedingtes Gebot hinzugenommen werden darf.

IV. Intraagumentative Beziehungen

309

und Ordnung zu sorgen, oder dies ist nur auf Anweisung geboten. Es kann nicht beides zugleich gelten.

d) Ein weiteres Paradox stellt die Regel ex falso quodlibet der Aussagenlogik dar, also p&-p > q. Würde man sie fur das Präskriptionsargument übernehmen, so würde Ρ (p&-p) jede beliebige Präskription Ρ (q) implizieren. Aus einem Widerspuch im Argument würde also folgen, daß Beliebiges geboten ist. Faßt man die Frage weiter, so stellt sich das allgemeine Problem der Behandlung von Kontradiktion und Tautologie im Argument des Präskriptionsoperators. Weinberger will solche Äußerungen als zwecklos ausschließen55. Für Lampe56 sind auf diese Art und Weise determinierte Sätze keine gültigen Rechtssätze bzw. Präskriptionen. Auch hier ergibt sich offensichtlich die Lösung mit Blick auf den Präskriptionsoperator. Nötig ist, daß der Inhalt des Arguments zweifelsfrei die Bezogenheit auf ein gesolltes Verhalten erkennen läßt. Dies ist bei der Kontradiktion nicht der Fall 57 , weil hier das Argument in sich widersprüchlich ist 58 . Damit ist auch die Regel ex falso quodlibet nicht anwendbar, da schon die Statuierung des Widerspruchs im Argument unzulässig ist 59 . Anders sieht es dagegen bei der Tautologie aus. Dort wird nicht wie bei der Kontradiktion das Argument durch sich selbst schon widersprüchlich, sondern es fehlt - etwa bei Ρ (pv-p) - ein durch das Argument festgelegter Aussagegehalt. Da im Rahmen der Präskription das Argument das zukünftige Verhalten symbolisiert, können auch durchaus beide Verhaltensweisen alternativ geboten sein. Seinen Sinn erhält ein Gebot dieser Form durch die Abgrenzung zu einem dritten Verhalten - regelmäßig einem Unterlassen, das quasi der Zusammenfassung beider gegensätzlicher Verhaltensweisen entgegensteht.

5 5

Weinberger (1970), S. 230.

5 6

Lampe (1970), S. 31.

5 7

Ebenso: Ross (1968), p. 153f.

fo

Nebenbei bemerkt gilt der Ausschluß der Kontradiktion fur das Operatorargument in gleicher Weise auch fur den Deskriptions- und den Evaluationsoperator. 5 9 Ebenso: Lampe (1970), S. 31.

310

I. Ausgangspunkte einer trifunktionalen Logik der Prskriptionen

Im Alltag begegnet uns eine solche Präskription oft, etwa in: "Geh1 nach A oder nicht nach A, aber entscheide Dich!", Ρ ((pv-p)&q). Sie hat den Sinn, den Angesprochenen auf die Ausführung zweier alternativer Handlungsweisen festzulegen. Die Tatsache, daß ρ und -p kontradiktorisch entgegenstehen, schließt nicht die Möglichkeit dritter Verhaltensweisen aus. Es sei angemerkt, daß man sogar im Recht bei § 495 I S. 1 BGB (Kauf auf Probe) ein entsprechendes Gebot finden kann: "Bei einem Kauf auf Probe oder auf Bericht steht die Billigung des gekauften Gegenstandes im Belieben des Käufers". Der Käufer ist also angewiesen, den Gegenstand zu billigen oder nicht zu billigen, aber nicht, etwas Drittes zu tun. Ρ (pv-p) ist also eine zulässige Symbolisierung der trifunktionalen Logik 60 , während Ρ (p&-p) unzulässig ist.

V. Interoperatorische Beziehungen Eines der Kernprobleme der Normlogik, aber auch der Rechtslogik, besteht darin zu bestimmen, inwieweit die normalen wahrheitsfunktionalen Verknüpfungen der Aussagenlogik auch zwischen Präskriptionen Anwendung finden. Dieses von Joergensen61 formulierte Problem scheint zu einem Ausschluß jeglicher logischer Beziehungen zwischen Präskriptionen zu führen, wenn man die - im Sinne der Korrespondenztheorie der Wahrheit verstandene - Wahrheitsfahigkeit von Präskriptionen verneint62. Allgemeiner gefaßt und nicht nur auf die präskriptive Zentralfunktion bezogen stellt sich die Frage, inwieweit die aussagenlogischen Verknüpfungen auch zwischen den einzelnen Grundoperatoren Gültigkeit haben63 oder zumindest vergleichbare logische Beziehungen bestehen.

6 0

Anderer Ansicht: Lampe (1970), S. 31.

6 1

Joergensen (1937;, Imperatives and Logic, S. 288ff. Dazu Weinbeiger (1979), S. 81;

Ross (1968), p. 139. 6 2

So Wagner/Haag (1970), S. 81f; Lampe (1970), S. 15; Kelsen (1960), S. 19; (1979), S.

152; Weinbeiger (1970), S. 55; Ross (1968), p. 102. 6 3

Vgl. Wagner/Haag (1970), S. 102 und v. Wright (1963), p. 13Off, S. 134ff.

V. I n t e t i e Beziehungen

311

1. Hare sieht die logischen Konnektive und die Negation als Teil des Arguments (der Phrastik) und meint, der Operator (die Neustik) bleibe hiervon frei 64. Als extreme Gegenposition wird verschiedentlich implizit oder explizit vertreten, alle logischen Operatoren einschließlich der Negation seien ohne Einschränkung anwendbar65. v. Wright versucht eine Kompromißlösung66, indem er eine deskriptive und eine präskriptive Interpretation des Präskriptionsoperators (und eines eigenen Erlaubnisoperators) anfuhrt und die Negation und die logischen Funktoren nur im ersten Fall zuläßt. Dies kann jedoch nicht überzeugen, denn die deskriptive Interpretation des Präskriptionsoperators wird dessen präskriptivem Charakter nicht gerecht67. Sie bleibt ein Gedankenkonstrukt. Aber selbst wenn man eine solche deskriptive Interpretation zuließe, ja selbst wenn man den Deskriptionsoperator mitheranzöge, wäre diese Lösung nicht adäquat: Die Operatoren sind in ihrem Status als überargumentative Symbolisierungen der Zentralfunktion einer Äußerung gleichrangig, und es befriedigt nicht, hier quasi eine Hierarchie zwischen dem Deskriptions- und dem Präskriptionsoperator oder innerhalb eines zweifach interpretierten Präskriptionsoperators aufzustellen. Nachfolgend wird deshalb ein vierter Weg eingeschlagen. Für die Negation und die Funktoren wird einzeln überprüft, ob ihre Verbindungen mit Operatoren einer sinnvollen semantischen Interpretation zugänglich sind, die die intraargumentativen, wahrheitsfunktionalen Verknüpfungen transzendiert.

2. Die Zweifel 68 setzen hier schon bei der Negation als basalstem aussagenlogischen Funktionszeichen ein. Was soll der Ausdruck -P (p) symboli-

6 4

Hare (1952), p. 21, S. 41f; (1949), p. 16; hierzu: Kalinowski (1971), S.43f; Philipps

(1971), S. 354. 6 5

So etwa bei v. Kutschera (1973), S. 16ff, der nicht einmal die Frage aufwirft, ob die Be-

ziehungen zwischen den einzelnen Operatoren in gleicher Weise symbolisiert werden sollen wie innerhalb der Argumente; ebenso bei Philipps (1966), Sinn und Struktur der Normlogik, S. 208 und (1974), S. 57, der aber in (1966) und (1971), S. 358 aufgrund der Anwendung der intuitionistischen Logik zu Einschränkungen kommt. 6 6

v. Wright (1963), p. 13Off, S. 134ff.

6 7

Ebenso: Wagner/Haag (1970), S. 102.

6 8

Vgl. zur Diskussion dieser Problematik: Berkemann (1974), S. 177ff; Weinberger (1970),

S. 238f; (1957), Über die Negation von SollsStzen.

312

I. Ausgangspunkte einer trifunktionalen Logik der Präskriptionen

sieren?69 Ein solcher Ausdruck wäre dann gerechtfertigt, wenn man davon sprechen könnte, daß Ρ (ρ) wahr oder falsch sei. Die Frage, ob dies zulässig ist 70 , spaltet - wie schon dargestellt wurde - deontische Logiker und Normlogiker, so daß Stegmüller davon spricht, daß man entweder von einer präskriptiven oder einer deskriptiven deontischen Logik ausgehen kann71. Für das Argument der Operatoren ist die wahrheitsfunktionale Interpretation der Folgerungsbeziehungen sinnvoll, weil es sich hier um die Bezugnahmen auf Gegebenheiten im Rahmen des trialistischen Kommunikationsbzw. Semantikmodells handelt. Diese Bezugnahmen können entweder adäquat sein oder nicht, so daß die Satzradikale als wahr oder falsch qualifiziert werden können. Entsprechend lassen sich auch die Negation und die Konnektive verstehen. Der Operator symbolisiert dagegen nicht die Gegebenheitsbezugnahme, sondern steht für die Realisierung der Äußerung an sich und drückt - je nachdem, welcher der drei möglichen Operatoren gewählt wird - deren Zentralfunktion aus. Diese Realisierung der Äußerung kann aber nicht als wahr oder falsch qualifiziert werden, sondern nur als bestehend oder nicht bestehend. Es gibt kein nicht-Sprechen, sondern nur ein Nichtsprechen. Und Nichtsprechen ist nicht nicht-etwas, sondern nichts. Das wird dann aber einfach durch das Nichtvorhandensein des Operators symbolisiert72. Hiergegen könnte man einwenden, es sei durchaus möglich, eine Äußerung als mit einem falschen Operator symbolisiert (etwa D ( ) statt E ( )) zu kennzeichnen. Aber diese Kennzeichnung erfolgt dann ja von einer anderen, äußeren Perspektive aus, die die Operatorverwendung als falsch beschreibt, so daß die Symbolisierung dann nicht -P (p) wäre, sondern D (q

) 7 3 . Wenn ein Operator innerhalb des Arguments eines anderen auftaucht, so symbolisiert er die Bezugnahme auf eine Kom6 9

Ebenso: Ross (1968), p. 155.

7 0

Dafür: Kanger (1971), New Foundations for Ethical Theory, p. 55.

7 1

Stegmüller (1952), Bd. 2, S. 165f.

7 2

Ähnlich Wagner/Haag (1970), S. 97: Sätze, die eine Nicht-Geltung (Geltungsnegation)

ausdrücken, kommen gar nicht vor. Mit anderer Begiündung kommt der späte Kelsen (1979), S. 202, zu einem ähnlichen Eigebnis: Die logischen Prinzipien des ausgeschlossenen Widerspmchs und der Schlußfolgerung sind auf Normen nicht anwendbar, da diese der Sinn von Willensakten sind, ein Willensakt aber im Wege einer logischen Denkoperation nicht erzielt werden kann. Vgl. dazu Opalek (1980), S. 3Iff. 7 3

Dies ist eine Alternative, die v. Wright in (1963), p. 136f, S. 139, erwägt.

V. Interoperatorische Beziehungen

313

munikationsgegebenheit und kann dann selbstverständlich wahr oder falsch sein. Zu erwägen wäre allerdings, die Negation eines Operators als Symbolisierung der Realisation eines anderen Operators aufzufassen. Hier stößt man aber auf die Schwierigkeit, daß zwischen denn drei Operatoren kein zweiwertiges Kontradiktionsverhältnis besteht, sondern ein dreiwertiges. Man kann also nicht sagen, ob -P ( ) dann E ( ) oder D ( ) bedeuten soll. Im übrigen macht auch hier die Wahrheitszuschreibung den Ausdruck des Operators sofort zum Argument einer externen Deskription. Kelsen hat vorgeschlagen, die Negation einer Norm als die Negation ihrer Geltung anzusehen, also mit der Negation quasi eine freie Stelle in einem Normensystem darzustellen74. Und Weinberger75 will wenigstens ein "modifiziertes Zeichen für die Normsatznegation einführen", um die Derogation (Aufhebung) von Ρ (ρ) auszudrücken. In beiden Fällen ist jedoch die Beibehaltung oder Modifikation des Negationszeichens unnötig und nur verwirrend, da es sich jeweils um Deskriptionen handelt76. Im ersten Fall wird beschrieben, daß innerhalb eines Normensystems eine Lücke besteht, ausgedrückt durch D (-P (p)), im zweiten Fall, daß eine Präskription aufgehoben wurde, ausgedrückt durch D (q

). Auf letzteres wird bei der Frage der Erlaubnis noch näher einzugehen sein. Angemerkt sei hier nur noch, daß auch für die beiden anderen Grundoperatoren das eben Gesagte gilt. Die Einführung eines Negationszeichens auf der Operatorebene ist bedeutungstheoretisch nicht sinnvoll.

3. Wenig problematisch ist dagegen die Einführung des Konjunktionszeichens. Ρ (ρ) & Ρ (q) symbolisiert, daß zwei Präskriptionen bestehen. Die Konjunktion ist semantisch sinnvoll, auch ohne daß man die isolierte Wahrheitsfähigkeit der Grundoperatoren annimmt und von einer wahrheitsfunktionalen Verknüpfimg ausgeht.

7 4

Kelsen (1967), Recht und Logik. Zur Frage der Anwendbarkeit logischer Prinzipien auf

Rechtsnormen, S. 39f. 7 5

Weinberger (1970), S. 238f.

7 6

Dies sieht Weinberger (1970), S. 239, selber, denn er sagt klar, daß -P (p) kein Sollen

ausdrucke. Er zieht aber nicht die Konsequenz, ganz auf die Negation zu verzichten, weil er die Erlaubnis nicht klar als Deskription kennzeichnet.

314

I. Ausgangspunkte einer trifunktionalen Logik der Prskriptionen

4. Nicht semantisch sinnvoll ist dagegen die Verwendung der Adjunktion. Eine Äußerung erfolgt oder erfolgt nicht, aber es kann keine bloße Möglichkeit zweier Äußerungen geben. Die Entweder-Oder-Möglichkeit liegt immer nur im Rahmen der Gegebenheitsbezugnahmen und bleibt damit auf die intraargumentative Sphäre beschränkt. Oder anders ausgedrückt: Sobald man Äußerungen durch Adjunktionen verknüpft, hat man schon die Ebene der unmittelbaren Symbolisierung der Äußerung in ihrer Zentralfunktion verlassen und die Metaebene der Deskription über mögliche Äußerungen erreicht, also D ( Ρ (ρ) ν P (q)). Wollte man fur diesen Operator auf der Metaebene eine Adjunktion annehmen, so wäre dies wiederum nur auf einer weiteren Metaebene möglich. Es ergäbe sich ein infiniter Regreß.

5. Problematisch ist auch, inwieweit Implikationsbeziehungen zwischen Äußerungen möglich sind. Hier ist einmal an ein Bedingungsverhältnis zu denken. Ein Äußernder setzt eine Äußerung, relativiert ihre Realität aber gleichzeitig, indem er sie unter eine Bedingung stellt. Der Sprecher raubt also quasi selbst seiner eigenen Äußerung die unbedingte Realität. Dabei wird nicht nur die Gegebenheitsbezugnahme innerhalb des Arguments relativiert, sondern die ganze Äußerung mit ihrer Zentralfunktion. Dem Konsequens einer solchen Implikation wird auf diese Weise ein Stück seiner Realität genommen und dieses mit einer weiteren Äußerung verknüpft. Dies kann als Ρ (ρ) > Ρ (q) bzw. D (ρ) > P (q) symbolisiert werden. In ähnlicher Form ist dann auch eine wechselseitige Implikation der Form Ρ (ρ) < > Ρ (q) denkbar.

6. Daneben muß man, wenn man eine Formalisierung der Argumente der Operatoren zuläßt, auch ein logisches Implikationszeichen " Γ 1 1 vorsehen. Dieses drückt aber nicht mehr aus, als daß der Sprecher aus Gründen der Logik auch die nachfolgende Äußerung akzeptieren müßte, wenn er die Äußerung des Antecedens getan hat. Es bedeutet aber nicht, daß tatsächlich eine entsprechende Äußerung erfolgt. So gilt etwa nach dem bei IV. 2. b) Gesagten: Ρ (p&q) / Ρ (ρ).

77 ' Dieses Zeichen hat selbstverständlich nichts mit dem sog. Shefferstrich zu tun.

V . Interoperatorische Beziehungen

315

7. Im Anschluß an diese Überlegungen stellt sich die Frage, welche Theoreme im Rahmen dieser eingeschränkten interoperatorischen Verknüpfungsmöglichkeiten Gültigkeit haben.

a) Wichtige Theoreme sind:

ΤΙ: Ρ (ρ) & P (q) / P (p&q) und die Umkehrung T2: P(p&q)/P(p)&P(q)

Sie werden ζ. B. von v. Kutschera78, v. Wright 79, Kanger80 und Ross81 verteidigt, während Philipps82 beide Theoreme fur falsch hält: Schließlich erwarteten wir von einem Zehnkämpfer nicht, daß er alle Disziplinen in einem absolviere. Andererseits wäre es bei einem Hürdenläufer eine mißverständliche Angabe der Leistungsforderungen, daß er zehnmal über eine Hürde springe und daß er 110 m laufen müsse, wenn man dabei die Möglichkeit offen ließe, daß er beides nacheinander tun könne. Philipps geht bei dieser Kritik aber von einer eingeschränkten, handlungsbezogenen Interpretation der in Frage stehenden Sätze aus. Er nimmt an, die Zusammenfassung von ρ und q innerhalb eines Arguments eines einzigen Gebotsoperators bedeute auch eine materielle, zeitliche oder räumliche Zusammenfassung der beiden Satzradikale, die sich auf bestimmte Verhaltensweisen beziehen. Dies widerspräche aber der normalen wahrheitsfunktionalen Interpretation der Konjunktion innerhalb der Aussagenlogik. Entsprechend verdeutlicht die Zusammenfassung der zwei Grundoperatoren zu einem einzigen (bzw. umgekehrt) nur die Notwendigkeit, der Zusammenfassung von zwei Äußerungen in einer zuzustimmen (bzw. umgekehrt). Man muß die Theoreme also wie folgt interpretieren: Wenn geäußert wird, man solle ρ tun, und geäußert wird, man solle q tun, so muß man logisch auch 7 8

v. Kutschera (1973), S. 21

7 9

v. Wright (1974), S. 124.

8 0

Kanger (1971), p. 53.

8 1

Ross (1968), p. 163.

8 2

Philipps (1989), S. 289f.

316

I. Ausgangspunkte einer trifunktionalen Logik der Präskriptionen

akzeptieren, daß geäußert wird, man solle ρ und q tun (ohne daß damit irgendwelche zusätzlichen räumlichen oder zeitlichen Zusatzbedingungen aufgestellt werden, dies solle durch ein und dieselbe Handlung geschehen). Eine solche weitergehende Anforderung müßte zusätzlich symbolisiert werden: ζ. B. als Ρ (g(p&q)): "Man soll ρ und q tun und zwar beides gemeinsam (g)\

b) Da jemand, der zwei Gebote ohne zusätzliche Abhängigmachung erläßt auch zustimmen muß, daß nur eines erlassen wird, hat auch Gültigkeit:

T3:P(p)&P(q)/P(p)

c) Zweifelhafter ist 83 :

T4: Ρ (p>q) / Ρ (ρ) > Ρ (q)

Das Theorem ist dann gültig, wenn man es - wie oben geschehen - so interpretiert, daß das Antecedens bei (p>q) präskriptiv aufgefaßt wird: "Wenn man, falls man ρ tun soll, auch q tun soll, so gilt: Man muß dann auch akzeptieren, daß das Gebot, q zu tun, unter der Bedingung eines Gebotes, ρ zu tun, steht". Nicht gültig wäre das Theorem aber 84, wenn man das Antecedens von (p>q) wie v. Kutschera85 deskriptiv interpretiert und formuliert: Wenn es geboten ist, falls man ρ tut, auch q zu tun, so ist es, falls es geboten ist, ρ zu tun, auch geboten, q zu tun. Denn beim ersten Teil des Theorems ist das Gebot durch die tatsächliche Ausführung von q bedingt, beim zweiten Teil schon durch das bloße Bestehen des Gebots zu q, ohne Rücksicht auf die Ausführung 86. 8 3

Vgl. hierzu: Follesdal/Hilpinen (1971), S. 12.

8 4

Ebenso: Hintikka (1971), p. 79; Philipps (1974), S. 48, der aber davon spricht, daß dann

wenigstens ein deskriptiver Sollenssatz übrigbleibe. Aber was ist das? 8 5

v. Kutschera (1973), S. 20.

8 6

v. Kutscheras Beispiel, (1973), S. 20, ist gerade nicht gültig: Wenn es geboten ist, bei

Benützung der linken Autobahnfahrbahn schneller als 80 km/h zu fahren, so ist es nicht schon

V . Interoperatorische Beziehungen

317

Bei präskriptiver Interpretation des Antecedens von (p>q) gilt auch die Umkehrung:

T5:P(p)>P(q)/P(p>q)

Und schließlich gelten auch:

T6: Ρ (ρ) < > P (q) / P (p< >q) und T7: Ρ (ρ< >q) / Ρ (ρ) < > Ρ (q)

d) Der modus ponens (praktischer Syllogismus) ist anwendbar87, so daß gilt:

T6:P(p)&(P(p) > P(q))/P(q)

e) Ungültig sind dagegen sämtliche Theoreme mit einer Adjunktionsverknüpfung oder einer Negation der Operatoren, so etwa das von v. Kutschera88 angenommene Ρ (ρ) ν P (q) / (Ρ (pvq).

f) Gültig ist aber die Abschwächung:

T7:P(p)/P(q) > Ρ (p)

aufgrund des bloßen Bestehens des Gebots, die linke Autobahnspur zu benutzen, auch geboten, schneller als 80 km/h zu fahren. Denn dann müßte man auch schon schneller fahren, wenn man noch auf der rechten Spur ist. 8 7

Ebenso Wagner/Haag (1970), S. 108; Philipps (1974), S. 50, F N 65.

8 8

v. Kutschera (1973), S. 19.

318

I. Ausgangspunkte einer trifunktionalen Logik der Proskriptionen

Denn wenn man ein Gebot unbedingt äußert, dann muß man auch eine bedingte Äußerung akzeptieren. In ähnlicher Weise gelten dann auch die anderen Schlüsse auf Konditionale, soweit sie weder Negation noch Adjunktion enthalten. Damit sind anwendbar: Hypothetischer Syllogismus, Konjunktion-Konditional, Importation, Exportation. Schließlich gelten auch die Symmetrien von Konjunktion und Bikonditional.

8. Verschiedentlich wird in der Literatur ein "Paradox der abgeleiteten Verpflichtung" (derived obligation) diskutiert: Ρ (-ρ) / Ρ (p>q) wird interpretiert als "doing something forbidden commits one to anything"89. Dieses Paradox hat aber seine Wurzel schon in der falschen Interpretation der Implikationsbeziehung Ρ (p>q) (vgl. oben IV. 1.). Interpretiert man das Antecedens richtigerweise präskriptiv, so ist die Bedingung gar nicht erfüllt, da ja das Gegenteil geboten ist.

VI· Interfunktionale Beziehungen

Es bleibt schließlich noch die Frage zu stellen, ob und wie Beziehungen zwischen Operatoren möglich sind, die unterschiedliche Zentralfunktionen symbolisieren:

1. Da die vorangegangenen Überlegungen sich bei der Beantwortung der Frage nach der Anwendbarkeit der logischen Funktoren allgemein auf die Darstellung der Zentralfunktionen der Äußerungen durch die Operatoren und nicht nur speziell auf diejenige des Präskriptionsoperators bezogen, bestehen keine Bedenken, die dortigen Ergebnisse auch auf den Deskriptions- und den Evaluationsoperator zu übertragen. Dann steht auch einer interfunktionalen Anwendung nichts mehr im Wege.

8 9

Follesdal/Hilpinen (1971), p. 23.

V I . Interfunktionale Beziehungen

319

2. Insbesondere läßt sich die durch die Beschreibung eines tatsächlichen Ereignisses bedingte Präskription wie folgt symbolisieren: D (ρ) > Ρ (q). Wie mit einer Präskription als Bedingung gilt auch hier der modus ponens (bzw. praktische Syllogismus)90:

T8:(D(p) > P ( q ) ) & D ( p ) / P ( q )

Schließlich gelten dann aber auch:

T9:(E(p) > P(q))&E(p)/P(q)und T10: (D (ρ) > E (q)) & D (ρ) / E (q)

3. Wie Philipps91 mit Recht darlegt, ist aber nicht gültig: (D (ρ) > Ρ (q)) & Ρ (ρ) / Ρ (q). Wenn man unter der Bedingung, daß etwas als bestehend beschrieben wird etwas tun soll, so muß man es noch lange nicht tun, wenn es nur geboten ist. Hier kehrt in anderer Form die schon im Rahmen von T4 diskutierte Problematik wieder.

4. Nach den im letzten Kapitel gefundenen Ergebnissen gelten nicht:

D(p)/E(p) Ε (ρ) / Ρ (p) D(p)/P(p)

5. Die Ableitung einer argumentgleichen Evaluation aus der Präskription geht nur im Falle der Zusatzbedingungen der Autonomie (F. I. 3., Η. II. 1.) des Sprechers (a) von einer Präskription durch einen anderen Sprecher (x).

9 0

Vgl. Weinbeiger (1970), S. 56; Philipps (1974), S. 50, F N 65.

9 1

Philipps (1989), S. 290.

320

I. Ausgangspunkte einer trifunktionalen Logik der Präskriptionen

Dabei lassen sich unterschiedliche Sprecher durch kleinbuchstabige Indizes am Operator symbolisieren. Es gilt also:

T l l : P a (p) & D (-P x (P a (p))) / E a (p)

6. Nicht möglich ist die Ableitung der Deskription einer Verhaltensweise aus ihrer Präskription: Ρ (ρ) > D (ρ). Gültig ist jedoch die Ableitung der Deskription des Ausgangszustands (q):

T12:P(p)/D(q)92

Das gleiche gilt fur die Evaluation:

T13: E (p) / D (p).

Nimmt man modale Deskriptionen an (Dj^), so gilt auch93:

T 1 4 : P ( p < q , r > ) / D M (p,r) 94

VII. Das Verbot 1. Es ist allgemein in deontischer Logik und Normentheorie akzeptiert, daß der Begriff des Verbots mit Hilfe des Gebots, also der Präskription, definiert

9 2

Folgende von Weinberger (1979), S. 68, 99, aufgestellte Prämisse ist also ungültig: Es

gibt keine Aussageschlußfolgerung aus Prämissen, unter denen kein Aussagesatz auftritt. 9 3

Anderer Ansicht ist hier Hintikka (1971), p. 84.

