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German Pages 253 [254] Year 2023
B E I H E F T E
Z U
Herausgegeben von Winfried Woesler
Band 55
Der Text und seine (Re)Produktion
Herausgegeben von Niklas Fröhlich, Bastian Politycki, Dirk Schäfer und Annkathrin Sonder
De Gruyter
ISBN 978-3-11-099882-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-100614-7 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-100673-4 ISSN 0939-5946 Library of Congress Control Number: 2023944023 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin / Boston Satz: Christian Sonder Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt
Einleitung der Herausgeber*innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Text – Theoretische Perspektiven Anke Bosse TEXT und Text/e – zwischen Abstraktem und Konkretem. Herausforderungen für die Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Esbjörn Nyström Textbegriffe – Entgrenztheit oder Präzision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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John Rodzvilla The Digital Architexture of E-readers. How the Internet of Things Adds Layers of Meaning to Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Frederike Neuber Der digitale Editionstext. Technologische Schichten, ,editorischer Kerntext‘ und datenzentrierte Rezeption . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Textgrenzen abstecken – Überlegungen zum Spannungsverhältnis Autor*in und Editor*in Vanessa Hannesschläger Wessen Text? Urheber*innen (in) der digitalen Edition . . . . . . . . . . . . . . .
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Cord Pagenstecher Oral History-Interviews. Zwischen Zeitzeugen-Archiv und multimedialer Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI
Inhalt
Patrick Sahle, Johannes F. K. Schmidt Das Werk des Soziologen – Ist da ein Text in diesem Nachlass? . . . . . .
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III. Text(re)produktion deuten – theoretische und praktische Reflexionen Niklas Sommer Wie veröffentlicht man die Kallias-Briefe?
.......................
137
Sarah Hutterer Hermeneutik des Edierens. Wer will unverstandene Texte lesen? . . . . . .
149
Shiamin Kwa Fill in the Blanks and the Comics of Keiler Roberts. Or the Limits of Reproduction Are Also the Possibilities of Reproduction . . . . . . . . . .
165
Jessica Bauer Kompilation wider Verfolgung. Sebastian Franck und die Frage nach dem versteckten Sinn . . . . . . . . . .
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Anne Lorenz Futuristische Texte und Bilder im Sturm – und ihre digitale Repräsentation heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
201
Gianna Hedderich Zwischen Reproduktion und Rekonstruktion. Möglichkeiten der Edition der fragmentarischen logistai-Inschrift (IG I3, 369) . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Die Autor*innen der Beiträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
241
Register der Autor*innen und Werke
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............................
Einleitung Der Editor ist die Kraft, die stets was Neues und nie dasselbe schafft. (frei nach Goethe)
Unter dem Begriff ,Text‘ bündeln sich eine Vielzahl kultureller Praktiken und reflexiver Diskurse, während zugleich (und gerade deshalb) eine einigende Definition der Begrifflichkeit schwer möglich erscheint. Das DFG-Graduiertenkolleg 2196 „Dokument – Text – Edition“ hat am 29. und 30. September 2021 die Tagung „Der Text und seine (Re-)Produktion. Ein interdisziplinärer Dialog über Kulturtechniken in der Editorik“ veranstaltet, um aktuelle Diskurse zu einem seiner zentralen Forschungsschwerpunkte im internationalen Kontext zusammenzuführen. Das spezifisch editorische Interesse für die Gestaltung der Tagung ergab sich explizit aus der Forschungsumgebung und den -interessen der ausrichtenden Doktorand*innen des Graduiertenkollegs. Die starke interdisziplinäre Orientierung knüpfte an die bereits im Kontext der (un)documented-Tagung und den daraus resultierenden eröffneten Perspektiven an. Sie zielte ähnlich wie bereits im Umgang mit dem Thema ,Dokument‘ nicht darauf, eine klärende Definition von ,Text‘ vorzulegen, sondern die verschiedenen disziplinären Herangehensweisen und Perspektiven im interdisziplinären Dialog fruchtbar werden zu lassen.1 Die Diskussion ging von der gemeinsamen Perspektive aus, dass sich ,Text‘ als elementare Kulturtechnik produzieren, rezipieren und reproduzieren lasse. Dabei steht jede Reproduktion, gerade auch im Feld der Editorik, im Spannungsverhältnis zwischen dem Anspruch auf partielle Identität mit dem reproduzierten Text und der Tatsache, dass jede Reproduktion zugleich etwas Neues schafft: In diesem Sinne wird das Phänomen ,Text‘ im Tagungs- und Bandtitel aus beiden Blickrichtungen, der (Re-)Produktion, beleuchtet. Gemäß der genannten Dopplung fokussierte die Tagung zwei Schwerpunkte: Der erste Schwerpunkt bestand aus Reflexionen des Textbegriffs durch die Perspektivierung von Textgrenzen sowie verschiedenen Textformen und deren Verhältnis zueinander. Den editionswissenschaftlichen Hintergrund dieser Diskussion bildet die Auffassung, dass eine Explikation des eigenen editorischen Zugriffs auf ,Text‘ die unverzichtbare Grundlage für einen kritischen Nachvollzug editorischer Prozesse bilde. 1
Anne Beron u. a. (Hrsg.): (un)documented. Was bleibt übrig vom Dokument in der Edition? Berlin / Boston 2020 (Beihefte zu editio 48).
https://doi.org/10.1515/9783111006147–001
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Annkathrin Sonder, Bastian Politycki, Dirk Schäfer und Niklas Fröhlich
Der zweite Schwerpunkt umfasste die Produktion und Reproduktion von Texten innerhalb ihrer historischen, soziokulturellen, ökonomischen und technologischen Kontexte. Hierzu ist aus editorischer Sicht zunächst zu fragen, welche Möglichkeiten editorischer Erschließung und Repräsentation von Textgenese und -stufen, (pluri-)medialer Be- und Überarbeitung sowie Aspekten der Überlieferung und Rezeption bestehen bzw. derzeit weiterentwickelt werden. Eng verbunden hiermit ist die Frage, wie die (Begleit-)Umstände ihrer Produktion und Reproduktion die Auslegung der Texte beeinflussen und welche Rolle diese nicht nur in der Edition, sondern auch in der wissenschaftlichen Deutung spielen sollten. Der Band versammelt sowohl Beiträge, die im Kontext der Tagung selbst, als auch im Forschungsumfeld des Wuppertaler Graduiertenkollegs entstanden sind. Die Struktur der Tagung sowie des Bandes stehen in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander – das dialogische Format der Tagung, welches durch Respondenzen aus dem Kreis der Kollegiat*innen umgesetzt wurde, spiegelt sich u. a. im interdisziplinären Dialog der einzelnen Beiträge wider, der sich über den Band hinweg entfaltet. Anke Bosse fächert in ihrem eröffnenden Keynote-Beitrag die Pluralität kursierender Textbegriffe auf und verbindet ihre Betrachtungen mit historisch gewachsenen Methodenfragen der Editionswissenschaft. Die Autorin verweist in diesem Zusammenhang auf die zur Bestimmung von ,Text‘ virulente Frage nach den editorisch zu ziehenden Textgrenzen, mit der die beiden Pole der Stabilität und Flexibilität aufscheinen: nämlich ,Text‘ als flexibel, fluide Gesprochenes / Geschriebenes und ,Text‘ als materialisiert fixiertes Phänomen. Zur Differenzierung von TEXT als medien- und materialunspezifisch Abstraktes und Text / Texten als medien- und materialspezifisch Konkretes führt Anke Bosse mit Verweis auf die Forschungsgeschichte der Editionswissenschaft drei verschiedene Konzepte sowie ihre unmittelbare Wirkung auf die Gestaltung der jeweiligen Edition aus. Während TEXT 1 mit einem abstrakten Textbegriff operiert, der editorisch etwa in der Rekonstruktion eines Urtextes zum Ausdruck kommt, ist TEXT 2 Resultat eines grundlegenden Perspektivwechsels in den Literatur- und Kulturwissenschaften, der mit dem Fokus auf die Darstellung von Prozessualität bzw. Genese eine Entgrenzung und Dynamisierung der Edition zur Folge hat. TEXT 3 wird schließlich völlig immateriell verstanden und betrifft die Simultaneität von Lesen und Schreiben und damit die unendliche Zirkulation zwischen diesen beiden Prozessen. Vor diesem Hintergrund skizziert Anke Bosse Editionen als te´chne¯, als Transformation von materialisierten Zeichen in ein neues System bzw. Medium. Sie plädiert abschließend dafür, das entgrenzende Potential hybrider bzw. digitaler Editionen zukünftig vermehrt zu nutzen, um progressive social editions zu etablieren, die sich durch aktiv agierende, sich kontinuierlich fortsetzende Teilhabe der Nutzer*innen am Editionsgeschehen auszeichnen und auf diese Weise Editionen dynamisieren.
Einleitung
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Mit einer Kritik an der Pluralität verschiedener Konzeptionen des Textbegriffs befasst sich hingegen der Beitrag von Esbjörn Nyström. Dazu differenziert Nyström zunächst ,entgrenzte‘ bzw. ,erweiterte‘ Textbegriffe auf der einen und einen ,engen‘ oder ,präzisen‘ Textbegriff auf der anderen Seite. Methodische Vorüberlegungen und eine eigene Definition des präziseren Textbegriffs gehen einer wissenschaftsgeschichtlichen Beschreibung des Prozesses der Erweiterung des Textbegriffs aus verschiedenen disziplinären Kontexten sowie einer Kritik an der mit dieser Erweiterung einhergehenden Terminologie voraus. Ein differenzierteres, auf onomasiologischer Basis gewonnenes Begriffssystem könne nicht nur „die Gefahr [...], essenzielle Differenzen zwischen Gegenständen herunterzuspielen“ verringern, sondern auch die „sehr fragliche“ Voraussetzung vermeiden, alle in den erweiterten Textbegriff aufgenommenen Gegenstände wie Musik, Bild, Ton oder gar Kultur seien sprachlich strukturiert. Die Rezeption von Texten, vor dem Hintergrund sich stetig weiter entwickelnder Bedingungen in digitalen Leseumgebungen, ist Kern des Beitrages von John Rodzvilla. Am Beispiel des E-Readers zeigt der Autor auf, wie sich diese Einflüsse auf den Umgang und die Wahrnehmung von Texten auswirken. Rodzvilla hebt dabei das ursprünglich für gedruckte Materialien erdachte Paratextkonzept Ge´rard Genettes für die systematische Analyse in die mediale Gegenwart des 21. Jhs. E-Reader wie Amazons Kindle oder Kobos Clara speichern den Text, ganz im Unterschied zu physischen Textträgern wie Büchern, nicht in einer fixen, sondern einer dynamischen Form. Rodzvilla zeigt auf, dass Leser*innen unmerklich mit drei Ebenen des Textes (Application-, Network- und PerceptionLayer) agieren, die diesen zur Anzeige bringen, die Interaktion und Anpassungen von bspw. Schriftgröße oder Layout ermöglichen und auf Wunsch weitere Informationen bereitstellen. Die Leser*innen werden nun mehr denn je zu quasi Mitautor*innen selbst – sie entscheiden in einer digitalen Leseumgebung über Aussehen und Anmutung des Textes und dessen unmittelbare intertextuelle Verbindung durch jederzeit auf- und abrufbare Informationen. Auch Frederike Neuber fokussiert in ihrem Beitrag die sich stetig verändernden Rezeptionsbedingungen im digitalen Raum, bedingt durch Mehrschichtigkeit des digitalen (editorischen) Textes. Während im Druck Inhalt und Form im typografischen Abbild unweigerlich verschmelzen, sei der digitale Editionstext vielschichtig konzipiert, aufgeteilt in Daten-, Funktionalitäts- und Präsentationsschicht. Wie auch Rodzvilla weist Neuber auf die veränderten Rezeptionsangebote und -möglichkeiten dieser einzelnen Bestandteile hin, die bspw. schon durch kleinere Änderungen an der Gestaltung der Edition selbst zum Tragen kommen. Die Autorin schließt mit der Forderung einer datenzentrierten Rezeption: Im Kontext zunehmender Datafizierung müssten selbige umso verlässlicher sein – entsprechend persistente Zitationsangebote seien hier nur exemplarisch genannt –, aber auch auf Seite der Nutzer*innen bedürfe es einer stärkeren ,Data Literacy‘, d. h. der Fähigkeit, Daten „kritisch zu organisieren, zu bewerten und
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Annkathrin Sonder, Bastian Politycki, Dirk Schäfer und Niklas Fröhlich
zu interpretieren“, um so den digitalen Text in seinen einzelnen Schichten ergründen zu können. Vanessa Hannesschläger nähert sich der Frage nach den Grenzen des Textes aus der Perspektive der Urheber*innenschaft. Sie differenziert die an der Herstellung der (digitalen) Edition bzw. ihres rezipierten Textes beteiligten Rollen am Beispiel des Projekts der digitalen Edition der Notizbücher Peter Handkes und beschreibt deren Zusammenwirken als (Mit-)Urheber*innen in Auseinandersetzung zunächst mit verschiedenen editorischen Traditionen bzw. Ansätzen. Anschließend bezieht die Autorin die Konzepte ,Werk‘ und ,Urheber*in‘ im deutschen sowie österreichischen Urheberrecht in ihre Untersuchung mit ein. Die digitale Edition entstehe im Zusammenspiel aller Beteiligten als „untrennbare Einheit“ mit „gemeinschaftlicher Urheber*innenschaft“, in der selbst die Rezipient*innen noch „als Mit-Urheber*innen [...] ins Spiel“ kommen. Die Beiträge von Cord Pagenstecher sowie von Johannes Schmidt und Patrick Sahle nähern sich der Frage nach dem ,Text‘ anhand von konkreten Beispielen, denen im editionswissenschaftlichen Kontext ein gewisses Alleinstellungsmerkmal zuzuschreiben ist: Am Beispiel von narrativ-biografischen Interviews der Oral History stellt Cord Pagenstecher die Frage nach der Übertragbarkeit etablierter editionswissenschaftlicher Konzepte wie Dokument, Text, Autor oder Werk auf orale Textformen. Anhand der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung der Oral History macht Pagenstecher auf verschiedene Aspekte aufmerksam, die ebenso für Texte von Relevanz sind. Er zeigt so auf, dass Interviewarchive – wie jenes, welches sich bspw. an der Freien Universität Berlin im Entstehen befindet – vor vergleichbaren Herausforderungen wie (traditionelle) Editionsprojekte stehen. Von besonderer Relevanz ist dabei – aufgrund ihrer rezeptionssteuernden Wirkung – die dezidierte Offenlegung der Aufnahme-, Transkriptions- und Erschließungsmethoden. Ähnlich wie Pagenstecher befassen sich auch Sahle und Schmidt mit den ,großen editorischen Kategorien‘ Text, Werk und Autor*innenschaft. Am Beispiel des Nachlasses zweier Soziologen – Niklas Luhmann und Harold Garfinkel – zeigen die beiden Autoren aus praktischer Perspektive Möglichkeiten editorischer Erschließung und Präsentation auf. Während es im Falle des LuhmannArchivs um Texte in einem fast schon klassischen Sinne geht, also solche, die durch inhaltliche Kohärenz verbunden und auf die Veröffentlichung hin gedacht sind, handelt es sich beim Garfinkel-Nachlass um eine zunächst scheinbar lose Sammlung einzelner Dokumente bzw. Textfragmente, deren Zusammengehörigkeit erst durch den Akt philologischer Erschließung erkennbar wird. Die Tätigkeit der Editor*innen verlässt in diesen Projekten die Grenzen klassischer Textkritik und legt sich nicht auf die Konstitution einer einzelnen Textfassung fest, sondern präsentiert einen Gesamttext – wie auch die Oral History-Archive – durch Erschließung und Präsentation mittels Kommentaren, Verknüpfungen und
Einleitung
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nicht zuletzt den Transkriptionen selbst. Im Zentrum steht dabei stets die Annahme, so die Autoren, dass ,Text‘ letztlich das ist, auf was wir (Editor*innen wie Nutzer*innen) im Moment der Rezeption schauen. Niklas Sommer befasst sich in seinem Beitrag mit der editorischen (Re-)Produktion der Kallias-Briefe Friedrich Schillers. Anhand von Einblicken in die Entstehungsgeschichte und den Kontext des Kallias-Briefwechsels zwischen Schiller und Gottfried Körner zeigt Sommer zunächst, wie editorische Entscheidungen die Interpretation der in den Briefen diskutierten ästhetischen Theorie beeinflussen können. Mit der sogenannten Nationalausgabe, der Frankfurter Ausgabe und der mit Kallias oder über die Schönheit betitelten Ausgabe des Reclam-Verlags vergleicht Sommer drei Editionen, die je unterschiedliche Aspekte des Briefwechsels betonen oder vernachlässigen, und wägt die zugrundeliegenden editorischen Entscheidungen mit Blick auf Desiderate an zukünftige Editionsprojekte ab. Sarah Hutterer greift das Tagungsthema der (Re-)Produktion als Spannungsverhältnis auf: Am Beispiel mittelhochdeutscher Dichtung (Erec) diskutiert sie, wie zu verschiedenen Zeiten und aus verschiedenen interdisziplinären Perspektiven heraus derselbe Überlieferungsbefund zu jeweils anderen Ausgaben geformt worden ist. Im Kern der Diskussion steht dabei die Forderung der sog. ,New Philology‘, in Abwendung von Emendation und Urtextorientierung in Editions- und Forschungspraxis der ,tatsächlichen‘ Überlieferung und ihren Dokumenten ,gerecht‘ zu werden. Dabei arbeitet Hutter ganz im Sinne der Tagung das interpretierende Moment der Reproduktion als gleichzeitiger Produktion heraus: Sie regt dazu an, editorische Tätigkeit ausdrücklich als hermeneutischen Akt zu begreifen und gerade diesen hermeneutischen Charakter des philologischen Arbeitens in der Edition transparent zu machen. Entscheidungen, editorisches iudicium, gelte es nicht zu vermeiden, sondern zu verantworten. Der Beitrag von Shiamin Kwa bietet einen Brückenschlag zu intermedialen Fragestellungen durch die Betrachtung von Text-Bild-Relationen: Die Autorin beschäftigt sich mit den autobiographischen Comics von Keiler Roberts und akzentuiert, dass die Darstellung familiärer Alltagssituationen der Comicautorin durch verschiedene, dem Medium genuine Mittel, die Leser*innen performativ einbeziehe. Kwa beleuchtet die spezifisch für das Medium geltenden Lektürepfade sowie Rezeptionsweisen, wie etwa metaleptische Elemente, um verschiedene Facetten von Reproduktion herauszustellen, die das Verhältnis real existierender Personen zu den autobiographisch angelegten Figuren und damit produktionsästhetisch die Trias Comiczeichnerin – Kunstwerk – potentielle Leser*in betreffen. Jessica Bauer verdeutlicht die kulturelle Praxis von Textreproduktion am historischen Beispiel des frühneuzeitlichen Theologen Sebastian Franck. In einigermaßen anarchischer Weise stand dieser im Konflikt mit den Verhältnissen
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Annkathrin Sonder, Bastian Politycki, Dirk Schäfer und Niklas Fröhlich
und Obrigkeiten seiner Zeit und war insbesondere immer wieder von Zensur betroffen. Die Autorin untersucht, wie Franck im vollen Bewusstsein dieser Tatsache verschiedene Strategien gebrauchte, um einerseits die „Wahrheit“ herauszuarbeiten, zugleich aber die Schärfe der damit verbundenen Kritik vor der Zensur zu verbergen. Zentrales Mittel war ihm dabei die reproduzierende Kompilation fremder Texte, die er sammelte, bearbeitete und selektiv kombinierte. Es zeigt sich dabei, wie Reproduktionen nicht nur gezielt zur Schaffung eines neuen literarischen Werkes betrieben werden, sondern auch, wie sie ihren Sitz im Leben im Zweck der Wahrheitsfindung, der Rechtfertigung, aber auch der Verschleierung haben können. Anne Lorenz erläutert in ihrem Artikel, wie aus der Idee des Gesamtkunstwerks in der historischen Avantgarde transgressive, explizit gattungs- und medienübergreifende Kunstformen hervorgegangen sind. Dabei zielt sie auf die Frage der adäquaten Vermittlung plurimedialer Kunstwerke und expliziert deren Wechselwirkung, Selbstreferenz sowie intertextuelle Verweise anhand einiger Verfahren: so etwa der Darstellung von Simultaneität durch die Chronofotografie oder der Montage als intertextueller, sowohl auf sich selbst als auch auf andere Werke bzw. Künstler*innen verweisender Technik. Für das rahmende Thema hat die ständige Re- und Neukombination von Zeichen in den unterschiedlichen medialen Dispositionen zur Folge, dass die Dynamik der Kunstwerke erst durch den Relationen schaffenden Betrachtungsprozess zu Tage tritt. Gianna Hedderich wirft aus der Perspektive der griechischen Epigraphik einen Blick auf Fragen der Produktion und Reproduktion. Sie bespricht dabei am Beispiel der athenischen logistai-Inschrift den Wandel, den eine Inschrift im Laufe der Jahrtausende bis zu ihrer modernen Erschließung durchlaufen haben kann. Zugleich stellt sie aber vor allem auch den Wandel dar, den der aus den Überresten gewonnene ,Text‘ im Laufe der Editionsgeschichte und auch innerhalb derselben Edition in verschiedenen Bearbeitungsschichten von der photographischen Dokumentation über die Abschrift und Zusammenfügung von Fragmenten hin zur Rekonstruktion des Textes durchlaufen kann. Dabei regt sie an, gerade Editionen fragmentarischer Inschriften in besonderem Maße dynamisch zu halten, da einerseits Funde weiterer Fragmente möglich sind, andererseits der rekonstruierte Charakter des (re)produzierten Textes transparent sein muss. Annkathrin Sonder, Bastian Politycki, Dirk Schäfer und Niklas Fröhlich
I. Text – Theoretische Perspektiven
Anke Bosse
TEXT und Text/e – zwischen Abstraktem und Konkretem Herausforderungen für die Edition
1. Intro Wer sich so grundlegenden Fragen nähert wie „Was ist ,Text‘?“, „Was sind Textgrenzen?“, tut gut daran, mit der Herkunft des Begriffs ,Text‘ zu beginnen. Die Etymologie wirft immer wieder ein neues oder anderes Licht auf ein Wort: Text: „Wortlaut, Beschriftung, (Bibel)stelle“. Das Wort wurde in spätmhd. Zeit aus lat. textus „Gewebe, Geflecht; Verbindung, Zusammenhang, zusammenhängender Inhalt einer Rede, einer Schrift“ entlehnt. Dies gehört zu lat. textere „weben, flechten; fügen, kunstvoll zusammenfügen“, das etymologisch verwandt ist mit griech. te´kto¯n „Zimmermann, Baumeister [Architekt]“, griech. te´chne¯ „Handwerk, Kunst, Kunstfertigkeit“.1
Gemäß dem Duden-Herkunftswörterbuch ist ,Text‘ ein Verwandter des Textils. Längst hat es dazu inspirierende literaturwissenschaftliche Arbeiten gegeben.2 Entscheidend sind erstens die ,textus‘-Bedeutungen „Verbindung“ und „Zusammenhang“ – also Stabilität. Entscheidend ist zweitens, dass diese Verbindung, dieser Zusammenhang, diese Stabilität nicht einfach da sind, sie sind gemacht. ,Text‘ gehört zu lat. textere ,zusammenfügen‘, gern ,kunstvoll‘. ,Text‘ beruht auf einer te´chne¯. ,Text‘ ist also ein Prozess und eine Praxis inhärent – und damit Flexibilität. Textgrenzen abstecken war das Thema des ersten Panels der Tagung Der Text und seine (Re-)Produktion. Ein interdisziplinärer Dialog über Kulturtechniken in der Editorik. Wenn wir Textgrenzen abstecken, kommen wir mitten hinein in das Feld zwischen Stabilität und Flexibilität, zwischen ,Text‘ als flexibel, fluide Gesprochenes / Geschriebenes und ,Text‘ als fixiert Geschriebenes, zwischen ,Text‘ als Da-Sein und ,Text‘ als Gemachtes. Wir kommen in das Feld zwischen TEXT als medien- und materialunspezifisch Abstraktes und Text/e als medienund materialspezifisch Konkretes.
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Dudenredaktion (Hrsg.): Duden. Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. Die Geschichte der deutschen Wörter bis zur Gegenwart. Bd. 7. 4., neu bearbeitete Auflage. Mannheim u. a. 2007, S. 845. Vgl. u. a. Erika Greber: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik. Köln / Weimar / Wien 2002.
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Anke Bosse
2. TEXT als medien- und materialunspezifisch Abstraktes 2.1 TEXT 1 Der TEXT als ,Zusammenhang, Verbindung‘, als eine geordnete Menge von Elementen und als höchste Sinneinheit von sprachlichen Äußerungen geht, wie die Etymologie zeigt, bis zurück in die Antike und reicht bis in die moderne Textlinguistik. Kohärenz, gesteigert zu Einheitsvorstellungen, war für den literaturwissenschaftlichen Formalismus und Strukturalismus sowie den New Criticism zentral.3 Dem TEXT legte Jurij M. Lotman drei „Definitionen“ zugrunde: „Explizität“, „Strukturiertheit“ und – „Begrenztheit“.4 Dass die werkimmanente TEXT-Interpretation über die rein formale Einheit und Begrenztheit noch hinaus gegangen war und sie zu ihrem normativen Konzept vom ,Werkganzen‘ zugespitzt hatte, lehnte Lotman ab.5 Doch all diesen TEXT-Definitionen gemeinsam ist der Drang nach dezidierter Stabilität, die klare Textgrenzen garantieren soll. Ein Ideal und eine Illusion, die, obwohl durchschaut, weiterleben. Sie bleiben stabilisierende Leitlinie, wenn vom ,Werk‘ geredet wird, ja auch vom ,Autor‘, von der ,Autorin‘. Die Tradition TEXT 1 ist zugleich werk- wie autorzentriert. Doch bereits innerhalb der Tradition TEXT 1 setzten Gegenbewegungen ein. So bezieht die semiotisch-kulturwissenschaftlich orientierte Interpretation TEXT auf jeden semiotisch beschreibbaren Strukturzusammenhang und bindet TEXT in kulturell, geschichtlich und sozial bestimmte Symbolisierungsleistungen ein.6 Im Hintergrund steht der Mensch als permanent deutendes „animal symbolicum“ nach Ernst Cassirer.7 Von hier aus führte der Weg zu ,Kultur als Text‘.8 Beim Übergang vom ,linguistic turn‘ zum ,performative‘ und ,practice turn‘ wurde diese textfixierte Vorstellung abgelöst von ,Kultur‘ als Ensemble von spezifischen Praktiken.9 3
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Vgl. u. a. Cleanth Brooks: The Well Wrought Urn. Studies in the Structure of Poetry [1947]. San Diego u. a. 1975. – Rainer Grübel: Formalismus und Strukturalismus. In: Grundzüge der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold und Heinrich Detering. München 1996, S. 386–408. – Albrecht Jörn: Europäischer Strukturalismus. Ein forschungsgeschichtlicher Überblick. Tübingen 2000. – Jurij Striedter (Hrsg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. 3. Auflage. München 1971. – Rene´ Wellek: The New Criticism. Pro and Contra. In: ders.: The Attack on Literature and Other Essays. Chapel Hill 1982, S. 87–103. Jurij M. Lotman: Der Begriff Text. In: ders.: Die Struktur literarischer Texte. Übersetzt von RolfDietrich Keil [1972]. 4. Auflage. München 1993, S. 81–91, hier S. 83–86. Ebd., S. 81. – Vgl. zur werkimmanenten TEXT-Interpretation u. a. Wolfgang Kayser: Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft [1948]. 15. Auflage. Bern 1971. – Jost Hermand: Geschichte der Germanistik. Reinbek 1994. Vgl. Roland Posner: Kultursemiotik. In: Einführung in die Kulturwissenschaften. Hrsg. von Ansgar Nünning und Vera Nünning. Stuttgart 2008, S. 39–72. Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur [An Essay On Man. Introduction to a Philosophy of Human Culture, 1944]. Übersetzt von Reinhard Kaiser. Frankfurt a. M. 1990, S. 51. Doris Bachmann-Medick: Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft. Frankfurt a. M. 1996.
TEXT und Text/e – zwischen Abstraktem und Konkretem
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Die Rezeptionsästhetik steht in doppelter Beziehung zur Tradition von TEXT 1, nämlich als ihr zugehörig und als Gegenbewegung. In ihrer frühen Version verstand sie TEXT als etwas zugleich Flexibles wie Stabiles. Erst im TEXT-Lesen, in der Reaktion auf Appellstrukturen und Unbestimmtheiten des TEXTS konkretisiere sich dieser zu einer stabilen Sinneinheit – beim Leser, bei der Leserin.10 In der späteren Version der Rezeptionsästhetik hingegen ging der Weg stärker ins Flexible und in den unendlich fluiden TEXT: Jeder TEXT realisiere sich erst durch jede individuelle Lektüre zu etwas Neuem – und das potenziell unendlich und in unterschiedlichsten sozial-, kultur- und wissenspolitischen Kontexten.11 Auch hier ist der Mensch als permanent deutendes ,animal symbolicum‘ im Hintergrund. Beide Gegenbewegungen steuern so auf das Konzept von TEXT 2 zu. 2.2 TEXT 2 Die zweite Begriffs- und Forschungstradition sieht TEXT als einen bedeutungsgenerativen Verweisungszusammenhang, dessen Differenzialität und Dynamik die Vorstellung von TEXT als eines (meist) geschlossenen oder zumindest stabilen Sinnganzen in der Tradition von TEXT 1 radikal in Frage stellt. Der späte Strukturalismus und der Poststrukturalismus entwickeln ein deskriptives, dynamisches Modell von TEXT, verbunden mit der Dezentrierung des Subjekts und damit des ,Autors‘, der ,Autorin‘. TEXT 2 hebt Textgrenzen dezidiert auf und zieht zum Pol ,Flexibilität‘.12 Diese Verschiebung veranschaulicht Roland Barthes wie folgt: [...] das Werk ruht in der Hand, der Text ruht in der Sprache: er existiert nur innerhalb eines Diskurses [...]. Oder: der ,Text‘ erweist sich nur in einer Arbeit, in einer Produktion. Daraus folgt, daß der ,Text‘ nicht enden kann (etwa auf dem Regal einer Bibliothek); seine konstitutive Bewegung ist die Durchquerung (er kann unter anderem das Werk, mehrere Werke, durchqueren).13 9
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Vgl. Friederike Elias u. a. (Hrsg.): Praxeologie. Beiträge zur interdisziplinären Reichweite praxistheoretischer Ansätze in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Berlin u. a. 2014 (Materiale Textkulturen 3). doi.org/10.1515/9783110370188. Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. Konstanz 1970 (Konstanzer Universitätsreden 28). Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a. M. 1993. Roland Barthes: Der Tod des Autors [La mort de l’auteur, 1968]. In: Texte zur Theorie der Autorschaft. Hrsg. und kommentiert von Fotis Jannidis u. a. Stuttgart 2000, S. 181–193. – Jacques Derrida: Die Schrift und die Differenz [L’e´criture et la diffe´rence, 1967]. Frankfurt a. M. 1972. – Jacques Derrida: Grammatologie [De la grammatologie, 1967]. Frankfurt a. M. 1974. Roland Barthes: Vom Werk zum Text [De l’œuvre au texte, 1971]. In: ders.: Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV. Aus dem Französischen von Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 2005, S. 64–72, hier S. 65f. Hervorhebungen i. O. – Später führte Barthes weiter aus, dass der TEXT „kein ästhetisches Produkt“ sei, „sondern eine signifikante Praxis; er ist keine Struktur, sondern eine Strukturierung“, er ist „keine Menge geschlossener, mit einem freizulegenden Sinn versehener Zeichen, sondern ein Volumen sich verschiebender Spuren“ (Roland Barthes: Das semiologische Abenteuer [L’aventure se´miologique, 1985]. Frankfurt a. M. 1988, S. 11).
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Anke Bosse
Genau genommen ist das Konzept des TEXT 2 nur im Rahmen der Intertextualitätstheorie Julia Kristevas sinnvoll, die durch Barthes ja wesentlich begleitet wurde. Jeder einzelne „Text baut sich“ demnach „als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität“.14 Text geht auf in einem unendlichen, unabgrenzbaren Universum von Texten, einer unabschließbaren Dynamik von Zeichenoperationen, für die das Konzept des TEXT 2 steht. Diese Zeichenoperationen kommen in einzelnen Konkretisationen nur vorübergehend zum Stillstand, erreichen nur vorübergehende Stabilität. Bei TEXT 2 stellt sich die Frage nach Textgrenzen nur im Ansatz, denn es geht um völlige Ent-Grenzung. Flexibilität geht über zu Fluidität. 2.3 TEXT 3 Das Konzept von TEXT 3 bewegt sich hinein in völlige Fluidität. TEXT kann nämlich völlig immateriell und grenzenlos sein, wenn er ausschließlich mental stattfindet, im chemo-elektrischen ,Gewitter‘ zwischen den Synapsen des menschlichen Gehirns – und genau das macht uns Menschen zum permanent deutenden und Bedeutungen generierenden ,animal symbolicum‘. Unsere Gedanken sind mental gesprochener TEXT. Wir sprechen ihn mit unserer inneren Stimme. Diese Praxis des ,stummen‘ Sprechens gilt übrigens auch für Lesen und Schreiben. Beim Lesen sehen wir meist dunkle Buchstaben auf hellem Hintergrund. Damit daraus TEXT wird, bringen wir diese Buchstaben im Sprechen mit unserer inneren Stimme in ein Kontinuum zu Wort, Satz, TEXT. Präsentieren uns diese Buchstaben einen fiktionalen Text, wird auch noch unsere Imagination als Leserin, als Leser befeuert. Und diese ist prinzipiell individuell, unkontrollierbar, unendlich. Hier kommt die Rezeptionsästhetik in ihrer späteren Version und ihrer Verbindung zur literarischen Anthropologie wieder ins Spiel.15 Mentales Sprechen von TEXT geht auch dem Schreiben von Text voraus. Nur sind unsere Finger beim Niederschreiben oder Niedertippen nicht so schnell wie unsere Synapsen. Wir erleben hier den Übergang vom Abstrakt-Immateriellen zum Konkret-Materiellen, von fluider Praxis zu fixierender, stabilisierender Praxis. Erst in diesem Übergang entstehen konkrete Texte und kann sich die Frage nach Textgrenzen stellen. Erst in diesem Übergang wird die Arbeit von Autor:innen wahrnehmbar. Mit Lesen und Schreiben bewegen wir uns in Richtung der Textgenetik, der Critique ge´ne´tique und der Schreibprozessforschung.16 Entscheidend ist, dass die 14
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Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman [Bakhtine, le mot, le dialogue et le roman, 1967]. In: Literaturwissenschaft und Linguistik III. Hrsg. von Jens Ihwe. Frankfurt a. M. 1972, S. 345–375, hier S. 346. Iser 1993 (Anm. 10). – Rainer Warning (Hrsg.): Rezeptionsästhetik. 4. Auflage. München 1994. Gunter Martens / Hans Zeller (Hrsg.): Textgenetische Edition. Tübingen: Niemeyer 1998 (Beihefte zu editio 10). doi.org/10.1515/9783110939996. – Genetische Edition, edlex.de. edlex.de/in
TEXT und Text/e – zwischen Abstraktem und Konkretem
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e´criture nicht ,nur‘ als unendlicher Prozess verstanden wird, sondern auch als einer, der sich in konkreter schriftlicher Fixierung als Text niederschlägt. Diese Überlegungen seien wie folgt zusammengefasst: – TEXT 1 ist Richtung ,Stabilität‘ zu verorten und operiert mit definierbaren Beund Abgrenzungen. – TEXT 2 geht in Richtung ,Flexibilität‘, ja ,Fluidität‘ und Ent-Grenzung. – TEXT 3 entspricht mentalen Operationen – stummes Sprechen und Lesen, Imagination – und erreicht den Pol der ,Fluidität‘. Die Frage nach Grenzen stellt sich hier erst gar nicht, die Existenz von TEXT 3 ist ephemer und nicht re-konstruierbar. Alle drei Konzepte von TEXT sind abstrakt und sehen von dessen medien- und materialgebundener Objekthaftigkeit und Konkretheit ab. Doch um genau diese geht es, wenn es statt um TEXT um Text/e geht:
3. Text/e als medien- und materialspezifisch Konkretes In Erweiterung der genuin sprachlichen Zeichenstruktur und ihrer bedeutungsgenerativen Aspekte bei TEXT 2 rückt der Text, rücken Texte in ihrer konkreten materiell-medialen Objekthaftigkeit in den Blick. So ist es kein Zufall, dass Roland Barthes bereits in den 1970er Jahren über die konkrete ,Körperlichkeit‘ des Schreibens als Geste und über die semiotische Signifikanz des Schriftbildes zu arbeiten begann.17 Diese Perspektivenerweiterung eines weiterhin dynamischen Textbegriffs erhielt seither Zugkraft durch medientheoretische und -geschichtliche Untersuchungen, die die Aufzeichnungs- und Speicherformen, schließlich auch die jeweiligen Schreibgeräte als zentrale und vor allem prägende Faktoren der Sinnkonstitution auffassen – auch, aber nicht nur, in Text/en. Zwingende Konsequenz dieser Perspektivenerweiterung ist die Historisierung von textueller Produktivität, ihrer Produktions-, Distributions- und Rezeptionsbedingungen. So kommen mediengeschichtliche Konstitutionsbedingungen ins
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dex.php?title=Genetische Edition (Stand: 29.05.2021). – Selina Galka: Genetische Edition. In: KONDE Weißbuch. Hrsg. von Helmut W. Klug unter Mitarbeit von Selina Galka und Elisabeth Steiner im HRSM Projekt ,Kompetenznetzwerk Digitale Edition‘. www.digitale-edition.at/o:kon de.90 (Stand: 26.01.2022). – Almuth Gre´sillon: Literarische Handschriften. Einführung in die ,critique ge´ne´tique‘ [E´le´ments de critique ge´ne´tique. Lire les manuscrits modernes, 1994]. Bern 1999 (Arbeiten zur Editionswissenschaft 4). – Anke Bosse, Elmar Lenhart: Critique ge´ne´tique. In: KONDE Weißbuch. www.digitale-edition.at/o:konde.46 (Stand: 26.01.2022). – Zur Schreibprozessforschung: www.schreibszenen.net/publikationen.html (Stand: 26.01.2022). – Anke Bosse: Schreibprozesse erforschen und darstellen – literaturwissenschaftliche Zugänge. Schreibwissenschaft – eine neue Disziplin? Diskursübergreifende Perspektiven. Hrsg. von Melanie Brinkschulte u. a. Wien / Köln / Weimar 2020, S. 195–209. doi.org/10.7767/9783205209768.195. ` la lettre [1971]. In: ders.: Œuvres comple`tes. Hrsg. von E´ric Marty. Roland Barthes: Erte´ ou A Bd. 3. Paris 1995, S. 922–944. – Roland Barthes: Variations sur l’e´criture [1973]. Variationen über die Schrift. Französisch-Deutsch. Übersetzt von Hans-Horst Henschen. Mit einem Nachwort von Hanns-Josef Ortheil. Mainz 2006 (excerpta classica 2).
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Spiel, die auf Mündlichkeit, Schriftlichkeit, Druck oder elektronische Datenverarbeitung fokussieren. Text/e erreichen zumindest relative Stabilität als Objekt, so dass die Frage nach Textgrenzen wieder in den Blick rückt. Die materialbezogene und mediale Erweiterung des Textkonzepts führt zu produktionsästhetischen Fragestellungen, die allerdings nicht primär autor- und subjektzentriert sind, sondern interpersonale und kollektive Textproduktivität in den Blick nehmen sowie die materiell-medialen und funktionalen Bedingungen von Schriftlichkeit und Schreiben. Der ,linguistic turn‘ wird erweitert um den ,medial / material turn‘ und schließlich um den ,performative‘ und ,practical turn‘.18 Text/e als medien- und materialgebundene, konkrete Objekte führen zum Dokument: „Urkunde, Schriftstück; Beweis“: Das Substantiv wurde im 16. Jh. aus lat. documentum „Beweis“ (zu lat. docere „[be]lehren“ [...]) in dessen mlat. Bedeutung „beweisende Urkunde“ entlehnt. Die eigentliche Bedeutung von lat. documentum ist „das zur Belehrung über eine Sache bzw. zur Erhellung einer Sache Dienliche“.19
Die Etymologie von ,Dokument‘ bedient einen Traum, eine Illusion: Texte als Dokumente sollen „Beweis“-Kraft haben. Und doch greift die Etymologie auch weniger hoch: Von Dokumenten kann sehr wohl „Belehrung“ und „Erhellung“ ausgehen, die „Beweis“-Kraft ist ihnen gegenüber lediglich eine – gegebenenfalls übertriebene – Erwartung. Allen drei ist gemeinsam: Sie liegen im Auge jeder Betrachterin, jedes Betrachters – in ihrem Zutun als ,animal symbolicum‘, als deutendes und Bedeutungen zuschreibendes, austauschendes Wesen. Die Verbindung von Text/en als Dokument/en zur Edition liegt auf der Hand. Warum also zuvor die tour d’horizon durch TEXT 1, TEXT 2, TEXT 3? Nun, mir liegt daran zu zeigen, dass wir es im ,editorischen Geschäft‘ mit Textbegriffen und Textkonzepten zu tun haben, in deren Implikationen TEXT 1, TEXT 2, TEXT 3 hineinkreuzen – nur oft zu wenig reflektiert und expliziert. Da diese Implikationen aber das eigene Vorverständnis als Editorin, als Editor prägen, sind sie wichtig, wenn nach ,Text‘, Textkonstitution und dem Abstecken von Textgrenzen gefragt wird und den daraus folgenden Konsequenzen für die Edition.
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Vgl. Thomas Meier / Michael R. Ott / Rebecca Sauer (Hrsg.): Materiale Textkulturen. Berlin u. a. 2015 (Materiale Textkulturen 1). doi.org/10.1515/9783110371291. – Anne Bohnenkamp-Renken (Hrsg.): Medienwandel / Medienwechsel in der Editionswissenschaft. Berlin u. a. 2013 (Beihefte zu editio 35). doi.org/10.1515/9783110300437. – Martin Schubert (Hrsg.): Materialität in der Editionswissenschaft. Berlin u. a. 2010 (Beihefte zu editio 32). doi.org/10.1515/9783110231311. – Uwe Wirth (Hrsg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M. 2002. Duden. Das Herkunftswörterbuch 2007 (Anm. 1), S. 151. – Im Namens-,Triptychon‘ des Graduiertenkollegs Dokument – Text – Edition an der Bergischen Universität Wuppertal steht das ,Dokument‘ am Anfang, als Ausgangspunkt.
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Abb. 1: Georg Büchner. Woyzeck. Faksimile-Ausgabe der Handschriften. Transkription und Kommentar von Gerhard Schmid. Leipzig: Edition Leipzig 1981. Foliohandschrift I 1, Blatt 1.
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4. Edition ist Transformation – Edieren und Textgrenzen Edieren ist ein deutendes und transformierendes Handeln, eine te´chne¯, eine Kulturtechnik – und es ist dadurch schon mit der Etymologie von ,Text‘ verbunden, wie sie das Eingangszitat des vorliegenden Beitrags ausgefaltet hat. Nicht nur ,Text‘ ist eine te´chne¯, ein Prozess und eine Praxis. Auch Edieren ist eine te´chne¯, allerdings ein methodisch fundiertes „Handwerk“, eine „Kunst“, die von den Edierenden „Kunstfertigkeit“ verlangt.20 Editor:innen stehen oft vor kniffligen Aufgaben, vor oft enormem Arbeitseinsatz. Dass sie durch ihr Tun einen fundamentalen Beitrag zum kulturellen Gedächtnis, zum Cultural Heritage leisten, kann gar nicht oft genug betont werden. Seit es Edieren gibt, ist der Ausgangspunkt ,Text‘, sind es ,Texte‘ im material überlieferten, medial spezifischen und konkreten Dokument. Textgrenzen setzt hier das Dokument: fassbar, deutbar, edierbar ist nur das Überlieferte. Edieren als deutendes und transformierendes Handeln bewegt sich zwischen Reproduktion und Produktion. Ausgangspunkt ist ,Text‘ in seiner fixierten Form auf einem Textträger – also das materiale Dokument. Die 1:1-Reproduktion eines historischen Dokuments, wie sie Faksimile-Ausgaben anstreben, ist eine Simulation. Wenn das, was auf einzelnen Blättern stand oder in einem Heft, faksimiliert in eine ästhetisch anspruchsvolle und ansprechende Buchform überführt wird, haben wir bereits eine modellierende Reproduktion, einen fundamentalen Medien- und Materialwechsel. Genau diese Modellierung, genau dieser im Übrigen unvermeidliche Medien- und Materialwechsel sollte nicht durch suggerierte Originalnähe überspielt werden. Zwei Beispiele: In ihrer FaksimileEdition von Kafkas Heften zu Der Process bilden Roland Reuß und Peter Staengle die Hefte nach,21 Gerhard Schmid gibt in seiner Faksimile-Ausgabe von Georg Büchners Woyzeck die Einzelblätter wieder (Abb. 1).22 Doch sorgt die weiße Rahmung in beiden Fällen für das adäquate Signal, dass es sich um Reproduktionen handelt – verstärkt durch die editorische Rahmung mit Transkriptionen und Kommentaren. In hybriden und digitalen Ausgaben begegnet uns das Faksimile als hochauflösender Scan. Auch er ist nur eine Simulation, allerdings sind hier Medien- und Materialwechsel offensichtlich und letztlich auch die Modellierung – nämlich dadurch, dass der Scan modellierbar ist (vergrößerbar, verkleinerbar, mit digitaler Lupe selektiv zu sehen, zu deuten). Dadurch unterläuft er die Illusion einer originalgetreuen Reproduktion.23 Manchmal sehen wir im Digitalisat mehr oder 20 21
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Vgl. S. 9. Franz Kafka. Historisch-kritische Edition sämtlicher Handschriften, Typoskripte und Drucke. Hrsg. von Roland Reuß / Peter Staengle. Frankfurt a. M. 1995ff. www.textkritik.de/fka/ uebersicht/uebersicht.htm (Stand: 26.01.2022). Georg Büchner. Woyzeck. Faksimile-Ausgabe der Handschriften. Transkription und Kommentar von Gerhard Schmid. Leipzig 1981. Einige digitale Editionen verwenden bei jedem Scan auch einen Color Control Patch, der die Farbgebung des Scans kontrollierbar machen soll, ihn aber auch als Reproduktion ausweist.
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zumindest anderes als im Original im Archiv. Dies ist zu erproben an der Faust Edition,24 an Musil online25 und vielen anderen digitalen oder hybriden Editionen. Damit ein Faksimile nicht nur ein ,schönes Bild‘ ist, wird es transkribiert. Jede Trans-Skription ist eine trans-formierende, deutende Über-Setzung in eine andere Schrift und ein anderes Medium. Es gehen Informationen verloren, die nicht nur die spezifische Materialität des Dokuments und seine Einschreibungen, seine gegebenenfalls komplexe Topographie und alles nicht genuin Schriftliche betreffen wie Zeichnungen (vgl. Zeichnung am linken Rand in Abb. 1). Es kommen auch neue Informationen hinzu, z. B. der Zeilen- oder Verszähler, textgenetische Auszeichnungen u. v. m. Der im Dokument fixierte Text überschreitet medial seine Grenzen, indem er eine neue Form annimmt. Das originale Dokument setzt also von vornherein mediale und materielle Grenzen, die editorisch nicht zu überwinden sind. Jede Edition löst Texte von ihrer materiell-medialen Erscheinungsform ab – wenn auch graduell sehr unterschiedlich. Und genau hier kommen als Implikationen die Konzepte von TEXT 1, TEXT 2 und TEXT 3 ins Spiel. Erneut.
5. Edieren mit TEXT 1 Die Editionsphilologie ist entstanden aus dem Versuch heraus, fragmentarisch überlieferte antike oder mittelalterliche Texte zu ,retten‘. Das konkret materielle Dokument blieb unhintergehbar unzulänglich. So hat die von Karl Lachmann initiierte und traditionsbegründende Rekonstruktion eines idealen Urtexts durch Kompilation und kritischen Vergleich der überlieferten Dokumente gar nicht anders können, als mit einem abstrakten Textbegriff zu arbeiten. Dafür stand TEXT 1: der ideale Urtext als abgrenzbares Werk, wenn möglich versehen mit der Gloriole eines benennbaren Autors – der aber der Verfasser eben dieses Urtexts nie hat sein können.26 Denn der ideale Urtext war Imagination der Editoren und Ergebnis ihrer te´chne¯. Für die neuere Literatur, die nach der Erfindung des Drucks entstand, war und ist die Ausgangssituation grundlegend anders. Hier ist die ganze Skala von minimaler bis extensiver Überlieferung von Dokumenten möglich. Die materiell 24 25 26
www.faustedition.net/archive manuscripts (Stand: 26.01.2022). Im Bereich Schauen: edition.onb.ac.at/musil/ (Stand: 26.01.2022). Vgl. die Erstversion von Musil online: musilonline.at/archiv/ (Stand: 26.01.2022). Vgl. dazu Thomas Bein: Karl Lachmann – Ethos und Ideologie der frühen Editionswissenschaft. In: Neugermanistische Editoren im Wissenschaftskontext. Biografische, institutionelle, intellektuelle Rahmen in der Geschichte wissenschaftlicher Ausgaben neuerer deutschsprachiger Autoren. Hrsg. von Roland S. Kamzelak / Rüdiger Nutt-Kofoth / Bodo Plachta. Berlin u. a. 2011, S. 1–15. – Rüdiger Nutt-Kofoth (Hrsg.): Dokumente zur Geschichte der neugermanistischen Edition. Tübingen 2005.
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überlieferten Dokumente treten in unterschiedlichen medialen Erscheinungsformen auf, vom Manuskript über das Typoskript und Digiskript bis zum Druck oder als Datei.27 Eine Vielfalt von Dokumenten blieb unpubliziert und liegt als Nachlass in Privatbesitz oder im öffentlich zugänglichen (Literatur-)Archiv. Historisch-kritische und kritische Ausgaben folgen dabei dem Paradigma TEXT 1, wenn sie den Textbestand eines Leit-Dokuments in neuer Form abdrucken und alle anderen Text-Erscheinungsformen als Varianten in den Apparat verbannen. Solche Ausgaben sind autorzentriert und mehrbändig. Für die unterschiedlichsten Texte eines Autors, einer Autorin wenden sie die editorischen Leitlinien der Ausgabe an und sehen völlig von der je spezifischen Materialität und Medialität dieser Texte ab, in der sie erstmals publiziert wurden – eine radikale Homogenisierung, die auch auf Verlagsvorgaben zurückzuführen ist. Ediert wird nach dem Leitbild von TEXT 1, oft mit dem monumentalen Anspruch, den TEXT definitiv, abgegrenzt, langzeitig gültig zu präsentieren. Symptomatisch dafür ist das Programm der ,Ausgabe letzter Hand‘ der Werke Goethes. Sie trägt den generischen, monumentalen Titel Goethe’s Werke mit dem Untertitel Vollständige Ausgabe letzter Hand.28 Die Monumentalisierung zu der Goethe-Werkausgabe überhaupt ergibt sich aus einem doppelten, die Leser geradezu manipulierenden Anspruch: erstens eine Vollständigkeit zu versprechen, die alle vorangehenden Ausgaben ablöst; zweitens eine testamentarische Letztgültigkeit zu setzen. Mit dieser Ausgabe wurde ein absolutes Deutungsmonopol darüber installiert, wer Goethe war, was sein Werk ist. Diese Ausgabe sollte der ,ganze Goethe‘ sein, für immer.29 Für die Ewigkeit gemeißelte Textgrenzen. Und doch ist die ,Ausgabe letzter Hand‘ enorm autorfern. Die Arbeit an ihr delegierte Goethe an seine Mitarbeiter. Das hat nachhaltig ärgerliche Effekte erzeugt.
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Gegenüber dem Begriff ,Dokument‘ hat sich im Archiv- und Bibliothekswesen ,Ressource‘ durchgesetzt als „Grundbegriff“: Ressourcenerschließung mit Normdaten in Archiven und Bibliotheken für Personen-, Familien-, Körperschaftsarchive und Sammlungen. Richtlinie und Regeln. Version 1.0 (2019). Vorgelegt von der Österreichischen Nationalbibliothek (Wien), der Schweizerischen Nationalbibliothek (Zürich) und der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. https://d-nb.info/1186104252/34, S. 6 (Stand: 26.01.2022). Eine detaillierte Aufschlüsselung der „Ressourcenarten“ auf S. 100–105. – Dass ,Ressource‘ aber auch ein Begriff ist, der mit vielfältigen Bedeutungen aufgeladen ist, zeigt der Band: Ressource ,Schriftträger‘. Materielle Praktiken der Literatur zwischen Verschwendung und Nachhaltigkeit. Hrsg. von Martin Bartelmus / Yashar Mohagheghi / Sergej Rickenbacher. Bielefeld 2023. Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. 40 Bde. Stuttgart / Tübingen: J. G. Cotta’sche Buchhandlung 1827–1830 (,Taschenausgabe‘ = C1). – Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. 40 Bde. Stuttgart / Tübingen 1827–1831 (,Quartausgabe‘ = C3). Vgl. Anke Bosse: Zur Medialität der Literatur. ,Goethe‘ als Beispiel und Modell. In: Goethe medial. Aspekte einer vieldeutigen Beziehung. Hrsg. von Margit Wyder / Barbara Naumann / Georges Felten. Berlin u. a. 2021, S. 173–194, hier S. 182. doi.org/10.1515/97831107 32870.
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Abb. 2: West-oestlicher Divan von Goethe. Stuttgart: in der Cottaischen Buchhandlung 1819. Titelkupfer und Titelblatt. Goethe- und Schiller-Archiv. Bestand Goethe. Signatur GSA 25 / 789a.
Zwei Beispiele: 1819 brachte Goethe sein lyrisches Hauptwerk, den West-östlichen Divan, heraus. Diese Ausgabe war minutiös von ihm betreut worden.30 Besonders raffiniert war der Doppeltitel mit dem östlichen Titelkupfer links, nach originalen persisch-arabischen Handschriften entworfen, und dem deutschen Titel rechts – eine chiastische Verkehrung von ,west-östlich‘ und ein eminentes Beispiel für die Programmatik des Divans (Abb. 2). Wenn wir den 1827 im Rahmen der Ausgabe letzter Hand veröffentlichten West-östlichen Divan dagegenhalten, ist der Schock groß (Abb. 3).31 Hier werden im Titelkupfer geballt genau jene Orient-Klischees aufgerufen, gegen die Goethe mit seinem Divan angeschrieben hatte. Ein (in falscher Richtung) schreibender Orientale in 30
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West-oestlicher Divan von Goethe. Stuttgart 1819. – Vgl. Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan. Hrsg. von Hendrik Birus. In: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände. Hrsg. von Friedmar Apel u. a. Bde. I 3.1 und I 3.2. Frankfurt a. M. 1994, hier Bd. I 3.1, S. 742f. (,Frankfurter Ausgabe‘). Zitiert mit der Sigle FA. C1 (Anm. 28), Bd. 5, Titelkupfer.
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Abb. 3: Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand. Fünfter Band. Stuttgart, Tübingen: in der J. G. Cotta’schen Buchhandlung 1827. Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar. Signatur N 60487 (5).
Turban und Pluderhose sitzt auf einem Diwan-Sofa. Die Bildunterschrift „Der Divan“ befördert bei den Leser:innen die Fehlleistung, Goethes Divan mit einer Nebenbedeutung von dı¯wa¯n zu verbinden, mit ,Sofa‘.32 Erstens ist die für den West-östlichen Divan konstitutive sinnliche Schrift-Ästhetik hier herabgewürdigt zu pseudoarabischen Schriftzeichen. Zweitens wird die Komposition des Westöstlichen Divans zerstört. Im Erstdruck hatte Goethe den zwölf Gedicht-Büchern als dreizehntes Buch den erläuternden Prosateil mit dem Titel Besserem Verständniß angehängt. Die Leser:innen des Erstdrucks konnten sich hier orientieren. Doch das kleine Band-Format der Ausgabe letzter Hand zwang dazu, die zwölf Gedichtbücher in Band 5 zu veröffentlichen und, davon separiert, in Band 6 den Prosateil. Besserem Verständniß als alleinstehender Titel funktionierte nicht mehr, weshalb sich Goethe dafür entschied, den Titel zu Noten und Abhandlungen zu besserem Verständniß des West-östlichen Divans zu ändern. Das Setzen dieser Textgrenze hatte gravierende Folgen.33 Der von den Gedichten nun 32 33
Vgl. Hendrik Birus: Goethes imaginativer Orientalismus. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstift 1992, S. 107–128. Noch dazu erhielt Bd. 6 ein falsches Titelkupfer, das sich auf Goethes Jugenddrama Die Geschwister bezog. Vgl. Bosse 2021 (Anm. 29), S. 180–182.
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materiell getrennte Prosateil wurde zum paratextuellen Epitext, zum bloßen Kommentar degradiert und geriet bis weit ins 20. Jh. hinein in Vergessenheit – und damit auch sein Spiegelungsverhältnis zu den Gedichten. Die eminente Bedeutung des Prosateils wurde erst ab der zweiten Hälfte des 20. Jhs. erkannt und erforscht.34 Wie ungeheuer nachwirkend die Leser:innenlenkung der ganzen Ausgabe letzter Hand war, zeigt sich darin, dass ihr Textbestand und die von ihr definierten Textgrenzen von der bis heute einzigen historisch-kritischen Goethe-Ausgabe, der Weimarer Ausgabe (WA),35 übernommen wurden.36 Die WA wiederum war bis in die 1950er Jahre Vorbild für alle weiteren Goethe-Ausgaben – mehr Stabilität und Textgrenzenziehung im Sinne von TEXT 1 geht kaum noch. Die Ausgabe letzter Hand und die WA begründeten eine enorm wirkungsmächtige Illusion. Die monumentalisierende und fragwürdige Stabilität nach dem Konzept von TEXT 1 wurde erst nach und nach flexibilisiert. Erst mit der in den 1950er Jahren gestarteten, aber nie vollendeten Akademie-Ausgabe37 und mit Ausgaben, die ihren Textbestand an den jeweiligen Erstausgaben orientierten, wurde eine Gegentradition begründet – so z. B. durch Hanna Fischer-Lambergs Unternehmung des Jungen Goethe.38 Leseausgaben, auch Studienausgaben stehen vor dem Anspruch, den einen gut lesbaren und kommentierbaren Text zu bieten – auch in der Tradition von TEXT 1. Im Rahmen der Frankfurter Goethe-Ausgabe (FA), einer Studienausgabe, arbeiteten wir Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre an einer Neuausgabe des West-östlichen Divans.39 Nach langen Diskussionen entschieden wir uns für den autornahen und von Goethe minutiös betreuten Erstdruck als Textvorlage, auch um Gedichte wie Prosa wieder integral zu bieten.40 Doch die Frage 34
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Wolfgang Lentz: Goethes ,Noten und Abhandlungen zum West-östlichen Divan‘. Hamburg 1961. – Hendrik Birus: Vergleichung. Goethes Einführung in die Schreibweise Jean Pauls. Stuttgart 1986 (Germanistische Abhandlungen. 89). – Anke Bosse: Noten und Abhandlungen zum Westöstlichen Divan. In: Goethe Handbuch. Hrsg. von Bernd Witte u. a. Bd. 1: Gedichte. Stuttgart / Weimar 1996, S. 323–334. Goethes Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. 4 Abteilungen. 133 Bde. Weimar 1887–1919 (,Weimarer Ausgabe‘ oder ,Sophienausgabe‘, WA). Der Textbestand der Ausgabe letzter Hand ist grundsätzlich problematisch, da Goethe die Ausführung an Mitarbeiter delegierte. Vgl. allgemein zu Goethe-Ausgaben Rüdiger Nutt-Kofoth: Goethe Editionen. In: Editionen zu deutschsprachigen Autoren als Spiegel der Editionsgeschichte. Hrsg. von Rüdiger Nutt-Kofoth / Bodo Plachta. Tübingen 2005 (Bausteine zur Geschichte der Edition 2), S. 95–116. Werke Goethes. Hrsg. vom Institut für Deutsche Sprache und Literatur der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Berlin 1952ff. Der junge Goethe. Neu bearbeitete Ausgabe in fünf Bänden [und 1 Registerbd.]. Hrsg. von Hanna Fischer-Lamberg. Berlin 1963–1974. An der von Hendrik Birus herausgegebenen Ausgabe arbeiteten Anne Bohnenkamp-Renken und ich mit. Eine meiner Hauptaufgaben war die Textkonstitution. FA I 3.1 und FA I 3.2 (Anm. 30). Zur Textkonstitution FA I 3.1, S. 742–748. – Anke Bosse: „Meine Schatzkammer füllt sich täglich ...“. Die Nachlaßstücke zu Goethes ,West-östlichem Divan‘. Dokumentation – Kommentar. 2 Bde. Göttingen 1999.
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der Textgrenzen war damit nicht gelöst. Denn was tun, wenn der Autor nach dem Druck die Textgrenzen überschreitet und später ein erweitertes Textkorpus in den Druck gibt? Die 198 Gedichte im Divan-Erstdruck sind in der Ausgabe letzter Hand um immerhin 43 Gedichte erweitert – in einer auch im Textbestand durch Eingriffe der Mitarbeiter problematischen Ausgabe. Unsere Lösung auf Basis meines Vorschlags: Abdruck des autornahen Erstdrucks von 1819, danach Abdruck aller Gedichte nach dem sog. ,Neuen Divan‘. Denn nur eine Woche nach Abschluss des Divan-Erstdrucks im August 1819 hatte Goethe seine Gedichtreinschriften, die er als persönliches Exemplar bei sich behalten hatte, von Johann August Friedrich John abschreiben lassen und diese Abschrift ,Neuer Divan‘ genannt. Nach und nach ließ er Blätter mit neu entstandenen Gedichten einlegen und mit einem Asterisk versehen. Diese Abschrift ist in Goethes Nachlass im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar erhalten, das Dokument konnte also als Textvorlage dienen. Doch wir hatten dann den Ehrgeiz, auf die gesamte Genese des Divans zurückzublicken, so dass wir uns dem Konzept von TEXT 2 annäherten. Seit den ersten Divan-Gedichten vom Frühjahr 1814 hat Goethe die Gedichte immer wieder neu assembliert, bevor er sie im Herbst 1815 auf 12 Gedichtbücher aufzuteilen begann.41 Die Gedichte sollten nämlich zueinander in vielfältige Beziehungen gesetzt werden können – auch durch zukünftige Leser:innen. Eines dieser Ensembles ist gut ,rekonstruierbar‘: Ende Mai 1815 verfasste Goethe, auf Kur in Wiesbaden, das sog. ,Wiesbadener Register‘ mit 100 Gedichttiteln. Die dazugehörigen Reinschriften seiner Divan-Gedichte nummerierte er oben links mit roter Tinte. Auch dieses frühe Divan-Ensemble haben wir abgedruckt, so dass einige Gedichte bis zu dreimal aufscheinen – aber eben dreimal unterschiedlich assembliert und unterschiedlich lesbar, interpretierbar.42 Und nein, das Publikum war damit nicht überfordert. Mit dem Publikum komme ich auf einen Punkt, der die Fluchtlinie des vorliegenden Beitrags bilden wird. Doch beim West-östlichen Divan sind nicht nur flexible Textgrenzen aufzufinden. Vielmehr bewegen wir uns hier in Richtung Fluidität und völlige EntGrenzung. Genau in der Mitte des Prosateil steht das Kapitel Künftiger Divan.43 Goethe verfasste es für den Erstdruck, wohl wissend, dass laufend neue Gedichte entstanden. Hier entwirft er für jedes der Gedichtbücher eine Vision seiner Erweiterung. Nach dem Abdruck von 43 neuen Gedichten in der Ausgabe letzter Hand hätte er das Kapitel Künftiger Divan also herausnehmen müssen oder können. Er tat es aber nicht. Noch dazu liegt im Divan-Nachlass eine aufwändig verzierte Papierkapsel mit der Aufschrift „Zum künftigen Divan“. Leider haben sie Goethes Nachlassverwalter geleert. Im Nachlass liegen die Reinschriften von 41 42
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Ebd., S. 126–130, 167–181, 598–596, 709–717, 817–828, 1001–1008, 1041–1044. Zur Ensemblebildung FA I 3.1 (Anm. 30), S. 736–741 und Anke Bosse: „Poetische Perlen“ aus dem „ungeheuren Stoff des Orients“. 200 Jahre Goethes ,West-östlicher Divan‘. Göttingen 2019, S. 74. FA I 3.1 (Anm. 30), S. 214–228. – Bosse 1999 (Anm. 40), S. 827.
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rund 30 Gedichten, die dem Divan zuzuordnen sind. Aber lagen sie in dieser Kapsel? Gehören sie zu einem „künftigen Divan“? Wir wissen es nicht. Wir wissen, dass Goethe die Vision eines „künftigen Divan“ stehen ließ, dass auf diese Weise Textgrenzen für immer entgrenzt sind und der West-östliche Divan für immer offen bleibt.44 Am Beispiel des Divans zeigt sich: Mit dem Doppelblick einerseits zurück auf die Textgenese und andererseits nach vorn in eine unhintergehbare Text-Entgrenzung nähern wir uns deutlich dem Konzept von TEXT 2.
6. Edieren mit TEXT 2 Das Konzept von TEXT 2 profitiert von einem grundlegenden Perspektivenwechsel nicht nur in den Literatur- und Kulturwissenschaften, sondern parallel dazu auch in der Editionswissenschaft. Sie vollzog den Übergang von der ,Produktorientiertheit‘ zur ,Prozessorientiertheit‘. Sich von der Fixierung auf den ,einen‘ Text zu lösen, ,Text‘ nicht als ,Da-Sein‘, sondern als Gemachtes zu erkennen und seine Genese darzustellen, das war für die Editionswissenschaft eine große Herausforderung. Sie wurde dadurch noch größer, dass Texte als in unendlich vielen intertextuellen Beziehungen zu anderen Texten stehend erkannt wurden, ja in intermedialen Beziehungen zu anderen Medien. Solchen nicht stillstellbaren Ent-Grenzungen entgegengesetzt ist das Medium, mit dem die Editionswissenschaft bis heute arbeitet: das zweidimensionale Buch. Sie hat sich dieser Herausforderung mit großem Aufwand gestellt, und einige der großen textgenetischen Ausgaben wie die zu Friedrich Hölderlin, Conrad Ferdinand Meyer, Georg Heym, Georg Trakl haben innovative Darstellungsformen und dadurch Modellcharakter entwickelt. Sie zeigen aber auch: Um Textgenese rekonstruieren und präsentieren zu können, müssen diese Darstellungsformen Textgrenzen überschreiten, nämlich die des überlieferten Text-Dokuments. Heutige und zukünftige digitale Editionen können von diesen Bemühungen profitieren, haben aber vor allem den Vorteil, die dritte Dimension, die bei der Genese entscheidende zeitliche, darstellen zu können. Doch auch sie stehen vor der Aufgabe, das im Text-Dokument und in seiner je spezifischen Topographie Überlieferte in eine zeitliche Abfolge zu über-setzen – auch dies eine Textgrenzen-Überschreitung. Wir stehen weiterhin vor großen Herausforderungen auch und gerade in der digitalen Edition – und zwar sowohl bei makro- wie mikrogenetischen Darstellungen.45 Dazu zwei Beispiele. Das erste zeigt auf ganz kleinem Raum, wie das Überschreiten von Textgrenzen auf makrogenetischer Ebene schlagend wird, wie „Text“ sich – nach Barthes – als „Durchquerung“ durch „mehrere Werke“ bewegt.46 Es gab und gibt zahlreiche Autor:innen, die ihre 44 45 46
Vgl. ebd., S. 18f., 881–883, 1108, 1112f. und Bosse 2019 (Anm. 42), S. 70–75. Vgl. dazu Anke Bosse / Walter Fanta (Hrsg.): Textgenese in der digitalen Edition. Berlin u. a. 2018 (Beihefte zu editio 45). doi.org/10.1515/9783110575996. Barthes 2005 (Anm. 13), S. 66.
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Texte ,recyceln‘. Ein großer Meister der Mehrfachverwertung, und zwar ein wortgewaltiger und unterhaltsam provokanter, war Werner Kofler. Der 1947 in Villach, Kärnten, Geborene ist 2011 in Wien verstorben. Sein Nachlass liegt vollständig im Robert-Musil-Institut für Literaturforschung / Kärntner Literaturarchiv, das ich leite.47 Im Rahmen zweier Forschungsprojekte des Fonds für wissenschaftliche Forschung FWF48 erarbeiten zwei Kolleg:innen eine kommentierte Kofler-Leseausgabe.49 Der Kommentar ist auch online abrufbar.50 Wie sehr das permanente Verweben der Koflerschen Texte miteinander die Versuche unterläuft, Textgrenzen zu ziehen, möchte ich ausgehend von einem einzigen Blatt darstellen. Es handelt sich um ein einseitiges Typoskript mit dem Text „Werner Kofler, Der wilde Jäger, prompt“ (Abb. 4). Der Text ist als Gedicht erkennbar. Das Typoskript ist auf den 17. Dezember 1986 datiert. Kurz zuvor hatte der Münchner Verleger Klaus G. Renner in einem Brief an Kofler eine für Frühjahr 1987 geplante Sammlung von Texten mit dem Titel Der wilde Jäger mit Bezug auf Franz Grillparzers gleichnamiges Drama angekündigt und Kofler zur Mitarbeit eingeladen. In seinem Schreiben nennt Renner weitere „vorgesehene Beiträger“.51 Das hat offensichtlich den Furor und die wortgewaltige Übertreibungskunst Koflers geweckt, die sich bei ihm selbstironisch immer auch gegen das sprechende Ich wendet. Mit dem immer selben Satz („Ich erledigte ...“) werden ausnahmslos alle in Renners Brief genannten Autor:innen ,erledigt‘ – bis zur typisch Koflerschen selbstironischen Volte „Ich erledigte Kofler, selbst ihn.“ Und doch suggeriert der Zusatz „selbst ihn“, dass das Erledigen des „Kofler“ am schwersten gewesen sei, was zugleich eine Überlegenheit dieses „Kofler“ über alle anderen impliziert.52 47 48 49 50 51
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Bestand Werner Kofler, Robert-Musil-Institut für Literaturforschung / Kärntner Literaturarchiv, Universität Klagenfurt. Signaturen 11 und 125. Der FWF ist das österreichische Pendant zur DFG in Deutschland und zum SNF in der Schweiz (um nur zwei weitere Nationalfonds zu nennen). Werner Kofler: Kommentierte Werkausgabe (Prosa). Hrsg. von Wolfgang Straub / Johann Sonnleitner / Claudia Dürr. 3 Bde. Wien 2018. Bde. 4 und 5: Wien 2023. https://gams.uni-graz.at/context:kofler (Host ist das GAMS an der Universität Graz, Stand: 26.01.2022). Bestand Werner Kofler (Anm. 47), Signatur 11 / W7 / B2. Neben und unter den Brieftext notiert Kofler bereits erste Ideen zu seinem Gedicht, neben dem Titel „Der wilde Jäger, prompt“ und das serielle „Ich – ich – ich ...“ auch das serielle Erledigen. – Der wilde Jäger ist der Titel eines Librettos Franz Grillparzers von 1821, der vom fulminanten Erfolg der Oper Freischütz Carl Maria von Webers beeindruckt war, zu der Friedrich Kind das Libretto verfasste und die wiederum eine zentrale Rolle in Koflers Texten spielt. Der wilde Jäger ist vielfältig intertextuell vernetzt. Genannt seien nur die Ballade August Bürgers, in der der Jäger zum Gejagten wird, und die Geschichte vom wilden Jäger im Struwwelpeter, in der dieselbe Umkehrfigur zwischen Jäger und Beute, Jagendem und Gejagtem stattfindet. Koflers Gedicht erschien in: Klaus G. Renner (Hrsg.): Der wilde Jaeger. Eine Sammlung. München 1986, S. 76. Fast alle Autor:innen, die in Koflers Gedicht vertreten sind, steuerten Beiträge bei. Nur fünf Anthologie-Beiträger tauchen in Koflers Gedicht nicht auf, hingegen werden im Gedicht Autor:innen – teils von ,großem Kaliber‘ – „erledigt“, die nicht beigetragen haben, aber offensichtlich die rhetorisch zerstörerische Überbietungslust des Ich provozierten. Dieser Mix aus Namen, die in der Anthologie ,real‘ vertreten sind und die Autoreferentialität des Gedichts in der Anthologie bedienen, und Namen, die nicht dazu gehören, ergibt ein für Kofler typisches Verwirrspiel.
TEXT und Text/e – zwischen Abstraktem und Konkretem
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Abb. 4: Werner Kofler: Der wilde Jäger, prompt. Eigenhändig handschriftlich mit Tintenbleistift ergänztes Typoskript. Bestand Werner Kofler. Robert-Musil-Institut für Literaturforschung / Kärntner Literaturarchiv. Universität Klagenfurt. Klagenfurt. Signatur: 11 / W7 / 3.
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Anke Bosse
Abb. 5: Werner Kofler: Prosaentwurf zu Am Schreibtisch. Eigenhändig handschriftlich mit Tintenbleistift ergänztes Typoskript. Bestand Werner Kofler. Robert-Musil-Institut für Literaturforschung / Kärntner Literaturarchiv. Universität Klagenfurt. Klagenfurt. Signatur: 11 / W7 / 3.
TEXT und Text/e – zwischen Abstraktem und Konkretem
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Für unsere Frage nach Textgrenzen ist wichtig, dass Kofler zum GedichtTyposkript handschriftliche Notizen mit Tintenbleistift hinzugefügt hat.53 Diese Notizen sprengen nun die Textgrenzen, denn sie sind der konzeptionelle Nukleus für einen ganz anderen Text, den Prosatext Am Schreibtisch, den Kofler 1988 publizierte.54 Die Notiz am oberen Rand – „Hinter mir geht keiner mehr. / Führer / ich ich / ? ( [Hinter mir geht] der Bergführer)“ wird zum ,starting point‘ von Am Schreibtisch, ja sogar zur Grundkonstellation dieses Prosatexts: Die Notiz wird in die ersten Zeilen des ersten Typoskriptentwurfs und in den zweizeiligen Neuansatz darunter variiert übernommen (Abb. 5). Die Verbindung zurück zum Gedicht Der wilde Jäger stellt Kofler im Entwurf durch die darüber gesetzte handschriftliche Notiz „Der wilde Jäger“ her. Die selbstadressierte Notiz „(innerer Monolog)“ unter dem Gedichttitel (Abb. 4) wird im Prosatext konzeptionell umbesetzt: Er ist in Form eines inneren Monologs gehalten, wobei die Perspektive dauernd und fast unbemerkt zwischen verschiedenen Ich-Sprechern wechselt. Das wahnhafte „ich erledigte ...“ aus dem Gedicht ist in den Entwurf eingebettet, das egomanische Um-sich-selbst-Kreisen „ich ich ich (Namen)“, ja sogar „smith what the hell“ wird aus der Notiz unter dem Gedicht in den Prosatext als ,Erledigter‘ eingebaut, wodurch der manische Zerstörungsdrang nun auch Nicht-Autor:innen erfasst. Auch wenn Kofler neben den Prosaentwurf noch ein zweifelndes Fragezeichen setzte (Abb. 5), so zeigt doch ein Blick in den Druck, dass hier ein letztlich haltbarer ,starting point‘ gefunden wurde. Der Drucktext beginnt mit „Vor mir geht der Bergführer. Er kennt den Weg; verliere ich den Halt oder das Gleichgewicht, rettet er mich; [...]“55 und nimmt diese Konstellation in den nachfolgenden, immer wieder neu ansetzenden Kapiteln wieder auf. Vom ,Auslöser‘ des Ganzen, vom „wilden Jäger“ und dem ,Erledigen‘, bleibt im Druck von Am Schreibtisch nur noch ein Satz: „Außerdem, der wilde Jäger erledigt alle. Und ist nicht das Leben, wie Lampersberg schreibt, eine einzige Todesursache, eine Auslöschung, ein Zerfall?“56 Das Einbetten von ,Versatzstücken‘ aus eigenen früheren Texten ist typisch für Werner Koflers Schreiben, und es sprengt dadurch immer wieder die Textgrenzen. Dass wie hier von einer einzigen Seite die Wege in verschiedene Texte gehen, ist allerdings etwas Besonderes.57 Kommen wir zum zweiten Beispiel. Der hier erwähnte „Lampersberg“ ist Gerhard Lampersberg, dem Kofler Werktitel und Zentralbegriffe jenes Autors in den Mund legt, der nie ,erledigt‘ wird, sondern Koflers großes Vorbild als 53 54 55 56 57
Der Tintenbleistift ist so weich wie ein Bleistift, aber haltbarer und nicht radierbar – ein für Kofler typisches Schreibinstrument. Werner Kofler: Am Schreibtisch. Alpensagen – Reisebilder – Racheakte. Reinbek 1988. Vgl. Werner Kofler 2018 (Anm. 49), Bd. 2, S. 7–133. Ebd., S. 9. Ebd., S. 30. Wie wir das digital darstellen, müssen wir für das dritte FWF-Kofler-Projekt austüfteln, das sich Koflers Schreibprozessen widmet und 2022 startete.
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Anke Bosse
Sprachvirtuose und Übertreibungskünstler ist: Thomas Bernhard. Gerhard Lampersberg wiederum war Komponist, Freund und Förderer Bernhards, bis sie sich zerstritten. Gemeinsam mit seiner Frau Maja, Opernsängerin, verbrachte Lampersberg in den 1950er und 1960er Jahren die Sommerfrische an ihrem Domizil Tonhof im Kärntner Dorf Maria Saal. Sie betrieben einen vor allem Literat:innen anziehenden Salon. Einer der häufigsten Gäste: der junge Thomas Bernhard. Am Tonhof arbeitete er im Sommer 1957 an Gedichten, von denen einige unter dem Titel In hora mortis als eine seiner ersten Publikationen erscheinen sollten. Die handschriftlich überarbeiteten Typoskripte sind in Gerhard Lampersbergs Nachlass überliefert, der im Robert-Musil-Institut für Literaturforschung / Kärntner Literaturarchiv liegt.58 Der bis heute einzige Aufsatz zu den Gedichtentwürfen Bernhards ist drei Seiten lang und stammt vom renommierten Suhrkamp-Lektor Raimund Fellinger.59 Er stellt fest: Es handele sich um 12 Blätter mit Entwürfen zu In hora mortis, auf deren „Rückseite“ sich „andere Gedichte“ befänden. Das sind Fehldeutungen, die entstehen, wenn vom gedruckten ,Werk‘ in der Tradition von TEXT 1 auf die Textgenese und mehr noch auf die je spezifischen Schreibprozesse zurückgeblickt wird. Es entstehen dann blinde Flecken. Erstens handelt es sich um 21 Blätter. Diese Dokumente enthalten Gedichtentwürfe, die in verschiedenen Schreibphasen entstanden und nicht alle in In hora mortis eingingen, ja zum Teil unpubliziert blieben. Was Fellinger als „Rückseiten“ präsentiert, sind gemäß Textgenese und Schreibprozess die Vorderseiten: die zum Teil bereits im Sinne eines Gedichtzyklus nummerierten Gedichte entstanden zuerst. Der avisierte Zyklus ist bei Weitem nicht vollständig: Es treten nur neun Gedichte mit den Nummern VI, IX, X, XI, XIX, XX, XXIII, XXVI, XXVIII auf – alle anderen, rechnerisch mindestens 19, sind nicht überliefert. Dass die Typoskripte dieser Gedichte überliefert sind, liegt daran, dass Bernhard aufgrund der Papierknappheit die nicht vollends beschrifteten Blätter ,recycelte‘ und an einer anderen Schreibmaschine mit kleinerer Type neue Gedichte auf die Rückseiten tippte. In einem Fall setzte er das neue Gedicht auch daneben. Das kann an diesem Blatt nachgewiesen werden, auf dem mittig das zuerst getippte XXVIII / Unruhig sind die Gräser ... steht, der links am Rand beginnende Entwurf O mein Gott ... kam später hinzu (Abb. 6). Die Überarbeitungen mit blauer Tinte gehen über beide Gedichtentwürfe hinweg, die typographisch noch gesetzten Textgrenzen werden im Schreibprozess überschritten. Daneben gibt es in diesem Konvolut Gedichtentwürfe mit der einen oder der anderen Schreibmaschine, die nie publiziert wurden – kurz: ein Konglomerat. Textgrenzen konturieren sich erst nach und nach. 58 59
Bestand Gerhard Lampersberg, Werke Dritter, Thomas Bernhard, Robert-Musil-Institut für Literaturforschung / Kärntner Literaturarchiv, Universität Klagenfurt. Signatur 3 / S20 / 11. Thomas Bernhard: In hora mortis. In: literatur/a Jahrbuch, 2008, S. 123–128. Raimund Fellinger: Arbeiten an der Psalmform. In: ebd., S. 129–131.
TEXT und Text/e – zwischen Abstraktem und Konkretem
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Abb. 6: Thomas Bernhard: Entwürfe zu den Gedichten Unruhig sind die Gräser ... und O mein Gott ... [zu: In hora mortis]. Eigenhändig handschriftlich mit blauer Tinte überarbeitete Typoskripte. Bestand Gerhard Lampersberg. Werke Dritter. Thomas Bernhard: In hora mortis. Robert-Musil-Institut für Literaturforschung / Kärntner Literaturarchiv. Universität Klagenfurt. Klagenfurt. Signatur: 53 / S20 / 11.
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Anke Bosse
Die Beispiele zu Kofler und Bernhard stehen hier natürlich nur stellvertretend für zahlreiche ähnliche ,Textbewegungen‘ bei anderen Autor:innen. Mit diesen zwei Beispielen sind wir von Textgenese und Edition übergegangen zur Analyse und Darstellung von Schreibprozessen – und damit zu:
7. Edieren mit TEXT 3 Der Weg führt nun in den Zwischenraum von Abstraktem und Konkretem. TEXT 3 ist abstrakt. TEXT 3 kann, muss aber nicht in Text/en konkret werden. Mit den Beispielen Kofler und Bernhard habe ich mich über die Textgenese hinaus in Richtung auf die Schreibprozessforschung in der Tradition der ,critique ge´ne´tique‘ zubewegt. Es ließe sich also argumentieren, dass ich den Boden der Edition verlasse, verlassen habe. Das ist insoweit richtig, als das Ziel der ,critique ge´ne´tique‘ und der Schreibprozessforschung nicht das Erstellen eines edierten Textes ist. Das ist insoweit nicht richtig, als sich ,critique ge´ne´tique‘ und Schreibprozessforschung mit Textgenetik überlappen und unsere Wahrnehmung für TEXT 3 schärfen. Und dies ist sehr wohl auch für die Edition von zentraler Bedeutung. TEXT 3 ist, dies zur Erinnerung, völlig immateriell und ohne jede Grenze. Er findet mental statt. TEXT 3 ist unendliche Produktion und, solange er keine konkreten materiellen Spuren hinterlässt, abstrakt, ephemer und unzugänglich. Er ist der Raum unserer grenzenlosen Kreativität und Imagination als Menschen. Literatur entsteht zunächst als TEXT 3. Sie wird für uns als Leser:innen und als Editor:innen erst fassbar in der materialen Spur, dem im Dokument überlieferten Geschriebenen, das wir als ,animal symbolicum‘ deuten – und damit von der Rezeption wieder zur Produktion übergehen. Die Textgenetik und die Schreibprozessforschung rekonstruieren und vermitteln auf Basis dieser Spuren die Arbeitsweise von Autor:innen, die sich auf einer Skala zwischen ,Kopfarbeiter:in‘ und ,Papierarbeiter:in‘ bewegt, zwischen ,produktorientiertem‘ und ,prozessorientiertem‘ Schreiben.60 Doch TEXT 3 betrifft nicht nur die produktionsästhetische Seite, sondern auch die rezeptionsästhetische oder genauer: die Simultaneität von Lesen und Schreiben während des Schreibens und letztlich eine unendliche Zirkulation zwischen Lesen und Schreiben. Genau dies bewegt mich dazu, hier mit Blick auf digitale Editionen ein Plädoyer zu wagen.