9 4

Ebenso: "Sollen impliziert Können": Albert (1968), S. 76; (1978), S. 20.

vn. Das Verbot

321

werden kann95. Um deutlich zu machen, daß auch das Verbot Präskriptionscharakter hat, empfiehlt es sich, nicht wie es oft geschieht, einen eigenen Verbotsoperator einzuführen, sondern die Verbotspräskription durch eine großbuchstabige Indizierung des Präskriptionsoperators zu kennzeichnen. So ergibt sich:

T15: P V ( p ) / P ( - p ) T16: Ρ (-ρ) / Ργ (ρ)

Wenn es verboten ist, ρ zu tun, umgekehrt). Weiter gilt:

Hann

ist es geboten, ρ zu unterlassen (und

T17:P(p)/Pv(-p) T18:PV(-P)/P(P)

2. Gegen die Gleichsetzung von Gebot und Verbot hat sich Philipps gewandt96. Er verweist dabei nicht nur auf die Unterschiede von Leistungs- und Unterlassungsansprüchen bzw. Begehungs- und Unterlassungsdelikten im Strafrecht, sondern v. a. auch darauf, daß bei einem Gebot eine Zeitbestimmung nötig sei, bis zu der es erfüllt werden solle, während ein Verbot zeitlos formuliert werden könne. Philipps übersieht aber, daß diese fundamentalen Unterschiede zwar ohne Zweifel bestehen, jedoch (wie auch die Namen "Begehungs- und Unterlassungsdelikte" schon zeigen) ihre Wurzel nicht auf der Operatorebene, sondern auf der Argumentebene haben. Es besteht eine grundsätzliche Dichotomie der Verhaltensmöglichkeiten von Tun und Unterlassen, die auch die von Philipps betonten temporalen Folgen hat. Man könnte somit - auch im Rahmen der Rechtswissenschaft - gut mit Ρ (ρ) und Ρ (-ρ) auskommen und hätte die gleichen von Philipps hervorgehobenen Konsequenzen. Es dient nur Praktikabilitäts- und Verstärkungsgründen (größere Apellfunktion), schon mittels des

9 5

v. Wright (1974), S. 121; v. Kutschera (1973), S. 21; Lampe (1970), S. 55.

9 6

Philipps (1989), S. 283; (1974), S. 21 und passim.

21 v. d. Pfordten

I. Ausgangspunkte einer trifunktionalen Logik der Präskriptionen

322

Verbots quasi "vor die Klammer des Arguments zu ziehen", daß etwas nicht getan werden soll. Die präskriptive Zentralfunktion des Operators bleibt dabei aber die gleiche.

3. Eng verwandt mit dem Ross'sehen Paradox ist das Paradox des guten Samariters97: Aus Ργ (ρ) ist Ργ (p&q) ableitbar, denn aus Ρ (-ρ) folgt mit der Adjunktionseinfuhrung Ρ (-pv-q). Da die Adjunktionseinfuhrung aber ausgeschlossen wurde, gilt hier die gleiche Erklärung wie beim Ross'sehen Paradox (IV. 2. a)).

VIII· Erlaubnis und Rücknahme als Deskriptionen

1. Der Status der Erlaubnis ist schon seit langem in deontischer Logik und Rechtstheorie umstritten. Teilweise wird formuliert: "Was nicht verboten ist, das ist erlaubt" und umgekehrt98. Hiergegen kamen gerade von Vertretern der Rechtstheorie und der Rechtsphilosophie Einwände. Eine Erlaubnis müsse etwas "anderes Stärkeres" sein, als die bloße Abwesenheit eines Verbots99. Sie verkörpere außer dieser negativen Seite auch die positive Seite eines von der Rechtsordnung anerkannten Wertes. Die Annahme einer lückenlosen, geschlossenen Normenordnung sei "mit einer freiheitlichen, pluralistischen und toleranten Gesellschaft kaum vereinbar. Ist man bestrebt, Wertungswidersprüche zwischen den verschiedenen Normenordnungen - Moral, Religion, Sitte, Recht ... - möglichst zu vermeiden, so kommt man ohne Modell des "rechtsfreien Raumes" ... schwerlich aus"100. Nach einem Kompromißvorschlag, der immer mehr Anhänger zu gewinnen scheint, kann man zwei Erlaubnisbegriffe unterscheiden. Schon Kelsen hatte

9 7

Vgl. Haberstumpf (1981), S. 418.

9 8

v. Kutschera (1973), S. 22; Kelsen (1960), S. 16; Lachmayer (1977), S. 78; Engisch

(1956), Einfuhrung in das juristische Denken, S. 23. 9 9

Philipps (1989), S. 284f; (1966), S. 210ff.

1 0 0

Kaufmann (1989), S. 423. Vgl. auch Weinberger (1970), S. 233, der ein Normensystem

immer dann als offen ansieht, wenn nichts anderes festgelegt ist.

Vm. Erlaubnis und Rücknahme als Deskriptionen

323

neben der negativen Erlaubnis auch eine positive Erlaubnis gekennzeichnet101. Die beiden soeben als gegensätzlich ausgewiesenen Erlaubnisbegriffe werden im Rahmen dieses Kompromißvorschlags alternativ zugelassen. Nach einem schwachen Erlaubnisbegriff ist erlaubt, was nicht verboten ist, während ein starker Erlaubnisbegriff als zweiter deontischer bzw. normativer Grundbegriff den positiven Ausspruch der Erlaubnis symbolisiert102. Dies fuhrt dann zur Einfuhrung eines eigenständigen Erlaubnisoperators 103. Dabei sind nach v. Wright drei mögliche Formen der starken Erlaubnis zu unterscheiden: die bloße Tolerierung (die Autorität kümmert sich nicht um das Tun), das Recht (die Autorität spricht ein Verbot an jemanden aus, andere am Tun zu hindern) und der Anspruch (die Autorität spricht ein Gebot aus, zum Tun zu befähigen) 104. Die Frage, welcher Erlaubnisbegriff tatsächlich gilt, ist keine der Logik, sondern hängt von der individuellen Beschaffenheit der Rechtsordnung oder des Normensystems ab 1 0 5 .

2. Vom Ausgangspunkt des trifunktionalen Modells stellt sich zuallererst die Frage, zu welcher der drei Zentralfunktionen die Äußerung einer Erlaubnis zuzuordnen ist? Praktisch sämtliche Autoren sind sich darüber einig, die Erlaubnis als "Norm" zu qualifizieren 106 (ein Terminus, der bisher wegen seiner Ambiguität möglichst vermieden wurde). Dagegen ist auch nichts einzuwenden, solange man "Norm" nicht automatisch mit "normativ" bzw. "präskriptiv" identifiziert, wie etwa Lachmayer107, Löffelholz 108 oder Keuth109. v. Wright ist vorsichtiger und vertritt die Ansicht, daß die Kennzeichnung als "präskriptiv" den Normbegriff zu stark einschränke und daß es

1 0 1

Kelsen (1960), S. 16.

1 0 2

v. Wright (1974), S. 122ff; (1963), p. 85ff, S. 92ff; Weinberger (1970), S. 234; Opalek

u. Wolenski (1973), On Weak and Strong Permissions, S. 169ff. 1 0 3

Ζ . Β. bei Lampe (1970), S. 36: Die Erlaubnis ist eigener Satzmodus.

1 0 4

v. Wright (1963), p. 89, S. 96.

1 0 5

v. Wright (1974), Normenlogik, S. 122f.

1 0 6

Lachmayer (1977), S. 78; Philipps (1989), S. 281; v. Wright (1963), p. 85, S. 92;

Weinberger (1970), S. 52, 55; Ross (1968), p. 120. 1 0 7

Lachmayer (1977), S. 26: "Unter einer Norm wird eine Information verstanden, deren

Inhalt (Sinn) durch ein Sollen gekennzeichnet ist." 1 0 8

Löffelholz (1961), Die Rechtsphilosophie des Pragmatismus, S. 71.

1 0 9

Keuth (1974), S. 64.

I. Ausgangspunkte einer trifunktionalen Logik der Prskriptionen

324

Normen gebe, fur die sowohl die Kennzeichnung als "deskriptiv" als auch als "präskriptiv" unangemessen erscheine110. Nach Weinberger 111 sollen Normsätze "das Handeln der Menschen beeinflussen" und drücken neben dem Sollen auch ein "Dürfen" aus. Für Kelsen drückt die Norm zwar aus, daß sich ein Mensch in bestimmter Weise verhalten "soll". Er faßt aber den Begriff des "Sollens" weiter als gewöhnlich. Dieser umfasse auch das "Dürfen" und "Können" und bezeichne den "normativen Sinn eines intentional auf das Verhalten anderer gerichteten Aktes"112. Nach Engisch gibt es dagegen einerseits Erlaubnisse, die Verbote einschränken und damit Teil des Imperativs sind, und zum anderen Aufhebungen von Imperativen, die selbst weder Imperative noch Bestandteile von Imperativen sind 113 . Bis auf die letzte Position von Engisch manifestieren alle diese Versuche, die Erlaubnis mit Geboten und Verboten unter einem einheitlichen "Normbegriff" "zusammenzuhalten", ihren Ursprung in einer monofunktionalpräskriptiven Theorie der Norm- und Rechtsäußerungen. Sie verschleiern damit aber eine zentrale Einsicht: Die Erlaubnis weist eine deskriptive Zentralfunktion und keine präskriptive auf. Die Erlaubnis hat zwar kausalen Einfluß auf das Verhalten anderer, aber das unterscheidet sie nicht von anderen deskriptiven Äußerungen. Wenn man jemandem den Weg zum Bahnhof erklärt, so hat das eine verhaltensbeeinflussende Wirkung, ohne daß mit dieser Erklärung nur ein Quentchen Präskriptivität verbunden wäre. Man muß strikt zwischen der kausalen Verhaltensbeeinflussung durch Äußerungen und tatsächliche Handlungen (Wegräumen einer Straßensperre etc.) und der verbal-semantischen Verhaltensanleitung der Präskription unterscheiden. Der Erlaubnis fehlt aber - auch wenn sie als starke Erlaubnis im Rahmen einer tatsächlichen Äußerung erfolgt - jegliche über die bloße Verhaltensbeeinflussung hinausgehende verhaltensanleitende Wirkung 114, die ihr einen präskriptiven Charakter verleihen würde. Wenn eine Baugenehmigung gewährt wird, ist damit keine Verpflichtung zum Bauen verbunden. Wenn eine Fahrer1 1 0

v. Wright (1963), p. 3, S. 20.

1 1 1

Weinbeiger (1970), S. 55.

1 1 2

Kelsen (1960), S. 4f.

1 1 3

Engisch (1956), S. 23f.

1 1 4

Zumindest gegenüber dem Adressaten der Erlaubnis. Wie oben daigestellt wurde, kann

die Erlaubnis naturlich mit Geboten und Veiboten an andere veibunden sein.

V i n . Erlaubnis und Rücknahme als Deskriptionen

325

laubnis erteilt wird, muß sich der Inhaber niemals in seinem Leben ins Auto setzen. Die Erlaubnis als Deskription beschreibt eine tatsächliche Handlung des Sprechers bzw. der erlaubnisgebenden Autorität. Es handelt sich dabei um eine Deskription, bei der beschreibende Sprache und Handlung, wie beim Versprechen (vgl. oben F. IV. 2. b)), eng und unauflöslich miteinander verbunden sind. Dabei können zwei unterschiedliche Handlungen des Sprechers beschrieben werden: zum einen die Aufhebung eines bestehenden Verbots, und zum anderen die Bereitschaft des Sprechers, die fragliche Handlung tatsächlich zu dulden. Beide Möglichkeiten sind jedoch nicht scharf zu trennen, da oft auch gesellschaftliche Konventionen, die nur bedingt präskriptiven Charakter haben, auf diese Weise aufgehoben werden: So etwa, wenn jemand einem anderen auf Nachfrage die Erlaubnis erteilt, sich an einen Tisch im Restaurant dazu zu setzen. Dort, wo ein Zusammenhang mit realisierten Präskriptionen gegeben ist, besteht die Funktion der Erlaubnis also darin, die Aufhebung (p) von Verboten zu beschreiben (1). Wenn dagegen nicht Verbote, sondern Gebote aufgehoben werden, kann man von einer "Freistellung" sprechen (2). Will man allgemein die Aufhebung einer Präskription ausdrücken, so kann man dies als "Rücknahme"115 kennzeichnen (3). Diese drei Deskriptionsformen werden durch großbuchstabige Indizes beim Deskriptionsoperator gekennzeichnet. Es gilt somit:

(1) T19: D E (q) / D (p

) (2) T20: Dp (q) / D (p

) ( 3 ) T 2 1 : D R ( q ) / D ( p )

3. Auch die schwache Erlaubnis (Dgg) kann nur deskriptiv interpretiert werden. Sie beschreibt, daß ein bestimmtes Verhalten nicht verboten ist:

1 1 5

Im deutschen Verwaltungsrecht spricht § 48 VwVfG von der "Rücknahme" eines Ver-

waltungsaktes, ohne zu unterscheiden, ob es sich um eine Präskription zum Tun oder zum Unterlassen handelt.

326

I. Ausgangspunkte einer trifunktionalen Logik der Präskriptionen

T22: D S E ( p ) / D ( - P ( - p ) )

Aus der Negation dieser Beschreibung kann nicht auf eine Präskription geschlossen werden: Denn es ergibt sich dann nur D (-D (-P (-p))), aber nicht Ρ (-ρ). Was nicht erlaubt ist, ist also noch nicht verboten. Dort, wo aufgrund der Abwesenheit einer Erlaubnis ein Verbot bestehen soll, liegt eindeutig eine eigenständige Präskription vor, da nicht ohne weiteres von einer Deskription logisch die Präskription abgeleitet werden kann (H. III. 2.).

4. Hinsichtlich der These, daß das, was nicht verboten sei, erlaubt sei, gilt 116 : Die Negation des Verbots kann nur deskriptiv interpretiert werden, weil eine direkte Negation des Präskriptionsoperators ausgeschlossen ist, also: D (-P (-p)). Dieser Erlaubnisbegriff ist dann bloße Beschreibung der Struktur des Normensystems und leistet keinesfalls die "Schließung" oder "Lückenlosigkeit" des Präskriptionssystems, denn er stellt quasi nur eine auf der Metaebene erfolgende Beschreibung dieses Systems dar.

5. Weiter problematisch ist die Gültigkeit von "Was geboten ist, ist auch erlaubt." 117 Hier stellt sich schon die Frage der Symbolisierung: Ρ (ρ) / Djj (p

) (vgl. T19) ist nicht adäquat, da ja kein vorher gegebenes Verbot aufgehoben wird. Ρ (ρ) / D (-P (-ρ)) wäre zwar eine denkbare Symbolisierung, würde aber nur gelten, wenn gegenläufige Gebote von anderen Autoritäten logisch ausgeschlossen wären. Dies ist aber nicht der Fall. Dann ist aber eine Begrenzung auf die Person des Sprechers (a) nötig. Es gilt also lediglich:

T23:Pa(p)/Da(-Pa(-p))

1 1 6

v. Kutschera (1973), S. 22.

1 1 7

Vgl. hieizu: Wagner/Haag (1970), S. 95; v. Wright (1951), S. 14; (1963), p. 158, S.

158f. Dieser Satz wird bejaht von Rödig (1980), S. 181, 203.

. Erlaubnis und Rücknahme als Deskriptionen

327

Wenn jemand etwas gebietet, dann muß er selber die Beschreibung akzeptieren, daß er es nicht verboten hat. Dies paßt zum obigen (IV. 2. d)) Ausschluß von Ρ (p&-p).

6. Man könnte sich weiter fragen, ob es nicht wenigstens möglich ist, ein Normensystem unter der Bedingung einer Lücke und einer entsprechenden Präskription zu schließen: D (-P (-p) & (D (-P (-ρ)) > Ρ (-ρ)) / Ρ (-ρ). Logisch ausgeschlossen ist dies nicht. Aber praktisch steht entgegen, daß sich keine vollständige Liste der menschlichen Handlungen erstellen läßt 118 . Je größer aber die tatsächlichen Einschränkungen menschlicher Verhaltensmöglichkeiten sind, desto leichter wäre demnach die Verwirklichung einer entsprechenden Schließungsregel. So könnte sie möglicherweise allenfalls im Rahmen der engen Einschränkungen des Lebens in einem Gefängnis verwirklicht werden.

7. Fraglich bleibt allerdings bei der soeben entwickelten Interpretation der Erlaubnis als Deskription, ob nicht Philipps mit seiner oben angesprochenen (V. III. 1.) Qualifizierung der Erlaubnis als Bewertung doch recht hat. Dazu muß man sich daran erinnern, daß ja die Präskription - sofern sie autonom erfolgt und nicht heteronom - immer auch eine evaluative Komponente enthält (F. I. 3.). Deijenige, der eine Handlung verbietet, drückt damit zugleich aus, daß er die Handlung schlecht bewertet. Erfolgt nun mit der Erlaubnis oder der Freistellung eine Rücknahme der Präskription, so wird gleichzeitig auch die negative Bewertung der Handlung zurückgenommen. Diese Rücknahme ist durch zwei Merkmale gekennzeichnet: Zum einen handelt es sich nicht nur, wie bei der Rücknahme der Präskription, um eine Deskription der Aufhebung der Wertung, sondern um eine eigenständige positive Wertung des aufhebenden Subjekts, sofern - und hier erfahrt Philipps' Überlegung eine Einschränkung - die Aufhebung autonom erfolgt. Die Verwaltungsbehörde, die nicht nach eigener Entscheidung, sondern nur auf Anweisung der Fachaufsichtsbehörde ein Bauverbot aufhebt, trifft keine eigene positive Bewertung der Baurechtsmäßigkeit.

1 1 8

Vgl. v. Wright (1963), p. 87f, S. 95.

328

I. Ausgangspunkte einer trifunktionalen Logik der Präskriptionen

Bei der positiven Bewertung des nunmehr zugelassenen Verhaltens handelt es sich nicht um eine absolut-positive Bewertung, sondern nur um eine relative. Die Ausführung des Verhaltens wird nur besser bewertet als die Nichtausführung. Der Gesetzgeber, der die Tötung in Notwehr erlaubt, hält die Tötung eines Menschen nicht an und fur sich fur gut, sondern nur in einer bestimmten Situation für besser als die Folgen, die im Falle der Nichttötung eintreten würden.

IX. Qualifikation

Denkbar wäre es, das Argument eines Operators oder den Operator selbst zu quantifizieren. Dementsprechend unterscheidet etwa Weinberger 119 "innere" und "äußere" Qualifikation und hält beides für zulässig. Hinsichtlich der Quantifikation des Arguments bestehen keine Bedenken. Man kann also unter Verwendung der üblichen Symbolisierungen aufstellen:

T24: Ρ (AxFx) / Ρ (Fxj & Fx 2 & ....)

Problematisch ist aber die Interpretation der äußeren Quantifikation. Auch wenn etwas "für alle" oder "für ein" vorgeschrieben oder beschrieben wird, so bleibt doch die Behauptung selbst unquantifiziert. Αχ Ρ (Fx) ist also nicht zulässig. Möglich ist nur Ρ (Αχ Ρ (Fx): "Es wird geboten, daß allen x F geboten wird."

1 1 9

Weinbeiger (1970), S. 243. Ebenso: Wagner/Haag (1970), S. 107f.

J. Zur Bedeutung der Rechtssprache

Da Trialismus und Trifunktionalismus aller sprachlich«! Kommunikation zugrunde liegen, gilt dies in gleicher Weise fur einzelne Teilgebiete der Sprache bzw. der Interaktion, gleichgültig, worin der Grund fur ihre besondere Kennzeichnung oder Absonderung besteht. Auch die Rechtssprache findet somit im trialistischen und trifunktionalistischen Rahmen statt1. Dies schließt auch die Anwendbarkeit der in Kapitel C. herausgearbeiteten drei allgemeinen, die trifunktionale Kategorisierung überlagernden, Faktoren der Bedeutungsbestimmung (referentielles, pragmatisches und strukturalistisches Moment) ein. Der weite Bereich der Rechtssprache läßt sich in die Gesetzessprache2 (die Sprache der Gesetze im materiellen Sinne), die Urteilssprache (die Sprache der gerichtlichen Urteile), die Gerichtssprache (rechtliche Äußerungen vor Gericht und im Zusammenhang mit Prozessen), die Verwaltungssprache (rechtliche Äußerungen der Verwaltung: Verwaltungsakte, Richtlinien etc.), die Vertragssprache (die Sprache von Verträgen), die Rechtswissenschaftssprache (rechtswissenschaftliche Abhandlungen) und das allgemeine Rechtsgespräch (Gesetzesberatung im Parlament, Anwaltsgespräch, politische Diskussion um Gesetze und Gesetzesvollzug) unterteilen. Auch für diese weitere Unterteilung gilt die soeben für die Rechtssprache als Ganzes betonte grundsätzliche trifunktionale Einbettung.

1 Schmidt (1988), Zur "Bedeutung" von Rechtssätzen, S. 447, 459, meint offensichtlich, daß eine völlige Separierung der Rechtssprache von den allgemeinsprachlichen Gnindlagen möglich sei. Er übersieht aber, daß selbst dann, wenn sich ein Sprachteil nur im Rahmen einer einzigen Zentralfunktion bewegt, trotzdem notwendigerweise die trialistische Einbettung bestehen bleibt. 2

Die Äußerungen dieses Teils der Rechtssprache sind nachfolgend gemeint, wenn von

"Rechtsnormen" die Rede ist. Zu einem noch weiteren Begriff der Rechtsnorm, der auch richterliche Urteile einschließt: Neumann (1977), Acht Thesen zur Kritik und Metakritik der Rechtesprache, S. 122.

330

J. Zur Bedeutung der RechUsp riche

Die Unhintergehbarkeit des trialistischen bzw. trifunktionalen Kommunikationsrahmens verhindert jedoch nicht, daß einzelne Gebiete der Sprache sich nur auf eine der drei Zentralfunktionen beschränken. Die Sprache der Naturwissenschaften enthält etwa zum überwiegenden3 Teil deskriptive Äußerungen. Und es läßt sich ohne weiteres die Konstruktion einer rein deskriptiv interpretierten Sprache der Aussagenlogik vorstellen. Die normale Alltagssprache besteht dagegen offensichtlich aus einer bunten Vielfalt von Äußerungen mit allen drei Zentralfunktionen 4. Es wäre also denkbar, daß die Rechtssprache - oder jedes der oben angeführten Teilgebiete von ihr - sich auf eine (oder zwei) der drei Zentralfunktionen beschränkt5. Ob dies der Fall ist, und welche sonstigen Besonderheiten rechtliche Äußerungen aufweisen, soll nachfolgend untersucht werden. Dabei läßt sich schon vorab feststellen, daß die semantische Interpretation der Rechtssprache in höchstem Maße umstritten ist6 und sich eine ähnliche Vielfalt und Extremität der Positionen herausgebildet hat wie im Rahmen der allgemeinsemantischen und der metaethischen Diskussion. Parallellaufend ist v. a. auch die Tendenz der Theorieentwicklung: Am Anfang standen sich monistische Modelle mehr oder minder schroff gegenüber. Die erratischen Ausgangspositionen wurden und werden jedoch zunehmend kritisiert und durch pluralistische Theorien abgelöst. Bemerkenswert ist weiterhin, daß in der Semantik der Rechtssprache ähnlich wie in der Metaethik (vgl. oben Kapitel E.) Versuche festzustellen sind, Präskriptionen und Evaluationen miteinander zu identifizieren oder aufeinander zu reduzieren. Betont werden soll schließlich vorab, daß ähnlich wie bei den metaethischen Theorien scharf zwischen der - nur selten explizierten - allgemein-semantischen Theorie eines Autors und seiner rechtssemantischen Position unterschieden werden muß. Die nachfolgende Systematisierung bezieht sich auf letztere. J Die vorsichtige Formulierung deutet an, daß auch hier Evaluationen und Proskriptionen zu finden sind. 4

Soziologisch differenzierend hieizu: Rodingen (1977), Rechtstheorie als Kritik des juristi-

schen Sprachgebrauchs, S. 52: Er gliedert schichtspezifisch und macht fur die Unterschicht und die werkbearbeitende Bevölkerung eine Verständigung durch Anleitungen aus, während sich die Mittelschicht durch ihre Verwendung von Auasagen charakterisieren läßt. 5

Oder in der Sprache der Sprechakttheorie ausgedrückt: daß es im Rahmen der Rechtaspra-

che nur eine einzige relevante illokutionäre Komponente gibt, vgl. Schmidt (1988), S. 447. 6

Opalek (1986), S. 139. Wróblewski (1964), The Problem of the Meaning of the Legal Norm, p. 253.

I. Die deskriptiv-monistische Interpretation der Rechtasprache

331

I. Die deskriptiv-monistische Interpretation der Rechtssprache

Es gibt verschiedene Ausgangspunkte, von denen aus Rechtstheoretiker und Rechtsphilosophen zu der Auffassung gelangten, die Rechtssprache sei im wesentlichen deskriptiv zu interpretieren.

1. Das *Sollen " als objektive Tatsache

Sieht man im "Sollen" nicht primär eine verhaltensleitende sprachliche Äußerung des Menschen, sondern eine objektiv oder absolut existierende Entität oder Idee bzw. eine göttliche Weisung, so liegt es - wie bei der deskriptiven Interpretation der praktischen Sprache durch Wertobjektivismus7 (v. Kutschera) und metaethischem Intuitionismus (Moore) (vgl. oben D. III., V., VII.) - nahe, die Rechtssprache als bloße Beschreibung dieser objektiven Gegebenheiten anzusehen8. Vor allem eine intellektualistisch orientierte naturrechtliche Position9 mit entsprechenden metaphysischen bzw. substanzontologischen Annahmen fuhrt somit - zumindest tendenziell - zu einer (zumeist impliziten) deskriptiven Interpretation der Rechtssprache oder wenigstens der Gesetzessprache. Je freier dabei allerdings die Fähigkeit des Menschen bei der Formulierung von Rechtsäußerungen gedacht wird, desto stärker können diese auch präskriptiven Charakter haben. Wenn etwa bei Thomas v. Aquin lex naturalis und lex humana im wesentlichen als Abbilder der lex aeterna begriffen werden10, die durch menschliche Vernunft erkannt wird 11 , so ist damit der Boden fur eine deskriptive Interpretation der Rechtssprache bereitet.

7

Vgl. Coing (1950), S. 204: "apriorische Weiteinsicht".

8

Vgl. dazu Wróblewski (1964), p. 254.

9 Etwa die von Thomas v. Aquin: Vgl. Welzel (1951), Naturrecht und materiale Gerechtigkeit, S. 57ff. Mackie (1977), S. 297, betont die Nahe von Naturrecht und ethischem Objektivismus. 1 0

Vgl. Kaufmann (1976a), S. 43.

1 1

Coing (1950), S. 24.

J. Zur Bedeutung der RechUprche

332

Nach der schon im Rahmen der Darstellung der metaethischen Theorien (D. VII. 1. b)) vertretenen Position sind die metaphysischen Annahmen, die eine solche semantische Interpretation der Rechtssprache erlauben würden, nicht begründbar. Aber selbst wenn dies gelänge, so müßte trotzdem der verhaltensleitende Charakter von einigen Äußerungen der Gesetzessprache in Betracht gezogen werden, so daß sich die monistisch-deskriptive Interpretation der Rechtssprache verbietet.

2. Das "Sollen" als psychosoziale Realitât

Faßt man das "Sollen" nicht metaphysisch, sondern als psychosoziale Realität12 in einer Gesellschaft, als von der Mehrheit der Bevölkerung anerkannte Verhaltensregelmäßigkeit oder - wie Luhmann13 - als "kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartungen", so liegt es nahe, die Rechtssprache nur als deren Beschreibung anzusehen. Dies entspricht den naturalistischen metaethischen Theorien (vgl. D. V.), die ethische und moralische Äußerungen auf Beschreibungen einer psychischen oder sozialen Realität reduzieren wollen. Es braucht kaum betont zu werden, daß man vom trifunktionalen Ausgangspunkt diese monofunktionale Reduktion nicht akzeptieren kann.

3. Die Wahrheitsfunktionalität

von Rechtsaussagen

Während fur die soeben dargestellten Positionen metaphysische bzw. systemtheoretische Annahmen über Ausgangspunkte der Rechtserkenntnis 1 2

Opalek (1986), S. 140, verweist hier auf den skandinavischen Realismus, v. a. auf Lund-

stedt (1932), Die Unwissenschaftlichkeit der Rechtswissenschaft, S. 252f. Vgl. dazu: Wróblewski (1964), p. 255. 1 3

Luhmann (1980), Rechtssoziologie, S. 43. Interessanterweise bringt Luhmann die Diffe-

renz zwischen Deskription und Präskription nicht ganz zum Verschwinden, denn er unterscheidet zwischen kognitiven und normativen Erwartungen, je nachdem, ob die enttauschten Erwartungen geändert und der Wirklichkeit angepaßt oder im Gegensatz zur Wirklichkeit beibehalten werden, S. 42.

. Die

skriptiv-monistische Interpretation der Rechtsprache

333

grundlegend sind, fuhren Rechtstheoretiker wie Rödig und Klug 14 logische Erwägungen fur eine deskriptive Interpretation der Rechtssprache ins Feld. Dies geschieht in ähnlicher Weise und aus ähnlichen Gründen wie bei den Versuche von deontischen Logikern, etwa v. Kutscheras15, eine deskriptive Interpretation von Präskriptionen zum semantischen Ausgangspunkt der deontischen Logik zu machen (vgl. oben 1.1. 3.). Nach Klug sind die Normen vom jeweiligen Normgeber - dem Gesetzgeber oder Richter - als Aussagen formuliert, "und zwar als solche, die etwas darüber aussagen, ob es wahr oder falsch ist, daß etwas geboten, verboten oder erlaubt ist." 16 Das Gesolltsein wird als Eigenschaft definiert. Zentrales Movens dieses Modells ist die Sicherung der Anwendbarkeit des Aussagen-, Prädikaten·, Klassen- und Relationenkalküls mit seiner herkömmlichen wahrheitsfunktionalen Interpretation auf die Rechtssprache. Diese Position leidet aber an mehreren Mängeln. Zum ersten geht sie von einer allgemeinen monofunktional-deskriptiven Semantik aus und überträgt diese ohne weitere Berücksichtigung anderer Sprachfunktionen auf die Rechtssprache. Zum zweiten eihebt sie ohne hinreichende Begründung die wahrheitsfunktionale Folgerung zur einzig möglichen. Sie mißachtet damit die im letzten Kapitel gewonnenen Einsichten, daß dies nur für intraargumentative Folgerungen gilt. Übersehen wird schließlich auch, daß zumindest die Gesetzessprache partiell auch verhaltensleitenden Charakter hat.

4. Rechtsrealismus und Rechtspragmatismus

Nach der seit Mitte bzw. Ende des 19. Jhd.s v. a. in den USA vielfach vertretenen allgemeinen philosophischen Theorie des Pragmatismus werden die Wahrheit und der Wert von Ideen als bloße Funktion des erfolgreichen Handelns angesehen17. Diese Grundthese führt zum Postulat einer Einebnung von

1 4

Rödig (1980), Schriften zur juristischen Logik, S. 188ff; Klug (1951), S. 201 und passim.

1 5

v. Kutschera (1973), S. 11.

1 6

Klug (1951), S. 201.

1 7

Löffelholz (1961), Die Rechtsphilosophie des Pragmatismus, S. 3.

334

J. Zur Bedeutung der RechUprche

Sein und Sollen, von Theorie und Praxis, von Deskription und Präskription18. Sie ist in hohem Maße kontraintuitiv. Während Peirce im Rahmen dieser Reduktion 1903 noch theoretische Urteile als deskriptiv-präskriptive 19 Konditionale verstand20, also eine partielle Ausweitung der präskriptiven Komponente auf die deskriptive Sprache befürwortete, folgte die seit Beginn des 20. Jhd.s in den USA vorherrschende rechtstheoretische Schule des Rechtsrealismus und Rechtspragmatismus21 dem entgegengesetzten Nivellierungskonzept. Die Meinung, Recht bestehe aus normativen bzw. präskriptiven Regeln, wurde zugunsten einer deskriptiven Interpretation zurückgewiesen. Nach Holmes' berühmtem Ausspruch ist das Recht die "Prophezeiung, wie ein Gericht sich tatsächlich veifaalten wird. " 2 2 Die Rechtsregel soll danach Gesetzmäßigkeiten im Verhalten von Gerichten herausstellen, auf die sich Voraussagen stützen lassen, sie soll nicht Norm für zukünftige Entscheidungen sein23. Diese Bestimmung ist jedoch allenfalls aus der Anwaltsperspektive gerechtfertigt, da der Anwalt sich die Frage stellt, mit welcher Entscheidung er zu rechnen hat. Der Rechtsrealismus übersieht die zumindest partiell - verhaltensleitende Funktion von Rechtsnormen. Die Zentralfunktion der Äußerung, mit der sich eine rechtssetzende Autorität - sei es das Parlament oder der Richter - an andere wendet, ist mit der Aussage über den wahrscheinlichen Verlauf eines zukünftigen Verhaltens nicht erfaßt.

5. Die deskriptive

Sanktionstheorie

Bohnert versucht von einem behavioristischen Grundansatz aus Präskriptionen unter Heranziehung der jeweils ausgesprochenen Sanktionen 1 8

19 1 7 2 0 2 1

Löffelholz (1961), S. 42. Das Antecedens ist deskriptiv, das Konsequens präskriptiv. Peirce (1903), 9 18, p. 15. Vgl. Schulz (1988), S. 58. Auf Detailunterschiede der einzelnen Positionen kommt es hier nicht an. Vgl. zu diesen

Theorien: Coing (1949), Neue Strömungen in der nordamerikanischen Rechtsphilosophie; Löffelholz (1961); Hait (1977); Krawietz (1978), Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis, S. 115£T; Schulz (1988); Dworkin (1986), p. 36. 2 2

Holmes (1897), The Path of the Law, p. 75.

2 3

Löffelholz (1961), S. 73.

Π. Die priskriptiv-monistische I t e r p r e t i o n der Rechtprache

335

deskriptiv zu interpretieren 24. "A soll X" wird dann interpretiert als bedingte Deskription "Wenn A nicht X tut, dann wird er von der Sanktion S getroffen", die nur in einigen Fallen aufgrund von Eilbedürftigkeit auf die bloße Handlungsanweisung reduziert sein soll25. Dies ist aus mehreren Gründen unhaltbar: Es gibt Präskriptionen, Gesetze und Verwaltungsakte, die keine Sanktion beinhalten. Dies gilt auch dann, wenn man den Sanktionsbegriff denkbar weit faßt und auch bestimmte Rechtsfolgen darunter versteht (Nichterwerb des Eigentums, Ungültigkeit der Ehe u. i.). So bestand etwa bei Nichterfüllung der Gurtanlegepflicht in Kraftfahrzeugen früher (vor Einfuhrung des § 49 I Nr. 20a StVO) keine Sanktion. In der Praxis wird auch nicht jeder Verstoß sanktioniert. Die Interpretation von Bohnert kann diese Fälle nicht erklären.

II· Die präskriptiv-monistische Interpretation der Rechtssprache Nach dieser oft als "Imperativentheorie" bezeichneten Position26 ist die Rechtssprache präskriptiv zu interpretieren. Dabei wird v. a. auf die Gesetzessprache bzw. die Rechtsnorm abgestellt. Alle anderen Bereiche der Rechtssprache sind nur Derivate, die von diesem präskriptiven Kern abhängen. Diese Theorien laufen zu den Bemühungen in der Metaethik - v.a. von Hare (D. XIII. 1.) - parallel, die praktische Sprache präskriptiv zu interpretieren.

i. Die Theorie der Zwangsbefehle

Im angelsächsischen Bereichfindet sich schon bei Hobbes die Interpretation der Gesetze als Befehle 27. Besonders akzentuiert wurde diese Theorie dann im 2 4

Bohnert (1945), The Semiotic Status of Commands, p. 302ff, 306. Vgl. dazu Haag

(1971), S. 139; Wagner/Haag (1970), S. 79f. 2 5

Bohnert (1945), p. 307.

2 6

Vgl. hierzu: Hart (1961), p. 78ff, S. 34ff.

2 7

Hobbes (1651), S. 203.

336

J. Zur Bedeutung der Rechsprche

19 Jh. von J. Austin vertreten28: "Every law or rule is a command". Dabei ist anders als bei Kelsen Adressat der Befehle der Rechtsunterworfene 29. Neben dieser präskriptiven Funktion weisen die Rechtsnormen nach Austin notwendigerweise eine Sanktion auf, haben also Zwangscharakter30. Befehl, Pflicht und Sanktion sind untrennbar verbunden31. Bei aller Kritik an Austins Theorie wird jedoch leicht übersehen32, daß Austin zwar das Recht als Zwangsbefehlssystem charakterisiert, aber gleichzeitig aufweist, daß es Rechtsnormen bzw. Normen gibt, die diese Kennzeichnung nicht aufweisen: (1) die Normen der positiven Moralität; (2) bloß metaphorisches Recht; (3) deklaratorisches Recht oder Recht, das die Bedeutung existierenden positiven Rechts erklärt; (4) Recht, das bestehendes positives Recht aufhebt oder abschafft; (5) Recht mit fehlender Sanktion (leges imperfectae) oder mangelnder Verpflichtungskraft. Austin betont aber, daß der Raum, der durch dieses unechte Recht eingenommen wird, vergleichsweise schmal und unsignifikant ist 33 .

2. Die Imperativentheorie

Im deutschen Sprachraum wurde eine solche monistisch-präskriptive Deutung der Rechtssprache unter der Bezeichnung "Imperativentheorie" u. a. 2 8

Austin (1831), The Province of Jurispnidence Determined, p. 13. Zu Austin: Brown

(1906), The Austinian Theorie of Law; Krawietz (1978), S. 86ff; Löwenhaupt (1972), Politischer Utilitarismus und bürgerliches Rechtsdenken; White (1978), Austin as a Philosophical Analyst; Gray (1983), The Prescriptive Nature of Obligatory Laws, p. 312f; Vorwort von H . L. A. Hart in der von ihm 1954 herausgegebenen Ausgabe von "The Province of Jurisprudence Determined". Dort finden sich auch weitere Angaben zur Sekundärliteratur, p. X X f . 2 9

Vgl. Hart (1961), p. 25, S. 44.

3 0

Austin (1831), p. 14: "If you cannot or will not harm me in case I comply not with your

wish, the expression of your wish is not a command, although you utter your wish in imperative phrase." 3 1

Austin (1831), p. 17f: "Command, duty and sanction are inseparable connected terms: that

each embraces the same ideas as the others, though each denotes those ideas in a peculiar order m 3 2

Dies mißachtet ζ . Β. Hart (1961), p. 18ff, S. 34 i f bei seiner berühmten Kritik an Austin

und seiner Theorie. Nur in einer Anmerkung p. 236, S. 336, erwähnt er es. 3 3

Austin (1831), p. 25.

Π. Die priskriptiv-monistische Interpretation der Rechtssprache

337

von Thon 34 , v. Ihering 35, Somló36 und Bierling37 vertreten 38. Einer ihrer Verteidiger in neuerer Zeit ist Engisch39. Fragwürdig im Rahmen einer monistisch-präskriptiven Semantik der Rechtssprache ist die Interpretation der gesetzlichen Begriffsbestimmungen, Interpretationsregeln, Erlaubnisse, Ermächtigungen und subjektiven Rechte. Nach Engisch40 sind die gesetzlichen Begriffsbestimmungen und Erlaubnisse "nur unselbständige Satze. Sie haben Sinn nur im Zusammenhang mit Imperativen, die sie erläutern oder einschränken ...". Die subjektiven Rechte werden dagegen nur durch den "sinnreichen Einsatz" von Imperativen erzielt 41. Nur dort, wo einem anderen etwas geboten wird, könne danach ein Recht begründet sein. Gemeinsames Kennzeichen dieser Versionen eines monistisch-präskriptiven Erklärungsmodells der Rechts- bzw. Gesetzessprache ist, daß jeweils deijenige, dessen Verhalten letztendlich beeinflußt werden soll, als Adressat der Präskriptionen angesehen wird (also der einzelne Bürger). Anders als bei J.

3 4

Thon (1878), Rechtsnorm und subjektives Recht, S. 2: "Im Rechte sucht die Rechtsord-

nung ... den ihren Satzungen Unterworfenen einen Impuls zu einem bestimmten Verhalten zu geben, mag nun das gewünschte Veihalten in einem Thun oder Unterlassen bestehen. Dieser Impuls erfolgt durch Befehle bald positiven, bald negativen Inhalts ... Einem (jeden selbständigen) Rechtesatze liegt ein "Du sollst" oder "Du sollst nicht" ... zu Gronde", S. 3: "...begrifflich liegt in jedem Rechtssatze ein Imperativ, oder wie wir heute zu sagen pflegen, eine Norm." 3 5

v. Ihering (1878), Der Zweck im Recht, I , S. 257: "... jede Norm ist ein Imperativ."

3 6

Somló (1917), Juristische Grundlehre, S. 214, vertritt die Imperativentheorie allerdings

nicht uneingeschränkt: "Wir können den Begriff des Befehles zur Kennzeichnung des Wesens des weitaus größten Teils jeder Rechtsordnung nicht entbehren, nur können noch allenfalls die Versprechensnormen der Rechtsmacht hinzukommen. ... Die Befehle gehören zum unvermeidlichen, die Versprechen zum möglichen Inventar einer Rechtsordnung." 3 7

Bierling (1894), Juristische Prinzipienlehre Bd. 1, S. 30: "Allee Recht besteht in Normen;

was sich nicht auf Normen reduzieren läßt, gehört in Wahrheit dem Rechte selbst nicht an.", "... denn das Gesetz seinem gesamten Inhalte nach Imperativisch verstanden sein will." 3 8

Zu weiteren Vertretern und Gegnern vgl. Mezger (1924a), Die subjektiven Unrechtsele-

mente, S. 213f; Engisch (1956), S. 200, Anm. 6b, S. 202, Anm. 9a; Kaufmann (1949), S. 132ff, (1982). Eine ausführliche Auseinandersetzung findet sich auch bei Kelsen (1911), S. 189308. 3 9

Engisch (1956), S. 22ff, S. 27: "Dürfen wir also ohne Bedenken die vollständigen wesentlichen Rechtssätze primär als Imperative ansprechen,..." 4 0

Engisch (1956), S. 23.

4 1

Engisch (1956), S. 26.

22 v. d. Pfordten

338

J. Zur Bedeutung der Rechsprche

Austin wird jedoch nicht angenommen, daß jede Rechtsnorm notwendig Sanktionen enthalten müsse. Bei der obigen Diskussion der Erlaubnisse wurde deren präskriptiver Charakter verneint (I. VIII.), womit der Ausschließlichkeitsanspruch der Imperativentheorie bereits bestritten ist. Ob sich eine präskriptiv-monistische Interpretation zumindest in der Form aufrechterhalten läßt, daß man wenigstens einen großen Teil der Rechts- oder Gesetzessprache als präskriptiv ansieht, muß sich noch herausstellen. Dazu werden verschiedene Arten von Rechtsnormen im Detail zu analysieren sein.

3. Die Sanktionstheorie der Normen

a) Kelsen42 knüpft mit seiner rechtsphilosophischen Theorie an Cohens Interpretation der Kantischen Transzendentalphilosophie an, die die gegenstandskonstituierende Funktion der Erkenntnis betont43. Demgemäß unterscheidet Kelsen zwischen der kausalen Deutung sinnlich wahrnehmbarer Akte 44 und der durch eine andere Norm bewirkten normativen Deutung der Wirklichkeit 45 . Auf diese Weise ergibt sich eine erkenntnistheoretisch begründete "logische* Dichotomie von Sein und Sollen46. Dieser Dualismus der Deutungsschemata der Wirklichkeit fuhrt zu einer dualistischen allgemeinsemantischen Position: deskriptive Aussage und präskriptive Norm werden gegenübergestellt47.

42 Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, sämtliche Veränderungen von Kelsens Position darzustellen, die diese von den "Hauptproblemen der Staatslehre" (1911) über die 1. (1934) und 2. Auflage (1960) der "Reinen Rechtslehre" bis hin zur "Allgemeine Theorie der Normen" (1979) genommen hat. Vgl. hierzu: Weinbeiger (1981); allgemein zu Kelsen: Dreier (1986), Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen. 4 3 Kubes (1980), S. 12f; Winkler (1979), Sein und Sollen, S. 267 und passim. 4 4

Kelsen (1960), S. 2f.

4 5

Kelsen (1960), S. 3; (1934), S. 4f, S. 23: "Das Sollen bleibt dabei als relativ apriorische Kategorie zur Erfassung des empirischen Rechtsmaterials bestehen." 4 6

Kelsen (1960), S. 19 FN, S. 215 und passim.

4 7

Vgl. ζ . Β. Kelsen (1960), S. 73.

Π. Die präskriptiv-monistische Interpretation der Rechtsaprache

339

Zentrale48, wiewohl nicht ausschließliche49 Funktion der Gesetzessprache50 ist die Proskription. Zur Begründung dieser Position läßt sich eine Vorgehensweise konstatieren, die deijenigen Hares bei der Begründung der Präskription als Zentralfunktion der praktischen Sprache ähnlich ist. Während Hare die evaluative Komponente in eine weit verstandene Präskriptionsdefinition eingliedert, weitet Kelsen - wie schon erwähnt wurde (I. VIII. 2.) - das "Sollen" so aus, daß es auch "Dürfen" (Erlaubnis) und "Können" (Ermächtigung) erfaßt und somit jeden "intentional auf das Verhalten anderer gerichteten Akt bezeichnet"51.

b) Anders als manche in der Kantischen Tradition stehende Philosophen differenziert Kelsen aber wenigstens terminologisch zwischen "Norm" und "Wert" und versucht die Eigenständigkeit der Wertungen gegenüber den Normen zu erklären 52. Dies fuhrt jedoch nicht zu einer Überwindung der dualistischen allgemein- bzw. monistischen rechtssemantischen Position, denn die eigenständige Zentralfunktion der Evaluation wird in drei Funktionsteile paralysiert und auf die deskriptive Funktion reduziert bzw. irrationalisiert: (1) Ein objektives Werturteil liegt nach Kelsen in der Aussage, daß ein menschliches Verhalten einer objektiv gültigen Norm entspreche53. Dieses Werturteil könne zwar wahr oder falsch sein, sei aber kein Wirklichkeitsurteil, da die Beziehung eines tatsächlichen Verhaltens zu einer Norm dargestellt werde und nicht die bloße Relation zwischen zwei Tatsachen.

4 8

In der 1. Auflage der "Reinen Rechtslehre" (1934), S. 34, hatte Kelsen die Rechtsnormen

noch als "hypothetische Urteile" den Moralnormen als "Imperative" entgegengestellt. Aber schon damals bedeutete dies keine deskriptive Interpretation der Rechtsnormen. In der 2. Auflage (1960), S. 73f bezeichnet Kelsen dann die beschreibenden "Rechtssätze" der Rechtswissenschaft als "hypothetische Urteile" und unterscheidet sie klar von den Rechtsnormen. Vgl. die übernächste Fußnote. 4 9

Kelsen (1960), S. 59: Aufgrund des Bestehens von unselbständigen Normen hat das Recht

nicht ausschließlich gebietenden oder Imperativischen Charakter. 5 0

Dies gilt nicht fur die Rechtssprache an sich, weil Kelsen z. B. die Rechts-

wissenschaftssprache in strikter Weise deskriptiv interpretiert: (1960), S. 73f: "Sie beschreibt die durch Akte menschlichen Verhaltens erzeugten und durch solche Akte anzuwendenden und zu befolgenden Rechtsnormen." 5 1

Kelsen (1960), S. 5.

5 2

Kelsen (1960), S. 16.

5 3

Kelsen (1960), S. 19.

J. Zur Bedeutung der Rechsprche

340

(2) Ein subjektives Werturteil sei ein Urteil, das die Beziehung eines Objektes zu dem darauf gerichteten Wunsch oder Willen eines oder vieler Menschen feststelle 54. Dies sei ein normales Wirklichkeitsurteil. (3) Der unmittelbare "Ausdruck" des Wunsches oder der Billigung sei kein Wert-"Urteil", weil keine Funktion der Erkenntnis vorliege, sondern eine Funktion der "emotionalen Komponente" des Bewußtseins55. Teil (1) dieser Interpretation der Evaluationen entspricht der deskriptiv-soziologischen Interpretation der Moralsprache durch die Metaethik. Kelsen versucht, die Evaluationen gleichermaßen von Deskriptionen und Präskriptionen abhängig zu machen und auf die Darstellung ihres Verhältnisses zu reduzieren. Mit der Zuschreibung der Wahrheitsfahigkeit wird ein deskriptiver Charakter konstituiert, der mit der Verneinung der Wirklichkeitsbezogenheit wieder partiell abgesprochen wird. Im Gegensatz zu Kelsens Ansicht handelt es sich aber bei einer solchen Relationsbeschreibung um eine reine Deskription. Die Tatsache, daß diese sich auf das Verhältnis der Wirklichkeit zu einer Norm bezieht, ändert hieran nichts, weil die Norm von einem externen Standpunkt aus wie eine andere Gegebenheit beschrieben werden kann. Da jede subjektive Stellungnahme des Sprechers fehlt, liegt jedoch keine Evaluation vor. Teil (2) dieser Interpretation ist mit den subjektiv-naturalistischen Deutungen der Evaluationen durch die Metaethik kongruent (vgl. D. III.). Die Evaluation wird unzulässigerweise auf eine subjektive Deskription reduziert. Teil (3) schließt an die emotivistische Deutung der Evaluationen durch die Metaethik an (D. IX.) und unterliegt der hierzu schon vorgebrachten Kritik. Es braucht nicht betont zu werden, daß jeder dieser Interpretationsversuche der Evaluationen vom trialistischen Standpunkt aus nicht befriedigen kann. Die eigenständige evaluative Funktion wird entweder auf eine Deskription reduziert oder als irrational ganz negiert. Dies entspricht einer doppelten Ratio der Kelsenschen Theorie: Einerseits soll der klare Dualismus von Sein und Sollen, von Präskription und Deskription nicht aufgebrochen werden. Ande-

5 4

Kelsen (1960), S. 20.

5 5

In seiner 1979 posthum herausgegebenen "Allgemeinen Theorie der Normen" behält Kel-

sen diese Position im wesenUichen bei (S. 47, 140), gliedert aber die dritte, emotive Komponente in das subjektive Werturteil ein, S. 47.

Π. Die prskriptiv-monistische Interpretation der Rechtssprache

341

rerseits will Kelsen aus Gründen der "Reinheit" und Wertfreiheit der Normenordnung jede evaluative Komponente aus der Priskription verbannen.

c) Besondere Originalität gewinnt Kelsens Version der monistisch-präskriptiven Interpretation der Gesetzessprache gegenüber den schon besprochenen Varianten durch einen Wechsel des Adressaten der Norm. Nach Kelsen ist nicht der einzelne rechtsunterworfene Bürger, dessen Verhalten letztlich geändert werden soll, der Angesprochene, sondern der staatliche Apparat, der das gewünschte Verhalten durch staatliche Sanktionen sicherstellen soll. An diesen sei die primäre Norm - die damit nur indirekt wirkt - gerichtet, an den Rechtsunterworfenen allenfalls eine sekundäre Norm 56. Kennzeichnend fur die Rechtsordnung gegenüber der Moralordnung oder anderen Gesellschaftsordnungen sei, daß ihre Sanktionen Zwangscharakter haben57. Dabei kann es sich aber gegenüber der staatliche Stelle, die den Zwangsakt statuieren soll, auch um eine bloße Ermächtigung handeln58. Kelsen sieht sich weiterhin genötigt, den Sanktionsbegriff - und damit auch den Zwangsbegriff - derart auszudehnen, daß jede Reaktion auf einen sozial unerwünschten Sachverhalt umfaßt wird 59 .

Norm ..

V staatliche Stelle

Bürger

d) Rechtsnormen, die ein bestimmtes Verhalten positiv erlauben, sind nach Kelsen nur unselbständige Rechtsnormen, denn sie schränken nur den Geltungsbereich einer anderen Rechtsnorm ein, die ein Verhalten dadurch verbie5 6

Kelsen (1934), S. 30; (1960), S. 56.

5 7

Kelsen (1960), S. 34.

5 8

Kelsen (1960), S. 52.

5 9

Kelsen (1960), S. 43.

J. Zur Bedeutung der Rechsprche

342

tet, daß sie an das Gegenteil des Gebotenen eine Sanktion knüpft 60. Gleiches gilt für Normen, die die Geltung einer anderen Rechtsnorm völlig aufheben (Derogationen), für Ermächtigungen und für Definitions- und Interpretationsnormen61. Nach Kelsen kann deshalb eine Rechtsordnung, obgleich keineswegs alle ihre Normen Zwangsakte statuieren, dennoch als Zwangsordnung insofern gekennzeichnet werden, "als alle Normen, die nicht selbst einen Zwangsakt statuieren ..., unselbständige Normen sind, da sie nur in Verbindung mit einer einen Zwangsakt statuierenden Norm gelten"62.

4. Zu einer differenzierten

Position

a) Weinberger geht wie Kelsen und andere in der Tradition Kants stehende Denker von der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen erkennender und aktiver Komponente des menschlichen Bewußtseins aus63. Dementsprechend besteht nach seiner Ansicht ein fundamentaler Hiatus zwischen der rein beschreibenden Sprache auf der einen und dfer praktischen, stellungnehmenden Sprache auf der anderen Seite64. Letztere läßt sich wieder in dreifacher Weise differenzieren: in normative, wertende und zielsetzende (teleologische) Äußerungen65. Schließlich führt er auch noch die Fragesätze als eigenständige semantische Kategorie an, die sich sowohl vom Behaupten als auch vom Befehlen unterscheiden soll66. Weinberger überschreitet mit dieser funfpoligen allgemeinsemantischen Position schon den strengen Dualismus von deskriptiver und präskriptiver Sprache67. 6 0

Kelsen (1960), S. 56.

6 1

Kelsen (1960), S. 57f.