60
Anke Bosse: ,The Making of‘ – Blicke in des Autors ,Werkstatt‘. Zur Vermittlung von literarischen Arbeitsweisen. In: editio 17, 2003, S. 31–49.
TEXT und Text/e – zwischen Abstraktem und Konkretem
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8. Edition als Transformation über Teilhabe – eine Herausforderung Digitale Editionen sollten wie ihre Vorgängerinnen wissenschaftlich und methodisch fundiert sein, aber von der ihnen genuinen Möglichkeit profitieren, offen zu bleiben – nicht nur in Bezug auf das aufhebbare Setzen von Textgrenzen. Sie könnten auch offen sein, indem sie nicht nur die Scientific Community avisieren, sondern das interessierte Lesepublikum überhaupt. Beide, die Community und das Lesepublikum, sollten die Möglichkeit haben, ihr Lesen wieder in Schreiben zu überführen – in die Produktion von Texten. Was nun abschließend folgt, ist eine möglicherweise gewagte Idee. Editor:innen digitaler oder hybrider Editionen denken immer noch aus ihrer wissenschaftlichen Perspektive und haben als Zielpublikum die Scientific Community im Blick, die ihnen ,gleich‘ ist. Die Perspektive nicht-wissenschaftlicher Leser:innen und User:innen wird immer noch nicht angemessen einbezogen. Doch es reicht nicht, ihnen verlässliche Texte zu bieten, deren Produktion zu erklären oder darzustellen, die Varianten zu bieten, ja all dies zu kommentieren. Die digitale Edition bietet uns neue Möglichkeiten. Editor:innen sollten nicht nur nach der altbekannten Frage handeln, für wen sie edieren (oft für sich selbst oder eine begrenzte Community). Ich denke, wir müssen uns mehr und mehr fragen, mit wem wir edieren könnten. Edition als Teilhabe. Die digitale Präsentation ermöglicht uns eine Fortschreibung, Korrektur, Aktualisierung, Änderung des Edierten. Ich erlebe immer wieder, dass hybride oder digitale Editionen nicht selbsterklärend sind und ich als einführende Vermittlerin tätig werden muss. Das kommt gut an, bleibt aber punktuell für ein paar happy few. Was wir in Seminaren, Workshops, Kolloquien besprechen und oft anschaulich darstellen, findet keinen Eingang in die OnlinePräsenz einer Edition. Warum nicht online einen Space hinzufügen, in dem Angebote für die Lehre – ob an Schule oder Universität – und für ein interessiertes Publikum abrufbar sind? Warum nicht Videos von vermittelnden Aktionen machen und online stellen? Warum nicht ein Forum eröffnen, in dem online diskutiert werden kann? Ich lehne mich hier weit hinaus mit meiner provozierenden Idee der Teilhabe. Doch denke ich, dass uns die Möglichkeiten der digitalen Edition mehr und mehr verpflichten werden, Ediertes nicht nur zu vermitteln an verschiedene Arten von Publikum und User:innen,61 sondern in Richtung einer progressive social edition zu gehen: Edition nicht nur als Transformation von im Dokument überlieferten Texten, sondern Edition als selbst in Transformation begriffen
61
Vgl. ,Edition als Vermittlung‘, Thema der 19. Internationalen Plenartagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition, die ich mit Artur R. Boelderl an der Universität Klagenfurt organisiert habe: https://conference2.aau.at/event/44/ (Stand: 11.06.2023). Die Vorträge und Werkstattpräsentationen erscheinen 2024 in der Reihe Beihefte zu editio.
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Anke Bosse
durch ihre Benutzer:innen.62 Edition als Angebot einer Teilhabe am Cultural Heritage und am Austausch. Edition als eine Vernetzung von Text/en mit TEXT 3.
62
Ray Siemens u. a.: Toward modeling the social edition. An approach to understanding the electronic scholarly edition in the context of new and emerging social media. In: Literary and linguistic computing 27 / 4, 2012, S. 445–461. http://web.uvic.ca/~siemens/pub/2011-SocialEdi tion.pdf (Stand: 26.01.2022). – Constance Crompton, Alyssa Arbuckle, Raymond Siemens: Understanding the Social Edition Through Iterative Implementation. The Case of the Devonshire MS (BL Add MS 17492). In: Scholarly and Research Communication 4 / 3, 2013. doi.org/10.222 30/src.2013v4n3a118.
Esbjörn Nyström
Textbegriffe – Entgrenztheit oder Präzision
Der wissenschaftliche Wert des Wortes ,Text‘ ist verschiedenartig eingeschätzt worden: So nannte Hans Zeller es einmal „hilfloses Allerweltswort“1, während sehr viele andere Geisteswissenschaftler im letzten halben Jahrhundert jeweils eigene Definitionen oder Verwendungen von ,Text‘ als Terminus vorgelegt haben, die voneinander divergieren und inzwischen eine große Anzahl betragen.2 Die Konsequenz liegt auf der Hand: Heute „gibt es keine verbindlichen, unumstößlichen, ,objektiven‘ Kriterien darüber, was ein Text ist – und was keiner“3, wie es im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft heißt. Befinden wir uns somit doch noch in der Nähe von Zellers Beschreibung? Ist das Wort zu einer Schablone verblasst? Es ist jedenfalls keine gewagte Behauptung, dass die zahlreichen Terminologisierungen zu einem Identitätsverlust und zu einer Konturlosigkeit des Wortes ,Text‘ geführt haben, wie auch Andreas Kablitz meint.4 Andreas Haug beobachtet ähnlich, wie die Entgrenzung der Extension des Wortes ,Text‘ mit der „Begrenzung seiner Inten[s]ion“5, also seines „Bedeutungsinhalt[s]“6, einhergeht. In der Verfechtung von sog. erweiterten Textbegriffen ist die Zielscheibe immer wieder der abschätzig sog. „enge“, „alte“, „traditionelle“, „vorkritische“ oder „vortheoretische“ Textbegriff, der dem Alltagsverständnis nahesteht. Obwohl auch dieser Textbegriff verschiedene Facetten aufweist, von denen einige unten zu besprechen sind, dürfte er zumal im Vergleich zum erweiterten Gegenspieler relativ einheitlich und exakt bestimmbar sein. Vor diesem Hintergrund könnte man ihn in positiver Weise – und dabei durchaus nicht nur im Sinne einer Ehrenrettung – als „präziseren Textbegriff“ bezeichnen. Demgegenüber stellten sich im letzten Halbjahrhundert u. a. textlinguistische, semiotische, anthropologische, kulturwissenschaftliche und medienwissenschaft1 2
3 4 5 6
Zeller 1992, S. 25. Eine keine Vollständigkeit beanspruchende (und inzwischen 20 Jahre alte) Bestandsaufnahme findet sich in Klemm 2002, S. 19–25. Die umfassende Diskussion zu Textualitätskriterien wie Kohäsion und Kohärenz muss hier aus Platzgründen weitestgehend ausgeklammert werden. Horstmann 2007, S. 596. Kablitz 2016, S. 171. Haug 2021, S. 8. Bei Haug steht tatsächlich „Intention“; gemeint ist aber ohne Zweifel „Intension“. Haug 2021, S. 7.
https://doi.org/10.1515/9783111006147–003
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Esbjörn Nyström
liche sowie editionswissenschaftliche Erweiterungen. In diesem Beitrag werde ich einige kritische Beobachtungen zu einer kleinen Auswahl (in erster Linie deutschsprachiger Beiträge) anstellen.7 Am Anfang stehen aber einige Reflexionen zu möglichen Herangehensweisen, u. a. kurz zum Wert der Etymologie, und zum oben genannten, präziseren Textbegriff.
1. Zurück zur Etymologie? Unter anderen Christian Doelker, der einen erweiterten Textbegriff in seinen Untersuchungen zum Fernsehen verwendet, meint aus der Etymologie des Wortes ,Text‘ (lat. textum „Gewebe, Gefüge“) schließen zu können, dass „der Begriff [...] nicht nur anwendbar auf Wortzeilen“8 sei. Dieser Gedankengang kommt in der Begründung erweiterter Textbegriffe nicht selten vor. Dass ,Gewebe‘ „der Wortsinn von ,Text‘“ wäre, behauptet z. B. auch Jörg Robert.9 Hier sind allerdings Zweifel angebracht. Bedeutet das Wort ,Text‘ tatsächlich „Gewebe, Gefüge“ bzw. „etwas Gewobenes, Gefügtes“? Im Anschluss daran ist an Hans-Martin Gaugers Diskussion zum „etymologischen Holzweg“10 zu erinnern, der auch von Kablitz in Bezug auf ,Text‘ sehr hastig aufgegriffen wird.11 Gauger beobachtet, wie die eigentliche Bedeutung eines Wortes mit der ursprünglichen häufig identifiziert bzw. verwechselt wird.12 Um einige Analogien von Gauger zu übernehmen: Bedeutet das Wort ,Tragödie‘ vielleicht Bocksgesang?13 Bedeutet ,fertig‘ etwa „in einem zu einer Fahrt geeigneten Zustande“?14 Oder ist „wissend, angemessen, maßvoll“ eine sinnvolle Definition von ,keusch‘?15 Die Beispiele zeigen, dass der etymologische Ursprung eines Wortes neben seinem historischen Wert zur heutigen Definition der Extension bzw. der Bedeutung desselben Wortes kaum sinnvoll eingesetzt werden kann. Das betrifft natürlich ebenso den etymologischen Ursprung von ,Text‘. Der vorliegende Aufsatz wird den etymologischen Holzweg möglichst vermeiden.
7
8 9 10 11 12 13 14 15
Vollständigkeit ist hier nicht vorgesehen. Für übersichtliche Darstellungen zum Textbegriff sei auf Knobloch 2005, Kammer / Lüdeke 2005, Horstmann 2007, Sahle 2013, S. 1–99 und Adamzik 2016, S. 40–97 hingewiesen. Doelker 2007, S. 16. Robert 2014, S. 72. Dagegen beobachtet Sahle 2013, S. 44, eine „in letzter Zeit allzu sehr strapazierte etymologische Herleitung des Textbegriffes“. Gauger 1995, S. 62–81. Kablitz 2016, S. 197. Gauger 1995, S. 65. Gauger 1995, S. 72. Gauger 1995, S. 69. Gauger 1995, S. 74.
Textbegriffe – Entgrenztheit oder Präzision
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2. Semasiologie und Onomasiologie Wie ist eine Zeichensequenz in Sprachschrift sinnvoll zu bezeichnen? Wie verschiedene Kombinationen von Sprachschrift und Bild oder von Sprachschrift und Notenschrift? Wie der sprachschriftliche Anteil einer solchen Kombination? Wie eine alphanumerische Zeichensequenz, die weitgehend aus Hyperlinks besteht? Die hier thematisierten – und ähnliche weitere – Fragen gehören in den Diskussionen zum Textbegriff zu den Seltenheiten. Bei der Bestimmung eines Begriffs sind grundsätzlich zwei Wege möglich: Entweder wird von einem Wort ausgegangen, wobei dessen Bedeutungen festgestellt bzw. festgelegt werden, oder bildet umgekehrt ein Gegenstand den Ausgangspunkt für die Begriffsbildung und anschließende Terminologie. Im ersten Fall, in dem das Wort am Anfang zentral steht, spricht man von einer semasiologischen Methode. Im letztgenannten Fall, der vom Gegenstand ausgeht, ist die Rede von einer onomasiologischen Methode. Die obigen Fragen zeugen von einem onomasiologischen Erkenntnisinteresse. In der wissenschaftlichen Definition und Verwendung von ,Text‘ ist jedoch, so viel sei vorausgeschickt, die semasiologische Methode derart dominant, dass die onomasiologische Perspektive womöglich erst im Umkehrverfahren deutlich wird. Eine Metadiskussion zum Textbegriff kann nur schwerlich unabhängig von der semasiologischen Sichtweise geführt werden. Vor diesem Hintergrund ist es hilfreich, die folgenden Ausführungen trotz aller noch zu erläuternden Vorbehalte in erster Linie semasiologisch zu gestalten, und mit einer definitorischen Diskussion zum alltagssprachlichen und wissenschaftlichen Wort ,Text‘ in der präziseren Bedeutung beginnen zu lassen. Auf die onomasiologische Methode wird es aber später Anlass geben zurückzugreifen.
3. Der präzisere Textbegriff Reflexionen zum präziseren Textbegriff können mit Vorteil in der Alltagssprache ansetzen. Dass in der Alltagssprache Sprachlichkeit und Schriftlichkeit grundlegende Merkmale von ,Text‘ sind, lässt sich durch das Nachschlagen in jedem einsprachigen Wörterbuch bestätigen.16 Es dürfte zum Beispiel eindeutig sein, dass – im Unterschied zu erweiterten Textbegriffen – Fotos, Gemälde und Skulpturen, Theatervorstellungen und Fernsehsendungen in der Alltagssprache nicht als Texte bezeichnet werden, auch nicht ein Gespräch in der Familie, am Telefon 16
Auf brockhaus.de lautet die einleitende, kurze Definition: „schriftlich fixierte sprachliche Äußerung“, bei Duden „[schriftlich fixierte] im Wortlaut festgelegte, inhaltlich zusammenhängende Folge von Aussagen“ und bei DWDS „(schriftlich) fixierte, thematisch zusammenhängende Folge von Aussagen“. Dass die beiden letztgenannten beide das Glied „schriftlich“ in Klammern setzen, dürfte in erster Linie auf den den Lexikologen naheliegenden heutigen, sprachwissenschaftlichen Sprachgebrauch zurückgehen.
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Esbjörn Nyström
oder im Cafe´, um nur einige Beispiele zu nennen. In der nicht-(geistes)wissenschaftlichen Sprache hat das Wort ,Text‘ also eine relativ fest umrissene Bedeutung; die Alltagssprache zeichnet sich hier ausnahmsweise durch einen höheren Grad an Präzision als der wissenschaftliche Sprachgebrauch aus. ,Text‘ bezeichnet in der Alltagssprache eine Klasse von Gegenständen oder Erscheinungen, die aufgrund von gemeinsamen, intersubjektiv wahrnehmbaren inneren Eigenschaften identifiziert werden kann. Es stellen sich hier gleich zwei Fragen: 1. Muss die wissenschaftliche Terminologie zwangsläufig ihren Ausgangspunkt im alltagssprachlichen Verständnis haben? Die Antwort darauf ist zweifellos nein. Es wäre unsinnig und schlicht nicht machbar, wenn fachspezifische wissenschaftliche Diskurse sich auf den Wortschatz der Alltagssprache beschränken sollten. Andererseits sollte wohl, wenn es um sehr präsente Wörter in der Alltagssprache geht, das Bedürfnis an einer Grundverständigung zwischen Wissenschaftssprache und Alltagssprache – am allermeisten, wenn das Konzept „Vermittlung“ nicht zuletzt in der Editorik immer mehr in den Vordergrund rückt – nicht unterschätzt werden.17 ,Text‘ ist ein derart präsentes Wort in der Alltagssprache, aber auch – was wesentlich ist – daran anschließend in zahlreichen wissenschaftlichen Diskursen, dass durch große Diskrepanzen in Bezug auf seine Extension vor allem Verwirrung gestiftet wird. 2. Ist denn dieses alltagssprachliche Verständnis schon an sich genügend als Grundlage eines Terminus? Auch darauf ist die Antwort nein. Die Definition eines wissenschaftlichen Terminus erfordert mehr. Wir haben uns erst die Frage zu stellen, inwiefern ein jeweiliges Verständnis eines Wortes einen sinnvollen Begriff formt, durch den ein Gegenstand oder eine Klasse von Gegenständen (alternativ: Erscheinungen), die von anderen Gegenständen bzw. Klassen von Gegenständen abzugrenzen ist, identifiziert wird. Im Falle des alltagssprachlichen Textbegriffs ist dies m. E. der Fall. Wenn sprachliche, schriftliche Elemente zusammen mit Bildern, oder wenn schriftliche und mündliche Sprache parallel vorkommen, etwa in Filmen, scheint die Identifizierung des jeweiligen Textes den meisten Betrachtenden leicht zu fallen; Bilder bzw. mündliche sprachliche Äußerungen tanzen aus der Reihe.
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Ähnlich in Bezug auf die Textlinguistik Adamzik 2002, S. 174. Ungewöhnlich ist die Verbindung von Vermittlung und terminologischen Bemühungen auch nicht; bereits 1986 fand sich auf einer germanistischen Tagung als erstes Prinzip einer künftigen terminologischen Arbeit in der Literaturwissenschaft: „Kein neues Vokabular, sondern soweit irgend möglich Anschluß an eingeführte Redeweisen über Literatur, die auch dem literarisch interessierten und vorgebildeten Leser außerhalb der Literaturwissenschaft selbst zuzumuten sind.“ (Erträge der Schlußdiskussion 1988, S. 419).
Textbegriffe – Entgrenztheit oder Präzision
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Die wissenschaftliche Operationalisierbarkeit setzt eine derartige Abgrenzung der Extension des Begriffs voraus. Eine solche Abgrenzung dann beschreibbar zu machen, ist die Aufgabe der Wortexplikationen in Wörterbüchern und Lexika, sollte aber nicht weniger (sondern umgekehrt mehr) bezogen auf die Wissenschaftssprache vorgenommen werden. Hierbei ist selbstverständlich nicht mehr die allgemeine, nicht-wissenschaftliche Verständlichkeit die Priorität; jeder Wissenschaft und jeder Wissenschaftssparte ist eine eigene Terminologie eigen, mit deren Hilfe erst Metadiskussionen möglich werden. Eine (editions-)wissenschaftliche Bestimmung von ,Text‘ in diesem präziseren Sinn leistet Paula Henrikson in aller Kürze in ihrem schwedischsprachigen, editionswissenschaftlichen Handbuch: Für Henrikson ist ein Text im Ausgangspunkt eine „hauptsächlich alphanumerische Zeichensequenz“.18 Unter der Einschränkung „hauptsächlich“ ist hier allem Anschein nach die Rücksichtnahme auf Erscheinungen zu verstehen, die gewöhnlich innerhalb der genannten Zeichensequenzen vorkommen, die aber selbst nicht alphanumerischer Natur sind. Hierzu gehören Leerzeichen, Satzzeichen, Zeilenfall, Leerzeilen usw. Ein Zeilenfall trägt zur räumlichen Organisation der Zeichensequenz bei und wird mit größter Sicherheit von Henrikson mitbedacht. Schwerwiegender ist wohl, dass die Bestimmung „alphanumerisch“ zwar sehr wohl für z. B. deutsche Texte und Texte in sehr vielen anderen natürlichen Schriftsprachen gültig ist, dass sie aber streng genommen Sprachschriftsysteme wie das chinesische oder das hebräische19 außen vor lässt. Hier wäre ,eine sprachschriftliche Sequenz 20 und deren räumliche Organisation‘21 als Alternative vorzuschlagen. Der Terminus „Sprachschrift“ (also nicht: „Schriftsprache“22) klingt womöglich fremd und müsste ebenfalls kurz ausgelegt werden. In der übergreifenden Schrifttheorie Roy Harris’ erscheint das sog. „glottic writing“ oder in deutscher Übersetzung „sprachbezogene Schrift“23 als eine der Formen der Schrift neben 18
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Henrikson 2007, S. 153. Übersetzung aus dem Schwedischen von E. N. In der skandinavi(sti)schen Editionswissenschaft sind ähnliche Begriffsbestimmungen mit Schwerpunkt auf dem sequenziellen Element keine Seltenheit. Vgl. auch Kondrup 2013, S. 2. Somit wäre auch, was aus einer neugermanistischen Perspektive definitiv zum Nachdenken anregt, eine dem Deutschen sehr nahe verwandte Sprache, das Jiddische, ausgeschlossen. Exakter wäre wohl die Bezeichnung „Zeichensequenz in Sprachschrift“, die auch im Folgenden vorkommen wird. Es handelt sich also nicht nur um eine Sequenz sprachschriftlicher Zeichen (dann wäre auch z. B. an Programmiercodes zu denken), sondern um eine Zeichensequenz, die in der Sprachschrift als einer spezifischen Form von Schrift steht. Die mir etwas unvollständig erscheinende Definition Kondrups hat zumindest einen ähnlichen Ansatz, wenn er ,Text‘ als „die Beziehung seiner Zeichen zueinander“ (Kondrup 2013, S. 2) beschreibt. Zur Bedeutung der räumlichen Organisation für alle Schriftformen vgl. Harris 1995, S. 121–127. Wie unschwer festzustellen ist, wird durch die Bezeichnung „Sprachschrift“ (im Unterschied zu „Schriftsprache“) der Schwerpunkt deutlich auf die Schrift, nicht auf die Sprache, gelegt. Zur terminologischen Klärung: Deutsch, Französisch, Englisch, Estnisch und viele andere sind Schriftsprachen, die sich normalerweise der lateinischen Sprachschrift bedienen. Harris 2005, S. 75.
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vor allem musikalischer, mathematischer und tanznotationeller Schrift sowie Strickschrift (der in Strickanleitungen verwendeten Schrift).24 Die hier verwendete Bezeichnung „Sprachschrift“ (für „glottic writing“) trägt dem Status dieser Schriftform als einer unter mehreren Rechnung. Eine Partitur, eine Strickanleitung und ein Text im präziseren Sinne sind alle drei Manifestationen von Schrift, die also als Oberbegriff dient. Ein Text im präziseren Sinne ist dabei genauer genommen eine Manifestation von Sprachschrift. Die Bezeichnung bezieht sich nicht auf irgendeine Abhängigkeit von der gesprochenen Sprache: Sprachschrift und gesprochene Sprache sind unterschiedliche, zum großen Teil autonome Systeme, jeweils eigenen Regeln und Mustern folgend; beide stehen nebeneinander gleichberechtigt binnen dem Phänomen Sprache. Ganz neu ist „Sprachschrift“ als Terminus nicht. In der Musikwissenschaft, z. B. beim bedeutenden Musiktheoretiker Thrasybulos Georgiades, kommt die Bezeichnung gelegentlich vor, wenn die Eigenart der Notenschrift gegenüber anderen Formen von Schrift (vor allem der dann sog. Sprachschrift) beschrieben oder untersucht wird.25 Einige Fragen, die im Zusammenhang mit dem präziseren Textbegriff entstehen und Differenzierungen veranlassen, werden für die Schlussdiskussion aufgehoben. So weit kann davon ausgegangen werden, dass der präzisere Textbegriff eine bestimmte Klasse von Gegenständen umreißt, die wegen gemeinsamer innerer Merkmale der Gegenstände (Sprachschrift, Sequenzialität) als Klasse identifiziert werden kann, und zwar intersubjektiv, unabhängig von der Rolle der jeweils Betrachtenden.
4. Die Dynamik der Erweiterungen 4.1 Neugermanistische Editionswissenschaft In der neugermanistischen Editionswissenschaft ist es vor allem der dynamische Textbegriff, den Gunter Martens 1971 einführte, der als Differenzierung bzw. Neubesetzung des Begriffs gelten darf. Martens beschreibt ihn (später) ausdrücklich auch als „erweiterten Textbegriff“.26 Es geht hier aber im Unterschied zu vielen anderen Erweiterungen nicht in erster Linie um nicht-sprachliche oder nicht-schriftliche Erscheinungen.27 24 25
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Vgl. Harris 1995, S. 134–155 zu den Formen von „non-glottic writing“. Georgiades 1977, S. 109–112. Wenn der Musikwissenschaftler Andreas Haug Zweifel daran äußert, ob die Notenschrift wirklich als Schrift eingeordnet werden sollte, geht er trotz allem nicht weiter, als (ausgehend von Adorno) zu behaupten, dass Notenschrift „weder ganz Schrift noch ganz Bild“ sei (Haug 2021, S. 6). Hier ist aber mit u. a. Harris auf die Wesensähnlichkeit der verschiedenen Formen von Schrift hinzuweisen. Gegenüber z. B. Bildern ist u. a. die Sequenzialität eine differentia specifica von allen Formen von Schrift. Vgl. auch Harris 2005, S. 79 zur Funktion von Schrift und Bild: „Schrift funktioniert auf der Grundlage eines vorbestimmten Musters der Verarbeitung, Zeichnungen dagegen erlauben eine freie Verarbeitung, in visuellen Begriffen ein freies optisches Abtasten“. Martens 1991, S. 139.
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,Text‘ wird bei Martens nicht mehr als „die einzelne schriftlich niedergelegte [...] Fassung einer Aussage“ sondern als ein „gesamte[r] Vorgang“28 verstanden, als „der Gesamtzusammenhang aller Textstufen“.29 Das, was Martens in diesem Zusammenhang „Text“ nennt, wurde von anderen vor und nach ihm meist als „Werk“ (im Sinne von „Textgruppe“30) verstanden. Martens’ Hauptanliegen ist nun kaum definitorisch, sondern läuft darauf hinaus, in der Editorik das Interesse von dem fixierten, angeblich alleingültigen, Text in Richtung der beweglichen Überlieferung – dem ,Text‘ in seinem Sinn – zu verschieben. Es soll anders ediert werden; die Editionen sollten anders strukturiert werden.31 Gegen dieses Anliegen soll hier keineswegs Stellung bezogen werden; indessen bleibt die Frage, welche genaue Bewandtnis es mit einer Neubesetzung des Textbegriffs hat. Rockenberger wirft Martens zutreffend vor, „Definitionsfragen mit (evaluativen) literaturtheoretischen und forschungsprogrammatischen (d. h. die zu präferierenden Erkenntnisziele und -gegenstände betreffenden) Fragen [zu] vermeng[en]“.32 Es kann überdies m. E. nicht übersehen werden, dass die Grenzen eines Textes in der Konzeption Martens’ nicht von der Überlieferung (wie es noch beim präziseren Textbegriff der Fall ist), sondern stärker von der editorischen Leistung abhängen; so sei ,Text‘ unter anderem „die vom Editor aus den Zeugen entwickelte Textentwicklung“.33 In beiden Hinsichten wird bei Martens der Ausgangspunkt der Definition vom Gegenstand auf die wissenschaftliche Tätigkeit und letztlich auf den Wissenschaftler verschoben. Für erweiterte Textbegriffe ist diese Eigenschaft bei näherem Hinsehen keine Seltenheit. Dass die von Martens initiierte Erweiterung den Textbegriff „nachhaltig intersubjektiv absicherte“34, ist deswegen eine fragwürdige Behauptung von Rüdiger Nutt-Kofoth. In der neugermanistischen Editionswissenschaft weist die Rezeption des dynamischen Textbegriffs bei Siegfried Scheibe vielmehr auf sei27
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Am Rande bezieht Martens aber auch den „ersten“, nicht unbedingt verschriftlichten, „Gedanken“ des Autors, in den Textbegriff tatsächlich mit ein. Vgl. Martens 1971, S. 170. In seinem wesentlich späteren Lexikonartikel zum Lemma ,Text‘ würde Martens andere Erweiterungen als Reaktionen gegen „die Beschränkung des T.begriffs auf das sprachliche Medium“ (Martens 2006, S. 394) beschreiben. Martens 1971, S. 170. Martens 1991, S. 149. Vgl. Kondrup 2020, S. 6, Fn. 18. Am Ende des Aufsatzes von 1971 schreibt Martens: „Als einen Diskussionsbeitrag, der für die Anlage der Variantenverzeichnung gemeinsame Prinzipien vorstellt und damit zu einer größeren Kommunizierbarkeit und Effektivität der editorischen Arbeit beitragen will, möchte der Verfasser die hier vorgetragenen Überlegungen und Beispiele verstanden wissen.“ Martens 1971, S. 192. Rockenberger 2017, S. 232, Fn. 690. Martens 1991, S. 149. Meine Hervorhebung. Nutt-Kofoth 2017, S. 193. Nutt-Kofoth bespricht hier zwar das Autorkonzept, fügt aber hinzu: „so zeigt sich das [=die nachhaltige, intersubjektive Absicherung] bei dem anderen tragenden Begriff, dem Text, in vielleicht noch deutlicherer Weise“. Nutt-Kofoth konzentriert sich in erster Linie darauf, welche Teile einer Edition als Text(e) bezeichnet werden, was aber mit dem editorischen Textbegriff (auch bei Martens) keineswegs gleichbedeutend ist.
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ne Problematik. Klarheit prägt nicht Formulierungen wie: „Der Text eines Werkes im editorischen Sinne besteht aus den Texten sämtlicher Textfassungen [...]“35. Mit „den Texten“ im Plural ist die präzisere Bedeutung des Wortes gemeint, die also immer noch benötigt wird, während „[d]er Text eines Werkes“ die erweiterte im Sinne von Martens bezeichnet.36 Martens erkennt 1991 zumindest halbwegs das Bedürfnis dieses präziseren Textbegriffs als eine Art Komplement an.37 Eine Bezeichnung für die einzelne Zeichensequenz in Sprachschrift fehlt – eine terminologische Lücke entsteht also – oder diese wird, wie bei Scheibe (und Martens 1991), konfuserweise ebenfalls mit ,Text‘ bezeichnet.38 Martens’ Ausgangspunkt ist, wie die allermeisten der Neudefinitionen, ein semasiologischer; die Frage ist, wie ein gewisses Wort verstanden (oder eher: verwendet) werden sollte. Durch die entgegengesetzte, onomasiologische Perspektive, die vom Gegenstand ausgeht, wäre wohl in Martens’ Fall zumindest die genannte terminologische Lücke erkannt worden.39 4.2 Textlinguistik, Semiotik usw. Beeinflusst dürfte Martens u. a. durch die bereits vollzogene Erweiterung in der Sprachwissenschaft gewesen sein: Dort wurde die mündliche Sprache in das Gegenstandsgebiet der neuen Textlinguistik und damit in die Extension von ,Text‘ integriert; ein Text müsse demnach zwar immer noch sprachlich, aber nicht unbedingt schriftlich sein.40 Unter Textlinguisten „strebten viele die An35 36 37
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Scheibe 1982, S. 28. Diese Begriffsverwirrung wird auch von Kondrup (2020, S. 6, Fn. 18) kommentiert. Vgl. Martens 1991, S. 149: „Der Textbegriff kann nicht allein [!] für die Druckfassungen oder für die vom Herausgeber abgeleiteten sog. ,Edierten Texte‘ reklamiert werden; Text ist auch [!] die vom Editor aus den Zeugen entwickelte Textentwicklung [...]“. Vgl. auch ebd., S. 147. Zahlreiche ähnliche Beispiele ließen sich in anderen Wissenschaftssparten finden. Ein doppelt besetzter Textbegriff findet sich beispielsweise beim Dramentheoretiker Alexander Weber (2017, S. 22f., Fn. 30) sowie bei der Linguistin Barbara Wallsten (2018, S. 3, Fn. 6). Sie behaupten beide, einen „weiten“ bzw. „erweiterten, multimodalen“ Textbegriff zu verwenden. Nichtsdestotrotz spielt der präzisere Textbegriff Schlüsselrollen in beiden Untersuchungen, und zwar als nichts weniger als die differentia specifica der jeweiligen, hauptsächlichen Forschungsobjekte; bei Weber ist es der Dramentext, bei Wallsten Bild-Text-Beziehungen und Bildtexte. Spätere terminologische Diskussionen in der neugermanistischen Editionswissenschaft tragen nicht immer zur begrifflichen Klarheit bei. Roland Reuß etwa behauptet zuerst: „Jeder Text enthält (aktualisiert oder nicht) einen Rückbezug auf den mündlichen Vortrag“ (Reuß 2005, S. 8), d. h. dass ein Text auch „vorgelesen“ immer noch derselbe bleibe. Dieser starke Bezug auf das Mündliche (der sich noch stärker ausgeprägt schon bei Go´rski 1971 wiederfindet) ist mit Ausgangspunkt in den zahlreichen Eigenarten der geschriebenen Sprache (der Sprachschrift) zu problematisieren (vgl. auch unten, Fußnote 46); das akustisch wahrnehmbare Vorlesen eines Textes kann mit dem vorgelesenen Text selbst niemals identisch sein (vgl. das Schriftbild, Satzzeichen, Unterstreichungen, Kursivierungen, die Schreibung von Namen usf.). Kurz darauf aber folgt bei Reuß eine direkt erstaunliche Einschränkung: „erst das Produkt dieser kritischen Tätigkeit [gemeint ist die „kritische Durchsicht“] verdient den Namen ,Text‘. Text ist daher immer schon konstituierter Text [...]“. Entwürfe schließt Reuß folgerichtig ausdrücklich aus dem Textbegriff aus, vgl. Reuß 2005, S. 7.
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schlussfähigkeit an alltagsweltliche Konzepte gar nicht an, sondern setzten sich davon sogar bewusst ab“41, wie Adamzik dies später erklärt hat. Es wurden definitorische Fragen hier ebenfalls früh mit der Priorisierung bestimmter Forschungsgegenstände verbunden bzw. vermengt.42 Adamzik notiert auch, dass bereits dieser erweiterte Textbegriff „im Gegensatz zu nicht-linguistischen Auffassungen von Text steht“43 und Probleme der Verständigung mit sich bringt. „Sprache kommt nur als Text vor“, meinte etwa Peter Hartmann, einer der Vorreiter der neuen Textlinguistik, der dem Text in seinem Sinne die Funktion als „das originäre sprachliche Zeichen“ zuschrieb.44 Sollte es aber, wie Hartmann behauptete, für das linguistische Textverständnis „irrelevant [sein], ob der Text geschrieben oder gesprochen wird“45? Ist Sprache in mündlicher und schriftlicher Form wirklich identisch und funktioniert sie in beiden Fällen gleich? Hier dürften die linguistische Schriftforschung der letzten Jahrzehnte46 sowie die neueren Bemühungen um eine Grammatik der gesprochenen Sprache47 Einspruch erheben. Weder die textlinguistische noch die editionswissenschaftliche Erweiterung verabschiedete trotz allem die Sprache als grundlegendes Merkmal von ,Text‘. Die Abkehr von jenem Element erfolgte aber bereits etwa zur gleichen Zeit und kam dabei zunächst in erster Linie durch eine ausdrückliche Metaphorisierung des Wortes ,Text‘ zustande, etwa in der berühmten Hahnenkampf-Studie von Clifford Geertz.48 Daran anschließend entwickelte sich, nicht zuletzt auf literaturwissenschaftlicher Grundlage, eine sog. Kulturwissenschaft, die sich durch die Formel „Kultur als Text“ programmatisch profilierte.49 40
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Vgl. Brinker 1992, S. 19: „Im Unterschied zur alltagssprachlichen Verwendung bezeichnet der Terminus ,Text‘ in der Linguistik nicht nur schriftliche (schriftkonstituierte) sprachliche Gebilde, sondern auch mündliche Äußerungen“. Dabei bezieht sich gerade Brinker aber in erster Linie auf den „monologischen Text“, nicht auf Gespräche. Adamzik 2017, S. 100. Koch und Oesterreicher setzen, obwohl sie sich der sog. traditionellen Definition leicht nähern, diese Denkweise fort, wenn sie ihre grundlegende Grenzlinie zwischen konzeptueller Mündlichkeit und konzeptueller Schriftlichkeit ausgerechnet durch eine passende Verschiebung der Bedeutung von ,Text‘ Ausdruck verleihen. Vgl. Koch / Oesterreicher 2008, S. 204f. Adamzik 2002, S. 174. Hartmann 1971, S. 11. Hervorhebung im Orig. Peter Hartmann in einem Wortwechsel mit dem Literaturwissenschaftler Hans-Robert Jauß; Erste Diskussion 1971, S. 204. So schreibt Roy Harris in seiner Polemik gegen die Saussure’sche semiologische Theorie: „even where speech and writing are integrationally related, they are not necessarily integrated in such a way that the written sign functions as a metasign“ (Harris 1995, S. 23). Reinhard Fiehler definiert ,Text‘ als „die in sich abgeschlossene, schriftliche kommunikative Einheit“. Auf die entsprechende Ebene, als höchste grundlegende Einheit der gesprochenen Sprache, situiert Fiehler dagegen das Gespräch. (Fiehler 2006, S. 25) Vgl. dazu Kablitz 2016, S. 172 und 181f. Dabei ist die Verwendung des Wortes ,Kultur‘ ebenfalls höchst problematisch; vgl. Aleksandrowicz 2011. Aleksandrowicz’ kritische Auseinandersetzung mit dem Selbstbild der Kulturwissenschaft, vgl. insbesondere S. 9–19, ließe sich übrigens in vielerlei Hinsicht auf die Entwicklung des Textbegriffs übertragen.
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Die Idee der Erweiterung war auch früh von der Semiotik aufgenommen worden. Dem erweiterten Zeichenbegriff in dieser Sparte folgte also ein in ähnlicher Weise erweiterter Textbegriff. Hier war Jurij Lotmans Einfluss maßgeblich: Durch seine Überlegungen zum „künstlerischen Text“, der ebenso gut ein Gemälde, eine Theatervorstellung oder eine Symphonie wie ein Gedicht oder ein Roman sein könne, prägte er eine für die spätere Semiotik kennzeichnende Denkfigur, dass nämlich „alle semiotischen Systeme“, in denen Texte in diesem Sinne konzipiert sind, „nach dem Typ der Sprache gebaut“50 seien. Da Lotman seine Tiefenanalysen aber so gut wie ausschließlich sprachschriftlichen Kunstwerken widmet, steht bei ihm der Beleg dieser gewiss sehr fraglichen These aus.51 Zentral erscheint Lotman aber die Einordnung der jeweils sehr verschiedenartigen Gegenstände als „Objekte der Semiotik“52, d. h. der eigenen wissenschaftlichen Disziplin. Die sog. kultursemiotische, weitere Kennzeichnung sog. „kultureller Texte“ und ganzer „Kulturen“ als „Texte“ wird auch ausdrücklich „[v]om Standpunkt der Untersuchung einer Kultur her“ vorgenommen.53 Auch in weiteren Fällen fließt die Definition von Gegenständen mit einer innerwissenschaftlichen Standortbestimmung zusammen. Die theatersemiotische Aufwertung der Theateraufführung als Forschungsgegenstand bei Erika FischerLichte erfolgte nicht zufällig durch die Formel „Aufführung als Text“.54 Ähnlich wollte Christian Doelker das Fernsehen als Untersuchungsgegenstand nicht zuletzt mittels eines erweiterten Textbegriffs aufwerten.55 Auch Kombinationen von Sprachschrift und Bild werden häufig zu ,Texten‘, wobei das Bezeichnen des sprachschriftlichen Anteils folgerichtig schwieriger fällt. Hier war die Aufwertung der nicht-sprachlichen Anteile eine der hauptsächlichen Pointen. Die rasche Verbreitung und nicht zuletzt die Verbindung mit Aufwertungen von Forschungsobjekten (so wie auch bei Martens) deutet an, dass ,Text‘ im nicht-präzisen Sinne als wissenschaftlichem Terminus spätestens seit den 1970er Jahren ein gewisses Prestige anhaftet. Ein ,Text‘ in diesem Sinne ist etwas, das genau wie Texte im präziseren Sinne wissenschaftlich analysiert werden kann. Martens’ oben besprochene Argumentation und deren Problematik ist hier wiedererkennbar. Wäre andererseits auf onomasiologische Art und Weise wirklich von den Gegenständen und deren Eigenschaften, und nicht in erster Linie von ihrem 50
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Lotman 1993, S. 23. Hervorhebung im Orig. Tatsächlich berücksichtigt Lotman auch, was teilweise im Widerspruch zur oben erwähnten These zu stehen scheint, dass „[d]as Prinzip der Semantisierung eines Textes“ im Falle eines bildkünstlerischen „Textes“ „ein vollständig anderes sein [wird], als bei der aus Worten gebildeten Mitteilung“ (Lotman 1974, S. 22), denn beim Bild „steht nicht die Semantik jedes Zeichens an erster Stelle, sondern das Prinzip der Herstellung einer Isomorphie zwischen Objekt [des Bildes] und Text [Bild]“ (Lotman 1974, S. 23). Vgl. zu derartigen Vorstellungen Kablitz 2021, S. VII und später im vorliegenden Aufsatz. Lotman 1993, S. 23. Hervorhebung im Orig. Lotman 1974, S. 358. Lotman unterscheidet hier tatsächlich zwischen dem „kulturellen Text“ und „reale[n] Texte[n]“, spricht also dem „kulturellen Text“ einen nicht-realen Status zu. Fischer-Lichte 1983. Doelker 1989, S. 23f., und Doelker 2007, S. 16.
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Status als Forschungsobjekten, ausgegangen worden, wäre die Benennung ,Text‘ in vielen Fällen allem Anschein nach recht weit hergeholt. Die Tendenz der Aufwertung betrifft in hohem Maße auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit im digitalen Zeitalter neuen Erscheinungen, die – ungeachtet ihrer genaueren Bestandteile – ebenfalls als Texte bezeichnet werden. Ausgangspunkt vieler neuerer Definitionen ist die neuartige, wie Adamzik schreibt, „Entlinearisierung und Vernetzung“56 von Texten (im präziseren Sinne), die laut vielen wissenschaftlichen Stimmen weitgehende Folgen für unser Textverständnis haben muss. In der Editionswissenschaft wird eine ähnliche Idee nicht zuletzt von Patrick Sahle vertreten. Sahle betrachtet die „traditionelle“ Definition als „ein Kind der Drucktechnologie“, das jetzt „nach dem Druckzeitalter“ nicht in derselben Weise Gültigkeit beanspruchen könne.57 Bezogen auf die oben vorgeschlagene Definition ,sprachschriftliche Zeichensequenz und deren räumliche Organisation‘ ist dies eine diskutable Behauptung: Sprachschriftliche Zeichensequenzen (auch sogar mehr oder weniger entlinearisierte) hat es schon sehr lange vor Gutenberg gegeben, und es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass diese Erscheinung durch die Digitalisierung bald verschwinden würde, auch wenn sich ihre gesellschaftliche Relevanz und Funktion verändern mag – was aber wiederum eine ganz andere Fragestellung darstellt. Während z. B. Bilder, wie Andreas Kablitz als Distinktion zu Recht hervorhebt, noch als Kommunikationsmedien einzustufen sind, trifft das dagegen nicht für den „Kultur als Text“-Begriff zu.58 Adamzik versteht jene Prägung als „eine rhetorische Figur, die die Vorstellung vom (Schrift-)Text als prototypischem Gegenstand von Verstehen und Interpretation ausbeutet.“59 Ähnlich verhält es sich m. E. auch mit Konzepten wie „Bild als Text“ oder „Fernsehen als Text“, die alle auf die fragliche These Lotmans zurückgehen. Kablitz sieht eine bemerkenswerte Implikation eines Gedankengangs, der jeden Erkenntnisgegenstand als ,Text‘ definiert: Indem nämlich einem Gegenstand „ein zeichenhafter, sprachähnlicher Status zugesprochen wird, ist vorausgesetzt, daß er sich nur nach den Regeln einer Sprache entziffern (sprich: erkennen) läßt, die dem Erkennenden vertraut ist“.60 Eine vereinheitlichende, grundlegende Differenzen herunterspielende Terminologie scheint vor allem diesen einen Zweck zu erfüllen. Nicht nur wird das Wort ,Text‘, wie Kablitz es zusammenfasst, zu einem „universelle[n] Modell der Erkenntnis“61 – der Erkennende, das deutende Subjekt, bzw. der Wissenschaftler selbst spielt immer wieder eine zentrale Rolle. 56 57 58
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Adamzik 2016, S. 92. Sahle 2013, S. 62. Vgl. Kablitz 2016, S. 178–183. Bei Geertz sei, so Kablitz, der Unterschied zwischen einer Zeichenhandlung und einem indexikalischen Zeichen nicht problematisiert worden, vgl. insbesondere S. 181f. Adamzik o. J., S. 3. Kablitz 2018, S. 23. Kablitz 2016, S. 196.
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In der Semiotik ist dies zunehmend zur Regel geworden. Als „der konkrete Gegenstand einer Kommunikation“62 wird ,Text‘ bei Ugo Volli verstanden, noch intersubjektiv relativ fassbar, aber „die Wahl der Textgrenzen und damit die Bestimmung des Textes“ falle ihm zufolge letztlich „in die Verantwortung seines Lesers“63, was eine in der Debatte um den Textbegriff symptomatische Festlegung ist. Eine derartige Komponente kehrt in sehr vielen anderen Erweiterungen des Textbegriffs wieder. Ohne Vorbehalte wird diese Spielart eines Rezipientenbezugs bei Doris Pichler als übergreifende „Formel“ benannt: „Das, was als Text ge- und behandelt wird, ist Text.“64 Der oben zitierte Ugo Volli meint, ein Text sei „jedes Teilstück des [Kommunikations-]Prozesses, das von jemandem als ein Text behandelt wird.“65 Ähnlich behauptet Patrick Sahle: „ein Text ist ein Gegenstand, der als Text gelesen (oder recodiert) wird“66. Dass in diesen drei Zitaten Zirkeldefinitionen vorliegen (das zu Definierende ist Teil der Definition), ist zunächst weniger wesentlich als die kennzeichnende Fokussierung auf die wissenschaftliche Tätigkeit, indirekt oder direkt auf eine Person, den definierenden Wissenschaftler selbst. Die letztgenannten Beispiele lassen eine für die (Geistes-)Wissenschaften von heute symptomatische Textdefinition vermuten, die nur geringfügig zugespitzt ungefähr wie folgt zu formulieren wäre: ,Wenn ich etwas analysiere / ediere, ist dieses Etwas ein Text‘. Und zwar ist hier nicht mehr – wie es bei Lotman noch teilweise der Fall war – für die Einordnung von Interesse, welche Eigenschaften ein bestimmter Gegenstand hat. Das Interesse hat sich vom Gegenstand nicht nur auf die jeweilige wissenschaftliche Zielsetzung, sondern letztgültig auf die jeweilige wissenschaftlich tätige Person verschoben. Durch die Ichbezogenheit dieses Gedankengangs kann jedes Analysandum bzw. Edendum, mit dem sich die einzelne Person beschäftigt, vereinheitlichend als ,Text‘ bezeichnet werden, wobei das einzig verbindende Merkmal der Status als Objekt des eigenen Vorhabens ist. Gerade die Termini Analysandum (das zu Analysierende) und Edendum (das zu Edierende) erfüllen sehr wohl und mit größerer Eindeutigkeit das dabei entstehende terminologische Bedürfnis. 62 63 64 65 66
Volli 2002, S. 79. Hervorhebung im Orig. Volli 2002, S. 80. Hervorhebung im Orig. Pichler 2019. Volli 2002, S. 80. Hervorhebung im Orig. Sahle 2013, S. 5, Fn. 13. Sowohl bei Sahle, bei Volli als auch bei Pichler stellt sich die notwendige Folgefrage, was es überhaupt heißen soll, dass „ein Gegenstand [...] als Text gelesen“ wird. Dieses Glied in den drei Zirkeldefinitionen, das „Als-Text-Behandeln / Lesen“ setzt nämlich eine diesbezügliche Vorstellung voraus, die ihrerseits auf irgendeinem (anderen) Verständnis von ,Text‘ fußen muss. Es soll gesagt werden, dass eine spätere Definition in derselben Studie Sahles das zu definierende Wort nicht enthält: „Text ist, was sinnvoll und systematisch (strukturiert) recodiert werden kann“ (Sahle 2013, S. 63). Immer noch, und hier eigentlich noch deutlicher, ist aber die Abhängigkeit der Textdefinition von der wissenschaftlichen Aktivität ein Grundmerkmal.
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5. Zurück zum Gegenstand Wenn sie die nur schwer entzifferbaren Mikrogramme Robert Walsers edieren, meinen Angela Thut, Christian Walt und Wolfram Groddeck, dass „[d]er Vorgang der Entzifferung [...] als Produktion von Text erfahrbar“ werde, „der durch Lektüre bzw. Entzifferung erst hergestellt wird“,67 sowie: „Es gibt Gedrucktes und Geschriebenes, aus beidem macht erst das Lesen Text“. Der Textbegriff sei „als Manifestation einer Verstehensleistung“68 zu verstehen. In ihrer Fokussierung auf Lesen und Verstehen folgt diese Beschreibung einem überaus bekannten Muster. Neben diesen heute gängigen Denkfiguren steht aber eher beiläufig im Aufsatz die folgende, eher unerwartete Feststellung: Dies will nicht heißen, daß die Schrift nicht schon vorher Text war, denn für den Schreiber der Zeilen stellten die für uns heute nur schwer oder gar nicht lesbaren Zeichen unstrittig Text dar.69
Somit haben Thut, Walt und Groddeck trotz ihrer Argumentation für einen erweiterten Textbegriff anerkannt, dass ein Text im präziseren Sinn70 in der Regel von seinem Urheber oder seiner Urheberin gerade als Text konzipiert wird. Insofern unterscheidet sich ihre Beobachtung von den meisten in den vorigen Abschnitten vorgeführten Thesen, die die Definition von ,Text‘ ausschließlich von einem Rezeptionsakt abhängig machen. Die Idee, dass ein Text erst im Lesen bzw. beim Leser vollzogen wird, später radikalisiert: erst im Lesen entsteht71, ist in der Literaturwissenschaft zum Gemeinplatz geworden, meint aber im Grunde genommen etwas anderes, wie Herbert Kraft festgehalten hat: Den Texten als den materialen Objekten bleibt „der Prozeß des Lesens“ gerade „äußerlich“; dieser „Prozeß“ „konstituiert“ nicht die Texte, sondern die Werke in ihrer Bedeutung.72
Abgesehen von dem diskutablen, hier verwendeten Werkbegriff ist die Einsicht, dass die Editionswissenschaft und andere wissenschaftliche Sparten ihre Stu67 68 69 70
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Thut u. a. 2012, S. 4. Thut u. a. 2012, S. 15. Thut u. a. 2012, S. 4. Tatsächlich erwähnen sie in der anschließenden Fußnote, mit ausdrücklichem Hinweis auf einen präziseren, angeblich editionswissenschaftlichen Textbegriff, dass die meisten „Mikrogramme Walsers [sich] als Texte im strengeren, editionswissenschaftlichen Sinne begreifen [lassen], d. h. als abgeschlossene und syntaktisch funktionierende sprachliche Gebilde“ (Thut u. a. 2012, S. 4, Fn. 19). Die Konstanzer Schule hat hier die ersten bedeutsamen Schritte getan. Sahle fasst den radikaleren Gedankengang unter dem von ihm TextZ genannten Textbegriff zusammen, und zwar nicht ohne Widersprüche: Die beiden Sätze „Der Text entsteht erst beim Leser!“ und „Text ist, was lesbar ist“ (beide Sahle 2013, S. 44) scheinen nicht miteinander kompatibel zu sein: Im ersten Satz ist vor dem Lesen überhaupt kein Text vorhanden, im zweiten Satz wird dagegen die Existenz eines Textes vor dem Lesen offensichtlich vorausgesetzt, denn die Eigenschaft Lesbarkeit ermöglicht bzw. erleichtert erst das Lesen. Kraft 2001, S. 9.
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dienobjekte nicht erst herstellen oder konstituieren, wesentlich. Ein editionswissenschaftlicher Zugang wie der von Thut, Walt und Groddeck kann trotz einer andersartigen Überzeugung von einer produktionsästhetischen Sichtweise nicht ganz absehen, die dieselbe Einsicht hervorbringt. Letztlich ist wohl aber weniger die Frage nach der Autorintention, sondern die Frage nach den Gegebenheiten des Gegenstands maßgeblich. Hier findet sich bereits vor dem Lesen bzw. der wissenschaftlichen Betrachtung Text. Ein wissenschaftlicher Text wird ebenfalls, was die meisten wissenschaftlich Tätigen bezeugen können, als solcher bestimmt und bezeichnet, bevor er eventuell auch veröffentlicht oder rezipiert wird. Die Analogien lassen sich weiterführen: Wenn ein Schreiner (bewusst!) einen Stuhl gebaut hat und wir diesen Gegenstand anhand von gewissen äußeren Merkmalen gerade als Stuhl (nicht als Hocker, auch nicht als Tisch oder Bett usw.) identifizieren, stellen wir mit Hilfe der uns bekannten sprachlichen Konventionen eine Tatsache fest; es ist dies kein Schöpfungs- oder Taufakt. Unter welchen Umständen eine große Ansammlung von Bäumen als ,Wald‘ zu bezeichnen ist, ist nicht exakt bestimmbar, aber trotzdem und trotz der Arbitrarität der Bezeichnung kann schwerlich behauptet werden, dass ein Wald erst im Kopf der Betrachtenden entstünde. Zeichensequenzen in Sprachschrift einschließlich der räumlichen Organisation der Zeichensequenzen bilden eine Klasse von Gegenständen, die ebenfalls unabhängig von ihrer Betrachtung existieren. In vielen sowohl nicht-wissenschaftlichen als auch wissenschaftlichen Zusammenhängen wird hierfür das Wort ,Text‘ eingesetzt. Durch die Erweiterungen des Textbegriffs ist aber die eindeutige Benennung der betreffenden Klasse von Gegenständen erschwert worden. Selbst bei Vertretern erweiterter Textbegriffe kommt die Einsicht gelegentlich vor. Burger und Luginbühl stellen etwa fest, dass „[m]an [...] einerseits einen Terminus für den (herkömmlichen) verbalen Text-Begriff, andererseits für das hybride Medien-Gebilde“73 braucht. Sie schlagen deswegen „Text“ für den herkömmlichen Textbegriff und (in Versalien) „TEXT“ für das hybride MedienGebilde vor.74 Diese Unterscheidung kommt nicht nur Adamzik75 sondern auch mir zu subtil vor. Außerdem ist es (noch) ein überdeutliches Beispiel dafür, wie gern ,Text‘ überall, auch sogar doppelt (oder mehrfach) besetzt, als Terminus eingesetzt wird. Aber in der Einsicht, dass auch die Zeichensequenz in Sprachschrift einen Terminus benötigt, nähern sich Burger und Luginbühl trotz allem und nur indirekt einer onomasiologischen Fragestellung. Bei einer näheren Beschäftigung mit Texten im präziseren Sinne erweist sich, dass ein solcher in vielen Fällen mit andersartigen Elementen interagiert: beispielsweise mit einer notenschriftlichen Zeichensequenz in Opernpartituren76 73 74 75
Burger / Luginbühl 2014, S. 97. Burger / Luginbühl 2014, S. 99. Adamzik 2016, S. 70.
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oder mit Bildern in verschiedenen Konstellationen. Gerade hier ist zur Unterscheidung der Elemente ein präziserer Textbegriff tatsächlich sehr hilfreich. Wichtig im Lichte der zahlreichen semasiologischen Ansätze ist Adamziks Feststellung, es gehe beim Textbegriff „ja nicht um die Frage [...], ob Sprachliches und Nicht-Sprachliches bei der Kommunikation zusammenwirken [...]. Die Frage ist [...], was wir davon Text nennen wollen.“77 Von dieser eigentlich ganz grundlegenden Distinktion wird sonst allzu leichtfertig abgesehen; sie verdient wesentlich mehr Aufmerksamkeit. Durch sie wird wieder eine Nähe zur onomasiologischen Methode etabliert. Wenn ,Text‘ also eine Zeichensequenz in Sprachschrift und die räumliche Organisation dieser Zeichensequenz bezeichnet, wie sollte denn die Ganzheit einer Kombination verschiedener Zeichensysteme auf einer Oberfläche genannt werden, z. B. ein Bilderbuch, das ja ein Analysandum oder ein Edendum sein kann?78 Zumindest einen Oberbegriff dazu liefert Kirsten Adamzik, die vielleicht bekannteste Kritikerin erweiterter Textbegriffe in der Textlinguistik. Sie hält an einer Distinktion zwischen rein sprachlichen „Texten“ einerseits und „Kommunikaten“ als Oberbegriff andererseits fest.79 Texte sind Kommunikate, aber das sind auch verschiedene Kombinationen von z. B. Text (!) und Bild. Adamzik ist jedoch der Meinung, dass eine „Definition, die festlegt, was immer und überall als Text zu gelten hat, [...] weder möglich noch sinnvoll“80 sei; „Textualität als zugeschriebenes Merkmal“81 scheint auch hier schwer vermeidbar zu sein. Allerdings ist dem hinzuzufügen, dass das Prinzip „jedem seinen Textbegriff“82 kaum der Intersubjektivität dient. 76
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80 81 82
So hat der Musikwissenschaftler Werner Breig die beiden Termini ,Literaturtext‘ und ,Partiturtext‘ eingeführt (Breig 1998, S. 286). Es ist deutlich, dass ,Text‘ hier in einem präziseren Sinne verwendet wird und dass die Partitur als Ganzes nicht auch als ,Text‘ benannt werden könnte. Ich habe die Diskussion zu Literaturtexten und Partiturtexten weiterentwickelt und vertieft, u. a. in Nyström 2017 (in diesem Zusammenhang sei nur hinzugefügt, dass die dortige Verwendung von ,Text‘ am Rande revisionsbedürftig ist). Das manchmal (z. B. in der Multimodalitätsforschung) quasi als Ersatz für den verworfenen präziseren Textbegriff angeführte Wort ,Schrift‘ ist hier in diesem Sinne unangemessen, denn z. B. in einer Opernpartitur begegnen sich zwei verschiedene Schriftsysteme. Adamzik 2002, S. 173. Die Intermedialitätstheorie Irina O. Rajewskys bezeichnet sie als „Medienkombination“. Vgl. Rajewsky 2002, S. 19. Als zumindest bemerkenswert muss es gelten, dass Odile Brigitte Endres den Terminus ,Kommunikat‘ ganz kurz als „zu unscharf“ zurückweist, und zwar wegen der „unterschiedlichen Verwendungsweisen des Terminus“ (Endres 2016, S. 31), wenn sie sich im gleichen Aufsatz dem nicht gerade sehr scharfen oder eindeutigen Textbegriff sehr ausführlich widmet und sinnvolle Verwendungsweisen für ihn diskutiert. Endres bezieht sich darauf, dass es zwei verschiedene Verwendungen des Terminus ,Kommunikat‘ gibt: neben der von Adamzik auch die frühere, literaturwissenschaftliche Prägung durch Siegfried J. Schmidt, der unter ,Kommunikat‘ das gedankliche Konstrukt beim Leser beim Lesen eines Textes versteht. Adamzik 2016, S. 97. Adamzik 2016, S. 93. Klemm 2002, dort mit Fragezeichen versehen.
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Im Aufsatz ist mehrfach deutlich geworden, dass beim Textbegriff immer wieder definitorische Überlegungen mit dem übergreifenden Vorhaben und letztlich dem Prestige des Wissenschaftlers sowie der Einführung neuer Forschungsperspektiven oder -objekte vermengt werden. In der Hauptsache ist dies eine Erscheinung, die die letzten vielleicht 60 Jahre auszeichnet; sie scheint nichtsdestotrotz eine lange Vorgeschichte zu haben. Knobloch koppelt die historisch ausgeweiteten Extensionen des Textbegriffes mit dem „wachsenden Gebietsanspruch der Hermeneutik“83, und zwar gleich von der früheren, auf die Heilige Schrift bezogenen Extension an. Mit den jeweils bezeichneten Gegenständen haben die Erweiterungen somit laut Knobloch nur wenig zu tun, vielmehr mit dem Selbstbild der Hermeneutiker bzw. Geisteswissenschaftler. „Textbegriffe haben Konjunkturen“84; so lautet auch eine Pointe in der Argumentation Patrick Sahles, bei ihm positiv gewertet als Argument für neue Bedeutungsverschiebungen. Indessen stellt sich die grundlegende Frage, warum gerade Bezeichnungen beibehalten werden sollten, wenn neue oder teilweise neue Gegenstände auftauchen. Noch einmal scheint es sich um das dem Wort ,Text‘ innewohnende Prestige zu handeln. Eine Alternative wäre es, die neuen bzw. in anderen Fällen bisher vernachlässigten Erscheinungen als solche zu betrachten und ihnen neue Bezeichnungen zu geben, statt einen bereits vorhandenen und anders besetzten Ausdruck dafür auszunutzen. Gerade aus einer onomasiologischen Perspektive stellen sich sehr relevante und spezifische Fragen, bei denen der präzisere Textbegriff behilflich sein kann und die auch Differenzierungen bei ihm veranlassen. So ist die Unterscheidung Kondrups zwischen Realtext, Idealtext, Materialtext und Textur deutlich vom Gegenstand abgeleitet: Zum Materialtext, nicht aber zum Realtext, zählt Kondrup die Typographie.85 Bei einer Handschrift wäre der Duktus der / des Schreibenden auf dieselbe Art und Weise ein Bestandteil des Materialtextes.86 Mit Ausgangspunkt im präziseren Textbegriff stellen sich auch andere Fragen, die der vorliegende Aufsatz nun in aller Kürze behandeln wird. Die vielleicht brenzligste Frage ist, ob man mit einem präziseren Textbegriff immer noch von verschiedenen „Fassungen eines Textes“ sprechen kann. Die Formulierung „Fassungen eines Textes“ kommt in der Tat sowohl in der Wissenschaft als auch in der Alltagssprache vor. Streng genommen sollte jedoch jede Zeichensequenz in 83
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Knobloch 2005, S. 32. Es wird dies zumindest indirekt in anderen Darstellungen bestätigt: Klemms erstes, wiewohl vor 1952 vereinzeltes, Beispiel stammt z. B. aus dem Jahr 1757 (G. F. Meier) und legt Text als „die Rede, in so ferne sie, als der Gegenstand der Auslegung, betrachtet wird“ fest (Meier 1757, S. 58; vgl. das Zitat bei Klemm 2002, S. 19). Als Gewährsmann eines erweiterten Textbegriffs im 18. Jh. führt Martens (2006, S. 394) Immanuel Kant an. Sahle 2013, S. 64. Vgl. Kondrup 2020, S. 2. Ähnliche Gedanken entwickeln Rockenberger und Röcken ausführlich (vgl. Rockenberger / Röcken 2014, insbesondere S. 27–30, auch veröffentlicht in Rockenberger 2017, S. 442–445) mit Ausgangspunkt in Peter Shillingsburgs Konzept „material text“. Vgl. Kondrup 2011, S. 37.
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Sprachschrift, die mit anderen Zeichensequenzen nicht vollständig identisch ist, als ein eigenständiger Text betrachtet werden. Die verschiedenen Texte könnten dann ggf. sinnvollerweise als Fassungen eines Werkes bezeichnet werden.87 Ein Text im präziseren Sinne ist nie unendlich88, sondern hat einen Anfang und ein Ende (ohne dafür unbedingt abgeschlossen zu sein89). Wo verlaufen denn die Grenzen eines Textes? Oft sind sie eindeutig, weil vom Urheber bzw. von der Urheberin deutlich markiert, nicht aber in jedem Fall. Sind solche Grenzen dann doch nicht nur in den Köpfen der Edierenden auszumachen? Auch hier handelt es sich immer noch keineswegs um einen Schöpfungsakt, sondern um einen Versuch, anhand von Plausibilitätskriterien eine Textgrenze im Material zu identifizieren. Die Fragen mehren sich: Ist eine Zeichensequenz in Braille-Schrift auch ein Text? Da es sich bei der Braille-Schrift um eine Sprachschrift handelt, wäre die Frage mit Sicherheit zu bejahen. Ist ein reiner so genannter „Platzhaltertext“90 tatsächlich ein Text, obwohl er keinen Sinn in irgendeiner Sprache ergibt? Die Problematik hier liegt am ehesten in der näheren Definition von Sprachschrift verborgen. Die Antwort auf diese Frage, wie die Antworten auf hier gar nicht gestellte Fragen zum Text im präziseren Sinne, überlasse ich vorläufig den Lesenden. So veranschaulichen die gestellten Fragen, dass auch beim präziseren Textbegriff, wie bei fast jedem Begriff, Grenzfälle und Abgrenzungsprobleme vorhanden sind, die hier aber genauso wenig wie beim Stuhlbegriff oder Waldbegriff den Sinn einer möglichst genauen Terminologie in Frage stellen. Die Etikettierung aller möglichen Gegenstände und Erscheinungen als „Texte“ und die damit einhergehende Entleerung des Bedeutungsinhalts von ,Text‘ pflanzen sich bis heute fort. Man könnte meinen, dass die beträchtliche begriffliche Unschärfe und die Unterschiede gegenüber anderen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Diskursen im Zusammenhang keinen Vorteil darstellen würden, aber andere Rücksichten spielen offenkundig eine größere Rolle. Rockenbergers und Röckens kritische Bemerkung ist zu unterschreiben: Beträchtlicher stipulativer Aufwand ist getrieben worden, dem Ausdruck ,Text‘ per definitionem ganze Forschungsprogramme und gegenstandstheoretische Festlegungen einzuschreiben. Als Ergebnis dieser terminologischen Umdeutungen werden nunmehr
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Es entspricht dies in etwa der Definition der betreffenden Termini bei Kondrup 2020, S. 8. Die Idee von der Unendlichkeit des Textes – in einem sehr erweiterten Sinne – ist bekanntlich in hier nicht näher berücksichtigten philosophischen und literaturtehoretischen Schriften in französischer Sprache aus dem 20. Jahrhundert zu finden. Die allermeisten Fragmente und Entwürfe können ebenfalls als Texte im präziseren Sinne bezeichnet werden, genau wie Kondrup (2013, S. 9) festhält: „das bloße Vorhandensein von [m. E. sprachschriftlichen] Zeichensequenzen“ gewährleistet diese Einordnung. Auch unter der Bezeichnung „Blindtext“ oder auf Englisch „greeking“ bekannt. Vgl. Harris 1995, S. 85.
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ganz verschiedene Sachverhalte mit ein und demselben Ausdruck etikettiert und ohne begriffliche Differenzierung jeweils ganz verschiedene Gegenstandsaspekte exponiert.91
Dass nicht nur die Bestandteile und die jeweiligen Ganzheiten zwischen beispielsweise Texten (im präziseren Sinne) und Bildern sehr unterschiedlicher Natur sind, sondern auch die Bedeutungserzeugung auf jeweils sehr verschiedenen Wegen zustande kommt, behandelt das vor einigen Jahren initiierte Forschungsprojekt „Text und Textlichkeit“ in seinen Publikationen; einige Ansätze finden sich im 2021 erschienenen Sammelband Prädikation und Bedeutung: Der Tendenz einer Ausweitung des Textbegriffs auf andere als sprachliche Phänomene stehen in jüngerer Zeit entwickelte Ansprüche anderer Wissenschaften auf eigenständige und vor allem sprachunabhängige Verfahren der Erzeugung von Bedeutung gegenüber [...].92
Vielleicht ist nur auf diesem Wege ein ernstliches Nachdenken über die Terminologie und die wildwachsenden Textbegriffe möglich; es handelt sich hier viel eher als in den oben besprochenen Fällen um eine Rückkehr zu den Gegenständen. Unabhängig von der näheren Definition von ,Text‘ ist die onomasiologische Perspektive als Ausgangspunkt m. E. grundsätzlich fruchtbarer als die semasiologische. Aus einer onomasiologischen Perspektive wäre die Frage nicht, wie der Terminus ,Text‘ zu definieren wäre, sondern wie bestimmte Gegenstände benannt werden sollten. Bei der letztgenannten Methode wäre die Gefahr geringer, essenzielle Differenzen zwischen Gegenständen herunterzuspielen, nur um eine vereinheitlichende und offensichtlich prestigeträchtige Terminologie aufrechtzuerhalten. Die allgemeine Verständigung sowohl inner- als auch außerhalb der Geisteswissenschaften, der zentrale Wert der Intersubjektivität, würde davon profitieren. Überhaupt wäre in definitorischen Grundfragen die Loslösung von den jeweiligen Bedürfnissen, Profilierungen, Zielen und dem Ich des Wissenschaftlers zu empfehlen. Dem stehen in den Geisteswissenschaften freilich seit Dilthey jeweils sehr verschiedenartige hermeneutische und poststrukturalistische Forschungstraditionen im Wege, in denen das Ineinandergehen von Objekt und deutendem Subjekt geradezu Programm ist. Die stetige Fortpflanzung und Entleerung des Textbegriffs sind als Teil der genannten Entwicklung zu sehen. Möglicherweise sind Schlüsselwerte in den Geisteswissenschaften wie Klarheit und Intersubjektivität sogar dabei, langsam obsolet zu werden. Die Frage ist, ob nicht gerade der Editionswissenschaft dadurch besonders schlecht gedient ist. 91 92
Rockenberger / Röcken 2014, S. 29 (auch veröffentlicht in Rockenberger 2017, S. 445). Hervorhebungen im Original. Kablitz 2021, S. VII.
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John Rodzvilla
The Digital Architexture of E-readers How the Internet of Things Adds Layers of Meaning to Text.
When Seuils, Gerard Genette’s first full-length work on paratextual elements in print books, was published in 1987,1 digitized text had been online for nearly two decades. Michael Hart’s Project Gutenberg2 started on 4 July 1971 with a post of the text of the United States Declaration of Independence to the Advanced Research Projects Agency Network (ARPANET), a precursor to the Internet. His posting is often considered as the starting point for ebooks, that is, books that were both digital and networked.3 It would take eighteen years for Hart to publish his tenth digital title, the King James Bible, in 1989 the same year Tim Berners-Lee released his proposal for merging hypertext with networking protocols. The World Wide Web would emerge out of the work done on that proposal and would become the main avenue to create, share and read digital content. The Web would bring not only new readers to Project Gutenberg but new volunteers as well: the archive was releasing 104 books per month by the project’s 30th anniversary in 2001.4 Project Gutenberg was not the only digital archive started in those pre-Web years. The Oxford Text Archive,5 a digital academic text resource would start in 1976. It was followed by the University of Chicago’s ARTFL project6 on French 1
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Genette, Gerard: Seuils. Paris 1987. The English translation of Genette’s work would appear a decade later and go by the title Paratexts instead of the literal translation of “threshold”. Throughout this paper I will refer to the book as Seuils / Paratexts to reflect Genette’s theory of paratextual elements as thresholds. Hart, Michael: Project Gutenberg. https://www.gutenberg.org (last access: 28.10.2022). Hart’s concept of an accessible library that existed outside the codex form was not unique. Robert Carlton Brown conceptualized a reading machine connected to a wireless network in 1930. Vannevar Bush proposed the Memex in a 1945 article (As we may think. In: The Atlantic Monthly 176,1, 1945). Roberto Busa, an Italian Jesuit priest began work on the Index Thomisticus, machine-readable punch cards used to index the writings of Thomas Aquinas in 1946 (Index Thomisticus: Sancti Thomae Aquinatis operum omnium indices et concordantiae in quibus verborum omnium et singulorum formae et lemmata cum suis frequentiis et contextibus variis modis re´ ngela Ruiz Robles, a Spanish teacher and writer, was feruntur. Stuttgart-Bad Cannstatt 1974). A granted a patent in 1949 for her Mechanical Encyclopaedia, a mechanical precursor to the modern e-reader. Project Gutenberg: 50 years of eBooks: 1971–2021. https://www.gutenberg.org/about/back ground/50years.html (last access: 28.10.2022). University of Oxford: Oxford Text Archive. https://ota.bodleian.ox.ac.uk/repository/xmlui/ (last access: 28.10.2022). University of Chicago: The ARTFL Project. https://artfl-project.uchicago.edu/ (last access: 28.10.2022).
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John Rodzvilla
literature in 1982 and the Perseus Digital library7 in 1985. These archives provided readers access to digital text that had been created with proprietary code that was tied to a specific archive. Standard Generalized Markup Language (SGML) would become an ISO standard in 1986.8 Several communities would use the SGML standard to create specialized versions for their communities. One example is the Text Encoding Initiative,9 an organization that created the TEI markup language for scholarly and academic digital publishers from the original SGML standard. TEI would eventually revise their markup to conform to the newer eXtensible Markup Language (XML). XML itself is based on SGML as is HTML, which was developed specifically for use with the World Web that was developing on top of the Internet. As the world shifted to the Web in the first decade of the twenty-first century, Genette’s theories on paratexts would influence academics who would use his schema to explore everything from print books to television commercials.10 Readers would also have the opportunity to step across a different kind of digital thresholds as online bookstores and online archives began to provide access to rare and digital-only titles through online portals. While Genette focused on the print versions of text, his theories were recontextualized by the creators and researchers of on-screen literature to reflect the changing nature of text in a networked world. Online literature looks beyond Genette’s original premise that paratextual elements are created only by author and publisher to explore how new digital interactions with a book have the potential to create epitextual elements that provide additional context to the book, but are separate from the main text due to the nature of how digital content is stored by publishers and distributed over a network. Everything in a text or connected to the text – from CSS stylesheets and reader’s textual highlights to author interviews on a publisher’s website and the ratings on Goodreads11 – has the potential to be a threshold into the text. Readers of on-screen literature also have several new kinds of entry points. No longer limited to encounters in the specific economic and cultural context of the bookstore, readers of digital text now encounter covers and sample text through online distributors, non-professional book reviews on social media sites, author websites, and hyperlinks from other online resources. Readers also have access to customizable page layouts for each title they download onto their device. Amazon, for example, has made it 7 8 9 10 11
Tufts University: Perseus Digital Library. https://www.perseus.tufts.edu/hopper/ (last access: 28.10.2022). ISO 8879:1986. Information processing – Text and office systems – Standard Generalized Markup Language (SGML). https://www.iso.org/standard/16387.html (last access: 28.10.2022). Text Encoding Initiative: n. d. History. https://tei-c.org/about/history/ (last access: 28.10.2022). Gray, Jonathan: Show Sold Separately: Promos, Spoilers, and Other Media Paratexts. New York 2010. Goodreads. n. d. Meet Your Next Favorite Book. https://www.goodreads.com (last access: 28.10.2022).
The Digital Architexture of E-readers
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so consumers can read hundreds of reviews on a book by other readers through either the Goodreads website or the product page on Amazon’s website. After reading other reader’s reviews they can also read the publisher’s marketing copy on the main Amazon page for a book and then read sample text from the book through the “Look Inside” feature. They can then purchase the book alongside furniture, clothes, and groceries without leaving their domicile. This is a far cry from Genette’s discussion of professional book reviews and accessing marketing copy on the back of the physical book. The thresholds expand beyond the cover treatments and placement on bookstore shelves12 to purchase links within an online publication and menus on e-readers that allow readers to change the page layout for easier reading. These interactions moved the relationship between reader and text far outside the rigid container of the codex where a book’s layout was decided by the author or publisher of the work. Digital is different. So different that it requires an expansion on Genette’s schema of epitext and peritext, which represent the internal and external transactions within the book. This paper will look at how ebook readers, or e-readers are generating new paratextual instances through their engagement with the larger Internet of Things (IoT), where connected devices track and interact with human readers.
1. Accessing Meaning Through Paratexts Genette’s theory on paratexts provides a theoretical framework for looking at the ebook and e-reader not just as another format like the hardback and paperback, but as a form that creates unique context. An understanding of digital text requires an understanding of what Genette means when he notes that both the design and distribution of a book is what enables “a text to become a book and to be offered as such to its readers, and, more generally, to the public.”13 Up until the introduction of the e-reading device, the control of the page design and the method of distribution were managed by publishers for the authors. Devices like the Kindle have minimized distribution to an instantaneous digital file transfer and have provided the reader a way to control margin, leading and typography, something that was previously the domain of publishers. These technologies require a reconsideration of how readers connect to the text as well as redefining the reader to include the systems and algorithms that are scanning text to provide full-text searching and properly reconstructed ebooks. It should be noted that the latest generation of screen readers, programs designed to read text on screen out loud for the blind or those with bad vision, are now able to read text using different voices for different characters. Genette’s narrow focus on human readers made sense at the time as print books were inexpensive and common as 12 13
See Miller, Laura J.: Reluctant Capitalists: Bookselling and the Culture of Consumption. Chicago, IL 2006. Genette, Gerard: Paratexts. Thresholds of Interpretation. Cambridge 1997, p. 2.
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compared to personal computers which were still expensive metal boxes, but now the roles have reversed. On the distribution and marketing front, the promotional and critical material produced at the time of the publication of Seuils / Paratext was also mostly ephemeral: appearing in print newspapers or as printed inserts meant to be discarded. The eventual move to an online mode required new non-human reader / actors to transmit text over a network and a creation of ephemeral epitextual elements that were essential for the discovery and delivery of the text on digital device. Genette’s work focused mostly on the print-centric world of peritexts and left the discussion of epitexts to the very end of his book. In a print model this focus makes sense as peritexts includes devices that give the print codex order: format, cover, spine, title page, typesetting, the layout of the page. Genette identified epitexts as outward-looking thresholds that were not part of the text. These included reviews, sample chapters, and author interviews in magazines. In the intervening years, these epitextual elements have come to carry more importance in the online world. It’s the reviews and marketing copy that now appear as results in search engines long after the publication of the book. They continue to be thresholds long after a publisher’s marketing campaign is over thanks to the use of hyperlinked text in blogs, online magazines, podcasts, and book tracking sites like Amazon’s Goodreads. In the years since Genette first proposed his paratextual theories, digital text has moved away from the limitations of the fixed format of print into a fluid model that relies on a perpetual network over a fixed container. In other words, readers can now access text in multiple formats, but readers cannot hold digital text as they can with print – although e-readers try to simulate that experience – and that changes the interaction with that text. Readers can only hold an intermediary device when reading digital text, but that intermediary does not bind the text the same way as the print codex. Of course, Genette’s writings on paratexts is clear that these paratextual elements should not be seen as boundaries or sealed borders, but as thresholds (seuils), or, as he quotes from Borges, “vestibule[s] that offers the world at large the possibility of either stepping inside or turning back.”14 These thresholds then are not one-way streets into a text, but bridges between text and the larger world. This bridging is something that text on networked devices do incredibly well. Over the last two decades, technology companies have provided e-reading applications for e-reader, phones and laptops that allow communal reader interactions including sharing highlights, notes, and reviews with other networked readers. This information is not kept with the text itself, but on the servers of the publishers and distributors where it can be linked to different editions of a book. All of which still fit into Genette’s concept which he 14
Genette 1997 (note 13), pp. 1–2.
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explains “consists of determining its location (the question of where?); the date of its appearance and if need be, the disappearance (when?); its mode of existence, verbal or other (how?); the characteristics of its situation of communication – its sender and addressee (from whom? to whom?); and the functions that its message aims to fulfill (to do what?).”15 At the time of the book’s original publication in French as well as the translation into English, these questions were mainly tied to a print ecosystem where information existed in a limited physical format that did not automatically link to other pieces of information. Publishers now work in a rich digital ecosystem where internal and external databases use distribution metadata to connect title, cover, and chapters together. On a website or e-reader a reader can jump from one text to another through hyperlinked footnotes. Digital versions of ephemera epitext (book reviews, marketing copy, sample chapters, etc.) are now stored on a publisher’s website for longer than the life of the book. The cover treatment of different editions can be found through an online search so that scholars can see how publishers change covers based on market demands.16 Even a publisher’s literal creation process is reflected in the semantic markup used to code an ebook. Digital text can capture the whole creative process within the coding and metadata of a book’s data files. It also allows for the creation of new paratextual elements from not only the author and publisher, but also the reader and the distribution systems. The clearest example of the addition of digital entry points to a text are the epitexts that are adjacent to the text itself. These epitexts are not part of the original text but added material to the text. As mentioned above, publisher add a semantic markup to the text when creating a book’s layout. Adobe InDesign, the most common layout software for books, uses a specific instance of XML that allows for semantic markup of the text that can include markup tags and other metadata on the role and relationship of the text beneath the surface of the screen. The text can also include the aforementioned hypertext links that connects the text to a different work. On top of this markup a reader can add their own notes and highlights, both of which are stored on the distributor’s servers. These highlights as well as reading speed, completion rates, and the points where readers close text are also recorded by the distributors to understand human interaction with the text. The expansion of Genette’s ideas into the world of digital content has already been addressed by several researchers including Ellen McCracken,17 Patrick Smyth,18 and Marie-Laure Ryan19. Their work expands upon Genette’s spatial 15 16 17
Genette 1997 (note 13), p. 4. Alworth, David J.: Paratextual Art. In: ELH 85,4, 2018, pp. 1123–1148. McCracken, Ellen: Expanding Genette’s Epitext / Peritext Model for Transitional Electronic Literature: Centrifugal and Centripetal Vectors on Kindles and iPads. In: Narrative 21,1, 2013, pp. 105–124.
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feature and explores the new textual relationships that include “metadata elements and tag clouds linked to digital objects, the supplementary materials and datasets that accompany scientific publications, and the extra-textural indicators of quality, [and the] trustworthiness and credibility that are built into websites.”20 Ellen McCracken has even suggested new paratextual elements to describe online interactions in order to expose the “outward and inward pathways of semiotic engagement”21 that happen when readers deal with text on an e-reader. With digital text readers can perform both “centripetal movement”, that is the ability to move outside the digital text to related content, and “centrifugal movement”, which allows for the control of layout and the reading experience, both of which are not possible in the limited printed experience.22 The movement into and away from the main text in a digital environment allow for a continued experience of the text itself in ways that were not designed by the author and publishers. A reader now has the power to change the layout of a text for a personalized reading experience, one that can also mean the transition of one text to the next based on hyperlinked content. Elements unique to ebooks including file structures, rendering software, and user interfaces of the e-readers provide new moments for transaction between the text and the outer world. Unlike print where text is stored as ink on a physical page, an ebook stores the text as a disassembled collection of files that requires the e-reading device to reassemble and render the text as well as track the interactions between human reader and text. While the non-human objects participate in the reading transaction, they themselves do not “read” the text for meaning. They “read” the files for instructions on organization and layout. But the devices also need to remain active to read and respond to interactions between reader and text. And it is this kind of “reading” that require new epitextual elements to understand what these non-human readers are doing.
2. The Internet of Things When someone opens a print book to read, the text can be said to be in a ready state: the words and images are fixed on the page and stay fixed even when not in use. A book stores its content in the specified reading order as defined by the author. This means books require a large physical space (the bookshelf) for 18
19 20 21 22
Smyth, Patrick: Ebooks and the digital paratext: Emerging trends in the interpretation of digital media. In: Examining Paratextual Theory and Its Applications in Digital Culture. Edited by Nadine Desrochers and Daniel Apollon. Hershey, PA 2014, pp. 314–333. Ryan, Mary-Laure: Cyberspace Textuality: Computer Technology and Literary Theory. Bloomington, IN 1999. Cronin, Blaise: Foreword. In: Examining Paratextual Theory and Its Applications in Digital Culture (note 18), pp. xv-xix, esp. p. xvii. McCracken 2013 (note 17), p. 106. McCracken 2013 (note 17), p. 107.