6 2

Kelsen (1960), S. 59.

6 3

Weinbeiger (1979), Logische Analyse in der Jurisprudenz, S. 18.

6 4

Weinbeiger (1979), S. 18; (1970), Rechtslogik, S. 52; (1979a), Logik, Semantik, Hermeneutik, S. 13. 6 5

Weinberger (1979a), S. 13; (1970), S. 52, 55, 218.

6 6

Weinbeiger (1979a), S. 21; (1970), S. 58.

6 7

An einer Stelle betont er (1958), Die Sollsatzproblematik in der modernen Logik, S. 60,

F N a: "Heute scheint es mir zu den aktuellen Problemen zu gehören, die Beziehungen zwischen

Π. Die prskriptiv-monistische Interpretation der Rechtssprache

343

Die normativen Sätze werden nach Weinberger benutzt, um Menschen zu beeinflussen. Der traditionellen Ansicht folgend (vgl. oben I. VIII.) sollen hierunter auch die Erlaubnisse fallen 68.

b) Weinbergers Position zur Bedeutungsbestimmung der Rechtssprache ist nicht ganz eindeutig. Er betont, daß sowohl normative als auch aussagende Sätze "Gedankenelemente des juristischen Denkens" sind und daß die Normenlogik Aussagesätze und Normsätze umfasse69. Aus diesen Äußerungen meint man schließen zu können, er vertrete ein dualistisch-deskriptiv-präskriptives Modell der Rechtssprache. Gleichzeitig erkennt er aber auch Aufgabennormen, Maßstabsnormen und Rechtsgrundsätze an und scheint damit ein pluralistisches Modell zu befürworten 70. An anderer Stelle legt er jedoch schließlich ganz in der Tradition der Wiener bzw. Brünner rechtstheoretischen Schule stehend - dar, daß das Recht (=die Rechtsordnung) ein System von Normen, d. h. Sollensäußerungen darstelle. Auch das Gewohnheitsrecht und die richterlichen Präjudizien werden auf diese Weise normativ interpretiert 71. Grundschema der Rechtsregel sei demnach der generell adressierte Bedingungsnormsatz. Zusammenfassend läßt sich konstatieren, daß hier wegen des Fehlens einer klaren allgemeinsemantischen Funktionsunterscheidung auch keine befriedigende Bestimmung der Semantik der Rechtssprache getroffen werden kann.

c) Gemäß der Tradition der Brünner rechtstheoretischen Schule wird von Weinberger als Adressat der Rechtsnorm grundsätzlich der Verhaltensunterworfene angesehen und nicht, wie bei Kelsen, der staatliche Zwangsapparat. Die Sanktionsnorm kann fakultativ zur Verhaltensnorm hinzutreten, muß dies aber anders als bei Kelsen nicht notwendig72. Zwang ist kein essentieller Bestandteil jeder einzelnen Rechtsnorm und kann auch das Recht nicht gegenüber Sollsätzen (Normsätzen) und Weitsätzen zu analysieren. Die in der juristischen und philosophischen Literatur häufige gedankenlose Vermengung von 'normativ' + 'weitend' muß überwunden werden." 6 8

Weinbeiger (1970), S. 55f; (1979a), S. 110.

6 9

Weinbeiger (1979), S. 39.

7 0

Weinberger (1970), S. 268f.

7 1

Weinbeiger (1979), S. 167.

7 2

Weinberger (1980), S. 36f.

J. Zur Bedeutung der Rechsprche

344

anderen Normensystemen abgrenzen, wiewohl das Rechtssystem als Zwangssystem gekennzeichnet werden kann73.

5. Die Kuhumormtheorie

M. E. Mayer stellte eine wesentliche Schwache der Imperativentheorie heraus74: Die Rechtsnorm kann nicht als Imperativ interpretiert werden, da die eigentlichen Adressaten der verhaltensleitenden Präskriptionen - das einfache Volk - von den allermeisten Gesetzen nichts weiß. Aufgrund dieser Überlegungen kommt er zu einem ähnlichen Ergebnis wie Kelsen: Die Rechtsnormen richten sich nicht an die Rechtsunterworfenen, sondern an die staatlichen Ausführungsorgane 75 . Damit ist aber die Frage nicht beantwortet, warum sich die Bürger trotzdem im großen und ganzen gesetzestreu verhalten? Dies beruht nach Mayer nicht auf ihrer Gesetzeskenntnis, sondern auf der Präsenz von mit den Rechtsnormen übereinstimmenden Kulturnormen76. Dabei sieht Mayer auch, daß es kulturindifferente Normen gibt, aber diesen komme nur eine beschränkte Bedeutung zu, die nicht kennzeichnend fur die Rechtsordnung als solches sei (ζ. B. Polizeirechtsnormen, Verwaltungsrechtsnormen)77. Es ist Mayer zuzugeben, daß die grundlegenden Normen des Strafrechts und die moralischen Normen in unserer Gesellschaft (ζ. B. Tötungs-, Körperverletzungs- und die zentralen Vermögensdelikte) im wesentlichen parallel laufen. Aber das Erlernen der Verhaltensanforderungen dieser Normen kann fur jeden einzelnen unterschiedlich erfolgen. Es mag Kinder geben, die von ihren Eltern die moralische Verpflichtung zur Respektierung des Eigentums erlernen, und andere, die sich im Zuge der antiautoritären Erziehung mit Billigung ihrer Eltern alles nehmen dürfen und dann erst später außerhalb des Elternhauses durch andere Personen oder die Medien mit dem strafrechtlichen Diebstahlsverbot konfrontiert werden. Aber selbst dort, wo zuerst eine parallellau7 3

Weinbeiger (1970), S. 267.

7 4

Mayer (1903), Rechtsnormen und Kulturnormen, S. 6. Vgl. hierzu: Kaufmann (1949), S.

134. 7 5

Mayer (1903), S. 5.

7 6

Mayer (1903), S. 16.

7 7

Mayer (1903), S. 27.

Π. Die prskriptiv-monistische Interpretation der Rechtsprache

345

fende Moralvorschrift erlernt wurde, wissen erwachsene Bürger über die rechtlichen Kernvorschriften durch die Medien und den alltaglichen Lebensumgang Bescheid. Nur spezielle Randbereiche, wie etwa die Frage, ob die stillschweigende Entgegennahme falschen Wechselgeldes den Betrugstatbestand nach § 263 StGB erfüllt, bleiben unbekannt. Daraus darf man aber nicht die falsche Schlußfolgerung ziehen, das Recht sei den Bürgern völlig unbekannt. Tatsache ist weiterhin, daß neu ins Strafgesetzbuch eingefugte Tatbestände, wie etwa die Computer- oder Umweltdelikte, kaum parallellaufende Kulturnormen haben. Gerade im Bereich des Umweltstrafrechts bestanden schon lange Rechtsnormen, ehe sich in der Bevölkerung das Bewußtsein ausbreitete, daß das Ablagern von Müll an nicht dafür vorgesehenen Stellen kein Kavaliersdelikt ist. Gegenüber der Zeit in der Mayers Theorie entstand, haben die klassischen Normen des Strafrechts - zumindest volumenmäßig - gegenüber der Fülle zusätzlicher Zivil- und Verwaltungsrechtsvorschriften ihre dominante Stellung wohl bis zu einem gewissen Grade eingebüßt. Bei diesen zusätzlichen kulturindifferenten Normen handelt sich nicht mehr nur um einen unsignifikanten Randbereich. Das ganze Straßenverkehrsrecht, das heute fur den einzelnen von großer Bedeutung ist, erlernt ζ. B. der Autofahrer in detailliertester Form in der Fahrschule. Werden Straßenverkehrsvorschriften geändert (Helmpflicht, Gurtanlegepflicht, Richtgeschwindigkeit etc.), so erfahrt der einzelne durch Zeitungsberichte davon. Die Information durch die Medien hat sprunghaft zugenommen. Die ganze Diskussion um die Strafbarkeit der Vermummung bei Demonstrationen hätte nie in dieser Weise gefuhrt werden können, wenn nicht die Information der breiten Bevölkerung durch die Medien erfolgt wäre. Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß sich Mayers Theorie, daß die Bevölkerung im wesentlichen nur Kenntnis von mit Rechtsnormen parallellaufenden Kulturnormen hat, fur die westlichen Industriegesellschaften nicht einmal mehr als gröbste und generellste Kennzeichnung aufrechterhalten läßt.

6. Abgeschwächte Versionen der monistisch-präskriptiven

Noch in stärkerem Maße wie bei Weinberger sind bei anderen neueren Theoretikern verschiedentlich abgeschwächte Versionen der monistisch-prä-

Theorie

J. Zur Bedeutung der Rechsprche

346

skriptiven Interpretation der Rechtssprache festzustellen, die die evidenten Erklärungsdefizite der Imperativentheorie beseitigen sollen und unter dem monistischen "Dach" vielfach pluralistische Interpretationen anbieten: So soll es nach Schmidt78 bei Rechtssätzen "immer um ein Sollen gehen", aber andererseits will er jede nähere einheitliche semantische Festlegung vermeid«!79. Nach Lampe80 besitzt jeder juristische Begriff und Rechtssatz eine normative Funktion. Es erfolgt aber keine weitere Spezifizierung dieser Kennzeichnung. An späterer Stelle wird dann jedoch eine Differenzierung in indikative Rechtssätze, Imperative und permissive Erlaubnisnormen81 vorgenommen. Kritisch läßt sich zu diesen Positionen anmerken, daß ihnen zumeist schon ein klares allgemeinsemantisches Fundament fehlt, so daß die hiervon abhängigen Thesen zur Bedeutung der Rechtssprache mehr oder minder willkürlich zwischen Monismus und Pluralismus oszillieren.

I I I . Theorien der Zweistufigkeit der Bedeutung

Die beiden zentralen Grundprobleme monistisch-präskriptiver Theorien die Tatsache, daß sich Erlaubnisse, Ermächtigungen, Rechte etc. auf diese Weise nur schwer erklären lassen, und die Frage nach dem Adressaten - haben verschiedene Rechtstheoretiker und Rechtsphilosophen veranlaßt, die Bedeutungsbestimmung der Rechtssprache und v. a. der Gesetzessprache (nicht nur implizit, wie die soeben besprochenen Positionen, sondern auch explizit) zu verdoppeln und eine zweistufige Interpretation anzubieten: Damit soll die intuitiv akzeptierte Wahrheit der Imperativentheorie beibehalten, aber ihre Problematik vermieden werden. Zu nennen sind hier v. a. Binding und Larenz, aber auch Alexy.

7 8

Schmidt (1988), Zur "Bedeutung" von Rechtasätzen, S. 449, 451.

7 9

Schmidt (1988), S. 458.

8 0

Lampe (1970), Juristische Semantik, S. 25, F N 44; S. 27.

8 1

Lampe (1970), S. 36ff.

ΠΙ. Theorien der Zweistufigkeit der Bedeutung

347

1. Bindings Normtheorie

Nach Binding richtet sich der Strafrechtssatz weder an den Rechtsunterworfenen, wie die Imperativentheorie meint82, noch an den strafenden Richter 83 , sondern normiert staatliche Strafpflichten 84, schafft also eine Selbstverpflichtung des Staates. Begrifflich notwendige Grundlage des Strafrechtssatzes - und hier wird quasi die zweite, tieferliegende Ebene eingezogen - sei aber eine Norm, die sich an den Rechtsunterworfenen richteund einen Befehl darstelle85. Binding, der sich ausdrücklich und mit Vehemenz gegen die Imperativentheorie wendet86, verlagert damit also die präskriptive Verhaltensregulierung nur in eine nichtpositivierte, aber aus den Gesetzen ableitbare Entität87. Er nimmt auf diese Weise eine Doppelung vor, die sich wie Kants Postulat eines Dings an sich nicht rechtfertigen läßt. Bindings "Norm" ist nicht selbständig erkennbar bzw. verdankt ihre Existenz auch keiner selbständigen rechtssetzenden Handlung. Sie stellt ein bloßes Gedankenkonstrukt dar, das Postulat bleibt, da bei jeder Aussage über diese "Norm" wieder auf die Bedeutung der Rechtssätze zurückgegriffen werden muß. Über den präskriptiven Monismus weist jedoch Bindings Ablehnung, alle Rechtssätze als Normen anzusehen88: So sind die Zurücknahme eines Verbots, die Ermächtigung, die Rechtsgewährung und das subjektive Recht keine Normen. Die Aufstellung der Gesetze an sich soll als bloßes ita jus este keine Befehle erzeugen, sondern nur die feierliche Form der Rechtswillenserklärung, also der Rechtsschöpfung, darstellen.

8 2

Binding (1872), Die Normen und ihre Übertretung, Bd. 1, S. 61.

8 3

Binding (1872), S. 14.

8 4

Binding (1872), S. 21.

8 5

Binding (1872), S. 45, 51.

8 6

Binding (1872), S. 101, Seine Darstellung der Argumente der Imperativentheorie ist an

Plastizität kaum zu überbieten: "Das Hauptmittel bildet fortgesetzte Vergewaltigung des geschriebenen Rechtes behufs fortgesetzter Ausschöpfung alles positiven Gehaltes der subjektiven Rechte. Wie unter der Folter die Leiber der Inquisiten, so werden unter dieser Untersucher Händen die Rechtssätze verrenkt, bis die Misshandelten eingestehen, alle seien sie Imperative,...". 8 7 Insofern hat Kaufmann (1956), Tatbestand, Rechtfertigungsgründe und Irrtum, S. 356, F N 36, recht, Binding nicht als Gegner der Imperativentheorie anzusehen.

8 8

Binding (1872), S. 103ff.

J. Zur Bedeutung der Rechsprche

348

2. Die Theorie der geltungsanordnenden Bestimmungssätze

a) Larenz löst sich noch weiter als Binding von der Imperativentheorie. Er stellt fest, daß diese verfehlt sei, weil sie die Zuweisung von Rechten oder die Bestimmung des rechtlichen Status (Geschäftsfähigkeit, Testierfahigkeit) nicht erklärt! könne. Trotzdem möchte er am grundsätzlich normativ«! (=präskriptiven) Charakter der Rechtssätze festhalten und reduziert deshalb der«! präskriptive Kraft auf eine bloße Geltungsanordnung: "Enthält danach nicht jeder Rechtssatz notwendig ein Gebot oder Verbot, so doch eine Geltungsanordnung. Sein Sinn als normativer Satz ist es, Rechtsfolgen in Geltung zu setzen."89 Er nennt solche Sätze "Bestimmungssätze" und unterscheidet sie als grundsätzliche Kategorie von den Aussagen und Imperativ«!90. Die Bestimmung nehme im Geg«isatz zum Befehl nicht notwendig das Verhalten einer anderen Person in ihren Inhalt auf. Vielmehr gehe sie ganz allgemein darauf aus, daß irgend etwas sein soll. In ihr werde "etwas als sein-sollend gesetzt". Larenz nennt dies in neuhegelianischer Terminologie eine eig«!e "Seinsebene des objektivierten Geistes. " Auf der unterhalb dieser allgemeinen Ebene der "Bestimmungssätze" eingezogenen Bedeutungsebene soll dagegen ein Dualismus von Pflicht«! und Rechten bestehen91.

b) Nach dieser Zwei-Ebenen-Strategie wird konzediert, daß nicht jede Rechtsnorm verhaltensanleitend«i Charakter hat. Aber die präskriptive Grundkennzeichnung soll nicht aufgegeben werden. Dies wird erreicht, indem die präskriptive Funktion so reduziert wird, daß sie sich quasi nur noch auf das Bestdien der Norm selber bezieht und der«! Existenz gegenüber anderen Äußerungen in besonderer Weise als "normative Geltung" ausgezeichnet ist. Nicht zu bestreiten ist, daß die Kollektiväußerungen, die ζ. B. ein Verfassungsgesetzgeber oder das Parlament vornehmen, durch spezielle Situationsverhältnisse, insbesondere durch positivierte und nichtpositivierte Regeln, besonders gekennzeichnet und damit systemintern funktionalisiert sind. Darin

8 9

Latenz (1960), S. 256.

9 0

Larenz (1960), S. 256; (1969), Der Rechtssatz als Bestimmungssatz.

9 1

Larenz (1960), S. 254.

DI. Theorien der Zweistufigkeit der Bedeutung

349

besteht jedoch bloß eine Überwölbung des trialistischen Grundrahmens und keine eigene völlig neue und unabhängige Funktionsbestimmung, wie Larenz anzunehmen scheint. Denn die zusätzliche Funktionszuweisung ändert nichts daran, daß auch dieser kommunikative Akt sich im trialistischen Rahmen vollzieht und damit grundsätzlich der trifunktionalen Funktionsunterscheidung folgt. Auch bei kommunikativ«! Handlungen des Parlaments muß man also fragen können, ob es sich um Deskriptionen, Evaluationen oder Präskriptionen handelt. So stellt das Beklatschen einer Rede sicherlich eine kollektive Evaluation dar, während bei Verabschiedung eines Gesetzes stärker normative und deskriptive Gesichtspunkte in den Vordergrund treten. Der Verweis auf die durch besondere Umstände geprägte Entstehung von Rechtsnormen vermag diese vielleicht besonders zu kennzeichnen, beantwortet aber nicht die Frage nach der semantischen Zentralfunktion der Kollektiväußerung, denn es ist offensichtlich, daß sich die Funktion von Rechtsäußerungen anders als vielleicht spezielle literarische Äußerungen - nicht darauf beschränkt, sich selbst in Geltung zu setzen92 - ja die Rechtsnorm ist hierdurch gegenüber anderen Äußerungen, die auch beanspruchen zu "gelten" , nicht einmal in besonderer Weise auszeichnet.

3. Norm und Normsatz

Alexy93 unterscheidet in Anlehnung an eine Anzahl von Autoren94 zwischen Norm und Normsatz und fuhrt hierfür das Problem der Synonymie als Begründung an: "Daß zwischen Normsatz und Norm zu unterscheiden ist, läßt sich daran erkennen, daß dieselbe Norm durch verschiedene Normsätze ausgedrückt werden kann". Dabei soll der Begriff der Norm gegenüber dem des Normsatzes der primäre sein95. Die Norm werde als "semantische Entität" 9 2

Ebenso im Ergebnis M . E. Mayer (1903), S. 15: "Der Befehl ita jus esto, ist ein einmali-

ger Vorgang, der nirgends anders am Platze ist als gegenüber der Urkunde, die zum Gesetz erhoben werden soll. Ist aber der Entwurf Gesetz geworden, so behalt dieser Befehl natürlich Geltung bis zur Aufhebung, kann aber niemals zu einer Funktion des Gesetzes werden." 9 3

Alexy (1985), S. 42 mit weiteren Nachweisen.

9 4

Weinberger (1979a), S. 20, 108. Vgl. Alexy (1985), S. 42 F N 10.

9 5

Alexy (1985), S. 43.

J. Zur Bedeutung der Rechsprche

350

durch einen Normsatz "ausgedrückt"96. Die Beziehung zwischen Normsatz und Norm entspreche der zwischen Aussagesatz und Aussage (=Gedanke, Proposition)97. Wie oben schon ausgeführt wurde (C. VI. 3. c)), erscheint es nicht sinnvoll, neben der tatsächlichen Äußerung und den Eckpunkten des trialistischen Dreiecks noch irgendwelche überindividuelle "semantische Entitäten", wie Gedanken, Propositionen oder Intensionen, zu konstruieren. Wurde dies im Rahmen der allgemeinen Überlegungen zur Bedeutungserklärung zurückgewiesen, so gilt es fur Präskriptionen erst recht, da hier das referentielle Element der Bedeutungsbestimmung noch mehr in den Hintergrund tritt. Das Problem der Synonymie ist hierbei auch ohne diese Hilfsmittel leicht zu losen, weil Alexy mit dem "Normsatz" nur den semantisch-referentiellen Teil einer Äußerung ohne die in jedem Fall notwendigerweise zu beachtende strukturalistische und pragmatische Einbindung berücksichtigt98. Zieht man dagegen die ganze Äußerung heran, so kann dies ohne Zweifel dazu fuhren, daß unterschiedliche Normsätze (ζ. B. bei vertauschter Wortstellung etc.) die gleiche Funktion erfüllen. Dies berechtigt aber noch lange nicht, dem Normsatz eine korrespondierende Norm als "semantische Entität" zuzuweisen. Die präskriptive Äußerung ist selbst normative Handlung, nicht nur bloßer Verweis auf eine unabhängige Norm. Die natürliche Einheit der sprachlichen Äußerung als Handlung wird durch die Unterscheidung von Norm und Normsatz nur in unfruchtbarer Weise auseinandergerissen. Wie wäre die vom Normsatz unterschiedene "Norm" im übrigen anders zu erkennen als in Form der sprachlichen bzw. kommunikativen Äußerung99? Sie hat keine Realität unabhängig von dieser. Die präskriptive Äußerung ist als kommunikative Handlung die ganze Realität der Norm, soweit man nicht die deskriptiv-extensionale Funktionskomponente der Präskription meint. Es handelt sich hier offensichtlich um eine weitere, nicht zu rechtfertigende Verdoppelungsstrategie. Diesmal soll aber nicht der präskriptive Monismus

9 6

Alexy (1985), S. 44f.

9 7

Alexy (1985), S. 46.

9 8

Etwas spater, (1985), S. 44, zieht er sie dann doch mit heran, um zu erkennen, ob eine

Norm vorliegt. 9 9

Abzulehnen ist deshalb Alexys Ratschlag (1985), S. 43: "Es empfiehlt sich daher, Krite-

rien fur die Identifikation von Normen nicht auf der Ebene des Normsatzes, sondern auf der Ebene der Norm zu suchen."

V. Die Permissiventheorìe

351

gerettet, sondern das deskriptiv-semantische Intensionsmodell übertragen werden.

IV. Eine pragmatische Position

Wie schon kurz angedeutet wurde (F. IV. 2. c.)), vertritt Opalek eine vierfach differenzierte Bedeutungstheorie, die Direktiven, Aussagen, Werturteile und Optative unterscheidet. Rechtsnormen können nach seiner Meinung offensichtlich direktiven und konstativen Charakter haben100. Wenn eine Aussage des Normsetzens konstativ formuliert sei, dann könne man jedoch auf der semantischen Ebene nicht entscheiden, ob sie einen Tatsachenzustand beschreibe oder ein verbaler Akt der Beeinflussung des Verhaltens des Adressaten sei. In Anlehnung an die frühe Konzeption J. L. Austins bestimmt Opalek deshalb die Normäußerungen als "Performative" einer bestimmten Art. Diese Bestimmung muß aber unbefriedigend bleiben, da sie nicht das oben gefundene Ergebnis (C. VI.) berücksichtigt, daß pragmatisch-situative und referentielle Bedeutungsbestimmung wechselseitig ersetzbar sind und damit eine Kennzeichnung als "pragmatisch" keine nähere eigenständige Bestimmung der Funktion der Äußerung im Sinne des trifunktionalen Modells bietet, sondern nur integraler, aber ersetzbarer Bestandteil der Gesamtfunktion der Äußerung sein kann.

V. Die Permissiventheorìe

Nach Fikentschers dualistischer Auffassung regeln Rechtsnormen menschliches Verhalten, indem sie den Adressaten entweder freistellen oder zwin-

1 0 0

Opalek (1986), S. 157f: Konstativ sind: Aussagen des Normsetzens, die Einteilungen (z.

B. der Sachen, der Verbrechen, der Willenserklärungen) beinhalten, sowie Definitionen von Begriffen, die in diesen Texten gebraucht werden.

J. Zur Bedeutung der Rechsprche

352

gen 101 . Wie von den präskriptiven Einschränkungen könne das Recht ebenso von den gestaltenden Möglichkeiten her gedeutet werden, die es den Rechtsgenossen biete 102 . Das "Du darfst" könne man sogar - anders als die Imperativentheorie meine - als "logisches Prius" gegenüber den Geboten und Verboten ansehen, so daß Fikentscher von einer "Permissiventheorie" zur Interpretation der Rechtssprache spricht 103. Im Zivilrecht mögen Präskriptionen durchaus regelmäßig mit Gewährungen korrespondieren. In anderen Rechtsgebieten - wie etwa im Polizeirecht - läßt sich dies jedoch nicht generell postulieren. Es ist kaum zu bestreiten, daß dort auch Präskriptionen ohne Gewährungen bestdien. Deshalb erscheint es wenig sinnvoll, in Umkehrung der Imperativentheorie nunmehr die Permissiven als primär zu kennzeichnen. Beides sind Phänotypen von Rechtsnormen, die jeweils einer eigenen semantischen Untersuchung unterzogen werden müssen.

VI. Die dualistisch-deskriptiv-präskriptive Interpretation der Rechtssprache

Schon bei Weinberger und Opalek konnten Ansätze zu einer dualistisch-deskriptiv-präskriptiven Interpretation der Rechtssprache ausgemacht werden. Bei anderen Autoren kommen diese in noch stärkerem Maße zur Geltung: Nach Haag 104 sind Rechtssätze entweder Normsätze oder Aussagen. Und Lachmayer unterscheidet zwischen normativem und indikativischem Status, den er unter dem Begriff "Information" zusammenfaßt105. Indikative Elemente seien gleichwertige Bestandteile der Rechtsordnung. Es bestehe kein hinreichender Grund, diese neben den normativen Elementen zurückzusetzen. Die

1 0 1

Fikentscher (1977), Methoden des Rechte in vergleichender Darstellung, Bd. I V , S. 245.

Aber auf S. 248 fuhrt er darüber hinaus aus, daß es auch möglich sei, soziale Wertungen im Recht zu statuieren. 1 0 2

Fikentscher (1977), Bd. I V , S. 160.

1 0 3

Dabei sind die Gebote und Verbote entweder auf die statuierten Wertungen oder auf die logisch primären permissiven Gewährungen gestützt, Fikentscher (1977), Bd. I V , S. 248. 1 0 4

Haag (1971), S. 135.

1 0 5

Lachmayer (1977), GnindzQge einer Normentheorie, S. 113f.

ΥΠ. Beatimmuiigsnorm und Bewertung »oorm

353

Rechtsordnung bestehe nicht nur aus Rechtsnormen, sondern auch aus Rechtsaussagen106. Eine solche dualistische Position ist in jedem Fall realistischer als die rein monistischen Ansätze, kann aber aufgrund ihrer Anlehnung an die unhaltbare dualistische allgemeinsemantische Position nicht hinreichend befriedig«!.

VII. Bestimmungsnorm und Bewertungsnorm

Etwas ander«! Charakter als die ob«! angeführt«! "verdoppelnden" Theorien, hat die von Mezger u. a. angeführte Unterscheidung zwischen "Bestimmungsnorm* und * Bewertungsnorm *.