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storage. They also require some kind of information (spine title or cover art) so that they can be differentiated on the shelf. A book also requires additional physical elements like bookmarks to identify where the reader stopped reading and a pen to take notes. Books can be said to have a straightforward series of reader-to-text interactions. Ebooks on digital devices do not need as much physical interaction or space, but they need several mediators to connect the reader to the text. E-readers operate in a reader-to-device-to-network-to-server-to-text interaction. Here the reader negotiates with a series of networks and programmatic protocols in order to read their text on the screen. While there is not enough space here to detail the full process of downloading and rendering ebooks in e-reading applications, it is important to outline the process to show how these devices create new thresholds. E-reading applications, the programs that render ebooks on a device, request and download an ebook’s files from a distributor’s server. The downloaded files contain the whole of the readable text, often in several HTML or XML files, alongside a series of files that provide the instructions for the assembly and layout of the book. The application reads through the files and reconstructs the text on the screen based on those instructions, but it also creates a layout for the text according to the publisher’s stylesheet and any preferences a reader has set on the device. Finally, the application checks locally stored information for the last part of the text that appeared on screen, a virtual bookmark, and opens the book to that point. Some companies have even developed applications that communicate this information across different media. Amazon’s Whispersync service allows a user who owns both ebook and audiobook to switch between formats without losing their place in the narrative. This moves the access to a book from print’s limited interactivity of fixed placement in a physical object to a process where readers can move between formats and can manipulate the size of text and margins of those texts as well as store notes and highlight within the book files. The reader joins the author and publisher in creating and attaching paratextual elements in digital editions. Take the case of highlighting. In a print book, highlighting is a personal interaction with the text, but with ebooks any highlight is shared with other readers who bought the text.23 In addition, e-reading devices also provide full text search and support for audio and video within the text, things not possible in print. These new interactions create new thresholds. A person reading digital text can now locate a word, either by touch or by using a thumb stick, and look up that definition of that word without leaving that text. Beneath the screen the reading 23
Not only is it shared on the screen with the reader of the text, but it can also be turned into marketing material. See for example Isabella Biedenharn’s 2015 article: Here are the top-highlighted passages from E. L. James’s ‘Grey’ from Entertainment Weekly. https://www.eonline.co m/news/669592/the-most-popular-quotes-from-grey-aren-t-nearly-as-dirty-as-fifty-shades (last access: 28.10.2022).
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application starts a search routine to retrieve information from a local database, i. e., the loaded dictionary file, or connects to a wireless network and searches the internet for non-localized information while the text remains visible on the screen of the device. It is a perfect demonstration of McCracken’s spatial metaphor where readers engage with “outward and inward pathways of semiotic engagement” in order to retrieve supplemental information. While these interactions will appear seamless to the person using the e-reading device, that device will have done a lot of communication through a network, to search and process the requested information. This communication needs to be done across a series of protocols that are part of the Internet of Things architecture, what Pen˜a-Lo´pez et al. define as “a paradigm in which computing and networking capabilities are embedded in an object so that it can transmit information and data to other objects.”24 While developers in the IoT space have several models to explain the architecture required for this networked activity, the three-layer model as outlined by Sethi and Sarangi25 provides a broad enough framework of the interactions for this paper. They define the three layers as: – Application Layer: the actual programs used by the device – Network Layer: the networks between smart devices – Perception layer: the physical layer that creates interactions Each of these layers have specific transaction points where text must be manipulated by non-human actors within a network in order to move it from a reader’s list of purchased titles on a distant distributor’s server to text on screen. In the case of searching for the definition of a word as described above, the application will use similar protocols as a web browser when it goes beyond the stored dictionary. In both cases the application negotiates agreements with the telecommunication programs, often called handshakes, and the distributor’s servers to both request and retrieve the information. To the person reading the text it should feel instantaneous, but between the clicking of a word on the screen and the popup of a definition from Wikipedia or other online resource there are dozens of interactions in order to find and retrieve that information. A brief explanation of how these three layers work will help to clarify how these interactions create or rely on new paratextual elements.
24 25
Pen˜a-Lo´pez, Irene: Itu Internet Report 2005: The Internet of Things. Geneva 2005. Sethi, Pallavi / Khanna, Rajesh / Sarangi, Smruti R.: Internet of Things: Architectures, Protocols, and Applications. In: Journal of Electrical and Computer Engineering 2017, p. 1–25.
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3. Perception Layer Paratexts The perception layer as outlined in Sethi and Sarangi describes the interactions that happen between the human reader and the e-reader. Of the three IoT layers, this one has the closest analogues to the physical experience of reading a print book. The companies that offer e-reading software have made them to simulate the experience of reading a paperback through both the dimensions and weight of their devices and the display of peritextual elements from print including publisher-chosen fonts, a typographic hierarchy on the page, margins, and line spacing. The devices also allow a human reader to make modifications to those elements of the page layout described above as well as page color, turning what Genette terms allographic peritext into reader-controlled epitext. The Kobo Clara provides a case study on how e-readers provide interactive elements as paratextual elements. The Clara has a 15.25-cm touchable e-ink screen where readers can slide their fingers across the screen to simulate turning a print page. The touchscreen also allows readers to words to look up definitions and highlight text. The screen is non-glare to allow readers to read in full sun, but it also has a built-in light for reading at night without the need of an external light source. The device has 8 GB of storage, which is enough storage for 6,000 titles, and weighs 166 grams. The Clara also offers 12 different fonts and over 50 font styles, not including the fonts provided by publishers for a specific title.26 In order to use the installed fonts, there is a menu that allows the reader to change font face, font size, line spacing, justification, and margins. Changing the reading interface does not change the ebook files themselves, only the rendering by the device of the text on that one screen. Beneath the surface the e-reading application uses a local stylesheet that records the reader’s preference for the layout of the text and reconciles that with the layout defined by the publisher, similar to the way a web browser manages stylesheets. In paratextual terminology, e-reading devices provide human readers a centrifugal way to replace the publisher’s peritext with a local set of epitexts that reflect a user’s accessibility needs over the publisher’s indication of cultural signification. If, as Genette points out in Seuils / Paratext, the choices made by author and publisher on how the text should look provides the reader with an indication of the nature of the text,27 the ability to individualize those same features rewrites that relationship between author / publisher and reader to give the reader more control over the look of the book’s text. An argument can be made that these epitextual modifications have an antecedent in reader’s marginalia in a print title, but unlike print where the reader’s notes sit on top of the 26 27
Rakuten Kobo: n. d. Kobo Clara HD. https://us.kobobooks.com/products/kobo-clara-hd (last access: 28.10.2022). Genette uses the specific example of French pocket edition as being “long synonymous with canonization.” (See note 13), p. 21.
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text, here the reader changes the design at the textual level. Unlike a print book’s peritextual layout that carries with it an understanding of how we are to perceive the value of the text, a digital book allows a reader to change the publisher’s layout with new epitextual elements chosen by the reader. The ability to change or even erase the context of the paratextual elements in a book requires us to rethink the modern reading experience and its relationship to the larger world of cultural production. It is no longer a simple exchange where an author / publisher is providing a cultural product to a consumer / reader, but the reader is also now reproducing the cultural object in a way that is meaningful to them. At the same time, they are also providing the cultural producer with new content that can be used in revisions or as marketing material (see Bidenharn’s article on highlights from E. L. James above).
4. Network Layer Paratexts The second layer in Sethi and Sarangi’s IoT model is the network layer, which is the collection of protocols and programs that a device uses to connect to other devices and servers. This network layer allows readers to purchase or rent ebooks and display them across multiple online devices while keeping track of the collective reading progress. The network layer bridges the servers that host the online services with the physical points of interaction executed on the perception layer and the programmatic processes described in the application layer below. The requirements for communication with third-party programs to access content on servers also create new paratextual elements that did not exist for print publications where the text’s container held the whole of the work. As noted above, an e-reader is an empty container that can contain an ever-shifting library of thousands of titles. In order to get the content into the e-reader, a series of communications are necessary between the device and the distributor of the text. These activities required with an online network generate new epitext in situ instead of by an author or publisher at the time of creation. An example of in situ epitexts created on the network would be the transmittal of text and notes between e-reader and distributor. In the Amazon ecosystem, readers can purchase Kindle editions through a web page on their computer or through the e-readers itself and download that ebook onto multiple devices. Amazon also allows readers to store their purchases on the company servers and download them when needed across devices. Amazon also records where a user stops reading in their ebooks and shares that stopping point across the network of devices and servers. This creates for the reader a seamless transition of narrative between devices, which can be seen in Amazon’s Whispersync option explained above. In order for this to happen, Amazon’s servers and the e-reading application on the device need to communicate updates whenever a major action
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(highlight, return to library, power off) is performed. This requires both device and Amazon to open a series of network protocols to send said updates. It’s worth noting that I’ve focused on Amazon’s services as the company handles a majority of this data transfer in North America, but it isn’t the only bookseller to use this kind of connectivity to manage users. Similar services offered by other e-reader retailers including Barnes and Noble’s Nook, Kobo’s digital library and the Tolino system in Germany also provide a near constant connection between book and distributor. Regardless of what e-reader a person is using, the text of the book will need to be transmitted from a server to the device and any highlights or notes that a person makes in the ebooks will also need to be sent back to the server to update the stored version of the ebook. Any transmission between device and server requires text to be split into small data packets with new metadata and encryption added in order to travel over telecommunication services and be reconstructed. These transmissions can be explained by yet another model from information architecture: the Open System Interconnection (OSI) model.28 The OSI outlines the protocols and steps for transmitting information between devices and describes how information is turned into small information bundles, sent across telecommunications services and reconstructed by the receiving device. This process of splitting and recoding information creates new epitexts not meant for human readers but for the devices themselves. While Genette’s theory is focused solely on human access, I would argue that these additional points of access create new, invisible paratexts29 that influence our understanding of text, specifically when these network protocols corrupt the new paratexual elements making the text display oddly or not display at all. The activity enacted on this layer makes it clear that an ebook can never truly be an analogue to print even if it looks the same as print. In print the text and layout are intertwined with the physical object. To break the book down into separate chapters would be to destroy the book itself, but when an ebook is sent from the server to the device this is exactly what happens. An ebook only exists in a form similar to print at the moment of reading. Up to that point the text is a series of digital files that gets deconstructed into smaller packets so that it can travel across the network. Each packet is given additional metadata that an application uses to reconstruct the file once it has been sent between devices. 28 29
Conrad, Eric / Misenar, Seth / Feldman, Joshua: CISSP Study Guide. Waltham, MA 2016, pp. 219–291. These paratexts are invisible in the sense that they cannot be seen by readers. The paratexts described by both Genette and McCracken both provide the reader a discernable signal within the text: A quote from a review has an attribution; a hyperlink is underlined and bolded. When text is transmitted from a distributor and reconstructed by devices there is information added to the file that is never meant to be seen by humans. The same can be said for the XML files within ebook files that provide structural information. The only time a human is aware of these files is when something goes wrong, or a file is corrupted.
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Any corruption of the order of the files that occurs has the potential to be identifiable to the reader / user, i. e., text won’t render on the screen, but there are also cases where these errors are accepted by readers as part of the text. When Neal Stephenson’s Reamde came out in 2011, the ebook was of such poor quality that Amazon had sent out messages to purchasers of the book about replacing digital copies due to “missing content”30. As the book’s title is a typo of the readme file used by programmers, Stephenson’s fans assumed the typos and errors were intentional. At a reading in San Francisco, Stephenson was asked “if the typos and errors, there being so many of them, might be intentional and part of some kind of code. He answered something along the lines of, ‘people thought the same thing about Cryptonomicon, but there wasn’t a code, just a lot of typos. But if there were a code, I wouldn’t tell you.’ Long Pause. ‘But there isn’t.’”31 With every transmission to different applications there is an ever greater risk that the file may get corrupted as the applications process or read through the text’s instructions. This “reading” is a specific action to locate and follow a set of instructions sent by the originating device on how to recreate the organization of information that is transmitted as linked packets. And once the device has “read” the instructions on how to reconstruct the ebook file, it then needs to “read” the files within the ebook to identify the type of media files and the layout of the page to create a version of the print book that reflects the author’s and publisher’s intentions with the added layout choices of the reader. The final step of this reconstruction happens in the third and final layer of Sethi and Sarangi’s IoT model.
5. Paratext of Application Layer The application layer in this model is used to describe the collection of programs, or applications, on a computing device like an e-reader or smart phone, that are engaged to convert machine-readable information into human-accessible text, is the final place where new ebook thresholds are created. The manipulation of digital files, when done properly, adds new thresholds related to the display of information as the applications need to record a user’s interaction with the content while managing who has access to that content (Genette’s where, how, to whom, from whom). To be clear, the previous two layers manage interactions between human and machine and machine and machine, but they do not save those interactions. It is the application layer that manages and records the de30
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Shankland, Stephen: Amazon fesses’ up to Stephenson e-book glitch. In: cbsnews.com. 30. September 2011. https://www.cbsnews.com/news/amazon-fesses-up-to-stephenson-e-book-glitch/ (last access: 28.10.2022). McIlroy, Thad: Sloppy eBook Conversions in the Spotlight. In: The Future of Publishing. 8. October 2011. https://thefutureofpublishing.com/2011/10/sloppy-ebook-conversions-in-the-spot light/ (last access: 28.10.2022).
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cisions made for the rendering of the text. The applications make sure the text is both findable and searchable. They also manage access through Digital Rights Management and lock text from non-authorized users. Unlike the previous layer, applications do not change the text. They only add new information about display and access. The application layer provides the reader with an illusion of their library. The layer can project a shelf of a user’s purchased books, up to 6,000 titles in the case of the Kobo Clara, as if they were stored locally as whole codices on a bookshelf instead of links to compressed files that need to be downloaded and transformed into linear text. When a human reader begins their reading application, that application finds the files for a book based on the user requests and then reconstructs the text based on the user’s layout preferences.32 These applications demonstrate that not only is the reading on an e-reader not analogous to print, but that the reading experience, if not the text itself based on personalized layout, notes, and highlighting, is now wholly unique for each reader. Unlike print books where everyone reading the same edition has the same text in the same layout, e-readers provide a unique edition for each reader. Even if readers chose the same choices for the layout, the devices themselves have different screen sizes and different versions of e-reading applications which may render the text differently on the screen. The only way to ensure every reader has the same experience reading an ebook as a print book is to fully replicate the reading experience, not just the text, of a print codex on a digital device. This would defeat the point of an e-reader which utilizes specific applications designed within the legal frameworks of patents and contracts to create a personalized experience. To understand how these legal issues change access, one only needs to look at the previous example of searching words in an online dictionary. When a user looks up a word on their e-reader, the definition they receive will be based on what dictionary has been licensed for that e-reader. In the United States, Amazon has a license with Oxford for both the New Oxford American Dictionary and the Oxford Dictionary of English while Barnes and Noble has a license with Merriam-Webster to use their Collegiate Dictionary on the Nook e-reader. This means readers of the same book on different devices will receive definitions that create different contexts.
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In the case of Kindle and EPUB, the two most common ebook formats, text is often split across multiple HTML files. These files are not stored in narrative order but have a manifest that instructs the e-reader on proper display order.
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6. Conclusion There is more to be done on the way ebook applications change a reader’s entry to a text. As mentioned above, McCracken proposed ideas of centripetal and centrifugal paratexts that help to expand Genette’s schema to reflect how text is structured in the digital realm. I would argue e-reading devices change the reading experience by giving the reader an illusion of a digital library where books are stored in some kind of sequence, when, in actuality, ebooks may not even be present on the machine and are downloaded when needed. Individual ebooks continue this illusion by presenting the digital files as a modern codex with organized text that is ready to be read, when the ebook is a file folder that contains a series of text files that need to be transmitted and reconstructed before a human reader can access them. Every time an ebook is loaded, it is created anew. And every time it is created anew there is another chance for the text to become corrupted. In digital publishing there is no fixed “book”, only linked files. Even when the text had been reconstructed for reading, the human reader has the ability to manipulate the layout and the applications on the device will continually process new information about the reader’s interactions: they confirm digital rights, load multimedia files, and note the human reader’s progress through the text. The device must also access the publisher’s stylesheet as well as the user’s display preferences and reconcile the two to create the proper layout for the reader. All of this happens between the time a user taps on the screen and when the text appears on that screen! In this paper I’ve shown how a digital text is “read” several times beneath the surface of the screen in order to make the human experience of reading unique for each person. By examining the way e-readers process text through the dual lenses of Genette’s paratextual theory and the Internet of Things, I’ve shown how digital text expands the entry points for a given text and each of those new thresholds has potential to create unique contexts for the reader. We can expand upon the idea further by looking at the interfaces that allow for the creation of a more accessible text based on the needs of each reader. E-readers, therefore, manage books that have multiple audiences – both in terms of the human readers who access the files and the devices themselves. In order to manage the needs of these readers they need to create new thresholds between the text and the outside world beyond what is needed in a print ecosystem.
Frederike Neuber
Der digitale Editionstext Technologische Schichten, ,editorischer Kerntext‘ und datenzentrierte Rezeption Das Herzstück einer wissenschaftlichen Edition ist der edierte Text, das hat sich auch mit dem ,digital turn‘ in den editorisch arbeitenden Wissenschaften nicht geändert. Der edierte Text oder Editionstext, d. h. jener Text, der ein historisches Dokument oder Werk in der Edition präsentiert, ist „Rückgrat und Referenz für Überlieferung, Entstehung, Emendation und Variantendokumentation“1. Im Zuge des Medienwandels in der Editionswissenschaft2 war (und ist) der digitale Editionstext Gegenstand vieler Diskussionen, die sich unter anderem mit Verfahren der Textkodierung,3 abstrakten Modellen von ,Text‘4 sowie dem Status des edierten Textes auseinandersetzen.5 Vor dem Hintergrund der vielseitigen Beschäftigungen mag das Ziel dieses Beitrags, eine grundsätzliche Reflektion über unser Verständnis vom digitalen Editionstext anzustoßen, zunächst überholt erscheinen. Was der digitale Editionstext ist, scheint zumindest aus Perspektive der breiten Leserschaft schnell und eindeutig zu bestimmen: Es handelt sich dabei um den Text, den die Leserinnen und Leser in einer digitalen Edition angeboten 1
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Plachta, Bodo: Der ,edierte‘ Text: Grundpfeiler der Edition oder ,Zugeständnis‘ an den Leser? In: Digitale Metamorphose: Digital Humanities und Editionswissenschaft (Sonderband der Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften, 2). Hrsg. von Roland S. Kamzelak / Timo Steyer. 2018. dx.doi.org/10.17175/sb002 002, hier Abs. 1. Zum Medienwandel in der Editionswissenschaft vgl. u. a. Pierazzo, Elena: Digital Scholarly Editing: Theories, Models and Methods. Farnham / Surrey 2015; Sahle, Patrick: Digitale Editionsformen, Zum Umgang mit der Überlieferung unter den Bedingungen des Medienwandels, 3 Bde. Norderstedt 2013 (Schriften des Instituts für Dokumentologie und Editorik 7–9); Medienwandel / Medienwechsel in der Editionswissenschaft. Hrsg. von Anne Bohnenkamp. Berlin / Boston 2012 (editio 35). An dieser Stelle sowie in den Fußnoten 3–5 kann und soll die Debatte nicht umfassend dargelegt werden, stattdessen sind die referenzierten als exemplarisch für die jeweiligen Diskussionsfelder zu verstehen. Vgl. u. a. aus dem Umfeld der Text Encoding Initiative (TEI) und zu Themen rund um die Kodierung von Text mit dem TEI-Vokabular die Beiträge im Journal of the Text Encoding Initiative (Hrsg. vom TEI-Konsortium, seit 2011, https://journals.openedition.org/jtei/ sowie das Archiv der TEI-Mailingliste (seit 1990, https://listserv.brown.edu/cgi-bin/wa?A0=TEI-L [Stand: 18.02.2022]). U. a. haben Patrick Sahle und Elena Pierazzo (multiperspektivische) Modelle für Text entwickelt; vgl. Sahle 2013, Bd. 3 und Pierazzo 2015 (beide Anm. 2). Vgl. u. a. Fischer, Franz: All texts are equal, but... Textual Plurality and the Critical Text in Digital Scholarly Editions. In: Variants 10, The Journal of the European Society for Textual Scholarship. Hrsg. von Wim Van Mierlo und Alexandre Fachard. 2013, S. 77–91; Robinson, Peter: The one text and the many texts. In: Literary and Linguistic Computing, Bd. 15.1, 2000, S. 5–14. doi.org/10.1093/llc/15.1.5.
https://doi.org/10.1515/9783111006147–005
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bekommen und folglich im wissenschaftlichen Diskurs referenzieren und rezipieren. So eindeutig der digitale Editionstext seitens der Rezeption wahrgenommen wird, so uneindeutig und komplex ist seine Bestimmung aus Perspektive der Erstellung bzw. Produktion, was sich aus seiner technischen Konstitution ergibt. Im Zentrum des Beitrags steht daher die Frage, worauf wir uns beziehen bzw. beziehen sollten, wenn wir vom „digitalen Editionstext“ sprechen. Eine solche Diskussion ist vor dem Hintergrund der zunehmenden Erstellung, Publikation und Rezeption digitaler wissenschaftlicher Editionen längst überfällig. Derzeit besteht in Bezug auf den digitalen Editionstext eine Diskrepanz zwischen den vom technologischen Wandel geleiteten Produktionsformen einerseits und den weitestgehend analog geprägten Rezeptionsformen andererseits. Wenn sich die Methoden der Erstellung so grundlegend ändern, wie mit dem Medienwandel in den editorisch arbeitenden Wissenschaften, kann das für das Textverständnis und die Rezeption nicht folgenlos bleiben. Es geht daher bei den vorgestellten Überlegungen auch um eine ,Reharmonisierung‘ der medialen Systeme von Produktion und Rezeption. Der Beitrag stellt zunächst den technologischen Aufbau des digitalen Editionstextes dar, um davon ausgehend den ,editorischen Kerntext‘ zu identifizieren. Der Beitrag schließt mit der Formulierung von (An-)Forderungen an eine medienadäquate Lektüre und Rezeption digitaler Editionstexte.
1. Das technologische Schichtenmodell Während im Druck Inhalt und Form des Editionstextes in einem typografischen Ausdruck zusammenfallen, sich gegenseitig bedingen und nicht voneinander zu trennen sind, sind digitale Editionen vielschichtig konzipiert. Der digitale Editionstext gründet – wie die digitale Edition als Ganzes – auf dem Konzept der „Transmedialisierung“6, womit Patrick Sahle die Trennung zwischen der Repräsentation der Quelle in Daten und deren Präsentation in multiplen medialen Formen (z. B. Webseite, Druck, usw.) beschreibt. In der digitalen Praxis geht der Editionsprozess über die in der Transmedialisierungthese aufgespannte Dichotomie ,Daten-Präsentation‘ bzw. ,Inhalt-Form‘ hinaus. Vielmehr muss man von verschiedenen aufeinander aufbauenden und voneinander abhängenden Bearbeitungsstufen bzw. Bausteinen sprechen. Abbildbar werden diese Verhältnisse und Prozesse im technologischen Schichtenmodell einer digitalen Edition,7 das deren Architektur in abstrakten Komponenten, d. h. ohne die Nennung konkreter 6 7
Sahle, Patrick: Zwischen Mediengebundenheit und Transmedialisierung. Anmerkungen zum Verhältnis von Edition und Medien. In: editio 24, 2010, S. 23–36. Ein alternatives Schichtenmodell stellte Alexander Czmiel im Rahmen eines Vortrags auf der Konferenz Digital Humanities 2016 vor: Sustainable publishing – Standardization possibilities for Digital Scholarly Edition technology. Krakau 2016, S. 167–168. https://dh2016.adho.org/abstrac ts/132 (Stand: 18.02.2022).
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Technologien, darstellt (Abb. 1). Ausgehend von den edierten Quellen kann man vier technologische Schichten differenzieren:
Abb. 1: Technologisches Schichtenmodell einer digitalen Edition.
Die Datenschicht ist die dem Modell zugrundeliegende Ebene und gliedert sich in zwei Schichten, die in der Editionspraxis oft synchron bearbeitet werden: Die Rohdatenschicht und die Datenstrukturschicht. Die Rohdatenschicht kann beispielsweise manuell oder maschinell erstellte Basistranskriptionen oder digitale Faksimiles umfassen. In beiden Fällen wird die Quelle erstmals in das digitale Medium überführt bzw. darin abgebildet, ohne dass dies mit einer Wissensanreicherung im editorischen Sinne verbunden wäre. Dennoch sind die Daten nicht so ,roh‘ wie ihre Bezeichnung suggeriert, denn, um den aussagekräftigen Titel eines Sammelbandes zu zitieren: ,Raw Data‘ is an oxymoron.8 Die Erstellung von Daten geschieht stets in einem bestimmten Kontext und unterliegt von Beginn an gewissen Bedingungen und Entscheidungen. Damit ist die Rohdatenschicht bereits eine erste ,Filterschicht‘ zwischen Quelle und digitaler Repräsentation, welche die gesamte weitere editorische Bearbeitung, Präsentation und Rezeption beeinflussen kann.9 8 9
Gitelman, Lisa: (Hrsg.): „Raw Data“ is an oxymoron. Cambridge 2013. Etwa mögen digitale Faksimiles zwar suggerieren, sie wären ein neutraler und direkter Zugang zum edierten Material, aber auch ihre Produktion und Verfügbarmachung involvieren bereits Entscheidungen wie beispielsweise über die Parameter der Digitalisierung, darunter Größe, Auflösung, Farbtiefe, usw. Siehe Dahlström, Mats: Critical Transmission. In: Between Humanities and the Digital. Hrsg. von Patrick Svensson / David Theo Goldberg. Cambridge, MA 2015, S. 467–481, v. a. S. 469–470.
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In der Datenstrukturschicht werden die erhobenen Rohdaten mit Informationen bzw. editorischem Wissen angereichert. Die Erstellung von strukturierten und annotierten Daten und Texten umfasst die Formalisierung von Transkription und Metadaten in bestimmten Datenmodellen und Vokabularen. In der digitaleditorischen Praxis haben sich dafür in den letzten 40 Jahren das medienunabhängige und langzeitarchivierbare Format XML und das von einer regen Community entwickelte und gepflegte Vokabular TEI10 durchgesetzt. Das Bezugssystem zur jeweils editionsspezifischen Verwendung der TEI bilden formale Kodierungsrichtlinien, d. h. maschinenlesbare Schemata. Die editorische Erschließung kann unter anderem inhaltliche Anreicherungen mit Kommentaren, Indizierungen und Verlinkungen sowie textkritische Annotationen umfassen. Grundsätzlich hat die digitale Textherstellung einen ,Sowohl-Als-Auch-Charakter‘, der ,Entweder-Oder-Entscheidungen‘ aus dem Druck hinfällig macht. So kann man mittels XML / TEI mehrere alternative Perspektiven auf und Interpretationen des Dokuments abbilden, darunter sowohl Abkürzungen als auch ihre Expansion und sowohl dokumentzentriertes als auch semantisch orientiertes Layout. In der Funktionalitätsschicht werden die Datenstrukturen – eingebettet in ein Speicher- und Ordnungssystem (z. B. Datenbank) – weiterverarbeitet. Die algorithmische Prozessierung besteht aus bestimmten Ausführungsanweisungen, mit denen die Daten in die für das User Interface gewünschte Ordnung und Form gebracht werden. Die Funktionalitätsschicht ist damit eine Art ,Übersetzungsschicht‘ zwischen Daten und User Interface, deren Logik der Programmierung inhärent ist.11 Die Informationsdichte der Datenstrukturen kann dabei sowohl kanalisiert bzw. reduziert als auch angereichert werden.12 Typische Operationen bei der Verarbeitung digitaler Editionstexte sind beispielsweise das Ausblenden von Kodierungen, die nicht als relevant für die Textkonstitution erachtet werden und die dynamische Verlinkung auf Basis von Indizierungen.
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Text Encoding Initiative: P5: Guidelines for Electronic Text Encoding and Interchange (Version 4.3.0). https://www.tei-c.org (Stand: 18.02.2022). Vgl. dazu Boot, Peter / Zundert, Joris van: The Digital Edition 2.0 and The Digital Library: Services, not Resources. In: Digitale Edition und Forschungsbibliothek 2011 (Bibliothek und Wissenschaft 44), S. 141–152. Die Autoren schlagen vor, die Logik zwischen Daten und Interface explizit zu dokumentieren (S. 147, vgl. Anm. 38). Die Anreicherung digitaler Editionsdaten wird momentan vor allem im Kontext von Registern und weniger bei Editionstexten vorgenommen. Auf der Basis von Normdaten, besonders der Datensätze der Gemeinsamen Normdatei (GND) für Personen und GeoNames für Orte, kann man Informationen aus anderen digitalen Ressourcen abrufen und integrieren. Eindrucksvoll zeigt das die Carl-Maria-von-Weber-Gesamtausgabe: Auf Basis der GND-Nummern werden Informationen aus der GND selbst, aus Wikipedia sowie aus der Allgemeinen Deutschen Biografie in das Register integriert. Vgl. Carl-Maria-von-Weber-Gesamtausgabe. Digitale Edition. 2022. https:// weber-gesamtausgabe.de/A070002, https://weber-gesamtausgabe.de/A002068 (Version 4.5.0 vom 27.02.2022; letzte Änderung dieses Dokuments am 22.01.2020).
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Die oberste Modellebene ist die Präsentationsschicht, die digitale User Interfaces sowie mögliche Druckerzeugnisse und technische Schnittstellen miteinschließt. Während letztere Präsentationsform vorrangig für die maschinelle Interaktion gedacht ist, richtet sich das User Interface – wie der Name impliziert – an die Nutzerinnen und Nutzer. Der für die Leserschaft zugängliche edierte Text ist (für gewöhnlich) in dieser Form nicht gespeichert, sondern wird ,on-the-fly‘ aus den Daten und über die Programmierung in der Funktionalitätsschicht generiert.13 Technisch betrachtet handelt es sich dabei um eine HTML-Darstellung auf einer Webseite, die in einem Browserfenster auf verschiedenen digitalen Endgeräten geöffnet werden kann. Die Darstellung kommt dem ,typografisch gewohnten‘ Lesemodus entgegen, auch wenn sie genuin digitale Elemente wie Pop-Ups statt Fußnoten oder die Überblendung von Text und Faksimiles integrieren kann. Digitale Editionen sind, wie im technologischen Schichtenmodell verkürzt dargestellt, technologisch komplexe Forschungssoftware, in der verschiedene Komponenten ineinandergreifen. Der edierte Text ist Teil dieser Software und entsteht auf Ebene der Rohdaten, der Datenstrukturen, der Funktionalitäten und der Präsentation. Abstrakt und holistisch betrachtet macht die Interaktion der Schichten den edierten Text als Ganzes aus. Sich mit ,Editionstext‘ auf ein ,abstraktes Objekt‘ zu beziehen ist im wissenschaftlichen Diskurs allerdings nicht praktikabel. Dies gilt umso mehr für wissenschaftliche Editionen, deren Kernaufgabe es ist, eindeutig identifizierbare, stabile und referenzierbare Texte bereitzustellen. Es stellt sich daher die Frage, welche der technologischen Schichten diese Texteigenschaften in größten Maße in sich vereint und damit den Status eines ,Primärtextes‘ oder ,Kerntextes‘ einnehmen kann.
2. Der ,editorische Kerntext‘ Operiert man mit einem erweiterten Textbegriff, der auch numerische Daten und computerbasierte bzw. -gespeicherte Informationen umfassen kann,14 sind auf jeder technologischen Schicht des Editionstextes Parameter von Textualität 13
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Jüngst setzen digitale Editionen vermehrt auf die Generierung und Speicherung von statischen HTML-Seiten, um die Nachhaltigkeit der Präsentationsschicht zu gewährleisten, der volle Umfang der Funktionalitäten ist damit allerdings nicht gesichert; u. a. erfordert eine Suche, dass die Dokumente in einer Datenbank vorgehalten werden. Siehe u. a. DER STURM. Digitale Quellenedition zur Geschichte der internationalen Avantgarde. Hrsg. von Marjam Trautmann / Torsten Schrade. Mainz, Akademie der Wissenschaften und der Literatur, 2018; vgl. auch The Endings Project, das Prinzipien zur Nachhaltigkeit digitaler Ressourcen formuliert: https://endings. uvic.ca (Stand: 18.02.2022). Siehe bei McKenzie, Donald F.: Bibliography and the Sociology of Texts. Cambridge 1999, u. a. S. 13: “I define ‘texts’ to include verbal, visual, oral, and numeric data, in the form of maps, prints, and music, of archives of recorded sound, of films, videos, and any computer-stored information, everything in fact from epigraphy to the latest forms of discography. There is no evading the challenge which those new forms have created.”
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erkennbar, darunter Zeichenhaftigkeit, Strukturiertheit, kommunikative Funktion oder Intertextualität. Da die Erschließungstiefe der Rohdatenschicht nicht die Schwelle zur Edition im engeren Sinne überschreitet und die Funktionalitätsschicht keine Manifestation des Editionstextes, sondern eine Medialisierungsschicht ist, konzentriert sich die Diskussion im Wesentlichen auf zwei Schichten: Präsentation und Datenstrukturen (im Folgenden kurz: Daten).15 Der edierte Text in der Präsentationsschicht ist – wie die digitale Edition als Ganzes – eine Vermittlungsinstanz zwischen der Überlieferung und den Rezipientinnen und Rezipienten. Im User Interface gelangt der Text in einen Kontext, der unter anderem aus anderen Dokumenten, Registern oder Begleittexten bestehen kann. Die Gestaltung und die Funktionalitäten der Gesamtedition haben Einfluss auf die Lektüre und Rezeption des edierten Textes. Wout Dillen bezeichnet das User Interface als „Paratext“16 einer digitalen Edition, Tara Andrews und Joris van Zundert schätzen seine Wirkungsmacht noch höher ein: [A] digital edition’s interface is an argument – not just an argument about the text, but also an argument about the ‘attitude’ of the editor, a window into his or her take on methodology and the digital edition itself.17
Welche Menüpunkte bietet die Navigation und in welcher Reihenfolge? Wie ist die Startseite gestaltet? In welchen Kategorien sind Dokumente wie beispielsweise Briefe und Tagebücher filterbar? – Die Konzeption dieser Interface-Elemente sagt etwas über herausgeberische Intentionen. Beispielsweise erscheint das User Interface der digitalen Alfred Escher-Briefedition18 keineswegs so personenzentriert, wie der Titel der Edition nahelegen mag. Auf der Startseite oder im Seitenheader findet sich kein Bild des Protagonisten, was in anderen digitalen Briefeditionen mit ,personellem Zentrum‘ durchaus üblich ist.19 Im Vorspanntext 15
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Auf der Präsentationsschicht wird lediglich die Darstellung des Textes im User Interface (oder Graphical User Interface) thematisiert, während Application Programming Interfaces (APIs), d. h. technische Schnittstellen, die im Anwendungsbereich der Maschine-Maschine-Interaktion liegen, nicht berücksichtig werden. Dillen, Wout: The Editor in the Interface: Guiding the User through Texts and Images. In: Digital Scholarly Editions as Interfaces. Hrsg. von Roman Bleier u. a. Norderstedt 2018 (Schriften des Instituts für Dokumentologie und Editorik 12), S. 35–59, hier S. 35: “In a way, the Graphical User Interface (GUI) can be regarded as the digital scholarly edition’s new paratext: not exactly part of the edited text itself, it still has an undeniable impact on the way the user reads and understands the edition.” Andrews, Tara L. / Zundert, Joris J. van: What Are You Trying to Say? The Interface as an Integral Element of Argument. In: ebd. S. 3–33, hier S. 7. Digitale Briefedition Alfred Escher. Hrsg. von Joseph Jung. Zürich 2022. https://briefedition. alfred-escher.ch (Stand: 18.02.2022). Siehe bspw. Briefwechsel, Tageskalender, Vorlesungen von Friedrich Schleiermacher 1808–1834. Hrsg. vom Akademienvorhaben „Schleiermacher in Berlin 1808–1834“ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 2012–2022. https://schleiermacher-digital.de; August Wilhelm Schlegel: Digitale Edition der Korrespondenz. https://august-wilhelm-schle gel.de/version-01-22; Briefe von und an Alexander Rollett 1852–1903. Hrsg. von Hans Gottfried Brücke / Walter Höflechner / Ingrid Maria Wagner. Graz 2008; Grabbe-Portal. Hrsg. unter der Leitung von Bernd Füllner / Thomas Burch / Detlev Hellfaier. Detmold / Düsseldorf / Trier 2011.
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der Startseite lädt die Edition dazu ein, „mit Alfred Escher die Schweiz im 19. Jahrhundert“ und „bisher unbekannte[n] Zusammenhänge“20 zu entdecken. Die Filterliste im Verzeichnis aller Briefe beginnt mit einem Schlagwortfilter. Zusammengenommen deuten die visuellen und funktionellen Gestaltungsmittel in Kombination mit den Begleittexten an, dass die Edition in erster Linie die Bedeutung Eschers im Kontext der Schweizer Geschichte und der politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen im 19. Jahrhundert zum ,Kernargument‘ hat. Hingegen werden andere Aspekte der Korrespondenz, z. B. freundschaftlicher oder familiärer Austausch der Privatperson Escher, weniger stark durch die Gestaltung gestärkt. Wie das User Interface als Ganzes, hat auch die Präsentation des edierten Textes ihr eigenes Kommunikationspotenzial. Sie setzt einen Rahmen für die Lektüre, der bestimmte Nutzungsszenarien ermöglicht und damit Interpretationsräume öffnet oder eben verschlossen hält. In der „Augenfassung“ der Edition Hugo von Montfort – das poetische Werk21 ist der Text in einer graphetisch genauen Transliteration wiedergegeben, die Schriftelemente, wie alphabetische Zeichen, Superskripte und Abbreviaturen sowie Mikrophänomene wie spezielle Rundung eines Häkchens und i-Punkte abbildet. In Kombination mit einer Lupe, die den jeweiligen Schriftraum in einem Faksimile hervorhebt, kann man Text und Bild miteinander abgleichen. Außerdem bietet die Website eine graphetisch sensible Suche in den Editionstexten. Insgesamt legt diese Art der Textpräsentation nahe, dass der Edition ein ,materiales‘ Textverständnis zugrunde liegt, das paläografisch und sprachhistorisch motiviert ist. Die Herausgeber möchten der Leserschaft einen möglichst objektiven Schriftbefund bieten,22 während die ,schnelle‘ inhaltsorientierte Lektüre kein von der Edition intendiertes Nutzungsszenario zu sein scheint. Eine normalisierte Lesefassung ist lediglich im Druck erschienen. Marshall McLuhans eingängige These „The Medium is the Message“23 gilt also auch für digitale Editionen und ihre Texte. Was aber, wenn man die Daten selbst als (erste) Medialisierung der Überlieferung begreift?24 Das User Interface wäre damit die Medialisierung einer Medialisierung, dessen Distanz zur Überlieferung größer ist als die Distanz zwischen Daten und Überlieferung. Die Erarbeitung konsistenter und informationsreicher Daten ist der erste Schritt im digitalen Editionsprozess; in den Daten steckt das größte editorische 20 21 22 23 24
Jung 2022 (Anm. 18), Startseite. Hugo von Montfort – das poetische Werk – Augenfassung. Hrsg. von Wernfried Hofmeister. Graz 2015. https://gams.uni-graz.at/collection:me (Stand: 18.02.2022). Siehe dazu auch Hofmeister, Andrea: Textkritik als Erkenntnisprozeß: sehen – verstehen – deuten. In: editio 19, 2005, S. 1–9. McLuhan, Marshall: Understanding Media. New York 1964. Barabucci, Gioele / Spadini, Elena / Turska, Magdalena: Data vs. presentation: What is the core of a scholarly digital edition? In: Advances in Digital Scholarly Editing. Hrsg. von Peter Boot u. a. 2017, S. 36–46, S. 44.
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Wissen.25 Die darauf aufbauende, meist anschließend erstellte Präsentation26 ist in gewisser Weise immer ein „Zugeständnis“27 an die Leserschaft, denn die Komplexität der Daten wird im User Interface oftmals reduziert. Dahinter kann die bewusste Entscheidung stehen, dass bestimmte Bestandteile der Daten für das ,editorische Argument‘ in der Präsentationsschicht relevant sind und andere nicht. In der digitalen Briefedition Ferdinand Gregorovius – Poesie und Wissenschaft28 findet sich in einem Brief von Gregorovius an Sebastiano Kalefati vom 23. Oktober 185929 das Substantiv „Monumento“, das die Aufmerksamkeit der Leserin wegen der für das Italienische unüblichen Großschreibung weckt. Mit einem Stellenkommentar ist das Lemma als Teil eines Verses einer Ode von Horaz ausgewiesen, eine textkritische Anmerkung ist nicht vorhanden. Bei einem Blick in die verfügbaren XML / TEI-Daten des Briefes erfährt man, dass es sich bei „Monumento“ um eine editorische Korrektur aus „moumento“ handelt, die mittels des TEI-Elements 30 dokumentiert ist. Für das User Interface wurde möglicherweise bewusst oder bedingt durch den ,work-in-progress‘-Status der Entwicklung eine Darstellung nach dem Prinzip ,stillschweigend korrigiert‘ gewählt. Die Ausdruckskraft der Daten in der Präsentationsschicht wird damit beschränkt und der eigentliche Befund – bedingt durch die ungewöhnliche Großschreibung – sogar etwas verzerrt. Eine Lektüre der ebenfalls verfügbaren Daten bringt also einen Mehrwert. Im digitalen Medium, mit seinen schier grenzenlosen Darstellungsmöglichkeiten, wachsen die Anforderungen an das User Interface stetig. Insofern man sich bei komplexen philologischen Phänomenen wie vertikal stehender Schrift, durchgestrichenen Textpassagen sowie eigentümlichen Korrekturzeichen nicht für eine abstrahierte Darstellung, sondern für eine möglichst vorlagengetreue Nachbildung entscheidet, bedeutet dies teilweise erheblichen Aufwand. Diesen muss man – aus der Praxis gesprochen – gegen den Nutzen abwägen, gerade 25
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Vgl. Sahle, Patrick: What is a Scholarly Digital Edition? In: Digital Scholarly Editing: Theories and Practices. Cambridge 2016. http://books.openedition.org/obp/3397 (Stand: 18.02.2022), hier § 31. „After the editing is done: Designing a Graphic User Interface for digital editions“ ist der Titel eines 2012 erschienenen Artikels von Roberto Rosselli Del Turco, der zeigt, welchen nachgeordneten Stellenwert Interface Design im digitalen Editionsprozess oft hat. Die Präsentationsschicht tritt aber meist nicht nur in der Abfolge der Arbeitsschritte, sondern auch hinsichtlich ihrer Priorisierung hinter der Datenschicht zurück. Vgl. Rosselli Del Turco, Roberto: After the editing is done: Designing a Graphic User Interface for digital editions. Digital Medievalist 7, 2012. doi.org/10.16995/dm.30. Plachta 2018 (Anm. 1), zitiert aus dem Titel. Ferdinand Gregorovius. Poesie und Wissenschaft. Gesammelte deutsche und italienische Briefe (digitale Edition). Hrsg. von Angela Steinsiek. Deutsches Historisches Institut in Rom 2017–2023. https://gregorovius-edition.dhi-roma.it (Stand: 18.02.2022). Siehe ebd., Ferdinand Gregorovius an Sebastiano Kalefati in Montecassino. Rom, 23. Oktober 1859. https://gregorovius-edition.dhi-roma.it/letters/G000406; TEI-Daten: https://gregorovius-edi tion.dhi-roma.it/api/letters/G000406 (Stand: 18.02.2022). https://tei-c.org/release/doc/tei-p5-doc/en/html/ref-choice.html (Stand: 18.02.2022).
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weil in Editionsprojekten grundsätzlich ein ,chronischer Mangel‘ an zeitlichen, personellen und finanziellen Ressourcen herrscht. Simplifizierte Designentscheidungen können durch ein Zusammenspiel mit den Datensätzen kompensiert werden. In der digitalen Edition Briefe und Texte aus dem intellektuellen Berlin um 180031 wird in der TEI-Kodierung mit dem Element und @rend-Attribut zwischen verschiedenen Arten der Tilgung wie Streichung, Überschreibung und Rasur unterschieden, wie sie auch aus den bereitgestellten Faksimiles hervorgehen. Die diplomatische Umschrift des Editionstextes stellt hingegen alle Tilgungen einheitlich gestrichen dar. Mit dieser Visualisierungslösung ist nicht nur deutlich weniger Entwicklungs- und Wartungsaufwand verbunden,32 es entsteht auch ein stimmiges Zusammenspiel von Daten, Textansicht und Faksimiles, so Sascha Grabsch: Der Blick auf das Faksimile und den genauen editorischen Befund im XML ermöglicht weiterhin jede philologische Feinarbeit, diese editorische Entscheidung wird dem Medium der digitalen Edition so gerechter als ein millimetergenauer ,digitaler Nachbau‘ eines analogen Schriftträgers[.]33
Daten und Präsentation müssen also kein ,Entweder-Oder‘ sein, im Gegenteil: in der Kombination entfalten sie ihre größte Kraft. Das gilt nicht nur für die Darstellung im Web, sondern auch für den Erstellungsprozess. Beherzigt man den Leitsatz der Softwareentwicklung „Release early, relaese often“, kann sich das positiv auf die Qualität von Daten und User Interface auswirken. Beispielsweise kann eine Visualisierung des Textes im User Interface auf blinde Flecken in der Datenmodellierung hindeuten oder gänzlich neue Denkanstöße zur Modellierung geben. Wenn wir über Daten eines Editionstextes sprechen, dann haben wir es meist mit Daten im Format bzw. der Kodierung XML / TEI zu tun. XML ist ein offenes, medienunabhängiges und langzeitarchivierbares Format, die TEI ein seit rund 35 Jahren von einer lebendigen ,Community of Practice‘ entwickeltes Vokabular. Auf Ebene der Daten sind zentrale Herausforderungen digitaler Editionen wie Versionierung und Langzeitarchivierung mit verhältnismäßig geringem Aufwand zu bewältigen.34 Beispielsweise publiziert die Edition Jean Paul – Sämtliche Briefe digital in regelmäßigen Abständen und synchron zur 31 32
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Briefe und Texte aus dem intellektuellen Berlin um 1800. Hrsg. von Anne Baillot. Berlin 2022. http://www.berliner-intellektuelle.eu (Stand: 18.02.2022). Für die genannten Spezialphänomene kann man teilweise kombinierte Lösungen aus (fortgeschrittenem) CSS, JavaScript und SVG entwickeln. Die Anzeige variiert jedoch oftmals auf verschiedenen Endgeräten und in verschiedenen Browsern. Grabsch, Sascha: Review of ,Briefe und Texte aus dem intellektuellen Berlin um 1800‘. In: RIDE 12, 2020. doi.org/10.18716/ride.a.12.1. Dies gilt insofern die Edition alle für den Editionstext relevanten Daten selbst vorhält, nicht aber für Daten, die dynamisch aus anderen Ressourcen aggregiert werden und deren Dauerhaftigkeit und Referenzierbarkeit Dritten obliegt. Zumindest im Moment handelt es sich dabei meist um Inhalte, die über Normdaten abgerufen werden, und damit auch rekonstruierbar sind.
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Aktualisierung der Onlineedition neue Versionen der XML / TEI-Daten35 im Forschungsdatenrepositorium Zenodo.36 Der Datensatz erhält über Zenodo eine DOI (Digital Object Identifier) und ist damit eindeutig zitier- und referenzierbar, und zwar in verschiedenen Versionen. Derlei in der Umsetzung und Pflege niederschwellige und kostenfreie Lösungen zur langfristigen Speicherung, Versionierung und Referenzierung der Editionsdaten bzw. -texte kann man sich für die Funktionalitäts- und Präsentationsschicht nur wünschen. Der edierte Text im User Interface ist technologisch betrachtet ein ,flüchtiges‘ Objekt, da er in seiner ,generierten‘ Form (meist) nicht gespeichert vorliegt.37 Bei Verlust der Präsentationsschicht kann die Textansicht theoretisch auf Basis der Daten reproduziert werden. Um diesen Vorgang zu erleichtern, wäre es allerdings nötig, die Logik der Funktionalitätsschicht zu formalisieren bzw. dokumentieren.38 Das TEI Processing Model39 ist ein Ansatz, der in diese Richtung geht, der allerdings derzeit lediglich im Rahmen des TEI Publisher-Frameworks40 zum Einsatz kommt. Die Konservierung und vollumfängliche Verfügbarhaltung digitaler Editionen auf Ebene der Funktionalitäten und Präsentation erfordert grundsätzlich kontinuierliche Ressourcen, die Projektlaufzeiten übersteigen. Die ,Flüchtigkeit‘ der Präsentationsschicht sehen Magdalena Turska, James Cummings und Sebastian Rahtz als Kerncharakteristikum digitaler Editionen. Zur Überwindung schlagen sie vor, die Daten zur Primärpublikation zu erheben: Therefore in digital editions the encoded texts themselves are the most important longterm outcome of the project, while their initial presentation within a particular application should be considered only a single perspective on the data. Any given view will be far from unique or canonical, as different usage scenarios call for different presentations – ranging from ‘reading text’ to ‘interactive version’ with popup content, to chart, graph, or map representations and beyond. Furthermore, all initial presentations are also ephemeral, bound to be either modified over time as technologies and forms of digital publishing change, or languish in obsolescence on a forgotten server.41 35
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Daten der Edition ,Jean Paul – Sämtliche Briefe digital‘. Hrsg. i. A. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften von Markus Bernauer / Norbert Miller / Frederike Neuber. 2018–2022. doi.org/10.5281/zenodo.4109518. Die Verwendung von Zenodo erfolgt in Kombination mit dem Versionsverwaltungssystem GitHub, auf dem die Daten ebenfalls zugänglich sind: https://github.com/telota/jean paul briefe (Stand: 18.02.2022). Siehe https://zenodo.org (Stand: 18.02.2022); das digitale Repositorium wird von der Europäischen Union finanziert und von OpenAIRE und CERN betrieben. Es wird vorranging zur Publikation wissenschaftlicher Datensätze verwendet und akzeptiert von ,klassischen‘ PDFs über Daten und Software bis hin zu Videos sämtliche Publikationsformen. Siehe u. a. The Endings Project (Anm. 13), das neben Tools zur langfristigen Verfügbarkeit digitaler Ressourcen auch Prinzipien für die Entwicklung der Daten-, Verarbeitungs- und Präsentationsschicht etabliert; Czmiel 2016 (Anm. 7). Vgl. Boot / Zundert 2011 (Anm. 11). Vgl. Meier, Wolfgang / Turska, Magdalena: TEI Processing Model Toolbox: Power To The Editor (Abstrakt eines Vortrags auf der Konferenz Digital Humanities 2016). Krakau 2016, S. 936. https://dh2016.adho.org/abstracts/401 (Stand: 18.02.2022). https://teipublisher.com/index.html (Stand: 18.02.2022).
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Bei Verfügbarkeit der Daten unter freien Lizenzen kann die Leserschaft bzw. ,Nutzerschaft‘ selbst aktiv Teil des Editionsprozesses werden: Durch die Nachnutzung der Daten mit vorhandenen Tools – wie beispielsweise zur automatischen Kollationierung42 – entstehen neue, von der ursprünglichen Edition unabhängige User Interfaces. Daten und Präsentation haben beide Vor- und Nachteile in der Lektüre, Nutzung und Rezeption. Am fruchtbarsten ist ein Zusammenspiel beider ,Textschichten‘, doch auch dann gilt das von Dot Porter beschriebene Verhältnis: Excellent, robust data with no interface isn’t easily usable (although a creative person will always find a way), but an excellent interface with terrible data or no data at all is useless as anything other than a show piece.43
Der ,editorische Kerntext‘ liegt in den Daten. Ihre Publikation bringt zusätzliche Ermächtigung und Flexibilität für die Leserschaft, beispielsweise bei der Einbindung in neue User Interfaces mit anderer ,Textperspektive‘. Technologisch betrachtet ist die Datenebene nachhaltiger und mit vergleichsweise geringerem Aufwand pfleg- und archivierbar. Bleibt nur noch die Frage, wie die Datenschicht Teil der Lektüre und Rezeption im wissenschaftlichen Diskurs werden kann.
3. Datenzentrierte Lektüreformen Wie eingangs erwähnt, soll die Diskussion um den digitalen Editionstext dazu beitragen, das bestehende Missverhältnis zwischen den technologischen Erstellungsverfahren und den weitestgehend analog geprägten Rezeptionsformen zu reharmonisieren. Um dies zu erreichen, muss die technologische Vielschichtigkeit digitaler Editionen bzw. der Status der Daten als editorischer Kerntext bei der Lektüre und Referenzierung eine größere Rolle spielen. An die Herausgeberschaft und die Leserschaft digitaler Editionen ergeben sich folgende (An-)Forderungen für eine datenzentrierte Lektüre von Editionen: Um Daten zu lesen und zu referenzieren, müssen sie verfügbar sein, und zwar mindestens zum Download, damit neben der Lektüre – vorausgesetzt die Lizenzvergabe lässt dies zu – eine Einbindung in andere Interface-Kontexte möglich ist. Die Vorteile der Detaillektüre von Daten wurden anhand einiger Beispiele erläutert, welche, was die Bereitstellung der Daten angeht, aber eher die 41
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Turska, Magdalena / Cummings, James / Rahtz, Sebastian: Challenging the Myth of Presentation in Digital Editions. In: Journal of the Text Encoding Initiative, Bd. 9. September 2016-Dezember 2017. doi.org/10.4000/jtei.1453. Roeder, Torsten: Review of Juxta Web Service, LERA, and Variance Viewer. Web based collation tools for TEI. RIDE 11. 2020. doi.org/10.18716/ride.a.11.5. Porter, Dot: ,What is an edition anyway?‘ My Keynote for the Digital Scholarly Editions as Interfaces conference. Graz 2016. https://www.dotporterdigital.org/what-is-an-edition-anywaymy-keynote-for-the-digital-scholarly-editions-as-interfaces-conference-university-of-graz (Stand: 18.02.2022), vorletzter Absatz.
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Ausnahme als die Regel bilden: Unter den 316 digitalen Editionen aus Greta Franzinis Katalog44 stellen lediglich rund 22% ihre Daten zum Download bereit. Eine Darstellung der XML-Struktur als ,Textansicht‘ in der Präsentation, wie sie die Carl-Maria-von-Weber-Gesamtausgabe anbietet45 und womit der Status der Daten als editorischer Kerntext gestärkt wird, ist eher selten. Gerade eine parallele Ansicht von ,Interface-Text‘ und ,Daten-Text‘ (und ggf. Faksimile), wie sie in der Edition der Berliner Intellektuellen implementiert ist, eignet sich für die vergleichende und medienübergreifende Lektüre.46 Damit die Daten richtig interpretiert werden, muss außerdem das ihnen zugrundeliegende Regelwerk zur Verfügung stehen, i. e. Dokumentation und Schemata. Editionsrichtlinien, welche die Leitlinien der philologischen Bearbeitung und der Kodierung kombiniert vermitteln, wie beispielsweise in der edition humboldt digital,47 wären dabei der Königsweg. Damit neben der Lektüre eine langfristige Referenzierbarkeit der Editionstexte gesichert ist, sollte die Speicherung der Daten in einem digitalen Repositorium erfolgen. Die Daten sollten versioniert und mit eindeutigen Identifikatoren (DOIs) versehen sein. Für die Zitation bedeutet das Verständnis der Daten als Kerntext, dass neben der URL, mit welcher der sichtbare ,Interface-Text‘ referenziert wird, auch jeweils ein Link zum zugrundeliegenden Datensatz verfügbar sein muss. Bei Datenpublikation und -speicherung auf zuverlässigen Plattformen bleiben Referenzierungen auch im Falle eines Ablebens der Präsentationsschicht gültig. Referenziert werden sollte jeweils die Version der Daten, auf deren Grundlage der Text im Interface zum Zeitpunkt einer Zitation generiert wurde. Die Herausgeberseite sollten es der Leserschaft hier leicht machen und entsprechende Zitierhinweise anbieten, wie sie beispielsweise das Patristische Textarchiv anbietet.48 Dort erfolgt die Datenversionierung via GitHub-Commits, d. h. über ein Versionsverwaltungsystem. Der im User Interface der Edition angebotene Zitierhinweis umfasst den Permalink der Ansicht sowie die Versionsnummer des Daten-Commits.49 Kommen wir nun zu Anforderungen, die sich für die Leserschaft ergeben, wenn man die Daten zum edierten Kerntext erhebt: 44 45 46 47
48 49
Franzini, Greta / Andorfer, Peter / Zaytseva, Ksenia: Catalogue of Digital Editions: The Web Application. 2016. https://dig-ed-cat.acdh.oeaw.ac.at (Stand: 18.02.2022). Vgl. Anm. 12. Vgl. Baillot 2022 (Anm. 31). Vgl. edition humboldt digital (Version 7). Hrsg. von Ottmar Ette. 2016–2021. https://edition-humb oldt.de; Editionsrichtlinien: https://edition-humboldt.de/richtlinien/index.html (Stand: 18.02.2022). Patristic Text Archive. Hrsg. von Annette von Stockhausen, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften. Berlin 2019. https://pta.bbaw.de/pta (Stand: 18.02.2022). Ein beispielhafter Zitiervorschlag lautet: „Amphilochius Iconiensis: Epistula synodalis, edited according to Annette von Stockhausen (Editor). Patristic Text Archive 2019. Version: 9970133a, committed on 2021–11–25. https://pta.bbaw.de/text/urn:cts:pta:pta0013.pta003.pta-grc1 (Stand: 18.02.2022).“
Der digitale Editionstext
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Die Fähigkeit, Daten kritisch zu organisieren, zu bewerten und zu interpretieren bezeichnet man heutzutage als „Data Literacy“. Daten sind mittlerweile in allen Lebensbereichen omnipräsent, was ihre Lesefähigkeit zu „eine[r] zentrale[n] Kompetenz für die Digitalisierung und die globale Wissensgesellschaft in allen Sektoren und Disziplinen“50 macht, insbesondere in der Philologie und den editorisch arbeitenden Wissenschaften. Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler haben oft Vorbehalte, sich mit Daten zu beschäftigen, da sie sie diese Kompetenz als jenseits des eigenen Metiers verorten. Dahinter steckt zum Teil aber auch die Erwartungshaltung an das ,Digitale Medium‘, dass sich bei der Lektüre und Rezeption ja nichts ändern solle. Nach 40 Jahren digitaler Editionstheorie- und praxis, in denen der Medienwandel wissenschaftliche Editionen bis in ihre theoretischen Fundamente verändert hat, ist diese Erwartungshaltung überholt. Heutzutage sind alle Editionen – zumindest in der ein oder anderen Form – digital und philologische und medienspezifische Methoden überhaupt nicht mehr voneinander zu trennen. Die TEI ist kein Vokabular einer ,technischen Elite‘, sondern wird von einer Gemeinschaft, der vorrangig Philologinnen und Philologen angehören, entwickelt. Da die Zukunft der Edition unaufhaltsam digital sein wird, sollte sich jede und jeder, der aktiv ediert oder regelmäßig Editionen konsultiert, zumindest in den Grundzügen mit der TEI vertraut machen. Die TEI bzw. Datenstrukturen im Allgemeinen sind Informationssysteme, wie es heute und in der Vergangenheit komplexe Apparate, Diakritika oder andere typografische Systeme waren. Auch diese Informationssysteme mussten von den Rezipientinnen und Rezipienten (oft immer wieder aufs Neue) entschlüsselt und rekodiert werden. Nun ist es an der Zeit, Lektürekompetenzen für Daten zu erlernen. Es steht außer Frage, dass digitale Editionen User Interfaces brauchen. Die Präsentationsschicht als informationsvermittelnde und -bündelnde Oberfläche wird auch zukünftig für die breite Leserschaft der erste Zugang zum Text bleiben. Dennoch wird die Rezeptionsseite früher oder später, wenn die Textdaten von Seite der Produktion verfügbar, lesbar und referenzierbar gemacht werden, stärker für den editorischen Kerntext in den Daten sensibilisiert sein. Wie tief der Umgang mit den Datenstrukturen dann tatsächlich ausfällt, ob die Daten punktuell konsultiert, ausgiebig gelesen oder gar nachgenutzt und analysiert werden, hängt von der jeweiligen Rezipientin ab. Die ,Reharmonisierung‘ der medialen Systeme von der Produktion und Rezeption digitaler Editionen wäre damit jedenfalls ein ganzes Stück weiter.51 50
51
Heidrich, Jens / Bauer, Pascal / Krupka, Daniel: Strukturen und Kollaborationsformen zur Vermittlung von Data-Literacy-Kompetenzen (hochschulform digitalisierung), Arbeitspapier 32, Mai 2018. https://hochschulforumdigitalisierung.de/sites/default/files/dateien/HFD AP Nr32 Data L iteracy Kompetenzen Literatur.pdf (Stand: 18.02.2022), S. 6. Ich danke Andreas Dittrich und Christian Thomas für den Austausch zu meinem ursprünglichen Beitrag und die Impulse für die finale Fassung.
II. Textgrenzen abstecken – Überlegungen zum Spannungsverhältnis Autor*in und Editor*in
Vanessa Hannesschläger
Wessen Text? Urheber*innen (in) der digitalen Edition
1. Einleitung In diesem Beitrag wird den Textgrenzen in der digitalen Edition anhand der Leitfrage nachgegangen, wer das Urheber*innenrecht an einer Edition besitzt. Das Werk der* Autor*in eines edierten Texts verschmilzt untrennbar mit der Arbeit der* Editor*in. Die Arbeit letzterer* wird in gegenwärtigen editionswissenschaftlichen Diskursen oft mit den Begriffen „Beiwerk“ (zum Werk)1 oder „Kontext“ (zum Text)2 zu fassen versucht. So gerät leicht aus dem Blick, dass auch diese Zugabe, die die editorische Arbeit bedeutet, selbst Werk, selbst Text ist. Das führt nicht nur zu urheber*innenrechtlichen, sondern auch zu ontologischen Verwebungen, denen es nachzuspüren gilt. Als illustratives Beispiel wird dafür im Lauf dieses Beitrags immer wieder die im Entstehen befindliche digitale Edition der Notizbücher Peter Handkes herangezogen, die aufgrund der Ausgangssituation – Arbeit an unpublizierten Texten eines lebenden Autors – eine besonders spannende Problemlage bietet.3 Die Überlegungen, die hier unternommen werden, stehen daher unter der Prämisse, dass ein*e noch lebende*r Autor*in einer* ebensolchen Editor*in gegenübersteht.4 Somit geht es um die Rolle solcher Editor*innen, die sich zu einem mehr 1
Vgl. etwa den Titel der achtzehnten internationalen Tagung der Arbeitsgemeinschaft für germanistische Edition (12. bis 15. Februar 2020, Marbach): „Werk und Beiwerk“. 2 Vgl. etwa den Titel „((Kontext (Text)) Edition) Rekontext“. Patrick Sahle: ((Kontext (Text)) Edition) Rekontext. In: Rekontextualisierung als Forschungsparadigma des Digitalen. Hrsg. von Simon Meier-Vieracker / Gabriel Viehhauser / Ders. Norderstedt 2020 (Schriften des Instituts für Dokumentologie und Editorik 14), S. 21–32. https://kups.ub.uni-koeln.de/29398/ (Stand: 21.04.2022). 3 Das Projekt Peter Handke Notizbücher. Digitale Edition wird von 2021–2024 als gemeinsames Projekt des Deutschen Literaturarchivs Marbach sowie des Literaturarchivs und der Abteilung für Forschung und Entwicklung der Österreichischen Nationalbibliothek umgesetzt. Ediert werden 22 Notizbücher aus den Jahren 1976–1979, die als solche unpubliziert sind und Grundlage sowohl für Prosa und Bühnenarbeiten Handkes, aber auch für seine Auszüge aus den Notizbüchern gruppierenden Journalen sind. Siehe: Peter Handke Notizbücher. Digitale Edition. Hrsg. vom Deutschen Literaturarchiv Marbach / Österreichische Nationalbibliothek. Wien, Release 22.03.2022. https://edition.onb.ac.at/handke-notizbuecher (Stand: 21.04.2022). 4 Zum Verhältnis von Forscher*innen zu lebenden Beforschten und insbesondere zu seinen juristischen Implikationen im österreichischen und kroatischen Recht, auch hier am Beispiel Peter Handkes, vgl. Vanessa Hannesschläger: Visibility through accessibility: Peter Handke as a case study for digitizing copyrighted cultural heritage. In: Empowering Visibility of Croatian Cultural
https://doi.org/10.1515/9783111006147–006
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Vanessa Hannesschläger
oder weniger deutlichen oder diffusen Autor*innenwillen verhalten müssen – also (Neu-)Philolog*innen, nicht Altphilolog*innen oder Historiker*innen (deren urhebende Beteiligung an der auch digitalen Edition vor einem noch einmal anderen Hintergrund zu denken ist, wobei insbesondere die im Folgenden angestellten Überlegungen zum Teamgefüge der digitalen Edition auch auf sie zutreffen). Es gilt vorauszuschicken, dass Urheber*innenschaft, die im zweiten Abschnitt dieses Beitrags en de´tail definiert und analysiert wird, im Folgenden der gängigen europäischen Rechtsprechung entsprechend mit relativ niederschwelliger Schöpfungshöhe verstanden wird. Nicht nur Autor*innen und ggf. Editor*innen, auch Programmierer*innen, Archivar*innen oder Transkriptor*innen sind demnach als Urheber*innen zu sehen.
2. Problemaufriss Weil die Kontexte in die Textkonstitution einfließen und weil die Textkonstitution verschiedene Segmente abdecken oder ausblenden kann, gilt, dass selbst in der Textwiedergabe die Grenze zwischen Text und Kontext nicht klar bestimmt werden kann. Was dem Einen integraler Bestandteil des Textes ist, wird die Andere davon unterscheiden wollen und als Kontext bezeichnen.5
In der digitalen Edition wird jener Text, der als Werk im Zentrum des Interesses der Editor*innen steht, in noch einmal neuer Weise mit seinem Beiwerk verstrickt. Was Menschen einander auf einem Blatt Papier mittels eines geteilten Weltwissens kommunizieren können – zum Beispiel: hier endet eine Zeile und das Wort, das am Ende der Zeile begonnen wurde, wird in der folgenden Zeile fortgesetzt – muss Maschinen in einer expliziten Sprache mitgeteilt werden: . Diese Explikation von für Menschen implizit rezipierbarer Information ist in der digitalen Editorik Teil der Arbeit am Beiwerk. Doch wessen Urheber*innenschaft entspringt ein Zeilenumbruch? Gehört er selbst zum Werk der* Autor*in oder seine Explikation zum Beiwerk der* Editor*in? Komplexer wird die Angelegenheit, wenn das, was explizit gemacht wird, nicht eindeutig ist, sondern bereits eine interpretative Entscheidung verlangt. Ein paar alltägliche Beispiele aus der Handke-Edition, die jede*r Editor*in kennt: Ist das Schmutz oder ein Beistrich an der falschen Stelle? Ist das ein fälschlicherweise kleiner Buchstabe am Satzanfang, oder kann man der* Autor*in nicht fehlerhaftes Schreiben unterstellen, wenn ihre* kleinen und großen s / S beinah gleich aussehen? Wenn etwas so durchgestrichen ist, dass das Entziffern nur mehr ausgewählter Buchstaben möglich ist, darf ich dann transkribieren, was ich weiß, dass da steht? Oder bleibt es beim „Katz nb ckel“? Braucht es hierfür
5
Heritage. Selected Papers from the 2nd International Symposium on Digital Humanities. Hrsg. von Marijana Tomic´ / Nives Tomasˇevic´ / Mirna Willer. Cambridge 2020, S. 112–128. Sahle 2020 (Anm. 2), S. 23.
Wessen Text? Urheber*innen (in) der digitalen Edition
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einen Sachkommentar? – Die Antworten werden oft vom Typ der Edition und der grundsätzlichen Strategie der* Editor*in vorgegeben. In der digitalen Edition müssen Unschärfen und die gewählten Lesarten aufgrund der möglichen Parallelität von verschiedenen Textansichten mitunter detaillierter abgebildet werden, als entstünde ,nur‘ eine kritische, ,nur‘ eine Faksimile- oder ,nur‘ eine Leseausgabe. Und die Entscheidungen der* Editor*in müssen in maschinenlesbarer Form ausgedrückt werden.6 Nicht der einzige, aber einer der bedeutendsten Gründe dafür, dass editorische Entscheidungen überhaupt maschinenlesbar gemacht werden, also Computerprogrammen die Interpretation des digital edierten Texts ermöglicht wird, ist die digitale Darstellung der so erfassten Informationen – das Interface. Es stellt als Teil der Argumentation der* Editor*in eine erweiterte Dimension des Beiwerks dar.7 Dabei ist das Interface selbst in den seltensten Fällen Werk der* Editor*in selbst: Vielmehr wird es von der* Programmierer*in und oft auch der* Grafiker*in geschaffen, die in enger Zusammenarbeit mit der* Editor*in die Darstellungsformen entwickeln, um die Codierung des Texts an seine Leser*innen zu vermitteln. Es entsteht eine gemeinsame Urheber*innenschaft am Endprodukt digitale Edition, die sich aus mehr als nur der Summe der Teil-Urheber*innenschaften (an Ausgangstext, editorischem Beiwerk, verarbeitendem Code, Design) zusammensetzt. Dieses Beziehungsgefüge ist hier Gegenstand des Interesses.
3. Teil 1: Rollen Um sich der Frage nach der Urheber*innenschaft in der (digitalen) Edition sinnvoll nähern zu können, muss man zuerst ein Verständnis der Rollen der Beteiligten entwickeln. Bevor man aber überhaupt einen näheren Blick auf das Gefüge im Editionsteam werfen kann, muss man die Beziehung zum Gegenüber dieses Teams, also der* Autor*in, untersuchen. Und dann gibt es noch die dritte Akteur*innengruppe, die spätestens in der digitalen Edition an der Autor*innenschaft des Texts teilzuhaben beginnt: Das sind die Rezipierenden. Ihnen ist das Ende dieses Abschnitts gewidmet. 3.1 Editor*in vs. Autor*in Wie Patrick Sahle in seinem Standardwerk zu digitalen Editionsformen ausführt, hat sich die Rolle der* Editor*in im Verlauf der Geschichte der Editionspraxis 6 7
Wobei diese maschinenlesbare Form zunehmend auch wiederum von Menschen rezipiert wird oder werden sollte; vgl. dazu auch den Beitrag von Frederike Neuber in diesem Band. Vgl. Tara L. Andrews / Joris J. van Zundert: What Are You Trying to Say? The Interface as an Integral Element of Argument. In: Digital Scholarly Editions as Interfaces. Hrsg. von Roman Bleier u. a. Norderstedt 2018 (Schriften des Instituts für Dokumentologie und Editorik 12), S. 3–33. https://kups.ub.uni-koeln.de/9085/ (Stand: 21.04.2022).
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Vanessa Hannesschläger
und je nach Disziplin, die diese zur Anwendung bringt, unterschiedlich ausgeformt und gewandelt.8 Das betrifft insbesondere in den Philologien eine*n weitere*n Akteur*in im Editionsgeschehen direkt, nämlich die* Autor*in. Wer hier wem dient und wer eigentlich das ,Genie‘ mit dem größten denkbaren, oder gar dem Allwissen über den Text, seine Bedeutung und seine Absichten ist, ist schon seit einer ganzen Weile nicht mehr eindeutig. Das Spannungsfeld rund um die (Text-)Autorität im Editionsdiskurs entstand schon früh: Die philologische Edition mit dem Leitbild der entwickelten historisch-kritischen Ausgabe wurde als konsistentes System durch die Idee des Textes als literarischem Kunstwerk in abgeschlossener Gestalt bestimmt. Als finale Ausformung der Autor[*innen]absicht bildete die kritische Edition eine Zielform, die inhaltlich und sprachlich in einen vorgegebenen literarästhetischen Rahmen eingepasst werden musste. Sinn und Ausdruck blieben nicht durch die Autorität der Individualität de[r*] Autor[*in] geschützt, sondern wurden einem philologisch-literaturwissenschaftlichen Diskurs unterworfen, dessen Ansprüche an Regelhaftigkeit zu erfüllen waren.9
Somit wurde das Genie nicht einfach abgeschafft, sondern vom (untersuchten) Individuum in die (untersuchende) Disziplin verlagert, die den Anspruch auf die Determinierung des Soll-Zustands des Texts bzw. des Kunstwerks erhebt: „D[ie*] Testamentsvollstrecker[*in] verfügt diktatorisch über das Erbe, das ih[r*] niemand zugesprochen hat.“10 Die copy-text-Theorie, die sich aus der kritischen Bibliographie heraus entwickelte,11 unterscheidet sich von diesem editor*innenzentrierten Ansatz zwar in vielen Aspekten, gemeinsam ist beiden aber die schlussendliche Konstruktion eines vorgestellten, nicht vorgefundenen Texts – durch die* Editor*in. Anders geht die überlieferungskritische bzw. textgeschichtliche Edition vor, die den Kontext ins Zentrum stellt. Wenngleich zwischen dem Diktat der historisch-kritischen Testamentsvollstrecker*innen und der textsoziologisch orientierten Edition viel geschehen ist und sich die Ansätze in ihren Ergebnissen fundamental unterscheiden, muss doch der Diagnose widersprochen sein, dass letztere „das glatte Gegenteil jener autor[*innen]intentionalen Tradition“12 verträte, die erstere darstellt. Denn in Wirklichkeit versucht auch dieser Ansatz, der* Autor*in, ihrem* Willen und ihrer* Persönlichkeit auf die Schliche zu kommen, wenn auch umfassender als ,nur‘ in Bezug auf einen einzelnen ihrer* Texte: 8
9 10 11 12
Vgl. Patrick Sahle: Digitale Editionsformen. Zum Umgang mit der Überlieferung unter den Bedingungen des Medienwandels. Teil 1: Das typografische Erbe. Norderstedt 2013 (Schriften des Instituts für Dokumentologie und Editorik 7). https://kups.ub.uni-koeln.de/5351/ (Stand: 21.04.2022). Sahle 2013 (Anm. 8), S. 143. Sahle 2013 (Anm. 8), S. 140. Sahle 2013 (Anm. 8), S. 167ff. Sahle 2013 (Anm. 8), S. 190.
Wessen Text? Urheber*innen (in) der digitalen Edition
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Was hatte d[ie*] Autor[*in] um [ihr*] literarisches Werk herum noch alles – auch auf nicht-literarischen Feldern – geschrieben? Was hatte [sie*] gelesen und exzerpiert? Mit wem hatte [sie*] in Kontakt gestanden und vielleicht korrespondiert? Was mochte [sie*] beeinflusst haben und wo waren Spuren [ihres*] Denkens als Niederschlag in anderen Überlieferungsformen zu finden?13
Wer diesen Fragen nachgeht, hat sich von der Frage nach der Autor*innenintention nicht verabschiedet. Dieser Befund trifft auch auf die Handke-Edition zu, die sich mit exakt diesen Fragen beschäftigt. Die Diskussion um die adäquaten Indices, Visualisierungen und anderen Beigaben, die in dieser Edition ebenso wie von vielen anderen Teams in vielen aktuellen digitalen Editionen geführt werden, wurzelt in der Tatsache, dass die digitale Edition zeitgenössischer Literatur im deutschsprachigen Raum eindeutig in der Tradition der textgeschichtlichen Edition steht. Die* Autor*in wird, mitunter zu Lebzeiten, historisiert, und hat vielleicht sogar weniger „dabei etwas mitzureden“ als „dazu etwas beizutragen“. Wer lebende Autor*innen ediert, schreibt sich in ihre Texte unauslöschbar ein, noch unauslöschbarer als ein*e historisch-kritische*r Editor*in, deren* Ausgabe ja immerhin verworfen und eine andere gemacht werden könnte. Das ist ein Phänomen, das sich erst mit dem Aufkommen der Mode der VorlassÜbergabe entwickelt hat: Wenn Autor*innen Material bereits zu Lebzeiten an Archive übergeben und Editor*innen, immer noch zu Lebzeiten, beginnen, dieses Material zu veröffentlichen, entsteht durch die zumindest theoretische Möglichkeit der Rückfrage, wie Dinge zu verstehen seien, eine größere Textautorität (der* Editor*in), als wenn die* Editor*in nach dem Ableben ebenso zum ,Erraten‘ der Autor*innenintention gezwungen wäre wie alle anderen das Material beforschenden Personen. Im digitalen Zeitalter sind wir vom Tod der* Editor*in weiter entfernt denn je, und auch die* Autor*in hat sich zurückgemeldet. Exkurs: Editor – in – nen Im Fallbeispiel, das diesem Vortrag den Ausgangspunkt bietet, entsteht das Spannungsfeld der Deutungsmacht zwischen dem Nobelpreisträger Peter Handke und nicht nur bloß ,seinem Editor‘, sondern seinen Editorinnen. Das reflektiert zwei Aspekte des gegenwärtigen Zustands der Editionswissenschaft, die nicht bzw. noch nicht lange selbstverständlich sind: 1. Es bearbeiten, deuten, edieren den Text drei weiblich sozialisierte Menschen. Diese Tatsache sei hier bloß erwähnt. Die Frage nach Geschlechtsidentität und Deutungsmacht in der Philologie, Kanonbildung und Edition verdient mehr Aufmerksamkeit, als dass sie hier im Vorübergehen abzuhandeln wäre. 2. Diese drei Menschen arbeiten gleichberechtigt im Team. Nicht ein Editor*innengenie tritt einem Autor*innengenie gegenüber oder an die Seite, son13
Sahle 2013 (Anm. 8), S. 189.
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dern eine Gruppe einem einzelnen. Urheber*innenschaft am Text verteilt sich also nicht mehr zwischen zwei Personen, sondern zwischen mehreren und innerhalb dieser mehreren wieder zwischen einer und mehreren anderen. Das Autor*innengenie ist somit in der Minderheit. 3.2 Digitale Edition: Team effort Doch damit nicht genug. In der Printedition hatte die* Autor*in in der allgemeinen Wahrnehmung mit der* Editor*in, vielleicht den Editor*innen, einen Gegen- oder Co-Part. Alle weiteren Beteiligten (Institutionen, Verlage, Archive, Setzer*innen etc.14) wurden lange generell – und schon immer fälschlicherweise – in einer bloßen Dienstleistungs- oder sonstigen Beihilfe-Beziehung (z. B. Finanzierung, Infrastruktur etc.) zur Edition aufgefasst.15 In der digitalen Edition rückt die sinn- und bedeutungsstiftende und -alterierende Dimension der ,technischen Aspekte‘ weiter ins Zentrum des Diskurses. Indem hier die Struktur und Strukturierung, und das heißt: die vorausgegangene menschengemachte, nicht naturgegebene oder vorgefundene Modellierung von Daten in ihrer vollen Tragweite ins Bewusstsein rückt, weil ohne sie im digitalen Raum die Arbeit gar nicht beginnen kann, wird auch die wirklichkeitsstiftende Macht der bisher höchstens als „Hilfswissenschaften“ wahrgenommenen Zu-Arbeiten deutlicher erkannt. Als Beispiel sei das Archiv und die archivarische Ordnung genannt,16 als illustrative Anekdote der Nachlass Friederike Mayröckers. Die 2021 verstorbene österreichische Schriftstellerin stapelte jahrzehntelang beschriebene Papiere in zwei Wohnungen; gelegentlich über tischhohe Stapel gebreitete Tücher, die mit weiteren Stapeln bedeckt wurden, bildeten in dieser nun zum Nachlass gewordenen Lebenswerk-Papierlandschaft eher zufällige Zäsuren.17 Wie genau ihre publizierten Bücher aus diesen Bergen von verschriftlichten Gedanken entstanden sind, wird wohl nie bis ins Detail zu rekonstruieren sein. Fest steht aber, dass jede künftige editorische Annäherung an Mayröckers Werk geprägt, geleitet 14
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Vgl. Patrick Sahle: Digitale Editionsformen. Zum Umgang mit der Überlieferung unter den Bedingungen des Medienwandels. Teil 2: Befunde, Theorie und Methodik. Norderstedt 2013 (Schriften des Instituts für Dokumentologie und Editorik 8), S. 76–100. https://kups.ub.unikoeln.de/5352/ (Stand: 21.04.2022). Vgl. Siegfried Mattl: What’s next: Digital History? In: Bananen, Cola, Zeitgeschichte: Oliver Rathkolb und das lange 20. Jahrhundert, Bd. 2. Hrsg. von Lucile Dreidemy u. a. Wien / Köln / Weimar 2015, S. 1041–1052, insbes. S. 1044. Zum Verhältnis des (Literatur-)Archivs zum digitalen Raum und der Wechselseitigkeit von digital humanities und mitunter vor-digitalen Datensystematisierungen und -erfassungen durch (Literatur-)Archive vgl. Vanessa Hannesschläger: Analoge Literatur, digitale Forschung: Perspektivenverschiebung in Online-Projekten von Literaturarchiven. Berlin 2017 (Transformationen von Wissen und Wissenschaft im digitalen Zeitalter). Vgl. Klaus Kastberger: Nachlassbewusstsein, Vorlass-Chaos und die Gesetze des Archivs. In: Recherche, 2014, S. 22–26.
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und geradezu abhängig sein wird von der Arbeit, die die Archivar*innen des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek seit Sommer 2021 leisten. Das Papier wurde gereinigt und aus der Wohnung ins Literaturarchiv gebracht, wo es in eine, irgendeine (!), systematische Ordnung zu bringen ist. Fotos der Wohnung und Positionsangaben der Papierstapel sind Krücken, eine Erhaltung oder befriedigende und aussagekräftige Dokumentation des „Originalzustands“ schlechterdings undenkbar. Die konstruierte Ordnung, die in den kommenden Jahren vom Archiv geschaffen wird und werden muss, um den Bestand überhaupt benutzbar zu machen, bedeutet die Schöpfung einer Wahrheit, die nicht mehr aufzuheben sein wird und auf der jede künftige Edition basiert. Das Archiv entwirft mit der Archivordnung also eine Struktur, in die die ,Rohdaten‘, also die Papiere, eingefügt werden. Soll sie etwa weniger eigentümliche geistige Schöpfung sein als, zum Beispiel, die Abschrift einer maschinenbeschriebenen Seite, die ein*e spätere*r Editor*in von einem OCR-Programm erkennen lässt und korrekturliest? Datenstruktur gibt Wirklichkeit nicht wieder, sondern schafft sie erst oder entwirft sie auf eine gewisse – und eben nicht eine andere mögliche – Art. Das gilt im Archiv, und das gilt auch im Internet. Daher sind es nicht (und waren es nie) die Editor*innen allein, denen Co-Urheber*innenschaft am edierten Text entsteht, sondern auch die Archivar*innen und Setzer*innen, im digitalen Raum außerdem und vor allem die Datenkurator*innen und die Entwickler*innen. Denn wesentlicher als die Entscheidung, ob auf dem Papier ein s oder ein S steht, ist die Entscheidung, ob und wie man diese unsichere Lesart erfasst, ausdrückt und wiedergibt. Alle Beteiligten konstruieren die von der digitalen Edition proklamierte Wirklichkeit gemeinsam. Zu erwähnen, weil bislang noch nicht erwähnt, sind hier auch studentische und wissenschaftliche „Hilfskräfte“, die z. B. Datensammlungen und Rohtranskriptionen anfertigen: Wer schon einmal parallel selbst transkribiert und Fremdtranskriptionen Korrektur gelesen hat, weiß, wie einflussreich die Macht des Faktischen, nämlich des bereits transkribierten Worts im Vergleich zum leeren Blatt, bei der Erkenntnis dessen ist, was da „wirklich“ steht. Eine Ersttranskription ist eine ähnlich mächtige Denkvorlage wie eine Archivordnung. Ganz und gar nicht ist es daher eine einfache mechanische Arbeit, die von den Ersttranskriptor*innen geleistet wird, sondern die immens einflussreiche Grundlage und Basis dessen, was später der „gesicherte Text“ wird. Auch beim Erwägen des Einsatzes von OCR- (Optical Character Recognition) bzw. HTR- (Handwritten Text Recognition) Software für editorische Unternehmungen ist das zu bedenken.
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Vanessa Hannesschläger
3.3 Digitale Edition entsteht durch Rezeption, aka: Interface Die Rezipierenden kommen als Mit-Urheber*innen in dem Bereich ins Spiel, wo eine Edition über die bloße Textdarstellung hinausgehende Funktionen anbietet.18 Eine interaktive Karte oder Grafik, eine individuell zusammenstellbare und vielleicht gar weiter analysierbare Datenauswahl, ein adaptierbarer Index, eine komplexe Suchmaske (um gar keine allzu kreativen Beispiele zu nennen) können Teil einer digitalen Edition sein. Diese Elemente geben nicht nur bereits eine implizite oder explizite Interpretation des Präsentierten wieder,19 sondern distanzieren sich paradoxerweise gleichzeitig von der interpretativen Aufgabe des Edierens. Sie wird so den Nutzer*innen überantwortet, die selbst entscheiden müssen, wie sie die vorhandenen, von den Schaffer*innen der Edition gebauten Daten rezipieren. Dasselbe geschieht bereits bei vermeintlich selbstverständlichen Basisfeatures von digitalen Editionen wie der Wahlmöglichkeit zwischen Lesetext, digitalem Faksimile, XML-Daten und diplomatischer Fassung. Die Rezipierenden verfassen so vielleicht nicht die Edition an sich, aber bestimmen doch bei jeder Nutzung mit, welchen (Teil des) edierten Text(s) sie rezipieren.
4. Teil 2: Urheber*innenrecht: Who’s who & what’s what Für das Thema dieses Aufsatzes sind zwei Bereiche des Urheber*innenrechts von besonderer Bedeutung, deren Definitionen einem ,close reading‘ unterzogen werden sollen: das Werk (und seine Bearbeitung) sowie die* Urheber*in (bzw. die Miturheber*innen). Im Folgenden werden daher die Definitionen dieser Begriffe im deutschen20 und österreichischen21 Urheber*innenrechtsgesetz (UrhG) miteinander verglichen. Die für Editor*innen interessanten Bestimmungen zur editio princeps werden hier nicht näher ausgeführt, weil diese nur dann zur Anwendung kommen, wenn die Schutzfrist bereits erloschen ist und die Rechte 18
19 20
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Das geschah bzw. geschieht im Handke-Projekt bereits am Anfang der Laufzeit. Dieser Zeitpunkt hat sich für die Entwicklung von Interfaces mittlerweile als best practice der digitalen Editorik etabliert, weil ja das Datenmodell für die Verarbeitung durch den extra für es geschriebenen Code optimiert sein sollte, anstatt dass am Ende eine Funktionalität und ein Design auf eine sie nicht unterstützende Datenstruktur angewandt wird. Anders argumentierte, sozusagen implizit im Titel, Roberto Rosselli Del Turco noch im Jahr 2011 mit „After the editing is done: designing a Graphic User Interface for Digital Editions“ (Hervorhebung VH; Roberto Rosselli Del Turco: After the editing is done: Designing a Graphic User Interface for digital editions. In: Digital Medievalist, 7, 2011. doi.org/10.16995/dm.30). Vgl. Andrews / van Zundert 2018 (Anm. 6), insbes. S. 4–8. [Deutsches] Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (Urheberrechtsgesetz) vom 9. September 1965 (BGBl. I S. 1273), das zuletzt durch Artikel 25 des Gesetzes vom 23. Juni 2021 (BGBl. I S. 1858) geändert worden ist. https://www.gesetze-im-internet.de/urhg/BJNR0127309 65.html#BJNR012730965BJNG000201377 (Stand: 21.04.2022). [Österreichisches] Bundesgesetz über das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Kunst und über verwandte Schutzrechte 2021 (Urheberrechtsgesetz). StF: BGBl. Nr. 111/1936 (StR: 39/Gu. BT: 64/Ge S. 19.) https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnor men&Gesetzesnummer=10001848 (Stand: 21.04.2022).
Wessen Text? Urheber*innen (in) der digitalen Edition
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der* Urheber*in somit nicht mehr ins Gewicht fallen. Hier wollen wir uns aber mit der komplexeren Lage beschäftigen, wenn die Urheber*innenrechte der* edierten Autor*in noch bestehen.22 Als „Werke“ gelten laut deutschem UrhG „persönliche geistige Schöpfungen“ (§2.2), nach österreichischem UrhG „eigentümliche geistige Schöpfungen“ (§1.1) der Literatur, Wissenschaft und Kunst. Beide Formulierungen drücken aus, dass es sich um ein individuelles und die Urheber*innenpersönlichkeit widerspiegelndes Gedankenprodukt handeln muss, wenn vom „Werk“ die Rede ist. Was Schriftsteller*innen verfassen, kann im Allgemeinen – außer ggf. bei Ready-mades oder anderen durch experimentelle und / oder technische Verfahren erzeugten Texten, wo möglicherweise eine genauere Analyse notwendig ist, um den Werkcharakter zu bestimmen – als „Werk“ verstanden werden. Das gilt unabhängig davon, ob ein Werk veröffentlicht, erschienen oder in der Schublade behalten worden ist. Wie ist es nun mit dem, was die* Editor*in diesem Werk hinzufügt? „Übersetzungen und andere Bearbeitungen eines Werkes, die persönliche geistige Schöpfungen de[r*] Bearbeiter[*in] sind, werden unbeschadet des Urheber[*innen]rechts am bearbeiteten Werk wie selbständige Werke geschützt.“23 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Unterscheidung, die das österreichische UrhG in §5.2 ausführt: „Die Benutzung eines Werkes bei der Schaffung eines anderen macht dieses nicht zur Bearbeitung, wenn es im Vergleich zu dem benutzten Werke ein selbständiges neues Werk darstellt.“ Das bedeutet, dass die Arbeit einer* Editor*in zwar als persönliche geistige Schöpfung, jedoch als solche immer klar als Bearbeitung der persönlichen geistigen Schöpfung der* Autor*in zu werten sein wird, hingegen der von der* Programmierer*in einer digitalen Edition verfasste Code im Sinne des Gesetzes wohl auch als „selbständiges neues Werk“ verstanden werden kann (Programmcode wird sowohl vom deutschen als auch vom österreichischen UrhG als „Werk der Literatur“ verstanden, jeweils §2.1), insofern als der Code auch die Verarbeitung anderer Daten leisten könnte. Im Handke-Projekt ist diese Argumentation naheliegend, weil die TEI-XML-Edition später in der Nachhaltigen Infrastruktur für digitale Editionen der Österreichischen Nationalbibliothek zugänglich sein wird, also einer zwar für individuelle Projekte adaptierbaren, aber doch für die Aufnahme unterschiedlicher Editionen konzipierten Plattform.24 Es ist im deutschsprachigen Raum der generelle Trend zu beobachten, dass digitale geisteswissenschaftliche Forschungszentren und materialverwaltende Institutionen Infrastrukturen für digi22 23 24
Zu diesem Thema vgl. auch Hannesschläger 2020 (Anm. 4). Deutsches UrhG §3, im österreichischen UrhG quasi gleichlautend §5.1; Hervorhebung VH. Vgl. Christiane Fritze / Christoph Steindl: Digitale Editionen an der Österreichischen Nationalbibliothek – eine Infrastruktur. In: Forschungsblog der Österreichischen Nationalbibliothek, 6. Juni 2019. https://www.onb.ac.at/forschung/forschungsblog/artikel/digitale-editionen-an-der-oes terreichischen-nationalbibliothek-eine-infrastruktur (Stand: 21.04.2022).
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Vanessa Hannesschläger
tale Editionen bauen, in die künftige Editionen „eingepasst“ werden sollen (am Deutschen Literaturarchiv Marbach etwa die Infrastruktur EdView, in der bereits Roland Kamzelaks Edition der Tagebücher Harry Graf Kesslers veröffentlicht wurde25); diese Entwicklung unterstützt diese Argumentation. Diese Tatsache ist mehr als eine Fußnote, wenn sie gedanklich in die Definition der* Urheber*in einbezogen wird. Sie* ist nach deutschem Recht „Schöpfer[*in] des Werkes“ (§7); im österreichischen UrhG ist Urheber*in eines Werkes, „wer es geschaffen hat“ (§10.1). In der digitalen Edition mit ihren Bestandteilen Werk, Beiwerk („Bearbeitung“, s.o.) und Co-Werk (wie der Code hier behelfsmäßig genannt sein soll) sind nun jedenfalls mehrere Urheber*innen vorhanden. Das deutsche UrhG erklärt in §8.1, wie man sie nennt: „Haben mehrere ein Werk gemeinsam geschaffen, ohne daß sich ihre Anteile gesondert verwerten lassen, so sind sie Miturheber[*innen] des Werkes.“ Hier wird die Verwertung bzw. Verwertbarkeit der von den Miturheber*innen beigetragenen Elemente eines Ganzen schon in der Definition ihres gemeinsamen Schaffensprozesses ins Zentrum gestellt. Das österreichische UrhG fokussiert in seiner Formulierung in §11.1 deutlicher auf den Werkcharakter einer gemeinschaftlichen Schöpfung: „Haben mehrere gemeinsam ein Werk geschaffen, bei dem die Ergebnisse ihres Schaffens eine untrennbare Einheit bilden, so steht das Urheber[*innen]recht allen Miturheber[*inne]n gemeinschaftlich zu.“ Dass eine digitale Edition gerade diese „untrennbare Einheit“ darstellt, argumentieren Tara L. Andrews und Joris J. van Zundert, indem sie sie von ihrer Kulmination im Ausdruck als Interface her begreifen: „Just as there is no clean separation between data and interpretation, there is no clean separation between the scholarly content of an argument and its rhetorical form“, erklären sie, und argumentieren weiter: „visual display and interactive functionality are an integral part of rhetorical form. The interface is thus an integral part of the argument that an edition makes about a text.“26 Daraus erklärt sich die gemeinschaftliche Urheber*innenschaft an der digitalen Edition, denn was das Interface kommuniziert, ergibt sich erst aus dem Zusammenspiel der Perspektiven, Ideen und Lösungen, die Transkriptor*innen, Datenkurator*innen, Programmierer*innen, Editor*innen, Archivar*innen, Grafiker*innen und andere Beteiligte im Dialog mit dem Text der* Autor*in entwickeln. Sie alle haben geteilte Miturheber*innenschaft am Werk Edition. Der* Programmierer*in kommt hier als sowohl Miturheber*in an der digitalen Edition als Ganzes als auch selbständige Urheber*in des Programmcodes eine besondere Stellung im Miturheber*innenschaftsgefüge zu; streng genommen ist die Edition im doppelten Sinne als Bearbeitung zu sehen, nämlich, weil sie einerseits auf dem literarischen Werk der* Autor*in, andererseits auf dem Programmcode basiert.27 25
26
Vgl. Harry Graf Kessler. Das Tagebuch 1880–1937. Online-Ausgabe, EdView Version 1.0 beta 2 (20.07.2020). Hrsg. von Roland S. Kamzelak. Marbach am Neckar 2019. https://www.dla-mar bach.de/edview/?project=HGKTA. Andrews / van Zundert 2018 (Anm. 6), S. 8.
Wessen Text? Urheber*innen (in) der digitalen Edition
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5. Schluss Der Schluss, den ich aus dem hier Skizzierten ziehe, ist, dass in der digitalen Edition viele Beteiligte gemeinschaftlich den Text bauen. Aus diesem Grund ist es essentiell, alle Arbeitsbereiche gleich ernst zu nehmen und von Beginn an zu berücksichtigen. Meinen Satz zum Verhältnis von Autor*in und Editor*in möchte ich daher wiederholen und um noch einmal eine polemische Formulierung ergänzen: Im digitalen Zeitalter sind wir vom Tod der* Editor*in weiter entfernt denn je, und auch die* Autor*in hat sich zurückgemeldet. Die Diktatur der Autor*innen- und Editor*innengenies muss der digitalen Demokratie weichen.
27
Ich danke Dirk Schäfer für den Hinweis auf diesen sehr interessanten Umstand.
Cord Pagenstecher
Oral History-Interviews Zwischen Zeitzeugen-Archiv und multimedialer Edition
Zu unserem kulturellen Gedächtnis gehören nicht nur schriftliche Texte, künstlerische Werke oder archäologische Überlieferungen, sondern auch audiovisuelle Aufzeichnungen, darunter etwa die narrativ-biografischen Interviews der Oral History. Sie halten mündliche Erzählungen von persönlichen Lebensgeschichten für die Nachwelt fest und stehen damit genau an der Schwelle vom individuellen und kommunikativen Gedächtnis der Zeitzeug*innen zum medial geformten kulturellen Gedächtnis der Gesellschaften. Ihre Erschließung und Bereitstellung in digitalen Interview-Archiven ähnelt in vieler Hinsicht dem Vorgehen von Editionsprojekten. Allerdings werden die in der Editionswissenschaft entwickelten Konzepte in der Oral History kaum genutzt. Andererseits erschließen (auch digitale) Editionen meist schriftliche Quellen wie Inschriften, Manuskripte oder Akten; nur wenige Projekte widmen sich audiovisuellen Dokumenten, etwa Audiobüchern und Hörspielen1 oder historischen Liedtexten.2 Noch ganz am Anfang steht das Editionsprojekt Töne der Repression. Audio-visuelle Quellen im Stasi-Unterlagen-Archiv des Bundesarchivs.3 Die Übertragbarkeit grundlegender Konzepte wie Dokument, Text, Autor oder Werk auf audiovisuelle Texte und speziell die Oral History ist also noch zu diskutieren. Dafür charakterisiert dieser Beitrag zunächst ein Oral History-Interview in seinen disziplingeschichtlichen, technischen, narrativen, performativen, dialogischen und institutionellen Entstehungskontexten. Dann skizziert er gängige Interpretationsansätze und Publikationswege. Anschließend werden vorhandene Interviewarchive, insbesondere an der Freien Universität Berlin, mit ihren Transkriptions- und Erschließungsmethoden vorgestellt und als Oral History-Editionen verstanden. 1
2 3
Vera Mütherig: Dokumente hören. Editions- und literaturwissenschaftliche Herausforderungen akustischer Texte. In: (un)documented. Hrsg. von Mira Berghöfer u. a. Berlin / Boston 2020, S. 181–196. doi.org/10.1515/9783110692631. Z. B. Joanna Swaffords: Songs of the Victorians. https://web.archive.org/web/20210426214 510/http://www.songsofthevictorians.com (Stand: 17.11.2022). Vgl. Jens Niederhut: Stimmen der Diktatur. Tonaufnahmen von politischen Prozessen im StasiUnterlagen-Archiv. In: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, OnlineAusgabe, 15, 2018, H. 1, S. 128–142. doi.org/10.14765/zzf.dok.4.1134.
https://doi.org/10.1515/9783111006147–007
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Cord Pagenstecher
1. Entstehungskontexte Seit der „Geburt des Zeitzeugen“4 nach 1945 wurden viele Interviewprojekte nach der Methode der Oral History durchgeführt, besonders mit Überlebenden des Holocaust. Die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus war konstitutiv für zahlreiche Interviewvorhaben – von David Boders DrahtrecorderInterviews 1945 über die großen Video-Sammlungen der letzten Jahrzehnte (wie Fortunoff Archive, Visual History Archive und Zwangsarbeit 1939–1945) bis zu den jüngst vorgenommenen 3D-Video-Interviews der Shoah Foundation.5 Im Sinne einer emanzipatorischen „Geschichte von unten“ wurden aber auch Lebensgeschichten von Frauen, von Arbeiter*innen, von Flüchtlingen und Migrant*innen aufgezeichnet, also von Menschen, die eher selten schriftliche Zeugnisse hinterließen.6 In geringerem Umfang entstanden auch Interviews mit Elitenangehörigen, etwa Intellektuellen und Wissenschaftler*innen. Heute, 80 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, kommt die „Era of the Witness“7 in Bezug auf den Nationalsozialismus an ihr natürliches Ende. Dies gilt freilich nicht für andere Geschichtsepochen; vielmehr wächst die Zahl, Themen- und auch Sprachenvielfalt vorhandener Interviewsammlungen laufend. Technisch dominierten zunächst Audioaufnahmen, die seit den 1980er Jahren zunehmend durch Videoformate in immer höherer Aufnahmequalität nicht ersetzt, aber ergänzt wurden – in den letzten Jahren ausschließlich in digitalen Formaten. Experimente mit Hologramm-artigen Zeitzeugenaufnahmen, die durch Sprachsteuerung einen interaktiven Dialog simulieren, produzieren technisch aufwändige Einzelexemplare, die erst ansatzweise und primär geschichtsdidaktisch beforscht werden.8 Über prinzipielle Unterschiede zwischen Videound Audio-Interviews wird in der Community diskutiert; für die verbreitete These, dass die ,intimeren‘ Audio-Interviews eine vertrautere Atmosphäre und damit intensivere und ,authentischere‘ Erzählungen ermöglichen, gibt es bislang keine Belege. Video-Interviews sind nicht nur museal und didaktisch besser nutzbar, sondern ermöglichen auch die – bislang allerdings noch wenig erfolgte – Interpretation nonverbaler Elemente, etwa von Gestik oder Mimik.9 4 5
6
7 8
Martin Sabrow / Norbert Frei (Hrsg.): Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945. Göttingen 2012. Gerda Klingenböck: „Stimmen aus der Vergangenheit“. Interviews von Überlebenden des Nationalsozialismus in systematischen Sammlungen von 1945 bis heute. In: „Ich bin die Stimme der sechs Millionen“. Das Videoarchiv im Ort der Information. Hrsg. von Daniel Baranowski. Berlin 2009, S. 27–40. Almut Leh: Vierzig Jahre Oral History in Deutschland. Beitrag zu einer Gegenwartsdiagnose von Zeitzeugenarchiven am Beispiel des Archivs „Deutsches Gedächtnis“. In: Westfälische Forschungen. Zeitschrift des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte 65, 2015, S. 255–268. Es gilt das gesprochene Wort. Oral History und Zeitgeschichte heute. Hrsg. von Knud Andresen / Linde Apel / Kirsten Heinsohn. Göttingen 2015. Annette Wieviorka: The Era of the Witness. Ithaca 2006. Axel Doßmann: Unsterbliche Zeugen. Holographische 3D-Projektionen als Symptom einer Krise. In: Einsicht 2019. Bulletin des Fritz Bauer Instituts, S. 68–77. Vgl. das Projekt Lernen mit digitalen Zeugnissen der LMU München. https://www.lediz.uni-muenchen.de/index.html (Stand: 17.11.2022).
Oral History-Interviews
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Ein Oral History-Interview dauert in der Regel mehrere Stunden. Im Kern steht eine vom Interviewten selbst strukturierte lebensgeschichtliche Erzählung; erst in einer zweiten Phase stellen die Interviewer*innen Nachfragen zu dieser Erzählung, um weitere Narrationen zu evozieren. Anschließend folgen thematische Fragen, schließlich oft eine gemeinsame Betrachtung privater Fotos und Dokumente. Beabsichtigt (wenngleich in der Praxis nicht immer erreicht) ist also eine im Dialog inspirierte Narration eines ,Erzählers‘, kein investigatives FrageAntwort-Interview mit einem ,Respondenten‘. Interessant sind in der Interpretation weniger die berichteten Fakten als ihre erinnernde Deutung. Andererseits ist gerade im Hinblick auf Massenverbrechen wie den Holocaust das Bezeugen des Geschehenen ein zentrales Motiv für und in den Interviews. Ein Zeugnis abzulegen, stellvertretend für die Ermordeten, ist immer auch ein „Versprechen der Wahrheit“.10 Ein Oral History-Interview ist als mündliche Autobiografie zu interpretieren. Auch wenn sie häufig nicht ein literarisch durchgearbeiteter Text ist, ist sie doch stets eine persönliche geistige Schöpfung mit einer individuellen Formgestaltung, also ein – auch urheberrechtlich geschütztes – Werk. Die Zeitzeug*innen, die ihre Autobiografie erzählen, sind die primären Autor*innen dieses Werks.11 Die Gestaltung dieser Autobiografie ist ein höchst gewagter Prozess, denn der audiovisuelle Text eines Interviews entsteht live am Mikrofon. Die Zeitzeug*innen haben kein Manuskript, keine Korrekturmöglichkeit, kein Lektorat; in Interviews zum Holocaust können wir „den Überlebenden beim Erinnern zusehen.“12 Die meist betagten Autor*innen müssen spontan, möglicherweise noch vor laufender Kamera, und häufig in einer anderen als ihrer Muttersprache, eine erzählerische und sprachliche Form für ihre Lebensgeschichte finden – inklusive oft traumatischer Erfahrungen. Zudem wird dieser autobiografische Text nicht nur spontan verfasst, sondern gleich auch zur Aufführung gebracht, denn die Lebensgeschichte wird im Interview mit entsprechender Betonung, Mimik und Gestik in Szene gesetzt. Jenseits der schwierigen Erinnerungsarbeit ist ein Interview also nicht nur eine narrative, sondern auch eine performative Gestaltungsleistung.
9 10
11 12
Albert Lichtblau: Wie verändert sich mündliche Geschichte, wenn wir auch sehen, was wir hören? Überlegungen zur audiovisuellen Geschichte. In: BIOS 20, 2007, S. 66–74. Anne Eusterschulte / Sonja Knopp / Sebastian Schulze: Videographierte Zeugenschaft. Überlebendenzeugnisse im interdisziplinären Dialog. In: Videographierte Zeugenschaft. Ein interdisziplinärer Dialog. Hrsg. von dens. Weilerswist 2016, S. 13–41, hier S. 21, mit Bezug auf Dori Laub. Vgl. Andree Michaelis: Erzählen statt Erzähltwerden. In: ebd., S. 289–307, hier S. 290, mit Bezug auf Ruth Klüger. Vgl. Michaelis 2016 (Anm. 10). Verena Nägel: Zeugnis – Artefakt – Digitalisat. Zur Bedeutung der Entstehungs- und Aufbereitungsprozesse von Oral History-Interviews. In: Eusterschulte / Knopp / Schulze 2016 (Hrsg.) (Anm. 10), S. 347–368, hier 355.
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Ferner ist der audiovisuelle Text eines Oral History-Interviews das Ergebnis eines Gesprächs-Settings, eines medial aufgezeichneten Dialogs, einer „Erzählgemeinschaft“.13 Die Interviewenden sind Co-Autor*innen beim gemeinsamen Verfertigen und Aufführen der lebensgeschichtlichen Erzählung.14 Die schwierige Rolle der Interviewenden ist den Praktiker*innen wohl bewusst, bleibt in der Forschung aber oft unterbelichtet. Als Zuhörer*innen sind sie die primären Adressat*innen der Erzählung und repräsentieren im Moment des Interviews zugleich doch auch zukünftige Rezipient*innen, vielleicht gar die Nachwelt schlechthin. Schließlich ist der breitere Entstehungskontext des Interviews zu berücksichtigen. In der Regel werden Oral History-Interviews nicht isoliert, sondern im Rahmen eines Forschungsprojekts, einer Museumssammlung oder einer erinnerungskulturellen Initiative finanziert und durchgeführt. Die Rolle dieser Interviewprojekte ist nur gelegentlich untersucht worden, insbesondere am Beispiel des Visual History Archive der Shoah Foundation.15 Dabei wurde deutlich, wie stark sich die Auswahlkriterien, die Interviewmethoden, die Kamerarichtlinien etc. sowohl auf Inhalt und Form des einzelnen Interviews als auch auf die Gestaltung des ganzen Interviewkorpus oder Werkkomplexes auswirken.
2. Interpretationsansätze und Publikationswege Oral History-Interviews sind also historische Quelle, oft auch Zeugnis für anderweitig kaum dokumentierte Verbrechen; zugleich sind sie sprachlich, narrativ und performativ gestaltete Autobiografien, die in gemeinsamer, aber nicht gleichgewichtiger Autorschaft von Interviewten und Interviewenden entstehen, meist als Teil eines größeren, erinnerungskulturell bestimmten Werkkomplexes. In diesen vielfältigen Aspekten können sie nur dann analysiert werden, wenn wir untersuchen, was erzählt wird und wie es erzählt wird. Dazu sollten Geschichts-, Sprach- und Literaturwissenschaft mehr als bisher zusammenarbeiten. In der historischen Zunft ist die anfangs als zu subjektiv umstrittene Oral History nun anerkannt. Inzwischen nutzt die – früher primär auf Schriftquellen orientierte – zeithistorische Forschung vielfach lebensgeschichtliche Interviews.16 Vor allem mit dem Boom der Memory Studies sind Erinnerungsmuster 13 14
15
16
Nägel 2016 (Anm. 12), S. 352. Cord Pagenstecher / Stefan Pfänder: Hidden dialogues. Towards an interactional understanding of Oral History interviews. In: Oral History Meets Linguistics. Hrsg. von Erich Kasten / Katja Roller / Joshua Wilbur. Fürstenberg / Havel 2017, S. 185–207. http://www.siberian-studies.org/pu blications/orhili E.html (Stand: 17.11.2022). Andree Michaelis: Erzählräume nach Auschwitz: Literarische und videographierte Zeugnisse von Überlebenden der Shoah. Berlin 2013. Noah Shenker: Reframing Holocaust Testimony. Bloomington 2015. Jan Taubitz: Holocaust Oral History und das lange Ende der Zeitzeugenschaft. Göttingen 2016. Andresen / Apel / Heinsohn 2015 (Anm. 6). Linde Apel / Almut Leh / Cord Pagenstecher: Oral History im digitalen Wandel. Interviews als Forschungsdaten. In: Erinnern, erzählen, Geschichte schreiben. Oral History im 21. Jahrhundert. Hrsg. von Linde Apel. Berlin 2022, S. 193–222.
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ein wichtiges Forschungsthema geworden. Hinzu kommt ihre zentrale Rolle in der Geschichtsvermittlung durch Ausstellungen und Bildungsprojekte, besonders aber in der medial vermittelten Geschichte.17 Zudem gewinnen ältere, noch wenig erschlossene Sammlungen an historischem Interesse.18 Während früher vor allem wenige selbst geführte Interviews analysiert wurden, wächst nun das Interesse an einer Sekundäranalyse bereits vorhandener Interviews.19 Andererseits wird die methodische Diskussion um den Quellencharakter, die Analysemethoden und Erkenntnisprobleme der Oral History meist nur in der – in Deutschland kaum institutionalisierten – Fachcommunity geführt. Im Austausch mit der Kulturwissenschaft und der qualitativen Sozialforschung wurden Standards der Interviewführung und -auswertung etabliert, die in Zeitschriften wie BIOS und Verbänden wie der International Oral History Association weiterentwickelt werden. Zunehmend interessieren sich auch Literaturwissenschaft, Linguistik oder Philosophie für Oral History-Interviews. Mehrere interdisziplinäre Tagungen haben das Forschungsfeld vermessen.20 Dabei rückten neben dem subjektiv-biografischen Charakter des Zeugnisses verstärkt die mediale Verfasstheit und die digitale Rezeption in den Fokus. Wie in der Geschichtswissenschaft zeigt sich aber auch in diesen, gleichfalls oft textfokussierten Disziplinen eine verbreitete Unsicherheit im Umgang mit mündlichen Quellen bzw. audiovisuellen Daten. Obwohl die digitalen Technologien nun innovative Sicherungs-, Erschließungs- und Analysemöglichkeiten bieten, werden bislang nur wenige Publikationen oder Sammlungspräsentationen der Multimedialität von Oral HistoryInterviews gerecht. Üblicherweise münden Oral History-Projekte in der Veröffentlichung eines Buches, das allerdings selten ,Edition‘ genannt wird. Diese 17
18
19 20
Christoph Classen: Der Zeitzeuge als Artefakt der Medienkonsumgesellschaft. Zum Verhältnis von Medialisierung und Erinnerungskultur. In: Sabrow / Frei 2012 (Anm. 4), S. 300–319. Vgl. auch Judith Keilbach: Geschichtsbilder und Zeitzeugen. Zur Darstellung des Nationalsozialismus im bundesdeutschen Fernsehen. Münster 2008. Axel Doßmann: Auf der Suche nach der verlorenen Materialität. Recherchen zu David P. Boders Interviews mit Displaced Persons im Sommer 1946. In: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 31, 2020, H. 2 Verstörte Sinne, S. 121–127. Linde Apel: Oral History reloaded. Zur Zweitauswertung von mündlichen Quellen. In: Westfälische Forschungen 65, 2015, S. 243–254. Nicolas Apostolopoulos / Cord Pagenstecher (Hrsg.): Erinnern an Zwangsarbeit. Zeitzeugen-Interviews in der digitalen Welt. Berlin 2013. Nicolas Apostolopoulos / Michele Barricelli / Gertrud Koch (Hrsg.): Preserving Survivors’ Memories. Digital Testimony Collections about Nazi Persecution. History, Education and Media. Berlin 2016. https://web.archive.org/web/20191128 142051/https://www.stiftung-evz.de/fileadmin/user upload/EVZ Uploads/Handlungsfelder/Ausei nandersetzung mit der Geschichte 01/Bildungsarbeit-mit-Zeugnissen/Testimonies Band3 Web .pdf (Stand: 17.11.2022). Eusterschulte / Knopp / Schulze 2016 (Anm. 10). Testimony / Bearing Witness. https://web.archive.org/web/20160616053619/http://userpage.fu-berlin.de/~zeugenscha ft/?page id=496 (Stand: 17.11.2022). Oral History meets Linguistics. https://www.frias.uni-frei burg.de/en/events/frias-conferences/conference-oral-history-and-linguistics (Stand: 17.11.2022). Bearing Witness More Than Once. https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte6829 (Stand: 17.11.2022).
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Publikationen geben in der Regel Ausschnitte aus den mehr oder minder stark bereinigten und geglätteten Transkriptionen der Interviewaufnahmen wieder, ergänzt durch methodische, biografische und historische Kontextualisierungen sowie interpretierende Analysen der Erinnerungs- und Deutungsmuster in den Interviews.21 Andere, weniger wissenschaftlich gehaltene Veröffentlichungen gleichen oft eher einer freien Nacherzählung der Lebensgeschichten der interviewten Personen. Nur selten erlaubt die Publikation eine Überprüfung der Analyse oder weitergehende Interpretationen anhand der Originalquelle. Tatsächlich erfolgte die wissenschaftliche Analyse der Interviews bislang hauptsächlich aufgrund der Transkriptionen, die mit der Verschriftlichung der Aufnahmen ja bereits eine erste Interpretation des Gesagten darstellen. Digitale Editionen mit durchsuchbaren Audio- und Video-Interviews erlauben nun deutlich quellennähere Auswertungen des ursprünglichen, audiovisuell aufgezeichneten Texts. Die digitale Bereitstellung der Interviews für Sekundäranalysen verändert potenziell allerdings den Charakter der originalen Quelle. Ursprünglich führte ein persönliches Gespräch zwischen Erzähler*in und Zuhörer*in, basierend auf einem besonderen Vertrauensverhältnis der „Shared Authority“22, zu einem unveröffentlichten Transkript als Grundlage für eine interpretierende, häufig anonymisierte Veröffentlichung. In der digitalen Edition steht nun eine vollständige Aufnahme der Interaktion mehr oder weniger öffentlich und dauerhaft für unterschiedlichste Fragen und Zwecke zur Verfügung. Wenn dies Interviewenden und Interviewten bewusst ist – und aus rechtlichen und forschungsethischen Gründen muss das bewusst gemacht werden – , wird das Art und Inhalt des Erzählten beeinflussen, vielfach auch beschränken. So verändert die Möglichkeit seiner Sekundäranalyse bereits das Wesen des Primärtexts.
3. Interview-Archive und Oral-History.Digital Als wichtiger Teil unseres kulturellen Erbes sind die in Erinnerungsinstitutionen und Forschungsprojekten entstandenen Audio- oder Video-Interviews heute großenteils digitalisiert. Die Sammlungen sind aber verstreut und schlecht zugänglich. Oral History-Interviews werden in Universitäten, Gedenkstätten, Archiven und Bibliotheken gesammelt und mit unterschiedlichen Verzeichnungssystemen erschlossen. Große Interview-Archive wie das Archiv Deutsches Gedächtnis an der FernUniversität in Hagen (über 3.000 Interviews) oder die Werkstatt der Erinnerung in Hamburg (über 2.000 Interviews) sind nur vor Ort zu konsultieren. Ähnliches gilt für die KZ- und DDR-Gedenkstätten mit ihren rund 10.000 21
22
Z. B. Christopher Browning: Remembering Survival. Inside a Nazi Slave-Labor Camp. New York 2010. Christoph Thonfeld: Rehabilitierte Erinnerungen? Individuelle Erfahrungsverarbeitungen und kollektive Repräsentationen von NS-Zwangsarbeit im internationalen Vergleich. Essen 2014. Michael Frisch: A Shared Authority. Essays on the Craft and Meaning of Oral and Public History. Albany 1990.
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Interviews. Viele kleine und ältere Sammlungen sind akut bedroht. Eine sammlungsübergreifende Recherche in den verstreuten Beständen ist nicht möglich. Die wissenschaftliche Erschließung der Oral History-Interviews entspricht in keiner Weise dem öffentlichen Interesse, das ihnen in der „Era of the Witness“ entgegengebracht wird. Während in einigen anderen Ländern bereits nationale Oral History-Archive23 und Zeitzeugen-Editionsprojekte24 entstehen, hat die Oral History in Deutschland noch großen Nachholbedarf. An der Freien Universität Berlin entsteht nun allerdings im DFG-Projekt Oral-History.Digital (https://www.oral-history.digital) eine Informationsinfrastruktur für wissenschaftliche Interview-Sammlungen. Die 2023 fertiggestellte Arbeitsumgebung unterstützt Sammlungsinhaber*innen bei der Archivierung, Erschließung und Bereitstellung, Forschungsprojekte bei der Recherche, Annotation und Auswertung von Oral History-Sammlungen. Methodisch und technologisch stützt sich Oral-History.Digital auf Erfahrungen aus früheren Projekten wie dem Interview-Archiv Zwangsarbeit 1939–1945 (https://www.zwangs arbeit-archiv.de). Am Center für Digitale Systeme der Universitätsbibliothek der FU Berlin (https://www.cedis.fu-berlin.de/dis) werden seit über 15 Jahren digitale Interview-Sammlungen entwickelt und kuratiert – von der Projektkonzeption und Interviewführung über die Software-Entwicklung und wissenschaftliche Erschließung bis zur didaktischen Aufbereitung für die Bildungsarbeit.25 Neben Zwangsarbeit 1939–1945 (seit 2009) sind dort die Online-Archive Erinnerungen an die Okkupation in Griechenland (seit 2018), Colonia Dignidad. Ein chilenisch-deutsches Oral History-Archiv (seit 2022), Eiserner Vorhang. Tödliche Fluchten und Rechtsbeugung (seit 2023) und Erlebte Geschichte. Ein Oral History-Projekt zur Dokumentation der Geschichte der Freien Universität Berlin (ab 2023) entstanden. Die Erschließungs- und Forschungsumgebung Oral-History.Digital wird diese und weitere Bestände umfassen, u. a. aus dem Archiv Deutsches Gedächtnis in Hagen und der Werkstatt der Erinnerung in Hamburg, aber auch aus verschiedenen Museen und Einrichtungen zur Geschichte von Migration, Flucht und Vertreibung. Teilnehmen wollen auch Sammlungen zu Themen wie DDR-, Bergbau- oder Gewerkschaftsgeschichte.
23
24 25
Z. B. Österreichische Mediathek (A). https://www.mediathek.at/menschenleben (Stand: 17.11.2022). Australian Generations (AUS). https://artsonline.monash.edu.au/australian-genera tions (Stand: 17.11.2022). National Life Stories (GB). https://www.bl.uk/collection-guides/oralhistory (Stand: 17.11.2022). Belarussian Oral History Archive (BY). https://www.nashapam iac.org (Stand: 17.11.2022). Archiwum Historii Mo´wionej (PL). www.audiohistoria.pl (Stand: 17.11.2022). Z. B. Critical Editions Series des Fortunoff Video Archive for Holocaust Testimonies. https://edi tions.fortunoff.library.yale.edu/ (Stand: 17.11.2022). Cord Pagenstecher: Oral History und Digital Humanities. In: BIOS, 30, 2017, H. 1–2, S. 76–91, doi.org/10.3224/bios.v30i1–2.07.
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4. Transkriptions- und Erschließungsmethoden Die mit Hilfe von Oral-History.Digital erstellten Archive oder Editionen sollen in Erschließung und Präsentation der Multimedialität von Oral History-Interviews gerecht werden. Denn Interviewsammlungen umfassen eine große Anzahl unterschiedlicher Daten: Für ein einzelnes Interview existieren neben den oft aus mehreren Dateien bestehenden Audio- oder Videoaufnahmen meist auch Textdateien (Transkriptionen, Kurzbiografien, Interviewprotokolle, Einverständniserklärungen), Bilddateien (Scans privater Dokumente, Porträts, Fotos der Interviewsituation) sowie (biografische, technische und interviewbezogene) Metadaten. Diese heterogenen Materialien stellen in der editionswissenschaftlichen Terminologie die zu edierenden Dokumente dar. Die audiovisuellen Medien bilden dabei den Kern der Oral History; für Suche, Annotation und Zitation sind aber manuell erstellte, zunehmend auch automatisch generierte Transkriptionen oder Indexierungen von zentraler Bedeutung. Begleitunterlagen wie private Fotos oder Papiere sowie Einverständniserklärungen der Interviewten sind wichtig für die Kontextualisierung und die Klärung von Nutzungsrechten. Die Transkripte folgen den unterschiedlichen Transkriptionsregeln der jeweiligen Sammlung. Meist handelt es sich um orthografisch geglättete und mit Interpunktion versehene Texte, die unterschiedliche Auszeichnungselemente enthalten können, z. B. für Sprecherwechsel, Pausen, Satzabbrüche, Betonungen oder fremdsprachige Elemente. Um die oft bis zu 100-seitigen Transkripte mit den mehrstündigen Audio- oder Videoaufnahmen zu koppeln, müssen Timecodes automatisch oder manuell in die Texte eingefügt werden.26 Erst diese Segmentierung durch regelmäßig nach bestimmten Zeitabständen (z. B. eine Minute), Zeichenzahlen (100 Zeichen) oder Sinneinheiten (Wort oder Satz) eingefügte Zeitmarken erlaubt eine synchrone Untertiteldarstellung und eine sekundengenaue Volltextsuche oder Annotation. Üblicherweise liegen die Transkriptionsdateien als unstrukturierte Word-Dateien vor; die Services der Spracherkennung und die linguistischen Transkriptionsprogramme liefern unterschiedliche Dateiformate. Noch gibt es dafür keinen etablierten Standard, wenngleich sich im audiovisuellen Bereich das Untertitelformat VTT durchgesetzt hat. Als Austauschformat mit anderen Editionen bietet sich aber auch die TEI-Spezifikation für gesprochene Sprache an.27 Mit den timecodierten Transkripten (und ggf. Übersetzungen) ermöglichen die digitalen Editionen ein komfortables Durchsuchen, Anhören und Annotieren der Interviews. Die Analyse kann den originalen, per Mikrofon aufgenommenen Text nutzen und vor allem auch die multimodalen, para- oder nonverbalen Fa26 27
Vgl. Nägel 2016 (Anm. 12), S. 360ff. TEI Guidelines, P5, chapter 8: Transcription of Speech. https://www.tei-c.org/release/doc/ tei-p5-doc/de/html/TS.html (Stand: 17.11.2022). ISO 24624:2016, Language resource management –– Transcription of spoken language. https://www.iso.org/standard/37338.html (Stand: 17.11.2022).
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cetten eines Interviews – Betonungen und Pausen, bei Videoaufnahmen auch Mimik und Gestik etc. – einbeziehen, die vorher nur selten und umständlich in den Transkripten annotiert waren. Die mit der Transkription vorgenommenen editorischen Entscheidungen – mache ich einen Punkt, notiere ich ein „äh“, ein Kopfschütteln, eine Pause? – und die möglicherweise darauf fußenden Interpretationen werden in der Untertitelansicht transparent und überprüfbar. Die Fragen nach dem ,Original‘ verschwinden damit aber nicht, sondern verschieben sich in den medialen Bereich. So ist etwa zu diskutieren, welche Teile der kompletten Kamera- oder Mikrofon-Aufzeichnung herausgeschnitten werden, wie mit einleitenden Aufnahmen für Weißabgleich und Techniktest, mit Gesprächsunterbrechungen oder noch aufgezeichneten Nachgesprächen umzugehen ist.
5. Fazit Die digitalen Oral History-Editionen stellen nicht nur die Audio- oder Videoaufnahmen mit Transkriptionen bereit, sondern reichern sie an mit Fotos und Begleitdokumenten, mit Paratexten wie Übersetzungen, Inhaltsverzeichnissen, Sach- und Ortsregistern, Anmerkungen sowie historischen und biografischen Kontextinformationen (Abb. 1). Aus diesen unterschiedlichen Bausteinen setzt die digitale Plattform eine Gesamterscheinung, einen autobiografischen Text als emergentes Produkt zusammen, der von den Nutzer*innen als Interview rezipiert werden kann (Abb. 2). In gewisser Weise entsteht das edierte Interview also erst durch die Nutzer*innen im Rezeptionsprozess in der digitalen Forschungsumgebung.28 In der Konzeption der Plattform und der Auswahl der Inhalte sind dabei immer wieder technische, gestalterische und kuratorische Entscheidungen zu treffen, um die möglichst originalgetreue Darstellung des individuellen Interviews mit den standardisierenden Anforderungen von Durchsuchbarkeit und Interoperabilität zu verbinden. Diese Entscheidungen bedeuten nur selten korrigierende Eingriffe, oft aber arrangierende Maßnahmen, die ähnlich der Arbeit eines Herausgebers einen „editorialen Rahmen“29 etablieren. Diese Rahmung beeinflusst die Wahrnehmung der autobiografischen Interviews und ihrer Autor*innen stark. Mit dieser editorischen Arbeit stehen die Kurator*innen der hier als Editionen verstandenen Oral History-Archive vor ähnlichen konzeptionellen Herausforderungen wie Projekte zur Edition schriftlicher Quellen. Der Aufbau größerer Interviewarchive in befristeten Drittmittelprojekten ist aber meist eine weniger theoriegeleitete als technologie- und deadline-bestimmte Praxis. Umso wichtiger ist eine interdisziplinär informierte Reflexion der eigenen Erschließungspraxis 28 29
Susan Hogervorst: The era of the user. Testimonies in the digital age. In: Rethinking History, 24, 2020, H. 2, S. 169–183. doi.org/10.1080/13642529.2020.1757333. Uwe Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann. München 2008.
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Cord Pagenstecher
und der darin bewusst oder unbewusst getroffenen Entscheidungen; umso wertvoller ist eine Diskussion der in der Editionswissenschaft entwickelten Konzepte.
Abb. 1: Suchmaske des Interview-Archivs Zwangsarbeit 1939–1945. https://archiv.zwangsarbeit-archiv.de/de (Stand: 17.11.2022).
Abb. 2: Transkriptansicht des Zeitzeugen-Interviews mit Anita L. Archiv. Zwangsarbeit 1939–1945, https://archiv.zwangsarbeit-archiv.de/de/interviews/za072 (Stand: 17.11.2022).
Patrick Sahle, Johannes F. K. Schmidt
Das Werk des Soziologen – Ist da ein Text in diesem Nachlass?1
1. Hinleitung Wissenschaftliche Forschung manifestiert sich in publizierten Texten.2 Aber diese Texte stehen am Ende eines Forschungsprozesses. Sie sind – um eine Metapher des Soziologen Erving Goffman3 zu verwenden – die Vorderbühne des wissenschaftlichen Arbeitens, das eine Hinterbühne hat: Sie haben einen Entstehungskontext und eine Genese. Ihre geistesgeschichtliche Stellung kann teilweise aus der jeweils rezipierenden Gegenwart rückblickend aufgedeckt und ausgeleuchtet werden.4 Die eigentliche Genese der Texte – und damit auch die Entstehung und Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Ideen – bleibt aber jenseits der publizierten Endfassungen verborgen, denn all die Dokumente, die es vor den Publikationen gegeben hat, sind zunächst nicht sichtbar. Sie sind aber nicht zwingend verloren und können z. B. in Form von Nachlässen auf uns gekommen sein. Die Existenz, die Formierung, der Inhalt solcher Nachlässe ist häufig weitgehend zufällig.5 Grundsätzlich bilden sie aber Schatzkisten der Wissenschaftsgeschichte, denn nur sie erlauben den Blick hinter die Kulissen der öffentlich aufgeführten Texte und damit einen Einblick in die Werkstatt des Geistes. 1
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Zu Dank für die Unterstützung bei der Erstellung dieses Beitrages sind wir Jennifer Bunselmeier, Andre´ Heck, Angela Kump, Andreas Mertgens, Lena Luise Stahn, Enes Türkoglu und Christoph Gesigora verpflichtet. Vgl. dazu Rudolf Stichweh: Die Autopoiesis der Wissenschaft. In: Ders.: Wissenschaft, Universität, Professionen. Soziologische Analysen. Frankfurt a. M. 1994, S. 52–83. Vgl. Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag. München 1969. Wir lesen Texte immer schon in ihrem fachlichen Diskurskontext als auf andere, auch vorgängige Texte bezogen. Diese implizite Technik wird selbst heute noch kaum explizit gemacht. Die freundliche Schwester der hässlichen Plagiatsjagd heißt seit Kurzem ,text reuse‘ und fängt an, textuelle Bezüge auf der wörtlichen Ausdrucks-, aber auch auf der inhaltlichen Bedeutungsebene explizit und sichtbar zu machen, die die Intertextualität der scheinbaren Solitäre deutlicher hervortreten lässt. Grundsätzlich hält der menschliche Zoo alle Arten von Tieren bereit. In den meisten Fällen ist ein Nachlass in seiner Form einfach übrig geblieben, weil der Tod eine Vernichtung oder geordnete Übergabe des Materials verhindert hat. In vielen Fällen gibt es aber auch eine gezielte Sammlung und Zusammenstellung des prospektiven Nachlasses (bis dahin nennt man es ,Unterlagen‘), mit der unter Umständen sogar als ,Vorlass‘ nicht nur die Verhältnisse schon frühzeitig geregelt und der Versuch unternommen wird, die Kontrolle über das eigene Bild zu behalten, sondern auch ein diskurspolitisches Statement gesetzt wird („schaut her, ich bin es wert“). In seltenen Fällen gelangen Nachlässe sogar gegen den expliziten Willen der Verstorbenen in ein Archiv und damit in das Licht der Nach-Forschung. Franz Kafka ist hier nur das berühmteste Beispiel.
https://doi.org/10.1515/9783111006147–008
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Patrick Sahle, Johannes F. K. Schmidt
Nachlässe und Nachlassdokumente beleuchten die publizierten Texte also von einer anderen Seite. Sie (er)schaffen einen weiteren Kontext für einzelne Werke und konstituieren den Zusammenhang mehrerer Werke zu einem umfassenden Œuvre. Oft enthalten sie begonnene, aber dann abgebrochene, oft aber auch fast oder ganz fertiggestellte, letztlich aus den unterschiedlichsten Gründen unveröffentlicht gebliebene Werke, die der Rezeption verfügbar zu machen sich lohnt, da so das Gesamtwerk wie die Stellung einzelner Werke in einem anderen Licht erscheinen. Auf dem Weg zur tieferen Erschließung eines Nachlasses und der Edition einzelner Texte stellen sich viele methodische und praktische, aber auch einige ontologische Fragen. Denn das geistige Werk ist als Ziel und als zentraler Gegenstand von Forschung ein abstraktes Ding, das erst in seiner Publikation realisiert und materialisiert wird. Zugleich muss es, wenn es nicht rein aus dem Geist des Editors6 entspringen soll, eine materielle Grundlage haben. Die Verhältnisse von Werk und Nachlass erscheinen auf den ersten Blick eigentlich einfach: Die nachgelassenen Objekte in Form von (materialiter in den meisten Fällen) Papier (seltener: nicht papierne physische Objekte, zunehmend: Computerdateien), also von gelesenen Texten, von Zetteln, Notizen oder Manuskripten sind real. Aber sind es auch die Texte und Werke? Wie ergeben sich aus dem Nachlass Dokumente? Aus den Dokumenten Texte? Aus den Texten Werke? Und aus den Werken Editionen? Daraus resultieren zunächst methodische Fragen, die sich durch drei Grundfragen strukturieren lassen, die für den Erschließungs- und Editionsprozess von forschungspraktischer Bedeutung sind: – Was gehört zu diesem Text? Welche Nachlassobjekte sind relevant? Wie bilden sie Dokumente? Welche Dokumente sind Teil des Textes, enthalten den Text, bezeugen den Text? – Wie ist mit dem Material zu verfahren? Was ist wie zu digitalisieren? Wie sind die Dokumente zu repräsentieren? Wie sind sie zu erschließen? Wie kann der Bezug der Dokumente zum Text hergestellt werden? Welche Formen der Textkritik sind anzuwenden? Soll ein editorischer Text ,konstituiert‘ werden? – Was wird daraus? Wie können die Daten verfügbar gemacht werden? Wie soll eine gedruckte Ausgabe aussehen? Wie soll eine digitale Präsentation aussehen? Wie kann die Textgenese sichtbar gemacht werden? Bis hierher haben wir das Wort ,Text‘ in naiver Unschuld verwendet. So, wie es fast alle tun. Der Begriff Text ist aber – wie die vorgenannten Fragen schon andeuten – alles andere als unschuldig, weil er dazu viel zu komplex, zu vielschichtig, zu vieldeutig ist. Sein Gebrauch, die Rede von Text, ist streng genom6
Im Bewusstsein der Relevanz der Frage nach der sprachlichen Geschlechtergerechtigkeit verwenden wir die in der deutschen Sprache grammatisch möglichen Genus-Formen (weiblich, männlich) rein willkürlich, intentional abwechselnd und insofern inklusiv.
Das Werk des Soziologen – Ist da ein Text in diesem Nachlass?
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men sinnlos, wenn nicht seine jeweiligen situativen Bedeutungen – und das sind seine textuellen Bezugssysteme – implizit mitgemeint oder explizit benannt sind.7 Auch wir werden uns im Folgenden teilweise der ersten Praxis des bloß implizit etwas spezielleren Meinens schuldig machen. Wir wollen uns aber auch bemühen, den Text und seine eigentlichen Bedeutungsräume über die verschiedenen Bezugssysteme auszuleuchten. Das sind in einer ersten ungeordneten und undifferenzierten Annäherung zum Beispiel: das Werk, das Dokument, der Produktionsprozess, die äußere Form, der Zeichenbestand, die textliche Struktur, der sprachliche Ausdruck oder der Inhalt (im Sinne der intendierten Mitteilung). Im Verfolgen der sehr allgemeinen Frage nach dem Text im Nachlass betrachten wir zwei Beispiele aus unserer eigenen Arbeit und versuchen darüber eine Brücke zwischen den gegenwärtigen (und teilweise prospektiven) Praktiken und einer weiteren Theoriebildung zu schlagen. Es mag ein purer Zufall sein, dass wir uns dazu den Nachlässen zweier bekannter Soziologen zuwenden. Die Auswahl könnte aber insofern glücklich sein, da sie zugleich die interdisziplinären Gemeinsamkeiten und die fachspezifisch besonderen Blickwinkel aufzeigen kann: Auch die Soziologie betreibt notgedrungen Textkritik!8 Aber es ist nicht alles Literaturwissenschaft!9 Die Digitalisierung ist ein weiterer Treiber interdisziplinärer Methodenkonvergenz.10 Dieser Chor der fachlichen Perspektiven hat viele Stimmen und die unterschiedlichen Tonlagen sollten deutlich hörbar bleiben, wenn wir uns im Folgenden den Fallstudien zuwenden.
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Den Versuch einer differenzierteren, präziseren Sprechweise über die Bedeutungsunterschiede von ,Text‘ unternimmt Patrick Sahle: Digitale Editionsformen. Teil 3: Textbegriffe und Recodierung, Norderstedt 2013, S. 1–49 mit seinem pluralistischen Textmodell (dem sogenannten ,Textrad‘). Textkritik ist der kritische Umgang mit Texten. Dies ist ein weites Feld. Wir stehen nicht nur auf den Schultern der elaborierten Verfahren (der Riesen) der ,philologischen Kritik‘ und der Editionskritik (,kritische Edition‘), sondern eben auch auf dem Fundament aller Verfahren in der Bearbeitung von texttragenden Dokumenten: Identifikation, Datierung, Autorzuordnung, Genesebeobachtung, Lesung, Kommentierung etc. Zweifellos waren in den letzten 200 Jahren die Philologien bzw. Literaturwissenschaften der Motor der textkritischen Entwicklung. Es hat sich aber schon immer die Frage gestellt, ob die einfache Übernahme der philologisch indizierten Methoden für andere Disziplinen deren Interessen wirklich uneingeschränkt dienlich war. Siehe dazu Patrick Sahle: Die disziplinierte Edition – eine kleine Wissenschaftsgeschichte. In: Editionswissenschaftliche Kolloquien 2005 / 2007. Methodik – Amtsbücher – Digitale Edition – Projekte. Hrsg. von Matthias Thumser / Janusz Tandecki. Thorn 2008, S. 35–52. Die Methodenkonvergenz resultiert aus den praktischen Eigendynamiken des Digitalen: Weil digitale Daten überall auf die gleiche Weise (aber mit eher hohem Aufwand) erstellt (Digitalisierung und Transkription) und bearbeitet (kuratiert, annotiert) werden, weil sie unmittelbar anschlussfähig und nachnutzbar sind, weil verschiedene Nutzungsinteressen auf die gleichen Grundarbeiten zugreifen wollen und weil man die einzelnen Prozessschritte nicht duplizieren will, kommt es zu einer Zentralisierung der Daten, die eine Zentralisierung der Methoden nach sich zieht – die wir Konvergenz nennen können.
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Patrick Sahle, Johannes F. K. Schmidt
2. Niklas Luhmann Der Soziologe Niklas Luhmann (1927–1998)11 ist nicht nur der Autor eines außergewöhnlich umfangreichen und vielgestaltigen publizierten Werks, sondern er hat auch einen ebenso umfangreichen wissenschaftlichen Nachlass hinterlassen.12 Dieser enthält eine ganze Reihe bislang unpublizierter, zum Teil mehrere hundert Seiten umfassender monographischer Typoskripte, eine Vielzahl von Aufsatztyposkripten sowie mehr als 500 Vorlesungs- und Vortragsskripte. Ein besonderer Teil des Nachlasses ist sein knapp 90.000 Zettel umfassender Zettelkasten, den Luhmann über 40 Jahre gepflegt hat und der für ihn sowohl Denkwerkzeug wie Textgenerator war.13 Die Digitalisierung und Erschließung des Niklas-Luhmann-Archivs ist Gegenstand eines laufenden Langzeitvorhabens im Akademienprogramm.14 Dieses betrifft vor allem den Zettelkasten und die Typoskripte,15 bei denen man zwischen ca. 800 Dokumenten zu bislang unveröffentlichten Texten16 und ca. 3000 Dokumente von bereits publizierten Texten (Aufsätzen und Monographien) unterscheiden kann.
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Zur Person und Theorie siehe einführend Rudolf Stichweh (aktualisiert und leicht erweitert Johannes F. K. Schmidt): Niklas Luhmann: Der Theoretiker der Gesellschaft. https://niklas-luh mann-archiv.de/person/person-und-theorie (Stand: 14.05.2023). Für eine knappe Übersicht siehe https://niklas-luhmann-archiv.de/nachlass/uebersicht (Stand: 14.05.2023). Zu den besonderen Konstruktionsprinzipien dieser Sammlung siehe im Detail Johannes F. K. Schmidt: Der Zettelkasten Niklas Luhmanns. Bielefeld 2019. https://niklas-luhmann-ar chiv.de/nachlass/zettelkasten (Stand: 14.05.2023) sowie Johannes F. K. Schmidt: Niklas Luhmann’s Card Index: Thinking Tool, Communication Partner, Publication Machine. In: Forgetting Machines. Knowledge Management Evolution in Early Modern Europe. Hrsg. von Alberto Cevolini. Leiden 2016, S. 289–311. Niklas Luhmann – Theorie als Passion. Wissenschaftliche Erschließung und Edition des Nachlasses (2015–2030), gefördert von der Akademie der Wissenschaften und der Künste NordrheinWestfalen. Kooperationspartner sind die Fakultät für Soziologie, das Archiv und die Bibliothek der Universität Bielefeld und die Digital Humanities an der Bergischen Universität Wuppertal (2015–2019: das Cologne Center for eHumanities). Das Forschungsportal ist unter https://niklasluhmann-archiv.de (Stand: 14.05.2023) zugänglich. Luhmanns Texte sind fast ausschließlich mit der Schreibmaschine geschrieben oder Ausdrucke von Textdateien, allenfalls kleinere nachträgliche Ergänzungen wurden von ihm handschriftlich hinzugefügt. Es gibt daneben nur eine Handvoll rein handschriftlicher Manuskripte und Skizzen. Wenn im Folgenden also (auch) von Manuskripten gesprochen wird, sind in der Regel Typoskripte gemeint. Hier lassen sich vier thematische Schwerpunkte ausmachen: Erstens gibt es eine Reihe von (teils fragmentarischen) monographischen Manuskripten aus der Frühphase, d. h. insbes. den 1960er und der ersten Hälfte der 1970er Jahre; zum zweiten liegen mehrere umfangreiche Fassungen seiner Gesellschaftstheorie im Nachlass vor, die Luhmann über fast 25 Jahre immer wieder neu geschrieben hat; drittens enthält der Nachlass eine Reihe von Aufsatztyposkripten aus den 1990er Jahren, die aufgrund seines Todes 1998 nicht mehr veröffentlicht worden sind; viertens schließlich hat Luhmann eine Reihe von weitgehend ausformulierten Vorlesungsskripten sowie stichpunktartigen Vortragsskripten hinterlassen, die häufig eine erste Annäherung an ein Thema dokumentieren und die vielfach Ausgangspunkte für spätere Buch- oder Aufsatztyposkripte waren.
Das Werk des Soziologen – Ist da ein Text in diesem Nachlass?
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Das Erschließungs- und Editionsprojekt im Bereich der Manuskripte17 ist zweigleisig angelegt. Einerseits erfolgt eine gedruckte Erstausgabe solcher nachgelassenen Texte, die unveröffentlicht sind und eine werk- bzw. theoriegenetische Bedeutung haben. Diese Printeditionen verfolgen aber explizit keine genetisch-textkritischen Ziele, sondern möchten die Texte in einer auf die fachwissenschaftlichen Inhalte fokussierten Lesefassung zur Verfügung stellen, die in der Regel ohne allzu großen editorischen Aufwand aus der Fassung ,letzter Hand‘ des Autors erstellt werden kann. Im Unterschied dazu möchte die digitale Edition der Manuskripte die jeweilige Text- bzw. Werkgenese dokumentieren, indem sie (mindestens in einer Faksimileansicht, ggf. in Transkription) die verschiedenen Fassungen eines Textes dokumentiert und miteinander oder mit anderen, zum jeweiligen Werk gehörenden Texten sowie mit anderen Beständen des Nachlasses – wie z. B. dem Zettelkasten – in Beziehung setzt. Daneben soll bislang Unpubliziertes, das auch nicht mit Blick auf eine Publikation geschrieben wurde (wie z. B. die Vortragsskripte), zugänglich gemacht werden, um einen umfassenden und möglichst lückenlosen Blick auf das Gesamtwerk und dessen Genese zu gewähren. Die im Nachlass befindlichen Dokumente und deren Relationen zeichnen sich dadurch aus, dass Luhmann bei der Erstellung von Texten fast durchgängig von vornherein in ,Themen‘ oder konkreten Fragestellungen gedacht und geschrieben hat, die ,Vorhaben‘ im Kontext einer allgemeinen, letztlich alle Texte integrierenden Theorie der Gesellschaft bzw. deren sozialtheoretischen Grundlagen einer allgemeinen Theorie sozialer Systeme waren. Luhmanns Theorie kann man deshalb ohne Zweifel als ein (über 45 Jahre verfolgtes) Lebenswerk bezeichnen, das sich aus Einzelwerken zusammensetzt, deren Verhältnis zueinander durch genau diese Theorie kontrolliert wird. Innerhalb dieses die Einzeltexte übergreifenden Rahmens hat Luhmann nahezu durchgängig mit einer jeweils konkreten Publikationsabsicht Texte erstellt.18 Erste Anlässe waren einerseits häufig Vorträge, aus denen dann jeweils in zeitlich schneller Folge ein Aufsatz entstanden ist, andererseits aber auch Texte zu Teilprojekten im Rahmen seines Gesamtwerks, dessen allgemeine Theorie zugleich eine konzeptionelle Vorgabe der zu behandelnden Themen an die Hand gab. Auffällig ist bei den Dokumenten im Nachlass, dass Luhmann nicht nur ein disziplinierter Vielschreiber war, sondern die Typoskripte auch zügig fertigstellte:19 Die jeweiligen Texte wurden in der Regel in wenigen Tagen oder 17
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Explizit nicht die Rede soll hier von der digitalen Edition des Zettelkastens sein (s. https://niklasluhmann-archiv.de/bestand/zettelkasten/tutorial [Stand: 14.05.2023]), auch wenn dieser für die oben genannte Frage nach dem Kontext des Textes von nicht unerheblicher Bedeutung ist. Eine gewisse Ausnahme stellen hier nur die oben genannten großen Entwürfe für eine Gesellschaftstheorie dar, von denen Luhmann nur die beiden letzten Fassungen aus den 1980er und 1990er Jahren explizit mit einer Publikationsabsicht geschrieben hat (tatsächlich von ihm veröffentlicht wurde dann nur die 1990er Fassung), während die früheren Fassungen zunächst (so seine eigene Sichtweise) ,Selbstvergewisserungstexte‘ waren.
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Patrick Sahle, Johannes F. K. Schmidt
Wochen zu Papier gebracht. Die typische Luhmannsche Arbeitsweise bestand darin, in der ersten, bereits komplett ausformulierten Fassung das konzeptionelle Grundgerüst des Textes zu entwickeln, von dem dann auch in den überarbeiteten weiteren Fassungen nicht mehr abgewichen wurde. Ebenso unterblieben bei den Überarbeitungen in den meisten Fällen größere Textrevisionen oder Textstreichungen. Vielmehr bestand die Überarbeitung eines einmal geschriebenen Textes in dessen Erweiterung durch Einschübe, seien es wenige Sätze, seien es ganze Abschnitte im Umfang mehrerer Seiten. Die Texte wurden also überarbeitet, indem sie ,nach innen‘ wuchsen. Die Folge dieser Vorgehensweise sind mehrere aufeinander aufbauende Fassungen eines Textes, die aufgrund häufig fehlender Datierung zwar nicht immer exakt zeitlich bestimmt, aber doch chronologisch problemlos über einen Textvergleich geordnet werden können. Vor diesem Hintergrund besteht die editorische Aufgabe darin, das Nachlassmaterial werkbezogen zu bündeln und zu erschließen. Dabei orientieren wir uns lose an den grundlegenden ontologischen FRBR-Begriffen20 und unterscheiden in unserem Datenmodell in bewusster, bearbeitungspragmatischer Vereinfachung des FRBR-Schemas vor allem zwischen dem (abstrakten) ,work‘ / Werk, der (ebenfalls abstrakten) ,expression‘ / Expression und der (konkreten) ,manifestation‘ / Manifestation sowie dem ,item‘ / Exemplar (physischen Objekt). Dieses Vorgehen soll im Folgenden anhand eines konkreten Werkbeispiels und in Orientierung an den von uns oben formulierten forschungspragmatischen Grundfragen demonstriert werden.
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Seit der Etablierung der Grundlagen seiner Theorie Anfang der 1970er Jahre gibt es kaum noch fragmentarische, offensichtlich während der Arbeit abgebrochene Texte. Selbst die Typoskripte aus der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, die krankheitsbedingt nicht mehr publiziert wurden, sind an sich (argumentativ) vollständig und allenfalls von unüblich geringem Umfang. Die Functional Requirements for Bibliographic Records (FRBR) bilden eine weit verbreitete Grundlage für den Umgang mit bibliografischen Informationen. Von den weiter ausgreifenden Überlegungen, die in verschiedenen Textversionen seit 1998 (IFLA Study Group on the Functional Requirements for Bibliographic Records: Functional requirements for bibliographic records – final report. München 1998) weiter ausdifferenziert und an neuere Entwicklungen angepasst worden sind (siehe dazu die Informationsseite der FRBR-Arbeitsgruppe bei der International Federation for Library Associations (IFLA) unter https://www.ifla.org/publications/functional-re quirements-for-bibliographic-records (Stand: 14.05.2023) interessiert uns hier nur die ,Basisontologie‘ der sogenannten Gruppe–1-Entitäten. Dort wird die grundlegende Unterscheidung zwischen Werken (,work‘), ihren Ausdrucksformen (,expression‘), ihren Manifestationen (,manifestation‘) und den physischen Exemplaren (,item‘) beschrieben. Das Modell ist weitgehend an gedruckten Werken entwickelt worden (Expressionen sind dann z. B. Übersetzungen oder inhaltliche Überarbeitungen; Manifestationen sind ,Ausgaben‘), so dass eine Übertragung auf die manuskriptorientierte Werkgenese durchaus konzeptionelle und terminologische Schwierigkeiten haben kann. Allgemein bekannt ist z. B., dass ,manifestation‘ und ,item‘ nur in der Druckkultur sinnvoll zu unterscheiden sind, in der Manuskriptkultur aber in der Regel zusammenfallen, weil es dort ja keine (bis auf die materiellen Eigenschaften) identischen Exemplare einer Ausgabe (Manifestation) gibt.
Das Werk des Soziologen – Ist da ein Text in diesem Nachlass?
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2.1 Was gehört zu diesem Text? Das Werk mit dem Titel »,Was ist der Fall‘ und ,Was steckt dahinter‘?« (Arbeitskürzel: WidF) enthält die These Luhmanns, dass die Soziologie sich bislang ihrem Gegenstand mittels zweier Perspektiven genähert hat: entweder einer positivistisch-empirischen: „Was ist der Fall?“ oder einer kritisch-analytischen: „Was steckt dahinter?“ Diese inkongruenten Perspektiven haben die Entwicklung einer Theorie der Gesellschaft lange Zeit behindert; erst durch das Paradigma der sich selbst beobachtenden Systeme scheint eine Gesellschaftstheorie möglich, die beide Perspektiven zusammenführt.21 Auf der Basis dieses Werkverständnisses und in Orientierung am FRBRModell können dann eine ganze Reihe von Manifestationen dieses Werks identifiziert und innerhalb des Werks verschiedenen Expressionen22 zugeordnet werden, wie das folgende Diagramm veranschaulicht (Abb. 1).23 Bei den Manifestationen handelt es sich dabei um Typoskripte im Nachlass (Kreise), um Publikationen, die aus diesen Typoskripten direkt oder indirekt hervorgegangen sind (Rechtecke) sowie um ein Tondokument einer Vorlesung 21
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Zur Übersicht über das Werk siehe die bibliographische Beschreibung Niklas Luhmann-Archiv: Niklas Luhmann, „Was ist der Fall?“ und „Was steckt dahinter?“ [Werk 1145]. Bielefeld 2022. https://niklas-luhmann-archiv.de/bestand/literatur/item/nla W 1145 (Stand: 14.05.2023). Zur detaillierten Werkbeschreibung Johannes F. K. Schmidt: Niklas Luhmann, „Was ist der Fall?“ und „Was steckt dahinter?“ [Werk 1145] – Werkbeschreibung. Bielefeld 2022. https://niklas-luhmannarchiv.de/person/werkverzeichnis/werk/PR WB 1145 (Stand: 14.05.2023). Die Frage, wie die Expressionen bestimmt und nach oben (Werk) und unten (Manifestation) abgegrenzt werden, ist nicht ganz einfach zu beantworten und muss letztlich von den Editoren und ihrem eigenen Textbegriff entschieden werden. Während das Werk und seine Einheit durch die Aussageabsicht konstituiert wird, können Expressionen nur inhaltlich oder strukturell bestimmt und durch den sprachlichen Ausdruck voneinander unterschieden werden. Die Abgrenzung kann durch die bewertende Einschätzung erfolgen, inwieweit sich ein Text durch eine Überarbeitung gravierend von einem anderen unterscheidet, allerdings ist eine solche auch quantitative Bestimmung der Grenze bei Luhmann aufgrund seiner iterativen Überarbeitungstechnik häufig nicht eindeutig zu vollziehen. Deshalb liegt es in diesem Fall nahe, ergänzend dazu von der anderen Seite des Geneseprozesses, nämlich von der Frage nach der jeweiligen Publikation(sform) und der damit verbundenen ,Sprechhaltung‘ her eine Bestimmung der einzelnen Expressionen und so auch erst eine entsprechende Relationierung der Manifestationen vorzunehmen. Üblicherweise bildet ein Wechsel der Sprache auch eine Expression-Schwelle, weil es sich dabei um einen anderen sprachlichen Ausdruck handelt. Das Diagramm ist von links nach rechts ungefähr als chronologische Abfolge zu lesen. Die X-Achse ist aber nicht proportional, sie ist keine Kardinalskala. Die vertikalen Positionen bilden auf der linken Seite bei den Typoskripten die Zuordnung der Manifestationen zu verschiedenen Expressionen ab. 1993 B03 ist die erste Publikation in der Reihe „Bielefelder Universitätsgespräche und Vorträge“ auf Basis der Abschrift der überarbeiteten Fassung von Ms. 1516; diese Abschrift ist zugleich die identische Ausgangsfassung für die Überarbeitungen als Ms. 1517 und Ms. 1518, sie liegt als Reinschrift, die als Vorlage für den Druck gedient hat, im Nachlass aber nicht vor, weshalb sie in der Grafik als gepunkteter Kreis dargestellt wird. 1993 AJ16 ist die Publikation in der „Zeitschrift für Soziologie“. Zeitlich vor der Erstellung aller Texte liegen die Notizen im Zettelkasten, auf denen die ersten Ideen, aus denen sich das Werk speist, zu finden sind. Dies wird in dem Diagramm durch die Ergänzung oberhalb des Ms. 1514 angedeutet (zur inhaltlichen Erläuterung siehe weiter unten).
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Patrick Sahle, Johannes F. K. Schmidt
(Sechseck). Die Nachlassdokumente zur eigentlichen Textgenese selbst bilden ein Konvolut von insgesamt 10 Typoskripten, die 1992–94 entstanden sind:
Abb. 1: Nachlassdokumente und Publikationen zu »,Was ist der Fall?‘ und ,Was steckt dahinter?‘ Die zwei Soziologien und die Gesellschaftstheorie«.
Neun deutschsprachige Typoskripte (1514 bis 1521) sind Vorstufen und Endfassungen eines Aufsatztextes, die zu drei verschiedenen Expressionen (A, B, C) des Werks geführt haben, von denen zwei noch 1993 publiziert wurden.24 Diese beiden Druckfassungen (1993 B03 und 1993 AJ16) wurden in den folgenden Jahren in zwei bzw. sechs Sprachen übersetzt (Siglen [yyyy] T-[aann]),25 im Fall einer englischen Übersetzung liegt im Nachlass dazu ein (vom Übersetzer stammendes, aber von Luhmann bearbeitetes) Typoskript vor (3674). Neben den genannten Aufsatzfassungen gibt es als Teil einer weiteren Expression (E) ein kurzes, stichwortartig ausgeführtes Vortragsskript gleichen Titels (3321) sowie ein Audiodokument dieses Vortrags (A JJ 02–00), der Abschiedsvorlesung Luhmanns im Februar 1993.26 24
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Es gibt inzwischen eine weitere, beide deutschsprachige Druckfassungen collagierende (unautorisierte) Druckfassung (2018 B03), die zudem Teile der Laudatio des Dekans anlässlich der Vorlesung enthält ([Unautorisierter Nachdruck von] Niklas Luhmann: „Was ist der Fall?“ und „Was steckt dahinter?“ Die zwei Soziologien und die Gesellschaftstheorie. Norderstedt 2018. https://niklas-luhmann-archiv.de/bestand/literatur/item/luhmann 2018 B03 (Stand: 14.05.2023)). 1993-B03 ist die Grundlage für die englische Übersetzung 1995-T-AJ03 und die russische Übersetzung 2002 T-AB10. 1993 AJ16 ist die Grundlage für die englische Fassung 1994 T-AJ–14, die italienische Übersetzung 1993 T-AJ06, die japanische Übersetzung 1996 T-AB07, die dänische Übersetzung 2000 T-AJ01, die russische Übersetzung 2003 T-AJ14 und die norwegische Übersetzung 2013 T-AB59. Die verschiedenen Übersetzungen selbst verstehen wir dabei nicht als eigenständige Expressionen des Werks, da es sich zwar um voneinander abweichende sprachliche Ausdrücke handelt, diese aber gerade keine sinnhaften Abweichungen von Ausgangstext bedeuten – mit Ausnahme der deutlich gekürzten und mit Zwischenüberschriften versehenen englischen Übersetzung 1994 T-AJ14 und dem dazu vorliegenden Ms. 3674 (Expression D). Die bereits kurz nach dem Vortragstermin erfolgte Publikation in der Reihe der Bielefelder Universitätsvorträge (1993 B03) suggeriert (bis in die einleitende Fußnote hinein) zwar eine Dokumentation des Vortrags, der Text ist aber vor der Abschiedsvorlesung erstellt und in dieser nicht
Das Werk des Soziologen – Ist da ein Text in diesem Nachlass?
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Da Luhmann seine Texte wie oben erwähnt fast durchgängig publikationsoder zumindest anlassbezogen erstellt hat, ist das jeweilige Werk damit immer auch vergleichsweise scharf konturiert. Es liegt also zunächst einmal nahe, ein eher enges Werkverständnis zu unterstellen, das von der finalen Publikation ausgeht und von dort aus, die verschiedenen Entwicklungsstränge und Nebengleise (die Abschiedsvorlesung) in den Blick nimmt. Aus bibliographischer Sicht gehören dann aber auf der Rezeptionsseite auch die Übersetzungen und der Nachbzw. Raubdruck dazu. In einem geweiteten Blick wäre das Luhmannsche Gesamtwerk aufgrund seiner die verschiedenen Begriffe und Themen netzwerkartig zusammenführenden Theorie geradezu prädestiniert dafür, Beziehungen zwischen den verschiedenen Einzelwerken herzustellen. Bedenkt man zudem die der Texterstellung vorausgehende allgemeine Arbeitsweise Luhmanns, so können in einem entsprechend stark erweiterten Werkverständnis im Zuge der zukünftigen Nachlasserschließung noch andere Dokumente mit dem Werk zumindest verbunden werden. Dies gilt insbesondere für entsprechende Notizen im Zettelkasten, die die Werkidee selbst und seine Texte vorbereiten, wie auch umgekehrt aus den Texten des Werks Rückflüsse in den Notizzettelbestand möglich sind. Der Zettelkasten selbst bietet hier durch eine eigene Abteilung, in der Luhmann auf mehreren hundert Zetteln Titelvorschläge und z. T. auch detaillierte Gliederungsentwürfe für Publikationen notiert hat, einen editorisch nutzbaren Einstiegspunkt. In unserem Beispielfall findet sich auf dem Zettel 57327 mit der Titelformulierung Die beiden Soziologien und die Gesellschaftstheorie der Untertitel der späteren Manuskriptfassungen (dort dann abweichend zwei statt beiden), dazu ein Verweis auf den Zettel 7/31a1128 im Normalbestand, auf dem der Obertitel des Werks zitiert wird. In der Abteilung 7/31 Soziologie – allgemein29 finden sich diverse Überlegungen zu einer Soziologie der Soziologie, die im Rahmen des vorlie-
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verlesen worden; deren Vorlage ist vielmehr eben das Vortragsskript Ms. 3321 (eine strenge Dokumentation des Vortrags kann also allenfalls eine Transkription der Audioaufnahme AJ 02–00 leisten). Für die Bestimmung der Grenze zwischen Expression und Werk ist dieser Fall spannend, denn das (kurze) Vortragsskript zeigt nur eine vergleichsweise geringe Übereinstimmung mit dem Formulierungsbestand des zeitlich vorgängigen Aufsatztyposkripts. Die Einheit des Werks liegt, neben dem Titel, vor allem in dem, was gesagt werden soll (Inhaltsebene). Zugleich gibt es aber durchaus Parallelen auf der Ausdrucksebene und es ist spannend zu sehen, wie gedankliche und sprachliche Innovation aus dem Vortragskontext dann wiederum in die nachfolgenden Aufsatzfassungen (Expression B und C) eingegangen sind. Für die eigentliche wissenschaftliche Publikation des Textes in der Fachzeitschrift hat Luhmann dann die erste Aufsatzfassung (A) noch einmal deutlich überarbeitet, wobei offenbar aufgrund des zeitgleichen Umlaufs zweier Textfassungen bei der Überarbeitung zwei inhaltlich differierende Varianten (die Expressionen B und C) entstanden sind, von der nur eine zum Druck gebracht wurde. Niklas Luhmann: Zettelkasten 2, Publikationsentwürfe, Zettel 573. https://niklas-luhmannarchiv.de/bestand/zettelkasten/zettel/ZK 2 PE 554 V (Stand: 14.05.2023). Niklas Luhmann: Zettelkasten 2, Normalbestand, Zettel 7/31a11. https://niklas-luhmannarchiv.de/bestand/zettelkasten/zettel/ZK 2 NB 7–31a11 V (Stand: 14.05.2023). Niklas Luhmann: Zettelkasten 2, Normalbestand Zettel 7/31. https://niklas-luhmannarchiv.de/bestand/zettelkasten/zettel/ZK 2 NB 7–31 V (Stand: 14.05.2023).
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genden Werks thematisiert werden, sowie Verweise in andere, für die Themenstellung einschlägige Abteilungen des Zettelkastens. Ebenso lassen sich Spuren der Werkidee in Texten anderer Werke identifizieren, da Luhmann immer an mehreren Texten parallel gearbeitet und entsprechend auch die konsultierte Literatur multiperspektivisch gelesen hat.30 Denkbar ist schließlich auch die Berücksichtigung von Nebendokumenten aus der Korrespondenz, z. B. im Zuge der Publikation oder der Erstellung der Übersetzungen durch Dritte oder Bezüge zur rezipierten Literatur, die – vermittelt über entsprechende Notizen in der bibliographischen Abteilung des Zettelkastens – wiederum zu anderen Werken führen. 2.2 Wie ist mit dem Material zu verfahren? Im Raum der digitalen Praktiken gibt es ein Kontinuum von der Erschließung bis zur kritischen Edition. Es reicht von der Dokumentidentifikation sowie der archivischen Erschließung und Beschreibung über die rein materielle Digitalisierung in Form der Faksimilierung bis hin zur textkritischen editorischen Behandlung und ggf. Konstitution eines Lesetextes. Im Zuge der Ersterschließung und Findbucherstellung ist das Nachlassmaterial bereits systematisch erhoben worden. Bei der Dokumentidentifikation wurden in einem ersten Erschließungsschritt die Typoskripte in einer Liste erfasst, bei der jedes Dokument mit einer laufenden Nummer versehen und in seinen wesentlichen Merkmalen – Konvolutzugehörigkeit, Titel, Umfang, Bearbeitungszustand (Reinschrift, Korrekturen, Einfügungen), Datierung (so vorhanden) – kurz beschrieben wurde. Die Auffindesituation wie auch die äußere Form der Textfassungen (z. B. die konsequente Betitelung der Texte und deren systematische Durchpaginierung) führte dabei in nur wenigen Fällen zu Zurechnungsoder Abgrenzungsproblemen.31 Im Anschluss an die Ersterfassung erfolgt in Orientierung an dieser durch das Material weitgehend vorgegebenen Struktur eine digitale Faksimilierung der Dokumente, dabei werden die Dateien unter der jeweiligen Objektsignatur abgelegt.
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Im konkreten Fall kann man z. B. in einem zeitlich unmittelbar vor der ersten Typoskripterstellung geschriebenen Text mit dem Titel „Möglichkeiten und Schranken der Kommunikation über Umweltprobleme“ (Ms. 0947) die für WidF titelgebende Frage mit Blick auf die Ökologieproblematik bereits notiert finden. Das ist zwar nur eine sehr marginale Verbindung zum Werk, aber eine erste Spur, die z. B. die Frage erlaubt, ob die Werkidee selbst nicht vielleicht von der Beschäftigung mit der Ökologiefrage evoziert wurde und nicht – wie es auf den ersten Blick nahe liegt – aus einem primär soziologie- bzw. theoriehistorischen Forschungsinteresse stammt. Nur in seltenen Fällen befanden sich bei den Typoskripten neben dem durchpaginierten Text zusätzliche Einzelseiten oder Notizzettel. Diese wurden dann als Anlagen zum Dokument aufgenommen. Lagen mehrere Fassungen eines Textes in einer Mappe, so wurde diese mit einer Konvolutnummer versehen, die einzelnen Manifestationen dann aber separat erfasst.
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Für jedes Dokument wird dann eine eigene TEI-Datei angelegt, die zugleich als ein Container fungiert, um nicht nur die Metadaten und die Verweise auf die Digitalisate, sondern auch die editorische Arbeit aufnehmen zu können.32 Neben der Auflistung der o. g. Dokumentmerkmale und ergänzend der Zuschreibung eines Entstehungszeitraums (bei Nichtdatierung) und eines Entstehungsortes sowie Informationen zu etwaigen Beilagen enthält die Datei eine ausführlichere verbale Beschreibung der Dokumenteigenschaften. Benannt werden außerdem die Zugehörigkeit zu einem Werk, (soweit vorhanden) die Textfortsetzung (bei monographischen Typoskripten) und die Nachfolgefassung im Rahmen der Textgenese einer Expression, soweit diese identifizierbar ist.33 Zudem erfolgt eine Verschlagwortung des Dokuments in Orientierung an dem allgemeinen Schlagwortregister des Projekts. Die wenigen handschriftlichen Manuskripte werden manuell transkribiert, die maschinenschriftlichen Manuskripte und die Computerdateiausdrucke werden standardmäßig durch OCR erfasst. Auf dieser Basis entsteht eine Grundtranskription, ohne dass generell eine genaue Kollation aller Fassungen angestrebt wird. Die automatisch erstellte Transkription ist die Grundlage für eine Durchsuchbarkeit der Volltexte sowie für die Auszeichnung der von Luhmann notierten Literatur, deren bibliographische Stellvertreter ein zentrales Element in der Verknüpfung der verschiedenen Datenbestände im Nachlass bilden. Längere handschriftliche ergänzende Passagen werden immer transkribiert, ebenso werden kompliziertere Textverschachtelungen editorisch so aufbereitet, dass der Sinnnachvollzug in der transkribierten Fassung erleichtert wird. Für eine standardmäßige Beschreibung der Mikrogenese eines Textes in Form der genauen stellenweisen Transkription der Überarbeitungsspuren in einem Dokument besteht in der Regel keine fachwissenschaftliche Notwendigkeit.34 Um später bei der Präsentation des Materials auf dem Forschungsportal eine synoptische Synchronisierung der Faksimiles der verschiedenen, aufeinander aufbauenden Manifestationen einer Expression zu ermöglichen, werden allerdings Sinnabschnitte markiert. 32
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Funktional hätte man hier auch mit METS-Dateien arbeiten können, solange es nur um die strukturelle Aufbereitung von digitalisierten Dokumenten geht. Wegen der Konvergenz zu anderen Projektbereichen (Zettelkasten), den möglichen späteren Weiterungen (Transkription) und der Integration in die Arbeitsumgebung (projektspezifische Erfassungsmaske im oXygen-AuthorMode) wird aber von Anfang an eine projektinterne TEI-customization verwendet. Auf dieser Basis wird dann über eine entsprechende technische Verlinkung eine Visualisierung der Beziehungen der Dokumente zueinander in der Werkbeschreibung auf dem Forschungsportal möglich. Die Luhmannsche Überarbeitungstechnik – in Form einerseits handschriftlicher Ergänzungen im Text und auf Rückseiten, andererseits maschinenschriftlicher Ergänzungen auf den Rückseiten sowie maschinenschriftlichen Einschübe auf eingelegten Seiten, die selbst wiederum handschriftlich ergänzt werden können – stellt eine Zwischenstufe zwischen Mikro- und Makrogenese dar, die sich einer eindeutigen Zuschreibung der Zeitpunkte der Veränderungen verweigert. Deshalb wird bei der Edition in der Regel allein auf der Ebene der Makrogenese in Form eines Versionenvergleichs auf der Basis der deutlich unterscheidbaren physischen Dokumente operiert.