1. Mezgers Unterscheidung

Mezger ist der Auffassung 107, daß der adressatbezogenen, subjektivischimperativischen Bestimmungsnorm des "Du sollst!" (=Gebot oder Verbot) im Recht als logische Voraussetzung eine adressatlose, objektive Bewertungsnorm des "Es soll!" zugrunde liegen muß, die die Imperativentheorie übersehen hat. Grundlage dieser Differenzierung ist für Mezger die neukantianische Unterscheidung zwischen "kognitivem Rechtsbegriff" und "normativer Rechtsidee"108. Wie die Bewertungsnorm aber genau semantisch einzuordnen ist, bleibt dunkel. Die Rückführung auf den Kantischen Dualismus und die Kennzeichnung als "objektiv" würde auf eine deskriptive Interpretation hindeuten. Dagegen spricht aber, daß in der Bewertungsnorm nach Mezger die Erklärung enthalten sein soll, daß etwas "rechtmäßig" oder "rechtswidrig" sei 109 , was auf 1 0 6

Lachmayer (1977), S. 27.

1 0 7

Mezger (1924a), S. 240flf.

1 0 8

Mezger (1924a), S. 240.

1 0 9

Mezger (1924a), S. 245.

23 v. d. Pfordten

354

J. Zur Bedeutung der Rechsprche

eine evaluative Funktion hinweisen würde. Schließlich legt die Kennzeichnung als "Sollensbedeutung"110 und die Zuspitzung auf die Adressatenfrage eine präskriptive Interpretation nahe. Deutlich wird jedenfalls, daß neben der im Regelfall präskriptiven Bestimmungsnorm mit der Bewertungsnorm ein zusätzliches Element postuliert wird, das zwischen Deskription, Evaluation und Präskription eine Beziehung schaffen soll. Nicht befriedigen kann hierbei aber die in der neukantianischen Tradition stehende Tendenz, dieses Element als ideales, überempirisches zu etablieren und darin nicht nur einen zusätzlichen sprachlichen Funktionsteil zu sehen. Mezgers Unterscheidung ist verschiedentlich zustimmend aufgegriffen worden, ohne allerdings dessen unspezifische Kennzeichnung der semantischen Funktion der Bewertungsnorm aufrechtzuerhalten.

2. Andere Interpretationen

dieser Unterscheidung

a) Henkel111 spricht in Fortfuhrung der Mezgerschen Unterscheidung davon, daß die Rechtsnorm Bewertungsnorm ist, indem ihre Anforderung sich darauf stützt, "richtig", "d. h. rechtlichen Zielen, Werten und Zwecken entsprechend" zu sein. Der Rechtsbildung gehe "der Bewertungsakt insofern voraus, als er zunächst einmal zu einem Urteil über die Richtigkeit des intendierten Sollens fuhren muß, was dadurch geschieht, daß fur das zu regelnde Lebensverhältnis ein Richtmaß des Wertens gefunden wird." Hier ist also Mezgers funktional indifferente Bestimmung der Bewertungsnorm auf die evaluative Funktion bzw. die evaluative Komponente der präskriptiven Funktion festgelegt.

b) Noch ein Stück weiter als Henkel geht Radbruch: Für Radbruch112 ergibt sich, "daß die Rechtsnormen in ihrer Urgestalt die Natur von Maßstäben ha1 1 0

Mezger (1924a), S. 243.

1 1 1

Henkel (1964), Rechtsphilosophie, S. 61.

1 1 2

Radbruch (1914), Rechtsphilosophie, S. 136.

Υ Π . Besümmungsnorm und Bewertungsnorm

355

ben, an denen das Zusammenleben der einzeln«! gemessen wird, nicht von Befehlen, die sich an die einzelnen rieht«!...". Aus dieser Äußerung meint man schließ«! zu können, Radbruch habe klar zwisch«! Präskription und Evaluation, zwischen Sollen und Werten unterschied«!. Doch hierin wird man enttäuscht. Wie bei anderen in der Kantisch«! Tradition stehenden Philosophen etwa auch Max Weber - ist der Dualismus zwisch«! Sein und Sollen/Wert«! so ausgeprägt und festgefügt, daß für ein drittes Mom«!t, das durch die Trennung von Soll«i und Werten entstünde, kein eigenständiger Raum bleibt. "Soll«!" und "Werten" werden offensichtlich - zumindest partiell - synonym verwendet und gemeinsam den Seinsfeststellungen gegenübergestellt113. Radbruch spricht folgerichtig von einem "Methodendualismus". Was von ihm bei der semantischen Interpretation der Rechtsnormen schon intuitiv erkannt ist, geht also im Rahmen des allgemeinen, neukantianisch orientierten philosophischen "Überbaus" wieder verloren.

c) Nach Kaufmann 114 kann die Rechtsnorm ähnlich wie bei Radbruch gar nicht primär eine Bestimmungsnorm sein, denn bevor man bestimme, müsse man wissen, wozu man bestimmen wolle, d. h. man müsse das befohlene oder verbotene Verhalten zunächst einer positiven oder negativen Bewertung unterziehen. Deshalb bestehe das Wesen der Rechtsnorm in der Beurteilung menschlicher Verhaltensweisen und bestimmter sozial erheblicher Umstände. Die Rechtsnorm sei Bewertungsnorm und könne niemals mit Imperativen identifiziert werden 115. Als Bewertungsnorm müsse man sich den Rechtssatz als adressatenlose Norm denken. Nur für den Imperativ ergebe sich die Frage nach einem Adressaten. Zur Durchsetzung des als rechtlich bewerteten Verhaltens dienten die staatlichen Imperative. Sie bedeuteten aber nichts anderes als eine Transformation der rechtlichen Bewertung in Gebote116. Strafrechtliche Ratio dieser Position sei es, die objektive Unrechtsauffassung und die subjektive Schuldlehre zu bestätigen.

1 1 3

Radbruch (1914), S. 97, 100.

1 1 4

Kaufmann (1949), S. 138.

1 1 5

Vgl. auch: Kaufmann (1956), S. 355.

1 1 6

Kaufmann (1949), S. 139.

356

J. Zur Bedeutung der RechUspche

d) Diese Position«! begegnen aber außer der nicht explizit erklärten und damit fest gegründet«! bedeutungstheoretisch«! Unterscheidung von Evaluation und Präskription folgend«! Bedenk«!:

aa) Kommunikation setzt nach den obig«! sprachtheoretisch«! Grundüberlegungen immer ein«! Angesprochen«! voraus (C. Π.). Somit hab«! nicht nur die Präskriptionen (=Bestimmungsnormen), sondern auch die Evaluation«! (=Bewertungsnormen) in kommunikativer Hinsicht einen Adressaten. Jede Kommunikation findet im trialistisch«! Rahm«! statt. Der Unterschied besteht also nicht in der Adressateneigenschaft an sich, sondern darin, daß vom Adressaten in einem Fall ein Verhalten erwartet wird und im andern Fall nur die Kenntnisnahme und allenfalls die Übereinstimmung in der Bewertung. In gleicher Weise ist das Verabschieden von Gesetzen nicht bloßes "Selbstgespräch" des Gesetz- oder Normgebers. Rechtsnormen werden vom Parlament nach außen gerichtet und sind anders als ζ. B. Regelungen der Geschäftsordnung nicht nur intern adressiert und wirksam.

bb) In gleicher Weise wie gegenüber d«! Position«! von Binding und Larenz muß auch bei dieser Unterscheidung die ungerechtfertigte Doppelung kritisiert werden: Ausgangspunkt der semantisch«! Analyse muß die sprachliche Äußerung des Norm- bzw. Gesetzgebers sein. Dabei kann die Funktionsuntersuchung zu einer Bestimmung als Präskription, Deskription und/oder Evaluation fuhren. Man kann aber eine entsprechende Äußerung nicht als bloßen äußeren Ausdruck der dahinterliegenden, "eigentlichen" Norm ansehen, deren Erk«mbarkeit und ontologischer Status völlig ungeklärt bleibt.

e) Zustimmung verdient diese Position aber in ihrer Betonung der engen Verknüpfung von Evaluation und Präskription. Hier besteht ein echter Fortschritt gegenüber der von Binding und Larenz vorgenommenen Doppelung. Führt man die soeben besprochenen Ansätze unter Berücksichtigung der geäußerten Kritik weiter, so erreicht man das schon oben unabhängig von der Analyse der Rechtssprache gefundene Resultat, daß die Präskription im Regelfall bei autonomer Setzung eine entsprechende Evaluation «!thält (F. I. 3.).

Vm. Regeln, Prinzipien und Weitungen

357

Auch Rechtsnormen und Äußerungen der Rechtssprache weisen somit - sofern es sich um Präskriptionen handelt und diese autonom erfolgen - neben der präskriptiven Funktionskomponente auch ein evaluatives Moment auf. Dies erkannt zu haben, bleibt das Verdienst von Mezger und den angeführten Interpretationen.

VIII. Regeln, Prinzipien und Wertungen

Eine der wichtigsten Unterscheidungen in der neueren Rechtstheorie ist die zwischen Regeln (bzw. Normen) und Prinzipien. Dabei werden die unterschiedlichsten Kennzeichnungen dieser Differenzierung angeführt 117. Prinzipien sollen etwa einen höheren Grad an Generalität als Regeln aufweisen oder Wertungen, die Regeln immanent enthalten, explizit machen118. Nach Alexy sind die Prinzipien dagegen wie die Regeln Präskriptionen, unterscheiden sich von diesen aber darin, daß sie als Optimierungsgebote eine graduelle Erfüllung anstreben, während Regeln nur entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden können119. Es erscheint durchaus plausibel, im Rahmen der von Alexy vorgenommenen Begriffsbestimmung zwei grundsätzlich unterschiedliche Arten von Präskriptionen anzunehmen. Sie korrespondieren mit der Möglichkeit, durch menschliches Verhalten ein Ziel zu erreichen oder immer nur auf dem Weg zu sein 120 . Auf dieser Grundlage verdient auch Alexys Kennzeichnung des Grundrechtssystems als gemischtes Regel-/Prinzipienmodell121 Zustimmung. Nicht befriedigen kann es aber, wenn Alexy diese klare implizit getroffene präskriptive Bestimmung des Prinzipienbegriffs und die damit einhergehende 1 1 7

Vgl. hierzu die Zusammenstellung bei Alexy (1985), S. 73f.

1 1 8

Canaris (1969), Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, S. 50.

1 1 9

Alexy (1985), S. 75f.

1 2 0

Angemerkt sei an dieser Stelle, daß hiermit eine der zentralen Streitfragen der politischen

Theorie und Programmatik berührt ist: Läßt sich ein ideales Staatsgebilde wie etwa der Platonische oder Marxsche Endzustand eines Staates verwirklichen, oder bleibt Politik immer auf pragmatisches Verbessern beschränkt, wie dies etwa Albeit (1968), S. 173ff, im Anschluß an Popper betont? 121

Alexy (1985), S. 117ff.

J. Zur Bedeutung der Rechsprche

358

eindeutige Unterscheidung zwischen Präskriptionen und Evaluationen in der Folge wieder zu verwischen und zu minimieren versucht, um sein Prinzipienmodell mit der im nächsten Unterkapitel darzustellenden Terminologie des Bundesverfassungsgerichts von der "objektiven Wertordnung" der Grundrechte kompatibel zu machen122. So subsumiert er sowohl deontologische Normal als auch axiologische Werturteile unter den gemeinsam«! Oberbegriff "Norm" 123 und konstatiert, der Unterschied zwischen Prinzipien und Werten reduziere sich angesichts bei beiden bestehender Abwägungsfähigkeit und gradweiser Erfüllung 124 "nur" 125 auf den unterschiedlichen deontologischen bzw. axiologischen Charakter. Was in einem Modell "das beste" sei, sei im anderen "gesollt". Da es im Recht darum gehe, was gesollt ist, spreche dies fur das Prinzipienmodell. Andererseits bereite es keine Schwierigkeit, von der Feststellung, daß eine Lösung vom Standpunkt des Verfassungsrechts aus die beste sei, zu der Feststellung, daß sie verfassungsrechtlich gesollt sei, überzugdien126. Nur Praktikabilitätsüberlegungen sprechen nach Alexy deshalb fur die Bevorzugung des Prinzipienmodells gegenüber dem Wertemodell. Alexy sieht nicht, daß zwischen Evaluationen und Prinzipien (als Präskriptionen verstanden) ein fundamentaler kommunikationsfunktionaler und bedeutungsmäßiger Unterschied besteht. Wenn etwas positiv bewertet wird, heißt dies - wie oben in Kapitel E. gezeigt wurde - noch lange nicht, daß es gesollt ist. Bei den Grundrechtsnormen handelt es sich in erster Linie um Regeln und Prinzipien, also Präskriptionen, weil sich der Verfassungsgesetzgeber fur verhaltensanleitende Regelungen entschieden hat und nicht nur fur Wertungen. Dies schließt nicht aus, daß diese Präskriptionen Wertungen implizieren und daß diesen Wertungen - wie sich im nächsten Kapitel erweisen wird - eine zusätzliche zentrale Funktion zukommt. Alexys Haltung ist paradigmatisch

1 2 2

Alexy (1985), S. 125f.

1 2 3

Alexy (1985), S. 132.

1 2 4

Alexy (1985), S. 125.

1 2 5

Alexy (1985), S. 133.

126

Dies trifft gerade nicht zu, denn obwohl die Verfassung in Ait. 3 Π GG die Diskriminierung der Frauen verbietet, kann jeder bei seinen privaten Lebensentscheidungen, seien sie auch von rechtlicher Relevanz (etwa zivilrechtliche Vertragsabschlüsse), Frauen benachteiligen. Nur über die zusätzlichen Proskriptionen der Generalklauseln, wie etwa 242 BGB, gewinnen die Verfassungswertungen auch präskriptive Kraft.

DC. Die Position von BVerfG und BGH

359

dafür, daß bisher in praktischer Philosophie und Rechtstheorie keine klare Unterscheidung von Präskription«! und Evaluation«! vorgenommen wurde.

IX. Die Position von BVerfG und BGH

1. Das Bundesverfassungsgericht hat ohne weitere rechtstheoretische oder rechtsdogmatische Begründungen konstatiert, daß das Grundgesetz in seinem Grundrechtsabschnitt nicht nur Abwehrrechte des Bürgers - also Präskriptionen an die staatlichen Stellen - positiviert, sondern auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat 127 . Das Grundgesetz wolle keine wertneutrale Ordnung sein. Hieran ist bemerkenswert, daß das Bundesverfassungsgericht offensichtlich rein intuitiv in gleicher Weise wie das trifunktionale Modell von einer klaren Trennung zwischen präskriptiver und evaluativer Funktion von Rechtssätzen ausgeht. Rechtsnormen können über ihre präskriptive Funktion hinaus auch Evaluationen ausdrücken, die zu berücksichtigen sind. Dabei ist allerdings zwischen zwei Arten von Evaluationen zu unterscheiden, die man als inhärente und als präskribierte kennzeichnen kann, wobei letztere eigentlich keine wirklichen Evaluationen sind, sondern Präskriptionen:

a) Evaluationen, die - wie schon dargestellt wurde (F. I. 3.) - notwendigerweise jede autonome Präskription begleiten und den angeordneten Zustand positiv bewerten, sind inhärente. Dies bedeutet, daß die Grundrechtsnorm«! als autonome Verbote und Gebote neben der verhaltensanleitend«! Wirkung fur die staatlichen Stell«! auch ausdrucken, daß sie das angeordnete Verhalten positiv bewerten.

b) Das Bundesverfassungsgericht meint aber offensichtlich mit seiner Statuierung der Grundrechte als "objektiver Wertordnung" über diese bloß 1 2 7

BVerfGE 7, 198, 205.

360

J. Zur Bedeutung der Rechsprche

inhärenten Evaluationen hinausgehende Bewertungen, die man als präskribierte bezeichnen kann. Dabei ist der Terminus "Wertordnung" sdir treffend gewählt, denn im Gegensatz zur inhärenten Evaluation wird die Beachtung der Bewertung angeordnet und nicht nur eine Präskription wertend begleitet oder eine Bewertung ausgesprochen. Es handelt sich dabei also nicht um eine Evaluation im eigentlich«! bedeutungstheoretisch«! Sinne, sondern um eine Präskription zur Beachtung einer Evaluation. Die Evaluation wird gleichsam weitergeleitet, indem dem Adressat«! aufgegeb«! wird, bei seinen Handlungen die aufgestellte Bewertung zu beachten. Normative Grundlage ist dabei Art. 20 III GG. Dies erinnert - nebenbei bemerkt - in der Konstruktion an die Unterscheidung von einfachem und weitergeleitetem Eigentumsvorbehalt im Zivilrecht 128. Durch diese Präskription zur Evaluation wird eine gebundene Autonomie erzeugt. Die staatlichen Stellen muss«! bei ihren Entscheidungen die jeder Präskription oder Handlung inhärente Wertung mit der verfassungsmäßig vorgegebenen Wertung in Einklang bringen. Diese Regelungstechnik entspricht der Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen und der Ermessensgewährung in Normen des Verwaltungsrechts, bei der der Entscheidende jeweils auch gewisse vorgegebene Wertungen zu berücksichtig«! hat.

2. Noch an anderer Stelle bestätigt die mehr oder minder intuitive Entscheidung der Rechtsprechung die These des trifunktionalen Modells zur Differenzierung zwischen Deskription und Evaluation. Dort, wo sich nämlich das Recht selbst mit seinen Tatbestandsvoraussetzungen auf sprachliche Äußerung«! bezieht, also im Beleidigungsrecht, im Recht der Meinungsäußerung und Presse und im dazugehörigen Schadensersatzrecht, wird klar zwischen Tatsachenbehauptungen und Werturteilen unterschieden129. Übereinstimmend mit der trifunktionalen Semantik ist in dieser Hinsicht v. a. auch, daß Werturteile nicht als beweisfahig, also nicht als wahrheitsfahig angesehen werden.

1 2 8

Vgl. Palandt-Putzo (1992), § 455 2 b aa: Der Käufer verpflichtet sich gegenüber dem

Verkäufer, die unter Eigentumsvorbehalt gekaufte Sache nur in der Weise weiterzuübereignen, daß der Verkäufer Vorbehaltseigentümer bleibt. 1 2 9

BGH NJW 82, 2246; Palandt-Thomas (1992), § 824, 2; Palandt-Bassenge (1992), § 1004, 5b.

X. Der Multifunktionalismus

361

X. Der Multifunktionalismus Von den verschiedenen multifunktional«! Ansätzen130 soll hier der von H. L. A. Hart dargestellt und kritisiert werden:

1. In Anlehnung an die von J. Austin, Ryle und dem späten Wittgenstein131 (vgl. ob«! Β. IV. 3.) nach dem zweiten Weltkrieg in England propagierte Analyse des Gebrauchs der Normalsprache kritisiert Hart Versuche, einzelne juristische Begriffe isoliert von ihrem jeweilig«i Satz- 132 oder Situationszusammenhang als deskriptiv mit Wirklichkeitstatsachen korrespondierend 133 zu charakterisieren. An die Stelle der herkömmlich«! Definitionsmethode der Ausdrücke per genus et differ«itiam specificam muß eine Gebrauchsdefinition treten 134: Danach können juristische Worte nur eihellt werden, wenn man die Bedingungen heranzieht, unter denen Aussagen, in denen sie ihren charakteristisch«! Gebrauch haben, wahr sind 135 . Hart betont also die pragmatische und strukturalistische Bedeutungskomponente geg«iüber der referentiellen. Schon an dieser Stelle sei kritisch angemerkt, daß diese Definitionsmethode sich aber trotz ihrer Akzentuierung von pragmatischer und struktureller Komponente offensichtlich auf die Korrespondenztheorie der Wahrheit stutzt und damit den Gebrauch von Worten in Sätzen mit nichtdeskriptiver Zentralfunktion nicht erklären kann.

2. Hart kritisiert Versuche - wie sie ζ. B. von J. L. Austin unternommen wurd«! (vgl. oben J. II. 1.) -, die rechtlich«! Regeln als Zwangsbefehle eines 1 3 0

Kalinowski (1971), Logique des normes, p. 14, unterscheidet ζ . Β. zwischen Befehlen,

Nonnen und Werturteilen. Und nach der - allerdings nur kursorisch dargestellten - Auffassung von Wagner/Haag (1970), S. 76, enthält die Rechtssprache deskriptive Bestandteile, normative Sätze und deontische Modalitäten. Vgl. auch die unter I V . daigestellte Position von Opalek, die allerdings in ein pragmatisches Konzept eingebettet ist. 1 3 1

Vgl. Hart (1983), Essays in Jurispnidence and Philosophy, p. 2; v. d. Pfordten (1988),

(1991b). 1 3 2

Hart (1953), Definition and Theoiy in Jurispnidence, p. 26.

1 3 3

Hart (1953), p. 23.

1 3 4

Hart (1953), p. 21ff; (1961), p. 13ff, S. 27ff.

1 3 5

Hart (1953), p. 47. Bemerkenswert ist, daß Hait zwar in (1961) nach wie vor die klassi-

sche Definitionsmethode kritisiert, diese neue Defintionsformel aber nicht wiedelholt.

362

J. Zur Bedeutung der RechUsprche

Souveräns zu interpretieren 136. Zwar bestimmten die Rechtsnorm«! Verhaltenstypen und erfüllt«! eine gewisse soziale Funktion137, aber die Kennzeichnung als Zwangsbefehle mißachte der«! doppelte Allgemeinheit138 (hinsichtlich Klassen von Personen und Klassen von Verhaltensweisen), der«! mangelnde direkte Adressierung an die Angesprochen«!, der«! Dauerhaftigkeit und der«! Einordnung in eine Hierarchie von Regeln. Sie übersehe außerdem den Selbstverpflichtungscharakter der Gesetze, die Tatsache, daß es neben den Verpflichtungsregeln auch Ermächtigungregeln gebe, die Befugnisse einräumten139, und das Besteh«! von Gewohnheitsrecht140. Aus diesem Grund sei«! selbst Strafgesetze, die dem Zwangsbefehlsmodell noch am nächsten kämen, eher wie Versprechen anzusehen141. Den "Schlüssel zur Wissenschaft der Jurisprudenz" und das zentrale Charakteristikum des Rechts sieht Hart jedoch in der Kombination von primären Veränderungsregeln und sekundären Regeln, die sich auf die primären Regeln bezidien142. Erst solche sekundären Regeln zeichnen ein entwickeltes Rechtssystem gegenüber einem primitiv«! aus. Dabei unterscheidet Hare Erkenntnisregeln, die die Unbestimmtheit der primären Regeln beseitigen sollen143, Änderungsregeln, die deren statischen und unveränderlich«! Charakter überwinden 144 , und Entscheidungsregeln, die die mangelnde Wirksamkeit des diffusen sozialen Drucks der primären Regeln beheben sollen, indem sie die Feststellung ermöglichen, ob eine primäre Regel gebrochen wurde oder nicht 145 .

3. Harts Modell der primären und sekundär«! Regeln mit unterschiedlichen Funktionen kommt der Realität von Rechtssystemen sicherlich näher als die monistischen Modelle der Theorie der Zwangsbefehle bzw. der Imperativentheorie. 1 3 6

Hart (1961), p. 18ff; S. 34ff.

1 3 7

Hart (1961), p. 27, S. 47.

1 3 8

Hart (1961), p. 21ff, S. 38ff.

1 3 9

Hart (1961), p. 32, S. 52.

1 4 0

Hart (1961), p. 47, S. 74.

1 4 1

Hart (1961), p. 42, S. 67.

1 4 2

Hart (1961), p. 79, S. 118.

1 4 3

Hart (1961), p. 92, S. 135.

1 4 4

Hart (1961), p. 93, S. 136f.

1 4 5

Hart (1961), p. 94, S. 138.

X . Der Multifunktionalismus

363

a) Unklar bleibt aber das genaue Verhältnis zwischen drei Dichotomien, die Hart aufstellt: ob die Unterscheidung zwischen Veipflichtungs- und Ermächtigungsregeln und zwischen primären und sekundären Regeln übereinstimmt, wie Bydlinski annimmt146, und ob damit schließlich auch die Trennung zwischen privatem und staatlichem Adressaten markiert ist. Beides ist zu bezweifeln, da Hart neben der Übertragung öffentlicher Befugnisse auch die von privaten Befugnissen erwähnt, die den Bürger in den Stand versetzen soll, den Rechtsverlauf innerhalb der Sphäre seiner Verträge, Bürgschaften, Testamente usw. zu bestimmen, und ihn zum "privaten Gesetzgeber" macht147. Bei solchen Ermächtigungen an Private kann man aber nicht allgemein davon ausgehen, daß es sich um "Regeln über Regeln", also sekundäre Regeln, handelt, denn vielfach ermächtigen diese nur zu tatsächlichem Tun, wie etwa die Baugenehmigung zum Bau eines Hauses, die Fahrerlaubnis zum Fahren eines Autos, die Gaststättenerlaubnis zum Betrieb einer Gaststätte etc. Und selbst in den Fällen von Vertragsschlüssen ist es fraglich, ob die eigentlich rechtlich verpflichtende Kraft nicht aus dem Gesetz herrührt (vgl. § 433 I 1 BGB für den Kaufvertrag). Andererseits betont Hart, daß sich primäre Regeln auch an Beamterichtenkönnen148. Aus alldem läßt sich schließen, daß die drei Unterscheidungen öffentlicher/privater Adressat, primäre/sekundäre Regel, Ermächtigung/Verpflichtung prinzipiell unabhängig sind. Es gibt primäre Regeln an staatliche Stellen, die diese zu einer tatsächlichen Handlung ermächtigen (§ 152 I StPO: Staatsanwaltschaft zur Strafverfolgung) oder verpflichten (§ 152 II StPO), und sekundäre Regeln an staatliche Stellen, die diese zum Erlaß einer Regel ermächtigen (Art. 23 S. 1 BayGO: Die Gemeinden können Satzungen erlassen) oder verpflichten (§ 1 III BauGB: Die Gemeinden haben die Bauleitpläne aufzustellen ...). Darüber hinausrichtensich primäre Regeln an Bürger, die diese zu einer tatsächlichen Handlung ermächtigen (Baugenehmigung) oder verpflichten (Bauverbot), und sekundäre Regeln an Bürger, die diese zum Erlaß einer Regel ermächtigen (Testament, Vertrag; wenn man diese als eigene rechtliche

1 4 6

Bydlinski (1982), Juristische Methodenlehre und Rechtsbegriff, S. 198.

1 4 7

Hart (1961), p. 40, S. 64.

1 4 8

Hart (1961), p. 113, S. 164.