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Die Makrogenese der Texte in Form des Verhältnisses der Dokumente zueinander wird einerseits im „text / back“-Bereich der einzelnen TEI-Dateien festgehalten, indem entsprechende Verknüpfungen zu den Nachfolgefassungen konstituiert werden,35 andererseits werden die Relationen zwischen den Fassungen textlich beschrieben. Neben den digitalen Repräsentanten für die einzelnen Textfassungen gibt es deshalb ein zusätzliches digitales Dokument, das das Werk selbst repräsentiert. Im Rahmen dieser sogenannten ,Werkbeschreibung‘ wird zum einen in einem Abstract ein kurzer Überblick über die Werkbestandteile gegeben, zum anderen in einer umfassenderen editorischen Erläuterung zum Werk das jeweilige Verhältnis der verschiedenen Entitäten, insbesondere der verschiedenen Dokumente und Textfassungen zueinander sowie das Verhältnis zu (anderen) Werken im Detail dargestellt. 2.3 Was wird daraus? Die digitale Präsentation der edierten Dokumente erfolgt im Rahmen des Forschungsportals des Projekts.36 Der Schwerpunkt der Präsentation liegt auf der faksimilierten Darstellung der Dokumente und deren Relationen sowie der Einbettung der einzelnen Dokumente und Texte in das Gesamtwerk Luhmanns. Aufgrund der – wie oben beschrieben – durch das Material in den meisten Fällen eindeutig vorgegebenen Grenzen der Werke und deren Manifestationen beschränkt sich die Editionsleistung weitgehend auf eine Zusammenführung der einzelnen Manifestationen, eine die textlichen Zusammenhänge (und Differenzen) der verschiedenen Fassungen im Detail veranschaulichende Präsentation sowie eine erläuternde Kommentierung der Fassungen und unter Umständen das Verhältnis zu anderen Werken und Dokumenten im Nachlass. Eine editorische Konstitutionsleistung, die über diese Abbildfunktion – also eine Repräsentation dessen, ,was ist‘ – hinausgeht, indem eine weitere Manifestation im Rahmen eines Werks erstellt wird, erfolgt in der Regel nur für die Edition der Lesefassung im Druck, ohne dass damit ein textkritischer Anspruch verbunden wird.37
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Hier orientieren wir uns an einem Verfahren, das sich bei der digitalen Edition des Zettelkastens in Form der Konstitution von Zettelverknüpfungen bereits bewährt hat. Das Konzept der ,back matter‘ kommt aus der Frühzeit der Text Encoding Initiative und bildete dort die ,Anhänge‘ von Druckwerken ab. In der Praxis der TEI-Community wird es aber auch als allgemein ergänzende (z. B. analytische) Zugabe zu der eigentlichen textuellen Repräsentation (in text / body) verstanden. [Digitales] Niklas Luhmann Archiv, Online-Bestand. Unter der editorischen Leitung von Johannes F. K. Schmidt. Aktuelle Version 12, Universität Bielefeld: Fakultät für Soziologie, 14.05.2023. https://niklas-luhmann-archiv.de/bestand. Siehe die neu aus dem Projekt entstandenen Ausgaben bei Suhrkamp: Niklas Luhmann: Die Systemtheorie der Gesellschaft. Hrsg. von Johannes Schmidt / Andre´ Kieserling. Berlin 2017; Niklas Luhmann: Die Grenzen der Verwaltung. Hrsg. von Johannes Schmidt / Christoph Gesigora. Berlin 2021.
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Der Einstieg in den Präsentationsbestand kann dabei auf verschiedenen Wegen erfolgen: über eine Werkliste, die die einzelnen Werke entweder thematisch38 oder chronologisch (über eine Timeline) ordnet, über eine Suchfunktion, die es erlaubt, nach Manuskripten anhand unterschiedlicher Kriterien (Volltextsuche, Manuskripttitel, Entstehungszeitraum, Schlagwort) zu suchen, oder über eine publizierte Manifestation eines Werks, die im bibliographischen Register des Projekts aufgeführt ist39 und die jeweils zugehörigen Manuskripte auflistet.40 Der privilegierte Einstieg in ein Werk führt dann über die editorische Zusammenschau in Form der Werkbeschreibung, da nur so ein erster Überblick über die vorliegenden Manifestationen und deren Relationen gewonnen werden kann. Die editorische Erläuterung wird flankiert durch eine Gesamtvisualisierung der im Nachlass vorliegenden Dokumente (und Publikationen) und deren Beziehungen, wie sie oben am Beispiel von WidF exemplarisch vorgenommen worden ist. Bereits diese Ansicht ist zugleich als Navigationstool verwendbar, so dass man sowohl von der Visualisierung des Werks selbst wie auch von den im editorischen Bericht angelegten Links auf die Präsentation der Einzeldokumente gelangen kann. Die Präsentation der faksimilierten Dokumente erfolgt standardmäßig zunächst in einer Einzelansicht. Bei der Faksimileansicht der Seiten des Dokuments kann mittels einer an der digitalen Zetteledition angelehnten Navigation über Buttons41 durch das Dokument geblättert werden, zum Überblick über das Gesamtdokument dienen eine Inhaltsübersicht sowie eine Thumbnail-Ansicht. Aufgrund der Luhmannschen Ergänzungs- und Einschubtechnik im Rahmen der seriellen Texterstellung ist in jedem einzelnen Manuskript eine direkte Anschaulichkeit der iterativen Textveränderungen gegenüber der Vorgängerfassung bereits gegeben, so dass eine synoptische Ansicht der Faksimiles nicht notwendig erscheint. In davon abweichenden Fällen wird durch eine editorische Kommentierung auf den Sachverhalt hingewiesen.
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Siehe dazu die zunächst listenförmige Übersicht: Ernst Lukas et al.: Niklas Luhmann. Berlin / Bielefeld 2022 – Werkverzeichnis (1958–2021). https://niklas-luhmann-archiv.de/person/ wewerkverzeichnis/uebersicht (Stand: 14.05.2023). ,Thematisch‘ meint hier nur eine alphabetische Ordnung entsprechend der Werktitel. Aufgrund der netzwerkartigen Anlage und hohen theoretischen Integration des Gesamtwerks ist eine darüber hinausgehende Gruppierung der einzelnen Werke nach Themengruppen kaum sinnvoll umsetzbar, ohne dass ein Werk immer in mehreren Themengruppen auftauchen würde. Für einen solchen themenspezifischen Zugang bietet sich dann das Schlagwortregister an. In diesem bibliographischen Register sind auch die Werke selbst mit einem eigenen Eintrag (s. o.) aufgeführt. Das Register enthält insofern zwei FRBR-Entitäten: Manifestationen und Werke. Siehe z. B. für den Fall von WidF die beiden Einträge https://niklas-luhmann-archiv.de/ bestand/bibliographie/item/luhmann 1993 B03 und https://niklas-luhmann-archiv.de/bestand/bi bliographie/item/luhmann 1993 AJ16 (Stand: 14.05.2023). Siehe dazu den Punkt (3.1) in Johannes F. K. Schmidt: Tutorial zum digitalen Zettelkasten. Bielefeld 2019. https://niklas-luhmann-archiv.de/bestand/zettelkasten/tutorial (Stand: 14.05.2023).
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Exemplarisch lassen sich solche Textdifferenzen am Beispiel von WidF demonstrieren, und zwar an einem Fall, bei dem Luhmann einen ergänzenden Gedanken, den er erstmals im Vortragsskript zur Abschiedsvorlesung (Expression E) entwickelt und in die Überarbeitung des Aufsatzes in der Expression C übernimmt, während die Expressionen A und B die entsprechende Passage noch nicht enthalten bzw. nicht aufnehmen (Abb. 2). Erst dieser Textvergleich klärt im Übrigen auch das chronologische Verhältnis der nur zum Teil datierten Manuskripte zueinander und erlaubt eine eindeutige Zuordnung der Manuskripte zu den Expressionen und eine Differenzierung der Expressionen B und C voneinander.42 Es handelt sich dabei um eine anschauliche Erläuterung der Probleme eines sog. Theorienvergleichs.
Ms 1514 – Textstelle noch nicht vorhanden.
Abb. 2a: Ms 1516, S. 1 – Textstelle noch nicht vorhanden (Expression A).
Abb. 2b: Ms 3321, S. 2 – Entwurf des neuen Gedankens (Expression D).
Abb. 2c: Ms 1517, S. 2 – keine Aufnahme von 3321 (Expression B).
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Denkbar (aber im konkreten Fall aufgrund des Editionsstandes des Zettelkastens noch nicht überprüfbar) ist natürlich zudem, dass sich im Zettelkasten über die o. g. Einstiegszettel hinausgehend detailliertere Notizen finden, die im direkten Zusammenhang mit der Erstellung des Werks WidF stehen. Konkret kann man dies z. B. an dem Fall eines anderen Aufsatzes zum Zettelkasten sehen (Niklas Luhmann: Kommunikation mit Zettelkästen. In: Öffentliche Meinung und sozialer Wandel. Hrsg. von H. Baier u. a. Opladen 1981, S. 222–228), dessen direkte Spuren sich im Zettelkasten finden: Niklas Luhmann, Zettelkasten 2, Normalbestand, Zettel 9/8 (https://niklas-luhmannarchiv.de/bestand/zettelkasten/zettel/ZK 2 NB 9–8 V [Stand: 14.05.2023]).
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Abb. 2d: Ms 1518, S. 2 – Marker für Einschub (Expression C).
Abb. 2e: Ms 1518, eingeschobenes Blatt nach S. 2 – neue Formulierung.
Abb. 2f: Ms 1519, S. 2 – neue Formulierung integriert.
Abb. 2g: Publ. B03, S. 5 – Textstelle nicht vorhanden (aus Ausgangsfassung für 1517/1518) (Expression A).
Abb. 2h: Publ. AJ16, S. 246 (Expression C). Abb. 2a-h: „Theoriediskussionen“ – „Theorievergleichsprogramm“ – „Elefanten und Giraffen“. Gedanken- und Textentwicklung bei Luhmann.
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Im Projekt standardmäßig nicht vorgesehen ist eine über die skizzierte Präsentation hinausgehende ,echte‘ digitale genetische Edition,43 allerdings wird auch auf dem Portal eine Lesefassung des Textes angeboten werden, die in der Regel der Fassung letzter Hand entspricht.44
3. Harold Garfinkel Der Soziologe Harold Garfinkel (1917–2011) hatte, im Verhältnis zu seiner erheblichen methodischen Wirkung als Begründer der Ethnomethodologie, zu Lebzeiten vergleichsweise wenig publiziert.45 Ein wesentlicher Teil seiner Schriften ist erst lange nach der Entstehung und dann z. B. in Sammelbänden in Zusammenarbeit mit seinen Schülerinnen veröffentlicht worden. Teilweise sind seine Themen, Ideen und konzeptionellen Ansätze sogar erst von diesen weiterentwickelt und zu Texten ausformuliert worden. Garfinkel war in der Verfolgung seiner soziologischen Grundfragen stark an einer Entwicklung neuer Forschungsmethoden interessiert, für die er exemplarische Themen bearbeitete. Zu den klassischen geistes- und sozialwissenschaftlichen Basisverfahren der lesenden Rezeption anderer Autoren und der reflektierenden Entwicklung eigener Ideen kamen deshalb vor allem praktische Experimente hinzu, die auch als Teil der universitären Lehre durchgeführt wurden. Die üblichen Materialtypen in Autorennachlässen, nämlich Lesespuren, Notizen und Entwürfe werden deshalb bei ihm ergänzt durch Kursunterlagen, Gesprächstranskripte, studentische (Seminar-)Arbeiten und viele weitere Dokumentarten.
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Begriffsbildend sind hier verschiedene ,Leuchttürme‘, die allerdings allesamt einen literaturwissenschaftlichen Blick realisieren, der nur bedingt auf andere Fachperspektiven zu übertragen ist. Zu nennen sind hier die Faustedition – Johann Wolfgang Goethe: Faust, Historisch-Kritische Edition. Hrsg. von Anne Bohnenkamp / Silke Henke / Fotis Jannidis. Frankfurt a. M. u. a. 2018 (https://faustedition.net); Wolfgang Koeppen: Jugend, Textgenetische Edition. Hrsg. von Katharina Krüger / Elisabetta Mengaldo / Eckhard Schumacher. Greifswald 2016 (https://koeppen-ju gend.de); Arthur Schnitzler digital, Digitale historisch-kritische Edition. Hrsg. von Wolfgang Lukas / Michael Scheffel. Wuppertal 2018 (https://www.arthur-schnitzler.de); Friedrich Dürrenmatt: Das Stoffe-Projekt, Online-Version der textgenetischen Edition in fünf Bänden. Hrsg. von Rudolf Probst / Ulrich Weber. Bern 2021 (https://www.fd-stoffe-online.ch); Hermann Burger: Lokalbericht, Digitale Edition. Hrsg. von Peter Dängeli u. a. Bern 2016 (http://www.lokalbe richt.ch); Les Manuscrits de Madame Bovary, Edition Inte´grale sur le Web. Hrsg. von Yvan Leclerc / Danielle Girard / Marie Durel. Rouen 2009. https://www.bovary.fr (Stand: 14.05.2023). Im konkreten Fall von WidF wäre allerdings aufgrund der im weiteren Überarbeitungsverlauf ,verlorengegangenen‘ Änderungen und Ergänzungen der Expression B (Ms. 1517 und 1522) naheliegend, dass hier eine weitere Publikation erstellt wird. Die wichtigsten Werke sind schnell aufgezählt: Harold Garfinkel: Studies in Ethnomethodology. Englewood Cliffs (NJ) 1967; Harold Garfinkel: Ethnomethodological Studies of Work. Studies in Ethnomethodology. London / New York 1986; Harold Garfinkel, Anne W. Rawls, Ethnomethodology’s Program: Working out Durkeim’s Aphorism. Legacies of Social Thought. Lanham (MD) 2002; Harold Garfinkel, Anne W. Rawls: Seeing Sociologically: The Routine Grounds of Social Action. Boulder (CO) 2005.
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Zeit seines wissenschaftlichen Schaffens, nämlich von 1939 bis zu seinem Tod 2011, sammelte Garfinkel alle Materialien, die ihm für bestimmte Themen relevant erschienen. Auch zeichnete er zusätzlich häufig Gespräche und Experimente auf, so dass es neben den ,Papier-‘ auch größere Audiobestände gibt. Der äußerst umfangreiche Nachlass befand sich – mit einigen Ausnahmen46 – in seinen Arbeitsräumen in Los Angeles,47 wird aber bereits seit 2008 von seiner Schülerin, Mitarbeiterin und dann selbst Professorin für Soziologie Anne Rawls betreut. Inzwischen in ein Gebäude in der Nähe von Boston umgezogen, wird seit einigen Jahren an der Sicherung, Ordnung, Digitalisierung und Erschließung der Bestände gearbeitet. Dabei gibt es eine enge Kooperation mit der Universität Siegen, an der in einer interdisziplinären und internationalen Arbeitsgruppe, teilweise im Rahmen des DFG-Sonderforschungsbereiches 1187 Medien der Kooperation, seit 2016 intensiv an dem Nachlass geforscht und seine Verwandlung in ein digitales Archiv unterstützt wird. Ein Gegenstand von Teilprojekt P0348 der zweiten Förderphase ist dabei die experimentelle und methodenreflexive Behandlung49 eines geradezu verschwindend kleinen Teilbestandes des Nachlasses, der unter dem thematischen Oberbegriff Occasion Maps (Arbeitskürzel: OM) firmiert. Dieses Material bildet das zweite Beispiel unseres Beitrags. Bei den Occasion Maps geht es um die Frage, wie wir Menschen uns im Raum orientieren, bewegen und erfolgreich zurechtfinden. Diese besondere Art von ,Maps‘ bzw. Karten werden dabei nicht als getreues, benutzungsoffenes Abbild eines Territoriums, sondern allgemeiner als anlassbezogene Instruktionen verstanden. Sie umfassen deshalb neben kartenähnlichen Skizzen (,sketched maps‘) auch andere Formen von allgemeinen, situativ gezeichneten oder im (z. B. mündlichen oder telefonischen) Gespräch gegebenen Anleitungen und Anweisungen zur Erreichung eines Zieles. Die Studien zu den Occasion Maps stehen dadurch in Zusammenhang mit anderen Experimenten Garfinkels, bei 46
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An der University of California Los Angeles befindet sich ein Teilnachlass von rund 26 Regalmetern (160 Kisten) mit Dokumenten aus der Zeit von 1954 bis 1987. Bestandsbeschreibung und (grobes) Verzeichnis finden sich auf den Webseiten des Online Archive of California: https://oac.cdlib.org/findaid/ark:/13030/kt087015p0/ (Stand: 14.05.2023). Noch zu Lebzeiten hatte Garfinkel, in konsequenter Verfolgung seines alles dokumentierenden Ansatzes, die Aufbewahrungssituation seiner Papiere und ihre Benutzungssituation, also seine Arbeitssituation, in einem selbst verlegten Fotoband mit dem Titel „Garfinkel’s Study“ (2009) festgehalten. Vgl. Alan F. Blackwell, Mark Blythe und Jofish Kaye: Undisciplined disciples: everything you always wanted to know about ethnomethodology but were afraid to ask Yoda. In: Personal and Ubiquitous Computing 21, 2017, S. 590. Medien der Praxeologie III: Digitale Forschungswerkzeuge und Umgebungen. Siehe die entsprechende Seite beim Sonderforschungsbereich: https://www.mediacoop.uni-siegen.de/de/pro jekte/medien-der-praxeologie-iii-digitale-forschungswerkzeuge-und-umgebungen/ (Stand: 14.05.2023). Hier geht es im Grunde um einen methodenrekursiven Ansatz: Wie kann der Nachlass Garfinkels aus der Perspektive Garfinkels (u. a. Garfinkels Dokumentbegriff) und mit Garfinkelschen Methoden (u. a. ethnomethodologisch) erschlossen werden? Dazu gehört es auf jeden Fall, die Praktiken dieser Erschließung jeweils mitzubeobachten und zu untersuchen.
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denen das Funktionieren unserer Alltagspraktiken – und dabei die menschliche Fähigkeit, die eigentliche Unwahrscheinlichkeit dieses Funktionierens auszugleichen – untersucht wird, indem genau beobachtet wird, wie sprachliche oder graphische Instruktionen trotz logisch betrachtet unvollständiger Beschreibungen dennoch gelingen. Dabei treten funktionale Merkmale der Karten bzw. Anleitungen ebenso zutage wie die semiotische, kommunikative, kulturelle Kompetenz der Adressaten als Teil sozialer Systeme. Wenn wir versuchsweise von der These ausgehen, dass es sich bei ,Occasion Maps‘ um ein (intendiertes?) Werk Garfinkels handelt, dann können wir für die Erschließung und ggf. Edition dieses Werkes wiederum unsere drei Vorgehensfragen stellen. 3.1 Was gehört zu diesem Text? Es gibt weder eine Publikation noch im Bestand ein druckfertiges oder sonstwie vollständiges Manuskript zu Garfinkels Gedanken zu den ,Occasion Maps‘. In gewisser Weise hatte Garfinkel die Publikation letztlich seinem Schüler Kenneth Liberman überlassen, der tatsächlich 2013 einen Beitrag unter dem Titel Following Sketched Maps veröffentlicht hat und dabei auf Gedanken und Material aus den Occasion Maps zurückgreift.50 Am nächsten kommt man einem traditionellen Autor-Text-bezogenen Werkverständnis noch mit einer Reihe von Entwürfen, eigentlich Erläuterungen bzw. Anhänge zu einem (geplanten) Förderantrag von 1996 (zu denen auch verschiedene Abstracts bzw. „Deckblätter“ existieren). Dazu finden sich weitere thematisch verwandte Entwürfe von 1993, 1991 und noch weiter zurück von 1988. Eine eindeutige Zuordnung zu einem intendierten, sprachlich stabilisierten Textwerk Occasion Maps wird schon dadurch unmöglich gemacht, dass es keinen gleichbleibenden Titel gibt51 und der formulierte Gehalt der Texte höchst unterschiedlich ist. Auch eine klare Grenzziehung zwischen den Entwürfen und anderen Formen von textlichen Notizen ist nicht möglich. Alle genannten Texte sind Teil eines von Garfinkel bzw. Rawls 50 51
Das Buchkapitel ist Teil der Monographie von Kenneth Liberman: More Studies in Ethnomethodology Albany 2013, zu der wiederum Garfinkel das Vorwort geschrieben hatte. Es folgen einige Beispiele: (1) „Studies to Extend the Relevance of the Locally Occasioned Logical Properties of Occasion Maps to Four Settings of Work in the Professions and Sciences that Involve Local Achievements of Instructably Reproducible Phenomena“ (1988, 1-f4.1-s9.1 und 1-f4.1-s9.2), (2) „Can the Locally Achieved, Locally Occasioned Logical Properties of Occasion Maps be Relevantly Extended to Other Settings than Way-Finding Journeys that Involve Locally Occasioned Achievements of Instructably Reproducible Phenomena“ (1991, 1-f4.1-s5, 1-f4.1-s6, 1-f4.1-s7 und 1-f4.1-s8), (3) „The Locally Occasioned, Endogenously Achieved Properties of Logic, Meaning, Method, Reason, and Order of Occasioned Maps“ (1993, 1-f4.1-n3, 1-f4.1-s3 und 1-f4.1-s4), (4) „Notes Comparing Two Analytic Formats of Occasion Maps of Way Finding Journeys: ,Documentary‘ and ,Essentially Procedural‘“ (1996, 1-f1-s4, 1-f1-s6, 1-f1-s7, 1-f1-s8 und 1-f2-s5). (5) „And So? What’s in it for Cartography?“ (1996, 1-f2-s6, 1-f1-s2) bildet die weitere Ausarbeitung eines vielleicht als einzelnes Kapitel intendierten Teils des Textes.
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unter dem Begriff ,Occasion Maps‘ zusammengestellten Bestandes, der in drei Abteilungen52 insgesamt 22 ,Ordner‘ bzw. Mappen oder Umschläge und andere Objekte enthält. Grundsätzlich dem Verständnis und der Bestandsbildungspraxis Garfinkels folgend, rechnen wir zunächst alle darin enthaltenen Dokumente dem Werk zu (Abb. 3). Dabei handelt es sich, abgesehen von den (1.) Textentwürfen, (2.) neben einer Gruppe weiterer Notizen auch um (3.) Materialien aus der Lehre (Konzepte, Pläne, Unterlagen, Transkripte von Gesprächen, studentische Arbeiten53) und (4.) verschiedenste weitere Dokumente, darunter z. B. Artikelkopien, ein rezipiertes und annotiertes Buch (inkl. Kaufbeleg), einen Terminkalender, Rechnungen, Formulare etc. Es bleibt zunächst unklar, ob und in welcher Weise weitere Materialien aus dem Nachlass den OM zugeordnet werden könnten.
Abb. 3: Vielfalt der Dokumentarten im Teilnachlass. Oben links: Annotierte Lektüre (1-b1); oben rechts: studentische Arbeit (2-e3-c1-s2); Mitte links: dito (2-f5-s1); mitte rechts: Bearbeitung einer Audiotranskription (2-f8-s3); unten: Zeichnung auf Overheadfolie (3-f1-i1).
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Die Bildung dieser drei Abteilungen ist ganz willkürlich erst im Zuge der Digitalisierung und Erschließung entstanden und hat keinen sachlichen Grund. Dabei liefern diese Arbeiten mit den von den Studierenden angefertigten ,sketched maps‘ und ihren Reflexionen über die Benutzbarkeit von Skizzen und Anleitungen wiederum Studienmaterial für Garfinkels Fragestellungen.
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3.2. Wie ist mit dem Material zu verfahren? Ordnen, verzeichnen, digitalisieren: die scheinbar offensichtliche archivische Abfolge von Prozessschritten gilt so nicht (bzw. nicht mehr) immer. Im vorliegenden Fall eines noch nicht endgültig geordneten und noch weitgehend unerschlossenen Nachlasses geschieht unter Umständen alles gleichzeitig (Abb. 4).54
Abb. 4: Der Bestand (das Werk?) Occasion Maps als Menge von durch Signaturen identifizierte Objekten (Dokumenten).
Im Prozess der Digitalisierung werden die zu digitalisierenden Objekte erst physisch und konzeptionell konstituiert und damit zugleich erstmalig verzeichnet. Die Vergabe einer (noch vorläufigen) Signatur macht ,physisches Material‘ erst zu einem Dokument und bestimmt seine Einheit und Grenzen.55 Mit der Vergabe 54
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Das Diagramm lehnt sich für die Zwecke dieses Beitrags bewusst an die Skizze zu Luhmanns WidF an, nimmt aber eine eher makroskopische Perspektive ein, um den breiteren Objektbestand abzubilden. Die Bezüge zwischen den einzelnen Objekten sind schwach und noch unerforscht. Nur für die Textentwürfe lässt sich eine Genealogie andeuten. Für eine vage Unterscheidung zwischen umfangreicheren und ,kleinen‘ Dokumenten (bis fünf Seiten – mehr als fünf Seiten) gibt es zwei Kreisgrößen. Im Vorgriff auf eine spätere Zoombarkeit einer digitalen, interaktiven Fassung sind Signaturen und Entwurfstitel eingetragen. Sie sind hier bewusst unterhalb der Lesbarkeitsschwelle. Die triviale Behauptung wird an Bibliotheks- und Archivgut unterschiedlich schnell deutlich, weil sie stark von den physischen Eigenschaften des Sammlungsgutes abhängt. Ein gebundenes Buch ist in seiner physischen Einheit (abgesehen vom Gegenstand-Werk-Problem bei Sammelbänden und mehrbändigen Werke) ,einfach‘. Auch physisch verbundenes Archivgut (gebunden, geklam-
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von Signaturen und daraus abgeleiteten Dateinamen für Digitalisate ist ein Nachlassarchiv physisch und im digitalen Raum potentiell navigierbar. Der nächste Schritt ist dann eine inhaltliche Erschließung,56 die gewöhnlich zu einem Findbuch führt. Im Projekt ist eine solche Verzeichnung des OM-Materials nach den gegenwärtigen Regeln der Archive vorgenommen worden,57 um untersuchen zu können, welche Möglichkeiten und Grenzen sich aus dieser Regelbefolgung ergeben und ob sie zu einer angemessenen Beschreibung führen. Dabei war – ganz im Sinne von Garfinkels eigenem Forschungsprogramm – zu beobachten, wie weit die Regeln mechanisch umgesetzt werden können und die Fragen der Erschließung ,vollständig‘ und ,eindeutig‘ abdecken oder doch zu lokalen adhocEntscheidungen außerhalb des Regelwerks zwingen. Im Projekt ist der Findbuchansatz aber letztlich nur ein Kontrastmittel der Methodenforschung. Hier geht es eher um die Frage explorativer und kooperativer Erschließung im Sinne der Generierung von digitalen Repräsentationsformen als Forschungsdaten zu Kulturerbeobjekten, die zugleich wieder die Basis für digitale Archive als Präsentationsund Zugangssysteme sein können. Zu fragen ist deshalb, welche alternativen Erschließungsformen sich anbieten und weiter verfolgt werden könnten, um die Dokumente erreichbar, den Zusammenhang des Materials sichtbar und das Werk explorabel zu machen. Dabei scheint für den gegebenen Fall die Konvergenz in der Entwicklung von sehr spezifischen Begriffen, Begriffskombinationen und Redeweisen zum gemeinsamen Thema in den ansonsten nur lose zusammenhängenden Dokumenten ein geeigneter Startpunkt zu sein. In einem nächsten Schritt könnte dabei einerseits ein manuell (also durch ,close reading‘) gewonnenes Netz zentraler Begriffe oder spezieller Redeweisen als Verdichtungspunkte des Garfinkelschen Denkens in Form einer Graphdatenbank realisiert werden.58 Andererseits können Versuche unternommen werden,
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mert, geheftet, geklebt) muss nicht zwangsläufig hinterfragt werden. Mappen und Ordner, Zusammengelegtes, Eingelegtes und Vermischtes zwingen aber zu Entscheidungen: Was ist ein Objekt, was gehört dazu, wo verlaufen die Grenzen, wo ist ein anderes Objekt? Die Frage wird verschärft und komplizierter durch Granulierung und Hierarchiebildung: ein Objekt – aber mit Unterobjekten? Archivobjekte sind Gegenstand und Ergebnis von Modellierungs- und Konstituierungsoperationen, die zwar kodifizierten Regeln folgen, durch diese aber niemals vollständig bestimmt werden können. Es ist eine typisch Garfinkelsche Situation. Der erste Schritt der Inhaltserschließung ist eine taxonomische Bestimmung. Dies ist zugleich der zweite Teil der Objektkonstitution. Auf „dies ist ein Objekt“ (das Einheit und Grenze hat) folgt „es ist ein Objekt der Art [X]“. Dabei besteht das Problem mehrfacher, ontologisch orthogonaler Taxonomien (physische Materialart, Textgattung etc.), also die Zuordnung von Objekten zu verschiedenen ,Systemen‘. Wir sind dabei den vom Standardisierungsausschuss der österreichischen und schweizerischen Nationalbibliothek und der Berliner Staatsbibliothek verabschiedeten und von Ralf Breslau, Volker Kaukoreit, Rudolf Probst, Jutta Weber, und Martin Wedl verfassten Richtlinien zur Ressourcenerschließung mit Normdaten in Archiven und Bibliotheken (RNAB) für Personen-, Familien-, Körperschaftsarchive und Sammlungen. Berlin / Bern / Wien 2019 (https://d-nb.info/1186104 252/34), gefolgt. Das Ergebnis ist eine umfangreiche EAD-Datei, die sich theoretisch in bestehende Archivsysteme integrieren oder an aggregierende Portale anschließen lassen würde. So können einerseits stetig wiederkehrende Phrasen Garfinkels wie „work of“ oder „in and as of“ identifiziert und in Verbindung gesetzt werden, andererseits kann die Entwicklung von Begriffs-
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auf der Grundlage zunächst ,schmutzigen‘ OCRs mit Verfahren des Text-Minings und des Natural Language Processings (also durch ,distant reading‘) Wort-, Begriffs- und Phrasenbezüge zwischen den Texten in ihrer historischen Entwicklung aufzudecken und automatisiert sichtbar und nutzbar zu machen (Abb. 5).59 Die Frage nach einer ,Edition‘ des Werkes scheint damit zunächst in weite Ferne gerückt, wenn man Edition in einem sehr klassischen Verständnis als Textkonstitution begreift. In einem weiteren Verständnis der Edition als ,erschließende Wiedergabe‘ erscheinen aber alle beschriebenen Operationen als sinnvolle Teilaktivitäten auf dem Weg zu einer möglichst sachadäquaten Aufbereitung des Textes als Summe der zu ihm gehörenden Dokumente.
Abb. 5a: 3-f5-s1, S. 1 notes, 1973.
Abb. 5b: 3-f6, S. 1 lecture notes, 1977.
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verwendungen und -zuschreibungen auch zeitlich nachvollzogen werden. Garfinkel beschreibt das Konsultieren einer Karte 1973 wie folgt: „the feature that it has as a part of the journey that [... the map] consulted to make“ (3-f5-s1, S. 14). Hier liegt die Betonung darauf, dass das Konsultieren ein Teil der Reise ist, wohingegen er in späteren Texten eher den situativen Charakter der Sachlage betont und „make“ gegen „done“ austauscht: „in vivo details of the way-finding journey that they are consulted to get done“ (1-f4.1-s5, S. 1). Im Jahr 1996 schließlich bestärkt Garfinkel erneut den situativen Charakter mit der Phrase: „[the] work of consulting the map is an unavoidable detail of the in situ, in its course, just this next time through, traveling body’s wayfinding journey that the map is consulted to get done“ (1-f2-s5, S. 1). Mit dem Aufbau eines Garfinkel-Korpus zum Trainieren von werkspezifischen Word Embeddings, und einer Garfinkel-Stoppwortliste und der Anwendung gängiger NLP-Verfahren auf die OCR-erkannten Texte wären dabei atomare ,Garfinkel‘-Tokens zu identifizieren und zu isolieren, über die thematische Dokument-Cluster bestimmt, ein Netz von verwandten Texten berechnet und der Kontrast zu den parallelen Close-Reading-Ansätzen gebildet werden könnten. Im Projekt werden diese Ansätze aktuell von Andre´ Heck verfolgt.
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Abb. 5c: 1-f4.1-s7, S. 1 draft (funding application), 1991.
Abb. 5d: 1-f4.1-s3, S. 1 draft, 1993.
Abb. 5e: 1-f2-s5, S. 1 draft, 1996.
Abb. 5f: 1-f2-s3, S. 1 draft (abstract), 1996.
Abb. 5g: Liberman 2003, S. 46. Abb. 5a-g: „Logical properties of occasion(ed) maps“: Konzeptentwicklung als Begriffsentwicklung bei Garfinkel (und seinen Schülern).
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3.3 Was wird daraus? Digitale Objekte bestehen grundsätzlich aus einer visuellen Repräsentation (Faksimile) und einer ,Beschreibung‘ (Identifikation, Metadaten, Annotationen, ggf. Transkriptionen). Sie lassen sich in digitalen Archiven beliebig (re-)konfigurieren, (re-)kontextualisieren und (re-)präsentieren. Repräsentation als Datenobjekte und Präsentation in medialisierenden Umgebungen bedingen sich gegenseitig, sind arbeitspraktisch aber weitgehend unabhängig voneinander. Die gegenwärtigen Paradigmen digitaler Archivpräsentation folgen stark den alten Konzepten von Katalog, Findbuch oder gedrucktem Buch. Im Rahmen der Erkundung neuer Zugangsformen zu einem digitalen Garfinkel-Archiv sollen alternative ,Interfaces‘ entwickelt und getestet werden. Diese können z. B. an aktuelle Tendenzen der interaktiven Sammlungsvisualisierung,60 von VR-Ansätzen oder der ,gamification‘ anknüpfen, versuchen aber zugleich, dem zu erschließenden Material dadurch gerecht zu werden, dass sein Inhalt, die dahinter liegende Sammlungsintention und der Blick des Bestandsbildners61 (Garfinkel) ernst genommen wird. Die Benutzung des Archivs ist letztlich ,a wayfinding journey‘, die durch ,occasion maps‘ angeleitet und organisiert werden kann. Das Überblicksdiagramm zum OM-Bestand kann insofern ein kleines Beispiel für eine einfache ,sketched map‘ sein, die sich zu einem dynamischen Interface als Teil einer Archivoberfläche ausbauen ließe.62 Ein editorisch konstituierter Lesetext für das Werk Harold Garfinkel: Occasion Maps wäre ein zweifelhaftes Ziel. Ein Findbuch andererseits leistet aber auch keine intellektuelle Durchdringung und befriedigende Aufklärung des Werkrahmens. Die Grenze zwischen digitalem Archiv und digitaler Edition ist unscharf63 und erfordert je nach Materiallage und Erklärungsanspruch verschiedene neue Bearbeitungspraktiken und Präsentationsmodi. Ihre Einheit liegt aber in dem gleichen Anspruch von Archiv und Edition: komplexe Textzusammenhänge zu erschließen und zugänglich zu machen. 60
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Beispielhaft und für den gegenwärtigen Entwicklungsstand kennzeichnend sind hier vor allem die verschiedenen Beispielprojekte und Prototypen zur Sammlungsvisualisierung am Potsdamer „Urban Complexity Lab“ unter der Leitung von Marian Dörk. Siehe dazu z. B. „Visuelle Exploration zweier musealer Sammlungen“ (https://uclab.fh-potsdam.de/projects/visual-explorati on/), „Close up cloud“ (https://uclab.fh-potsdam.de/projects/close-up-cloud/), „Coins“ (https:// uclab.fh-potsdam.de/projects/coins/) oder „Vikus Viewer“ (https://uclab.fh-potsdam.de/projects/ vikus-viewer/). Hier liegt die Herausforderung, das Verständnis von Garfinkel zu ,Dokumenten‘ und ,Erschließung‘ zunächst (aus seinen und seiner Schülerinnen Publikationen) herauszuarbeiten und dann für die Erschließung seines Nachlasses zu operationalisieren. Die großen Begriffe ,Dynamik‘ oder ,Interaktion‘ werden pragmatisch durch einfache Funktionen gefüllt. Z. B.: (1) Verlinkung der Bildelemente zur Präsentation einzelner digitaler Objekte, (2) explorative Vorschau durch die jeweils nächste Informationsschicht (z. B. Metadaten) im ToolTip-Modus, (3) Overview-and-Detail-Paradigma durch Sichtbarmachung weiterer Informationen bei fortschreitendem Zoom-In (erstes Beispiel hier: Signaturen, Entwurfs-Titel), (4) Filterung, Markierung, Reorganisation / Repositionierung durch Kontrollelemente (z. B. Auswahlboxen). Siehe dazu bereits früher Patrick Sahle: Digitales Archiv und Digitale Edition. Anmerkungen zur Begriffsklärung. In: Literatur und Literaturwissenschaft auf dem Weg zu den neuen Medien. Hrsg. von Michael Stolz. Zürich 2007, S. 64–84.
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4. Synthese Wie die beiden hier vorgestellten Nachlässe exemplarisch zeigen, entsteht das Werk des Soziologen auf sehr verschiedenen Wegen. Bei Niklas Luhmann dienen Texte der fallweisen Schließung eines thematischen wie argumentativen Horizonts, der als unendlicher Verweisungszusammenhang im Zettelkasten angelegt ist. Luhmann scheint immer schon zu wissen, was er sagen will und braucht jenseits des Hauptstranges seiner Sozial- und Gesellschaftstheorie nur spezifische Anlässe oder Rahmungen, um die Nebenzweige auszubilden, die die Theorie mit thematischer oder begrifflicher Varianz versorgen. Die Festlegungen, die die Texte treffen, basieren auf dem Nichtfestgelegten des Netzwerks der Notizen im Zettelkasten, der selbst aber kein Werk im klassischen Sinne ist.64 Bei Harold Garfinkel dienen die kontinuierlich zu sammelnden Dokumentationen und Textmaterialien dagegen der Eröffnung eines Arguments, das lange offen bleiben kann und vielleicht auch nicht von ihm selbst, sondern dann erst von seinen Schülerinnen oder gar erst von späteren Benutzern des Nachlasses ausformuliert wird. Er erstellt damit eine projekt- oder werkbezogene Materialsammlung, ohne selbst einen Text daraus zu machen. Eine häufig geäußerte Erwartung bei Luhmann ist, dass der Zettelkasten und der Nachlass nicht aufhören, Texte zu produzieren.65 Den Garfinkel-Nachlass müsste man hingegen erst einmal dazu bringen, überhaupt damit anzufangen. Was das Werk im Sinne von ,ein Werk des Soziologen‘ ist, entscheidet letztlich der Editor in mehr oder weniger sensibler Berücksichtigung der Vorstellungen, Zielstellungen und Arbeitsweisen des Nachlassers: Das Werk konstituiert sich in Nachlasserschließung und Edition in den Praktiken der Aufbereitung. In einem inkrementellen, schichtenhaften, modularen Vorgehen sind die Arbeitsschritte immer grundsätzlich die gleichen: Materialien identifizieren, Objekte konstituieren, Dokumente digitalisieren, Texte verzeichnen, Strukturen repräsentieren, Zeichenbestände transkribieren, genetische Prozesse aufdecken, Bezüge explizieren, Themen verschlagworten, Zusammenhänge editorisch beschreiben, ggf. einen Lesetext konstituieren. Diese Praktiken unterscheiden sich nur im Detail – und darin, welche jeweils sinnvoll angewandt werden können. Die verschiedenen Weisen der Beschreibung und Transkription (in einem weiten Sinne) beziehen sich auf Objekte, die ontologisch unterschiedlich zu fassen sind. Die Arbeit im digitalen Raum zwingt uns, dies explizit zu machen, um 64
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Ist der Zettelkasten ein Text? Oder sind es mehrere Texte? Repräsentiert er das Gesamtwerk? Diese Frage deuten an, dass die editorisch einfachen Lösungen, die Luhmann mit seinen Typoskripten für die Frage nach der Textkonstitution bietet, zu Lasten des in dieser Hinsicht dann schwierigen Falls des Zettelkastens gehen. Luhmann selbst hat die These in die Welt gesetzt, dass nicht er, sondern der Kasten eigentlich die Texte schreiben würde – die Erwartung, dass der Kasten ohne seinen Kommunikationspartner (gewissermaßen im Selbstgespräch) Texte generieren könnte, unterschätzt die Bedeutung der Differenz von Zettelkasten und Autor aber erheblich.
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komplexe funktionierende algorithmische Systeme darauf aufzubauen. Die FRBR-Entitäten Werk, Expression, Manifestation, Exemplar sind vergleichsweise gut geeignet, um den Nachlasskosmos Luhmanns zu organisieren. Bei Garfinkel entsteht allerdings zwischen dem Werk (das editorisch einfach postuliert werden kann) und den Dokumenten (Manifestationen, Exemplare) eine Lücke im Bereich der Expressionen: Die nachgelassenen Textentwürfe bilden keinen vollständigen Ausdruck des Werkes und sie sind zu divergent, um leicht eine Ordnung von Fassungen zu bilden. Das Werk besteht am Ende der nachlasserschließenden und editorischen Behandlung aus allem, was der Editor dem Werk zugehörig erklärt. Es wird gebildet aus den Nachlassdokumenten (in ihren verschiedenen Repräsentationsformen), umfasst die bereits bestehenden Publikationen (und Übersetzungen), wird von einem editorischen Bericht (oder anderen Formen der Relationierung) zusammengehalten, weist Bezüge innerhalb und außerhalb der Materialien auf und kann ggf. in einem konstituierten Text eine weitere Aufführung erfahren. Dabei nimmt der Werkbegriff durchaus Rücksicht auf die Selbstverständnisse von Autoren und ihre Arbeitsweisen. Das einzelne Dokument ist weitgehend präkonfiguriert durch die Nachlassbildung, die aber selbst produktiv und durchaus willkürlich sein kann. Umstellungen, Neuordnungen Granularisierungen im Nachlass sind in begrenztem Maße möglich und manchmal auch nötig. Teilweise entsteht ein Dokument aber auch erst im Moment der Verzeichnung oder Digitalisierung als ,ein Objekt‘. Die Bezugsetzung von Dokument und Werk ist eine editorische Aufgabe. Bei Luhmann besteht eine starke Strukturvorgabe durch die Arbeitsweise und die Inhalte selbst, so dass eigentlich keine Unklarheiten bei der Zuordnung von Texten zu Werken bestehen. Allenfalls führt die starke interne Vernetzung das Gesamtwerks dazu, dass sich das Problem der Relationierung dann auf einer höheren Ebene noch einmal stellt.66 Im Garfinkel-Nachlass erfordert die Objektkonstitution dagegen stärker in das Material eingreifende Entscheidungen. Ebenso ist die Zuordnung zu einem Werk schwieriger, sind die Grenzen zwischen Werkkomplexen unklarer und die Verbindungen zu anderen Materialien offener. Hier ist zu überlegen, ob die Konfigurierung von Nachlassteilen als werkbezogene Materialien überhaupt sinnvoll und produktiv ist, oder man unter Verzicht auf ein (Einzel-)Werk-Paradigma nicht der Zugänglichmachung einer allgemeinen Materialsammlung den Vorzug geben sollte.67 66
So kann man eine ganze Reihe von Texten Luhmanns zur Verwaltung aus einer Zeitperiode von 1958 bis 1974 nicht nur einzelnen Werken, sondern zugleich auch einem Werkzusammenhang zuordnen, da sie alle Beiträge zu diesem den einzelnen (konkreten) Werken übergeordneten Werk sind. Ebenso gibt es eine Vielzahl von Texten zur Erziehung, die Luhmann seit Mitte der 1970er Jahre über fast zwei Jahrzehnte erstellt hat und die (als Werke) alle wiederum Beiträge zu einer allgemeinen Theorie der Erziehung sind, wobei dieser Werkzusammenhang dann zusätzlich noch von einer speziellen Notizsammlung außerhalb des Zettelkastens, die im genannten Zeitraum entstanden ist und alle Themen der verschiedenen Werke versammelt, grundiert wird. Aus arbeitspragmatischen wie aus konzeptionellen Gründen scheint uns aber die Einführung einer weiteren ontologischen Schicht oberhalb des Werks nicht sinnvoll.
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Die werkorientierte Behandlung eines Nachlasses zerfällt als Anwendungsfeld editorischer Prozesse in die Erschließungsseite und die Publikationsseite. Digitale Objekte, digitale Daten repräsentieren realweltliche Objekte und werden in ihrer Repräsentation rekonfiguriert und mit Informationen angereichert. Sie sind dabei weitgehend unabhängig von ihrer Präsentation in typographischen oder digitalen Medien. Portale und andere Interfaces sind arbiträre, austauschbare Zugangs- und Ausdrucksmittel für Nachlässe, Werke, Texte. Sie machen die verschiedenen Informationsebenen und die inneren und äußeren Bezugssysteme sichtbar und erfahrbar. Die Frage nach Werk und Text wird insofern noch einmal verdoppelt: auf der Ebene der modellorientierten Repräsentation und Beschreibung und auf der Ebene der Konstitution als Medienobjekt. Um mit Stanley Fish zu sprechen: Ist da ein Text in der Welt? Ist da ein Text in dem Nachlass? Wie eingangs angekündigt, haben wir den Begriff in unseren Ausführungen nicht genau gefasst, sondern konzeptionell unkontrolliert, terminologisch undifferenziert und scheinbar naiv verwendet. Der aufmerksamen Leserin wird nicht entgangen sein, dass wir dabei immer wieder unterschiedliche Dinge bezeichnet haben: Werke, Dokumente, äußere Form, sprachliche Formulierung, Fassungen, genetische Zusammenhänge, Aussageintentionen usw. usf. Die Grenze des Textes ist zunächst praktisch nach außen und nach innen – und dabei z. B. in Relation zum Dokument – zu bestimmen. Nach außen: Geht der Text über das Dokument hinaus oder ist er dadurch definiert? Nach innen: Was am Dokument gehört zum Text und was nicht? Damit sind aber schon verschiedene Bezugssysteme für den Textbegriff markiert und seine Vielschichtigkeit angedeutet. Es gibt ,Text‘ nicht als nackten Begriff: Er steht nicht für sich selbst und lässt sich nicht eindeutig definieren. Stattdessen kann streng genommen immer nur von ,Text als ...‘ die Rede sein. Text ist ein relationierender Begriff, der sich auf verschiedene Dinge (Material, Gedanken, Begriffe, Sprache, Medium) beziehen muss. Folglich gibt es den Text im Nachlass, aber er figuriert sich hier über seine Wahrnehmung, über seine repräsentierende Bearbeitung, über seine mediale Präsentation und über seine Benutzung. „Text is what you look at and how you look at it.“68 67
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Auch hier kommt man aber nicht umhin, Zugangs- bzw. Ordnungsparadigmen anlegen zu müssen. Den Werkbegriff kann man durch andere Begriffe (Thema, Projekt, Genre, Chronologie) ersetzen. Aber leisten diese eine bessere Operationalisierung von Garfinkels Blick auf seine Sammlung? Diese Parole wird hier nicht zum ersten Mal verwendet. Sie geht mindestens bis 2012 und auf einen Vortrag von Patrick Sahle zur Modellierung in den digitalen Geisteswissenschaften zurück. „What you look at“ fasst dabei zusammen, dass es Text nur als wahrgenommenes Objekt gibt, dass Text essentiell visuell wahrgenommen wird und dass Wahrnehmung die Verwendung eines Filters bedeutet. „How you look at it“ fasst alle Prozesse der Decodierung, Rekodierung, Verarbeitung, Wiedergabe zusammen. Es gibt bei der Phrase mindestens eine kleine intertextuelle Referenz zu Peter Robinson, Is There a Text in These Variants? In: Richard J. Finneran, The Literary Text in the Digital Age. Ann Arbor (Mi) 1996, S. 106. („,Is There a Text in These Variants?‘ The answer is: yes, depending on what you are looking at“).
III. Text(re)produktion deuten – theoretische und praktische Reflexionen
Niklas Sommer
Wie veröffentlicht man die Kallias-Briefe?
Wie jede*r erfahren hat, welche*r sich mit der Interpretation von Texten beschäftigt hat, ist dieses Unterfangen maßgeblich von der zugrundeliegenden Edition abhängig und ein Text in diesem Kontext ein dehnbarer Begriff. Denn was gehört zu diesem Text, der interpretiert werden soll, und in welcher Weise ist er zu präsentieren?1 Diese Fragen nehmen an Brisanz zu, je ungewöhnlicher der Text respektive die Textsorte ist, mit der man es zu tun hat. Schiller, um dessen Zugänglichkeit es im Folgenden gehen soll, stellt die Leser*in diesbezüglich, wie es im Bannkreis des Jenaer nachkantischen Idealismus nicht ungewöhnlich ist,2 vor ganz eigene Herausforderungen, weil es sich bei dem Werk, das er hinterlassen hat und um dessen Interpretation sich die Forschung seit Generationen bemüht, nicht wie beispielsweise im Falle Kants um ein geordnetes System handelt.3 Selbstverständlich ist der Ausdruck geordnetes System angesichts eines Nachlasses wie dem Opus Postumum4 oder etwa der Nachschriften von Hegels Vorlesungen oder Fichtes Wissenschaftslehre nova methodo mit Vorsicht zu genießen. Gleichwohl lässt sich doch ein Unterschied zwischen Kants Werk in 1
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Vgl. etwa Gunter Martens: Vom kritischen Geschäft des Editionsphilologen. Thesen zu einem weiter gefaßten Begriff der Textkritik. In: editio 19, 2005, S. 10–22. Zum Textbegriff s. außerdem Roger Lüdeke / Stephan Kammer (Hrsg.): Texte zur Theorie des Textes. Stuttgart 2005; Gunter Martens / Hans Zeller (Hrsg.): Texte und Varianten. München 1971. Vgl. Dieter Henrich: Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789–1795). Stuttgart 1991; außerdem ders.: Konstellationsforschung zur klassischen deutschen Philosophie. Motiv – Ergebnis – Probleme – Perspektiven – Begriffsbildung. In: Konstellationsforschung. Hrsg. von Martin Mulsow. Frankfurt a. M. 2005, S. 15–31. Schillers Werke werden zitiert nach Friedrich Schiller: Schillers Werke. Nationalausgabe [zitiert nach Band und Seitenzahl]. Begründet von Julius Petersen, fortgeführt von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese, hrsg. von Norbert Oellers im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und des Schiller-Nationalmuseums Marbach. Weimar 1943ff. Zur Editionsgeschichte von Kants Opus Postumum s. beispielsweise Giovanni Pietro Basile: Kants Opus Postumum und seine Rezeption. Berlin 2013, S. 459–496; zur Bedeutung für die kantische Philosophie s. Johann Rheindorf: Kants Opus Postumum und das Ganze der Philosophie. Gesellschaft, Wissenschaft, Menschenbild. Tübingen 2010; Ernst-Otto Onnasch: Kants Philosopie der Natur: ihre Entwicklung im Opus Postumum und ihre Wirkung. Berlin / New York 2009; Anna Pickhan: Die Funktion des Äthers aus Kants Opus Postumum. Jena 2021. https: //www.db-thueringen.de/servlets/MCRFileNodeServlet/dbt derivate 00053262/diss pickhan.pdf (Stand: 01.02.2022); zur Bedeutung eines Textes im Kontext eines Werkes s. Gunter Martens: Das Werk als Grenze. Ein Versuch zur terminologischen Bestimmung eines editorischen Begriffs. In: editio 18, 2004, S. 175–186.
https://doi.org/10.1515/9783111006147–009
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Gestalt etwa der drei Kritiken und den Produkten aus Schillers Hochphase der 1790er Jahre beobachten. Denn Schillers ästhetische Theorie präsentiert sich in einem Konvolut aus prima facie lediglich lose zusammenhängenden (nicht selten fragmentarischen) Aufsätzen, privaten wie repräsentativen Briefen, Vorlesungsmitschriften und Vorbereitungsnotizen.5 Dieser Umstand stellt die Leser*in vor gewisse Herausforderungen.6 Eine besondere unter denselben stellen die sogenanten Kallias-Briefe dar. Bei diesen Briefen handelt es sich im engeren Sinne – wie ich an dieser Stelle hinzusetzen möchte – um eine Reihe an Briefen, sechs an der Zahl, die Schiller zwischen Ende Januar und Ende Februar an seinen Vertrauten und Freund Gottfried Körner richtet. Schillers Briefe befassen sich mit dem Vorhaben, entgegen der von Kant in der Kritik der Urteilskraft vertretenen Position, es könne kein objektives Kriterium des Geschmacks, keinen Begriff der Schönheit geben, ein solches Merkmal aufzuzeigen und Kant somit, wie er einem Bekannten der Jenaer Zeit schreibt, „durch die That zu widerlegen.“7 Schiller schreibt seine Briefe parallel zu seiner im Winter 1792 / 93 und Sommer 1793 gehaltenen Vorlesung über Ästhetik, in der ebenfalls Fragen der Ästhetik, nämlich die Fragestellung des Kallias-Projekts sowie Fragen der Kulturphilosophie erörtert werden. Intention der Briefe ist es, die entwickelte Theorie an Körner auszutesten und Schwächen zu prüfen, ehe Schiller sie in einem geplanten philosophischen Dialog Kallias oder über die Schönheit einem allgemeinen Publikum zugänglich macht. Dieser Plan ist von Schiller nie verwirklicht worden: Der Dialog ist niemals erschienen, die Briefe brechen am 28. Februar 1793 mit einem Einschluss Das Schöne der Kunst ab, obgleich Schiller mit der Schlussbemerkung „(Die Fortsetzung künftigen Posttag.)“8 die Absicht erkennen lässt, das Projekt fortzusetzen. Da Schiller die Feder jedoch nicht erneut aufnimmt, um Körner weitere Kallias-Briefe zu schicken, gelten sie, und mit ihnen das Projekt insgesamt, in der Forschung als Fragment und gescheitert.9 5 6
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Vgl. auch Jörg Robert: Ein Aggregat von Bruchstücken. Fragment und Fragmentarismus im Werk Friedrich Schillers. Würzburg 2013. Eine solche Herausforderung wäre etwa der Umgang mit Schillers noch zu erwähnender Vorlesung über Ästhetik, die er 1792 / 1793 hält und die abgesehen von zwei erhaltenen Manuskriptblättern lediglich zur Hälfte über eine Mitschrift des Hörers Michaelis enthalten ist, der sie nach Schillers Tod in einem Band Geist aus Friedrich Schillers Werken, gesammelt von Christian Friedrich Michaelis als Anhang herausgegeben hat. Vgl. Friedrich Schiller: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Band acht. Theoretische Schriften. Hrsg. von Rolf-Peter Janz. Frankfurt a. M. 2008, S. 1554ff. NA XXVI,188. NA XXVI,229. Vgl. etwa Sigbert Latzel: Die ästhetische Vernunft. Bemerkungen zu Schillers „Kallias“ mit Bezug auf die Ästhetik des 18. Jahrhunderts. In: Friedrich Schiller. Zur Geschichtlichkeit seines Werks. Hrsg. von Klaus L. Berghahn. Kronberg 1975, S. 241–253, S. 248f.; John M. Ellis: Schiller’s Kalliasbriefe and the study of his aesthetic theory. Den Haag 1969, S. 132–135. Hamburger und Henrich sehen die begrifflichen Widersprüche, die Schillers ästhetische Arbeiten insgesamt kennzeichnen, als in der Sache selbst und der kritischen Philosophie begründet. Vgl. Käte Ham-
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Mit diesen Informationen ist ein grober Rahmen um die Kallias-Briefe gezogen, der jedoch einige Probleme aufweist. Denn er ist einerseits unvollständig und andererseits irreführend. Meine Zusammenfassung legt die Ansicht nahe, dass es sich bei den Kallias-Briefen ausschließlich um Gedanken seitens Schiller handelt. So werden sie in der Forschung auch für gewöhnlich präsentiert; auf die Einzelheiten der verschiedenen Editionen werde ich diesbezüglich noch eingehen. Tatsächlich ist die Korrespondenz nicht einseitig. Als erster Hörer (von den Studierenden abgesehen) hat Körner an Schillers Theorie das eine oder andere auszusetzen und insgesamt etwas zu erwidern oder hinzuzufügen; Gedanken und Argumente, die auch deshalb interessant sind, weil sie durch ihre eigene halb bewundernde, halb kritische Lesart der kantischen Philosophie aufschlussreichen Kontext für Schillers Unterfangen bieten. Auf diese Weise kommt eine Art Dialog zustande, der dem geplanten Veröffentlichungsmedium vorgreift. Aus diesem Grund wäre es sachdienlicher, vom ,Kallias-Briefwechsel‘ zu sprechen, wenngleich Körners Beitrag zu der Debatte im Schatten seines berühmten Freundes verschwindet. Dies ist desto bedenklicher, als es Körner war, der Schillers Suche nach einem objektiven Geschmackskriterium angestoßen hat. Denn die Thematik lässt sich im Briefwechsel bis zu jenem vielzitierten Brief Schillers vom 3. März 1791 zurückverfolgen, in dem er enthusiastisch von seiner Lektüre der Kritik der Urteilskraft berichtet.10 Körner, der bereits länger auf Schillers Auseinandersetzung mit Kant hingearbeitet hat, lässt die Gelegenheit nicht vorüberziehen, Schiller auf den Mangel eines objektiven Geschmackskriteriums aufmerksam zu machen.11 Das Thema begleitet den folgenden Austausch sporadisch, bis Schiller es zur Vorbereitung seiner Vorlesung wieder aufgreift.
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burger: Schillers Fragment „Der Menschenfeind“ und die Idee der Kalokagathie. In: Philosophie der Dichter. Novalis. Schiller. Rilke. Hrsg. von ders. Stuttgart 1966, S. 83–129, besonders S. 100f. sowie Dieter Henrich: Der Begriff der Schönheit in Schillers Ästhetik. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 11, 1957, S. 527–547. Henrich meint deshalb jedoch, dass Schillers ästhetischen Schriften Aufmerksamkeit entgegengebracht werden sollte. Hamburger attestiert den ästhetischen (und poetischen) Schriften Schillers außerdem begriffliche Spannungen, die sich aus dem Konflikt zwischen kantischem und platonischem Einfluss ergeben. Käte Hamburger: Schiller und Sartre. In: Philosophie der Dichter. Novalis. Schiller. Rilke. Hrsg. von ders. Stuttgart 1966, S. 129–179. Riedel ist der Ansicht, dass Schiller „mit und zugleich gegen Kant“ philosophiert. Er übernimmt das freie Spiel der Vermögen aus der Kritik der Urteilskraft, transformiert dieses jedoch, indem er es anthropologisch umdeutet. Damit gewinnt er die Grundlage für seine Kritik an der kantischen Ethik. Wolfgang Riedel: Die anthropologische Wende: Schillers Modernität. In: Würzburger Schiller-Vorträge 2005. Hrsg. von Jörg Robert. Würzburg 2005, S. 1–27. Vgl. auch Helmut Pfotenhauer: Rückwärtsgewandte Moderne: Der Klassizismus in den ästhetischen Schriften Schillers. In: Würzburger Schiller-Vorträge 2005. Hrsg. von Jörg Robert. Würzburg 2005, S. 73–93. NA XXVI,77. NA XXXIV,1,58. – Körner selbst beschäftigt sich mit der Kritik der Urteilskraft seit ihrem Erscheinen 1790. S. NA XXXIV,1,17.
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Niklas Sommer
Indem nun der Beginn des Briefwechsels freigelegt worden ist, ist seine Geschichte jedoch mitnichten abgeschlossen. Wenngleich der künftige Posttag nach Schillers Brief vom 28. Februar keine weitere Lieferung seiner Theorie mit sich bringt, ist das Kallias-Projekt weder abgeschlossen noch aufgegeben. Vielmehr haben sich die Pläne erweitert. Schiller beabsichtigt nunmehr, den geplanten Dialog der Sache nach in seine Dankesbriefe an den Prinzen von Augustenburg für dessen jährliche Zuwendung unterzubringen.12 Weder in den Augustenburger Briefen noch in den darauf aufbauenden Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen kommt Schiller jedoch wieder auf seine Theorie des Schönen zu sprechen. Die Augustenburger Korrespondenz fällt den Flammen eines Bibliotheksbrandes zum Opfer, die ästhetische Erziehung bleibt nicht zuletzt aus ökonomischen Gründen Fragment. Dennoch schickt Schiller Teile seiner KalliasBriefe an Goethe, um diesem zu Beginn ihrer Freundschaft einen Eindruck seiner ästhetischen Überzeugungen zu vermitteln. Er betont in diesem Zusammenhang den für meine Fragestellung relevanten besonderen Status seiner Theorie, wenn er bemerkt, dass die Briefe an einen Freund hingeschrieben worden seien. [...] in beyfolgenden Papieren finden Sie vielleicht Ideen, die den Ihrigen begegnen. Sie sind vor anderthalb Jahre hingeworfen worden, und sowohl in dieser Rücksicht, als ihrer lokalen Veranlaßung wegen (denn sie waren für einen nachsichtigen Freund bestimmt) kann ihre rohe Erscheinung auf Entschuldigung Anspruch machen.13
Im Hinblick auf die Herausforderungen, vor welche der Kallias-Briefwechsel Interpret*innen stellt, ist dieser Umstand besonders hervorzuheben. Bei demjenigen Teil der Theorie des Schönen, der im Kallias-Briefwechsel präsentiert wird, handelt es sich um einen Briefwechsel, die Privatkorrespondenz zweier Menschen, die zu diesem Zeitpunkt eine beinahe zehnjährige Freundschaft verbindet. Dies schließt nicht nur den ihnen eigenen Umgangston ein, sondern auch Körners eigenen Verständnishorizont der kantischen Philosophie. Es ist also nicht bloß mit Schillers eigenen Briefen umzugehen, sondern ebenso die Frage nach Körners Antwortbriefen zu stellen. Sind diese in eine Edition einzuschließen oder zählen sie nicht zu Schillers Werk? Sind sie ein dem Medium geschuldetes, zu vernachlässigendes Beiwerk?14 12 13 14
NA XXVI,246; NA XXXVI,1,278 sowie NA XXVI,248. NA XXVII,33. Zu Arbeiten, die sich mit Körners ästhetischen Anschauungen beschäftigen, vgl. die folgenden Arbeiten. Marie Braeker: Chr. G. Körners ästhetische Anschauungen. Hagen i. W. 1928; Albert J. Camigliano: Friedrich Schiller and Christian Gottfried Körner. A critical friendship. Stuttgart 1976, besonders S. 89–113; Christiane Krautscheid: Gesetze der Kunst und der Menschheit. Christian Gottfried Körners Beitrag zur Ästhetik der Goethe-Zeit. Zugl. univ. Diss. Technische Universität Berlin 1998, besonders S. 107–143. doi.org/10.14279/depositonce–96; Theodor Wilhelm Danzel: Über Schillers Briefwechsel mit Körner. In: Zur Literatur und Philosophie der Goethezeit. Gesammelte Aufsätze zur Literaturwissenschaft. Hrsg. von dems. Stuttgart 1962, S. 218–247; Wolfgang Seifert: Christian Gottfried Körner. Ein Musikästhetiker der Deutschen Klassik. Regensburg 1960.
Wie veröffentlicht man die Kallias-Briefe?
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Zwar kann man feststellen, dass Briefe kein seltenes Medium der Wahl in Schillers philosophischem Werk darstellen. So finden sich etwa auch Briefe aus seiner, wenn man so will, vorkritischen Zeit, an denen Körner beteiligt war.15 Ferner die bereits genannten Briefe an den Prinzen von Augustenburg sowie die Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen. Gemeinsam ist diesen vier Werken lediglich, dass sie allesamt Fragmente darstellen. Im Hinblick auf die letzten drei vielleicht alle aus demselben Grund: Schiller setzt spezifische Veröffentlichungsabsichten nicht um, weil sich seine Pläne ändern. Was aber unterscheidet die einzelnen Briefwerke voneinander? Inwiefern stechen die KalliasBriefe heraus? Wie oben bereits bemerkt, handelt es sich bei ihnen um eine Privatkorrespondenz. Während die ästhetische Erziehung eine für die Veröffentlichung stark bearbeitete und erweiterte Fassung der Augustenburger Briefe darstellt, sind diese auch Repräsentationszwecken geschuldet. Die spärlichen Antwortbriefe des Prinzen tragen kaum zum Gedankengang Schillers bei. Zugegebenermaßen ist dies ein Argument, das sich erst aus der Interpretation ergeben kann und eben die Möglichkeit dieser Interpretation soll eine Edition gewährleisten. Schwerer ins Gewicht fällt, dass Schiller die Antworten seines Gönners kaum mehr als in Höflichkeitsfloskeln würdigt. Dies ist bei den Kallias-Briefen nicht der Fall; Schiller bezieht sich explizit auf Körners Antwort: Ich sehe aus Deinem Briefe den ich eben erhalte, daß ich eigentlich nur Mißverständnisse, keine eigentlichen Zweifel gegen meine Erklärung der Schönheit bey Dir zu heben habe, und die bloße Fortsetzung meiner Theorie wird uns darüber wahrscheinlich in Einverständniß bringen.16
Ungeachtet der Frage, in welchem Maße Schiller die von Körner geäußerten Einwände als problematisch für seine Theorie ansieht, muss sich zu diesen Antworten verhalten werden. Werfen wir einen Blick darauf, wie die Forschung bisher mit der Herausforderung des Kallias-Briefwechsels umgegangen ist. Zu diesem Zweck werde ich drei Ausgaben miteinander vergleichen. Dazu zählen die in der Schillerforschung als Standard geltende sogenannte Nationalausgabe, die ambitionierte Frankfurter Ausgabe sowie die von Klaus L. Berghahn für den Reclam-Verlag besorgte Edition. 1) In der Nationalausgabe erscheinen die Kallias-Briefe nicht als gesonderte philosophische Schrift, sondern befinden sich in der Abteilung der Briefe, die nach Briefen von Schiller und Briefen an Schiller getrennt ist. Zwar ist im Rahmen der Nationalausgabe eine Doppelveröffentlichung intendiert worden, jedoch nicht der Kallias-Briefe, sondern der Augustenburger Briefe. Die Augustenburger Korrespondenz hat in die Reihe Philosophische Schriften nicht aufge15 16
Vgl. Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller. Zur Ideengeschichte der medizinischen Schriften und der „Philosophischen Briefe“. Würzburg 1985. NA XXVI,190.
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nommen werden können, weil die Edition der Briefe zu diesem Zeitpunkt noch keine verlässliche Textgrundlage hat bereitstellen können. Auch als die beiden Bände der Philosophischen Schriften eine weitere Auflage erfuhren (unveränderter Nachdruck für Band 20 im Jahr 2001, für Band 21 im Jahr 1987), wurde diese ursprüngliche Absicht nicht nachgeholt. Wäre also beabsichtigt worden, die Kallias-Briefe ebenfalls aufzunehmen, wäre dies nicht möglich gewesen; gleichwohl ist es seltsam, dass die Herausgeber*innen zwar darauf hinweisen, dass auch die Kallias-Briefe (nach der Briefedition von Jonas) häufig im Kommentar herangezogen worden seien, und sich dennoch keine Erwähnung oder Begründung findet, warum die Kallias-Briefe nicht ebenso wie die Augustenburger Briefe Teil der Philosophischen Schriften hätten sein sollen.17 Obgleich also bei den Herausgeber*innen der Nationalausgabe ein Bewusstsein für die Relevanz von Schillers Briefwechsel für sein philosophisches Œuvre bestand, wurden die Kallias-Briefe zwar als in der Abteilung Philosophische Schriften fehlend genannt, jedoch keinerlei Gründe angeführt, warum. Trotz der anhaltenden Aufmerksamkeit, die Schiller dem Projekt widmet, verschwinden die Kallias-Briefe im Schatten der größeren Abhandlungen.18 2) Die Frankfurter Ausgabe setzt sich das Ziel, Schillers Schaffen in seiner Entwicklung fasslich zu machen und ihrer Taschenbuchausgabe gebührt das Verdienst, einen Großteil der Schriften, der in anderen erschwinglichen Werkausgaben (etwa Hanser) nicht enthalten ist, zu einem kleinen Preis zugänglich zu machen. Gemäß dieser Zielsetzung ist es nicht verwunderlich, dass die KalliasBriefe ihren Platz in Band acht, den theoretischen Schriften, finden und den Auftakt zur Phase von Schillers Auseinandersetzung mit Kant ausmachen.19 Die 17 18
NA XXI,99. Dies ist gerade deshalb brisant, weil sich Gründe für die Lesart nennen ließen, dass es tatsächlich das Kallias-Projekt ist, welches die Krone von Schillers ästhetischen Schriften darstellt und die ästhetische Erziehung mit der Theorie der Kallias-Briefe hätte enden müssen. Im Briefwechsel mit Körner spricht Schiller sowohl im Hinblick auf Über Anmut und Würde als auch die Augustenburger Briefe als auch die Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen von einer Vorbereitung seiner ,Theorie des Schönen‘. Diese ,Theorie des Schönen‘ gibt sich im Briefwechsel als das Kallias-Projekt zu erkennen. Vgl. beispielsweise NA XXVI,246, 336, 342ff. sowie NA XXVII,46. In der Forschung ist diese Ansicht bisher noch nicht erörtert worden. Beiser weist zwar auf die letztgenannte Briefstelle hin, findet aber in Schillers Briefen vom 1. und 26. Oktober 1794 Grund zu der Annahme, dass die Ästhetischen Briefe sowohl eine Theorie der Erziehung als auch eine Analytik des Schönen böten. Vgl. Fredrick C. Beiser: Schiller as Philosopher. A ReExamination. Oxford 2005, S. 121ff. Dieses Argument ist ihm jedoch nicht ohne Weiteres zuzugeben, weil sich die von ihm in Anspruch genommene Analytik des Schönen nicht auf die „Beyträge zu den Horen“ bezieht, wie der Singular des Verbs wird anzeigt. Vgl. NA XXVII,72f. Die Stelle lautet: „Ich bin gegenwärtig noch sehr mit der Analytik des Schönen und einer Art von Elementarphilosophie für die schönen Künste beschäftigt, welche den Hauptgegenstand meiner Beyträge zu den Horen ausmachen wird.“ Der Kommentar der Nationalausgabe hält Schillers Aufsatz Über naive und sentimentalische Dichtung für diese „Elementarphilosophie für die schönen Künste“. Vgl. NA XXVII,298. Darüber hinaus führt Schiller zwei Sätze weiter selbst seine Ästhetischen Briefe als eine Publikation an, worüber er Erhard auch noch zu informieren habe, was kaum Sinn ergäbe, wenn sich die Analytik des Schönen bereits auf die Ästhetischen Briefe bezogen hätte.
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Edition zeichnet sich dadurch aus, dass die Kallias-Briefe „[i]m Unterschied zu andern Ausgaben [...] hier vollständig wiedergegeben werden.“20 Dies bezieht sich insbesondere auf den letzten Brief vom 28. Februar 1793, der den persönlichen und politischen Kontext von Schillers Beschäftigung mit dem Schönen wiedergibt, ansonsten aber nur durch seinen Einschluss in Verbindung mit dem Kallias-Projekt steht.21 Ein Hinweis auf den Einfluss Körners fehlt hingegen im editorischen Kommentar, sodass es nicht verwundert, dass die Frankfurter Ausgabe anderen Ausgaben darin folgt, lediglich Schillers Briefe mitzuteilen. Generell versammelt die Frankfurter Ausgabe in ihren letzten beiden Bänden lediglich eine Auswahl von Briefen aus Schillers Feder (die Kallias-Briefe nicht erneut darunter), jedoch keine Briefe an Schiller. 3) Berghahn, der die Bedeutung des Briefwechsels mit Körner für Schillers geistige Entwicklung hervorhebt,22 versammelt erstmals23 nicht bloß Schillers Briefe, sondern bietet den gesamten Kallias-Briefwechsel. Allerdings sind die Briefe hier jeweils um die Begrüßungs- und Schlussformeln gekürzt, so dass lediglich das theoretische Textkorpus erscheint. Ausgespart wird ferner der gesamte letzte Kallias-Brief, auf den die Frankfurter Ausgabe großen Wert gelegt hatte. Wie in anderen Ausgaben erscheinen die Kallias-Briefe auch bei Berghahn unter dem Titel Kallias oder über die Schönheit; er bedient sich also des Titels für den geplanten, jedoch nie realisierten Dialog. Als Untertitel findet sich jedoch nicht wie häufig Briefe an Gottfried Körner, sondern vielmehr Fragment aus dem Briefwechsel zwischen Schiller und Körner. Was lässt sich aus diesem Vergleich gewinnen? Alle drei Ausgaben betonen und vernachlässigen gleichermaßen einen besonderen Aspekt der Kallias-Briefe. Das Problem der Nationalausgabe liegt nicht so sehr darin, dass die KalliasBriefe lediglich in der Abteilung Briefe erscheinen, sondern dass die philosophische Relevanz der Briefe nicht gewürdigt wird. Dies ist meiner Ansicht nach desto erstaunlicher, als die Herausgeber*innen ein Bewusstsein für die philosophische Relevanz der Korrespondenz beweisen, wenn sie beabsichtigen, die Augustenburger Briefe zweifach zu edieren. An gleicher Stelle, an der diese Entscheidung begründet wird, sollten sich auch Gründe finden, warum dies nicht für die Kallias-Briefe gilt. Die Frankfurter Ausgabe würdigt hingegen nicht nur die philosophische Relevanz der Briefe, sondern darüber hinaus den zeitgeschichtlichen Kontext, indem sie die Briefe ungekürzt unter dem Titel des geplanten Dialogs aufnimmt, und setzt sich so von anderen Ausgaben ab. 19 20 21 22 23
Eine solche Einteilung nach Schriften vor und nach der Lektüre von Kant findet sich in der Frankfurter Ausgabe selbst nicht. Schiller 2008 (Anm. 6), S. 1303. Ebd. Klaus L. Berghahn: Schiller. Ansichten eines Idealisten. Frankfurt a. M. 1986, S. 181–201. Friedrich Schiller: Kallias oder über die Schönheit. Über Anmut und Würde. Hrsg. von Klaus L. Berghahn. Stuttgart 1986, S. 140.
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Die Reclam-Ausgabe schließlich unterscheidet sich von den vorgenannten Ausgaben schon durch den Umstand, dass sie keine Gesamtausgabe darstellt. Sie enthält lediglich den Kallias-Briefwechsel sowie die ebenfalls an die Vorlesung über Ästhetik anschließende Abhandlung Über Anmut und Würde.24 Was sie jedoch auszeichnet, ist die Aufnahme der Antwortbriefe Körners in die Edition. Damit trägt sie nicht allein Körners zentraler Rolle in der Fragestellung Rechnung, sondern ebenso dem dialogischen Aspekt des Briefwechsels. Insbesondere dieser letzte Punkt scheint mir für eine textliche Würdigung der Kallias-Briefe bedeutend zu sein. Selbst wenn man argumentieren mag, dass Schiller seine Theorie nicht im Briefwechsel entwickelt, sondern lediglich mitteilt, so bieten Körners Antworten und Einwände einen meiner Meinung nach unverzichtbaren Kontext, um Schillers eigenwillige Auseinandersetzung mit Kant verständlich zu machen.25 Hinzu kommt, dass die Darstellung seiner Theorie in einem Kontext erfolgt, der über die gewöhnliche Schwierigkeit, einen philosophischen Text zu verstehen, hinausgeht, indem die Briefe nicht für mehr oder weniger allgemeine Leser*innen geschrieben worden sind, sondern für einen ganz spezifischen Horizont, der Schiller vertraut war. So mögen Einschübe, in denen Schiller besondere Anmerkungen oder Hervorhebungen macht, primär für Körner und dessen Verständnis der kantischen Ästhetik gedacht gewesen sein, und die Interpretation verwirren, wenn ihnen über diesen Aspekt hinaus über Gebühr Beachtung geschenkt wird. Beispiele solcher diskussionswürdigen Passagen stellen die folgenden dar: Hier will ich Dich einen Augenblick ausschnaufen laßen, besonders um Dich auf den letzten Absatz aufmerksam zu machen, weil ich ihn in der Folge wahrscheinlich nöthig haben werde, um einen Einwurf den ich von Dir gegen meine Theorie erwarte zu beantworten. Ich fahre fort.26 Ich vermuthe, Du wirst aufgucken, daß Du die Schönheit unter der Rubrike der theoretischen Vernunft nicht findest, und daß Dir ordentlich bange dafür wird. Aber ich kann Dir einmal nicht helfen, sie ist gewiß nicht bey der theoretischen Vernunft anzutreffen, weil sie von Begriffen schlechterdings unabhängig ist; und da sie doch zuverläßig in der Familie der Vernunft muß gesucht werden, und es auser der theoretischen Vernunft [sic.] keine andere als die praktische gibt, so werden wir sie wohl hier suchen müssen und auch finden.27 24 25 26
Zu dieser Entscheidung vgl. Schiller 1986 (Anm. 23), S. 146. Dies betrifft insbesondere Schillers Verständnis dessen, was ein objektives Geschmackskriterium ausmacht. NA XXVI,180. – An dieser Stelle ist noch auf eine Diskrepanz hinsichtlich der oben zitierten Passage in der Frankfurter Ausgabe, der Nationalausgabe und der Reclamausgabe hinzuweisen. In der Frankfurter Ausgabe ist die Passage durch zwei Leerzeilen vom restlichen Fließtext getrennt, ebenso bei der Reclamausgabe. S. Schiller 2005 (Anm. 6), S. 282f. sowie Schiller 1986 (Anm. 23), S. 15. In der Nationalausgabe fehlt jede Abgrenzung vom restlichen Fließtext, der Kommentar verzeichnet lediglich, dass der Text von späterer Hand durch Bleistift eingeklammert worden sei. NA XXVI,666. – In der Handschrift finden sich, statt zweier Leerzeilen, zwei Querstriche, die den Absatz vom restlichen Fließtext abheben.
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Während die erste Textstelle nahelegt, dass Schillers Bemerkung sich auf das Individuum Körner bezieht, nicht eine mögliche mit Kant vertraute Leser*in, so ist insbesondere die zweite Textstelle von direkter interpretatorischer Relevanz. Denn dort findet sich Schillers Begründung für eine Abweichung von der Kritik der Urteilskraft, welche das Geschmacksurteil als Angelegenheit der theoretischen Vernunft diskutiert. Es entsteht also die Frage, warum Schiller sie nicht unter der Rubrik der theoretischen Vernunft diskutiert. In die Beantwortung dieser Frage wird jedoch sicherlich hineinspielen, ob Schiller selbst diese mögliche Abweichung als ein Kernargument gegen Kant versteht und als solches auszeichnet oder ob seine Bemerkung lediglich darauf geht, Körners Erwartungen zu dämpfen. Für diese mögliche Lesart spräche, dass Schiller sich unter einem genuin kantischen Argument, nämlich der Begriffsunabhängigkeit des Geschmacksurteils, von der Rubrik der theoretischen Vernunft abwendet. Insofern die interpretatorische Relevanz dieser Stelle jedoch nicht außer Frage steht, erhöht sich die Dringlichkeit, auf den besonderen Status der Textgattung einzugehen. Auf diesen Status einzugehen, wird jedoch bedeuten, Körners Briefe und damit verbunden seinen Verständnishorizont sowohl in die Edition als auch in die Interpretation einzubeziehen. Schiller selbst unterstreicht diesen Aspekt, wenn er im ersten Kallias-Brief anmerkt, allerlei durcheinander geschrieben zu haben,28 und auch Goethe die Lektüre der Briefe cum grano salis empfiehlt.29 Wenngleich ich der Überzeugung bin, dass aus dem Kallias-Briefwechsel gewichtige philosophische Inhalte zu erschließen sind, die für das Verständnis von Schillers Gesamtwerk der 1790er Jahre unabdinglich sind, so meine ich aus dem oben genannten Grund auch, dass dies kaum gelingen kann, wenn man sich des besonderen Status des Briefwechsels als privater Korrespondenz nicht bewusst ist. Wie sollte man sich dessen jedoch bewusst werden, wenn Schillers Briefe entweder allein mitgeteilt werden oder der Briefwechsel lediglich gekürzt erscheint? Gerade aus diesem Grund halte ich es zusätzlich für angebracht, die Korrespondenz nicht um die persönlichen Mitteilungen zu kürzen, sondern vollständig mitzuteilen. Nicht nur wird dies dem tatsächlichen Textbestand gerecht(er), sondern vermeidet außerdem, eine interpretatorische Vorentscheidung über den Status des Briefwechsels zu treffen. Dies scheint mir auch für eine Doppelveröffentlichung im Zuge einer Gesamtausgabe zu gelten und ist dem doppelten Charakter des Kallias-Briefwechsels sowohl als Korrespondenz als auch als philosophischem Text geschuldet.
27 28 29
NA XXVI,180f. NA XXVI,176. Vgl. Anm. 13.
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Um diesen Doppelcharakter zu unterstreichen, wäre ebenfalls zu überlegen, dem Text der Briefe einen anderen Titel als Kallias oder über die Schönheit zu geben. Denn diejenige Schrift, die Schiller als Kallias oder über die Schönheit dem Publikum hatte vorlegen wollen, hat er niemals realisiert, ebensowenig, wie er in späteren Arbeiten dazu gelangt ist, das Kallias-Projekt in seinen größeren Abhandlungen fortzuführen. Was in einer Edition des Briefwechsels also präsentiert wird, kann nicht prätendieren, die spätere, geplante Abhandlung zu sein. Gerade dieser Eindruck wird jedoch suggeriert, wenn die Edition mit dem Titel des geplanten Dialogs überschrieben wird; insbesondere dann, wenn ein begleitender Kommentar nicht detailliert auf den Status der Kallias-Briefe aufmerksam macht. Es wäre naheliegend, die Briefe schlichtweg mit Kallias-Briefwechsel zu überschreiben; oder aber sich der Variante Berghahns zu bedienen und den Untertitel Fragment aus dem Briefwechsel zwischen Schiller und Körner zu verwenden.30 Letzteres hätte den Vorteil, sowohl den Briefcharakter des Austauschs zu betonen als auch den Umstand, dass die Kallias-Briefe nicht in einem strengen Sinne zu Ende geschrieben worden sind, sondern dass der diesem Thema gewidmete Briefwechsel tatsächlich abbricht, wenngleich Schiller und Körner ihren sonstigen Briefwechsel weiterführen. Es ist bereits zu Beginn darauf hingewiesen worden, dass sich ein enger und ein weiter Rahmen um die Kallias-Briefe ziehen lässt. Wenngleich es sinnvoll ist, die Kallias-Briefe im engeren Sinne mit dem Brief vom 25. Januar 1793 einsetzen zu lassen, in dem Schiller gleichsam einer Einleitung ansetzt, Körner seine Theorie auseinanderzusetzen, ist das Projekt auch an anderer Stelle sichtbar: Einerseits lässt es sich bis in das Jahr 1791 zurückverfolgen, wenn Schiller Körner von seiner begonnenen Kant-Lektüre berichtet und dessen Reaktion produktiv aufnimmt, andererseits lässt es sich bis in das Jahr 1794 fortsetzen, als Schiller Goethe einen Teil seiner Briefe zur Charakterisierung seiner noch immer bestehenden ästhetischen Überzeugungen schickt. Wie schon gesagt, können diese Briefe nicht im engeren Sinne zum Kallias-Briefwechsel gezählt werden, weil das Projekt in ihnen nicht inhaltlich thematisiert, sondern vielmehr dem Namen nach wieder aufgegriffen wird. Gleichwohl verdient die Überlegung Raum, ob es angesichts des Status der Kallias-Briefe nicht lohnenswert wäre, die sie betreffenden Briefe als Beilage beizufügen und entsprechend in der Einleitung zu thematisieren. Diese Überlegung gilt nicht allein für Editionen der Kallias-Briefe abseits von Gesamtausgaben, in denen alle Briefe von und an Schiller enthalten sind; denn es geht gerade darum, die Kallias-Briefe in ihrem Kontext 30
Ich danke Dirk Schäfer für den wichtigen Hinweis, dass der Titel Berghahns, insbesondere der Gebrauch des Wortes Fragment im Untertitel, Werkcharakter suggerieren könnte, während dies der Titel Kallias-Briefwechsel nicht tut. Die schwierige Konturierung des Werkbegriffs, insbesondere vor dem Hintergrund der Frage, in welchem Sinne gerade die Kallias-Briefe als Werk gelten können oder sogar sollen, unterstreicht die Relevanz des Unterschiedes zwischen den beiden Titeln und die Notwendigkeit, ihn zu reflektieren.
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zu präsentieren und den Eindruck zu vermeiden, sie könnten ohne Weiteres aus dem Briefwechsel einerseits und der Werkgeschichte andererseits herausgegriffen werden. Denn die Kallias-Briefe stellen weder inhaltlich noch was ihr Medium betrifft ein abgeschlossenes Ganzes dar. Darum verlangen sie eine sorgfältige Reflexion dessen, was zu ihnen zu zählen ist und was zu ihrer Kontextualisierung zusätzlich heranzuziehen ist. Die Erörterung der Kallias-Briefe ist mit diesen editorischen Überlegungen natürlich keineswegs abgeschlossen. Auch jenseits weiterer exegetischer Probleme ergeben sich lohnenswerte Fragen, die ich an dieser Stelle jedoch lediglich skizzieren will. Der Bezug der Kallias-Briefe auf Kant, aber auch der Umstand, dass Schiller seine Theorie jemandem unterbreitet, der ein eigenes Verständnis der Transzendentalphilosophie mitbringt, respektive mitbringen könnte, erschweren naturgemäß den Zugang zu ihrem Inhalt. Dieser Zugang muss daher über einen dem philosophischen Kontext angemessenen Sachkommentar erleichtert werden, der sich nicht darin erschöpfen kann, Begrifflichkeiten der kantischen Theorie lediglich oberflächlich zu umreißen, sondern mitunter auch darauf angewiesen sein wird, den Kontext der Rezeption dieser Begrifflichkeiten anzugeben. Damit verbunden ist selbstverständlich die Grundsatzfrage nach dem Anspruch und den Grenzen eines Sachkommentars und danach, ob es beispielsweise an solchen Stellen, an denen kein definitiver Bezug ermittelt werden kann, zulässig ist, Vermutungen zu äußern. Die Entscheidung dieser Frage wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch davon abhängen, welches Ziel die in Frage stehende Edition verfolgt (ob es sich um eine Leseedition, eine Studien- oder historisch-kritische Ausgabe handelt). Auf den historischen und systematischen Zusammenhang der Kallias-Briefe und der Vorlesung über Ästhetik ist oben bereits hingewiesen worden; am prägnantesten lässt sich dies wohl mit dem Hinweis verdeutlichen, dass sich auch in der Vorlesung eine Entwicklung der für die Kallias-Briefe so relevanten Formel Schönheit ist Freiheit in der Erscheinung findet. Gleichwohl ist die Vorlesung, insofern sie lediglich als Mitschrift zugänglich ist, in interpretatorischer Hinsicht mit Vorsicht zu genießen. Weil bei der Bewertung ihres argumentativen Inhalts also zwangsläufig auf andere Werke Schillers zurückgegriffen werden muss, ließe sich erwägen, ob es sich nicht anböte, die Vorlesung sowie die KalliasBriefe abseits von Werkausgaben gemeinsam in einer Studienausgabe zu edieren.31 Diese böte durch die in ihr versammelten Texte einerseits einen Einblick in die editorische Problematik hinter Schillers Texten und andererseits stellte sie den gegenseitigen interpretativen Bezug sicher und betonte dessen Notwendigkeit. 31
Dem Vorbild Berghahns folgend ließe sich auch erwägen, den Text Über Anmut und Würde hinzuzufügen.
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Alles in allem unterstreichen die vorgetragenen Ausführungen die Problematik, vor der die Schillerforschung steht. Es kann nicht bloß als ihre Aufgabe gelten, sich aus dem literaturwissenschaftlichen Fokus zu lösen und Schillers Ästhetik (sowohl vor als auch nach Begegnung mit Kant) einer angemessenen philosophischen und philosophiehistorischen Würdigung zu unterziehen. Denn diese Aufgabe geht mit der weiteren einher, den editorischen Stand der Schillerforschung genauestens zu reflektieren und bestehende und zukünftige Editionen den Erfordernissen anzupassen, die Schillers philosophisches Werk (insbesondere im Kontext des konstellatorischen Jena) verlangt, um es angemessen erörtern zu können.
Sarah Hutterer
Hermeneutik des Edierens Wer will unverstandene Texte lesen?
Es gibt unterschiedlichste Praktiken im Umgang mit Text und auch in der Lektüre von Texten. Eine kleine Beispielkaskade: Ein konfessioneller Text muss in seinem Wortlaut eindeutig festgelegt sein und schließt eine Deutungshoheit der Philologie gegenüber ihren dogmatischen Ansprüchen aus; er ist, was seine Gestalt betrifft, nicht deutungsoffen. Ein Text, der Grundlage einer korpuslinguistischen Untersuchung sein soll, muss in zeichengenauer Transkription vorliegen, anhand derer bestimmte Fragestellungen etwa bezüglich historischer Graphematik oder der Entwicklung der Orthographie überhaupt erst verfolgt werden können. Ein speziell layoutierter Text kann hinsichtlich seiner Strategien der Textorganisation nur dann zureichend beschrieben werden, wenn er editorisch auch zeilengenau erschlossen wird, der Schriftspiegel nachgebildet, die farbliche Gestaltung und Verwendung von Auszeichnungsschriften miteinbezogen werden. Ein syntaktisch brüchiger Text, der historische Fakten verhandelt, wird der Geschichtswissenschaft um nichts weniger relevant sein, als ein sprachlich intakter. Kurzum: In den neuen Philologien, der klassischen Philologie und den Geschichtswissenschaften bestimmt die Art der Aufbereitung von Texten in Ausgaben oder Korpora (die wiederum aus solchen Ausgaben schöpfen) nicht nur die Menge der potentiellen Fragestellungen, sondern auch die der Praktiken im Umgang mit diesen Texten. Mein Beitrag geht von einer philologischen Praxis des ,Lesens‘ aus, die sich als offene Deutungspraxis versteht, und zwar in dem Versuch, Sinn wahrzunehmen: Textaneignung durch Lektüre. Viele Textausgaben wollten und wollen dieser zentralen Praxis der Philologie in der editorischen Aufbereitung von Texten entsprechen. Mit den folgenden Überlegungen zu einer ,Hermeneutik des Edierens‘ soll einmal mehr das Gemeinsame zwischen der ,alten‘ und der so polemisch gegen sie wetternden Neophilologie1 in den Blick rücken. Sie sind ganz explizit vor dem Hintergrund eines ,Lesens‘ zu sehen, das ich als Kontinuum 1
Zur Diskussion des ,Neuen‘ an der New Philology vgl. unter anderem den Aufsatz von Karl Stackmann: Neue Philologie? In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hrsg. von Joachim Heinzle. Frankfurt a. M. 1994, S. 398–427 sowie das ZfdPh-Sonderheft: Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte. Hrsg. von Helmut Tervooren und Horst Wenzel. Berlin 1997 (ZfdPh 116, Sonderheft). Den Begriff ,Neophilologie‘, den ich im Folgenden verwende, hat zuerst Hans Ulrich Gumbrecht gebraucht in seinem Aufsatz in ebendiesem Sonderheft: Ein Hauch von Ontik. Genealogische Spuren der New Philology (S. 31–45).
https://doi.org/10.1515/9783111006147–010
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von Verstehen und Anders-Verstehen charakterisieren möchte. Dieses Lesen fragt für alte und neue Editionen gleichermaßen nach der Art und Weise, wie sie (produktiv) mit Sinn und Sinnstörung verfahren.
1. Konjekturalkritik: Verstehen und verständlich machen Die klassische Textkritik hatte mit Konjekturen versucht, ,Unechtes‘ aus der Überlieferung auszuscheiden und ,Verderbtes‘ zu ,heilen‘, um sich so dem ,Original‘, dem vom Autor intendierten Text, anzunähern. Heute ist die Konjekturalkritik in den Philologien im Wesentlichen genauso verpönt wie die rekonstruierende Erschließung eines Archetypus überhaupt. Dabei kann die Tragweite von konjekturalen Eingriffen in einen Text ganz unterschiedlich sein, was im Folgenden Vers 4038 aus Hartmanns Erec illustrieren wird.2 Dass ich zur Darstellung des Problems einen exemplarischen Fall aus dem Kanon von Texten der germanistischen Mediävistik wähle, schmälert in keiner Weise die Repräsentativität dieses kleinsten Textstückes für die Art und Weise, in der einst wie heute auch in anderen Fächern in der Textherstellung verfahren wurde und wird. Für die neuen Philologien, die klassische Philologie und die Geschichtswissenschaft gilt in der Praxis: Wo Autor*innen oder eine ,ursprünglich‘ intendierte Textgestalt in der Konstitution und Herausgabe von Texten für die Editor*innen irgend relevant sind und die Überlieferung solcher Texte nicht unikal ist, wird man um eine Auseinandersetzung mit den Verbindungen zwischen den einzelnen Zeugen, mit denen man umgeht, nicht herumkommen (wollen). Und: Wo man Texte verstehen will, wird man sich an Sinnstörungen stoßen, über korrumpierte Stellen nachdenken und sie zu deuten versuchen. In der editorischen Behandlung des 4038. Erec-Verses bilden sich unterschiedliche Versuche einer ,Sinnfindung‘ ab, die alle – wie zu zeigen sein wird – das handschriftliche Material auf unterschiedliche Weise manipulieren. Vers 4038 des Erec lautet in den heute gängigen Ausgaben: vil luˆte schrei er: ,waˆfen! [...]‘.3 Der Ausruf ist dem Grafen (er) in den Mund gelegt, der jäh aus dem Schlaf aufschreckt in der Befürchtung, er würde sich verspäten. Er fordert seine Gesellen zum Aufbruch auf (wol uˆf; V. 4040), bevor er bei der Ankunft vor der Herberge die Tür eintritt daz si zebrach (V. 4048). Schreck und Befürchtung 2
3
Diesen Vers und die Geschichte seiner Edition bespricht auch Stephan Müller in seiner Rezension der Ereck-Ausgabe, natürlich mit Schwerpunkt auf der Behandlung und Kommentierung des Verses in der rezensierten Ausgabe: Stephan Müller: Rezension zu Hartmann von Aue: Ereck. Textgeschichtliche Ausgabe mit Abdruck sämtlicher Fragmente und der Bruchstücke des mitteldeutschen ,Erek‘. Hrsg. von Andreas Hammer, Victor Millet und Timo Reuvekamp-Felber. Berlin / Boston 2017. In: Arbitrium 36, 2018, S. 302–311, bes. S. 304–305. Wo nicht eigens erwähnt, zitiere ich den ,Erec‘ nach der von Kurt Gärtner besorgten ATB-Ausgabe: Erec von Hartmann von Aue. Mit einem Abdruck der neuen Wolfenbütteler und Zwettler Erec-Fragmente. Hrsg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff. 7. Aufl. besorgt von Kurt Gärtner. Tübingen 2006 (ATB 39).
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– klagender Ausruf – Appell – Ankunft und gewaltsamer Zutritt: Handlungslogisch ein stimmiges Bild. Der Wortlaut der Ausgaben widerspricht allerdings dem, was im Ambraser Heldenbuch4, das einzig den Erec (sieht man vom Prolog ab) vollständig überliefert, zu finden ist. Maximilians I. Zollschreiber Hans Ried hat am Beginn des 16. Jahrhunderts das Folgende aufgeschrieben: stille schray Er waffen (fol. 38rc). Kann man dem einen Sinn abgewinnen? Andreas Hammer, Victor Millet und Timo Reuvekamp-Felber übernehmen in der neuesten EreckAusgabe (2017)5 den Text Hans Rieds, geben das y der Handschrift gemäß Lautwert wieder und versehen den Vers bloß mit einer Interpunktion: stille schrai Er: „waffen! [...]“ – an ihrem momentanen Ende ist die Erec-Philologie in diesem Fall wieder zu ihrem Anfang zurückgekehrt. Gehen wir aber erst einen Schritt zurück in der editorischen Geschichte des Verses: Moriz Haupt hatte in seiner Ausgabe von 18396 noch stille schrei er gesetzt, ebenso Fedor Bech in der ersten und zweiten Auflage seiner Ausgabe von 1867 und 1870. Allerdings kommentiert Bech dazu im Apparat: „stille gibt hier keinen passenden Sinn“ und weist auf einen Konjekturvorschlag von Reinhold Bechstein hin: „Bechstein vermuthet helle dafür“7. Über eine Normalisierung hin zum Mittelhochdeutschen hinaus greift er in den handschriftlich überlieferten Text aber nicht ein. Erst in der zweiten Auflage seiner Ausgabe konjiziert Haupt 1871 zu snelle schrei er8 und liefert damit einen Vorschlag zur Lösung des Problems, an dem Bech sich gestört hatte. Beide Konjekturen, sowohl die zu helle, als auch die zu snelle, sind vom Schriftbild her plausibel zu machen: Immerhin teilen sie sich das Gros des Buchstabenbestands mit den markanten Oberlängen am Wortende und beide Konjekturen lassen sich dadurch erklären, dass beim Abschreiben ein Schaft nicht bzw. falsch gesetzt worden sein könnte. Die zwei Konjekturen stehen damit ganz nahe am handschriftlichen Befund. Anders die Konjektur, die Bech in der dritten Auflage seiner Ausgabe von 1893 in den Text setzt: vil luˆte schrei er „waˆfen! [...]“9 Sie geht von der Handschrift ab und greift aus der Logik des Textes heraus gegen das Überlieferte ein. Bech versieht seine Konjektur im Apparat außerdem mit einem Hinweis auf V. 6840, dem er mittels dieser Konjektur den nicht ohne Weiteres verständlichen V. 4038 angleicht (V. 6840: vil luˆte schrei er „waˆfen! [...]“ – hier allerdings ein Ausruf von Guivreiz). Bechs Vorschlag ist demnach nicht bloß „wahrschein4 5
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Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. Ser. nova 2663. Hartmann von Aue: Ereck. Textgeschichtliche Ausgabe mit Abdruck sämtlicher Fragmente und der Bruchstücke des mitteldeutschen ,Erek‘. Hrsg. von Andreas Hammer, Victor Millet und Timo Reuvekamp-Felber. Berlin / Boston 2017. Hartmann von Aue: Erec. Eine Erzählung. Hrsg. von Moriz Haupt. Leipzig 1839. Hartmann von Aue: Erster Theil. Eˆrec der wunderære. Hrsg. von Fedor Bech. Leipzig 1867 (Deutsche Classiker des Mittelalters 4). Ident in der Ausgabe 21870. Dem Hinweis fehlt eine Angabe dazu, ob der Konjekturvorschlag Bechsteins auch abgedruckt wurde. Hartmann von Aue: Erec. Eine Erzählung. Hrsg. von Moriz Haupt. Leipzig 21871. Hartmann von Aue: Erster Theil. Eˆrec der wunderære. Hrsg. von Fedor Bech. Leipzig 31893 (Deutsche Classiker des Mittelalters 4).
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lich“10, sondern ganz bestimmt und in der Ausgabe auch transparent gemacht eine Analogie zu V. 6840 und die Erec-Philologie liest den Vers erst seit 189311 mit seiner Konjektur. Bech selbst war in seiner ersten und zweiten Auflage noch dem Wortlaut der Handschrift gefolgt. Wie geht die Erec-Philologie in der Folge mit den Konjekturvorschlägen von Bechstein, Haupt und Bech um? In der Reihe von Erec-Ausgaben nimmt nur die von Naumann (1933)12 Haupts Konjektur snelle auf, helle ist in keiner einzigen Ausgabe zu finden. Bechs Vorschlag dagegen wird in beinahe allen Ausgaben in den kritischen Text gesetzt: Leitzmann (1939), Leitzmann / Wolff (1963), Schwarz (1967), Cramer (1972), Cormeau / Gärtner (1985), Scholz (2004), Gärtner (2006) und Mertens (2008) übernehmen das handschriftlich nicht gedeckte vil luˆte in ihren Text.13 Eine Gegenposition zur Konventionalisierung dieser Konjektur im Erec nimmt Lambertus Okken ein, der sich in zwei Beiträgen14 in Form von Notizen zu den Korrekturen und Konjekturen am Text des Erec geäußert hat. Seine Notizen sollen „aufzeigen, wie dem überlieferten Text zu dem Recht verholfen werden könnte, in den kritischen Text aufgenommen zu werden“15 und er fordert, dass man sich, versteht man das Gelesene nicht, „aufs geduldigste und bereitwilligste um das Verständnis des Überlieferten bemühen“16 solle. Für ein „Verständnis des Überlieferten“ von Vers 4038 bedient sich Okken einer von den Ausgaben abweichenden Interpunktion als Lösung und behält dabei den Wortlaut nach Hans Ried bei: ,stille!‘ schrei er, ,waˆfen! [...]‘.17 Indem Okken stille als Teil der direkten Rede auffasst, wird der widersprüchliche ,stille Schrei‘ als ,Schrei nach Stille‘ zu einer Forderung an die angesprochenen Gesellen. Okken fingiert eine Szene, in die sich seine Zeichensetzung fügt: „Die 10 11
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Hammer / Millet / Reuvekamp-Felber 2017 (Anm. 5), S. 612. Fehlerhaft ist daher die Angabe bei Hammer / Millet / Reuvekamp-Felber, die Bechs erste und zweite Auflage wohl nicht konsultiert haben und dennoch schreiben, in der Erec-Philologie würde die Konjektur schon seit 1867 tradiert; vgl. ebd. Hartmann von Aue: Erec / Iwein. Hrsg. von Friedrich Ranke. [Bearbeitet von Hans Naumann.] Leipzig 1933 (Deutsche Literatur in Entwicklungsreihen; Reihe Höfische Dichtung, Höfische Epik 3). Hartmann von Aue: Erec. Hrsg. von Albert Leitzmann. Halle / Saale 1939 (ATB 39); Erec von Hartmann von Aue. Hrsg. von Albert Leitzmann. Dritte Aufl. besorgt von Ludwig Wolff. Tübingen 1963 (ATB 39); Ernst Schwarz: Hartmann von Aue: Erec – Iwein. Text, Nacherzählung, Worterklärungen. Darmstadt 1967; Hartmann von Aue: Erec. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung von Thomas Cramer. Frankfurt a. M. 1972; Erec von Hartmann von Aue. Hrsg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolff. 6. Aufl. besorgt von Christoph Cormeau und Kurt Gärtner. Tübingen 1985 (ATB 39); Hartmann von Aue: Erec. Hrsg. von Manfred Günter Scholz. Übersetzt von Susanne Held. Frankfurt a. M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters 5); Gärtner 2006 (Anm. 3); Hartmann von Aue: Erec. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Hrsg. übersetzt und kommentiert von Volker Mertens. Stuttgart 2008 (RUB 18530). Lambertus Okken: Zu Hartmanns Erec. In: ABäG 34, 1991, S. 77–109 und Lambertus Okken: Nochmals zu Hartmanns ,Erec‘. In: ABäG 53, 2000, S. 167–186. Okken 1991 (Anm. 14), S. 78. Ebd. Ebd., S. 91.
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Wache liegt auf der Pritsche. Einige reden. Mit dem Ruf Ruhe! verschafft der Herr sich Gehör, und dann alarmiert er die Wache: Alarm!“18 Noch handschriftennäher ist, obwohl auch die späteren ATB-Ausgaben einige Konjekturen Haupts wieder zurücknehmen und wieder stärker an der Überlieferung orientiert sind,19 dann erst die Ereck-Ausgabe von Hammer / Millet / Reuvekamp-Felber (2017): Sie lehnt Vermutungen und Veränderungen ab, vertraut sich dem historisch verbürgten, das heißt dem handschriftlich genau so überlieferten Text an und distanziert sich teils polemisch von der ihr vorausgehenden Erec-Philologie. Der besprochene Vers ist auch Gegenstand der Einleitung zu dieser Ausgabe. Nach der (positiven) Erwähnung der „Lesart“ Okkens – man müsste konsequenterweise eher von abweichender Interpunktion sprechen – steht dort unmissverständlich der Schluss: „Ein Eingriff an dieser Stelle ist nicht notwendig.“20 Die Herausgeber bilden in ihrer Ausgabe deshalb wie auch sonst den Ried’schen Text ab: stille schrai Er: „waffen! [...]“. An die Stelle der konjekturalen Veränderung der Textoberfläche tritt dann der Versuch, den auch Okken gefordert hatte: das handschriftlich Überlieferte irgend verständlich zu machen. Was in der Einleitung noch als Frage formuliert wird („Doch spiegelt der leise Ausruf, der stille Schrei, nicht gerade die ganze Heimlichkeit der Szenerie wider?“21), ist im Kommentar zur Gewissheit geworden, die die älteren Konjekturen snelle und vil luˆte abtut mit der Bemerkung: „Damit ist die Textaussage geradezu konterkariert.“22 Das ist bloß der einleitende Satz zu einer viel umfangreicheren Begründung dafür, dass die Herausgeber eine Konjektur für nicht erforderlich halten: Was hier nicht in Rechnung gestellt wird, ist die spezifische Rhetorik literarischer Sprache. Mit dem Oxymoron stille schrai er wird der Ambraser Text der geschilderten Situation auf sprachliche Weise gerecht. Die emotionale Anspannung des Grafen, die 18
19
20 21 22
Ebd. Geringfügig verändert wiederaufgenommen wird diese Interpretation in Okken 2000 (Anm. 14), S. 184, wo Okken allerdings den Ausruf des Grafen „noch vor der nächtlichen Ruhe“ situieren will. In der Einleitung der 6. Auflage (1985) der ATB-Ausgabe (Anm. 13) wurden die Ausgaben von Haupt bis Leitzmann S. XVIII–XX kritisch diskutiert vor allem in Hinblick darauf, dass man sich für Neuauflagen fast ausschließlich an Haupts Text orientiert hatte, der von diesem allerdings nie direkt mit der Überlieferung abgeglichen worden war und auf einer fehlerhaften Abschrift des Ambraser Heldenbuchs beruhte. Die 6. Auflage versuche dagegen, „[d]ie Absicht Ludwig Wolffs, den Text statt auf die 2. Ausgabe Haupts wieder direkt auf die Überlieferung zu beziehen, [...] zu verwirklichen“; vgl. ebd. S. XXI. Hammer / Millet / Reuvekamp-Felber 2017 (Anm. 5), Einleitung, S. XV. Ebd. Ebd., Kommentar, S. 612. Die Herausgeber geben für keine der beiden Konjekturen das richtige Jahr (und damit die falschen Ausgaben) an: Für Haupts snelle (eigentlich 21871) wird das Jahr 1839, für Bechs vil luˆte (eigentlich 31893) 1867 genannt. Damit blenden sie gleichermaßen aus, dass in beiden Fällen die jeweils erste Auflage tatsächlich den Wortlaut des Ambraser Heldenbuchs wiedergibt, worüber sich zuletzt Manfred Günter Scholz gewundert hat: „Man hätte gern gewußt, was Moriz Haupt sich gedacht hat, als er stille in seine erste Auflage übernahm.“ (Manfred Günter Scholz: Der Erec-Text zwischen Albert Leitzmann / Ludwig Wolff und Lambertus Okken / Hans Ried. In: cristallıˆn wort. Hartmann-Studien 1, 2007, S. 260–279, hier S. 268.)
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sich im Schrei manifestiert, sowie die nötige Heimlichkeit bei der Vorbereitung und Durchführung des Überfalls werden in diesem Oxymoron geradezu zeichenhaft verdichtet (zumal man die nachfolgende Rede auch als inneren, ,geschrienen‘ Monolog lesen kann). Eine Notwendigkeit zur Konjektur besteht jedenfalls nicht. Im Gegenteil: Durch eine solche wird die besondere sprachliche Leistung an dieser Stelle verdeckt.23
Die Ungereimtheit in der Textlogik, die sich bei der Lektüre ergibt, wird also im Kommentar geglättet, der zugleich auch Reaktion auf die forschungsgeschichtliche Kontroverse ist, angesichts derer der Verzicht auf die Konjektur gerechtfertigt werden muss. Was die früheren Herausgeber als logischen Bruch durch Konjektur von der Textoberfläche entfernt hatten, zeigt sich in der Ereck-Ausgabe als mögliche Störung im edierten Text und wird durch den Kommentar (vom Text getrennt) einer Deutung zugeführt. Konjektur wie Kommentar sind dabei, so könnte man die Konjekturalkritik und die Handschriftennähe einander annähern, derselben Sache verpflichtet: In beiden Fällen wird ein mögliches Verständnis für den offensichtlich nicht ohne Weiteres verständlichen Text geboten. Der markante Unterschied ist dabei, dass dieses Verständnis in älteren Ausgaben Teil des edierten (und in der Folge rezipierten) Textes wurde, während es in jüngeren auf den Kommentar ausgelagert wird. Beide sind so gleichermaßen Resultat eines hermeneutischen Akts: Man findet sich nicht mit Sinnstörungen ab und nimmt entweder 1. Verbesserungen vor, die nicht vom Überlieferungsbefund gedeckt sind, oder bleibt 2. beim handschriftlich überlieferten Text, den man erklärt, und geht gegen die Notwendigkeit einer solchen Verbesserung argumentativ vor. Die Konjektur ist stets ein Vorschlag, eine Vermutung, ein Einfall – und ihr Ziel ist der intakte, verständliche Text. Dieses Ziel teilt sie mit einer editorischen Haltung, die dem Text der Handschrift Sinn abzugewinnen versucht, ohne in ihn einzugreifen. Während sich der konjektural geformte kritische Text als eine Synthese von Befund und Deutung beschreiben lässt, treten in der jüngeren Editorik Befund (als in der Handschrift Vorgefundenes) und Deutung (im Kommentar) auseinander.
2. Handschriftennähe: Abbilden Handschriftennähe ist nicht nur das aktuellste Desiderat von Printausgaben: Sie ist es in digitalen Editionen von Texten (nicht nur des Mittelalters!) gleichermaßen. Von den zahlreichen Beispielen, die man an dieser Stelle anführen könnte, möchte ich mich mit zweien begnügen, die man als zwei unterschiedliche Ausformungen dieser Art von ,Treue zum handschriftlichen Original‘ beschreiben kann. Was seit kurzer Zeit als ,hyperdiplomatische Transkription‘ besprochen wird und wofür man momentan interdisziplinär operationalisierbare Normen und 23
Hammer / Millet / Reuvekamp-Felber 2017 (Anm. 5), Kommentar, S. 612.
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mögliche analytische Potentiale diskutiert,24 ist die erste dieser beiden: Ihr Anspruch ist es, eine Transkription bis auf Teilzeichenebene zu sein, also beispielsweise in der Codierung auch die nuanciert andersartige Ausführung von diakritischen Zeichen mit identischer Funktion zu berücksichtigen und zu erfassen,25 um damit eine Grundlage für spätere, hauptsächlich quantitative Auswertungen zu schaffen. Ziel ist also der (wohlgemerkt) maschinen-lesbare Text und die Herstellung solcher Transkriptionen ist bestimmt von einer Akribie, die sie interdisziplinär nutzbar machen soll. Es steht dabei ein ,Verfügbarmachen‘ historischer Quellen im Vordergrund, die später in unterschiedlichen Kontexten weiterverarbeitet werden können sollen. Bisher „unausgeschöpfte“ Potentiale der diplomatisch-dokumentarischen Befunde werden zum einen eben in „quantitativen Analysen“ wie der statistischen Auswertung und Visualisierung des Vorgefundenen (sie könnten über „Chronologie bzw. Genese von Dokumenten“, „Schreiberidentifikation“ und „Datierung“ Aufschluss geben) gesehen und man könne aus „quantitativ-qualitativer Perspektive“ außerdem „Kookkurrenzen materiell-visueller Phänomene und andere Dimensionen von Text analysieren“. Zu letzteren werden exemplarisch der Zusammenhang zwischen Aufmachung und Gattung sowie der zwischen „linguistischer Textdimension und materialer Ausdrucksform“ genannt.26 Jenseits einer Quantifizierbarkeit bestimmter Phänomene des Materials bietet eine solche Hyperdiplomatik also in toto nicht mehr als die handschriftlichen Originale selbst. Dabei vermittelt die digitale Editorik in Konzepten wie der hyperdiplomatischen Transkription den Eindruck, dass eine unberührte Wiedergabe des Vorgefundenen überhaupt möglich sein könnte. Es wäre zu diskutieren, inwiefern nicht das Aussuchen und Festlegen bestimmter Buchstaben und Typensets zur Codierung graphematischer Besonderheiten das digitale Äquivalent zu verfügbaren Drucktypen ist. Man könnte schließlich immer weiter differenzieren und es fragt sich, an welcher Stelle diese Differenzierung als abgeschlossen gelten kann, vor allem auch vor dem Hintergrund dessen, dass eine Variabilität der Form eines bestimmten Zeichens ja auch für ein und dasselbe schreibende Individuum gegeben und auch an andere Faktoren, beispielsweise die Beschaffenheit des (Be-)Schreibmaterials gebunden ist. Kaum wird man eine*n Schreiber*in an der peinlich genau bestimmten Grad-Neigung der Diakritika oder am Durchmesser eines a identifizieren können. 24
25
26
Vgl. zur aktuelleren Diskussion den CfI (16.10.2019) zum Workshop ,Die (hyper-)diplomatische Transkription und ihre Erkenntnispotentiale‘ von Frederike Neuber via https://dhdblog.org/?p=12369 (Stand: 19.01.2022) und den Workshopbericht von Sophia Victoria Krebs / Dana Machwitz: Die (hyper-)diplomatische Transkription und ihre Erkenntnispotentiale. Workshop an der Bergischen Universität Wuppertal, 6. / 7. Februar 2020. In: editio 34, 2020, S. 235–238. Vgl. Helmut W. Klug / Astrid Böhm: Datenmodell „Hyperdiplomatische Transkription“. In: KONDE Weißbuch. Hrsg. von Helmut W. Klug. hdl.handle.net/11471/562.50.50 (Stand: 19.01.2022). Neuber 2019 (Anm. 24).
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Die exzessive Dokumentation der Originale hat in der Digitalität natürlich viel größere Freiheiten als eine starr fixierte Print-Transkription: Sie kann große Massen erschließen, Details annotieren und speichern, das Vorgefundene erschöpfender abbilden, als es im Druck je möglich wäre. Man generiert aus der Handschrift (oder dem Dokument etc.) alle möglichen Informationen, seien es kodikologische, paläographische, kunsthistorische, prosopographische, dialektgeographische, oder biographische – die Liste ließe sich erweitern – und bindet sie in das digitale Format ein. Der Text selbst kann in seiner lautlichen und graphematischen Struktur, ohne dabei zig Druckseiten zu füllen, genauer wiedergegeben und in unterschiedlichen Graden der Normalisierung des handschriftlich Überlieferten verfügbar gemacht und rezipiert werden. Über die detaillierte Annotation und Wiedergabe in unterschiedlichen Formaten von Transkription bis Edition erreicht man die größtmögliche Flexibilität in der Darstellung und Rezeption der edierten Gegenstände. Was dabei entsteht, ist aber nicht ein Text, den man lesen könnte und auch kein Ersatz für die Handschrift, sondern eine Art digitaler Kommentar zum Bild der Handschrift. Das führt mich zu einem zweiten Beispiel für den Hang der digitalen Editorik zur Handschriftennähe: Ihr verpflichtet sich auch das Projekt ,Lyrik des deutschen Mittelalters‘27. Während sich der hyperdiplomatische Anspruch vielleicht in der ,Tiefenerschließung‘ des handschriftlichen Textes fassen lässt, spielen im Rahmen der LDM handschriftennahe Transkriptionen zwar ebenfalls eine Rolle, sind dort allerdings bloß ein Teil der multimedialen und multimodalen Edition in mehreren Schichten. Der Text der einzelnen Handschriften ist dort stets als Faksimile (Digitalisat), Transkription und Edition zugänglich, wobei der Editionstext mit drei unterschiedlichen Apparaten (überlieferungskritisch, textkritisch, erklärend) versehen und in unterschiedlichen Graden der Normalisierung ausgebbar ist. Texte, die in mehreren Handschriften parallel überliefert sind, werden über synoptische Darstellungen und einen Kommentar zueinander in Beziehung gesetzt. Diese Mehrschichtigkeit und vor allem die Beigabe des Digitalisats sollen die Nachprüfbarkeit der editorischen Entscheidungen durch die Benutzer*innen gewährleisten. Ihnen bleibt es nämlich überlassen, die Vielgestaltigkeit des solchermaßen edierten Textes und seine zahlreichen Varianten durchzusehen. Es ergibt sich eine unkontrollierte Wahlfreiheit: Was lesen? Den diplomatischen Text? Den abbreviierten Text? Den normalisierten Text? Den emendierten Text? Den Text welcher Handschrift? Den Text welcher Fassung? Die LDM bietet hier über den Kommentar und den dritten, erklärenden Apparat der Edition Orientierung überlieferungs- und textkritischer Art und gibt so Aufschluss über das Verhältnis der einzelnen Text-Ausformungen zueinander – solche ,Wegweiser‘ gibt es allerdings längst nicht in allen digitalen Editionen. 27
Lyrik des deutschen Mittelalters. Hrsg. von Manuel Braun / Sonja Glauch / Florian Kragl. https://www.ldm-digital.de; zur Konzeption und Ausrichtung an der handschriftlichen Überlieferung vgl. https://www.ldm-digital.de/einfuehrungedition.php (Stand: 19.01.2022).
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Für (digitale wie analoge) Editionen von unikal überlieferten Texten dagegen, die Handschriftennähe versprechen und bloß einen ,historisch verbürgten Textzustand‘ präsentieren, stellt sich ganz grundlegend die Frage, ob es nicht besser ist, gleich das handschriftliche Original zu konsultieren. Überspitzt: Hat die reproduzierende Abbildung von Unikalia, wenn sie nicht ohne Fehler und Unverständlichkeiten sind – und welche sind das schon? –, wenn eine ,Nähe‘ zur Handschrift also auch die Replikation von Fehlern bedeutet, jenseits der automatisch-quantifizierenden Analysierbarkeit und der Flexibilität der Datenausgabe einen Mehrwert? Dass früher die diplomatische Transkription einen hohen Stellenwert hatte, hängt maßgeblich mit der Zugänglichkeit der durch sie verfügbar gemachten Inhalte zusammen: Die Autopsie beispielsweise von mittelalterlichen Handschriften war eingeschränkt und vor allem nur wenigen möglich. In einem solchen Szenario bedeutet Abbildung also: Erschließung und Verfügbarmachung von exklusivem Material im Druck. Sie ist die Voraussetzung für und Vorstufe zu einer editionsphilologischen Auseinandersetzung und versteht sich auch als solche. Dafür ein Beispiel: Franz Pfeiffer, der durch seine Abschriften und Editionen für die mediävistische Forschung Unmengen von Handschriften und Texten erschlossen hat, schreibt zur von ihm in den Druck gebrachten Weingartner Liederhandschrift28 Folgendes: Da in unserer Handschrift im Grunde Nichts enthalten ist, was nicht schon, wenn auch zum grösten Theil aus anderen Handschriften, im Drucke bekannt und theilweise auch in weiteren Kreissen verbreitet wäre, so schien hier ein diplomatisch genauer, buchstäblicher Abdruck, der die Stelle der Handschrift vollständig zu vertreten im Stande ist, das einzig Zweckmässige, im Interesse der Wissenschaft Wünschenswerthe.29
Man wird freilich heute nicht mehr zustimmen, wenn Pfeiffer über den diplomatischen Abdruck schreibt, dass er „die Stelle der Handschrift vollständig zu vertreten im Stande“ sei, aber Größen wie etwa die Materialität des Überlieferten, der Buchschmuck und Ähnliches spielten in der Zeit höchstens im Rahmen der kodikologischen Beschreibung eine Rolle. Für Pfeiffer ist die „Handschrift“ hier äquivalent mit dem Text, den sie konserviert. Andererseits: Verhält sich nicht die heutige Editorik gewissermaßen analog, wenn sie in digitalen Ausgaben positivistisch unterschiedliche Formen der Annotation anhäuft und dadurch den Gegenstand ersetzt sehen will? An Pfeiffers Umgang mit der Weingartner Liederhandschrift ist bemerkenswert, dass er die diplomatische Form der Wiedergabe nur deshalb wählt, weil er der Meinung ist, dass sich ansonsten kein Mehrwert durch ihre Publikation er28 29
Stuttgart, Landesbibliothek, Cod. HB XIII 1. Die Weingartner Liederhandschrift. Hrsg. von Franz Pfeiffer und F. Fellner. Stuttgart 1843 (Bibliothek des literarischen Vereins Stuttgart 5), S. VIII.
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gibt. Die Texte, die in der Handschrift enthalten sind, waren zuvor schon aus anderen Handschriften publiziert und zugänglich gemacht worden, weshalb es nun gilt, der Forschung durch den akkuraten Abdruck auch dieser Handschrift die Möglichkeit des kritischen Vergleichs zu geben. Selbst fehlerhafte Stellen werden dabei aus der Handschrift übernommen, allerdings im Apparat mit den richtigen Schreibungen aus anderen Handschriften oder eigenen Korrekturvorschlägen versehen. Als einzige Veränderung gegenüber der Anlage in der Handschrift setzt Pfeiffer die Reimzeilen ab und strukturiert den Text, was die Reihenfolge betrifft, nach Tönen, denn sein Abdruck soll trotz aller Handschriftentreue nicht „facsimile-artig“ sein: [...] ein facsimile-artiger Abdruck, der die Handschrift Zeile für Zeile wiedergäbe, wäre eben so unschön fürs Auge, als unbequem für den Gebrauch, und was hätte man damit gewonnen?30
Mit der Manessischen Liederhandschrift31 verfährt Pfeiffer demselben Prinzip folgend und weist auch ganz dezidiert auf die Ungenauigkeit der Schreiber hin, durch die der Text stellenweise „bis zur Sinnlosigkeit verderbt“ sei. Seine Einschätzung der Qualität des Textes dieser Handschrift insgesamt ist dennoch durchwegs positiv, bloß mahnt er aufgrund der Fehler zum „behutsamen“ und „vorsichtigen“ Umgang mit dieser „Quelle“: Trotz dieser Fehler [...] bleibt sie [die Manessische Liederhandschrift; SH] dennoch eine hœchst wichtige Quelle; nur muß sie behutsam und vorsichtig gebraucht werden. Auf welche Weise dies geschehen müße, hat Lachmann mit gewohnter Meisterschaft in seinen Ausgaben des Walther und Wolfram gezeigt, und damit den Weg vorgezeichnet, den alle diejenigen zu verfolgen haben, die diese Hs. zu kritischen Bearbeitungen zu benützen gedenken.32
An dieser Warnung und dem Appell, den Pfeiffer im Vorwort vorausschickt, wird nochmals das Selbstverständnis klar, das dieser Form von Herausgabe zugrunde liegt: Der Abdruck als diplomatische Transkription ist „unkritisch“ in dem Sinne, dass sie selbst Fehler unverändert belässt, um im Druck eine Quelle unverfälscht darzustellen. Pfeiffer versteht sie als nun zugänglich gemachte Materialbasis, die die Voraussetzung für eine editorische Leistung werden kann, die eben „benützt“ werden kann zur Herstellung einer kritischen Bearbeitung: zur Herstellung einer Edition. Seine Frage, was mit einem „facsimile-artigen Abdruck“ denn gewonnen wäre, bleibt für digitale und handschriftennahe Editionen der Gegenwart bestehen. Man könnte weiterfragen: Muss nicht viel von dem, was sich heute als ,Edition‘ bezeichnet, mit Pfeiffer ein ,Abdruck‘ genannt werden? 30 31 32
Ebd. Heidelberg, Universitätsbibliothek, Cpg 848. Die alte Heidelberger Liederhandschrift. Hrsg. von Franz Pfeiffer. Stuttgart 1844, S. VI.
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Es steht außer Frage, dass solche ,rohen‘ Abdrucke unterschiedlich funktionalisiert werden können, indem man sie etwa der (historisch-linguistischen) Auswertung von Textkorpora oder distant readings zugrunde legt. Diese möglichen Funktionen (es ließen sich noch weitere finden) werden stark eingeschränkt, wenn man aus den Abdrucken einen kritischen Text modelliert. Transkriptionen sind demnach zwar offen, was ihre Weiterverarbeitung betrifft, allerdings hat man sie schon immer mit einer je spezifischen Funktionszuweisung versehen: Pfeiffer hatte sie eben als ,Rohmaterial‘ gesehen, das er für die Weiterverarbeitung zu einer kritischen Edition vorsah. Den beiden Sammlungen mittelhochdeutscher Texte in handschriftennahem Abdruck von Heinrich MeyerBenfey und Carl von Kraus ist ihre Funktionszuschreibung sogar auf den Buchrücken geprägt: ,Mittelhochdeutsche Übungsstücke‘ (Meyer-Benfey)33; ,Mittelhochdeutsches Übungsbuch‘ (von Kraus)34. Durch die bewusste Zurückhaltung der Herausgeber, was die Veränderung der Textgestalt gegenüber den Handschriften betrifft, sollten die ,Übungsstücke‘ im Kontext der akademischen Lehre den Blick für Probleme und Methoden der Philologie schärfen und als Grundlage für die Übung der letzteren dienen: Die eigentliche Bestimmung der Sammlung ist allerdings, als Unterlage zu dienen für Übungen in der Herstellung kritisch und sprachlich gereinigter Texte. In dieser Beziehung sind die verschiedensten Schwierigkeitsstufen vertreten, von Texten, die nur einer leichten orthographischen Normalisierung bedürfen [...] bis zu sprachlich ganz verwahrlosten Stücken und zerfetzten Fragmenten, so dass auch für Konjekturalkritik und die höhere Kritik, die aus dürftigen Trümmern das Ganze zu rekonstruieren sucht, ausreichender Spielraum vorhanden ist.35 Im Gegensatz zu einem Lesebuch, das den ganzen Reichtum und die große Verschiedenartigkeit der Literatur an charakteristischen Proben veranschaulichen soll, ist das vorliegende Übungsbuch bestimmt, dem Anfänger eine Reihe von Texten zu bieten, die ihm Gelegenheit geben, zu lernen, wie mannigfach die philologischen Aufgaben sind, die die Literatur der mittelhochdeutschen Zeit dem Forscher stellt, und die Methoden zu üben, mit denen man diese Aufgaben zu fördern oder zu lösen vermag.36
Nebenher könnten die Übungsstücke, wie Meyer-Benfey es ausdrückt, den Studierenden vermitteln, wie mittelhochdeutsche Texte aussehen, wenn sie „noch unberührt von der philologischen Arbeit“37 sind. Die beiden Textsammlungen von Heinrich Meyer-Benfey und von Kraus sind also per Funktionszuweisung „Aufgaben“38 – und keine ,Ausgaben‘. Doch wie (un-)berührt sind die ,Ausgaben‘ von einst und heute? 33 34 35 36 37
Mittelhochdeutsche Übungsstücke. Zusammengestellt von Heinrich Meyer-Benfey. Halle a. S. 2 1920. Mittelhochdeutsches Übungsbuch. Hrsg. von Carl von Kraus. Heidelberg 1912 (Germanische Bibliothek I,III,2). Meyer-Benfey 21920 (Anm. 33), S. VI. Von Kraus 1912 (Anm. 34), S. V. Meyer-Benfey 21920 (Anm. 33), S. VI.
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3. (Das verlorene) iudicium – (Un-)Verantworten Vom editorischen iudicium, das in der älteren Textkritik ganz selbstverständlich den Texten diejenige Form gab, in der Philologie und Geschichtswissenschaft sie oft heute noch lesen, fehlt in jüngeren Ausgaben meist jede Spur: Vor allem dann, wenn diese sich als radikale Umsetzung der von der Neophilologie formulierten Ansprüche verstehen. Man will sich editorischer (subjektiver) Entscheidungen über das Vorgefundene enthalten und überantwortet sich lieber dem, was das schreibende Subjekt an Großartigem und weniger Großartigem zu Papier (oder Pergament, Papyrus etc.) gebracht hat. Hans Ulrich Gumbrecht hat in seiner Macht der Philologie diskutiert, wie philologisches Arbeiten „die unvermeidliche Wirkung hat, eine Editorenrolle entstehen zu lassen“, die wiederum eine „Autorenrolle“ enthält und gewisse „Leserrollen“ erzeugt.39 Was das Erzeugen dieser Rollen betrifft, entspreche die Neophilologie dabei „der heuristischen Voraussetzung eines schwachen Herausgebersubjekts und eines schwachen Autorensubjekts“40. Als Effekt dieser Heuristik lässt sich für das oben Beschriebene festhalten, dass mit einer „schwachen“ Position des*der Herausgeber*in nicht nur eine möglichst große Nähe zum historischen Gegenstand einhergeht, sondern auch die Tatsache, dass dem*der Leser*in als Gegenstück die Einnahme der „starken“ Position aufgezwungen wird. Weil die editorische Seite sich einer Deutung verweigert – und für eine solche Deutung sind die unterschiedlichsten Kompetenzen erforderlich – wird diese den Rezipient*innen abverlangt. Was in der Konzeption von Heinrich Meyer-Benfey und Carl von Kraus zur Funktionsbestimmung ihrer Textsammlungen gehört, ist in neophilologischen Ausgaben ein Effekt, dem man in manchen Fällen in Form des philologischen Kommentars begegnet. So gibt es auch hier einen Versuch, die Überforderung der Rezipient*innen zu ,heilen‘, indem man im Kommentar Hilfestellungen anbietet: Die editorische Zurückhaltung lässt sich in dieser Hinsicht ebenfalls als ein ,Eingriff‘ beschreiben, der das nicht-aufgearbeitete Material zum Resultat der philologischen Arbeit erklärt – mit Meyer-Benfey würde man wohl sagen „unberührt von der philologischen Arbeit“. Gumbrechts Folgerung, dass aufgrund ihrer unterschiedlichen heuristischen Prämissen neophilologische mit kritischen Editionen weder konkurrieren noch verglichen werden könnten,41 könnte man entgegnen: Sie sind vergleichbar, wenn man sie als Ergebnisse hermeneutischer Akte begreift, die einen Text verstehen und verständlich machen wollen. Es ist ihre Zielsetzung, die sie voneinander unterscheidet. Die Neophilologie geht von Evidentem aus (Was ist da?) und versucht, ihm einen Sinn abzugewinnen, die klassische Textkritik dagegen 38 39 40 41
Karl Stackmann: Mittelalterliche Texte als Aufgabe. In: Festschrift für Jost Trier zum 70. Geburtstag. Hrsg. von William Foerste und Karl-Heinz Borck. Köln / Graz 1964, S. 240–267. Hans Ulrich Gumbrecht: Die Macht der Philologie. Frankfurt a. M. 2003, S. 54. Ebd., S. 65. Ebd., S. 66.
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will vom Evidenten auf ein Potentielles schließen (Was könnte dagewesen sein?). Ein „starkes“ Editor*innensubjekt nimmt den Prozess des Verstehens eines Textes auf der Textoberfläche in die Ausgabe hinein, während ein „schwaches“ die Möglichkeit hat, ein solches Verständnis im Kommentar nachzureichen. In der früheren Editorik hat man Texte im wörtlichen Sinne ,verantwortet‘ und das hat im Fall der Erec-Philologie den fachlichen Diskurs zu diesem Text gefördert und ihn in je unterschiedlichem Umgang mit der Überlieferung geformt. Vorschläge zu seiner Gestalt versieht Franz Pfeiffer (1859) entsprechend mit der Bemerkung: „[W]er mit den Emendationen eines Kritikers nicht einverstanden ist, dem bleibt es unbenommen, seine eigenen an die Stelle zu setzen“42 – und genau das ist es, was er in Auseinandersetzung mit Haupts erster Ausgabe von 1839 auch tut. Gleiches gilt für Moriz Haupt selbst, der die Kritik an der ersten in seiner zweiten Auflage des Erec (1871) aufgenommen hat. Ein Teil davon ist reine Polemik gegen den mit Pfeiffer befreundeten Fedor Bech, dessen Ausgabe (21870) er geringschätzt. An der Spitze scheint jedoch wieder das (diskutable!) editorische iudicium auf: „dass meine arbeit manchen zweifel übrig lässt und dass an mehr als einer stelle anderes möglich ist als ich gesetzt habe weiss ich sehr wohl.“43 Die Erec-Philologie zeigt, dass es solchen Zweifel auch gab (und gibt), nämlich Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Gesetzten einerseits und solchen an der Notwendigkeit von Eingriffen andererseits. Sie zeigt damit auch, dass editorisch verantwortete Entscheidungen, über deren mögliche Willkür man kein pauschales Urteil fällen kann, produktiv sind in der Formung eines textus receptus.44 Im Fall des Erec wird das wohl weiterhin die ATB-Ausgabe bleiben, in der Teile der vorausgegangenen Diskussion um die richtige Textgestalt Veränderungen am kritischen Text gezeitigt haben, der Disput – gräbt man nur genug nach – also dokumentiert ist. Eine Editorik, der die Abbildung genügt, entzieht sich möglichen Gegenstimmen und Zweifeln und vermeidet es durch die Nähe zum historischen Objekt vorgeblich, Fehler zu machen. Ich wende ein: Sollten solche Fehler nicht riskiert werden, anstatt vorgefundene zu reproduzieren und zu versuchen, jede noch so korrupte Textstelle zu ,retten‘?
42 43 44
Franz Pfeiffer: Über Hartmann von Aue. 1. Zum Erek. In: Germania 4, 1859, S. 185–237, hier S. 188. Haupt 21871 (Anm. 8), S. 327. Diesen aus der Bibelphilologie entlehnten Begriff verwendet in Bezug auf die Überlieferung und Editionsgeschichte des ,Armen Heinrich‘ Kurt Gärtner: Überlieferung und textus receptus. Zur Neuausgabe des Armen Heinrich Hartmanns von Aue. In: editio 17, 2003, S. 89–99, zum textus receptus und der Editionsgeschichte des griechischen Neuen Testaments ebd., S. 89–90.
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4. Sinnsuche: Bekennen Dmitrij Lichacˇev schreibt in seinen Grundprinzipien textologischer Untersuchungen der altrussischen Literaturdenkmäler: „Es gibt kein textologisches Faktum außerhalb seiner Erklärung.“45 Ich passe für den vorliegenden Fall an und überspitze etwas: Die abbildende Textreproduktion hat für die Literaturwissenschaft keinen Mehrwert, wo sie Unverständlichkeiten wiedergibt. Die Literaturwissenschaft braucht verständliche Texte und die Editorik kann wählen, was ihr Ziel ist: reine Abbildung oder verständlicher Text. Lichacˇev hatte der westlichen Philologie in den 60er Jahren vorgehalten, dass sie in der Textkonstitution „mechanisch“46 verfahre und sich dabei auf die Methode bezogen, die man heute überwiegend die ,Lachmann’sche‘ nennt. In der Editionsphilologie hat sich seitdem nicht bloß methodisch, sondern auch was die Verfügbarkeit ihrer Gegenstände betrifft, vieles verändert. Sein Vorwurf trifft dennoch: und zwar die Nüchternheit, mit der man glaubt in mathematischmechanischer Manier Texte abbilden und Editionen herstellen zu müssen, die sich eben dadurch der Lesbarkeit entziehen. Wer will schließlich unverstandene Texte lesen? Die Hermeneutik der Textherstellung wird, das meine ich gezeigt zu haben, von der Konjekturalkritik wie von der Neophilologie in die Ausgaben hineingetragen. Vielleicht sollte man dieses hermeneutische Prinzip wieder expliziter machen und ein ,Verständnis‘ nicht so streng scheiden von dem Text, auf den es sich bezieht, indem man Plausibilitäten aus der Textlogik ableitet und auf solcher Grundlage Entscheidungen für oder gegen bestimmte Lesarten trifft, während man andere verwirft. Dafür braucht man die coniectura, wenn nicht als eine Vorannahme, so als einen Einfall, der sich in der Auseinandersetzung mit dem Befund – als seine Deutung! – ergibt. Diesen muss man dann natürlich ,verantworten‘ und kann ihn im kritischen Text sichtbar als verantwortete Entscheidungen kennzeichnen. Könnte man sich einen ,hermeneutischen Apparat‘ vorstellen, in dem nicht mechanisch Lesarten angegeben, sondern Sinnstörungen und Lösungsversuche diskutiert werden? Ein Schlussappell: Die Editorik sollte sich wieder weniger als nüchtern-objektiv und quasi anti-hermeneutisch begreifen. Sie ist vielmehr die erste Form philologischer Interpretation. Die bloße Abbildung ihres Quellenmaterials, auf die sie sich heute – vermeintlich abstinent gegenüber jeglicher Form von Deutung – vielfach zu begrenzen versucht, geht ihr voraus. Die Aufgabe, „textologische Fakten“47 zu erklären sollte dabei nicht den Rezipient*innen einer Text45
46 47
Dmitrij Lichacˇev: Grundprinzipien textologischer Untersuchungen der altrussischen Literaturdenkmäler. In: Texte und Varianten. Hrsg. von Gunter Martens und Hans Zeller. München 1971, S. 301–315, hier S. 305. Der Aufsatz ist im Wesentlichen ein schmaler Auszug aus Lichacˇevs viel umfangreicherem Buch ,Tekstologija. Na materiale drevnej russkoj literatury X-XVII vekov‘ (zuerst Moskau 1962). Ebd., S. 304. Ebd., S. 305.
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ausgabe auferlegt werden. Tut man es doch, sollte man wie Meyer-Benfey und von Kraus das getan haben, als ,Aufgabe‘ markieren, was keine ,Ausgabe‘ ist. Sonja Glauch problematisiert ebendas für die Ereck-Ausgabe: „Im Grunde muss also jeder Leser selbst zum Textkritiker und -herausgeber werden. Wie viele Benutzer dieser Ausgabe können und wollen das aber leisten?“48 Gibt man die editorische Entscheidung aus der Hand, löst sich der Gegenstand der Editorik, der Text selbst, auf: und zwar in die Menge seiner undokumentierten und damit unwiederholbaren Lektüren.
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Sonja Glauch: Rezension zu Hartmann von Aue: Ereck. Textgeschichtliche Ausgabe mit Abdruck sämtlicher Fragmente und der Bruchstücke des mitteldeutschen ,Erek‘. Hrsg. von Andreas Hammer, Victor Millet und Timo Reuvekamp-Felber. Berlin / Boston 2017. In: PBB 141.1, 2017, S. 112–127, hier S. 119.
Shiamin Kwa
Fill in the Blanks and the Comics of Keiler Roberts Or the Limits of Reproduction Are Also the Possibilities of Reproduction
1. Introduction: Cartoons as an Approach to Version Control The earliest form of the word ‘cartoon’ is derived from the Italian word cartone, the augmentative form of the medium on which it was made: carta for the kind of paper, and the suffix “-one” as an emphatic comment on its large size. Cartone, or cartoon, thus designated in the 17th century a drawing on paper made as a design for the intended final product – usually a painting – that would be executed at the same size. Cartoons were used to trace out the line drawing composition preparatory to paintings, for which little pin pricks were made all around the drawings, and then “pounced” to leave charcoal marking guidelines, or else it was traced over while pressing down on a coal or chalk layer in between to carry over the marks through a transfer. Artisans used cartoons to transfer these compositions not only as preparatory to producing paintings on canvases or walls, but for piecing stained glass and weaving tapestries. When cartoons are thought about nowadays, however, it is more likely that they are considered in their comics form, as the cartoons – political or otherwise – found in the pages of a newspaper or a magazine. These are typically a great deal smaller, most often humorous, and, like their larger eponym, usually in the form of a single-panel image. Though the two kinds of cartoon described are distinct in scale, use, and function, they have formal similarities. Most obviously, they are conceived as simply depicting the outline of what they aim to communicate: the broad strokes against empty space suggest enough of the picture for the receiver to know what to do with it. They are not shy about the fact that they are representations; indeed, they are directly making a statement about their incompleteness. They broadcast their becomingness, awaiting the receiver who will bring fullness into their being through acts of interpretation. Much like play scripts, musical scores, or choreographer’s notations, cartoons may sometimes be objects of beauty in their own right, but they are also always objects of deferral. Cartoons are traces of, and for, future encounters, embodiments, and realizations. Where the cartoon presents black outlines against empty white space, the artist who uses it fills in shading, color, and texture to give it another dimension. That other dimension is what completes the work. The cartoon thus by nature engages the participatory https://doi.org/10.1515/9783111006147–011
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actor as part of its very being. The combination of creator, object, and receiver activates at the surface of this encounter and produces its effects. Thus we must note that the two kinds of cartoons have this in common as well: they exist as steps in a sequential commitment that assumes an intended – but, ultimately, not fully determined conclusion. In this way the cartoon is also very much a reminder of the act of reproduction. Cartoons in both meanings of the word are so especially suitable to ideas of reproduction that it is an especially welcome circumstance when a cartoon, in its contemporary connotation as comics, gestures to its cartoon predecessor. Certain comics lend themselves to this heritage of cartooning in ways that attract the viewer’s consideration of the relationship between drawing, production, and reproduction. They incorporate those ideas of sequential becoming into their very form by showing how the formal characteristics of the comic can be seen as an open form that involves the receiver in its completion. This essay considers the autobiographical comics of Chicago cartoonist Keiler Roberts for the complex ways that her work engages reproduction as simultaneously a technology for producing reading matter and a technology that is read for meaning. Roberts’s comics present her figures and compositions in clean and unintrusive lines that resemble cartoons in the traditional sense of the word: there is no shading here, but rather only the outlines of shapes. Mouths are frequently drawn as an open ellipse, as if waiting to be filled in with color that will add lips or teeth or internal shadows that give the effect of depth (Fig. 1). Stripes on clothing are drawn spaced apart, but the white spaces between those lines are simply invitations for a next stage: the application of color. Drawing in Roberts’s comics is lain bare as a facilitative medium. Roberts, who trained in art school as a painter, and who has been painting panels from her comics, some of which are used as the covers of her books, presents her cartoons much like the pages of a coloring book. This facilitative medium reminds us of what Deleuze called the “virtual actual”, a term that he developed using the analogy of the film negative in relation to the photograph. Deleuze explains: the elements, varieties of relations and singular points coexist in the work or the object, in the virtual part of the work or object, without it being possible to designate a point of view privileged over others, a centre which would unify the other centres.1
This virtual part, that is essential to the art object, can be understood here in terms of various related iterations: by the cartoon to the painting, but also by the cartoon drawing to the printed cartoon. This essay argues that relationships to virtual actuals productively suggest something about reading the reproduced work as well, especially when the reproduced works are like those produced by Keiler Roberts. The actual work of art occurs when it is read. The comics are simultaneously legible as they are, and also reach outwards from the text by 1
Gilles Deleuze: Difference and Repetition, trans. Paul Patton. London 2001, p. 209.
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broadcasting the potential in their sense of incompleteness, presenting instead a facilitative summons to engage the reader in a final act of reproduction. The comics discussed in this essay took form when they first appeared in the serial zine called Powdered Milk, which Roberts began self-publishing in 2012. Over the years, they were picked up by independent publishers like Koyama Books and Drawn and Quarterly Press, who have issued anthology collections of Roberts’s comics. These collections present individual comics that are arranged as unlabeled vignettes, depicting autobiographical moments from Keiler’s daily life with her husband, her daughter, her parents, her friends, and their pets. Unlike typical diary comics, Roberts’s comics are presented in groups, one after the other, but without titles or dates. Sometimes a single page will stand in for some kind of divider, but they do not form a paratext as much as they present a variation in space and content that allows for a rest. Some of the vignettes that make up these books are single-panel full-page cartoons, and some are multipage and multi-panel gridded narratives that take up a single page or a consecutive group of pages. Chronology is loose and difficult to determine, suggesting the way that a jumble of memories may inhabit one’s own mind. One has a clear recollection of the occurrence, but no idea about what year it took place, nor whether it occurred before or after another adjacent memory. In a gesture to the traditional understanding of cartoon as a facilitative form for the production of a painting, the 2021 My Begging Chart and the 2022 The Joy of Quitting feature covers that reproduce paintings of the kinds of compositions that are seen in cartoon form on the pages between the covers. Taken together, these vignettes present a collection of events that mirror the duration of events as they occur in real life: sometimes an arresting image and nothing else, sometimes a series of actions that form a phrase. In all cases, though some are so fresh and so direct that they convey a sense of being swiftly captured merely moments after being perceived by Roberts, there is always a sense of things that have already occurred and that cannot be relived except through the representational backwards gaze. They operate as if they are always aware of themselves as transcriptions of events that, having occurred, have retreated irretrievably into the past. Characters in Roberts’s comics often ask Keiler whether she plans to make a comic about the incident that has just transpired. The comic in which the reader reads these conversations already answers that question: we are reading it, so we know that she did in fact make a comic about the incident. This kind of ordering of stories creates a different kind of sense of expectation in the reader: the events depicted are “unexpected, [with] unexpectable designs”, to use Frank Kermode’s description of Alain Robbe-Grillet.2 While certain short anecdotes cohere together in the book, the unexpected ways 2
Frank Kermode: The Sense of an Ending. Studies in the Theory of Fiction. Oxford / New York 2000, p. 20.
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that incidents can suddenly end in the middle of a page, or extend over several pages leads the reader through similar, though perhaps not as firmly opaque, pathways that Kermode notes in Robbe-Grillet’s Les Gommes: “It is always not doing things which we unreasonably assume novels ought to do: connect, diversify, explain, make concords, facilitate extrapolations. Certainly there is no temporality, no successiveness.”3 The effect in the case of Roberts’s comics is to create a degree of doubt about predictability: the sense of an ending is deferred or comes earlier than expected. It is thus our awareness of the moment of inscription itself that becomes part of the reading experience. Roberts deliberately gestures to that act of making, reminding the reader of the sequence of events that result in the comic that would otherwise be assumed but not seen by incorporating the question into the comic. In the comics that make up these various collections, Roberts records even the preliminary moments in between: after the experience is registered, then discussed, and then inscribed. It is, as Elaine Scarry claims, an act, almost involuntary, that is incited by the beautiful object – or, in certain cases, by an event – on the viewer, causing them to desire to replicate it: “beauty brings copies of itself into being.”4 The fact that the comic exists already conveys a keen sense of Roberts’s determination to record the moment, reminding the reader that she knows that this particular moment cannot occur again, and that, when she perceived it, it was so unique, so memorable, so ephemeral, that it required her to reproduce it. Of course, because she has indeed made a note of the moment, and gone to the trouble of recording it in comics form, she has also made it infinite through her act of reproduction. Now when the reader sees it, the reader is also implicated, participating in that reproductive force. The facilitative summons is itself reproducible and reproduced. My essay considers the autobiographical comics of Keiler Roberts in the context of her intriguingly crafted reproductions of ephemerality, with a focused consideration of the various ways that reproduction plays a role in comics reading. I suggest that the surface of the text, or rather the particular zone where the surfaces of the comics maker, the text itself, and that of its reader meet, is the site of reproduction that is facilitated by the text.5 Reinforcing this interstitial space is the fact that comics are themselves objects of reproduction, evoking what Benoıˆt Crucifix, quoting Christopher Pizzino on Charles Burns, describes as a blend of artisanal and mechanical forms of production: In this way, as Pizzino argues, ‘Burns’s images evoke artisanal and mechanical production in a way that seems at once to emphasize and to obviate the distinction between them’, playing the two economies of the image against each other: the me3 4 5
Ibid., p. 21. Elaine Scarry: On Beauty and Being Just. Princeton / New York 1999, p. 3. I have written about this phenomenon in my recent book Shiamin Kwa: Regarding Frames. Thinking with Comics in the Twenty-First Century. Rochester / New York 2020.
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chanically reproduced narrative line of traditional cartooning and the expressive mark of the fine arts.6
In terms of subject matter, these comics also approach reproduction from intriguingly complementary angles. Roberts reproduces conversations and actions that she experiences in daily exchanges, and the mode of reproducing and distributing those moments are acts of mechanical reproduction. In terms of her subject matter, biological reproduction is strikingly apparent, for in her depictions of daily life Roberts hews closely to observations about family structures and how they repeat and reproduce themselves. Motherhood is expressed in Keiler’s roles as daughter as well as mother, and those structures are observed again in the play between Keiler and her daughter Xia. Actions and gestures are shown to be copies of each other in intergenerational exchanges. The comics discussed here demonstrate the paradoxes of the problems of reproduction in Keiler Roberts’s work. I analyze how comics that explore reproduction through the lenses of motherhood, autobiography, and memoir, are entangled and harmonized in producing and reproducing the graphic narrative and are engaged at all levels of our understanding of reproduction.
2. The Logic of the Snapshot: Reproduction and Repetition in the Comics Page The six-panel grid on page 38 of Miseryland offers six separate scenes that could be read in any sequence, resembling photographs in an album that suggest rather than insist that an ordering impulse has arranged them together (Fig. 1). The first three panels are wordless. Xia and Keiler give Crooky the dog a bath. Keiler crouches next to Xia in her stroller while they watch ducks on the sidewalk. Keiler and Xia put a puzzle together on the floor. In the fourth panel, Xia is taking a photograph of Crooky’s tail, and the figures in the image are obscured: the top half of Xia’s face is cut out of the frame as is most of Crooky’s head. Keiler is represented by the bottom part of her left leg. Two speech bubbles explain the scene: “Mom. I’m taking pictures!” and Keiler’s reply: “That’s going to be a nice one.” In the fifth panel, Xia is viewed alone placing a doll into a stroller and murmuring to it: “Come here Sweetie. Settle down. Settle down now.” Finally, mother and daughter are seen in the bathroom with Xia’s arms on Keiler’s shoulders as Keiler helps her balance on the toilet, saying “Are you done yet?” Xia replies: “Your eyes smell like eyelashes.”
6
Benoıˆt Crucifix: Cut-Up and Redrawn: Reading Charles Burns’s Swipe Files. In: Inks: The Journal of the Comics Studies Society 1, 2017, no. 3 (Fall), pp. 317–318.
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Fig. 1 “Come here Sweetie.” Keiler Roberts. Miseryland, p. 38. Evanston: self-published, 2015.
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The panels are simultaneously senseless and highly evocative, conveying a sense of memorable moments captured and recorded. Pages like this one are perhaps the best way to understand the comics that Roberts makes, encapsulating the sense of assemblage from the reproduced moments, commenting through their existence on Roberts’s drive to reproduce them on the comics page, and recording the ways that people produce and reproduce what they see in real life. Throughout Roberts’s comics, the characters pivot between enacting the ordinary moments of daily life, including the presumably ordinary fact that such ordinary moments may become permanently inscribed in one way or another, and wondering aloud whether these ordinary moments will become enshrined in one of Keiler’s comics. Because these are Keiler Roberts’s comics, the fact that the characters discuss the imminent immortalization of a moment or a scene can only be expected. A full-page spread shows Xia in a high chair shouting the words “Shout! Shout! I’m shouting!” Scott says to Keiler: “I could write your comics – Xia in her high chair saying ‘Shout! Shout!’” to which Keiler smilingly replies: “Go ahead.”7 Even further on in Miseryland, Xia asks Keiler what she is doing. Keiler replies that she is drawing, and the mother and daughter are viewed from behind looking at a comics page that Keiler has made. Xia approvingly cries out: “That’s me! That’s me taking pictures of Crooky’s tail. Thank you for drawing that Mommy.”8 The drawing that they are looking at is presumably the page encountered earlier in the book, on page 38. Although this repetition is not commented on in these pages, it is there to be observed by the reader. The desire to collect these images and events follows the logic of the snapshot. Indeed, this desire to reproduce and memorialize instances is witnessed throughout Roberts’s comics. In a six-panel comic in the book Chlorine Gardens, Keiler and Scott are celebrating their 14-year wedding anniversary at a restaurant, and Scott remarks that in another 14 years, their daughter Xia will be in college. Keiler responds that their “marriage has been an eternity” and that “it seems like [Xia] would be much older” given her experience of the time they have already spent together. Scott jubilantly responds: “Yes! I finally know what to put on facebook about our anniversary. ‘The time I’ve been married to you has been an eternity’, says Keiler.”9 This page, with its joke about capturing an essential line for the delectation of a social media public draws attention to the relationship between a happening and its recording. Scott’s desire to reproduce the moment for facebook echoes many other moments within these pages, not least the fact that this moment of Scott’s memorialization for his own update will in turn become memorialized in a comic about his desire to memorialize it. By drawing the reader’s attention to the overlapping ways that a fragment of conversation is reproduced, Roberts emphasizes not only the delights of taking note 7 8 9
Keiler Roberts: Miseryland. Evanston 2015, p. 18. Ibid., p. 51. Keiler Roberts: Chlorine Gardens. Toronto 2018, n. pag.
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of the everyday, but the delights of literally taking note of them by writing them down, perhaps even drawing them, and then later proliferating them for even wider distribution. In an eight-page sequence that also appears in the collection Chlorine Gardens, Roberts reflects on the notion of favorite things in response to her stated dislike for the song “My Favorite Things.” Her noise-cancelling headphones are thus the first favorite thing that she mentions, because they allow her to cancel out the sounds of “that horrible song.” The comic goes on to detail the favorite things of her family members. Among the many things that Keiler enumerates in this comic are Chardonnay, pets, a certain drinking glass, the smells of things from gasoline to dogs to rubbing alcohol to the combination of bleach and ice cream. Sometimes the mention of a certain favorite thing creates an opportunity for a longer musing commentary, as when she writes: “My mom loves her dog the most, along with anything she can use to set the table. She creates elaborate displays for no occasion and leaves them out for weeks until she has to actually use the table.” The comic comes to a close with Scott first listing favorite things that he likes to eat, complaining about the lack of specificity in her question, and finally settling on liking “the comics community.” The final comic is a full page, which could be its own independent cartoon, where Keiler asks Scott if he will read her comic and he replies: “Not right now.” Snuck between this enumerative list and accompanying commentary is Keiler’s telling comment: “I think I started making comics so I could stop fearing the loss of my irreplaceable things.”10 Making things and moments into comics renders them infinitely reproducible, and thus renders them impossible to lose. The reproduction represented by the act of making comics is deftly and quietly asserted: it is in making comics that Roberts finds the means to overcome her fear of loss.
3. Family Matters: Reproducing Matter and Manner It is likewise in reading comics, and these comics in particular, that the reader participates in overcoming loss. The comics frequently feature recurrences, invoking the reader’s own memories of having encountered certain images or moments, such as Xia encountering a comic about the earlier time when she photographed the dog’s tail. The cover of Roberts’s forthcoming book The Joy of Quitting features a cover painting of Keiler lying face down on the floor on a yoga mat with Crooky nestled on the backs of her legs, and Xia massaging her back with a roller. The image occurs in the form of a drawing on a full-page spread in Roberts’s Rat Time.11 Repetition is built into the content of these comics, so that certain actions recur throughout the pages, and emphasize the 10 11
Ibid., n. pag. Keiler Roberts: Rat Time. Toronto 2019.
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fact of their repetition. This is most prominent in the depictions of the silent actions that occur between mother and daughter that occur throughout these comics. Touch is so frequently depicted in these pages that even when the characters are not depicted touching each other, the sense of intimacy between them continues to be palpable. Keiler is seen just as frequently talking to her mother on the telephone as she is seen together with her in the same physical space. The physical presence between mother and daughter is so well documented that it leaves the impression of persistence, as when Keiler and her mother sit together on the sofa discussing Dr. Spock while Keiler rubs her mother’s feet. Keiler asks her mother: “Did you read any books on babies or parenting?”, and her mother replies that she “just figured it would all come naturally”. In the bottom half of the same page, Keiler sits at her desk at home, reading about Dr. Spock off the computer screen that “Dr. Spock convinced a generation of parents to trust their instincts”. Xia plays with dolls in the foreground.12 Later on, in another scene between mother and daughter, Keiler’s mother compliments her on her skills as a masseuse. Keiler confides that her mother’s and Xia’s feet are the only feet that she can tolerate. She then adds: “I’m training Xia to rub my shoulders and tickle my neck. That’s going to be her only chore”, as Xia is shown standing in front of Keiler rubbing her feet. The page ends with Keiler sitting on the floor of the bathroom, with her back resting against Xia, who sits on the toilet and says, reassuringly: “I’ll take care of you.”13 The comics emphasize the way that the relationships between the family members reproduce themselves, insuring against loss in their own way by demonstrating how gestures of care can be observed and reproduced. Towards the end of Chlorine Gardens, in a series of pages preceded by a blank page with a speech bubble containing the word “where?” Keiler reflects on the death of her maternal grandfather, and the trip home that she makes to see him on his deathbed. His last word, in response to Keiler’s mother telling him “You can let go now, you can go” is “Where?” At the hospital, Keiler and her mother sit together, with her grandfather behind them on the bed, and she addresses her mother: “give me your feet.” Her mother objects: “They’re really sweaty I’m not wearing socks” and proceeds to wipe her sweaty feet on Keiler’s pants. This lighthearted moment in the midst of the sadness of losing a beloved family member again reminds the reader of that fear of losing the irreplaceable and how that fear lingers amidst recollections of mundane conversations and simple exchanges. As she drives with Xia to the nursing home, Keiler and Xia discuss what kinds of things Xia would sell if she had a store (“a jump rope made out of my hair” is one of the answers). As Keiler imagines a conversation at the cashier about the variously absurd things for sale in Xia’s store, she also 12 13
Roberts 2015 (n. 7), p. 77. Ibid., p. 138.
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remarks “Xia, you know Great-grandpa might die while we’re there” and “everyone might cry and be sad, but that’s okay”. Xia replies “I know” each time. The juxtaposition of these kinds of conversation and action work towards that reassurance against loss that Roberts describes in her description of favorite things, while they mimic the way that such conversations and actions evolve and surface in the midst of our mundane activities. The sequence of pages here communicates the different registers of emotion and tone, distilled in the time surrounding the three days that Keiler spends with her mother and her dying 98-year-old grandfather. In one six-panel page, she describes her grandfather at eight, six, and three months before his death, and then on the last three days of his life. In the last page of this section, however, she describes how his “death was a separate event...from losing him”. Again it is in the mundane details of care where both loss and permanence attain. In the fourth panel of the page, Keiler heats up a cheeseburger in the microwave while her mother makes a milkshake in a blender: “The moment I felt the loss of him most was weeks before this. I watched him eat a cheeseburger with a strawberry malt.” In the next panel, the lettering in the frame continues at the top and bottom of the panel: “I didn’t say anything meaningful to him. I listened to my mom take care of him.” Her mother says, simply, about the cheeseburgers: “They’re from Costco. I bought 20 because it’s the type of thing they’ll suddenly discontinue.” The last panel shows him eating his cheeseburger accompanied by the sentence: “I tried to memorize him eating while not crying.”14 At the very end of Chlorine Gardens in its epilogue, Keiler talks on the telephone with her mother, who is cleaning out the freezer after spilling blueberries throughout the freezer drawer. She remarks to Keiler that there are only four of those “wonderful cheeseburgers” left now, and that Costco has discontinued them, to which Keiler responds simply: “I’m sorry.” The significance of this exchange can again only be measured fully by the participation and memory of the reader, just as the grandfather’s utterance of “Where?” in the comic answers the question of bewilderment about the earlier page in which the speech bubble containing “Where?” floated in the center of an otherwise empty page. This responsibility to recall such details surfaces again for the reader who, having seen the cheeseburger mentioned several times in the story, traces the appearances of dialogues about the cheeseburger in the preceding pages. Those appearances, experienced in a sequence but divided from each other by daily life, give meaning to the grief that can attach to such things that are as simple as the words “I’m sorry”, and as unexpectedly crushing as the mention of cheeseburgers from the frozen sections of a giant warehouse store. Food and its relationship to the kinds of memories that can be summoned by it are again evoked when Keiler offers Crooky a piece of her pizza; instead of gobbling up the 14
Roberts 2018 (n. 9), n. pag.
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offering, Crooky simply stands there, unaware of the unusual offer from Keiler. This inaction causes Keiler to wonder aloud whether Crooky will be her next tragedy. Following the sequence of pages that begin with “Where?” and that end with the page in which Keiler details the loss of her grandfather through the image of him eating a cheeseburger, Roberts presents a full-page spread. At the center of the page, with corners rounding into the whiteness of the page, Xia kneels wordlessly on the left side in front of some shelves. She is playing with dolls. She props up one doll so that it stands behind a wheelchair, helping to push another doll forward towards the right side of the page. This kind of play occurs throughout Roberts’s comics, which frequently show Keiler and Xia playing together, Xia playing in the background while Keiler is absorbed in another task, or, sometimes, Keiler herself playing with dolls. In its surrounding context, Xia’s play with dolls involved in these various care-giving tasks takes on added meaning when considered against the ways that Keiler has been shown taking care of her mother, commenting on how she is training Xia to take care of her, and her observations of her mother taking care of her dying grandfather. In Xia’s actions, the reader sees how our behaviors can also be reproductions of those acts of grace and kindness performed by those we observe. In enacting these copies, the daughters make losses more bearable.
4. Reproducing Knowledge by Reproducing Actions The reproduction of behaviors is not limited simply to reproduction in comics pages. The comics are filled with intermediary acts of reproduction, as shown not only in Xia’s play but in Keiler’s. In Rat Time in particular, the toy dolls become implicated in a broader consideration of the role fiction and imagination plays in fiction, but also in everyday life. In a sequence about writing fiction, the reader encounters Keiler walking on the sidewalk while talking on the phone. She says: “I’ve been trying to write fiction. It’s totally embarrassing, even when I’m alone. I feel like someone is watching my stupid thoughts.” As she continues to describe the story that she has invented, the sequence bends towards a conversation Keiler has with her friend Amie involving their shared “passion for dolls” and a playful conversation between them about being “good at playing Barbies”. This exchange is followed by a four-panel spread of Barbie engaged in the kinds of mundane activities that Keiler might draw herself participating in. These are, namely, doing household chores such as putting laundry into the washing machine, taking the dog out on its leash and waiting to pick up after it, lying in bed, or taking a bath. Placing Barbie into the same situations and positions that Keiler often places herself in these pages serves to underscore the repetitive nature of the everyday and the accompanying pleasure of rehearsing and reproducing the everyday even when one is playing.
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Keiler contemplates whether Xia invites her to play dolls with her “just so she can reverse our roles”. In one panel, she responds to Xia’s request to play with her with the retort: “Why? So you can yell at my doll?” This causes her to recall the evidently painful loss of her ability to play with dolls without fearing the judgment and ridicule of other children her age. She recalls: “When I was thirteen I learned how to make porcelain dolls. It helped soften the blow of stopping playing with them. I could still create elaborate displays. They didn’t talk anymore, but they were still more than decorations.” Barbie and Ken are shown having the most inconsequential yet strange conversations (Fig. 2): “What kind of work do you do, Buster?” “I’m an architect.” “Did you say you were a dog trainer, Aunt Kate?” “Oh, you can use my nickname, which is ‘Kate’.” This conversation is interrupted after the second panel with a third panel that confides to the reader over a close-up of Keiler’s face: “My compulsion to make the dolls into realistic characters is the same promising, frustrating compulsion I feel when writing fiction.”15 Playing with dolls is a way of working through human behaviors, of noticing the strange or interesting things that others do or say and trying to integrate them into one’s own worldview by reproducing them in play. Later in Rat Time Keiler overhears Xia playing with two of her Barbies. They quietly whisper to each other: “Let’s go to Target.” “Okay.” “We need the key to unlock our account.” Keiler, intrigued, asks Xia what she is talking about. Xia replies that “they need to unlock the account to get out of their house”, to which Keiler asks where she learned that word. Xia replies: “I don’t know what does it mean?” This is another reminder of the facilitative summons of this kind of play and of the repetition incurred by replaying what has been overheard or observed. Xia’s attempts to use the newly acquired vocabulary in a situation between her dolls are, after all, like a version of Keiler’s compulsion to create a fictional story, a way of sorting through the evidence culled from the day’s activities in order to archive, forget, or interpret. The iterative force of this kind of playing is threaded throughout Roberts’s comics. In the last pages of Rat Time, Keiler and Xia are at the doctor’s office waiting for Keiler to be seen about a rash on her leg. Xia counts the fish in the aquarium, then gets a cup of water from the water cooler, then brings it over to
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Roberts 2019 (n. 11), n. pag.
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Fig. 2 “We just ate.” Keiler Roberts. Rat Time, np. Koyama Press, 2019.
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Keiler where she accidentally drips some water on her mother’s leg. She offers to let Keiler watch her braid her My Little Pony’s hair, and suggests: “When we get home I want to play ponies with you. We can make up a story.” When Keiler asks why they can’t play with the pony at that moment, Xia objects that it is not possible to make up a story with just one toy. This begins a discussion of pretend play that lightly transitions through a series of variations on the relationships between fiction and reality. In the pretend play orchestrated with the help of the toy pony Fluttershy, Fluttershy simply goes to the doctor’s office, where she proceeds to look at the fish in the fish tank, gets a cup of water, and spills some water on Keiler while trying to read over her shoulder. Keiler comments: “these are exactly the same things you did.” When she compares Fluttershy to herself and Xia protests, Keiler comments: “You always want me to play with you, but you never like the way I play.” The playful banter between Keiler, Xia, and the toy pony recalls an anecdote from the past that operates in the reverse. In this case, Keiler and a college boyfriend “shared a running joke where [they] pretended to break up at funny times”. However, before too long, Keiler starts to notice that things are different between them. One day her boyfriend asks her why she seems sad and she replies: “It just doesn’t feel like we’re even dating anymore.” Surprised, he confirms that this may well be, because they are in fact no longer dating. She asks: “When did we break up!?”, and he replies: “When I said, ‘We’re breaking up.’”16 In this case playfulness and play-acting surprises her with its seriousness, but in fact Roberts’s comics demonstrate that she is keenly aware of the overlap between the playful and the serious. For if the action is to be strong enough to alleviate pain and to obviate loss, it will be equally strong at causing pain and inflicting a deep and powerful sense of loss. If it is meant to help the daughter work through the mysterious words and actions of her mother, it must be equally so complex and opaque that words simply cannot be relied on exclusively to settle matters. We are constantly seeking out these facilitative forms that might help us to make better sense of things as they occur to us, and move through these moments of rehearsal, reproducing those aspects that we want to see continuing along in the world. In Roberts’s depictions of her close relationships with both her mother and her daughter, and the ways that each of them is invested in those acts of reproduction, the reader appreciates that biological connection that is reinforced with the repetition of image, text, and situation. Within these pages the characters are involved in acts of reproduction; they are themselves objects and effects of reproduction, a succession of daughters in relation to each other. But they also reproduce each other in terms of behavior, story-telling, and acts of care and intimacy. At the material level, these stories are reinforced by the medium itself, executed in the pen and ink drawings that, in 16
Ibid., n. pag.