364

J. Zur Bedeutung der Rechsprche

Regeln interpretieren will) oder verpflichten (Abschluß- oder Kontrahierungszwang149). Diese Unabhängigkeit läßt sich auch begründen, denn jede der drei Unterscheidungen bezieht sich auf ein anderes Moment einer möglichen Äußerung: auf den Adressat«! (öffentlich/privat), die Zentralfunktion der Äußerung (Verpflichtung=Präskription/Ermächtigung=Deskription) und den Inhalt des fraglich«! Verhaltens (Veränderungshandeln/Schaffung oder Änderung von Regeln150).

b) Bemerkenswert ist, daß Hart trotz seiner pragmatisch-multifunktionalen Ausgangsposition alle Rechtsnormen grundsätzlich als "Regeln" (rules) qualifiziert 151 , ihnen also verhaltensleitenden Charakter zuspricht. Sein Multifunktionalismus ist damit ähnlich wie bei Lampe und Schmidt (vgl. oben J. II. 6.), aber auch bei Larenz, in einen abgeschwächten, überwölbenden, präskriptiven Monismus eingebettet. Ungeklärt bleibt dabei aber, ob Rechtsnormen nicht auch deskriptiven Charakter haben können. Zwischen der monofunktionalen Bestimmung auf der Ebene der Règel und der multifunktionalen Bestimmung auf einer tieferen Ebene fehlt die Berücksichtigung der durch die Einbettung in die trialistische Kommunikationssituation vorgegebenen trifunktionalen Funktionsdifferenzierung. Es ist zwar nicht zu bezweifeln, daß bei Rechtsnormen wegen ihrer Inkorporation in ein Regelsystem eine erhebliche Funktionalisierung der Äußerungen durch die internen Regeln des Systems erfolgt (wie sie Hart mit der Unterscheidung zwischen primären und sekundären Regeln und Erkenntnis-, Änderungs- und Entscheidungsregeln bestimmt). Diese Überlagerung kann jedoch nicht dazu fuhren, daß die basale trifunktionale Einrahmung, die aller sprachlichen Kommunikation zugrunde liegt, vollkommen aufgehoben wird. Auf die Frage nach der Ausprägung der trifunktionalen Funktions-

1 4 9

Vgl. Medicus (1988), Bürgerliches Recht, Rdnr. 235; Palandt-Heinrichs (1992), Einf. v.

§ 145, 3 b: ζ . B. bei KFZ-Haftpflichtversicherungen gesetzlich angeordnet durch § 5 PflVersG oder ohne ausdiückliche Regelung bei Monopolstellung, soweit der Monopolist die Allgemeinheit mit lebenswichtigen Gütern versorgt. 1 5 0 1 5 1

Hart (1961), p. 79, S. 118.

Hart (1961), p. 8, S. 20; S. 117, p. 78; auf p. 15, S. 30 will Hart zwar den Begriff der "VerhaltensregeP nicht als Definition ansehen, um seine Theorie der Gebrauchsdefinition und sein an Wittgenstein angelehntes Postulat der Familienähnlichkeit nicht zu gefährden, aber im gesamten Buch kennzeichnet er die Rechtsnormen als "Regeln".

XI. Eine trifunktionale Bedeutungstheorie der Rechtaaprache

365

differenzierung im Rahmen der Rechtssprache bleibt Hart aber eine Antwort schuldig.

XI. Eine trifunktionale Bedeutungstheorie der Rechtssprache

Um der Funktion der Rechtssprache gerecht zu werden, empfiehlt es sich gemäß der am Anfang dieses Kapitels gemachten Einteilung -, die einzelnen Bereiche dieses weiten und wenig bestimmten Sprachgebiets zu unterscheiden:

i. Die Gesetzessprache

Versucht man, die dargestellten Theorien und Modelle zur Bedeutung der Gesetzessprache zusammenfassend zu würdigen, und berücksichtigt man auch ihre historische Abfolge, so schälen sich neben der schon erwähnten Abkehr von monistischen Erklärungen zwei Essentialia heraus:

a) Verhaltensanleitung und Verhaltensbeeinflussung

Zentrales Problem ist die Verhaltensbezogenheit von Rechtsnormen. Eine monistisch-verhaltensanleitende (präskriptive) Funktion lehnen zwar neuere Theoretiker als generelles Kennzeichen überwiegend ab. Gleichzeitig wollen sie mit einer mehr oder minder einheitlichen Kennzeichnung als "Norm" (Weinberger, Kelsen), "Regel" (Hart), "Bestimmungssatz" oder "Sollen" (Lampe u. a.) aber eine gewisse Verhaltensbezogenheit der Rechtsnormen aufrechterhalt«!, ohne jedoch eine klare oder akzeptable Abgrenzung zur verhaltensanleitenden Funktion der Präskriptionen geben zu können.

Diese läßt sich - wie schon angedeutet wurde (I. VIII.) - nur mit Hilfe der strengen Unterscheidung von Verhaltensanleitung und Verhaltensbeeinflussung bewerkstelligen:

366

J. Zur Bedeutung der RechUp rche

Die Verhaltensanleitung drückt als Zentralfunktion der Präskription den Will«i des Sprechers und die entsprechende Aufforderung an den Hörer aus, ein bestimmtes Verhalt«! vorzunehmen. Die Verhaltensbeeinflussung ist dageg«! eine m«!schliche Handlung, die kausalen Einfluß auf das Verhalt«! eines ander«! Menschen haben kann. Dabei muß diese nicht wie die Verhaltensanleitung notwendig in einer Äußerung, also sprachlichem Handeln, bestehen, sondern kann auch ein rein tatsächliches Handeln sein, ζ. B. das Errichten oder Abbau«! einer Straß«isperre. Wird die Verhaltensbeeinflussung durch eine Äußerung bewirkt, so handelt es sich entweder um eine Deskription oder eine Evaluation. Beispielsweise wird eine Gegebenheit beschrieben oder bewertet, mit der Folge, daß die andere Person sich in bestimmter veränderter Weise verhält. Dabei ist keine spezielle Intention des Sprechers notwendig. Es kann demjenigen, der durch sein Handeln das Verhalten eines anderen beeinflußt, also gleichgültig sein, ob dieser tatsächlich in irgendeiner Weise reagiert. Das Recht ist in seinen Präskriptionen verhaltensleitend. Dort, wo dies nicht der Fall ist, beschränkt es sich in seiner unmittelbaren Wirkung auf die sprachliche Verhaltensbeeinflussung, kann aber dadurch indirekt auch eine tatsächliche Beeinflussung des Verhaltens bewirken. So fuhrt die gesetzliche Ermächtigung an die Sozialämter zur Sozialhilfeauszahlung zu einer tatsächlich«! Verhaltensbeeinflussung beim Empfanger: Dieser hat mehr Geld zum Leben zur Verfugung. Jede Verhaltensanleitung ist auch eine Verhaltensbeeinflussung, aber nicht umgekehrt. Die beiden Begriffe steh«! also in einem genus-species-Verhältnis zueinander. Will man die Gesetzessprache kennzeichnen, so kann man feststellen, daß sie nicht nur aus verhaltensanleitenden Äußerungen besteht, wie die Imperativentheorie meinte. Typisch ist darüber hinaus, daß keine beliebigen anderen Deskriptionen und Evaluationen anzutreffen sind, sondern nur verhaltensbeeinflussende. Äußerungen, die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit kein Verhalten beeinfluss«! können (etwa über Größe, Umfang, Beschaffenheit oder Schönheit des Mondes oder historische Ereignisse152),

ιο Aber selbst die Erwähnung historischer Ereignisse kann Veifaalten beeinflussen, wie deren häufige Heranziehung in praktischen Diskursen, ja sogar in Rechtsvorschriften zeigt. Vgl. die Präambel der Bayerischen Verfassung: "Angesichts des Trümmerfeldes, zu dem eine Staats- und

X I . Eine trifunktionale Bedeutungstheorie der Rechtaprache

367

fehlen. Neben den Präskriptionen findet man in der Gesetzessprache also auch verhaltensbeeinflussende Evaluation«! und Deskriptionen.

b) Der Adressat von Rechtsnormen

Als zweite zentrale Problematik stellt sich die Frage nach dem oder den Adressaten der gesetzlichen Äußerungen153, seien diese nun Präskriptionen oder nicht.

aa) Es läßt sich wohl kaum leugnen, daß es Normen gibt, die sich im Rahmen ihrer präskriptiven Wirkung ausschließlich an den rechtsunterworfenen Bürger wenden, ζ. B. die entsprechenden Steuerpflicht«!, die Verpflichtung, sich an einer Volkszählung zu beteiligen, oder Allgemeinverfugungen der Sicherheitsbehörden. Daneben bestehen aber auch Norm«i, die sich in ihrer präskriptiven Wirkung ausschließlich an staatliche Organe richten154, etwa Verwaltungsrichtlinien oder Kompetenznormen. Gleichzeitig können solche Normen auch eine deskriptive Funktion gegenüber nicht direkt angesprochenen Dritten erfüllen, also quasi ihre eigene Präskriptivität selbst an Dritte mitteilen. Sie tun dies sogar in der Regel, wenn sie öffentlich werden. So bestimmt Art 41 I 1 BayVwVfG, daß ein Verwaltungsakt nicht nur demjenigen bekanntzugeben ist, für den er bestimmt ist, sondern auch dem Betroffenen. Hierbei ist es im Hinblick auf das Ergebnis gleichgültig, ob die entsprechende deskriptive Wirkung gegenüber Dritten intendiert ist und diese direkt mitangesprochen werden - dann werden sie zum Adressaten - oder ob dies nicht der Fall ist - dann bleiben sie Nichtadressat«!. Wes«itlich ist, daß die Deskription in ihrer Wirkung nicht über die bloße Wiedergabe der Präskrip-

Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen die Überlebenden des zweiten Weltkriegs gefühlt hat,...". 1 5 3

Vgl. hietzu: Koch/Rüßmann (1982), Juristische Begründungslehre, S. 21; Kaufmann

(1982), S. 34. 1 5 4

Dies gesteht auch Kaufmann (1949), S. 183 zu.

368

J. Zur Bedeutung der Rechsprche

tion hinausgeht, denn dies unterscheidet eine mitsprechende Äußerung von der Einräumung eines Rechtes. Angemerkt sei noch, daß die hier getroffene Unterscheidung zwischen präskriptiver Adressierung und deskriptiver Sekundärwirkung mit Harts berühmter Differenzierung zwischen dem internen und dem externen (beschreibenden) Aspekt einer Regel koinzidiert 155. Allerdings stellt Hart seine These nur dar und erläutert bzw. begründet sie nicht näher.

bb) Man muß sich allerdings des weiteren - wie Mayer im Rahmen seiner Kulturnormtheorie (vgl. J. II. 5.) - die Frage stellen, wie die Adressierung von gesetzlichen Normen an den einzelnen rechtsunterworfenen Bürger vor sich geht. Dabei läßt sich eine Pluralität von Wegen kennzeichnen: (1) Durch direkte offizielle Bekanntmachung, ζ. B. den öffentlichen Aushang, daß Wehrpflichtige sich zur Musterung melden sollen; die Bekanntmachung neuer Straßenverkehrsvorschriften in den Medien; die Mitteilung der Strafbarkeit der Fälschung von Geldscheinen auf diesen selbst. (2) Durch indirekte öffentliche Information: Berichte über Prozesse, Gesetzesvorhaben, Parlamentsberatungen in den Medimi. Ein Beispiel aus jüngster Zeit ist die Strafbewehrung der Vermummung bei Demonstrationen. (3) Durch Bekanntwerden im Rahmen einer Exekution durch staatliche S telimi: Teilnahme an Gerichtsverhandlungen, Erörterungsterminen etc. (4) Durch den täglichen Umgang mit anderen Personen: das Verhalten anderer, das Gespräch mit ihnen, deren Rat. Dabei ist klar zwischen der Information über Moral- und über Rechtsnormen zu unterscheiden. Es ist offensichtlich, daß Kinder schon in einem relativ frühen Alter diese Unterscheidung lernen und wissen, daß es Dinge gibt, die man nicht tun darf, "weil es sich nicht gehört", und andere, "weil dann die Polizei kommt". Es kann also keine Rede davon sein, daß eine Bestimmung der Bevölkerung zu rechtstreuem Verhalten ausschließlich oder auch nur zu einem größeren Anteil über die von Mayer herangezogenen Kulturnormen erfolgt.

1 5 5

Hart (1961), p. 99, S. 145: Unbefriedigend bei Harta Ausfuhningen ist, daß er in beiden

Fällen von "statement" spricht. Dies rührt aus der mangelnden Differenzierung zwischen Deskription und Präskription.

XI. Eine trifunktionale Bedeutungstheorie der Rechtprache

369

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß der Mensch in den westlichen Industriegesellschaft«! auf vielfaltig«! und sich geg«!seitig durchdringenden, unterstützend«! und verstärkend«! Weg«! von Rechtsnorm«!, die ihn betreff«!, erfährt.

cc) Die Mehrzahl der Rechtsnormen ist aber offensichtlich nicht nur an d«i Staat oder den rechtsunterworfenen Burger, sondern an beide gerichtet156. Die Strafrechtsnorm«! verbieten (oder gebieten als unechte Unterlassungsdelikte) Handlung«! des Bürgers und bestimm«! gleichzeitig die Staatsanwaltschaft«! und Gerichte zur Strafverfolgung bei Zuwiderhandlung. Die Zivilnormen verpflichten die Zivilgerichte, bestimmte Verurteilung«! auszusprechen, gebieten es dem Verpflichtet«! zu leisten undteilendem Berechtigten die Bereitschaft des Staates mit, ihn in seiner Rechtsdurchsetzung zu unterstützen. Dies wird noch detaillierter ausgeführt werden. Vorab sei nur festgestellt: Die doppelte (oder dreifache) Adressierung einer rechtlichen Äußerung bedeutet nicht, daß an beide Adressaten eine Äußerung mit gleicher Funktion gerichtet ist. Es kann also durchaus an eine staatliche Stelle eine Präskription ergehen, während gegenüber dem rechtsunterworfenen Bürger eine Deskription erfolgt. Dies ist etwa typischerweise dann der Fall, wenn dem Bürger ein Recht eingeräumt157 wird und gleichzeitig die staatlich«! Stell«! zur Durchsetzung angewiesen werden. Aber selbst wenn eine Gleichheit der Zentralfunktion in verschiedene Richtung«! besteht, heißt dies noch lange nicht, daß dieselbe Funktion auch denselben Inhalt bedingt: So gebieten etwa die Strafrechtsnormen des besonderen Teils des Strafgesetzbuches den Unterworfenen die Unterlassung einer Handlung, während den staatlichen Stellen die Verurteilung bei entsprechender Zuwiderhandlung auferlegt wird. Schließlich ist zu beachten, daß - wie die soeben aufgeführte grobe Analyse typischer zivilrechtlicher Anspruchsnormen zeigt - auch mehrere Bürger, aber auch mehrere staatliche Stellen Adressat«! einer Rechtsnorm sein können.

1 5 6

Ebenso: Larenz (1960), S. 250, und die Briinner rechtstheoretische Schule: J. Π . 4.

1 5 7

Dabei muß schon an dieser Stelle betont werden, daß sich die Einräumung eines Rechts

nicht in der deskriptiven Funktion erschöpft, sondern in der Deskription nur die Zentralfunktion liegt, die durch weitere intrasystematische Funktionen überlagert und ergänzt wird. 24 v . d. Pfordten

370

J. Zur Bedeutung der RechUsprche

Um dies naher zu verdeutlichen, werden nun einzelne Typen von Rechtsnorm«! detaillierter untersucht. Dabei markier«! die klein«! Ope· ratorenindizes den jeweiligen Adressat«! der Äußerung:

c) Subjektive Rechte im Zivilrecht

Bei einer zivilrechtlichen Anspruchsnorm, wie etwa § 823 I BGB, ergeb«! sich drei Adressaten: der Berechtigte (b), der Verpflichtete (v) und die ausführenden staatlichen Stellen, also in diesem Fall die Zivilgerichte (s). Es lassen sich folg«ide Zentralfunktionen feststellen.

aa) Gegenüber dem Verpflichteten (v): die Präskription, bei Verwirklichung des Tatbestandes (p) Schadensersatz (q) zu leisten: D v (p) > P v (q). Diese impliziert die Evaluation, daß es positiv ist, wenn der Schad«i ausgeglichen wird: Ey (q). Darüber hinaus wird aber durch die allgemeine situative Einbettung der Zivilrechtsnormen in eine Rechtspraxis, bei der Ansprüche durch den Staat durchgesetzt werd«i, dem Verpflichtet«! auch mitgeteilt, daß die Bereitschaft des Staates besteht, bei entsprechender Willensbekundung durch den Berechtigt«! ( = Antrag auf Mahnbescheid, Klage, Betreibung der Zwangsvollstreckung, etc.: D (r)) die Verpflichtung durch Sanktionen (s) durchzusetzen: D (r) > D v (p&-q > s).

bb) Gegenüber dem Berechtigten (b): Es erfolgt eine Mitteilung des Gebots an (v) zu zahl«!: Dj, (P v (q)). Des weiteren wird positiv bewertet, wenn (v) zahlt: E^ (P v (q)). Schließlich wird als entscheidender Punkt dem Berechtigt«! die Bereitschaft des Staates erklärt, sein«! Anspruch im Falle einer entsprechenden Will«isbekundung durchzusetzen: D (r) > Dj, (p&-q > s). Dabei ist die zusätzliche Funktionsqualifikation durch die Einbettung der Äußerung in den Funktionszusammenhang der Rechtsordnung so stark, daß die deskriptive Zentralfunktion anders als bei Präskriptionen in erheblichem Maße überlagert und ergänzt wird. Es wäre also falsch anzunehmen, die Äu-

XI. Eine trifunktionle Bedeutungstheorie der Rechtprache

371

ßerungea subjektiver Rechte hatten ausschließlich deskriptive Funktion. Nur die zugrundeliegende, unspezifizierte Zentralfunktion ist deskriptiv.

cc) Gegenüber den staatlich«! Stellen (s): Es erfolgt die Anweisung, im Falle der Nichtleistung nach Klageerhebung Sanktion«! durchzufuhr«!: D (r) >Ps(p&-q>s).

d) Materielle Strafrechtsnormen

Bei einer Tatbestandsnorm des Strafrechts bestdien zwei Adressaten: der rechtsunterworfene Bürger (b) und die staatlichen Stell«! (s) (die sich wiederum in Staatsanwaltschaft und Gericht aufgliedern, was aber hier vernachlässigt werden soll):

aa) Gegenüber dem Bürger (b): Es erfolgt die Präskription, nicht zu toten: Pb (-p) mit der impliziten Evaluation: E^ (-p). Des weiteren wird die Bereitschaft erklärt, im Falle der Zuwiderhandlung Sanktionen zu verhäng«!: D^ (p >s)

bb) Gegenüber dem Staat (s): Hier ergeht die Anweisung, im Falle der Zuwiderhandlung Sanktionen auszufuhren: D (p) > P s (s).

Interessant ist in diesem Zusammenhang der Vergleich mit § 211 StGB: Hier erfolgt keine Anweisung an den Bürger, das Opfer nicht im Rahmen der entsprechenden Qualifizierungsmerkmale zu töten, denn das Tötungsverbot des § 212 schließt ja jede Form der Tötung ein, auch die entsprechend qualifizierte. § 211 enthält also nur eine Präskription an die staatlich«! Stell«!, im Falle der Verwirklichung der qualifizierenden Merkmale (q) entsprechend strenger zu bestrafen: D (p&q) > P s (s). An den Bürger ergeht nur die Mitteilung der Bereitschaft zur strengeren Bestrafimg: Dj, (p&q > s).

372

J. Zur Bedeutung der RechUsprche

e) Erlaubnisse und Derogation«!

Wie schon bei der Erörterung der Logik der Präskription«! deutlich wurde (I. VIII.), hat die gesetzliche Erlaubnis keine verhaltensanleitend-präskriptive, sondern eine verhaltensbeeinflussende Wirkung. Diese erzielt sie, indem die teilweise oder, im Fall der Derogation, vollständige Aufhebung der Präskription beschrieben wird. Zur normalen Funktion der Deskription kommt damit die durch die spezielle Mitteilung der Aufhebung erzielte hinzu: Dies gilt etwa fur die Rechtfertigung wegen Notwehr gemäß § 32 StGB:

aa) Gegenüber dem Bürger (b): Diesem wird mitgeteilt, daß die strafrechtlich«! Präskriptionen an ihn unter den Notwehrbedingungen (r) aufgehoben (q) sind: Dj, (r > q). Außerdem erfolgt eine positive Bewertung der Notwehrhandlung: D (r) > Ε (ρ).

bb) Gegenüber dem Staat (s): Diesem wird mitgeteilt, daß die Präskription, die ihn zur Bestrafimg (s) verpflichtet unter den Voraussetzungen der Notwehr (r), aufgehoben (q) ist: D s (r > q

).

Bei der Derogation entfallt lediglich die durch die Bedingung bewirkte Einengimg der Aufhebung der ursprünglich«! Präskription. Die Norm wird ohne Bedingung aufgehoben.

f) Ermächtigungen

Ermächtigung«! beschreiben zum einen den Verzicht der ermächtig«iden Staatsgewalt auf Ausübung ihrer eigen«! Befugnisse in einem bestimmten Bereich und die Übertragung an eine andere staatliche Stelle. Regelmäßig werden staatliche Stell«! aber hierdurch auch angewies«!, eine Aufgabe generell zu übernehmen. Auf diese Weise wird die untergeordnete Stelle in ihrem Aufgabenbereich erst konstituiert. So verpflichten die zivilprozessual«! Zuständig-

X I . Eine trifunktionale Bedeutungtheorie der Rechtprache

373

keitsvorschriften die Gerichte, die entsprechend«! Sachen zu bearbeiten. Das Parlament konstatiert mit dem Gesetzeserlaß gleichzeitig, daß es die Bearbeitung der entsprechend«! Fälle nicht als parlamentarische Aufgabe ansieht. Gegenüber dem Bürger erfolgt bei Ermächtigungen regelmäßig keine adressierte, sondern nur eine indirekte Mitteilung über die interne Gewaltenteilung innerhalb des Staatsapparats (vgl. b) aa)).

g) Definitionen und Begriffsbestimmungen

In beinahe allen Rechtsgebieten finden sich Definitionen und Begriffsbestimmungen, wie etwa in § 22 StGB 158 . Diese Definitionen sind ihrer Darstellungsweise nach Nominaldefinitionen 159, d. h. sie bestimmen die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks durch die Angabe anderer Ausdrücke. Dabei ist aber doch zwischen einer rein direktreferentiellen Zuordnung ("Hans heißt auch Peter") und der Angabe von Kennzeichnungen zu unterscheiden. Im letzteren Fall - der im juristischen Kontext regelmäßig vorliegt - wird nicht nur der Sprachgebrauch erklärt, sondern auch etwas über den fraglichen Gegebenheitsbereich ausgesagt160. Durch die Kennzeichnung wird das betreffende Verhalten oder bestimmte Merkmale der beteiligten Personen, die zur Grundlage der rechtlichen Regelung gemacht werden sollen, näher dargestellt und bestimmt. Die oben angesprochene Definition des § 22 StGB zeigt dem Leser etwa, daß es innerhalb der Ausführung einer Tat einen Punkt des unmittelbaren Ansetzens gibt und daß man diesen Punkt auch aus verschiedenen Perspektiv«i (objektive und subjektive Perspektive) bestimmen kann. Die gesetzlichen Definitionen beschreiben und strukturieren also zum einen die Wirklichkeit in bestimmter Weise. Zum anderen haben die Definition«! im juristisch«! Kontext nicht nur die soeben dargestellten sprachlich«! und tatsächlichen heuristischen Funktionen,

1 5 8

$ 22 StGB: "Eine Straftat versucht, wer nach seiner Vorstellung von der Tat zur Ver-

wirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt." Vgl. auch § 11 StGB. 1 5 9

Vgl. Weinberger (1979a), S. 174.

1 6 0

Weinbeiger (1979a), S. 174, gesteht ausdriicklich zu, daß Definitionen auch eine solche

Funktion erfüllen.

J. Zur Bedeutung der Rechspche

374

d. h. sie wollen nicht nur Auskunft über bestehende Synonymien und Wirklichkeitsverhältnisse geben, sondern diejenigen, die mit den entsprechenden Gesetzestexten umgehen müssen (Staat, Bürger, Rechtsanwalt etc.), werden darüber hinaus dazu angeleitet, einzelne Ausdrücke in entsprechender Weise zu verstehen und zu verwenden. Dabei erfolgt auch eine Aufforderung zu eigenständiger Interpretation und Deutung im Lichte des jeweiligen Einzelfalls. Je unbestimmter und vager die jeweils verwendeten Rechtsbegriffe sind, desto stärker ist diese Aufforderung akzentuiert. Keine Zustimmung verdient aber die noch weitergehende, von Vertretern einer rhetorischen Semiotik propagierte, totale Ersetzung der erwarteten Deutungsaktivität "durch die generative Leistung der rhetorischen Situation"161. Damit wird den sprachlichen Zeichen gegenüber der Situationsbestimmung jede Funktion abgesprochen. Dies kann schon fur den Normalfall nicht gelten, weil die Situation, allein ohne Bezugnahme auf ein Zeichen, überhaupt keine kommunikative Funktion ausüben kann. Für das Recht stimmt es aber umso weniger, weil dieses intern über die normative Regel der Bindung des Richters bzw. der Verwaltung an das Gesetz eine gesteigerte Beachtung der nichtsituativen Zeichenfunktion zur Pflicht macht, die offensichtlich - zumindest nach außen - auch regelmäßig befolgt wird 162 . Insgesamt besteht jedenfalls neben dem deskriptiven auch ein präskriptives Moment. Dieses ist umso ausgeprägter, je stärker die Definition vom Alltagssprachgebrauch abweicht und eine fachsprachliche Verwendung konstituiert. Man kann diese doppelte deskriptive (d) und präskriptive (p) Funktion der Definitionen wie folgt symbolisieren: D (d) & Ρ (ρ).

h) Evaluationen im Recht

Wie sich aus dem bisher Ausgeführten ergibt, kommen Evaluationen in Gesetzestexten praktisch nur impliziert oder in unechter Form als präskribierte

1 6 1

Schreckenberger (1977), Rhetorische Semiotik als rechtawissenachaftliche Grundlagen-

disziplin, S. 42. 1 6 2

Neumann (1976), Der "mögliche Wortsinn" als Auslegungsgrenze in der Rechtsprechung

der Strafsenate des BGH, S. 42.

X I . Eine trifunktionale Bedeutungstheorie der Rechtasprache

375

vor. Die Gesetzgeber sehen offensichtlich in der Regel keinen Anlaß, isoliert Wertungen auszudrucken, um damit entsprechende Wertungen beim Bürger oder staatlichen Stell«! hervorzurufen. Sie greifen lieber sofort zur verhaltensanleitenden Präskription. Hierzu gibt es nur wenige Ausnahm«!. So spricht die Präambel der bayerisch«! Verfassung eine deutlich negative Wertung gegenüber der nationalsozialistischen "Staats- und Gesellschaftsordnung ohne Gott, ohne Gewissen und ohne Achtung vor der Würde des Menschen" aus. Bemerk«iswert als Einzelfall ist auch § 1 S. 1 Autobahn-Richtgeschwindigkeits-Verordnung: "Den Führern von Personenkraftwagen sowie von anderen Kraftfahrzeugen mit einem zulässigen Gesamtgewicht bis zu 2,8 t wird empfohlen ..., nicht schneller als 130 km/h zu fahren." Dem Bürger wird keine direkte Handlungsanleitung gegeben, sondern nur eine Wertung ausgesprochen, die aber sein Verhalten beeinflussen soll. - Diese Vorschrift ist nur als politischer KompromiB im Rahmen des erbittert ausgetragenen Streits um Höchstgeschwindigkeiten auf Autobahnen verständlich. Demgegenüber greif«! die Gesetze relativ häufig auf außergesetzliche Wertungen zurück, so etwa bei der Heranziehung von "Treu und Glauben" in § 242 BGB oder den verwaltungsrechtlichen Ermessensvorschriften. Die Tatsache, daß die Gesetzessprache nur in sehr geringem Maße isolierte Wertungen enthält, sollte jedoch nicht zu dem vorschnellen Schluß Anlaß geben, Wertungen spielten bei der Begründung und Ausgestaltung des Rechts keine oder nur eine untergeordnete Rolle. Hierauf wird im nächsten Kapitel zurückzukommen sein.

i) Zusammenfassung

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die Rechtssprache alle drei Funktionen des Kommunikationsdreiecks ausschöpft 163. Versuche, die Gesetzessprache auf ein monistisches oder dualistisches Modell zu reduzieren, schlag«! fehl. Allerdings ist offensichtlich, daß die Gesetzgeber in vielen Fäl-

1 6 3

Man könnte sogar behaupten, daß die Beschränkung auf das trifunktionale Modell noch

ausgeprägter ist als in der Alltagssprache, weil sprachliche Sondeibereiche, wie etwa Lyrik oder Poesie, wegfallen.

376

J. Zur Bedeutung der Rechprache

len die Gesetzesfunktion in der Verhaltensanleitung sehen und deshalb eine präskriptive Sprache benutzen. Die deskriptive Sprache kommt dreifach zum Einsatz: dort, wo das universell-generelle Netz von Präskriptionen über Tatbestandsvoraussetzungen mit dem Netz der Deskriptionen und damit mit den tatsächlichen Gegebenheiten verknüpft ist; dort, wo Erlaubnisse, Derogationen, Definitionen und Ermächtigungen zum Einsatz kommen; schließlich dort, wo Information«! über Präskription«! weitergegeben werden. Evaluationen haben als implizite und präskribierte eine wichtige Funktion, tauchen aber kaum isoliert auf. Eine besondere Komplizierung erfahr«! die Rechtsnormen in ihrer Funktionserfullung dadurch, daß die meisten Vorschrift«! mehrere Adressaten haben und auch unterschiedliche Funktionen in einer Norm ausgedrückt werden können. Hierin besteht aber zugleich die große Leistung entwickelter Rechtssysteme: Anders als primitive Rechtssysteme weis«! sie nicht nur eindimensional orientierte Präskriptionen auf, sondern organisieren mit einer Äußerung ein mehrdimensionales Sozialgefuge von mehreren staatlichen Stellen und Burgern. Besonderes Spezifikum der Gesetzessprache ist, daß alle gesetzlichen Äußerung«! in ein relativ festgefugtes Netz von anderen Gesetzen eingepaßt sind und darüber hinaus im Rahmen des Rechtssystems bestimmte spezifische Binnenfunktionen übernehmen, wie etwa im Falle der Ermächtigungen. Diese Binnenfunktionen überlagern und ergänzen in erheblich stärkerem Maße als in normalen ungebundenen Äußerungen die trialistisch«! Grundfunktionen, so daß neben der groben und schematischen trifunktionalen Funktionsbestimmung noch weitere Funktionsbestimmungen nötig sind. Das trialistische Kommunikationsdreieck bleibt aber als Tiefenstruktur grundsätzlich erhalten und kann nie völlig verlassen werden.

2. Die Urteilssprache

Hier muß man zivil- und verwaltungsgerichtliche Urteile auf der einen und Strafurteile auf der anderen Seite unterscheid«!.

XI. Eine trifunktionale Bedeutungstheorie der Rechtsprache

377

a) Zivil- und Verwaltungsgerichtsurteile

Die Urteile der Zivil- und Verwaltungsgerichtsbarkeit weisen drei Teile auf, die die Vermittlung von Lebenssachverhalt und juristischer Dezision bewirken: Im "Tatbestand" wird der zugrundeliegende Lebenssachverhalt beschrieben. Dieser Teil des Urteils hat deskriptiven Charakter. Allerdings handelt es sich nicht um eine völlig freie und beliebige Deskription, sondern es werden nur die entscheidungserheblichen Tatsachen aufgenommen. Des weiteren ist die Darstellung um die Beschreibimg der prozessualen Gegebenheiten, innerhalb derer sich die Tatsachen darbieten (Anträge, Streitigkeit der Tatsachen, Prozeßgeschichte), angereichert. In den "Gründen" erfolgt die Vermittlung der so aufbereiteten deskriptiv dargestellten Tatsachen mit der letztlichen Entscheidung im Tenor und den deskriptiv dargestellten gesetzlichen Vorschriften, die zur Entscheidung herangezogen werden. Man könnte annehmen, dies sei der Ort, wo die Deskriptionen des Tatbestandes durch Evaluationen mit der Präskription des Tenors verknüpft würden. Die sog. Freirechtsbewegung164 würde eine solche Meinung wohl auch unterstützen. Die tatsächliche Analyse von Urteilen zeigt jedoch, daß die Richter hier Wertungen möglichst vermeiden und v. a. gesetzliche Präskriptionen und andere Gerichtsurteile bzw. Meinungen der Literatur als "Autoritätsbeweise" anfuhren 165. V. a. im Rahmen der Auslegung und der Beweiswürdigung (Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Zeugen) tauchen dann aber auch Evaluationen auf. Hier handelt es sich um ein kaum entwirrbares Amalgam von Tatsachen- und Normdeskriptionen und versteckten und offenen, gesetzesgesteuerten und freien Evaluationen166. Im folgenden Kapiel wird hierauf im Rahmen des Problems der Begründung noch einmal detaillierter zurückzukommen sein.

1 6 4

Vgl. dazu: Kaufmann (1976a), S. 114ff.

165 vgl. die empirischen Untersuchungen bei Rahlf (1976), Die Rolle der historischen Auslegungsmethode, S. 37. 1 6 6

Etwas anders hier Neumann (1977), S. 122: Der Übergang von generellen zu konkreten

Rechtsnormen vollziehe sich über Aussagesitze, also über Satze, die einer deskriptiven Sprache zugehören.

378

J. Zur Bedeutung der Rechtssprache

Der "Tenor" des Urteils ist dagegen differenziert 167 zu erfassen, je nachdem, ob es sich um ein Leistungs-, Feststellungs- oder Gestaltungsurteil handelt 168 :

aa) Beim Leistungsurteil könnte man zweifeln, ob die hierdurch ausgesprochene Präskription zur Leistung eine bloße Wiederholung der Gesetzespräskription gegenüber dem Verpflichteten darstellt oder eine eigenständige, neue Proskription. Da sich wesentliche Bestandteile des Tenors aber aus dem Gesetz nicht ergeben, so etwa Adressat, Empfänger, Art und Höhe der Leistung, muß man von einer eigenständigen Präskription gegenüber dem Verurteilten ausgehen. Auch die Kostenentscheidung stellt eine Präskription dar, während die Vollstreckbarkeitserklärung einerseits eine Präskription an die Vollstreckungsorgane beinhaltet, die Vollstreckung zuzulassen, und andererseits dem Vollstreckungsgläubiger die Bereitschaft des Staates erklärt, die Vollstreckung zu ermöglichen.

bb) Bei Feststellungsurteilen ist ein deskriptiver Charakter der Feststellungsformel offensichtlich, wobei sich die Deskription im Zivilurteil regelmäßig auf gesetzliche Präskriptionen bezieht. Wie sich aus unseren früheren Überlegungen ergibt, ändert das jedoch nichts an ihrem deskriptiven Charakter. Für Kosten- und Vollstreckbarkeitsausspruch gilt dasselbe wie bei den Leistungsurteilen. Eine interessante Sonderstellung nehmen die sog. echten und unechten Fortsetzungsfestellungsurteile gemäß § 113 I 4 VwGO ein. Hier wird als Feststellungsinteresse für die Feststellung der Rechtswidrigkeit eines erledigten Verwaltungsaktes auch das sog. Rehabilitationsinteresse anerkannt169. Im Rahmen eines solchen Feststellungsurteils kommt es dann aber v. a. auf die negative Bewertung des fraglichen staatlichen Handelns an und nicht auf die bloß feststellende Darstellung. Hier liegt also einer der seltenen Fälle vor, in denen eine isolierte Evaluation in der Rechtssprache auftritt. Die Rechtsordnung will

1 6 7

Zu undifferenziert ist hier Neumann (1977), S. 121, der Urteile generell als Sollsitze an-

sieht. 1 6 8

Anderer Ansicht ist Rödig (1980), S. 170, F N 28: Venirteilungsurteile unterscheiden sich

von Feststellungsurteilen nur in der Voraussetzung fur die Zwangsvollstreckung. 1 6 9

Vgl. Kopp (1989), Verwaltungsgerichteoidnuqg, § 113, Rdnr. 60.

XI. Eine trifunktionale Bedeutungstheorie der Rechtsprache

379

dem Bürger mittels Abwertung des rechtswidrigen Verhaltens durch den Richter Genugtuung verschaffen, weil die Erledigung der Sache eine andere Möglichkeit nicht mehr zuläßt.

cc) Die Gestaltungsurteile weisen eine zwittrige Gestalt auf. Zum einen wird mit ihnen das eigene im Gestaltungakt vollzogene gerichtliche Tun zur gleichen Zeit beschrieben. D. h. Rechtsgültigkeits- und Kommunikationswirkung fallen wie bei gesetzlichen Rechtsnormen in einer Äußerungshandlung zusammen. Wird eine Ehe geschieden, so vollzieht der Richter die Scheidung und teilt dies gleichzeitig mit der Vollzugshandlung mit. In vielen Fällen enthalten solche Gestaltungsurteile aber auch noch feststellende oder präskriptive Elemente: so etwa bei der Ehescheidung die Verpflichtung an die ehemaligen Ehepartner zur Unterhaltsleistung, zum Zugewinnausgleich, zum Versorgungsausgleich usw.

b) Strafurteile

Im Rahmen des Strafurteils enthalten die Gründe mit den tatsächlichen Feststellungen, der Beweiswürdigung und der rechtlichen Erörterung eine Tatbestand und Gründen des Zivilurteils vergleichbare deskriptive bzw. gemischt deskriptiv/evaluativ/präskriptive Gestaltung. Das Urteil ist im Falle der Verurteilung eine Präskription, und zwar wie beim Strafgesetz eine doppelte: Der Verurteilte wird zum einen angewiesen, die verhängte Strafe auf sich zu nehmen, also je nach Art der Strafe die entsprechende Summe zu bezahlen oder die Haft anzutreten und die Kosten zu entrichten. Gleichzeitig werden die Vollstreckungsorgane170 zur Vollstreckung der Strafe bestimmt. Im Falle des Freispruchs wird dagegen deskriptiv dargestellt, daß das fragliche Verhalten nicht unter ein Strafgesetz zu subsumieren war. Die präskriptive Wirkung der Rechtskraft, also etwa das Verbot an ein anderes Gericht, eine rechtskräftig entschiedene Tat noch einmal abzuurteilen,

1 7 0

Nach deutschem Recht die Staatsanwaltschaft. Vgl. $ 451 I StPO.

J. Zur Bedeutung der RechUeprache

380

erwächst nicht aus der Entscheidung selbst, sondern ist Ergebnis der gesetzlichen Rechtskraftregelung 171.

c) Zusammenfassung

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß fur die Urteilssprache ein ähnlicher Befund gilt wie fur die Gesetzessprache. Es finden sich sowohl präskriptive als auch deskriptive Äußerungen. Die Evaluation ist regelmäßig bloß impliziert. Einzige Ausnahme sind die angesprochenen Fortsetzungsfeststellungsurteile zur Befriedigung des Rehabilitationsinteresses.

3. Die Gerichtssprache

Bei Gericht werden je nach Fall und Prozeßart die unterschiedlichsten sprachlichen Äußerungen verwendet. Es erfolgen deskriptive Äußerungen über tatsächliche Begebenheiten. Man nimmt Bewertungen von Zeugenaussagen vor. Der (Vorsitzende) Richter gibt im Rahmen seiner Verhandlungsleitung Anweisungen. Man muß ein vielgestaltiges Konglomerat von Äußerungen mit den unterschiedlichsten Funktionen konstatieren, das in dieser Hinsicht im Ganzen gesehen von der Vielgestaltigkeit des Alltagsgesprächs nur wenig abweicht. Nur die gesetzlich bestimmte unterschiedliche Verteilung der Prozeßrollen bedingt hier eine besondere Häufigkeitsverteilung einer der drei Zentral funktionen einerseits, und weist den Äußerungen andererseits in starkem Maße spezielle Funktionen zu, die die gerichtlichen Äußerungen im einzelnen ganz deutlich von Alltagsäußerungen unterscheiden.

171

Vgl. Art. 103 m GG.

XI. Eine trifunktionale Bedeutungtheorie der Rechtsprache

381

So muß sich etwa der zur Wahrheit ermahnte Zeuge hauptsächlich deskriptiv äußern. Der Richter, der die Verhandlung leitet, wird im Rahmen der Verhandlungsleitung v. a. präskriptive Äußerung«! tätig«!. Er ist verpflichtet, persönliche Evaluationen zu vermeiden. Er darf vor Ausschöpfung aller Beweismittel keine festgelegte Beschreibung seiner Überzeugung«! geben. Der Staatsanwalt gibt im Rahm«! der Verlesung der Anklage deskriptiv das Ergebnis der Ermittlungen wieder, wird aber im weiter«! Verlauf des Prozesses auch wertend tätig. Er darf aber anders als der Richter keine verhandlungsleitenden Präskriptionen aussprechen. Gleiches gilt fur die Anwälte.

4. Die Verwaltungssprache

Will man sich auf die sprachliche Funktion des nach außen gerichteten formalen Verwaltungshandelns in Form eines Verwaltungaktes beschränken, so läßt sich auch hier eine Pluralität der Grundfunktionen feststellen. Legt man die von der Verwaltungsrechtswissenschaft vorgenommene172 Differenzierung in befehlende, rechtsgestaltende und feststellende Verwaltungsakte zugrunde, so ergibt sich hinsichtlich der sprachlichen Funktionsbestimmung das gleiche Bild wie bei der Unterteilung der Urteile in Leistungs-, Gestaltungs- und Feststellungsurteile. Für das verwaltungsrechtliche Rechtsgespräch, etwa eine Anhörung im Rahm«! eines Planfeststellungsverfahrens (§ 73 VwVfG), gilt ähnliches wie für das Rechtsgespräch vor Gericht. Bezüglich der Sprache öffentlich-rechtlicher Verträge, ergibt sich das gleiche wie bei der allgemeinen Vertragssprache.

5. Die Vertragssprache

Kennzeichnend für Verträge sind Redewendungen wie "... ist verpflichtet, ...". Was nicht zufinden ist, sind klar formulierte Präskriptionen. Dies hat

1 7 2

Vgl. Maurer (1988), Allgemeines Verwaltungsrecht, % 9 Rdnr. 44ff.

J. Zur Bedeutung der Rechtssprache

382

seinen Grund in der Tatsache, daß im letztendlich konsentierten Vertragstext nicht die verhaltensanleitende Äußerung der einen Partei gegenüber der anderen geäußert wird. Es ist umgekehrt so, daß jede Partei nicht von der anderen etwas fordert, sondern die eigene Bereitschaft zur Leistung erklärt. Dies wird schon aus den konstitutiven Elementen des Vertrages deutlich. Nötig sind gemäß §§ 145, 147 BGB Angebot und Annahme als Willenserklärung«!. Dabei handelt es sich also um die Erklärung der Bereitschaft, die eigene Verpflichtung zu erfüllen und den Vertrag als Ganzes so zu akzeptier«!. Der Vertragstext hat somit eine deskriptive Zentralfunktion 173. Die gesetzliche (§ 433 I 1 BGB) oderrichterliche Präskription, die jed«! Vertragspartner tatsächlich anweist, zu erfüllen, ergibt sich erst in Anknüpfung an die im Vertrag enthaltenen deskriptiven Verpflichtungserklärung«! der Vertragspartner.

6. Die Rechtswissenschaftssprache

Für diejenigen, die schon die Gesetzessprache deskriptiv interpretiert haben, gilt dies auch für die Rechtswissenschaftssprache174. Aber auch unter den Anhängern einer präskriptiven Bestimmung der Gesetzessprache läßt sich eine ähnliche Position ausmachen: Kels«! versteht die Sprache der Rechtswissenschaft rein deskriptiv175. Die Rechtswissenschaft habe das Recht von außen her zu erkennen und zu beschreiben. Ihre niemanden und zu nichts verpflichtenden und berechtigend«! Sätze könnten im Gegensatz zu den Rechtsnormen wahr oder falsch sein. Engisch betont dagegen, daß die Rechtswissenschaft nicht neben und hinter dem Recht einhergehen müsse, sondern das Leben in und unter dem Recht mitgestalten dürfe 176. Er weist ihrer Sprache damit offensichtlich implizit präskriptiven Charakter zu.

1 7 3

Anderer Meinung ist Garstka (1979), Zum Beitrag der Linguistik zur rechtswissenschaftlichen Forschung, S. 100, der von einer pragmatischen Position aus die Ansicht vertritt, bei der Äußerung einer Verpflichtungserklärung liege keine Deskription vor. 1 7 4

Albert (1978), S. 72, F N 27 verweist hier auf Alf Ross (1958), On Law and Justice.

1 7 5

Kelsen (1979), S. 123; (1960), S. 73ff.

1 7 6

Engisch (1956), S. 8.

XI. Eine trifunktionale Bedeutungtheorie der Rechtasprache

383

Einen dritten Weg geht Larenz. Er spricht der Jurisprudenz als "Nonnwissenschaft"177 gegenüber den szientistischen Wissenschaft«! eine Sonderrolle zu. Es bestehe ein Unterschied zwisch«! der Erfassung von faktischen Zusammenhangen und normativem Sinn, zwischen faktischer und normativer "Geltung". Was "Soll«!", was "Rechtfertigung" meinte, ließe sich in der Sprache, in der über Faktisches geredet werde, nicht wiedergeben178, da diese normativ«! Begriffe eine eigene Sinnsphäre konstituierten. V. a. sei eine Übersetzung normativer Ausdrucke in faktische - wie sie etwa Luhmann propagiere 179 - nicht möglich. In Anlehnung an d«i späten Wittgenstein soll die Sprache der normativen Aussagen, d. h. der Aussag«i über Normatives, ein besonderes Sprachspiel konstituieren180. Larenz verdient sicher darin Zustimmung, daß sich Ausdrücke und Äußerungen der Gesetzes- bzw. Normsprache nicht beliebig in synonyme außeijuristische Termini übersetzen lassen. Die präskriptive Sprache kann nicht auf die deskriptive reduziert werden. Dies ergibt sich schon daraus, daß den sprachlichen Äußerungen innerhalb des Rechtssystems über die allgemeinen Zentralfunktionen hinaus spezielle Binnenfunktionen zugewiesen werden. Mit Definitionen und Begriffsbestimmungen werden eigene fachsprachliche Regelungen getroffen. Dies bedeutet aber, anders als Larenz meint, noch nicht, daß man dieses eigenständige Funktionssystem nicht deskriptiv beschreiben kann 181 . Unzulänglich ist lediglich die alleinige Deskription als Faktum. Larenz übersieht, daß der Transport von kommunikativen Sinngehalten nicht die Deskription dieser Sinngehalte ausschließt. So beschreiben etwa die angewandten Sprachwissenschaften die Übertragung bestimmter Sinngehalte in einer be1 7 7

Larenz (1960), S. 195.

1 7 8

Larenz (1960), S. 199. Ebenso: Kunz (1977), S. 13f: Die Rechtswissenschaft habe es mit

einem Gegenstande zu tun, der nicht wie ein Faktum wertneutral analysiert, sondern nur durch wertenden Nachvollzug der im Recht enthaltenden Sachrichtigkeitsbewertungen erschlossen werden könne. 1 7 9

Larenz (1960), S. 200.

1 8 0

Larenz (1960), S. 201. In ahnlicher Weise kann fur Podlech (1970), Weitungen und

Werte im Recht, S. 195, über den Bereich des Sollena nicht in einer rein deskriptiven Sprache gesprochen werden. 1 8 1

Ebenso Albert (1978), S. 73f: Wenn die Regeln des positiven Rechte selbst normativen

Charakter haben, so muß muß das keineswegs auch auf die Aussagen der Jurisprudenz zutreffen. Vgl. auch Albeit (1968), S. 63f: "... aber solche Aussagen können, wie schon Max Weber gesehen hat, kognitiv-informativen Charakter haben. Sie können die Wertungen der analysierten Individuen und Gruppen beschreiben, erklaren und voraussagen, ohne selbst Wertgehalt zu haben.

384

J. Zur Bedeutung der Rechsprache

stimmten Sprache. Und selbst innerhalb einer einzigen Sprache lassen sich Objekt- und metasprachliche Ebene unterscheid«!. Dies ist nicht wesentlich anders, wenn die beschriebenen Äußerungen - wie im Falle der Sprache der Rechtsnorm«! - v. a. präskriptiv«! Charakter haben. Insofern ist also Kelsen gegen Larenz recht zu geben. Nicht zuzustimmen ist Kels«i dagegen in seiner Ansicht, die Rechtswissenschaftssprache habe ausschließlich einen solchen deskriptiven Charakter oder sollte ihn jedenfalls haben. Hier ist die Position von Engisch zu bevorzug«i: Die rechtswissenschaftliche Dogmatik hat in ihren typischen Äußerungen - von reinen Urteils- oder Meinungsbeschreibungen abgesehen - regelmäßig auch präskriptiven Charakter. Sie will jedem Rechtsanwender eine Verhaltensanleitung mit auf den Weg geben, wie Normen zu interpretieren, auszulegen und anzuwenden sind. Dabei nimmt sie charakteristischerweise ihren Ausgangspunkt von drei Formen der Deskription: Der Beschreibung des fraglichen Sachverhalts, der heranzuziehenden Rechtsnormen und der bisherigen Lösungsversuche in der Literatur und Rechtsprechung. Diese Deskription«! werden dann wie bei der richterlichen Begründung (siehe oben 2.) in einem Begründungsamalgam von Deskriptionen, Evaluationen und Präskriptionen einer Erörterung unterzogen, um schließlich in die schon erwähnte Präskription zu münden, wie sich die rechtsanwenden Personen verhalten sollen. Im Falle der Urteilskritik bezieht sich die Verhaltensanleitung auf zukunftige Parallelfalle. Die typische rechtswissenschaftliche Arbeit baut also in ähnlicher Weise wie das Urteil ein Begründungsgeflecht zwischen deskriptiv beschriebenem Sachverhalt, Normenordnung und Literatur- und Rechtsprechungsmeinungen, eigenständigen Erörterungen und einer letztendlich«! Verhaltensanweisung auf. Zusammenfassend läßt sich konstatieren: Die Sprache der Rechtswissenschaft ist weder einseitig deskriptiv noch einseitig präskriptiv zu interpretieren. Sie bildet auch anders, als Larenz meint, kein völlig eigenständiges Sprachspiel, sondern stellt in typischen dogmatischen Arbeiten ein begründendes Beziehungsgeflecht aus mehr am Ausgangspunkt stehenden Deskriptionen und mehr am Schluß der Erörterung stehenden Präskriptionen dar. In dieser Vorgehensweise findet sie ihren speziellen, wissenschaftlichen Charakter. Von der Sprache der Naturwiss«!schaft«i unterscheidet sie sich nur darin, daß nicht nur ein horizontales monofunktional-deskriptives Netz aufgebaut wird, sondern die Veiknüpfungsleistung neben der horizontalen Ebene

XI. Eine trifunktionale Bedeutungstheorie der Rechtasprache

385

auch die vertikale Ebene der drei Zentralfunktionen umfaßt. Diese interfunktionale Verknüpfung ist - ähnlich wie bei Moral und Ethik - die Ursache für die Schwierigkeit der Nonnbildung und Nonnbegründung. Dies wird noch näherer Beleuchtung bedürfen.

25 v. d. Pfordten

Κ. Sein, Werten, Sollen

Seit der Antike gehört der Dualismus von Theorie und Praxis, von Faktizität und Normativität, von Sein und Sollen (im weitesten Sinne verstanden), zu den zentralen Diskussionsthemen der abendländischen Philosophie. Er ist nicht nur fur Ethik und Metaethik, sondern insbesondere auch fur Rechtsphilosophie und Rechtstheorie zu einem der Hauptparadigmen geworden und bis heute geblieben1. Die Auseinandersetzung zielt in den Kernbereich der rechtsethischen Begründungsproblematik und wirkt insbesondere auch fur den Dualismus von Rechtspositivismus und Naturrecht problemgenerierend, wenn hier auch die Auseinandersetzungslinien nicht kongruent verlaufen. So kann etwa ein Vertreter der Naturrechtsthese sowohl Monist als auch Dualist sein, je nachdem, ob er seine Normenbegründung auf Faktisches oder Normatives zurückfuhrt. Tendenziell ist aber eine naturrechtliche Begründung dann erschwert, wenn einerseits eine solche Begründung durch Rückführung von Normen auf Faktisches angestrebt, andererseits aber ein dualistischer Hiatus zwischen den Bereichen von Sein und Sollen postuliert wird 2. Im Anschluß an die bisherigen Überlegungen wird die Berechtigung des Sein-Sollen-Paradigmas in der üblichen dualistischen Formulierung veraeint

1

Dies betont v. a. Fikentscher (1975), Bd. I, S. 32; (1976), Bd. ffl, S. 7ff, S. 287. Vgl. z.

B. auch Winkler (1979), Sein und Sollen; Schneider (Hg.)(1970), Sein und Sollen im Erfahrungsbereich des Rechts, ARSP-Beiheft N F 6; Kitz (1864), Seyn und Sollen, Abriß einer philosophischen Einleitung in das Sitten- und Rechtsgesetz; Mezger (1924), Sein und Sollen im Recht; Kaufmann (1975), Durch Naturrecht und Rechtspositivismus zur juristischen Hermeneutik; Schaarschmidt (1990), Sein und Sollen - tragendes Kategorienpaar auch fur eine marxistische Rechtswissenschaft?; Kelsen (1960), S. 5; Zippelius (1982), Rechtsphilosophie, S. 9ff, Hoerster (1969); Weinbeiger (1981); (1984), "Is" and "Ought" Reconsidered; Henkel (1964), Rechtsphilosophie, S. 163; Radbruch (1914), S. 97ff, Verdross (1958), Abendländische Rechtsphilosophie, S. 21, 42, 82, 142; Müller (1971), S. 19, 72, 173, 243; (1984), S. 328; Bydlinski (1982), S. 44; Larenz (1960), S.132ff.

Λ L· Vgl. zu einem naturrechtlichen Lösungsversuch unter dieser Voraussetzung: Höffe (1980), Naturrecht ohne naturalistischen Fehlschluß, S. 24ff.

I. Sein und Sollen

387

und durch die Dreiheit von Sein, Werten und Sollen ersetzt. Hieraus ergeben sich weitere rechtstheoretische und rechtsphilosophische Folgerungen.