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their references to cartoons invoke the ways that the drawing is not simply an end in itself but also the possibility for a future version that awaits its manifestation by another hand. What is the reader meant to do, coming upon these comics that simultaneously broadcast finished product and unfinished work? What to make of the unpredictable passage of time, the uncertainty hovering at the edges between reader, text, and a real Keiler somewhere in time who made the original now turned to infinite copies? So it goes, the fear and the hope, hand in hand, proceeding forwards and outwards towards you and me, who are ourselves reproduced into the finishing readers of these inviting texts.
Jessica Bauer
Kompilation wider Verfolgung Sebastian Franck und die Frage nach dem versteckten Sinn
In diesem Aufsatz wird das kompilatorische Arbeiten des vielgelesenen Autors Sebastian Franck (1499–1542) als Textproduktionsverfahren frühneuzeitlichen Schreibens in den Blick genommen und hinsichtlich seiner unterschiedlichen o Funktionen anhand der Chronica, Zey¨tbuch und geschy¨chtbibel (1531 / 36) untersucht.1 Die Chronica gilt als ältestes protestantisches Geschichtswerk2 und markiert für ihren Verfasser den Beginn von Zensur- und Verfolgungsmaßnahmen, durch die er vielfach seine Wohn- und Schaffensorte zu wechseln gezwungen ist. Selbst nach dem Tod des großen Wissensvermittlers3 gibt es Versuche seitens populärer Reformationsakteure wie Martin Luther die Rezeption seiner Werke einzuschränken.4 Franck und seine Texte gelten aufgrund ihrer mystischspiritualistischen Prägung, der mehr oder weniger unverhohlen geäußerten Herrschaftskritik sowie der Würdigung der als Häretiker Verstoßenen als potenziell gefährlich in dem Sinne, dass sie als Motor erneut aufflackernder Aufruhre dienen könnten. Die Erfahrungen des Bauernkriegs liegen der frühneuzeitlichen Gesellschaft und ihrem Machtapparat schwer im Magen und so ist man bemüht, kritisches Gedankengut präventiv zu unterbinden. Zunächst möchte ich anhand von Textpassagen einzelner Vorreden beispielhaft vorführen, wie Franck seinem Lesepublikum die kompilatorische Methode erklärt, da jene Ausführungen Rückschlüsse auf das Geschichts- und Textbewusstsein frühneuzeitlicher Historiker und Schreiber zulassen. Die mit den ihr eigenen paratextuellen Topoi und Funktionen ausgestatteten Vorreden sind klassischerweise die Orte in einem frühneuzeitlichen Werk, an denen der Autor seine Arbeitsmethode sowie die Textentstehung und Lesart beschreibt und reflektiert.5 1
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Sebastian Franck: Chronica, Zey¨tbuo ch und geschy¨chtbibel. Strasburg 1531. Durch die Existenz unterschiedlicher Druckvarianten erfolgt zusatzlich die Angabe des Bibliotheksbestands: Bayrische Staatsbibliothek München, Sign. 2 Chron. 15. Verwiesen sei an dieser Stelle auf den Anhang über die editorische Aufbereitung des Materials im Anschluss an den Beitrag. Vgl. Horst Weigelt: Sebastian Franck und die lutherische Reformation. Gütersloh 1972 (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte 186), S. 18. Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenkultur und Spiritualismus. Band III. Heidelberg 2016, S. 5. Vgl. Siegfried Wollgast: Vorwort. In: Beiträge zum 500. Geburtstag von Sebastian Franck (1499–1542). Hrsg. von Siegfried Wollgast. Berlin 1999, S. 7. Martin Luther: Vorrede. In: Ein Dialogus dem Ehestand zu ehren geschrieben. Johann Freder. Wittemberg 1545 (Vd 16 F 2508 Ms. germ. Oct. 53). Siehe weiterführend hierzu Beiträge zur Vorredenforschung: Hans Ehrenzeller: Studien zur Romanvorrede von Grimmelshausen bis Jean Paul. Bern 1955. Ge´rard Genette: Paratexte. Das Buch
https://doi.org/10.1515/9783111006147–012
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Weiterführend möchte ich zeigen, dass die spezifische Art der Textproduktion es dem Verfasser Franck erlaubt, historische und aktuelle Konflikte der Gesellschaft kritisch zu hinterfragen und neue, von historischen Denk- und Handlungsmustern abweichende, in seinem Sinne ideale Verhaltensweisen vorzuschlagen – mit dem Ziel, diese im besten Falle in den Köpfen seiner Leser zu implementieren. Da ich an einer Leseausgabe der Chronica (1531) arbeite, werden im Anhang Fragen der editorischen Aufarbeitung des Materials aufgegriffen und kritisch beleuchtet.
1. Kompilation als Textproduktionsverfahren Kompilation und Abschreibetechniken stellen in der Frühen Neuzeit ein gängiges Verfahren der Wissensaneignung dar, im Zuge derer das fremde Wissen aus fremden Texten durch das handschriftliche Kopieren einverleibt wird.6 Hinsichtlich der frühen christlichen, aber auch der nachfolgenden mittelalterlichen Geschichtsschreibung lässt sich eine bestimmte Tradition hinsichtlich der Kompilationsmethodik konstatieren, denn schon die frühchristlichen Geschichtsschreiber bedienen sich beieinander und modifizieren beispielsweise Geschichtsdarstellungssysteme der Vorgänger.7 Ihre Methoden der Geschichtserfassung halten die Historiker immer wieder (und in verschiedener Tiefe) in den Vorreden fest.
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vom Beiwerk des Buches. 6. Aufl. Frankfurt a. M. 2016, hier insbesondere der Abschnitt zu den Funktionen des Originalvorworts, S. 190–227. Karl Schottenloher: Die Widmungsvorrede im Buch des 16. Jahrhunderts. Münster Westfalen 1953. Bärbel Schwitzgebel: Noch nicht genug der Vorrede. Zur Vorrede volkssprachiger Sammlungen von Exempeln, Fabeln, Sprichwörtern und Schwänken des 16. Jahrhunderts. Tübingen 1996. Dabei bieten sich auch Gelegenheiten zur Umdeutung, „weil das Abschreiben durch Umformulierungen oder Auslassungen [...] einen semantischen Spielraum zulässt [...].“ Susanne Rau: Nach dem Schreiben. Abschreiben und Umschreiben von Geschichte in der Frühen Neuzeit. In: Geschichtstransformationen. Medien, Verfahren und Funktionalisierungen historischer Rezeption. Hrsg. von Sonja Georgi u. a. Bielefeld 2015, S. 58. Einen guten Überblick über die gattungsgeschichtliche Einordnung der Chroniken seit der Antike liefert Gerhard Wolf: Einleitung. In: Handbuch Chroniken des Mittelalters. Hrsg. von Gerhard Wolf und Norbert H. Ott. Berlin / Boston 2016, S. 1–44, hier besonders S. 6–9. Monographisch: Mosaics of Time. The Latin Chronicle Traditions from the First Century BC to the Sixth Century AD. Volume I: A Historical Introduction to the Chronical Genre from its Origins to the High Middle Ages. Hrsg. von R. W. Burgess und Michael Kulikowski. Turnhout 2013. Christliche Chronografie beginnt mit Julius Africanus (ca. 160 / 170 – nach 240), dessen Werk Χρονογραφι´αι (Chronographiai; „Chronologien“) nicht nur heilgeschichtlich angelegt, sondern auch welt- und universalchronistisch ausgerichtet ist. Neben der Bibel werden jüdische, griechische und römische Vorlagen benutzt. Jedoch gilt die nur noch fragmentarisch überlieferte Chronik des als ,Vater der Kirchengeschichtsschreibung‘ (Vgl. Wolf 2016, S. 8) bekannten Eusebius von Caesarea (260 / 64 – 339 / 340) als die „am weitesten verbreitete Universalchronik der Spätantike und des Frühmittelalters“ (Wolf, S. 8). Jener hat ein komplexes Konzept der Geschichtsdarstellung entwickelt, das synchronistisch angelegt „die ganze historische Literatur seiner Zeit verarbeitet [...]“ (Wolf, S. 8). Die Wirkungskraft der eusebianischen Geschichtsschreibung entfaltet sich allerdings erst durch Hieronymus (347–420), der einen großen Teil des Werks vom Griechischen ins Lateinische übersetzt. Ein weiteres für die Entwicklung der christlichen Geschichtsschreibung wegweisendes Werk stellten die von Orosius im Jahr 417 / 18 verfassten Historiae
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Gemeinsames Movens ist dabei der Versuch, die schiere Fülle an Material zu bewältigen, indem der Stoff auf das Wichtigste reduziert und selektives Vorgehen betont wird.8 Zur Beschreibung des kompositionellen Vorgehens taucht in den Geschichtswerken häufig die Flores-Metapher9 auf. Diese Tradition aufgreifend spricht Franck in der Vorrede von „nergreü ten bluo men“,10 die von weit her nun in einem Korb versammelt seien. Ähnliche Bilder erzeugt er bereits im Titel der Chronica. Summa hier in¯ findegtu gleich ein begriff / gummari / innhalt vn¯ gchatnkammer / nit aller / gunder der Chronickwirdiggten / außerleßnen Higtorien / eingeleibt / vnnd auß vilen e von weittem doch angenummenen glaubwirdigen buchern / gleich als in ein e o o ymmen korb mugelig nugamen tragen / in geer gutter ordnung für die augen gegtelt [...] (Franck: Chronica, 2 Chron. 15 H. d. V.)
Melville nennt dieses auf einem Auswahl- und Kürzungsverfahren beruhende Vorgehen das „Formungsprinzip kompilatorischen Arbeitens“,11 wobei die Kombination und Ordnung des Stoffs ebenfalls Teil der Strategie sei. Damit stellt sich Franck in eine lange währende Tradition der Universalhistorien, die er sich darüber hinaus zu Nutze macht, um u. a. Überlegungen „zu Aufruhr und Tyrannei, zu Gewaltverzicht [...] sowie zu Unparteilichkeit und Toleranz [...]“12 zu verbergen. Kompilation leitet sich vom lateinischen compilare (= ,plündern‘, ,ausbeuten‘) ab und bedeutet so viel wie ,zusammenrauben‘. Im Zuge des Übergangs vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit transmutiert die negative Bedeutungskomponente zu einem neutralen Sinngehalt.13 Das „,Zusammensetzen‘ oder ,Zusammenziehen‘“14 beinhaltet als Prozess in der Textproduktionsphase stets ein selektives Vorgehen. Dabei werden Texte bzw. Textteile von bereits etablierten Schreibern ausgewählt, um sie für das eigene Werk als Vor- oder Grundlage zu
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adversus paganos („Geschichte gegen die Heiden“) dar. Mit der Universalchronik wird eine bedeutende Chronik-Gattung des Mittelalters etabliert. Vgl. Gert Melville: Spätmittelalterliche Geschichtskompendien – Eine Aufgabenstellung. In: Römische Historische Mitteilungen 22, 1980, S. 51–104, hier S. 62f. Siehe weiterführend hierzu Gert Melville: Zur „Flores-Metaphorik“ in der mittelalterlichen Geschichtsschreibung. Ausdruck eines Formungsprinzips. In: Historisches Jahrbuch 90, 1970, S. 65–80. In seiner Studie untersucht Melville, wozu die Flores-Metapher im historiografischen Kontext dient, was ihre Anwendung bezweckt und beschreibt. Um die Formung des Stoffes, die das Schöpfen aus Quellen und die Reduktion auf das Wesentliche umfasst, jenes Gehalts also, der des Sammelns und Erinnerns wert sei, zu beschreiben, greifen Geschichtsschreiber des Mittelalters auf die „Flores-Metaphorik“ zurück. Chronica (Anm. 1), a(ij)(r) (Vorrede). Melville 1980 (Anm. 8), S. 64. Nicole Dellsperger: Lebendige Historien und Erfahrungen. Studien zu Sebastian Francks „Chronica Zeitbuoch vnnd Geschichtbibell“ (1531 / 1536). Berlin 2008 (Philologische Studien und Quellen 207), S. 32. Zur Wortherkunft vgl. Kallweit, Hilmar: Kompilation. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. von Harald Fricke. Bd. II H-O. Berlin 2000, S. 317–321. Rau 2015 (Anm. 6), S. 55.
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verwenden. Die Auswahl der Quellen kann schon etwas über Gesinnung und Intention aussagen, erfolgt sie beispielsweise entgegen der Konvention. So bezieht sich Franck auffallend oft auf nicht-christliche, gar häretische „Gewährsleute“.15 In erster Linie geht es den frühneuzeitlichen Chronisten aber um das Konservieren besonders erinnerungswürdiger Ereignisse, deren Wahrhaftigkeitsanspruch durch ihre langjährige Tradierung als gesichert gilt.16 Bei der anschließenden Bearbeitung und Komposition der Texte oder Textteile wird die übergreifende Erzählstruktur gestaltet, der Plot konfiguriert,17 wie Rau es nennt, und können Autoren wie Franck kreativ vorgehen, weshalb ein künstlerisch schaffendes Moment ohne Weiteres zu konstatieren ist und moderne Auffassungen von Autorschaft im Sinne von Originalität überdacht werden können. Dabei habe Franck selbst kein Autor im Sinne eines selbstständigen Schöpfers sein wollen, stellt Müller apodiktisch fest.18 Die Art der Textproduktion, die im kompilatorischen Sinne das Auswählen und Schreiben umfasse, sei bei Franck Zeugnis des Geistwirkens in ihm selbst. Das von Müller mehrfach postulierte „wilde [...] Kompilieren“19 ergebe sich aus der Verweigerung und Vermeidung, ,künstlich‘, d. h. über vermeintlich pseudogelehrte Methoden, systematisch Geschichte zu vermitteln. Franck folge vielmehr über die Bewegung des Schreibens der Spur seines durch den Geist erleuchteten Herzens, um so die in seinen Worten dargebotene Wahrheit nicht zu verfälschen. Autor sei somit nicht Franck selbst, sondern vielmehr seien es Welt und Gott; durch Franck flössen nur die gesammelten, schriftlich-fixierten, überlieferten Erfahrungen anderer wie durch einen Filter – hängen bleiben würden die Wahrheitskörnchen der „lebendigen Higtorien“,20 welche jedoch nur aus der Ferne auf Gott verweisen könnten. Nach Francks Auffassung, so Müller, ist ein Kompilator ein Medium, durch das fremde Worte strömen, die von seinem „eigen thumb“,21 zumindest weitestgehend, unberührt bleiben sollen. Hinsichtlich der unterschiedlichen Transformationsmöglichkeiten von Geschichte in der Frühen Neuzeit unterscheidet Rau sechs Typen von kompilatorisch arbeitenden bzw. Geschichte transformierenden Textproduzenten,22 die hier 15
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Jan-Dirk Müller: Zur Einführung. Sebastian Franck: der Schreiber als Kompilator. In: Sebastian Franck (1499–1542). Hrsg. von Jan-Dirk Müller. Wiesbaden 1993 (Wolfenbütteler Forschungen 56), S. 19. Vgl. Rau 2015 (Anm. 6), S. 54f. Vgl. ebd., S. 55. Müller 1993 (Anm. 15), S. 21. Ebd. Laut Müller unterliege Francks Kompilationstrieb keinerlei Methodik, was seinem grundlegenden Misstrauen den menschlichen Künsten gegenüber geschuldet sei. „Jene methodischen Verfahren, durch die ein selbstständiges Urteil gewonnen werden könnte, wären ja wieder menschliche Pseudogelehrsamkeit.“ S. 28. Chronica (Anm. 1), aiiij(v) (Vorrede). Ebd. avj(r) (Vorrede). Vgl. Rau 2015 (Anm. 6), S. 64. In ihrem Beitrag stellt Rau sechs frühneuzeitliche „Transformateure der Geschichte“ vor: An erster Stelle steht der Erstschreiber, der die Geschichte anfertigt.
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auf drei Typen reduziert aufgeführt werden: So gibt es die Erstschreiber (Urheber), Abschreiber (Kopisten) und Umschreiber. Obwohl sie das Modell vor allem auf die historiografische Handschriftenkultur bezieht und den Drucker bzw. Setzer als weitere Transformationsquelle auslässt, kann Franck zweifellos zur Gruppe der Umschreiber gezählt werden, da jene stärker als die Abschreiber in den Bedeutungsgehalt der Geschichte eingreifen und eine die Referenzgeschichte ergänzende Neuperspektivierung vornehmen.23 In ihrem Beitrag zum Ab- und Umschreiben in der Frühen Neuzeit demonstriert Rau, dass auch vermeintlich nicht ingeniöse Schreibtechniken oder Textproduktionsverfahren wie das Kompilieren kreative und schöpferische Elemente innehaben. Franck weist an mehreren Stellen der Chronica explizit auf seine kompilatorische Arbeitsweise hin. Im Folgenden wird aufgezeigt, dass Sebastian Francks spezifische Schreibtechnik des Kompilierens drei unterschiedliche Funktionen erfüllen kann: So dient sie dazu, die vermeintlich wahre Version bzw. den wahren Gehalt von Geschichte zu identifizieren und den Leser von dieser zu überzeugen. Weiterhin kann die Kompilationsmethode verteidigungstaktisch gegen kritische Stimmen und Zensoren eingesetzt und somit als ein präventiv angelegter literarischer Schutzmechanismus verstanden werden. Schließlich bietet der über Kompilation aufgebaute Text genügend Raum, um kritische Deutungen der Gegenwart und ihrer Agitatoren geschickt und unauffällig einzuflechten. 1.1 Kompilation und Wahrheit Zu Beginn, in der allgemeinen Vorrede, macht Franck deutlich, dass er ein breites Lesepublikum ansprechen möchte und Geschichte abgekürzt darstellt. „[W]as nuo wiggen vnnoe tig igt“,24 habe er „außgemugtert vnd vnderlaggen“,25 um so „auß vil Chronicken ein Chronick zuo machen“.26 Dabei gibt er an, dass er besonderen Wert daraufgelegt habe, seinen Ton gemäßigt zu halten, weil er unparteiisch „weder wið oder für niemant gchreiben / gunder frembde that vnd e red / auß frembden buch eren anneigen“27 möchte. Sein eigenes Urteil in den Hintergrund stellend, will er stattdessen „das vrteyl einem yeden heim gtellen vnnd in gein buo ßen gtoggen“.28 Dies betont Franck auch in den anderen Vorreden
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Darauf folgt der einfache Abschreiber oder Kopist. Die Plätze drei und vier nehmen der die Geschichte ergänzende und präzisierende, der sog. produktive Kopist, und der sie bis zur Gegenwart fortschreibende Kopist, ein. Schließlich gäbe es noch den ausschließenden Umschreiber, durch dessen intentional abgefasste Gegengeschichte die Referenzgeschichte negiert werden soll, sowie den pluralisierenden Umschreiber, der zwar auch eine Gegengeschichte konstruiert, dies jedoch nicht mit Konkurrenzabsicht. Referenz- und Gegengeschichte könnten bei ihm gleichwertig nebeneinander bestehen. Vgl. ebd. Chronica (Anm. 1), a(i)(r) (Vorrede). Ebd. a(i)(r) (Vorrede). Ebd. a(i)(v). Ebd. Ebd.
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der Chronica, so zum Beispiel besonders häufig in der Vorrede auf die Papstchronik: Der Leser solle urteilen und die Wahrheit neben den Lügen erkennen, die „roßen auß diser dornheck“,29 „das fein berlin aus dem roßmist / die warheit aus der lugen vnd ketzerey lesen“.30 Dem Geschichtsschreiber scheint die Herkunft von Wahrheit nicht wichtig zu sein. „Darumb igt mir ein warheit ein warheit vnd lieb gy / got gebe wer gy gag / auch in ketnern / [...]“.31 Damit sind sowohl Ansichten von Personen nicht-christlichen Glaubens gemeint als auch von der christlichen Glaubensnorm abweichende, dokumentierte Überzeugungen von als Ketzer verurteilten Menschen. Dann es igt kaum ein Heyd / philogophus oder ketner / der nit etwa ein guo ts gtuck erra then hab / das ich nit darumb verwirff gunder als feingold anbett/ vn¯ gleich et wn auch mein gott in Heyde¯ vn¯ ketnern find / lieb vnd eere. (Franck: Chronica 2 Chron. 15 aij(v) Vorrede)
Weil Franck Häretikern prinzipiell Wahrheit, wenn auch nicht uneingeschränkt,32 in theologischen Fragen zugesteht, bieten seine ,offenen Worte‘ (aus denen ersichtlich wird, auf welchem Textkorpus die Referenzgeschichte in Teilen basiert) bereits den Anlass zur Prüfung. Denn Franck möchte zeigen, „was ein yede zeit für leüt [und Wahrheiten] hat ghabt [...]“33 und dass zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte niemals nur eine Wahrheit gegolten habe, noch zukünftig gelten werde. Die könne der Mensch allein in sich selbst finden. Hier wird noch etwas offenbar: Franck enthält dem Leser keine ihm selbst möglicherweise unpassenden Informationen vor, vielfach werden mehrere Geschichtsversionen dargeboten. Dabei weist der Chronica-Verfasser auf seine Unparteilichkeit und Interessenlosigkeit hin, während er anderen Historikern das Gegenteil vorwirft. Ihre Chroniken seien entstanden, um durch falsche Wertschätzung und Erhöhung von Personen die eigene berufliche Stellung zu verbessern oder Vermögen anzuhäufen. Es igt fagt alles heüchlerey was von Bae pgten gegchriben igt / [...] ja die warheit hat niemant doe rffen huo gten / daru¯ o igt alle Chronick hierin¯ voller heüchlerey leider / wie ma¯ greiffen muß / dn gy war lich den gpruch Omnis homo mendax wol beneügen / die warheit hatt man nie laggen auffkum ¯¯ en / lieber begihe Platinam Sabellicum / Raphaele¯ / Sapleme¯ tum Suphementi / Eugebium / da findegtu gerad das gegenteil / vo¯ digem Gre gorio. vij. da igt er eiltel heiligtu¯b / mir gilt die einig neügkniß Benonis des Car. meer dann die andern all / dan¯ meer igt ein augen dan¯ nehen orenneüg. Diger Be no hat Hildeprandum gehoe rt gegehen / vnd das offentlich bey geinem leben von 29 30 31 32 33
Ebd. xij(v) (Vorrede Papstchronik). Ebd. Xiij(r) (Vorrede Papstchronik). Ebd. aij(v) (Vorrede). Vgl. Müller 1993 (Anm. 15), S. 19. Chronica (Anm. 1), DD(i)(r) (Ketzerchronik).
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ym gegchriben / das bey mir meer gilt dan¯ der anðu heüchlern Corthiganen / vnd guppenfreggern / die villeicht vmb ein bigthumb yhr Chronick gegchriben haben / vnd den mantel allenthalb go fein gewe¯det / wie der wind her geet / oder villeicht die theür warheit in Chronicken nit haben moe gen ankummen / vn¯ wie ich / auß anderer gchrifft vnd mund geredt. (Franck: Chronica 2 Chron. 15 eeiij(v) ff.)
Diese Erklärungen Francks zeigen, dass er die Kompilationsmethode offensichtlich als Wahrheitsfilter, aber auch als Werkzeug zur Überzeugung seiner Leserschaft auffasst. Franck gleicht unterschiedliche Geschichtsversionen ab, präsentiert die verschiedenen Ansichten und stößt den Lesern mit einer, wie Kühlmann sie nennt, „entschlossenen Handhabung der Muttersprache“,34 die Wahrheit in die Brust.35 Franck bietet den Rezipienten beispielsweise beide Versionen der Geschichte von Papst Gregor VII. an, drängt sie jedoch gleichzeitig dazu, dem Bericht von Benno zu folgen. Er folge stets einer synoptischen Darstellungsweise, welche „die lugen nebe¯ der warheit“36 zeigten, damit die Rezipienten nahezu synchron beide Varianten vor Augen hätten. In der Vorrede auf die Papstchronik macht Franck auf seine unverhohlenen Fingerzeige aufmerksam, doch nennt er dies nicht Urteil oder Beeinflussung, sondern spricht von einer Art Gedankenunterbrechung beim Leser. e
Vilmals hab ich vil aus mangel der Historien / deinen gedancke¯ muggen ver laggen / vnd gleich nun mit einem finger darauff deüt en / yedoch wil ich hiemit nicht geurteylt haben / gunder alles Gott vnd dem geygtlichen leger heymgetnen (Franck: Chronica 2 Chron. 15 Xiiij(v)).
Mithilfe der kompilatorischen Arbeitsweise werden die noch nicht zu Ende gedachten, möglicherweise sogar losen Gedanken der Leser nun zusammengesetzt und explizit gemacht. Diese Art von Gedankenmontage, die im Leser in Gang gesetzt wird, ist Teil des Erkenntnisprozesses, bei dem es um die eigentliche, wahre Bedeutung von Geschichte und deren Relevanz für die Gegenwart geht. Hier dient die Kompilationsmethode nicht dazu, Sinn zu verstecken, sondern im Gegenteil, die vermeintlich wahre Version von Geschichte (parallel zum Rückgriff auf die Lüge) anzubieten und den Leser von jener zu überzeugen. Handelt es sich um wenig brisante Erzählstoffe, wenn es beispielsweise um biografisches Detailwissen geht, ist Franck zurückhaltender, was seine Kommentare betrifft und verweist nüchtern auf die ihm zusagenden Geschichtsversionen. In dem folgenden Beispiel geht es um die Überlieferungsgeschichte vom Tod des Seleukidenherrschers Antiochos IV. Epiphanes (um 215–164 v. Chr.), auf die er im Rahmen der acht Belagerungsgeschichten Jerusalems eingeht. Über das Ableben des Machthabers, den Franck beiläufig als eine Figur des Anti34 35 36
Kühlmann 2016 (Anm. 2), S. 3. Vgl. Chronica (Anm. 1), a(i)(v): „das vrteyl einem yeden heim gtellen vnnd in gein buo ßen gtoggen“ (Vorrede). Ebd. Xiiij(v) (Vorrede Papstchronik).
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christs bezeichnet,37 liegen sechs unterschiedliche Quellen vor, die „ein faszinierendes Puzzle“38 abgeben. Bei Franck stehen die Versionen aus dem 2. Makkabäer-Buch, die Gauger als „expressiven Gipfel aller Geschichten um den Tod des Seleukidenherrschers“39 beschreibt, und die gemäßigtere Variante von Flavius Josephus40 (37–100 n. Chr.) (dessen Darstellungen sich jedoch auf Schilderungen des 1. Makkabäerbuches sowie Polybios [s. Anm. 38] stützen) im Vordergrund. In beiden Varianten stirbt Antiochos an einer Krankheit – im ersten Fall werden die von Rache und Wut getriebenen Pläne des Herrschers geschildert, aus Jerusalem „ein gteinhauffen vnd grab der burger“41 zu machen. Daraufhin trifft ihn Gottes Rache in Form einer „vngichtbarn plag“42 und er erleidet einen Wagenunfall. Mit zertrümmerten Knochen und ohne Aussicht auf Heilung fängt er schließlich an zu „gtincken“,43 bis er daran zugrunde geht. Franck lässt Details, die den vermeintlichen Wurmbefall44 des Herrschers und seinen körperlichen Verfall betreffen, aus. Einzig der Gestank, den er ausströmt, wird erwähnt. Interessant ist, dass die verzweifelten, reumütigen Klagen Antiochos’ aus dem 2. Makkabäer-Buch ebenfalls ausgespart werden. Gauger geht bezüglich des reuevollen Schreibens Antiochos’ an die jüdische Bevölkerung ohnehin von einer kompletten Fälschung aus. Falls Franck den Teil ab 2. Makk 9:18ff. aufgrund einer ähnlichen Vermutung unbeachtet lässt, so erwähnt er es nicht. In der von Franck dargebotenen Variante nach Josephus werden die Truppen Antiochos’ bei dem Versuch der Tempelzerstörung von den Bürgern zurückgeschlagen, worauf der Herrscher, als er von den jüdischen Kriegserfolgen hört, „betrue pt in ein hefftig kranckheit“45 fiel, womit eine Depression gemeint sein könnte. Kurz vor seinem Tod bereut er seine Taten, nämlich Verfolgung des jüdischen Volks, Tem37 38
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Vgl. Chronica (Anm. 1), g(i)(r) (Belagerungsgeschichte Jerusalems): „[...] Anthiocho Epiphane (der ein figur igt des Antichrigts) [...]“. Jörg-Dieter Gauger: Der „Tod des Verfolgers“: Überlegungen zur Historizität eines Topos. In: Journal for the Study of Judaism in the Persian, Hellenistic, and Roman Period 33, 2002, 1, S. 42–64, hier S. 42. Hiernach stamme eine Überlieferungslinie aus der Feder griechisch-römischer Historiker (Polybios nach 150 v. Chr., Appian und Licinianus, beide 2. Jh. n. Chr.), weitere drei Berichte hätten ihren Ursprung in den biblischen Makkabäerbüchern. Ebd. S. 45. Flavius Josephus (37–100 n. Chr.) ist ein römisch-jüdischer Geschichtsschreiber, der während des Jüdischen Kriegs (67–70 n. Chr.) als Geschichtsschreiber in römischer Gefangenschaft unter Kaiser Vespasian arbeitet und die Ereignisse festhält (De Bello Judaico). Er gilt in der Forschung als wichtige (und nahezu einzige!) Quelle für jüdische Geschichte in der Antike (Antiquitates Judaicae: Jüdische Altertümer). Chronica (Anm. 1), g(i)(v) (Belagerungsgeschichte Jerusalems). Ebd. Ebd. Vgl. Gauger (Anm. 38), S. 45, 48. Der Wurmbefall ist als Gerichts- und Höllenmotiv in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts gut dokumentiert und kommt als Strafe Gottes in der jüdischen und christlichen Literatur häufig vor. Siehe hierzu auch Roland Steinacher: Von Würmern bei lebendigem Leib zerfressen ... und die Läusesucht Phtheiriasis. Ein antikes Strafmotiv und seine Rezeptionsgeschichte. In: Tyche. Beiträge zur Alten Geschichte Papyrologie und Epigraphik. In: Tyche. Beiträge zur Alten Geschichte, Papyrologie und Epigraphik, 18, 2003, S. 145–166. Chronica (Anm. 1), g(i)(v) (Belagerungsgeschichte Jerusalems).
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pelraub und Gotteslästerung. Zuletzt geht Franck auf Überlieferungen des römischen Geschichtsschreibers Marcus Junianus Justinus (3. Jh. n. Chr.) ein, wonach Antiochos hingegen bei einem Überfall auf einen Tempel „von dem volck o nu tod gegchlagen worden sey [...]“.46 Der Kommentar des Kompilators zu diesen unterschiedlichen Schilderungen besteht einzig aus dem Nachtrag: „die vorigen laß ich mir baß gefallen“.47 Franck gibt keine Erläuterungen zu den Gründen dieser Bevorzugung. Die subtil wertende Tendenz ist allerdings kaum verwunderlich, passen jene Krankheitserzählungen doch besser in das Gesamtbild bzw. ins Tyrannennarrativ, da sie göttliches Wirken im Dienst der Gerechtigkeit offenbaren. Hiernach erhält ein schlechter Herrscher die göttliche Strafe in Form eines schlimmen Todes: „Welchs allen Tyrannen ein exempel gein golt“.48 Warum der Autor auf die unterschiedlichen Versionen eingeht, ist neben dem ,Fitting‘ ins Tyrannennarrativ möglicherweise aus dem Umstand heraus zu erklären, dass solch detaillierte Schilderungen eines Herrschertodes durch Krankheit in der römisch-griechischen Geschichte sonst kaum zu finden sind.49 An diesem Beispiel lassen sich Francks Bemühungen um eine möglichst wertfreie Nebeneinanderreihung der unterschiedlichen Quellenüberlieferungen erkennen. Im Falle von Legendenerzählungen oder „Fabeln“,50 wie Franck sie nennt, argumentiert er mit dem „geifer“51 der Geistlichen, die ihren „thand“52 an die Geschichte gehängt hätten – eine andere Aufgabe hätten sie ohnehin nicht gehabt. „Aber was haben die geigtlichen gungt nuo gchaffen gehabt / dan¯ dn gie golich lug dichten vn¯ gelt netn gtrickten.“53 Franck bezeichnet ,Legendendichter‘ als „lugentregcher“54 und bedauert, dass es kaum „wahrhafftig gchreiber“55 gab, welche sich um die Wahrheit in Chroniken bemüht hätten. Hier soll der Leser zum einen von der Existenz einer mit einem Netz aus Lügen durchzogenen Geschichte überzeugt werden, die es stets kritisch zu hinterfragen gelte; zum anderen wird in einem speziellen Fall, bei dem es um die Legende der Marienerscheinung des Apostels Thomas geht, auf ihre potenzielle Erfindung hingewiesen. „Glaubs wer e do wol ich glaubs nicht.“56 Indem Franck, sich selbst zuvor als zuverlässiger, fleißiger und wahrheitsliebender Historiker inszenierend, erhebliche Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Legende äußert, werden zugleich potenzielle Zweifel bei den Rezipienten geweckt, die dazu befähigt werden sollen, die Faktizität des Geschehens ebenfalls in Frage zu stellen. 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56
Ebd. gij(r) (Belagerungsgeschichte Jerusalems). Ebd. Ebd. g(i)(v) (Belagerungsgeschichte Jerusalems). Vgl. Gauger (Anm. 38), S. 53f. Chronica (Anm. 1), Zij(v) (Papstchronik): „Hie henckt der grewel ein fabel daran¯ / [...]“ und „Jch fürgehe hie / was gie mit dem Euangeli buo ch Mathei fabulieren / [...]“. Ebd. Zij(v) (Papstchronik). Ebd. Ebd. Ebd. Ziij(r) (Papstchronik). Ebd. Ebd. Zij(v) (Papstchronik).
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Für Franck sind Erfahrung57 und Wahrheit eng miteinander verknüpft, wobei er zwischen einer inneren und äußeren Erfahrung unterscheidet. Zur inneren Erfahrung, die den Gottseligen vorbehalten sei, gehöre demnach die Erkenntnis, dass die aus „duncklen worten“58 bestehende Lehre der Heiligen Schrift erst in den Chroniken verlebendigt vorliege und Gottes Werk als „exempel erfaru¯ng o vnd erfüllu¯ng der ding“59 beinhalte. So werde den „todten¯ buchgtaben“60 durch die überlieferten (äußeren) Erfahrungen der Geschichte Geist, Seele und ein lebendiger Verstand eingehaucht, die in der Innerlichkeit des gottseligen Lesers e e erblühen und somit Gottes Geist, der „im mengchen¯ ligt wie ein gluend ko lin vnder eim hauffen ae gchen [...]“,61 verstärken und spürbar machen könnten. Geschieht dieser Vorgang, ist man der Wahrheit durch die Erkenntnis des göttlichen Wirkens in der Welt und in sich selbst, ein Stück näher. Um diesen Prozess zu unterstützen, geht Franck in detektivisch-kompilatorischer Manier historiografischer Arbeit nach, indem er sich unablässig durch den „wald außerleßner Higtorien“62 bewegt, hin und her fährt, viel liest, fragt und sie an mannigfaltigen Orten erbettelt,63 zusammenstoppelt und verkuppelt,64 „citiert vn¯ allegiert“,65 persönliche Zweifel niederringt,66 damit die „verborgnegten vnnd fingergten Higtorien“67 ans Licht befördert werden. Das Gelingen bleibt vom Leser abhängig, denn „Gottes Wort transzendiert jede Schrift, ja menschliche Rede überhaupt. Die Schrift verweist nur von ferne darauf. Erfahren kann es nur im Inneren jedes einzelnen werden.“68
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Zum (spiritualistisch-mystisch geprägten) Erfahrungsbegriff in der Frühen Neuzeit siehe auch: Kristine Hannak: Geist=reiche Critik. Hermetik, Mystik und das Werden der Aufklärung in spiritualistischer Literatur der Frühen Neuzeit. Berlin u. a. 2013 (Frühe Neuzeit. Studien und Dokumente zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext. 182.). „Der Erfahrungsbegriff gehört [...] zu den klassischen Topoi der Mystik [...]“ und berührt in diesem Rahmen vor allem „die Vorstellung des unmittelbaren Geistwirkens [...]“. S. 70 und 67. Zum Erfahrungsbegriff bei Sebastian Franck siehe Dellsperger (Anm. 12), S. 40ff. Chronica (Anm. 1), aiiij(r) (Vorrede). Ebd. aiiij(r) (Vorrede). Ebd. Ebd. bvj(v) (Vorrede). Ebd. av(v) (Vorrede). Vgl. ebd. aij(r) (Vorrede). Vgl. ebd. Chronica (Anm. 1), aij(r) (Vorrede). Vgl. ebd. aij(v) (Vorrede). Ebd. aij(r) (Vorrede). Vgl. Müller 1993 (Anm. 15), S. 23.
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1.2. Kompilation und Rechtfertigung Bereits in der allgemeinen Vorrede ist eine Rechtfertigungsargumentation zu beobachten, was zunächst nicht verwunderlich ist, dient doch die Vorrede klassischerweise als Ort, um sich selbst als Textproduzent, aber auch das Werk, gegen mögliche Kritiker, Feinde oder Neider zu verteidigen.69 Haben auch hierinn vngern gtilum vn¯ faden algo temperiert vn¯ gemeggiget / daß wir niemant hiemit nuo nahent getrabt geind. Begunð in diger keyger Chro. (yedoch der warheit hoff ich nicht vergeben) weil wir weder wið e oder für niemant gchreiben / gunder frembde that vnd red / auß frembden buch eren anneigen (Franck: Chronica 2 Chron. 15 a(j)(v)).
Der Chronist, so erklärt Franck, habe sich im Ton gemäßigt, um einen Affront zu vermeiden. Besonders betont wird die Tatsache, dass fremde Texte die Vorlage bilden und nicht eigene Ansichten zum Ausdruck gebracht werden. Dabei darf nicht vernachlässigt werden, dass Ankündigungen und Schilderungen von Sachverhalten in der Vorrede mit den tatsächlichen Ausführungen und Gegebenheiten im Werk nicht konkordant sein müssen.70 Dieses prinzipiell widersprüchliche Verhältnis zwischen Vorrede und Werk sollte bei Interpretationen stets im Gedächtnis behalten werden. Nicht alles, was der Autor proömial anzeigt, ist ,bare Münze‘ und umgesetzt worden. Lässt man den werbenden Effekt der Vorrede nicht außer Acht, schlägt Franck möglicherweise zwei Fliegen mit einer Klappe. Einerseits versucht er, potenziellen Kritikern zuvorzukommen und die in auktorialer Hinsicht vermeintlich bedachte Vorgehensweise hervorzuheben, andererseits lenkt er durch diese Anmerkung das Interesse auf exakt jene provokativen Textstellen, die als Lesemagnete wirken können. Um Kritik und Anfeindungen weiterhin vorzubeugen, weist Franck darauf hin, dass er weder Lob noch Kritik erhalten möchte, da die Chronik angeblich nicht seine eigene Schöpfung sei. „Jgt etwas guo ts / go beger ich keins lobs / igt ettwas nit algo guo tt / goll mir billich auch nichts darumb nuo gegacht werden / dann nichts mein igt.“71 Der Leser möge ihm sein Unvermögen an der ein oder anderen Stelle verzeihen, er habe gegeben, was in seiner Macht stehe. Dies entspricht weitestgehend klassischen Demuts- und Bescheidenheitsformeln im Rahmen einer captatio benevolentiae.
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71
Vgl. Ehrenzeller 1955 (Anm. 5), S. 36. Hinsichtlich der Werkfunktionen einer Vorrede konstatiert Ehrenzeller einen Komplex unterschiedlicher Rechtfertigungen, u. a. „die der Verteidigung des Werks gegen Feinde und Widerwärtigkeiten“. Vgl. Schwitzgebel 1996 (Anm. 5), S. 4. „Dabei wird sich herausstellen, daß gelegentlich deutliche Diskrepanzen zwischen den Ankündigungen der Vorrede – auch dort, wo sie sich sachlich-neutral gibt – und der Realisation bestehen. Diese Differenzen, die sowohl in Fehlinformationen als auch in ,Lücken‘ ihren Ausdruck finden, sind zu erklären und zu interpretieren. Es liegt nahe, eine Hauptursache darin zu sehen, daß die Verfasser in der Vorrede das Werk in einem möglichst günstigen Licht darstellen und im voraus bestimmte Kritik abwenden wollen.“ Chronica (Anm. 1), aij(r) (Vorrede).
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Franck wirkt in reformatorischen Städten, in denen sich eine lutherische Orthodoxie ausgebildet hat und damit eine restriktive Ordnungspolitik samt Zensurapparat am Wirken ist, die abweichlerische, öffentlichkeitswirksame Autoren in den Blick nimmt.72 Um Verfolgungsmaßnahmen zu entgehen, dürfen Autoren beispielsweise das Selbstverständnis und die Legitimation der Obrigkeiten als christlich-protestantische Autoritäten nicht in Frage stellen sowie keine überzogene Kritik am Kaiser üben. Doch das wird Franck vorgeworfen und er wird wegen Majestätsbeleidung angeklagt. Im Folgenden geht es um einen Abschnitt aus der sogenannten Adler-Vorrede, aufgrund dessen Franck nach Veröffentlichung seines Textes (1531) inhaftiert und anschließend der Stadt Straßburg verwiesen wird. Die das Kaiser-Jahrbuch73 einleitende Textpassage zeichnet sich durch eine allegorische Argumentationsstruktur74 aus, denn Franck setzt die natürlichen Eigenschaften des Adlers dem fürstlichen Verhalten gleich und schlussfolgert daraus die Eignung des Adlers als Wappentier von Herrschern. Er wird dabei „das allermeigt aus dem gprichwort o Eragmi / Scarabeus Aquila¯ querit / Der roßkefer gucht ein Adler / entnemen“.75 Bereits im ersten Abschnitt nimmt Franck drei Mal Bezug auf Erasmus von Rotterdam und erwähnt seinen Namen. Die Wiederholung kann die Funktion besitzen, die Aufmerksamkeit des Lesers auf Erasmus zu lenken und von sich selbst weg. In der zweiten Ausgabe (1536) erläutert Franck, warum die Geistlichen den Tatbestand eines „crimen lese maiestatis“76 erfüllt gesehen haben: Obwohl er aus verschiedenen Quellen nur die Herkunft und Bedeutung des Adlerwappens aufgeführt habe, hätten seine Kritiker in der Folge die Eigenschaften des Adlers mit denen des Kaisers gleichgesetzt. Durch diese vermeintliche Fehlinterpretation würden sie ihre eigenen Ansichten offenbaren und ihn (Franck) dafür verantwortlich machen. Wenn aber dem Kaiser-Jahrbuch, welches die gesamte kaiserliche Herrschaftsgeschichte dokumentieren soll, eine Rede vorangestellt wird, die gezielt Bilder einer blutrünstigen kaiserlichen Obrigkeit evoziert, liegt es nahe, dies als direkte Kritik an kaiserlicher Herrschaft zu verstehen. Dabei handelt es sich um kein besonders abwegiges assoziatives Ver72
73
74 75 76
Siehe weiterführend hierzu auch Jessica Bauer: Sebastian Franck und die lutherische Orthodoxie. In: Zensur vom 16. bis zum 18. Jahrhundert: Begriffe, Diskurse, Praktiken. Hrsg. von Florian Gassner und Nikola Roßbach. Bern 2020 (Jahrbuch für Internationale Germanistik 136), S. 109–136. Die Chronica ist in drei Hauptbücher unterteilt. Das erste Chronikbuch handelt von der alttestamentlichen biblischen Geschichte „Von Adam biß auff Chrigtum“ (b(j)(r)). Der zweite Teil trägt den Namen „Keyser Jarbuo ch“ und beinhaltet die römische Kaisergeschichte von Julius Cäsar bis Karl V. „in diß gegenwertig. M. ccccc. xxxj. jar“ (x(iiij)(r)). In der dritten Chronik erzählt Franck die Geschichte der Päpste, ihrer Konzilien und erlassenen Dekrete. Außerdem beinhaltet das letzte Buch die sogenannte Ketzerchronik. Vgl. Kühlmann 2016 (Anm. 2). Kühlmann nennt es im Einleitungsartikel „Staatsgefährdende Allegorese“. S. 3. Chronica (Anm. 1), x(v)r (Adler-Vorrede). o Sebastian Franck: Chronica, Zeitbuch vnnd Geschichtbibell. Ulm 1536. Aus dem Bestand der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek, Sign. 2 Hist.un.II,28a:1. Biiij(r).
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knüpfungsverfahren, wie Franck es in der Ergänzung der Adler-Vorrede (1536) darstellt. Der Versuch, sich hinter dem Urheber der Aussagen zu verstecken, scheitert, denn Francks Absichten zur Provokation sind kaum zu übersehen. In Verbindung mit dem Wahrheitspostulat, welchem die Chronik verschrieben ist, wiegt die Anmaßung vermutlich doppelt schwer. Dellsperger weist daraufhin, dass Franck sich hauptsächlich auf den ersten Teil des Adagienkommentars beziehe, in dem Erasmus natürliche Eigenschaften des Adlers mit tyrannischem Verhalten vergleicht und beweisen möchte, dass Herrscher ihr Wappen zu Recht führen.77 Dabei lasse Franck allerdings zahlreiche Passagen aus, die ein anderes Bild des Adlers zeichnen und sich nicht in die „Kritik eines fehlgeleiteten herrschaftlichen Selbstverständnisses“78 einfügen. So wird die gesamte Käferpassage79 aus dem Sprichwort-Katalog des Erasmus nicht übernommen und transformiert, weshalb die Quelle gesellschaftlich-sozialer Fehlentwicklungen einzig eine vermeintlich zutiefst verdorbene Herrschaftspolitik darzustellen scheint. In der Auslegung des Sprichworts geht Erasmus in Anlehnung an die Fabel Äsops (6. Jh. v. Chr.) den Ursachen des vermeintlich ewig währenden Kriegs zwischen Adlern und Käfern nach. Trotz anfänglicher Aggression eines Adlers weist Erasmus den Käfern durch Zuschreibungen von Charaktermerkmalen wie Rachsucht und Boshaftigkeit eindeutig die Schuld an der Gewalteskalation zu. Zwar fehlt „die explizite Deutung des Adlersignums auf Kaiser und Reich“,80 genauso wie die eindeutige Interpretation der Käfer als Repräsentanten des gemeinen Volks, doch liegen diese Deutungsangebote nahe. Das, was Franck nun tut, liegt im Aussprechen der von Erasmus nur suggerierten Auslegung. Durch die von Franck modifizierte Kompilationsmethode, die Müller ebenfalls in der Verschärfung der Adagium-Auslegung erkennen will,81 wird 77 78 79
80 81
Vgl. Dellsperger 2008 (Anm. 12), S. 73f. Kühlmann 2016 (Anm. 2), S. 19. Zum Inhalt der gesamten Auslegung des Sprichworts „Der Adler wird vom Käfer heimgesucht“ siehe Desiderius Erasmus von Rotterdam: Adagia Sprichwörter. Claude-Eric Descoedres. Lateinisch – Deutsch, Bd. 5, Nr. 2501–3400, Basel 2021, S. 1679–1703. Einmal bot der Käfer einem Hasen, der sich auf der Flucht vor dem Adler befand, Schutz in seiner Höhle und bittet seinen Verfolger um dessen Verschonung. Der Adler stößt ihn jedoch mitten im Gespräch vom Himmel und zerreißt den Hasen vor seinen Augen. Der Käfer schwört Rache, vernichtet die Eier des Adlers und nimmt diesem die Möglichkeit, Nachwuchs zu bekommen. Am Ende beschließen die Götter, ihren Kampf zwar ewig währen zu lassen, jedoch unter bestimmten Bedingungen, damit sich die Arten nicht gegenseitig ausrotten. Die erasmische Interpretation lautet wie folgt: „Die Fabel lehrt uns, niemand dürfe seinen Feind geringschätzen, selbst wenn er von niedrigstem Stand ist. Es gibt nämlich Menschenkinder von niedrigster Abstammung, die dennoch bösartig sind, nicht weniger finster, nicht weniger stinkend und nicht weniger gemein als die Käfer, und die dennoch mit hartnäckiger Bosheit [...] oft sogar wichtigen Männern Unannehmlichkeiten verursachen. Sie erschrecken mit ihrer finsteren Art, sie behelligen mit ihrem Geschrei, sie stören mit ihrem Gestank, sie flattern umher, hangen wie Kletten, stellen Fallen, so dass es bald besser ist, gelegentlich mit wichtigen Männern in Konflikt zu treten als diese Käfer zu reizen, die zu besiegen man sich schämt; man kann sie weder abschütteln noch mit ihnen streiten, ohne irgendwie entehrt davonzukommen.“ (S. 1702). Ebd. Vgl. Müller 1993 (Anm. 15), S. 19.
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die Legitimation der christlich-herrschaftlichen Gewalt in Frage gestellt. Eine Zuspitzung wird ebenso durch die reine Übersetzungsleistung erreicht, da die Adagien von Erasmus auf Latein abgefasst für ein gelehrtes und damit ausgewähltes Publikum gedacht waren. Durch die volkssprachig umgewandelte Version sind die herrschaftskritischen Passagen für ein Laienpublikum zugänglich, die, aus ihrem Kontext befreit, nach Auffassung der orthodoxen Reformatoren ein gefährliches, Aufruhr beförderndes Potenzial entfalten könnten. Damit wird die Chronica zu jenem „Ort, wo Geheimwissen zu öffentlichem Wissen wird [...]“,82 worin laut Kühlmann „das Unerhörte“83 liegt. Kompilation als Textproduktionsverfahren erfüllt für Franck also in zweierlei Hinsicht eine Schutzfunktion, aber entspricht ebenso einer Marketingstrategie: Zum einen konnte Franck hoffen, dass die Zensoren die kritischen Abschnitte in der Masse nicht finden oder überlesen würden, zum anderen konnte er im Falle der Entdeckung behaupten, nur fremde Gedanken zur Erläuterung heranzuziehen und nicht eigene Ansichten zum Ausdruck zu bringen. Hier fungiert Kompilation als Verteidigungsstrategie gegen potenzielle oder reale Zensur- und Verfolgungsmaßnahmen. Durch die rechtfertigende Verharmlosung der tatsächlich recht polemisierend und provokativ erfolgten literarischen Transformationen sowie der bloßen Erwähnung jener Textstellen lenkt Franck die Aufmerksamkeit der Leser und Zensoren auf die brisanten Passagen, was – einkalkuliert oder nicht – zu einer intensiveren Prüfung seines Falls, aber auch zur Popularität des Werks, beiträgt. Auch Kühlmann gibt zu bedenken, dass Franck sich im Klaren darüber gewesen sein muss, sich mit dieser Art der Ausdeutung auf dünnem Eis zu bewegen.84 1.3 Kompilation als subversive Strategie des Verbergens Wie in den vorangegangenen Ausführungen deutlich wurde, nutzt Franck das kompilatorische Textproduktionsverfahren nicht allein aus wahrheitsbefördernden, verteidigungstaktischen sowie werbetechnischen Gründen, sondern auch, um in der Masse der ,zusammengestoppelten‘85 Geschichte herrschaftskritische Überlegungen oder Gedanken zu gesellschaftspolitischen Spannungen zu verbergen.86 Abschließend wird nun der Facettenreichtum der Franck’schen Taktik des Verbergens anhand mehrerer Beispiele untersucht. Im folgenden Beispiel aus dem ersten Chronikbuch geht es um einen Auszug aus dem alttestamentlichen 82
83 84 85 86
Bernhard Jahn: Die Chronik als Umschlagplatz von Wissen. Zur Heterogenität des Wissens und seiner Ordnungen in sächsischen Chroniken des 16. Jahrhunderts. In: Wissensspeicher der Frühen Neuzeit. Formen und Funktionen. Hrsg. von Frank Grunert und Anette Syndikus. Berlin u. a. 2015, S. 3–20, hier S. 13. Kühlmann 2016 (Anm. 2), S. 5. Vgl. Kühlmann 2016 (wie Anm. 2), S. 11. Vgl. Chronica (Anm. 1), aij(r) (Vorrede). Vgl. Dellsperger 2008 (Anm. 12), S. 32.
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1. Buch der Könige, der Erzählung von Naboths Weinberg. König Ahab begehrt einen Weingarten, dessen Eigentümer Naboth ist. Ahabs Ehefrau Isebel setzt daraufhin eine Intrige über angebliche Gottes- und Königslästerungen Naboths in Gang, infolge derer er gesteinigt wird. Nach Naboths Ermordung nimmt der König dessen Weingarten in Besitz. Franck verknüpft die biblischen Geschehnisse und das Vorgehen Ahabs mit seiner Gegenwart und kontextualisiert dessen Verhalten mit dem zeitgenössischer Fürsten. Dies erfolgt in einem kleinen, sechszeiligen Textabschnitt, der ,entdeckt‘ werden muss. Die Entdeckung setzt ein aufmerksames, kritisches Lesen voraus. Algo thuo n die Fürgte¯ heüt nuo tag reiggen armer leüt Erbgue ter von den erb e gchafften / wollen den ergten kauff haben / oð nem ¯¯ ens gungt mit gwalt / wn jn ge gelege¯ igt / geben darfür was gy lußt / will ggchweigen / wn gy den armen gmein den abdringen / daru¯b moe gen gy Got hierin¯ fürchten / vn¯ ein exempel an digem e künig nemmen / dann Gott wirdts jn go wenig gchencken als digem / horet aber / e o wie ward diges mans blut vnd weingarten gebugget. (Franck: Chronica 2 Chron. 15 kiij(r))
Hier dient die kompilatorische Methode als subversive Strategie des Verbergens. Mitten in die Paraphrasierung biblischer Geschichtsteile baut Franck einen Verweis auf herrschaftliches Verhalten der Gegenwart ein und weitet das Narrativ der Gier, des Neides und der Gewalt bis ins zeitgenössische Geschehen aus. Jene negativ gefärbten Narrative ziehen sich damit anscheinend durch die gesamte (christliche) Menschheitsgeschichte und können von jeher charakteristisch für fürstliche Autoritäten stehen. Solch eine Kommentierung erwarten sowohl der Leser als auch der Zensor nicht inmitten einer verkürzten Fassung der biblischen Geschichte, weshalb sie möglicherweise leicht überblättert werden kann. Hier bezieht sich Franck nicht auf andere Autoren, er kann sich nicht hinter ihnen ,verstecken‘, weshalb er die obrigkeitskritischen Teile geschickt in der großen Masse verbirgt, damit sie den Zensoren bei einer Sichtung nicht auffallen und damit auch die tiefer liegende, sich durch die gesamte Chronik ziehende Aussage über den Zusammenhang von der (tyrannischen) Herrschaft Einzelner, ihrer machtmissbrauchenden Gewalt und dem daraus hervorgehenden Leid der Mehrund Minderheiten eines Volkes, zumindest beim unkritischen Lesen verborgen bleibt. Weiterhin nutzt Franck wirtschaftspolitische Erklärungen, zum Beispiel zum Ursprung der Zehntabgabe oder Ausführungen zum Finanz- und Wirtschaftsrecht, als narrative Folien zur Nachbereitung des Kapitels über die Bauernaufstände. So wird in den Kapiteln „Von den ^ehend?“87 und „Von der gwalt / hergchafft / rent / zinß / gült / noll / gteür / vnd vmbgelt“88 der Gehorsamsdiskurs aufbereitet. Franck macht deutlich, dass die Zehntabgabe laut Bibel nicht rech87 88
Chronica (Anm. 1), Siiij(v). Ebd. Sv(v).
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tens sei, im Gegenteil sogar einem „altem torechte¯ anfordern“89 entspringe. Die dazugehörige Marginalie bringt es auf den Punkt: „Aus vermügen ð gchrift igt man den geigtliche¯ im neüwen te gtame¯t keinen nehend gchuldig.“90 Die Abgabe habe sich über die Zeit hinweg als Tradition etabliert und sei zu einem Gesetz, gar zu einer gerechten Forderung ausgewachsen: „Daru¯b igt der nehend yetz ein o recht worden / den wir in alweg treülich vn¯ willigklich gchuldig geind zu ge91 ben / ob jn gleich die jn fordern mit keine¯ recht fordern [...].“ Ob die Zehntabgabe ,nur‘ Traditionsrecht sei, der die ursprüngliche Legitimation fehle, spiele o letztlich jedoch keine Rolle, denn das Wichtigste sei, dass „er weder mit auffrhur noch vnauffrhuo r goll abgethon werden [...], weil man aller mengchlichen ordnung o gol underthenig gehorgam gein [...].“92 Vermutlich meint „vnauffrhur“ in diesem 93 Kontext nicht nur, keinen Widerstand zu leisten, sondern das eigene menschliche Versagen anhand der Situation zu erkennen sowie keine gramvollen Gedanken zu hegen, die als passive innere Widerstände den Nährboden für einen Aufruhr bilden können. Es geht hier um die wahre Empfindung, die einen aufrichtigen Christen gerne geben lässt, nämlich am besten großzügig den „mantel num rock“.94 Franck betont unablässig das tyrannische, ungerechte und willkürliche Verhalten der Obrigkeit, doch ebenso die absolute Gehorsamspflicht der Untertanen, auch wenn solch ein Verhalten mitunter unnatürlich erscheint. Duldungsethik und Ungerechtigkeitsempfinden prallen aufeinander und ihre Kompossibilität ist denkbar schwierig. Mittels wirtschaftspolitischer Erklärungen wird verdeutlicht, dass die obrigkeitsstaatliche Willkür, mit der Steuern erhoben werden würden, als Triebfeder für aufrührerische Tendenzen gelten könne und das, obwohl vermeintliches Recht teilweise nur ,gewordenes‘ und auf unsicherem Grund entstanden sei. Jene Ausführungen können in Verschränkung einzelner Aussagen zu den Bauernaufständen in Salzburg und der Steiermark gelesen werden, in denen Franck die Verzahnung von Tyrannei und Aufruhr hervorhebt. [...] man gieng jae merlich mit den armen leüten umb / vnd ward auffruo r wie billich o mit tyranney benalt / wie widerumb tyranney mit auffrur gegtrafft / vnd benalt e o e muß werden / vnnd ye eins das ander auß prut / gepurt / vnnd auff ihm tregt / nemlich tyranney auffruo r / auffruo r tyranney. (Franck: Chronica 2 Chron. 15 Sij(r)f.) 89 90 91 92 93
94
Ebd. Sv(r). Ebd. Ebd. Ebd. Sv(v). Franck vertritt eine strenge Duldungs- und Leidensethik. Gewalttätige Widerstandsmaßnahmen sind nach Francks friedenspolitischen Auffassungen keine Option. Einzig das Nicht-Partizipieren als passives Widerstandsrecht sei angemessen, damit der innere Frieden mit Gott gesichert und das Gewissen unangetastet bleiben könne. Weiterführend hierzu auch Bruno Quast: Sebastian Francks „Kriegbüchlin des Frides“. Studien zum radikalreformatorischen Spiritualismus. Tübingen u. a. 1993 (Bibliotheca Germanica 31), S. 103ff. Chronica (Anm. 1), Sv(v).
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So lassen sich all diese verborgenen Beiträge als Subtexte lesen, die in enger Verbindung zueinander stehen. Damit heben sich die Ansichten Francks zu den Bauernaufständen deutlich von Luthers „höchst zweckrationaler Loyalität gegenüber dem Landesfürstentum“95 und seinen menschenverachtenden Äußerungen über die Bauern ab.96 Der Chronist hebt deutlich hervor, dass sich das Land noch nicht von den Bauernkriegen erholt und man noch lange mit dem Bewältigen der Ereignisse zu tun habe. Durch die wiederholte Betonung, dass das geltende Herrschaftssystem und seine Vertreter nicht unschuldig am Missmut der Bauern und der Eskalation der Ereignisse waren, befreit er jene von einem Teil der Schuld.
2. Fazit Kompilation als Textproduktionsverfahren folgt vor allem im Bereich der Historiografie einer langen Tradition. Aus Vorgängen des Sammelns, Selektierens und Kombinierens kann unabhängig vom Selbstverständnis des Kompilators ein neues literarisches Produkt hervorgehen. Die Auswahl und Präsentationsform des aus vielfältigen Quellen geschöpften literarischen Stoffes nutzt Franck, um in synoptischer Darstellung Zweifel an der Existenz einer vermeintlich wahren Geschichtsversion zu äußern und offenkundige Falschmeldungen zu enthüllen. Durch das Verfahren möchte Franck zeigen, dass Wahrheit individuell erfahrbar sei und, was aus dieser Tatsache resultiert, jede vermeintliche Wahrheit einer subjektiven Färbung unterliege. An der Chronica lässt sich demonstrieren, wie Franck die Kompilationsmethode nutzt, nämlich indem er Vorlagentexte als Folien für die eigene Argumentationsstruktur verwendet, die sich durch Zuspitzungen o. ä. drastisch von den Quellen abhebt. Dabei fungiert die Anwendung der Methode zugleich gegen falsche Anfeindungen, da sich der Autor verteidigen kann, indem er behauptet, der Text enthalte nicht eigene Ideen, sondern gebe lediglich Auffassungen der Urheber wieder. Schließlich lassen sich in der Fülle der durch Kompilation produzierten literarischen Versatzstücke kritische Kommentare verbergen oder heikle Konflikte bewältigen und verarbeiten. Die Chronica bezeugt die literarische Virtuosität ihres Verfassers, dem mehr als einmal vorgeworfen wurde, aufgrund seiner kompilatorischen Arbeitsweise unoriginell und wenig kreativ zu sein.97 Doch gerade sie ist es, die den Autor zu Einfalls95 96
97
Thomas Kaufmann: Geschichte der Reformation in Deutschland. Berlin 2016, S. 501. Vgl. Thomas Kaufmann: Martin Luther. 4., überarb. Aufl. München 2016, S. 93. In Bezug auf Luthers Bauernkriegspublizistik konstatiert Kaufmann einen moralischen und theologischen Tiefpunkt seines Wirkens. So zum Beispiel Arnold E. Berger: Deutsche Kunstprosa der Lutherzeit. Darmstadt 1968 (Deutsche Literatur, Reihe Reformation 7), S. 106. „Franck war keine schöpferische [...], sondern eine im Aneignen und Empfangen lebende Natur [...].“ Zu den zahlreichen Widersprüchen hinsichtlich des Franck-Bildes in der Forschung seit dem späten 19. Jahrhundert siehe weiterführend und einen guten Überblick liefernd Peter Klaus Knauer: Der Buchstabe lebt. Schreibstrategien bei Sebastian Franck. Bern 1993, S. 18ff.
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reichtum im Umgang mit den historischen Quellen und ihrer Darbietung anspornt.
3. Anhang zur editorischen Aufbereitung des Materials Im Rahmen meines Promotionsprojektes werde ich den Erstdruck der Chronica, o Zey¨tbuch und geschy¨chtbibel (1531) als Leseausgabe editorisch aufbereiten. Laut der Franck-Bibliografie von Kaczerowsky sind für das 16. Jahrhundert siebzehn deutsche und weitere sieben niederländische Ausgaben des Textes, sowie einige Teildrucke einzelner Kapitel verzeichnet. Kaczerowsky weist darauf hin, dass es sich bei der Mehrzahl der veröffentlichten Drucke von Franck bis 1542 um „,Originaldrucke‘“98 gehandelt habe, „an deren Herstellung Franck persönlich und in engem Kontakt mit dem jeweiligen Drucker beteiligt war.“99 Zu Lebzeiten des Autors erscheint die Chronica in zehn verschiedenen Druckvarianten, fünf im Ersterscheinungsjahr 1531 und weitere fünf im Jahr 1536. Abgesehen von der uneinheitlichen Orthografie unterscheiden sich die Drucke aus beiden Jahren vor allem hinsichtlich verschiedener Textergänzungen und -abänderungen durch den Autor. Dem vorliegenden Aufsatz liegt die von Kaczerowsky mit A38 bezifferte und als Erster Druck benannte Variante, die als Digitalisat über das VD16 mit der Signatur 2 Chron. 15 abrufbar ist, zugrunde. Jene bildet auch die Vorlage zur Konstitution eines zuverlässigen Lesetextes. Die Anfertigung einer Leseausgabe kann nicht nur einem interdisziplinären Fachpublikum, sondern auch Studierenden sowie Nachwuchswissenschaftler:innen den Zugang zu einem auf den ersten Blick aufgrund seines Umfangs und frühneuhochdeutschen Druckbildes durchaus abschreckend erscheinenden Text erleichtern. Durch eine organisierte Konzeption des Lesetextes wird die Benutzerfreundlichkeit erhöht und können sich Rezipient:innen leichter und schneller durch den Text bewegen. Auch die Markierung und das Wiederfinden von Textstellen wird durch Seiten- und Zeilenangaben begünstigt. Das Erkennen von Erzählstrukturen und -kernen kann gefördert und ein Gesamtüberblick müheloser erlangt werden. Außerdem können Ordnungskategorien der Chronica durch eine editorische Aufarbeitung gekennzeichnet werden. Weiterhin simplifiziert der Lesetext das Zitieren: Zum Beispiel e erscheint der Umlaut u im Druck in zahlreichen Fällen als halb geschlossener Kreis (kringelähnlich), der im Lesetext zu ue normalisiert wird. Der Lesetext folgt der historischen Schreibweise und Zeichensetzung,100 einzig Frakturschriftzei98
Klaus Kaczerowsky: Sebastian Franck. Bibliographie. Verzeichnisse von Francks Werken, der von ihm gedruckten Bücher sowie der Sekundär-Literatur. Mit einem Anhang: Nachweise von Francks Briefwechsel und der Archivalien zu seinem Leben. Wiesbaden 1976, S. 11. 99 Ebd. 100 Hierzu auch Gunter Martens, der diesbezüglich von einem „rigorosen Standpunkt“ spricht, den ich im Übrigen ebenfalls vertrete. Durch die Auflösung historischer Schriftzeichen einen Text zu
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chen wie das runde r oder das Schaft-g sind zugunsten der Lesefreundlichkeit davon ausgenommen. Bezüglich der Zitate in diesem Aufsatz habe ich mich für die Beibehaltung der Fraktur entschieden, da der Text bzw. das eingescannte Dokument, aus dem zitiert wird, so und nicht anders vorliegt. Obgleich bei der Transkription Fehler entstanden sein können, soll der Lesetext „belastbares Material“101 darstellen und zitierfähig sein. Durch die editorische Aufarbeitung des Materials wird ein zuverlässiger, historisch authentischer Lesetext entstehen, der ein bedeutungsvolles Zeugnis des Geschichtsdenkens im 16. Jahrhundert darstellt.
produzieren, der in dieser Form nie existiert hat, scheint weitaus drastischer. Gunter Martens: Der wohlfeile Goethe. Überlegungen zur textphilologischen Grundlegung von Leseausgaben. In: Edition als Wissenschaft: Festschrift für Hans Zeller. Hrsg. von Gunter Martens und Winfried Woesler. Tübingen 1991 (Beihefte zu editio 2), S. 90. 101 Walter Delabar: Lob der Leseausgabe. Online-Ausgabe von literaturkritik.de, Nr. 1 Januar 2015. https://literaturkritik.de/id/20110 (Stand: 18.01.2022).
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Futuristische Texte und Bilder im Sturm – und ihre digitale Repräsentation heute
Das Spiel mit den Erwartungen des Betrachters gehört zur Kunst der Moderne unbedingt dazu. Für die historische Avantgarde gilt das in besonderem Maß, weil der Bruch mit den gewohnten Wahrnehmungsmustern über die Einführung neuer ästhetischer Darstellungsformen hinausging. Indem die historische Avantgarde die Überführung der Kunst in die Lebenspraxis und das Gesamtkunstwerk als Ideal propagierte,1 brachten ihre Transgressionsbestrebungen die notwendigen Bedingungen hervor, unter denen sich Wechselwirkungen zwischen Medien als konstitutives Element der modernen Kunst herausbildeten.2 Dabei kam es auch bei den italienischen Futuristen zu Überlappungen in den Grenzbereichen gattungsspezifischer Ordnungssysteme, die ein Interaktionsprozess aus Sehen und Lesen charakterisiert und für die sich die Größe ,Text‘ als abgeschlossene semiotische Sinneinheit nicht mehr länger ohne Weiteres aufrechthalten lässt. Für die heutige Edition avantgardistischer Werke bedeuten diese medialen und gattungstechnischen Grenzüberschreitungen die Herausforderung, die intertextuellen und intermedialen Beziehungen, die Reflexion und den zunehmenden Verweis auf sich selbst als Medien adäquat abzubilden.
1. Text und Bild im Kontext der futuristischen Programmatik Mit unter den Ersten hoben die italienischen Futuristen den fixen Standpunkt des Betrachters aus den Angeln. Sie übernahmen den Bruch mit der Zentralperspektive zugunsten der Multiperspektive zwar von den Kubisten, ihr Augenmerk lag hierbei aber auf einer Repräsentation des Gegenstands, die am zeitlichen Wahrnehmungsprozess ansetzt. Denn unter dem Einfluss von Henri Bergsons philosophischen Schriften ging der Futurismus davon aus, dass unsere Wahrnehmung durch ihre Dauer, „la pure dure´e“3 erst einmal Empfindungen zurückgibt, bevor 1 2
3
Vgl. Peter Bürger: Theorien der Avantgarde. Frankfurt a. M. 1974, S. 72. Vgl. Aleksandar Flaker: Die russische Moderne und die Avantgarde. Thesen zu Fragen der Intermedialität. In: Europäische Avantgarde. Hrsg. von Peter V. Zima / Johann Strutz. Bern u. a. 1987, S. 61–70, hier S. 61f. Henri Bergson: Essai sur les donne´es imme´diates de la conscience (1889). In: Ders.: Œuvres. Hrsg. von Andre´ Robinet. Paris 1959, S. 151. Aus Bergsons Essay zitiert Fritz Hoeber in seiner im Sturm erschienenen Abhandlung Das Erlebnis der Zeit und der Willensfreiheit. Die intuitive Philosophie von Henri Bergson: „Agir librement, c’est reprendre possession de soi, c’est se replacer dans la pure dure´e.“ In: Der Sturm 9, 1918, Heft 9, S. 120ff., hier S. 122.
https://doi.org/10.1515/9783111006147–013
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Anne Lorenz
wir diese zu einer einheitlichen synchronen Anschauung eines Objekts zusammensetzen. In ihrem Technischen Manifest der futuristischen Malerei rufen Umberto Boccioni und Kollegen 1910 die dynamische Empfindung als notwendige Bedingung für die Wahrnehmung von Geschwindigkeit und Bewegungsantrieb aus, die dem bildnerisch dargestellten Gegenstand innewohnen: Durch das Beharren des Bildes auf der Netzhaut vervielfältigen sich die in Bewegung befindlichen Dinge, ändern ihre Form und folgen aufeinander wie Schwingungen im Raum. So hat ein galoppierendes Pferd nicht vier, sondern zwanzig Beine, und ihre Bewegungen sind dreieckig.4
Durch Verfahren der Simultaneität und der Montage versuchten die Futuristen, die Verdichtung der dynamischen Energie sowie das Tempo der modernen Lebenswelt im synchronen Kunstgebilde darzustellen. Bekannte Beispiele für die künstlerisch abgebildete Beschleunigung des neuen technisch aufgeladenen urbanen Lebensgefühls sind Boccionis La citta` che sale von 1910, Carlo Carra`s Il Funerale dell’anarchico Galli (1911, Abb. 1) und Gino Severinis Tanzbilder wie La Danza del Pan-Pan al Monico (1911). Sie fallen durch ihre explosive Farbgebung und die facettierten Formen auf. Von der drängenden Suche nach technisch-stilistischen Darstellungsmitteln, die Rhythmus und Bewegung in eine neue Formensprache übersetzen, zeugen auch Giacomo Ballas Werke. Seine Gemälde Dinamismo di un cane al guinzaglio (1912) und Velocita` d’Automobile + Luce + Rumore (1913) sind chronofotografischen Momentaufnahmen nachempfunden, die übereinander geblendet die Bewegungslinien des Gegenstandes multiplizieren und dadurch den Eindruck von Dynamik erzeugen.5 Unter dem Gesichtspunkt, dass die Verquickung der Medien und ihre Selbstbezüglichkeit charakteristisch für die Avantgarde wie den Futurismus sind, kommt denjenigen ihrer Gemälde besondere Aufmerksamkeit zu, die die Bildsprache collageartig um verbalsprachliche Zeichen erweitern. Die von den Kubisten übernommene Technik findet sich – wenn auch nicht sehr verbreitet – auch bei den Futuristen: Exemplarisch zeigt das Severinis Tanzbild Geroglifico dinamico di Bal Tabarin, auf dem sich in der zerklüfteten Menge aus Armen und Beinen Wörter wie „VALSE“ und „POLKA“ ausmachen lassen (Abb. 2).
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Umberto Boccioni u. a.: Die futuristische Malerei. Technisches Manifest [1910]. In: Geschichte, Ästhetik, Dokumente. Hrsg. von Hansgeorg Schmidt-Bergmann. Reinbek 1993, S. 307–310, hier S. 307. Vgl. Silvia Abbel: Der Fotodynamismo des italienischen Futurismus und sein Verhältnis zur Malerei: Bragaglia, Boccioni, Balla. In: Gesichtsdetektionen in den Medien des zwanzigsten Jahrhunderts. Hrsg. von Wolfgang Beilenhoff u. a. Siegen 2006, S. 107–133.
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Abb. 1: Carlo Carra`: Il Funerale dell’anarchico Galli (1911) 2022 Carlo Carra` / Artists Rights Society (ARS), New York/ SIAE, Rome.
Diese Bezeichnungen für besonders temporeiche wirbelnde Tänze sind in Versalien geschrieben sowie typografisch und farblich unterschiedlich gestaltet. Nach eigener Aussage beabsichtigte Severini damit, bestimmte akustische Assoziationen in die Malerei einzubeziehen und ihr so die Musik an die Seite zu stellen.6 Die Art der grafischen Einbindung macht deutlich, dass es Severini bei dieser intermedialen Integration tatsächlich mehr um eine zusätzliche spezifischere Darstellungsfunktion ging als um das metasprachliche Herausstellen der Schrift als ein weiteres Medium. Damit tritt für den Betrachter das Prinzip der Collage zurück hinter den intendierten dynamischen Eindruck, der sich aus den einzelnen bild- und verbalsprachlichen Elementen zusammensetzt. Bildthematisch lehnen sich die futuristischen Werke mehr oder weniger an die Thesen an, die der Literat Filippo Tommaso Marinetti in seinem Futuristischen Manifest im Namen eines angenommenen „Wir“ aus progressiven Künstlerkollegen bereits Ende 1908 formuliert hatte. Das Gründungsmanifest erschien am 20. Februar 1909 im französischen Figaro, und obwohl es zu einer Ästhetik der 6
Herta Wescher: Die Collage. Geschichte eines künstlerischen Ausdrucksmittels. Köln 1968, S. 56.
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Abb. 2: Gino Severini: Geroglificio dinamico di Bal Tabarin (1912) 2022 Gino Severini / Artists Rights Society (ARS), New York / ADAGP, Paris.
Geschwindigkeit, zu Aggression, Kriegsverherrlichung und Zukunftsorientierung als neue kulturelle Haltung aufruft, geht es gattungstechnisch ausschließlich von literarischen Werken „unserer Dichtung“ aus.7 Wie eine solche künstlerische Umsetzung aussehen sollte, hatte Marinetti bereits zuvor mit seinem im Sommer 1905 veröffentlichten programmatischen Gedicht All’automobile da corsa de7
Vgl. Filippo Tommaso Marinetti: Manifeste du Futurisme. In: Le Figaro, 20. Februar 1909, S. 1. Zit. n. der dt. „autorisierten Übersetzung von Jean-Jacques“. In: F. T. Marinetti: Manifest des Futurismus. In: Der Sturm 2, 1912, Heft 104, S. 828f. Schmidt-Bergmann enttarnt den Namen des Übersetzers als Pseudonym für Hans Jacob. Vgl. Hansgeorg Schmidt-Bergmann: Die Anfänge der literarischen Avantgarde in Deutschland. Stuttgart 1991, S. 109. Er verweist zudem auf die beträchtlichen Abweichungen der zuerst in der Zeitschrift Poesia veröffentlichten italienischen Fassung von Marinettis Manifest. Vgl. ebd., S. 50ff.
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monstriert.8 Von diesem eigentlichen medialen Ausgangspunkt, dem literarischen Text, erarbeiteten sich die Futuristen systematisch die anderen Kunstgattungen – von der Malerei über die Bildhauerkunst hin zur Musik und zur Architektur. Je nach den gattungsspezifischen Darstellungsmöglichkeiten adaptierten sie die futuristische Programmatik, überführten diese in unterschiedliche semiotische Systeme und gaben konkrete Erklärungen zu ihren neuen Strukturgesetzen sowie ihren Eingriffen in den künstlerischen Gestaltungsprozess. Manche davon, wie etwa Marinettis Forderung, die Syntax in literarischen Texten zu zerstören und Interpunktion gänzlich abzuschaffen, stieß selbst bei avantgardistischen Zeitgenossen, wie Alfred Döblin, auf Ablehnung.9 Andere der syntaktischen Strukturregeln aus dem Anforderungskatalog, die Marinetti zwei Jahre nach dem Gründungsmanifest im Technischen Manifest der futuristischen Literatur festhielt, fanden auch Anwendung in expressionistischen Texten. Es verwundert daher nicht, dass von allen Künsten weniger die Literatur als vielmehr die Bildende Kunst mit der futuristischen Strömung identifiziert wird, eignete sie sich doch am ehesten, simultane Ansichten eines Objekts darzustellen und so das dynamische Prinzip umzusetzen. Neben dieser führenden Stellung der Bildenden Kunst unter den anderen Kunstgattungen nimmt das Manifest gegenüber den anderen futuristischen Textsorten eine Art vermittelnde Sonderrolle ein: Im Kontext der avantgardistischen Theorie enthält es neben seiner politisch-rhetorischen Funktion künstlerisch-literarische Textqualitäten. Dennoch hält es seine explizite Appellfunktion aufrecht, um als pragmatische Handlungsanweisung die gattungsübergreifende Rezeption der futuristischen Werke zu lenken. Als wesentliches Unterscheidungskriterium vom ,rein‘ literarischen Text lässt sich indessen die von Stefan Rieger beschriebene anders gelagerte zeitliche Perspektive anführen: Mit seiner auf die Zukunft abonnierten Forderung nach der Umsetzung von welchen Zielen auch immer entzieht sich das Manifest einem Grundzug von Narration – der Schilderung von Ereignissen, die in der Regel abgeschlossen in der Vergangenheit liegen oder die in einer denkbaren Zukunft geschehen sein werden. Es entwirft seine möglichen Welten, indem es die gegebene bearbeitet und dazu einer kaum kalkulierbaren Zeitlichkeit aussetzt.10
Um ihrem eigenen Anspruch, die Kunst ins Leben zu überführen, gerecht zu werden, demontierten die Futuristen die typische Struktur des Manifests und fügten narrative Passagen in Form von Zukunftsvisionen ein, die sie als bereits 8 9
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Vgl. Filippo Tommaso Marinetti: All’automobile. In: Poesia I, 1905, Heft 7, S. 11. Vgl. Alfred Döblin: Futuristische Worttechnik. Offener Brief an F. T. Marinetti. Dazu insb. Sabina Becker: Zwischen Frühexpressionismus, Berliner Futurismus, „Döblinismus“ und „neuem Naturalismus“. Alfred Döblin und die expressionistische Bewegung. In: Expressionistische Prosa. Hrsg. von Walter Fähnders. Bielefeld 2001, S. 21–44. Stefan Rieger: Manifest. Zur Logik einer Erzählform. In: Nach Feierabend. Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte 10, 2014, S. 133–152, hier S. 136.
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realisiert darstellten. So kennzeichnet den Futurismus wie auch die anderen avantgardistischen Kunstbewegungen eine publikumswirksame öffentliche Verbreitung seiner Programmatik – ein Manifestantismus, der sich nicht mehr länger zu einer außerkünstlerischen Realität bekennen wollte. Entsprechend der allgemeinen avantgardistischen Utopie, die Grenze zwischen Kunst und Leben aufzuheben, verweist die Form des Manifests daher gerade auf eine Demarkationslinie, die es nicht anerkennt. In diesem Zusammenhang deutet sich in der Charakterisierung bei Wolfgang Asholt und Walter Fähnders eine Ambivalenz des Manifests hinsichtlich seiner kommunikativen Funktion an: Zwar stellen gerade die Manifeste die Grenze zwischen Kunst und Leben, zwischen autoreferentiellem und performativem Charakter von Texten in Frage, doch sie versuchen dies, ohne auf den Kunstanspruch ganz (oder auch nur teilweise) zu verzichten.11
Trotz der noch erkennbaren konventionellen Form und Sprache der futuristischen Postulate verweisen Asholt und Fähnders im Gesamttext auf Abweichungen vom typischen Genre des Manifestes, die damit ebenfalls eine bewusste Abkehr von der tradierten Form darstellen.12 Gleichzeitig liegt es nahe, dass der performative Charakter der Absichtserklärung dort ergänzend ansetzt, wo das Bild als semiotisches System nur einen beschränkten semantischen Spielraum zulässt. Denn durch die Schwierigkeit, einzelne Elemente im Bild zu isolieren und in ihrer Bedeutung zu unterscheiden, können durch das Bild kaum logischsyllogistische Strukturen, Negation und Modalität ausgedrückt werden.13 Wie Severinis Worteinstreuungen im Bal Tabarin außerdem verdeutlichen, gilt noch auf werkimmanenter Ebene und selbst für eine typografisch verfremdete Darstellung, dass verbalsprachliche Zeichen in der zeitlichen Dimension – hier in Bezug auf den Tanzrhythmus – ein ganz anderes, spezifischeres Assoziationsfeld eröffnen können. Im Gegenzug hierzu bietet das Bild gerade dadurch, dass es semantisch unterdeterminiert ist und jeder Formaspekt bedeutungstragend sein kann – Stöckl spricht von „Bedeutungsüberschuss“14 –, ein hohes Bedeutungspotenzial; es entfaltet sich individuell je nach sozialem Kontext und Hintergrundwissen des Betrachters. Anders als beim Schrifttext funktioniere hier nach Schmitz der Rezeptionsprozess genau umgekehrt: „vom ersten Gesamteindruck einer ganzen Gestalt zu den Teilen hin“.15 Denkt man an die futuristische Vision des galoppie11
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Wolfgang Asholt / Walter Fähnders: Einleitung. In: Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde (1909–1938). Hrsg. von dens. 2. Auflage. Stuttgart / Weimar 2005, S. 15–30, hier S. 17. Ebd. Vgl. Hartmut Stöckl: Sprache-Bild-Texte lesen. Bausteine zur Methodik einer Grundkompetenz. In: Bildlinguistik. Theorien – Methoden – Fallbeispiele. Hrsg. von Hajo Diekmannshenke / Michael Klemm / Hartmut Stöckl. Berlin 2011, S. 45–70, hier S. 49f. Ebd., S. 50.