I. Sein und Sollen

1. Anfänge

Für Piaton war das Gute Ziel jeder Handlung. Um seinetwillen mußte alles andere getan werden3. Daneben war es als höchste Idee Gegenstand intellektueller Erkenntnis der Wirklichkeit4. Theorie und Praxis, Sein, Werten und Sollen waren durch gemeinschaftliche Bezogenheit auf die Ideenwelt und insbesondere die Erkenntnis der höchsten Idee des Guten eng und unauflöslich miteinander verschmolzen. Bei Aristoteles wird diese Relation gelockert und der Dualismus von Sein und Sollen in mehrfacher Weise akzentuiert5. Aristoteles lehnt die Annahme einer höchsten Idee des Guten ab und beseitigt damit den verbindenden Fixpunkt fur die auseinanderstrebenden Momente von Sein und Sollen6. Wissenschaftsmethodisch trennt er die theoretisch-deskriptiven (seien sie empirisch oder metaphysisch) von den praktischen Wissenschaften. Er betont darüber hinaus in der Nikomachischen Ethik mehrfach, daß diese Unterscheidung vom Ziel der unterschiedlichen Wissenschaften gerechtfertigt sei: Das Ziel von Ethik, Ökonomik und Politik ist im Gegensatz zu den Naturwissenschaften und der Metaphysik nicht theoretische Erkenntnis, sondern praktisches Handeln und Entscheiden7. Die wissenschaftliche Erkenntnis bzw. das reine Den3

Piaton (1988d), Gorgias, 468b, S. 62; 499e, S. 120; 500a, S. 120.

4

Piaton (1988c), Politeia, 505, S. 257f. Flückiger (1954), Geschichte des Naturrechts, S. 144; Kuhn (1962), Das Sein und das Gute, S. 209ff; Dreier (1965), Zum Begriff der "Natur der Sache", S. 11. 5

Die faktische Gleichsetzung der Position von Aristoteles und Piaton durch Verdross (1958),

S. 42 halte ich für zweifelhaft. 6

Aristoteles (1980), 1096a, b, S. 13; (1984a), 990bff, S. 43ff.

7

Aristoteles (1980), Nikomachische Ethik, 1095 a, S. 7; 1103b, S. 36; 1179a, S. 295.

Κ. Sein, Weiten, Sollen

388

ken setzt nichts in Bewegung8, sondern erst die sittliche Einsicht (phronesis)9. Mit dem schon erwähnten Verweis der nichtbehauptenden und damit nicht wahrheitsfahigen Sätze in die Rhetorik und Poetik10 gibt er schließlich auch den ersten Ansatzpunkt fur eine semantische Interpretation der Sein-SollenDichotomie. Zu konstatieren ist allerdings als Gegenzug zu diesen Trennmomenten die aristotelische Einbettung des Dualismus in eine teleologische Metaphysik. Aus der dynamischen Natur des endlichen Seins ergibt sich das Telos des Menschen, das den Maßstab fur seine Vervollkommnung bildet11. Das menschliche Sein bestimmt somit - zumindest im prinzipiellen - auch das Sollen. Der Dualismus ist kein vollständiger, weil das Sollen vom Sein abhängig bleibt12. Bemerkenswert ist darüber hinaus: Trotz der Ansätze zu einer Trennung von Sein und Sollen ist das Praktische bei Aristoteles nicht auf die Präskriptionen restringiert, sondern umfaßt noch das evaluative Moment. Aristoteles behält Piatons Bestimmung bei, daß jedes Handeln nach einem Gut strebt13. Er hat auf diese Weise die platonische Verschränkung von Wert und Sollen auf eine neue, nicht ideenorientierte und damit metaphysisch weniger angreifbare Grundlage gestellt. Solcherart erfolgte eine Festigung der Verbindung. Man könnte insofern als Gesamtkennzeichnung von einem "werteinschließenden, gemäßigten Sein-Sollen-Dualismus" bei Aristoteles sprechen. Bei Thomas v. Aquin verstärkt sich die Unselbständigkeit der Sollenskategorie. Das Sollen wird durch die Spannung zwischen dem unvollkommenen Menschen und dem vollkommenen Sein Gottes, auf das das menschliche Handeln hinzielt, begründet14. Der christliche Mensch ist in eine teleologische verfaßte Seinsordnung gesetzt, die zugleich das moralisch-rechtliche Sollen bedingt. Bemerkenswert ist darüber hinaus, daß mit der berühmten

8

Aristoteles (1980), 1139a, S. 155.

9

Aristoteles (1980), 1140a, S. 158.

1 0

Aristoteles (1925), Peri Hermenias, 4a, S. 17. Vgl. auch: Klenner (1970), Sein und Sollen in der Rechtswissenschaft, S. 149. 1 1

Aristoteles (1984a), Metaphysik V . Buch, 1021b, S. 141. Diese Konstellation der engen Verknüpfung von Sollen und Sein konstatiert Fikentscher

(1975), Bd. I, S. 32 fur die ganze vorkantische Periode. 1 3 1 4

Aristoteles (1980), Nikomachische Ethik, 1094 a,b, S. 5f.

Vgl. Verdross (1958), S. 82f, Hommes (1970), Sein und SoUen im Erfahningsbereich des Rechts, S. 164.

I. Sein und Sollen

389

These "bonum et ens convertuntur"15 das Gute als oberster Wert, das bei Aristoteles als Finalziel der Handlung eng mit dem Praktischen verbunden war, explizit an das Sein assimiliert wird.

2. Humes Formulierung

des Sein-Sollen-Dualismus

Hume hat den Dualismus von Sein und Sollen, von "is* und "ought" als erster in klarer Form formuliert 16. Dies hat einige Interpreten17 dazu veranlaßt, ihn als Gegner jeglicher Ableitung eines Sollenssatzes aus einer Tatsachenaussage anzusehen. Hiergegen wird jedoch eingewandt, daß Hume seine eigenen moralischen Postulate in Gefühlen, Empfindungen und Interessen fundierte 18. Hätte er gleichzeitig eine unüberbrückbare Kluft zwischen Sein und Sollen postuliert, wäre dies inkonsistent. Deshalb erscheint es plausibel anzunehmen, daß Hume sich nur gegen eine unmittelbare Ableitung von Sollenssätzen aus äußeren, nichtmenschlichen Tatsachen gewandt hat, aber eine Rechtfertigung des Sollens durch Gefühle (Wünsche, Bedürfhisse, Interessen) befürwortete 19. Hume hat auf diese Weise nicht nur den Sein-SollenDualismus in seiner vollen Problematik aufgezeigt, sondern auch die ersten Ansätze zu einer Lösung durch die Annahme eines dritten, vermittelnden Begründungselements geleistet. Zweifelhaft ist nur, ob Humes subjektivistischpsychologistische Interpretation dieses Elements gerechtfertigt ist. In jedem Fall kann man seine Position aber als werteinschließenden, überbrückenden 1 5

Thomas v. Aquin (1951), Summa theologiae, Π , 1 qu. 18, Ait. 1, p. 127.

1 6

Hume (1739), A Treatise of Human Nature..., p. 245f: "In every system of morality,

which I have hitherto met with, I have always remark'd, that the author proceeds for some time in the ordinary way of reasoning, and establishes the being of a God, or makes observations concerning human affairs; when of a sudden I am surpriz'd to find, that instead of the usual copulations of propositions, is, and is not, I meet with no proposition that is not connected with an ought, or an ought not. This change is imperceptible; but is, however, of the last consequence". 1 7

Hare (1952), p. 29, 44f; Nowell-Smith (1954), p. 36fT; v. Kutschera (1982), S. 29; Ayer

(1986), Are there Objective Values, p. 22. 1 8

Hume (1739), p. 285: "All morality depends upon our sentiments."; Maclntyre (1959),

Hume on "is" and "ought", p. 39ff; Hunter (1962), Hume on is and ought, p. 59ff. Vgl. zu dieser Diskussion auch Hoerster (1969), S. 12f; Höffe (1980), S. 30ff. 19

Maclntyre (1959), p. 48.

Κ. Sein, Weiten, Sollen

390

Sein-Sollen-Dualismus kennzeichnen. Hume ist weit davon entfernt, die Praxis auf eine reine Pflichtenethik bzw. einen Primat des Sollens zu restringieren.

3. Kants Restriktion

des Dualismus

Der einschneidende Markierungspunkt für eine noch strengere, wertausschließende Ausprägung des Sein-Sollen-Dualismus liegt dagegen - innerhalb der deutschen Philosophie20 - bei Kant21. Kant fuhrt die aristotelische Trennung von Theorie und Praxis in seiner Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft weiter und verschärft sie gleichzeitig in einer vernunftzentrierten Wendung. Während die theoretische Vernunft in ihrer Erkenntnis immer erfahrungsbezogen bleibt und den theoretischen Vernunftideen nur regulative Bedeutung zugemessen wird 22 , gewinnt die reine praktische Vernunft, das "moralische Gesetz in mir" 23 , eine völlig erfahrungs- und gefuhlsautonome Stellung24. In prinzipieller Abkehr von der aristotelisch geprägten Wolffschen Erfolgs- und Tugendethik25 und den gefuhls- und sympathieethischen Residuen bei Hume, wird der Wille zur zentralen moralischen Kategorie erhoben26, von jeder empirischen Bestimmung abgezogen und mit den Begriffen des "Sollens" und des "Imperativs" verknüpft 27. Der Bereich des Praktischen wird nicht nur internalisiert, sondern auch auf das Normative 2 0

Mir ist allerdings kein anderer Philosoph mit einer derart rigorosen Position bekannt. Auf

die deutsche Entwicklung werde ich mich bei dem folgenden Übelblick beschranken. 2 1

Vgl. Fikentscher (1976), Bd. m , S. 3, 5, 7ff, betont insbesondere die Ausschließung der

Zwecke aus der Rechtedefinition bei Kant, sieht aber nicht mit genügender Schärfe, daß dies nur eine Folge der ganz andersartigen Akzentuierung des Sein-Sollen-Gegensatzes bei Hume und Kant ist. Vgl. auch Hommes (1970), S. 155. 2 2

Kant (1781), Kritik der reinen Vernunft, Β 386, A 329, S. 332.

2 3

Kant (1788), Kritik der praktischen Vernunft, A 289, S. 300.

2 4

Kant (1781), Β 828, A 800, S. 673.: "Praktisch ist alles, was durch Freiheit möglich ist. ";

Β 830, A 802, S. 675. Vgl. dazu auch Höffe (1983), Immanuel Kant, S. 260. 2 5

Wolff (1720), Vernünftige Gedanken von der Menschen Thun und Lassen zur Beförde-

rung ihrer Glückseligkeit. 2 6

Kant (1785), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 4, S. 19: "...in dieser Idee von

dem absoluten Werte des bloßen Willens." 2 7

Kant (1785), BA 37, S. 41: "Die Vorstellung eines objektiven Prinzips, sofern es fur einen

Willen nötigend ist, heißt ein Gebot (der Vernunft) und die Formel des Gebots heißt Imperativ."

I. Sein und Sollen

391

restringiert und eng an die semantische Zentralkategorie der Präskription angeschlossen. Die aristotelische Fundierung der Praxis in einer finalen Seinsordnung fällt weg. Die reine praktische Vernunft wird umgekehrt selbst zur Grundlage fur ontologische Postulate28. Mögliche Entfaltungsformen des Moments der Wertung werden dagegen auf vierfache Weise verdrängt: (1) Das von der Vernunft - unabhängig von der Neigung - als das praktisch Notwendige Erkannte ist nach Kant zwar zugleich "als gut erkannt"29. Sollen und Wert werden also zuerst verschmolzen. Aber wegen der alles überragenden Stellung des Willens ist dessen Nötigung durch die Vernunft fur die Moralität entscheidend, so daß schließlich als allein wirksames Moment nurmehr der Imperativ übrigbleibt. (2) Gleichzeitig erfolgt in der Kennzeichnung der Neigung als "habitueller sinnlicher Begierde"30 eine naturalistische, trieborientierte Mißinterpretation der subjektiven Bewertung und überdies derrigoristische Ausschluß aus dem Gebiet des Moralischen31. (3) Das "oberste Gut" und die "Glückseligkeit" als subjektive bzw. objektive Werte setzen nach Kant immer das "moralisch gesetzmäßige Verhalten", die "Tugend" als "oberste Bedingung" voraus32. (4) Als "subjektive" "Allgemeinheit"33 wird die Wertung schließlich im Rahmen der Urteilskraft auf ästhetische Werturteile restringiert. Kant hat auf diese Weise mit höchster Stringenz den werteinschließenden Sein-Sollen-Dualismus in einen wertausschließenden verwandelt und damit bis aufs äußerste verschärft.

4. Hegels Kritik

Hegel moniert in seiner "Wissenschaft der Logik", daß Kant und Fichte das Sollen als höchsten Punkt der Auflösung der Widersprüche der Vernunft angeben. Für ihn ist es nur der "Standpunkt des Beharrens in der Endlichkeit

2 8

Kant (1788), A 219ff, S. 252ff.

2 9

Kant (1785), BA 37, S. 41.

3 0

Kant (1798), Anthropologie in Pragmatischer Hinsicht, Β 202, A 202, S. 597.

3 1

Kant (1785), BA 9, 10, S. 23f.

3 2

Kant (1788), A 198f; S. 238f.

3 3

Kant (1790), Kritik der Urteilskraft, Β 146, A 144, S. 217.

392

Κ. Sein, Weiten, Sollen

und damit im Widersprüche"34. Der Mensch bleibe bei Kant in seiner Moralität beim Sollen als unendlichem Progreß stehen. Die praktische Vernunft verharre im unaufgelösten Gegensatz zu der praktischen Sinnlichkeit, den Trieben und Neigungen. Die vollendete Moralitat müsse auf diese Weise ein Jenseits bleiben35. Das Gute solle bei Kant und Fichte immer erst realisiert werden, "als ob es nicht schon an und fur sich da wäre... Das Gute ist kein Gesolltes, sondern göttliche Macht, ewige Wahrheit."36 Hegel moniert also zum einen die vollständige Dichotomisierung von Sein und Sollen bei Kant, und zum andern die Abtrennung des Guten vom Sein und seine Angliederung ans Sollen. Ahnlich wie bei Thomas v. Aquin soll das Gute fur Hegel vielmehr als höchste, göttliche Realität zum Sein gehören. Das Sollen gerät wieder in Unterordnung und Abhängigkeit vom Sein. Es wird ontologisch defizient gegenüber der Wirklichkeit37.

5. Die Einführung des Wertbegriffs

Schon Kant verwendet den Terminus "Wert" in ethischen bzw. moralischen Zusammenhängen38, allerdings ohne ihm eine spezifische Funktion in seinen philosophischen Überlegungen zuzuschreiben. Bei Hegel erfolgt dagegen - soweit ersichtlich - nur ein Gebrauch mit ökonomisch restringiertem Bedeutungsgehalt39. Mit Schopenhauer verliert der Wertbegriff (ζ. B. bei "Zuerkennung moralischen Wertes"40) diese Restriktion wieder. Lotze41 er-

3 4

Hegel (1812), Wissenschaft der Logik, Bd. 5, S. 148.

3 5

Hegel (1832a), Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie m , Bd. 20, S. 369.

3 6

Hegel (1832b), Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, Bd. 16, S. 219.

3 7

Vgl. Hösle (1987), Hegels System, Bd. 2, S. 420.

3 8

Kant (1785), BA 4, S. 19. Es ist also nicht richtig, wenn - wohl in Anlehnung an Windel-

band (1914), Einleitung in die Philosophie, S. 246 - immer Lotze als Einfuhrer des Weitbegriffs genannt wird, so etwa von Schischkoff (1982), Philosophisches Wörterbuch, S. 746f. 3 9

Hegel (1832), Grundlinien der Philosophie des Rechts, S. 366, 466. - Besonders fragwür-

dig ist die von Fikentscher (1976), Bd. ΙΠ , S. 425 voigenommene neuerliche Restriktion des Wertbegriffs auf eine ökonomische Kennzeichnung: "Insofern sind Wert und Wertung nicht mehr als...m. a. W . die Anerkennung des Knappheitsgesetzes in der pluralistischen Gesellschaft." 4 0

Schopenhauer (1840), Die beiden Gnindprobleme der Ethik, S. 195.

I. Sein und Sollen

393

hebt ihn dann zur zentralen philosophischen Kategorie und akzentuiert die Werte als eigenen Bereich neben der Wirklichkeit. Er ôfïhet damit zwar zumindest begrifflich den trialistischen Problemkanon des Verhältnisses von Sein, Sollen und Wert, trifft aber selbst mit seiner Akzentuierung der Dichotomie von Wert und Wirklichkeit eine in der kantischen Tradition stehende, aber verhängnisvolle Vorentscheidung. In der Folgezeit lassen sich erstaunlicherweise aus den unterschiedlichsten philosophischen Richtungen Versuche beobachten, den überkommenen SeinSollen-Dualismus trotz geänderter begrifflicher Ausgangsbedingungen aufrechtzuerhalten. Dazu wurden verschiedene Strategien verwandt:

a) Scheler postuliert von einem phänomenologischen Ausgangspunkt aus objektive Werttatsachen, die er den Seinstatsachen gegenüberstellt. Er unterscheidet zwar zwischen Wert- und Sollensurteilen42, sieht aber das "ideale Sollen" (das wiederum die Grundlage fur berechtigte Imperative liefert) durch die Werttatsachen fundiert 43. Das Sollen hat somit neben den Werttatsachen nur eine abgeleitete und beschränkte Natur 44.

b) Nach Hartmann45 teilt sich das Problem der Ethik prima facie in zwei Fragen. Neben die Kantische Frage "Was soll ich tun?" tritt gleichberechtigt diejenige: "Was ist wertvoll im Leben, ja in der Welt überhaupt?". Beide Fragen sind jedoch nicht wirklich trennbar, sondern Kehrseiten ein und derselben Grundfrage: Was man tun solle, könne man nur ermessen, wenn man "sehe", was überhaupt wertvoll ist im Leben. Und "sehen", was wertvoll sei, könne man nur, wenn man dieses Leben selbst als wertvolles Verhalten, als Aufgabe, als inneres Tunsollen empfinde. Zum Wesen des Wertes gehört schon immer ein Sollensmoment - allerdings nur ein ideales oder reines Seinsollen -, das 4 1

Ζ . B. in: Lotze (1856), Mikrokosmos, Bd. 1, S. 447: "Eine unausfüllbare oder bisher we-

nigstens niemals ausgefüllte Kluft scheidet für unsere menschliche Vernunft die Welt der Werte von der Welt der Gestalten." Betont werden muß, daß der Wertbegriff vorher durchaus gebräuchlich war, allerdings vorwiegend als ökonomische Kategorie, vgl. etwa Hegel (1834), Grundlinien der Philosophie des Rechts, Bd. 7, S. 119. 4 2

Scheler (1916), S. 199.

4 3

Scheler (1916), S. 223, 227.

4 4

Scheler (1916), S. 201.

4 5

Hartmann (1926), Ethik, S. 8f, 17.

394

Κ. Sein, Weiten, Sollen

dann in bestimmten Fällen zum Tunsollen wird 46 . Wert und ideales Seinsollen gehören unlöslich zusammen. Auf keiner Seite ist ein Übergewicht. Das Verhältnis ist ein "stabiles, schwebendes".

c) Windelband47, Rickert48, Weber 49, Radbruch50 (südwestdeutscher Neukantianismus) stellen dem Bereich der empirischen Wirklichkeit (Natur) den Bereich der auf Werte bezogenen Wirklichkeit (Kultur) gegenüber. Bei Radbruch, Weber und Windelband fuhrt dabei die Aufrechterhaltung der SeinSollen-Dichotomie trotz geänderter begrifflicher Ausgangslage zu einer mehr oder weniger unkritischen und undifferenzierten Verwendung der Ausdrücke "Werten" und "Sollen"51. Rickert reflektiert wenigstens das Problem, entscheidet sich dann aber für eine Angliederung des Sollens an den Wertbegriff 52.

4 6

Hartmann (1926), S. 154ff.

4 7

Windelband (1914), S. 19ff, S. 245ff.

4 8

Rickert (1898), Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft, S. 18.

4 9

Weber (1904), Die "Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis,

S. 175. 5 0

Radbruch (1914), S. 92.

5 1

Radbruch (1914), S. 97: "Sollenssätze, Werturteile, Beurteilungen können nicht induktiv

auf Seinsfesteilungen, sondern nur deduktiv auf andere Sätze gleicher Art gegründet werden."; Weber (1917), Der Sinn der "Wertfreiheit" der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, S. 528: "...das 'Freihandelsargument', welches sich aus einem höchst brauchbaren heuristischen Mittel alsbald in eine gar nicht selbstverständliche Wertung verwandelt, sobald man an seiner Hand Postulate des 'Seinsollens' aufstellt." An einer anderen Stelle formuliert Weber zwar das Problem, drückt sich allerdings vor einer Beantwortung (1917), S. 501: "Gar nicht zur Diskussion steht eigentlich die Frage: inwieweit praktische Wertungen, insbesondere also: ethische, ihrerseits n o r m a t i v e Dignität beanspruchen dürfen, also anderen Charakter haben als ζ . B. die als Beispiel angeführte Frage: ob Blondinen den Brünetten vorzuziehen seien, oder als ahnlich subjektive Geschmacksurteile. Das sind Probleme der Wertphilosophie, nicht der Methodik der empirischen Disziplinen. Worauf allein es für diese ankommt, ist: daß einerseits die Geltung eines praktischen Imperativs als Norm und andererseits die Wahrheitsgeltung einer empirischen Tatsachenfeststellung in absolut heterogenen Ebenen der Problematik liegen und daß der spezifischen Dignität j e d e r von beiden Abbruch getan wird, wenn man dies verkennt und beide Sphären zusammenzuzwingen sucht."; Windelband (1914), S. 256f: "...d. h. wie die Welt der Dinge, welche sind und als seiend erkannt werden, sich zu der Welt der Werte verhält, welche sein sollen und für die Dinge, wie für uns gelten sollen." 5 2

Rickert (1921), System der Philosophie, S. 116: "Das Sollen ist vielmehr lediglich eine

besondere Art, wie manche Werte sich an unser Interesse wenden oder uns zur Stellungnahme veranlassen."

I. Sein und Sollen

395

d) Schließlich wurde von Denkern, die ebenfalls in der Kantischen Tradition stehen, versucht, das Werten an das Sollen zu assimilieren. Hauptbeispiel ist Kelsen53. Aber auch Hare (vgl. E. IV.) ist im Rahmen seiner sprachphilosophischen Theorieausprägung hier zu nennen. Für Höffe 54 ist der Satz "Die Handlung a ist sittlich gut/schlecht" semantisch gleichbedeutend mit "Du sollst a tun/lassen". Und nach Hoerster55 lassen sich Wert- und Verpflichtungsurteile unter einem Oberbegriff - bezeichnenderweise schlägt er "Werturteil" oder "normatives Urteil" vor - "bequem zusammenfassen".

e) Kaufmann56 assoziiert endlich die Werte an das Sein. In der Wirklichkeit gebe es keine Grenze zwischen Sein und Werten. Vom Sein losgelöste Werte seien reine Gedankengebilde, aber keine Realitäten57.

f) Obwohl mit der Einführung des Wertbegriffs der Boden ffir eine trifunktionale Analyse bereitet war, ist also ein Oszillieren zwischen fünf dualistischen Alternativen zu konstatieren: Das Sollen wird entweder an objektive Werte oder das Werten an ein Sollen assimiliert, oder beide werden einer gemeinsamen Sphäre zugeordnet und mehr oder minder unkritisch nebeneinander verwandt oder in einen metaphysisch-dialektischen Zusammenhang gestellt. Schließlich wird das Werten als letzte Möglichkeit an das Sein assoziiert. Alle fünf Alternativen erhalten auf diese Weise jedoch den Sein-Sollen-Dualismus aufrecht 58.

5 3

Vgl. J. Π . 3. und Kelsen (1960), S. 69: "Denn der Begriff des 'Guten' kann nicht anders

bestimmt werden als das 'Gesollte', das einer Norm Entsprechende;..." Vgl. auch Hommes (in Anlehnung an Kelsen) (1970), S. 178: "Normen werden nicht (direkt oder indirekt) aus Werten abgeleitet, sondern Werte werden anhand der geltenden Normen bzw. der regulativen Prinzipien festgestellt." 5 4

Höffe (1980), S. 34.

5 5

Hoerster (1969), S. 14

5 6 Kaufmann (1965), S. 46. Für Pawlowski (1981), Methodenlehre fur Juristen, S. 109, ist der Wertbegriff ein angemessenes Mittel, das zu erfassen, was bereits "geworden ist". 5 7

Ein gewisser Widerspruch besteht hier aber zu Kaufmann (1976a), Problemgeschichte der

Rechtsphilosophie, S. 114: "Andererseits - und das ist fur den empirisch-soziologischen Positivismus inkonsequent genug - werden sie (die Interessen - D . v. d. P.) auch als Wert, als Sollen verstanden;..." 5 8

Eckhoff/Sundby (1988), Rechtssysteme, S. 59, und Riedel (1979), Norm, Weit und Weitinterpretation, S. 98f, unterscheiden allerdings zwischen Normen und Werten.

Κ. Sein, Weiten, Sollen

396

6. Die Haltung der Rechtsphilosophie

In der Rechtsphilosophie hat sich das Paradigma des Sein-Sollen-Dualismus über alle Auffassungsdifferenzen hinweg - gleichsam als kleinster gemeinsamer Nenner - (zumindest in der theoretischen Reflexion 59 und im mitteleuropäischen Rechtskreis60) durchgehalten61. Hinzugetreten sind allerdings vermittelnde Positionen, die einen gegenseitigen Bezug von Sein und Sollen herstellen wollen, sei es durch Rückführung auf materialistische Entwicklungsgesetze62, durch gemeinsame Beziehung auf den Willen 63 , durch Dialektik, durch Analogie, durch naturrechtliche Ableitung64 oder mittels des Begriffs der Natur der Sache65. So begrüßenswert, erhellend und wichtig solche Versuche sein mögen, so läßt sich doch nicht übersehen: Als "Vermittlung" bleiben sie im Rahmen ihrer Überbrückung in der Alternativität von Monismus und Dualismus, von Differenz oder Identität von Sein und Sollen, verhaftet. Vor jeder Vermittlung muß aber die Frage gestellt werden, ob überhaupt die Problemformulierung unter Zugrundelegung der beiden Ausgangspole berechtigt ist? In dieser Hinsicht läßt sich im Rahmen der rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Forschungen ein Defizit konstatieren. Das Paradigma des Sein-SollenDualismus wird zwar häufig zum Ausgangspunkt weiterer Überlegungen gewählt, aber selbst nicht näher hinterfragt. Paradigmatisch für die Haltung der Rechtsphilosophie zu dieser Frage ist eine Stelle bei Engisch, der dort das Verhältnis von Sollen und Werten als Problem anreißt, einen Lösungsversuch referiert und dann mit den Worten "Tiefer können wir hier nicht eindringen" abbricht66.