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renden Pferdes mit zwanzig Beinen, dann entspricht dieser Top-down-Prozess der Wirkrichtung der von den Futuristen beschriebenen Dynamisierungsprozesse – ohne auf deren utopisches Bestreben abzuzielen, die menschliche Wirklichkeit technologisch neu zu transformieren. Während das futuristische Gemälde so die Zeitdimension der menschlichen Wahrnehmung inszeniert, läuft allerdings die Enkodierung auch eines futuristischen Textes den intendierten dynamistischen Bewegungsstrukturen zuwider. Marinettis Bemühungen, die Wörter aus den starren Vorgaben der konventionellen Syntax, dem „Gefängnis der lateinischen Periode zu befreien“16 und die futuristische Poetik damit als ebenbürtiges Ausdrucksmittel zur futuristischen Malerei in Anschlag zu bringen, scheiterten letztlich. Hansgeorg Schmidt-Bergmann kommt in seinem Vergleich mit den anderen avantgardistischen Strömungen zu dem Schluss, dass sich die futuristischen Texte in der Syntax und auf lexikalisch-grammatischer Ebene kaum von denen des Expressionismus abheben.17 Demnach bleibt als allgemeine Feststellung, dass die Komplexität einer ästhetisch abstrahierten Bewegung der Materie in Zeit und Raum in der praktischen Umsetzung notgedrungen hinter der konkreten ausformulierten futuristischen Theorie zurückbleibt. Die dynamische Empfindung erschöpft sich im Prinzip darin, den Kraftlinien der dargestellten Gegenstände zu folgen, weil die Projektionen des Betrachters in dessen soziokulturell bedingtem Wissens- und Erfahrungshorizont verhaftet bleiben, wonach er die vierdimensionale Wahrnehmung als Illusion begreift. Im Vergleich dazu bieten die programmatischen Texte wie die Manifeste zur futuristischen Malerei und zur Literatur durch ihre ausgeprägte rhetorische Funktion externe Anschlussstellen und Orientierungshilfen für die Bildrezeption. Denn insofern die Kunst noch nicht komplett in der Lebenspraxis aufgegangen ist, beansprucht das Manifest der Avantgarde gezwungenermaßen eine Radikalität für sich, wie sie nur im herkömmlichen Bezugsfeld der bestehenden Lebenspraxis wirksam ist. Und obwohl Asholts und Fähnders auf die unzuverlässige Metaebene des künstlerisch-stilisierten Manifests verweisen,18 entspricht das darin doch aufrechtgehaltene System von Sender und Empfänger dem Textmuster seiner politischen Vorgänger. Diese intertextuellen Bezüge legen nahe, den vorherrschenden ästhetischen Diskurs mit dem der Avantgardisten zu vergleichen, um die futuristischen Texte sowohl sprachlich-systematisch als auch handlungstheoretisch einordnen zu können. Gleichzeitig geht es darum, innerhalb der Avantgarde, speziell des Futurismus, prototypische Textsorten zu identifizieren. Eine solche Typologie von Text15
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Ulrich Schmitz: Sehflächenforschung. In: Bildlinguistik. Theorien – Methoden – Fallbeispiele. Hrsg. von Hajo Diekmannshenke / Michael Klemm / Hartmut Stöckl. Berlin 2011, S. 23–42, hier S. 40. Filippo Tommaso Marinetti: Die futuristische Literatur. Technisches Manifest [1912]. In: Der Sturm 3, 1912/13, Heft 133, S. 194f., hier S. 194. Vgl. Schmidt-Bergmann 1991 (Anm. 7), S. 99f. Vgl. Asholt / Fähnders 2005 (Anm. 11), S. 17.
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sorten ließe eventuell Rückschlüsse auf bestimmte Kontextualisierungen in ihrer Veröffentlichungshistorie zu, etwa durch spezifische Rahmengrenzen zwischen den Medien. Insbesondere im Hinblick auf ihre digitale Repräsentation sollen im Folgenden deshalb die heute überlieferten Texte innerhalb ihres zeitgenössischen Publikationskontextes betrachtet werden.
Abb. 3: Bildtitel und -erläuterung in zweifacher Übersetzung von Carlo Carra`: Il Funerale dell’anarchico Galli (1911). In: Katalog der 28. Sturm-Ausstellung. Die Futuristen. (9. Tsd. der Ausgabe der Wanderausstellung 1912). Berlin: Der Sturm, 1914, S. 7. Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz.
2. Die zeitgenössische Präsentation futuristischer Werke im Sturm Für das Verhältnis von futuristischem Gemälde, Gedicht und Manifest ist jedenfalls unbestritten, dass sie wechselseitig aufeinander verweisen und bereits in zeitgenössischen Publikationen je nach Intention unterschiedlich angeordnet, paratextuell gerahmt und kuratiert wurden. So war die maßgebliche Plattform der italienischen Futuristen im Ausland der von Herwarth Walden gegründete Berliner Kunstbetrieb Der Sturm. Er bestand zunächst aus der 1910 gegründeten Sturm-Zeitschrift, 1912 folgte die Eröffnung der gleichnamigen Kunstgalerie, später die Gründung von Sturm-Bühne, Sturm-Verlag und der Sturm-Kunstschule. Mit seinen vielfältigen Publikations- und Distributionsmöglichkeiten bot der Sturm den unterschiedlichen Kunstrichtungen und Gattungen ein geeignetes Forum, weil Walden die verschiedenen medialen Kanäle geschickt miteinander
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Abb. 4: Carlo Carra`: Il Funerale dell’anarchico Galli (1911). Abb. in: Katalog der 28. Sturm-Ausstellung. Die Futuristen. (9. Tsd. der Ausgabe der Wanderausstellung 1912). Berlin: Der Sturm, 1914, S. 9. Zentralarchiv der Staatlichen Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz.
verzahnte und dadurch auf produktions- und rezeptionsästhetischer Seite strukturell dem avantgardistischen Paradigma des Gesamtkunstwerks nachkam. Dass Walden die Rezeption dirigierte, indem er Werke für die Präsentation in bestimmter Weise anordnete, kommentierte und in unterschiedlichen Rahmungen wiederholt präsentierte, zeigt der prominente Streit der Futuristen mit den Orphisten Apollinaire und Delaunay.19 Der Kampf um die Frage, wer das Konzept der Simultaneität für sich reklamieren durfte, wurde hauptsächlich im Sturm ausgetragen – in theoretischen Schriften, Kommentaren, Offenen und Privatbriefen, aber auch in der subtilen Gewichtung der Werke in gemeinsamen Ausstellungen wie dem Herbstsalon und in den entsprechenden Katalogen.
19
Vgl. die detaillierte Rekonstruktion dieser Auseinandersetzung in Michael F. Zimmermann: Der Streit zwischen Orphismus und Futurismus im ,Sturm‘. Zur Interpretation der Selbstäußerungen von Künstlern. In: Delaunay und Deutschland [Katalog zur Ausstellung der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen / Staatsgalerie Moderner Kunst im Haus der Kunst, München vom 4. Oktober 1985–6. Januar 1986]. Hrsg. von Peter-Klaus Schuster. Köln 1985, S. 318–325.
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Die Forschung hat indessen detailliert dargelegt, dass Walden für seine eigene, alle Avantgardebewegungen einende Kunsttheorie den rhetorischen Impetus der Futuristen für die Etablierung des Sturm in der internationalen Kunstszene zu nutzen wusste. Entsprechend beginnt die Veröffentlichungshistorie der futuristischen Werke im Sturm mit dem Abdruck zweier überarbeiteter Manifeste in deutscher Übersetzung im März 1912; sie erscheinen in der 103. und 104. Zeitschriften-Nummer,20 die jeweils mit der Ankündigung der den Futuristen gewidmeten 2. Sturm-Ausstellung enden. Während die Gemälde bis Mitte Mai 1912 in der erst zwei Monate zuvor eröffneten Sturm-Galerie gezeigt wurden, ließ der Katalog keinen Zweifel an ihrer kunstästhetischen wie wirklichkeitszertrümmernden Sprengkraft: Dem Werkverzeichnis ist nicht nur das bereits im Sturm erschienene Futuristische Manifest Marinettis vorangestellt, sondern auch eine öffentliche Erklärung der Aussteller, welche die apodiktischen Aussagen des Manifests und die methodische Umsetzung genauer erläutert.21 Als ein weiteres Zugeständnis an die ungewohnte Rezeption können die ausführlichen Bildbeschreibungen zu den nicht selbsterklärenden Ausstellungsstücken im Katalog gewertet werden (Abb. 3–4). Parallel bespielte Walden auch die anderen medialen Kanäle – Irene Chytraeus-Auerbach spricht von einer „regelrechten Werbekampagne“,22 die vor allem durch die Nachhilfe des Oberpropagandisten Marinetti ins Rollen kam: Die von seinen Mitstreitern unterzeichnete Eröffnung Die Aussteller an das Publikum erschien ebenfalls in der Sturm-Zeitschrift;23 auf die Manifeste folgten die Veröffentlichung von Reproduktionen von verschiedenen Gemälden Boccionis, Marinettis Gedicht A l’Automobile,24 eine kunsttheoretische Einordnung der futuristischen Malerei durch Döblin,25 sein Offener Brief, in dem er sich von der futuristischen Literatur distanziert, sowie ein Literaturhinweis von Rudolf Kurtz auf die Publikation ausgewählter Gedichte Marinettis.26 Außerdem lernte Walden durch Marinetti, ein öffentlichkeitswirksames Rahmenprogramm mit Vorträgen zu organisieren und auf dieses durch Flugblätter und Plakate aufmerksam zu machen. Nachdem es ein Jahr später zum öffentlichen Streit um die Vorherrschaft im Sturm-Kreis gekommen war, kamen futuristische Werke im 20 21 22
23 24 25 26
Filippo Tommaso Marinetti: Die futuristische Literatur. Technisches Manifest. In: Der Sturm 3, 1912 / 13, Heft 133, S. 194–195. Vgl. Herwarth Walden (Hrsg.): Zweite Ausstellung. Die Futuristen [Katalog zur Ausstellung in der Sturm-Galerie vom 12. April–15. Mai 1912]. Berlin 1912, S. 10–22. Irene Chytraeus-Auerbach: Filippo Tommaso Marinetti und Herwarth Walden. Zwei ,Motoren‘ der Avantgarde. Eine Annäherung an die Jahre 1912–1914. In: Futurismus: Kunst, Technik, Geschwindigkeit und Innovation zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Hrsg. von ders. / Georg Maag. Münster 2016, S. 227–244, hier S. 240. Vgl. Umberto Boccioni u. a.: Futuristen. Die Aussteller an das Publikum. In: Der Sturm 3, 1912/13, Heft 105, S. 3f. Filippo Tommaso Marinetti: A l’Automobile de course. In: Der Sturm 3, 1912, Heft 109, S. 36. Vgl. Alfred Döblin: Die Bilder der Futuristen. In: Der Sturm 3, 1912, Heft 110, S. 41f. Vgl. Rudolf Kurtz: Futuristische Dichtung. In: Der Sturm 3, 1912, Heft 136 / 137, S. 218.
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Sturm nur mehr als Reproduktionen in Katalogen und einer Sturm-Sonderausgabe vor. Angesichts seines über zwanzigjährigen Bestehens lässt sich das als Hinweis deuten, dass der Sturm auf der Achse zwischen experimenteller und konventioneller Produktionspraxis zu dem tendiert, was Peter Sprengel mit der „Institutionalisierung der Moderne“27 beschreibt. Als Printmedium knüpfte die Sturm-Zeitschrift in ihrem Erscheinungsbild seit Beginn allerdings an die allgemeine Tendenz zum „Informationsarrangement“28 an, die Hans-Jürgen Bucher für die Zeit ab Mitte des 19. Jahrhunderts im Zeitungswesen konstatiert. Diese Entwicklung zu parallel angeordneten Darstellungsmodi und non-linearen Informationsangeboten beschreibt Bucher mit den sich gegenseitig bedingenden Konzepten von „Multimodalisierung“ und „Delinearisierung“, unter die er die unterschiedlichen Präsentationsformen subsumiert.29 Unterm Strich lassen sich für die futuristischen Werke innerhalb des Sturm im Wesentlichen fünf unterschiedliche mediale Publikations- und Präsentationsformen identifizieren – wobei die erste als flüchtiges Medium hier nur rekonstruiert werden kann: Ausstellung, Ausstellungskatalog, Zeitschrift, Buch und sonstige Materialien wie Informationsbroschüren, Handzettel und Kunstpostkarten. Innerhalb dieser Mediengattungen sind die futuristischen Werke als unterschiedliche Text- und Bildsorten vertreten (Tab. 1): Präsentationsmedium Ausstellung Ausstellungskatalog
Zeitschrift Buch / eigenständige Schrift Broschüre / Handzettel, Kunstpostkarte, eigenständige Kunstdrucke
Textsorte Bildtitel, Ausstellungstext Bildtitel, Bildunterschrift, Manifest, Vorwort, Werkverzeichnis (mit zweifacher Übersetzung), Namensliste Bildtitel, Bildunterschrift, Manifest, Gedicht, Offener Brief, Abhandlung Bildtitel, Bildunterschrift Bildtitel, Bildunterschrift, Ankündigungstext
Bildsorte Gemälde, Foto Bildabdruck, Druckgrafik Bildabdruck (bearb.), Druckgrafik (bearb.) Bildabdruck, Druckgrafik, Foto Bildabdruck (bearb.), Druckgrafik, Foto
Tab. 1: Text- und Bildsorten der futuristischen Werke im Sturm.
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Peter Sprengel: Institutionalisierung der Moderne. Herwarth Walden und Der Sturm. In: ZfdPh 110, 1991, S. 247–281. Hans-Jürgen Bucher: Mehr als Text mit Bild. Zur Multimodalität der illustrierten Zeitungen und Zeitschriften im 19. Jahrhundert. In: Illustrierte Zeitschriften um 1900. Mediale Eigenlogik, Multimodalität und Metaisierung. Hrsg. von Natalia Igl / Julia Menzel. Bielefeld 2016, S. 25–74, hier S. 26. Vgl. ebd., S. 27.
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Neben der Heterogenität der Sturm-Ressourcen ist bemerkenswert, dass Text wie Bild in unterschiedlichen Auflagen und Arrangements erneut abgedruckt erscheinen und die Sturm-eigenen Medien häufig Querverweise auf sie enthalten. In dieser Weise findet sich beispielsweise Severinis Gemälde Danzatrice ossessionante sowohl im Ausstellungskatalog zur ersten Futuristen-Ausstellung im Sturm als auch in dessen Wiederauflage zur Wanderausstellung sowie in Waldens Schrift Einblick in Kunst und in mehreren Ausgaben der Sturm-Zeitschrift.30 Zu diesem Sturm-eigenen Verweissystem gehören auch die wenigen überlieferten Informations- und Werbematerialien, die Broschüren und Handzettel, die Hinweise darauf geben, dass der Sturm-Verlag auch Kunstdrucke und -postkarten mit Abbildungen futuristischer Werke Umberto Boccionis herausgab.31 Gleichzeitig fällt bei der medialen Zuordnung der futuristischen Sturm-Werke auf, dass die Vergleichbarkeit der beiden Darstellungsformen Bild und Text beeinträchtigt ist, sobald das Bild im Präsentationskontext anders als der Text stärker auf unikale Merkmale wie Materialität und Ereignischarakter abhebt. Demgegenüber scheint der futuristische Text, allen voran das publikumswirksame Manifest, schon in seiner Produktion auf die massenhafte Verbreitung, auf Auflagenstärke und Wiederverwertung ausgerichtet. In den unterschiedlichen Medien manifestiert er sich als konkretes physisches Objekt jedes Mal aufs Neue, wodurch er in zahlreichen Varianten vorliegt. Insbesondere im Fall der futuristischen Sturm-Werke gilt Ähnliches jedoch ebenso für das Bild. Wie die tabellarische Auflistung zeigt, finden sich in fast allen medialen Gattungen unterschiedliche Reproduktionen von Gemälden und Skulpturen wie bearbeitete und nachkolorierte Bildabdrucke oder Fotoaufnahmen. Umgekehrt können auch textseitig Unikate vorkommen, wenn man über die Grenze des einzelnen literarischen Artefakts hinausgeht und die Privatkorrespondenzen der Futuristen mit Ge´rard Genette als Epitexte miteinbezieht.32 Welche Bedeutung die lektüresteuernde Dimension dieser mittelbaren ,Beiwerke‘ für die Interpretation und historische Einordnung der futuristischen Werke im Sturm hat, zeigt exemplarisch der Konkurrenzkampf zwischen den Futuristen und den Orphisten.
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Vgl. entsprechend in Herwarth Walden (Hrsg.): Zweite Ausstellung. Die Futuristen. [Katalog zur Ausstellung in der Sturm-Galerie vom 12. April – 15. Mai 1912]. Berlin 1912, S. 33, also auch im Katalog zur Wanderausstellung, Herwarth Walden (Hrsg.): Die Futuristen. 5. u. 6. Tsd. Berlin 1912, S. 16, sowie in ders.: Einblick in Kunst. 3. bis 5. Aufl. Berlin 1924, S. 27 und in der SturmZeitschrift in: ders. (Hrsg.): Der Sturm 17, 1926, Heft 4, S. 58. Vgl. dazu etwa das jährlich herausgegebene Verlagsprogramm des Sturm in Herwarth Walden (Hrsg.): Ständige Kunstausstellung – Expressionisten, Futuristen, Kubisten. Berlin 1917, S. 7. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:bvb:255-dtl–0000002775 (Stand: 18.01.2022). Ge´rard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt a. M. 2001. Für den Begriffstransfer des Paratexts auf andere Mediengattungen vgl. Klaus Kreimeier / Georg Stanitzek (Hrsg.): Paratexte in Literatur, Film, Fernsehen. Berlin 2004.
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Was ebenfalls unter Paratexten firmieren kann und bisher noch unberücksichtigt blieb, ist der textuelle Normalfall im Bild: die Künstlersignatur. Anders als Bildtitel und -unterschriften ist sie nicht räumlich-materiell vom Bild getrennt und hebt sich in dieser Bedeutung als Peritext doch eindeutig von den sprachlichen Zeichen in Severinis Tanzbild ab. An dieser funktionalen Unterscheidung offenbart sich, inwieweit die Dechiffrierung von Text-Bild-Hybriden durch kulturell bedingte Normen und Wahrnehmungsmuster bestimmt ist.33 Das Problem der Schieflage zwischen Bild und Text in hybriden Zusammenhängen lässt sich damit weniger an der medialen Kategoriengrenze verorten als vielmehr an der Schwelle zwischen Einzigartigkeit und Reproduzierbarkeit. Die Frage, wann ein Kunstobjekt den Wert eines eigenständigen unikalen Werks für sich beanspruchen kann, spielt auch für die spezifische Ansetzung der futuristischen Werke bei ihrer bibliografischen Erschließung eine entscheidende Rolle, auf die im Weiteren, wenn es um die editorische Umsetzung geht, noch zurückzukommen ist. Für die methodische Fundierung einer Sturm-Edition bleibt zunächst das terminologische Dilemma zu klären, mit einem eindeutigen und allgemein verständlichen Textbegriff arbeiten zu wollen, der aber dennoch den eigenen fachlichen Anforderungen gerecht wird. Dazu werden anhand zweier gegensätzlicher Positionen in groben Zügen die Grenzlinien im Spannungsfeld zwischen linguistischer und kulturtheoretischer Texttheorie skizziert.
3. Vom futuristischen Text zum intertextuellen Verweissystem Auf der abstrakten Ebene der strukturorientierten Texttheorie eröffnet der mit ihr verbundene dynamische Textbegriff unmittelbare Anschlussstellen für die kunstästhetische Programmatik des Futurismus. Denn für die durch das zwanzigbeinige Pferd symbolisierte Dynamik gilt einmal mehr, dass es selbst auf die zweidimensionale Ebene gebannt in den Augen des Betrachters weiterhin Bedeutung produziert. Einen solchen dynamisch-produktiven Prozess beschreibt Roland Barthes in seinen Ausführungen zum seinerzeit neu aufkommenden genetischen Textkonzept: Le texte est une productivite´. Cela ne veut pas dire qu’il est le produit d’un travail (tel que pouvaient l’exiger la technique de la narration et la maıˆtrise du style), mais le the´aˆtre meˆme d’une production ou` se rejoignent le producteur du texte et son lecteur: le texte ,travaille‘, a` chaque moment et de quelque coˆte´ qu’on le prenne; meˆme e´crit (fixe´), il n’arreˆte pas de travailler, d’entretenir un processus de production.34 33
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Die kulturellen Implikationen bei der Bestimmung von Text-Bild-Gebilden thematisieren Dirck Linck und Stefanie Rentsch in: Bildtext – Textbild. Probleme der Rede über Text-Bild-Hybride. Freiburg 2007, S. 7–14. Zu den Entgrenzungstendenzen zwischen Literatur und Bildender Kunst in den historischen Avantgarden vgl. Wolfgang Max Faust: Bilder werden Worte. Zum Verhältnis von Bildender Kunst und Literatur. Vom Kubismus bis zur Gegenwart. Köln 1987. Roland Barthes: The´orie du texte. In: Encyclopaedia Universalis France, Bd. 15. Paris 1973, S. 1013–1017. Der Artikel ist m. W. bisher nicht in deutscher Übersetzung erschienen, daher gebe ich hier eine eigene Übersetzung: „Der Text ist eine Produktivität. Das bedeutet nicht, dass er das
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Als Schauspiel unablässiger Produktion neuer Bedeutungen, dem Autor und Leser gleichermaßen beiwohnen, hintergeht der Text bei Barthes jeden Versuch, sich ihm objektiv zu nähern und ihn auf eine kohärente Botschaft festzulegen. Ein Sprechen über ihn ist damit immer ein ihm gleichzusetzender Text, der eine Wechselbeziehung zu seinem Untersuchungsgegenstand eingeht. Mit der Bestimmung seiner transgressiven Grundstruktur als „la traverse´e“ verlagert sich die strukturorientierte semiologische Perspektive auf den Text von der produktions- auf die rezeptionsästhetische Seite: Dort bedeutet die Hinwendung zum Zeichen weniger die Betrachtung seines Gegenstandbezugs als vielmehr seine unablässige differentielle Neuanordnung. Entsprechend ist der Text bei Barthes per se ein nicht eingrenzbares Phänomen, „parce qu’il implique toujours une certaine expe´rience de la limite“35 und entzieht sich damit auch den herkömmlichen Klassifikationsbemühungen. Barthes setzt sein entgrenzendes Textkonzept dem bis dahin gängigen Werkbegriff gegenüber und leitet in der Folge dessen Ablösung ein. Als entscheidendes Differenzierungsmerkmal führt er die Diskursivität an, nach der der Text an die sprachliche Praxis gebunden und von der Abgeschlossenheit des materiell greifbaren Werks zu unterscheiden sei: [L]’œuvre est un fragment en substance, elle occupe une portion de l’espace des livres (par exemple dans une bibliothe`que.) Le Texte, lui, est un champ me´thodologique. [...] l’œuvre se tient dans la main, le Texte tient dans le langage: il n’existe que pris dans un discours (ou plutoˆt il est Texte par cela meˆme qu’il le sait); le Texte n’est pas la de´composition de l’œuvre, c’est l’œuvre qui est la queue imaginaire du Texte.36
In der Literaturwissenschaft hat die Bezeichnung ,Text‘ den Begriff des Werks weitestgehend ersetzt.37 Interessant ist jedoch die teils entgegengesetzte Entwicklung in bibliografischen Zusammenhängen. Denn im Bibliotheksbereich hat der Werkbegriff in seiner neueren Verwendung für die Beschreibung und Modellierung bibliografischer Daten mitunter eine Bedeutung angenommen, die ihn als Entität eher in die Nähe eines vermeintlichen singulären Autorgenies rückt,
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Produkt einer Arbeit ist (wie es die Erzähltechnik und das stilistische Können erfordern), sondern das Theater einer Produktion, in dem der Textproduzent und sein Leser aufeinandertreffen: Der Text ,arbeitet‘, zu jeder Zeit und in jeder Hinsicht; selbst wenn er geschrieben (fixiert) ist, hört er nicht auf zu arbeiten, einen Prozess der Produktion aufrechtzuhalten.“ Roland Barthes: De l’œuvre au texte (1971). Le bruissement de la langue. Paris 1984, S. 69–77, hier S. 71. Für die deutsche Übersetzung vgl. ders.: Vom Werk zum Text. Das Rauschen der Sprache. Frankfurt a. M. 2006, S. 64–72, S. 66: „[...] weil er immer eine gewisse Erfahrung der Grenze bedingt [...].“ Ebd. bzw. vgl. in deutscher Übersetzung, ebd., S. 65f.: „[D]as Werk ist ein Bruchstück Substanz, es nimmt einen Teil innerhalb des Raums der Bücher ein (zum Beispiel in einer Bibliothek). Der ,Text‘ hingegen ist ein methodologisches Feld. [...] das Werk ruht in der Hand, der Text ruht in der Sprache: er existiert nur innerhalb eines Diskurses (oder ist vielmehr gerade deshalb ,Text‘, weil er darum weiß); der ,Text‘ ist nicht die Zersetzung des Werks, sondern das Werk ist der imaginäre Schweif des ,Textes‘.“ Vgl. dazu insb. die historische Einordnung des Textbegriffs von Maximilian Scherner: ,TEXT‘. Untersuchungen zur Begriffsgeschichte. In: Archiv für Begriffsgeschichte 39, 1996, S. 103–160, hier S. 153.
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als dass sie einen unabgeschlossenen Produktionsprozess mit Beteiligung multipler Akteure impliziert. So sehen die 1998 veröffentlichten Functional Requirements for Bibliographic Records (FRBR), die auf dem Entity-RelationshipModell basieren, für das Werk keine materielle Repräsentation vor. Im Gegensatz zu seiner Bestimmung bei Barthes ist das Werk hier vielmehr auf der immateriellen Ebene der abstrakten Idee angesiedelt als „the abstract intellectual or artistic creation“38. Von dem Werk als einer übergeordneten kreativen Schöpfung unterscheidet FRBR die drei im Abstraktionsgrad abnehmenden Größen seiner Realisierung (Expression), Verkörperung (Manifestation) und des physischen Einzelexemplars (Exemplar).39 In der Bildenden Kunst und allgemein bei unikalen Archivalien fallen diese vier Stufen in der Regel zusammen, sodass eine Übertragung des FRBR-Modells kaum möglich ist.40 Indessen hatte sich für den Museumsbereich parallel das eigene Beschreibungsmodell CIDOC Conceptual Reference Model (CRM) etabliert, das sich für die meist heterogenen Bestände als geeignet erwiesen hat. Das Problem der fehlenden disziplinären Anschlussfähigkeit beider Systeme hatte zur Folge, dass das FRBR-Modell schließlich um eine objektorientierte Version erweitert und auf CIDOC CRM abgestimmt wurde – was für eine editorische Erschließung einer Datenlage wie die der weltweit verstreuten und sehr heterogenen Sturm-Quellen von Bedeutung ist. Die vermehrte digitale Repräsentation von Werken, materialisiert in Form von Text und Bild, hat schließlich dazu geführt, dass auch das jeweilige Begriffsverständnis von Werk und Text in den unterschiedlichen Textdisziplinen zwangsläufig einer Revision unterzogen wurde. Das Abwandern klassischer Textsorten in andere Medien und die nunmehr ununterscheidbare Verschmelzung „ikonischer und symbolischer Zeichen“41 veranlassten die Linguistin Ulla Fix überdies dazu, die Textwissenschaft im Rückgriff auf Robert-Alain de Beaugrande und Teun van Dijk zur Querschnittsdisziplin zu erklären. Demnach wäre es die Aufgabe einer solchen allgemeinen Textwissenschaft, allen Disziplinen, die sich mit dem Gegenstand Text beschäftigen, eine übergreifende allgemeine Terminologie an die Hand zu geben. Fix will diese Hilfeleistung für andere Fächer indessen explizit in ihrer Beschränkung auf diejenigen textbezogenen Kategorien verstanden wissen, die nicht disziplinenspezifisch sind, genau genommen also zur Textsortenlinguistik gehören.42 38
39 40
41 42
International Federation of Library Associations and Institutions: Functional Requirements for Bibliographic Records, S. 19. https://repository.ifla.org/bitstream/123456789/811/2/ifla-functio nal-requirements-for-bibliographic-records-frbr.pdf. (Stand: 18.01.2022). Vgl. ebd., S. 14ff. und vgl. Heidrun Wiesenmüller / Silke Horny: Basiswissen RDA. Eine Einführung für deutschsprachige Anwender. Berlin 2015, S. 17–22. Vgl. Frank Förster / Hans-Georg Becker: Vernetztes Wissen – Ereignisse in der bibliographischen Dokumentation. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 57, 2010, Heft 1, S. 15–25, hier S. 17f. Ulla Fix: Texte und Textsorten – sprachliche, kommunikative und kulturelle Phänomene. Berlin 2008, S. 20. Vgl. Ulla Fix: Stil – Denkstil – Text – Diskurs. Die Phänomene und ihre Zusammenhänge. Berlin 2021, S. 359.
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Auch in den Bibliothekswissenschaften geriet vermehrt der inter- und transdisziplinäre Aspekt in den Blick, weil die steigenden Anforderungen an maschinelle Austauschformate einen übergreifenden, integrativen Textbegriff notwendig machten. Inwiefern eine solche Anschlussfähigkeit ebenso für die Editionswissenschaft gilt, zeigt Patrick Sahle in seiner richtungsweisenden Monografie zum Textverständnis in der digitalen Editorik.43 Sein pluralistisches Textmodell gründet darauf, dass die digitale Editionspraxis den Text durch die editorische Erschließung vom Ausgabemedium löst und damit „textuelle Informationen jetzt prä- oder transmedial gespeichert werden und dabei mehrere konkurrierende Sichten auf den Text (mehrere Textbegriffe)“44 abgebildet werden können. In der Folge stellt sich für Sahle auch eine Entgrenzung des Textbegriffs auf bildliche Zeichen als unproblematisch dar.45 Angesichts des Medienwandels entwirft Kirsten Adamzik um die Jahrtausendwende für die Textlinguistik eine dem pluralistisch-dynamischen Modell konträre Vision. Inwiefern in einer Welt der Hypertexte die Textlinguistik noch eine allgemein verbindliche Terminologie entwickeln könnte, lautet die Preisfrage der Ausschreibung, und der aus ihr hervorgegangene gleichnamige Sammelband liefert eine Bestandsaufnahme der damaligen kontrovers geführten Textdebatte.46 Er fächert zwar das ganze Spektrum verschiedener Sichtweisen unter den linguistischen Textexperten auf; offenbart aber auch die tief verankerte Skepsis, die mit einem zu pluralistisch aufgefassten Textbegriff einhergeht – und nach wie vor anhält.47 In ihrem Abschlussplädoyer spricht sich Adamzik dann auch gegen eine terminologische Erweiterung und für eine Art Kompromiss aus: Weder die Entwicklung in der neueren Kommunikationstechnik (Multimedia und Hypertexte) noch die theoretische Diskussion um Texte als Bestandteile von Diskursen machen eine Erweiterung des Textbegriffs – und damit eine Abgrenzung vom alltagsweltlichen Konzept – notwendig. Die damit angesprochenen Phänomene können vielmehr durch die systematische Benutzung zusätzlicher Begriffe, Kommunikat und Diskurs, erfasst werden.48
Für sie folgt aus der Diskussion um den Textbegriff, dass die vermeintlich ,neue‘ Hinwendung zur kommunikativ-pragmatischen Perspektive letztlich eine erneute Rückbindung an seine gängige allgemeinverständliche Definition bedeutet. An das gerade für Editionen begrüßenswerte Desiderat, an einer alltag43 44 45 46 47
48
Vgl. Patrick Sahle: Digitale Editionsformen. Teil 3. Textbegriffe und Recodierung. Norderstedt 2013. Ebd., S. 257. Vgl. ebd., S. 90ff. Vgl. Ulla Fix u. a. (Hrsg.): Brauchen wir einen neuen Textbegriff? Antworten auf eine Preisfrage. Frankfurt u. a. 2002. Kirsten Adamzik: Zum Problem des Textbegriffs. Rückblick auf eine Diskussion. In: Brauchen wir einen neuen Textbegriff? Antworten auf eine Preisfrage. Hrsg. von Ulla Fix u. a. Frankfurt a. M. 2002, S. 163–182, hier S. 165. Ebd., S. 172 (Hervorhebungen im Original).
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sprachlichen Verwendung anzusetzen, um auch den Laien oder auch Linguisten anderer Theorieprägung einzubeziehen, knüpft Adamzik die Funktion eines Korrektivs. Ihr Argument, dass sich die begriffliche Ausweitung von Text auf TextBild-Gebilde im allgemeinen Verständnis nicht durchgesetzt hat, gilt damit umgekehrt auch für ihren Vorschlag, stattdessen den Kommunikatbegriff zu verwenden.49 Während sich Kommunikat für die Bezeichnung nicht rein schriftsprachlicher Objekte oder Bilder allerdings weder in der alltagssprachlichen noch in der textlinguistischen Praxis etabliert hat, gehört der Diskurs längst zum alltagsprachlichen Inventar.50 An seiner Verwendung zeigt sich indessen, inwieweit eine Rückbesinnung auf Alltagswissen nicht verhindern kann, dass eine theoretische Fundierung in wissenschaftlichen Zusammenhängen stets neu geleistet werden muss, was nicht bedeutet, dass sie nicht nachvollziehbar und allgemeinverständlich formuliert sein sollte. Das Vertrauen in die regulative Funktion der Alltagssprache bedeutet dagegen auch, dass die alltägliche Omnipräsenz multimedialer Objekte, die Adamzik als lediglich quantitative Verschiebung eines nicht ,neuen‘ Phänomens konstatiert, ein völlig neues Textverständnis hervorruft. So könnte Text gemeinhin nur mehr in Kombination mit Bild und Bildsprache assoziiert werden, wenn sich mit den technischen Veränderungen, wie etwa der massentauglichen Anwendung von AR und VR, neue Wahrnehmungsgewohnheiten verbreiten. Der bisher prototypische ,reine‘ Text würde dann zum Randphänomen werden, mit dem sich am Ende hauptsächlich Spezialisten beschäftigen. Den Avantgardisten galt umgekehrt gerade der programmatische Bruch mit traditionellen Wahrnehmungsmustern als notwendige Voraussetzung, um mit den Gattungsgrenzen auch den Text begrenzende Schranken aufzuheben und die spezialisierte Kunsterfahrung in die Alltagswelt zu überführen. Die Aufhebung einer textimmanenten Merkmalsunterscheidung und die Auflösung der syntaktischen Ordnung, die sich auch in Waldens „Wortkunsttheorie“ widerspiegelt, mündeten wie auch die gesamte Programmatik nicht in den gewünschten gesellschaftlichen Konsens, der mit der allgemeinen Verständigung auf das Gesamtkunstwerk gattungsspezifische Konzepte abgelöst hätte. Die für die Avantgarde charakteristischen Texte wie die Figurengedichte und Kurt Schwitters’ Merztexte markieren bis heute die Außengrenzen, an denen die textimmanenten Kriterien der Kohärenz und Kohäsion ihre definitorische Verbindlichkeit verlieren.51 49 50
51
Ebd., S. 174f. In diesem Kontext wurde häufig sein inflationärer Gebrauch beklagt. Vgl. u. a. Wolf J. Schünemann: Subversive Souveräne. Vergleichende Diskursanalyse der gescheiterten Referenden im europäischen Verfassungsprozess. Wiesbaden 2014, S. 79. Auf die Nähe zwischen der linguistischen Begriffsverwendung und der alltagssprachlichen durch die Definition über Themen verweist Stefan Meier in ders.: 18. Diskurslinguistik und Online-Kommunikation. In: Handbuch Diskurs. Hrsg. von Ingo H. Warnke. Berlin / Boston 2018, S. 426–448, hier S. 435. Einen ausführlichen Kriterienkatalog stellen de Beaugrande und Dressler 1981 auf. Vgl. RobertAlain de Beaugrande / Wolfgang Ulrich Dressler: Einführung in die Textlinguistik. Tübingen
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Umso wichtiger ist es, dem von der Literaturtheorie geprägten Ansatz der Intertextualität zu folgen und die jeweilige historische Verortung dieser Texte in den größeren Kontext der miteinander konkurrierenden Sinnsysteme zu stellen. Allein schon durch den Produktionsprozess rekurrieren sie wie alle Texte auf einen bestimmten Diskurs, ohne den nach Ingo Warnke ihre gattungsspezifische Zuordnung nicht möglich ist: Für die Textlinguistik besagt das Prinzip der Reproduktion, dass die Musterzugehörigkeit eines Textes also im Kern aus seiner diskursiven Einbettung resultiert. Texte sind eben keine singulären Phänomene, sondern sie sind Repräsentanten einer seriell organisierten diskursiven Praxis.52
Auch hierfür geben die futuristischen Texte im Sturm ein anschauliches Beispiel. Indem der Sturm-Komplex mit seinen unterschiedlichen medialen Kanälen praktisch ein eigenes Verweissystem bildet, in dem ein bestimmter gesellschaftlicher Gegendiskurs vorherrscht, lassen sich die dort mehrfach präsentierten Werke der Futuristen in doppelter Hinsicht als Reproduktion werten. Demnach verweist das futuristische Manifest zwar textsortenspezifisch auf seine traditionellen Vorgänger, repräsentiert aber gleichzeitig die bereits in Texten realisierte diskursive Transgression in die literarische Gattung. Auf intertextueller Ebene kann der futuristische Text schließlich auch jenseits von Textsortenkategorien einem bestimmten Diskurs zugeordnet werden und in der wechselseitigen Bezugnahme zwischen ihm und dem diskursiven Kontext des Gesamtkunstwerks sogar seinen eigenständigen Status verlieren. Auch ungeachtet der äußeren Entstehungsbedingungen kommt eine Edition der futuristischen Sturm-Werke, die in erster Linie der Repräsentation des überlieferten Dokuments verpflichtet ist, nicht ohne Verweise auf unterschiedliche Fassungen in den verschiedenen Präsentationsmedien aus. Weil die Reproduktion ihrer Reproduktion im Sturm gängige Praxis ist, sind die in der Zeitschrift präsentierten Werke, und damit der Sturm, generell prädestiniert für eine digitale Edition. Im Unterschied zur fixierten Druckedition muss sich die digitale Edition als Hypertext nämlich nicht auf eine verkürzte Textsicht beschränken, sondern kann vielmehr mehrere Perspektiven auf Text in expliziterer und transparenterer Form nebeneinanderstellen. Dieser integrative Ansatz eines pluralistischen Textkonzepts schließt damit eine nachvollziehbare begriffliche Differenzierung zwischen Text- und Bildelementen ein.
52
1981. Michael Klemm sieht in solchen Randphänomenen wie den „Nonsense-Gedichten“ gerade ein Argument für das Festhalten an diesen Kriterien auf dem Weg zu einem prototypisch konzipierten Textbegriff. Vgl. im zuvor angeführten Sammelband, S. 150 u. 159. Ingo Warnke: Adieu Text – bienvenue Diskurs? Über Sinn und Zweck einer poststrukturalistischen Entgrenzung des Textbegriffs. In: Brauchen wir einen neuen Textbegriff? Antworten auf eine Preisfrage. Hrsg. von Ulla Fix u. a. Frankfurt a. M. u. a. 2002, S. 125–142, hier S. 133.
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4. Dokumente des Futurismus im Hypertext DER STURM Die programmatischen Aufrufe der italienischen Futuristen zur lebensbestimmenden Dynamik und Simultaneität können leitmotivisch ebenso für die Reproduktion ihrer Werke gelten. Fordert etwa das futuristische Gemälde die aktive Mitwirkung seines Betrachters, der nicht allein die Summe aller Teile auf der Bildoberfläche zusammenfügt, sondern vielmehr in Bewegung übersetzt, beansprucht die heutige Nutzung einer aktuellen Edition ähnliche Bedingungen. Das bedeutet konkret, dass der Betrachter individuell und je nach Standpunkt zwischen unterschiedlichen Ansichten eines Textes oder Bildes wechseln und bestenfalls aus einem möglichst breiten Angebot eine Art der Realisation wählen kann, die seinem Textverständnis entspricht. Eine derart dynamische Anpassung an ein individuelles Nutzungsverhalten leistet die digitale Edition, die in Form des Hypertextes nicht an eine lineare Zeichenabfolge gebunden ist und so unterschiedliche Sichten auf Daten erzeugen kann.53 Zumindest in der Theorie kommt die digitale Edition damit gewissermaßen der für die Avantgarde charakteristischen Forderung nach, die Rezeption von Kunstwerken nicht mehr nur an ein berufsbedingtes Expertentum zu binden, sondern vielmehr auf die alltägliche Lebenspraxis auszuweiten. Selbst aber in der Beschränkung auf einen nur wissenschaftlichen Anwendungsrahmen kommt die heutige digitale Editionspraxis meist nicht umhin, sich auf eine Nachnutzung der generierten Daten einzustellen, die aus ganz unterschiedlichen Fachrichtungen angefragt wird. Die notwendig interdisziplinäre Ausrichtung trifft auch auf die Edition der futuristischen Werke – und nicht zuletzt auf die des Sturm insgesamt – zu. Bisher scheiterte eine Sturm-Edition, die ein unmittelbares Umschalten zwischen den unterschiedlichen, mitunter konträren Ansichten und zugleich eine umfassende semantische Verknüpfung des Materials, der Objekte und Personen zuließe, an Umfang und Heterogenität der Quellen. Während die Forschung die absoluten Bewegungsrichtungen des Sturm in seinem Gravitationsfeld längst nachgezeichnet hat, stellt sich seine Repräsentation, was die konkrete Rekonstruktion seiner Dynamik oder die wechselseitigen Relationen zwischen seinen Aktivitäten angeht, noch eher statisch und disparat dar. Einzeluntersuchungen, die sich mit den Transferbewegungen zwischen Futurismus und Expressionismus oder Futurismus und Kubismus befassen, demonstrieren, wie wünschenswert eine Gesamtschau aller unterschiedlichen Facetten und Entwicklungen des Sturm wäre.54 53 54
Vgl. Angelika Storrer: Hypertextlinguistik. In: Textlinguistik. 15 Einführungen. Hrsg. von Nina Janich. Tübingen 2008, S. 315–331, hier S. 325. Vgl. z. B. die neuere Studie von Mario Zannucchi: Futurismus im Expressionismus. Zu den expressionistischen Übersetzungen italienischer und französischen Futuristen. Eine Bestandsaufnahme. In: Europäische Avantgarden um 1900. Kontakt – Transfer – Transformation. Hrsg. von dems. / Jurij Lileev / Yvonne Pörzgen. Paderborn 2021, S. 47–84.
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Einen ersten Schritt in diese Richtung unternimmt das Projekt „DER STURM – Digitale Quellenedition zur Geschichte der internationalen Avantgarde“ an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz.55 Das Vorhaben hat zum Ziel, die vielfältigen Sturm-Quellen entlang etablierter Standards der digitalen Editorik gattungsübergreifend im Volltext zu erschließen und webbasiert zu präsentieren.56 Dazu berücksichtigt die Edition mit den sechs Abteilungen „Briefe“, „Zeitschrift“, „Ausstellungskataloge“, „Bühne“, „Schriften“, „Materialien“ alle im Sturm vertretenen Quellengattungen. Diese Einteilung geht mehr oder weniger auf die Sparten der entsprechenden Kunstgattungen zurück, um die Walden den Sturm sukzessive ausbaute und die sich im Verlagsprogramm gut identifizieren lassen. Im Sinne einer Quellenedition ist das editorische Vorgehen im STURM-Projekt überlieferungsorientiert, sodass innerhalb der entsprechenden Abteilung nur diejenigen Ausstellungen einen Eintrag bilden, die durch einen überlieferten Katalog dokumentiert sind. Auch für die anderen Quellengattungen gilt, dass die Präsentation des überlieferten Materials den Mittelpunkt bildet: Neben der Bereitstellung des Faksimiles umfasst die Edition die Transkription der Dokumente, die nach dem etablierten internationalen Standard TEI / XML kodiert werden. Alle im Text vorkommenden Personen, Körperschaften, Orte, Werke und Ereignisse werden mit den Normdaten aus GND und Geonames ausgezeichnet und repositorienübergreifend verknüpft. Daraus ergeben sich entsprechend dem multimodalen Charakter des Sturm unterschiedliche Sucheinstiege für die Nutzung: über die Register, die sich aus unterschiedlichen Entitäten zusammensetzen, sowie über die Abteilungen der Quellengattungen, die wiederum chronologisch gelistet sind. Um den historischen Sturm als seinerzeit multimedial konzipiertes Verweissystem adäquat abzubilden, muss die Anreicherung der Texttranskription über die Basisannotation struktureller Merkmale zwangsläufig hinausgehen. Insbesondere an den Text-Bild-Relationen zeigt sich die Herausforderung, die intermedialen wechselseitigen Verweise so nachvollziehbar zu machen, dass weder das unmittelbare Text-Bild-Gefüge einer multimodalen Ansicht noch die gattungsübergreifenden intermedialen Bezüge zwischen zwei separaten Ansichten von Text und Bild relativiert werden. Wenn sich also in der vierten Sturm-Nummer des siebzehnten Jahrgangs ein Abdruck der Ruhelosen Tänzerin Severinis befindet, die über ein Jahrzehnt zuvor im Ausstellungskatalog abgedruckt war und auf die Walden bereits in seiner Schrift Einblick in Kunst verwiesen hat, wird in der digitalen Edition entsprechend ein Link gesetzt. Zudem werden alle 55
56
Vgl. Marjam Trautmann / Torsten Schrade (Hrsg.): DER STURM. Digitale Quellenedition zur Geschichte der internationalen Avantgarde. Mainz, Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Version 1 vom 16. Juli 2018. https://sturm-edition.de/id/S.0000005 (Stand: 18.01.2022). Vgl. Mark D. Wilkinson u. a.: The FAIR Guiding Principles for scientific data management and stewardship. In: Scientific Data 3, 2016, 160018. doi.org/10.1038/sdata.2016.18.
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semantischen und alle strukturellen Entitäten mittels persistenter Identifikatoren dauerhaft referenziert, sodass beispielsweise auch ein Bild auf der Druckseite der Sturm-Zeitschrift eindeutig adressiert werden kann. Auf dieser editorischen Grundlage bringt die digitale STURM-Edition die notwendigen Voraussetzungen mit, etwa eine semantische Modellierung der Sturm-Domäne nach dem oben genannten CIDOC CRM vorzunehmen, die wiederum ein Grundgerüst für die Bildung von RDF-Statements bilden kann. Perspektivisch lässt sich die STURM-Edition so um eine semantische Daten- bzw. Textschicht und einen Zugang auf die modellierten Daten als Linked Open Data erweitern. Abgesehen davon bietet allein schon die Anreicherung um dokumentspezifische Metadaten sowie um Daten zu ausgezeichneten Entitäten die Möglichkeit, Werke in Bild- und Textsorten zu klassifizieren. Mit Hilfe der eindeutigen Referenzierbarkeit der in sich geschlossenen Einheiten innerhalb der Sturm-Quellen können diese Informationen Hinweise auf Kontextualisierungen geben, zum Beispiel im Quellentypus Zeitschrift Muster aufdecken, nach denen bestimmte Textund Bildsorten angeordnet sind. So deutet eine erste Bestandsaufnahme bereits auf die unterschiedliche Verteilung von Text und Bild im Erscheinungsverlauf der Sturm-Zeitschrift hin. Sie zeugt von einer Fokusverschiebung vom anfänglich literarischen Schwerpunkt hin zur stärkeren Einbindung der Bildenden Kunst im Sturm. Dabei zeigt sich, dass die Gesamtanzahl der Seiten, auf denen graphisch-visuelle und schriftlich-verbale Elemente gleichberechtigt nebeneinanderstehen, relativ gering ausfällt. In der Mehrheit handelt es sich um Seiten, auf denen entweder der Text als Ergänzung oder aber die grafischen Elemente wie Design und Typografie als unterstützende Ordnungsstruktur vorkommen. Komplizierter gestaltet sich hingegen eine Auszeichnung symbolischer Elemente im Bild. Dazu entwickelte die Universitätsbibliothek Heidelberg kürzlich das Annotationsmodul heiANNO, mit dessen Hilfe sich ein oder mehrere Zonen als Polygone innerhalb eines Bildes auszeichnen lassen. Das ebenfalls auf JavaScript basierende Modul hat gegenüber dem Tool Annotorious den Vorteil, dass das Protokoll des International Image Interoperability Framework (IIIF) über eine Schnittstelle unterstützt wird und selbst Bildausschnitte eindeutig referenziert werden können.57 Darüber hinaus erlaubt heiANNO Versionierung und die Einbindung von Normdaten. Diese durch die Bildelementannotation zusätzlich gewonnenen Daten ermöglichen es dann, das Analogieprinzip der bildlichen Repräsentation über die Grenzen eines einzelnen Werks hinaus anzuwenden und Ähnlichkeiten zwischen den Elementen verschiedener Bilder zu ermitteln. Für Severinis im Bild eingefügte Tanzbezeichnungen hieße das etwa, in den Werken verschiedener avantgardistischer Kunstrichtungen nach bestimmten typografischen oder semantischen Kriterien interbildliche Bezüge aufdecken zu können. 57
heiANNO – Das Heidelberger Annotationsmodul. https://www.ub.uni-heidelberg.de/service/ openaccess/heianno.html (Stand: 18.01.2022) u. Annotorious. https://recogito.github.io/annoto rious (Stand: 18.01.2022).
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Im Vergleich zur Komplexität der semiotischen Hybridphänomene erweist sich das Arrangement der Informationselemente aus Bild und Text in der Zeitschrift als einfaches, tradiertes Präsentationsmuster. Eine Berücksichtigung der Seitenaufteilung und des Satzspiegels wird bei der Modellierung dadurch erleichtert, dass die Zeitschriften um 1900 trotz ihrer komplexen Darstellungsmodi zur bessere Leseorientierung ein einigermaßen kontinuierliches Layout aufweisen.58 Ein besonderes Augenmerk gilt hierbei der Typografie und grafischen Gestaltung der Texte. Neben einem Mehrspaltensystem und Ornamenten wie Trenner zur Seitenaufteilung, die durch eine spezifische TEI / XML-Annotationsstruktur der Texte kodiert sind, greift die STURM-Edition als eine Art Zitat und mediale Selbstreflexion das historische Schriftbild der Zeitschrift auf der Webseite auf. Dazu wird die Type ,Romana EF Book‘ (Elsner + Flake) als moderner Webfont eingebunden. Für die technische Umsetzung der webbasierten Präsentationsschicht erweist sich die für Zeitschriften spezifische Konstante als vorteilhaft, weil sich Layoutelemente wie Satzspiegel und Typografie so als Templates vorhalten lassen. Eine wichtige technische Voraussetzung dafür ist die strikte Trennung von Layout und Content, wie sie die von Torsten Schrade entwickelte projekteigene eXist-Anwendung gewährleistet, indem sie die Webseiten im Sinne eines Static Site Generators statisch generiert.59 Anhand der hier zitierten Typografie drängt sich einmal mehr die Frage auf, inwieweit nicht gerade auch eine Edition die Aufgabe hat, auf sich selbst als Text zu verweisen und damit auf den ihr eigenen Umgang mit dem Originaldokument.
5. Fazit: Zum Textbegriff im STURM Wenn die Edition der Sturm-Werke entsprechend dem intendierten Charakter des Gesamtkunstwerks Gegenstand fächerübergreifender Untersuchungen sein soll, kann der ihr zugrunde gelegte Textbegriff kein anderer als ein integrativ-dynamischer sein. Im engen Zusammenhang mit der Interdisziplinarität stehen die Möglichkeiten eines individualisierten Nutzerszenarios und die damit verbundene subjektive Rezeption, die Michael Bender als „eine spezielle Form von Unikalität“60 fasst. Ebenso, wie die Edition bei der eigenen Textproduktion bestenfalls immer die Unterscheidung zwischen Textvorlage und Repräsentation berücksichtigt, sollte ihr unikaler Charakter als individuell materialisierbarer Hypertext jedoch im Rahmen des intersubjektiv Nachvollziehbaren bleiben. Durch die möglichst transparente Rückbindung des verwendeten Textbegriffs an 58 59
60
Vgl. Bucher 2016 (Anm. 28), S. 27. Torsten Schrade: Forschungssoftware. In: DER STURM. Digitale Quellenedition zur Geschichte der internationalen Avantgarde. Erarb. u. hrsg. von Marjam Trautmann / Torsten Schrade. Mainz, Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Version 1 vom 16. Juli. 2018. https://sturmedition.de/id/S.0000030 (Stand: 18.01.2022). Michael Bender: Forschungsumgebungen in den Digital Humanities. Nutzerbedarf – Wissenstransfer – Textualität. Berlin / Boston 2016, S. 56.
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leichter objektivierbare Modelle und Standards will die digitale STURM-Edition zwischen unterschiedlichen Textverständnissen vermitteln und so einen Beitrag zur interdisziplinären Grundlagenforschung leisten.
Gianna Hedderich
Zwischen Reproduktion und Rekonstruktion Möglichkeiten der Edition der fragmentarischen logistai-Inschrift (IG I3, 369) Jeder, der eine Edition aufschlägt, erwartet, dass ihm ein zuverlässiger edierter Text präsentiert wird, der nach editorischen Richtlinien und dem aktuellen Kenntnisstand über das Dokument1 und seinen Text hergestellt wurde.2 Während es bei gut erhaltenen Inschriften erfahrenen Epigraphikern leichtfällt, eben diese Texte herzustellen, zeigt sich bei stark fragmentarischen Inschriften ein deutlich anderes Bild. Ihren Text wiederzugeben und damit einer breiten Forschungsgemeinschaft zugänglich zu machen, stellt ihren Editor aus mehreren Gründen vor besondere Aufgaben. Dies verdeutlichte bereits Klaffenbach: Die Herstellung zumal fragmentarischer Inschriften verlangt eingehendste Prüfung aller Deutungsmöglichkeiten, ringt um das Verständnis der Einzelheiten, auf daß der Inhalt so sicher wie möglich erschlossen wird, ist also schon Interpretation der ganzen Inschrift.3
Die Interpretation bezieht sich dabei nicht nur auf mögliche Rekonstruktionen von Textverlust, sondern auch Worttrennungen, Akzentuierungen, Groß- und Kleinschreibungen sind durchweg Momente der Interpretation, die in den editorischen Prozess eingehen. Bei allen Rekonstruktionsversuchen steht außer Frage, dass es sich bei dem so entstehenden Text nur um eine Annäherung an den ursprünglichen Dokumenttext handeln kann. Der Inschriftentext wird folglich aufbereitet und, sofern möglich, wiederhergestellt. Im Gegensatz zu gedruckten Texten der Neuzeit finden sich – aus unserer heutigen Sicht – in epigraphischen Texten Besonderheiten: Der Text besteht ausschließlich aus Majuskeln ohne Wortabstände und Interpunktion. 1
2
3
Die Begriffe Dokument und Monument können aus epigraphischer Perspektive synonym verwendet werden. Siehe dazu auch Armin Eich: Editionswissenschaft und antike Epigraphik. In: Ders.: Inschriften edieren und kommentieren. Beiträge zur Editionspraxis, -methodik und -theorie. Berlin 2022 (Beihefte zu editio 50), S. 1–24, S. 3f. Im Sinne Klaffenbachs (Günther Klaffenbach: Griechische Epigraphik. Göttingen 1957, S. 97ff.) ist die Edition gleich dem edierten Text – eine Auslegung, die ein enges Verständnis des Begriffs Edition in sich trägt und die so in der modernen Editionswissenschaft, in der eben nicht mehr ausschließlich der Text im Fokus steht, nicht mehr üblich ist. Siehe dazu auch Michael A. Speidel: Schreibtafeln (tabulae ceratae). In: Eich 2022 (Anm. 1), S. 99–113, S. 99, der diesen Grundsatz erweitert: „Das bedeutet, beschriebene Gegenstände so zu publizieren, dass nicht nur alle relevanten Daten und Metadaten erfasst sind, sondern idealerweise auch, dass Vertreter der Nachbardisziplinen in die Lage versetzt werden, die edierten Quellen für ihre eigenen wissenschaftlichen Forschungen richtig zu verwenden.“ Klaffenbach 1957 (Anm. 2), S. 10.
https://doi.org/10.1515/9783111006147–014
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Gianna Hedderich
Die Aufgabe des Editors soll und muss es daher sein, einen Kompromiss zwischen der Schaffung eines lesbaren Textes und der Beibehaltung der materiell erhaltenen Form des Textes zu finden. Dabei gilt es, nicht nur die typographischen, sondern auch die dialektalen Eigenschaften des Textes abzubilden. Wie sehr soll und darf der Editor also in den Text eingreifen und ihn normalisieren und ergänzen? In einem zweiten Schritt erfolgt daher mit Rücksicht auf die Lesbarkeit seine Darstellung in einem normalisierten Schriftbild, nicht in lückenlos aneinandergereihten Buchstaben, wie sie auf dem Dokument zu sehen sind. Wenn es sich auch bei Inschriften in der Regel nicht um die Originalfassung des Textes handelt, so liegen der Entstehungszeitpunkt der Originalfassung4 und der Entstehungszeitpunkt der Inschrift doch sehr dicht beieinander.5 Daher entstehen Inschriften durch „eine authentische und fast stets gleichzeitige Redaktion des Altertums selbst“6. Es fanden – anders als bei der Überlieferung literarischer Quellen, die im Zuge der Kopiesequenzen mancherlei Einflüssen unterlagen, darunter ,normalisierende‘ Zugriffe durch die Kopisten – keine Anpassungen in der Sprache statt, die Grammatik und der Dialekt entsprechen in der Regel der Sprache der jeweiligen Zeit und des jeweiligen Ortes. Zwischen Originalfassung und inschriftlicher Textfassung ist in aller Regel noch mindestens eine Vorlagenkopie7 anzunehmen, die indes als bloßer Überbringer des Textes vom Verfasser zum Steinmetz bzw. Graveur diente. Die genaue Umsetzung auf dem Stein oblag dabei vermutlich dem Steinmetz; Besonderheiten und Extravaganzen, wie sie in antiken Inschriften nicht selten vorkamen, dürften allerdings in der Regel auf Wünsche der Auftraggeber zurückgehen. Gerade in älteren – bspw. im Corpus Inscriptionum Graecarum (CIG) – und besonders sorgfältigen Editionen finden sich jedoch auch diplomatische Umschriften in litterae lapidariae, um das Experimentieren mit veränderten Worttrennungen, möglichen Wiederherstellungen von Textverlust etc. zu erleichtern. Diese Möglichkeit sollte gerade bei stark fragmentarischen Inschriften immer gegeben sein. Einher mit der Textherstellung geht auch „die Verarbeitung des Textes nach äußeren und inneren Gesichtspunkten in so umfassender Weise wie möglich“.8 Damit gerät also nicht nur der Text ins Visier des Editors, sondern auch der Textträger selbst. Die bereits um 1700 getätigte Forderung des Universalgelehrten Scipione Maffei (1675–1755)9 nach einer Autopsie des zu edie4 5 6 7
8 9
Dabei kann es sich um eine Notiz, einen Vertrag der im Archiv niedergelegt wurde oder Rechnungsbücher etc. handeln. Siehe dazu Louis Robert: E´pigraphie. In: L’histoire et ses me´thodes. Paris 1961, S. 453–497, S. 460. Klaffenbach 1957 (Anm. 2), S. 9. Zur Rolle von Inschriften im Altertum s. Robert 1961 (Anm. 5), S. 455–460. Es ist damit zu rechnen, dass es mehrere Vorlagenstufen gegeben hat, wie die Kopie vom Original und der Entwurf einer Ordination, die als Schablone dienen konnte. Vgl. dazu Eich 2022 (Anm. 1), S. 5f. Klaffenbach 1957 (Anm. 2), S. 10. Vgl. https://www.treccani.it/enciclopedia/scipione-maffei/ (Stand: 18.05.2022).
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renden Steins ist daher immer noch aktuell und wird auch von den führenden Epigraphikern unserer Zeit unterstützt. Vor jeder Edition – unabhängig von der Beschaffenheit und dem (vermuteten) Zustand der jeweiligen Inschrift – sollte daher die Autopsie des Dokuments durch den Editor stehen.10 Nur so gelingt dem Editor ein unverfälschter Blick auf den Ist-Zustand des Dokuments und nur so können Lesungen vorheriger Editoren bestätigt, verworfen oder verbessert werden. Die persönliche Inaugenscheinnahme ermöglicht, das Dokument in seiner Gesamtheit zu erfassen, das Material zu bestimmen und auch eventuelle Beschädigungen einzuordnen sowie gegebenenfalls die Wiederherstellung des Dokuments durch Restaurierungen zu beurteilen. Bei fragmentarischen Inschriften kommen noch weitere Aspekte hinzu: Sind noch alle Fragmente vorhanden? Wurden in der Zwischenzeit weitere Fragmente der Inschrift entdeckt? Erfolgte die Anordnung der Fragmente plausibel? Und wurde das Dokument als Ganzes korrekt wiederhergestellt? Die Aufgabe des Editors sollte es daher sein, das Dokument in seiner Vielschichtigkeit darzustellen und aufzubereiten. Darüber hinaus ist eine Edition auch immer der Versuch, einen Text herzustellen, auf den sich der Benutzer (und auch sein Editor) verlassen kann.11 Der Text erfährt innerhalb des Editionsprozesses zwar eine gewisse Dynamik, wird mit dem Zeitpunkt der Drucklegung aber gewissermaßen eingefroren.12 Besagte Dynamik, die hinter dem edierten Text steht und die den Prozess des Edierens so maßgeblich beeinflusst, kann der Editor mit Hilfe von editionswissenschaftlichen Werkzeugen wie Kommentar oder Apparat aufzeigen. Eine Edition ist somit nicht nur die Repräsentation und Zugänglichmachung eines Textes, sondern auch immer ein Abdruck des Textverständnisses und des Forschungsstandes zum Entstehungszeitpunkt der jeweiligen Edition. Bei fragmentarisch erhaltenen Inschriften ist jedoch nur ein Teil des ursprünglichen Dokuments erhalten. Es muss nicht nur sein Text, sondern auch das Dokument selbst wiederhergestellt werden. Für den Editor ist es in diesem Fall für die Wiederherstellung des Textes zunächst unerheblich, ob die Beschädigungen am Dokument und der daraus resultierende Textverlust bewusst in der Antike – beispielsweise durch Zweitverwendung als Baustoff bereits im Altertum – herbeigeführt wurde oder der Textträger erst in späterer Zeit beschädigt worden ist. Die Umstände, die zur Beschädigung führen können, sind dabei ebenso viel10
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Hier zeigt sich ein deutlicher Unterschied zu epigraphischen Datenbanken, in denen oft der Text anderer Editionen unkorrigiert übernommen wird. Eine Auflistung der gängigen epigraphischen Datenbanken findet sich bei Thorsten Beigel: Epigraphische Datenbanken und digitale Ressourcen. In: Eich 2022 (Anm. 1), S. 199–213. Siehe auch Walter Pohl: Von Nutzen und Methodik des Edierens. In: Britta Merta / Andrea Sommerlechner / Herwig Weigl: Vom Nutzen des Edierens. Akten des internationalen Kongresses zum 150-jährigen Bestehen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Wien, 3. – 5. Juni 2004, Wien / München 2005, S. 349–354, S. 352. Eine Ausnahme bilden digitale Editionen, sofern sie einer ständigen Überarbeitung unterliegen.
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schichtig wie die Möglichkeiten, die eine Überlieferung zulassen. Als Beispiele sind u. a. Steinraub, Erdbeben, Verfall oder auch Beschädigung durch moderne landwirtschaftliche Geräte zu nennen. Nicht unerheblich ist die Beschaffenheit des Dokuments jedoch für die Frage, bis wann sein Text für die Zeitgenossen Gültigkeit besaß, wann also diese endete und die Überlieferung begann. Für die Wahrnehmung der Zeitgenossen13 und auch unser heutiges Verständnis war und ist es von Belang, auf welchem Textträger die Inschrift überliefert ist. Ist es eine Marmorstele, ein durch ein Graffito beschriebener Untergrund oder ein Bleitäfelchen? Wie hat sich das Dokument von seiner Entstehungszeit bis in unsere heutige Zeit verändert und wie hat sich damit auch die Wahrnehmung der Rezipienten verändert? Auch stehen Inschriften, seien es Kleininschriften oder Monumentalinschriften, nie für sich allein, sondern stets in ihrer epigraphischen Landschaft, die der antike Betrachter in seinem zeitgenössischen Kontext als Teil eines Ganzen wahrgenommen hat. Sie wirkten auf den antiken Rezipienten durch ihr Umfeld, ihren Aufstellungsort und – sofern vorhanden – ihr Ensemble, in dem sie aufgestellt worden waren. Das physische Erscheinungsbild eines Dokuments heute und auch vormals muss daher ganz selbstverständlich in der editorischen Praxis Berücksichtigung finden.14 Am Beispiel von IG I3, 369, einer stark fragmentarischen Inschrift, soll auf den folgenden Seiten dargestellt werden, vor welche Herausforderungen fragmentarische Inschriften ihren Editor stellen und wie diese erfolgreich in Printeditionen bearbeitet werden können. Da im Vordergrund jeder Edition immer das zu edierende Dokument stehen sollte, wird im Folgenden nicht nur durch einen Werkstattbericht ein Einblick in meine Edition gegeben, sondern zunächst das Dokument selbst und seine Editionsgeschichte näher betrachtet.
1. Die logistai-Inschrift Die sogenannte logistai-Inschrift dokumentiert die Zahlungen aus den athenischen Tempelkassen an die polis Athen zu Zeiten des Peloponnesischen Krieges, genauer zwischen den Jahren 426–422 v. Chr. Der epigraphisch publizierte Text stellte einen Auszug aus den umfangreicheren Unterlagen dar, die als Papyrustexte im Archiv der Stadt aufbewahrt wurden. Es handelt sich also um den öffentlich gemachten Teil einer ausführlichen Buchhaltung. Abgebildet war der Kreditvergabezeitpunkt, die kreditgebende Gottheit, die Kredit- sowie die Zinshöhe und in einigen Fällen auch der Verwendungszweck des Kredites. Zwischen 13
14
Vgl. die Ausführungen in: Werner Eck / Peter Funke: Öffentlichkeit – Monument – Text: XIV Congressus Internationalis Epigraphiae Graecae et Latinae, 27. – 31. August 2012. Berlin u. a. 2014. Beispielhaft sei erwähnt, dass der Grad der öffentlichen Wirkungsintention unter anderem an Buchstabenformen und -größen, Materialwahl sowie Anbringungstyp und -ort ablesbar ist. Wilhelm Larfeld: Handbuch der griechischen Epigraphik. Leipzig 1907, S. 3. Larfeld ging davon aus, dass es nicht die Materialität oder die äußere Beschaffenheit ist, die die Epigraphik als eigene Wissenschaft rechtfertigt.
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der Anfertigung der Abrechnung der athenischen Tempelkassen zu Zeiten des Peloponnesischen Krieges und ihrer editio princeps im Jahr 1842 liegen nicht nur 2000 Jahre, sondern auch zahlreiche Events, die der Inschrift im Laufe der Jahrtausende zugestoßen sind. Ihr Erscheinungsbild unterscheidet sich damit deutlich von dem, mit dem sie sich zeitgenössischen Rezipienten gezeigt hat. Während die vermutlich knapp 1,40 m hohe Stele ursprünglich wohl als Teil eines größeren Kompositums auf der Akropolis in Athen stand und dank ihrer sauber gemeißelten Buchstaben mit Farbverfüllung gut lesbar die Kredithöhen samt fälliger Zinsen für die Kriegsausgaben dokumentierte, ist dies nun nicht mehr der Fall. Während im 19. Jahrhundert noch 16 Fragmente der Stele vorlagen, konnten bei ihrer Restaurierung nur 15 Fragmente berücksichtigt werden. Im Zuge der Restaurierung wurde die Stele unter Beachtung des edierten Textes wieder zusammengesetzt und ihre Leerräume verfüllt. Auf den folgenden Seiten soll anhand der sogenannten logistai-Inschrift15 verdeutlicht werden, welche Reproduktionsmöglichkeiten für fragmentarische Inschriftentextes möglich sind.16 Zur besseren Orientierung erfolgte eine Neubeschriftung der einzelnen Fragmente, die nun auf ihrer Anordnung, nicht auf ihrer Fundhistorie begründet ist. Nicht mehr erhalten ist nach dieser neuen Beschriftung Fragment o. a=a b=b c=c d=I e=l f=o g=m h=n
i=d j=k k=f l=p m=e n=g o=h
2. Editionsgeschichte Die Editions- und Fundgeschichte der Inschrift über die Abrechnung aus den Tempelkassen begann Mitte des 19. Jahrhunderts. Fragment a wurde bei Ausgrabungen am Erechtheion im Jahr 1837 gefunden, zwei Jahre später wurde dort ebenfalls Fragment b entdeckt. Erste Behandlung erfuhren die beiden Fragmente durch Alexandros Rangabe´ im Jahr 1842, der die Fragmente a und b gemeinsam unter den Nummern 116 und 117 seines Repertoires von epigraphischen Neufunden edierte.17 Zunächst erfolgte ein Abdruck einer diplomatischen Umschrift 15 16 17
IG I3, 369. Die Editionsbeispiele wurden entnommen aus: Gianna Hedderich: Urkunden zum Zinswesen im griechischen Kulturraum des 6.–4. Jh. v. Chr. Wuppertal 2023, Bd. 2, Nr. 2. Alexandros R. Rangabe´: Antiquite´s helle´niques ou repertoire d’inscriptions et d’autres antiquite´s. De´couvertes depuis l’affranchissement de la Gre`ce. Athe`nes 1842, Nr. 116, 117.
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der beiden Fragmente, dann wurde der edierte Text sowie eine französische Übersetzung und eine ausführliche Kommentierung abgebildet. Anders als bei den großen deutschen Standard-Editionen ist die Kommentierungssprache Französisch und nicht Latein. August Boeckh widmete sich ebenfalls den Abrechnungen aus der Zeit des Peloponnesischen Krieges. Im Anhang zu seinem 1846 abgefassten Aufsatz18 findet sich eine ergänzte diplomatische Umschrift19 der Fragmente a und b, die mit Zeile 48 endet.20 Gleiches gilt für seinen edierten Text, der auf der ergänzten diplomatischen Umschrift basiert.21 Bis zur Aufnahme der Fragmente ins Corpus Inscriptionum Atticarum (CIA) im Jahr 1873 kamen noch die Fragmente c, f, k, m, n und o hinzu, die vor der Aufnahme bereits Behandlungen durch unterschiedliche Editoren erfuhren.22 Im CIA wurden die Fragmente schließlich als diplomatische Umschrift angeordnet abgedruckt.23 Unterhalb der Umschrift findet sich ein Apparat mit alternativen Lesungen der Fragmente. Einen eigenständig konstituierten Text liefert diese Edition nicht, vielmehr erfolgt die Darstellung des edierten Textes in Abschnitten innerhalb des Kommentars. Während Ausgrabungen am Erechtheion durch die American School of Classical Studies im Jahre 1914 wurden weitere Fragmente von der Abrechnung aus den Tempelkassen gefunden, die durch den Archäologen Bert Hill transkribiert und in Kopie an Hiller von Gaertringen geschickt wurden, der die Fragmente d, e, f, g, h (i, k, l, m und n nach alter Nummerierung) gemeinsam mit den bekannten Fragmenten a, b, c, i, j, k, l, m (a, b, c, d, e, f, g und h) in den Inscriptiones Graecae (IG) veröffentlichte.24 Die Darstellung in den IG unterscheidet sich deutlich von ihren Vorgängern, im Fokus stehen nun nicht mehr die Fragmente, sondern der edierte Text sowie eine kurze Kommentierung, die sich auch tabellarisch den einzelnen Abrechnungszeiträumen widmet. Eine Transkription der einzelnen Fragmente erfolgt nicht. Einzig durch das Einfügen von seitlichen Buchstaben werden die einzelnen Fragmente markiert. Ein weiteres Fragment (o) fand unter der Nummer IG I2, 306 Eingang in die Inscriptiones Graecae.
18 19
20 21 22 23 24
August Boeckh: Ueber zwei attische Rechnungsurkunden. A. 1846, in: Ferdinand Ascherson: August Boeckh’s gesammelte kleine Schriften, Bd. 7: Kritiken. Leipzig 1872, S. 72–138. Wenn hier und im Folgenden von einer diplomatischen Umschrift gesprochen wird, so kann dies nicht im strengen editionswissenschaftlichen Sinne geschehen. Gemeint ist hier eine positionsgetreue Anordnung der Buchstaben. Sollten einzelne Buchstaben nicht mehr vollständig erhalten, aber sicher zu rekonstruieren sein, so werden diese auch in Gänze und nicht bloß fragmentarisch abgedruckt. Boeckh 1846 (Anm. 18), Tafel IV, Anlage B. Boeckh 1846 (Anm. 18), Tafel V, Anlage C. Eine vollständige Aufzeichnung findet sich bei Hedderich 2023 (Anm. 16), Nr. 2. CIA 273. IG I2, 324.
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Abb. 1: Entnommen aus Meritt 1928 (Anm. 25), S. 6.
Eine ausführliche Bearbeitung der Inschrift erfolgte im Jahr 1928 durch Benjamin Dean Meritt.25 Dabei legt er seinen Fokus zwar in seinem ersten Teil auf die 1914 ausgegraben Fragmente, liefert durch seine Beilage jedoch auch eine rekonstruierte Umschrift der gesamten Inschrift. Ein deutlicher Unterschied zwischen Meritts Edition und seinen Vorgängern liegt in der akribischen Dokumentation der neu gefunden Fragmente, die jeweils mit eigenen sehr scharfen Photographien abgedruckt sind. Zu bemängeln ist in dieser Darstellung jedoch, dass 25
Benjamin D. Meritt: The Athenian Calendar in the Fifth Century. Cambridge, Massachusetts 1928.
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zwar jeder Photographie ein edierter Text vorausgeht, dieser aber nicht in unmittelbarer Nähe zu der Photographie abgedruckt wurde. So findet sich oberhalb von Photographie I der Text zu Photographie II (Abb. 1). Zwar beschriftet Meritt sowohl Umschrift als auch Photographie, erleichtert aber durch notwendiges Umblättern nicht die Benutzung bzw. die einfache Kontrolle des angefertigten edierten Textes.
Abb. 2: Entnommen aus Meritt 1928 (Anm. 25), Plate 1.
Eine Umschrift oder ein edierter Text zu Fragment k (Photographie V) fehlt überdies ganz. Wie hilfreich der aufeinander folgende Abdruck von ediertem Text und Photographie sein kann, zeigt sich eindrücklich an Photographie VI, neben der sich direkt der edierte Text befindet. Neben der Kommentierung und der chronologischen Einordnung der einzelnen Zahlungen aus den Tempelkassen bereichert Meritts Edition besonders durch ihre unter „Plate I“26 mitgelieferte Anlage (Abb. 2), die die rekonstruierte Abbildung Boeckhs um ein Vielfaches übertrifft. Während Boeckh nur durch unterschiedliche Grauschattierungen zwischen Fragment und Ergänzung unterschied,27 verdeutlicht Meritt den Übergang zwischen Fragment und Ergänzung nicht nur durch die Druckfarben Schwarz und Rot, sondern zeichnet auch die Umrisse der Fragmente nach, wobei er sich durch die Verwendung von Schattierungen am Dokument selbst orientiert. Diese Darstellung ist auch heute noch – obwohl die Inschrift nun restauriert als eine zusammengefügte Stele im epigraphischen Museum in Athen zu betrachten ist – äußerst wertvoll. Denn durch die Schattierung wird deutlich, welche Buchstaben durch Abnutzung unwiederbringlich verloren sind und bei welchen Teilen der Inschrift noch Hoffnung auf die Auffindung weiterer Fragmente besteht, wie es seit der ersten Publikation Meritts auch geschehen ist. So konnte Fragment i (nach Meritts Zählung d) durch 26 27
Siehe die am Ende des Buches beigegebene Falttafel, die sich auf die Maße 55×26,5cm ausklappen lässt. Boeckh 1846 (Anm. 18), Tafel IV, Anlage B.
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ein weiteres kleines Fragment ergänzt werden (Abb. 3). Zusätzlich ergänzt Meritt seine Darstellung um einen Zeilenzähler, wodurch eine leichte Orientierung innerhalb des Inschriftentextes gegeben ist. Die Buchstaben am Rand bezeichnen die einzelnen Fragmente, deren Nummerierung auf die Fundchronologie zurückzuführen ist und den Benutzer zum Suchen und Sortieren einlädt.
Abb. 3: Fragment i samt Ergänzung des neuen Fragments (Foto: G. Hedderich).
Die 1981 erschienene Überarbeitung der IG I druckte ebenso wie ihre Vorgänger einen edierten Text mit Vermerk der Fragmente am Rande des Textes ab.28 Zusätzlich bietet sie eine Kommentierung samt tabellarischer Darstellung der Kredit- und Zinssummen und ihrer Zahlungsdaten. Hier steht also nicht die Textkonstitution, sondern der rekonstruierte Text im Fokus, der als lesbare und zuverlässige Version dem Benutzer zugänglich gemacht wird. Wichtiger als die Vermittlung eines authentischen Text- und Dokumenteindrucks wird daher die Transparenz des buchhalterischen Narrativs angesehen, wie auch in der neuesten kommentierten Edition von Osborne und Rhodes sichtbar wird.29 Anhand der Editionsgeschichte der Inschrift wurde deutlich, dass die Darstellungsmöglichkeiten auch immer vom Publikationsorgan abhängen: Eine Corpusedition kann sich nicht so detailliert der Darstellung des Dokument(texte)s widmen, wie es ein Aufsatz oder eine Einzelpublikation realisieren kann. Bei allen Darstellungsmethoden sollte jedoch nie das eigentliche Ziel einer Edition aus den Augen verloren werden: die Herstellung eines zuverlässigen Textes. 28 29
IG I3, 369. Robin Osborne / P. J. Rhodes: Greek Historical Inscriptions 478–404 BC. Oxford 2017, Nr. 160.
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Abb. 4: Fotografie der Inschrift im Epigraphischen Museum Athen mit Beschriftung der einzelnen Fragmente. Abbildung entnommen aus Hedderich 2023 (Anm. 16).
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Abb. 5: Ergänzte diplomatische Umschrift der oberen Hälfte der Stele mit Verweis auf die einzelnen Fragmente, Abbildung entnommen aus Hedderich 2023 (Anm. 16).
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3. Werkstattbericht Im Frühjahr 2018 konnte ich im Epigraphischen Museum Athen die Autopsie an der restaurierten Stele der logistai-Inschrift (EM6741) vornehmen (Abb. 4). Die einzelnen Fragmente sind nun wieder zu einer Stele zusammengesetzt und ihre Zwischenräume verfüllt, die Rekonstruktion hat eine Höhe von 136 cm, eine Länge von 56 cm und eine Breite von 16 cm. Am Dokument selbst ist die Rekonstruktion folglich anhand des aktuellen Wissensstandes über die einzelnen Fragmente abgeschlossen. Die Anordnung ist im ganz wörtlichen Sinne in Zement gegossen, Änderungen können seit diesem Zeitpunkt nicht mehr vorgenommen werden. Während die Leerstellen zwischen den einzelnen Fragmenten und dem Fuß der Inschrift verfüllt wurden, gilt dies nicht für die obere linke Ecke, an der die Bruchkante von Fragment a deutlich zu sehen geblieben ist. Die Verfüllung lässt die Fragmentränder frei, sodass die Bruchkanten fühl- und sichtbar sind und es zu keinem Buchstabenverlust durch das Verfüllmaterial an den Rändern kommt. Wie bereits erwähnt, konnte Fragment o bei der Restaurierung nicht berücksichtigt werden; zur Veranschaulichung wurde sein Platz jedoch ebenfalls auf der Abbildung der Stele markiert. Zu kritisieren an der restaurierten Stele ist, dass sie suggeriert, sie entspräche den tatsächlichen Maßen der Stele. Dies ist jedoch nicht der Fall, wie im Vergleich zwischen Stele und rekonstruiertem bzw. ediertem Text deutlich wird. Bei jedem Zeilenanfang und -ende ist Textverlust zu verzeichnen, idealerweise müsste ein weiterer Streifen Füllmaterial angebracht werden, um dem Betrachter so die tatsächlichen Ausmaße der Stele vor Augen zu führen. Das Gefühl wird durch die relativ geraden Bruchkanten der außenliegenden Fragmente verstärkt. Unter Berücksichtigung des ergänzten Textes – dessen Ergänzung inhaltlich zwingend notwendig und auch nicht anzuzweifeln ist – muss folglich auch die Abmessung der rekonstruierten Stele in ihrer Breite angepasst werden, und zwar um die Breite von mindestens 15 Buchstaben. Im oberen Bereich der Stele ist dagegen nicht mit Verlust zu rechnen, dies liegt zum einen im Text, der mit der ersten erhaltenen Zeile beginnt, und zum anderen in den sehr geraden oberen Kanten der Fragmente a und b begründet. Auch die letzte erhaltene Zeile vermittelt inhaltlich mit der Anführung der Zinsen für die vergangenen elf Jahre einen guten Abschluss und lässt die Annahme zu, dass hier keine weiteren Zeilen Text, sondern höchstens eine, angeschlossen waren. Ob unterhalb der letzten Textzeile noch Leerraum vorhanden war, wie es bei Inschriften durchaus vorkommen kann, ist nicht mit Sicherheit auszuschließen. In Anlehnung an Boeckh und Meritt habe auch ich mich entschlossen, eine ergänzte diplomatische Umschrift anzufertigen (Abb. 5). Da sich die einzelnen Fragmente farblich gut voneinander abheben und die restaurierte Inschrift ebenfalls durch ein Digitalisat repräsentiert wird, habe ich mich gegen eine Umzeichnung der Fragmente entschieden. Stattdessen wird jedes Fragment zusätzlich mit
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seiner Nummerierung beschriftet, sodass eine leichte Orientierung innerhalb der Umschrift erfolgen kann. In diese Darstellung ebenfalls aufgenommen habe ich das verschollene Fragment o, das natürlich auf dem Digitalisat nicht abgebildet werden konnte. Auf der ergänzten diplomatischen Umschrift wird es jedoch abgebildet. Zusätzlich erfolgt eine Anordnung im sogenannten Stoichedon, einer Anordnung der Buchstaben sowohl in senkrechten als auch in waagerechten Reihen. Für den Benutzer hat diese Reihung gerade bei Inschriften mit Textverlust einen enormen Mehrwert, da so zumindest (in den meisten Fällen) eine Rekonstruktion der Buchstabenanzahl pro Zeile erfolgen kann.
Abb. 6: Fragment h mit Umschrift, Abbildung entnommen aus Hedderich 2023 (Anm. 16).
Die ergänzte diplomatische Umschrift basiert auf mehreren Arbeitsschritten, die in meiner Edition auch dokumentiert sind, was dem Benutzer eine kleinschrittige Kontrolle meiner editorischen Tätigkeit ermöglicht. Zunächst erfolgte daher die Transkription und Darstellung in einer diplomatischen Umschrift mit Paralleldruck des entsprechenden Fragments (Abb. 6). Buchstaben, die nicht mehr vollständig erhalten, aber sicher zu rekonstruieren sind, werden analog zum Leidener Klammersystem30 sowohl in der Transkription als auch in der ergänzten diplomatischen Umschrift und natürlich auch im edierten Text unterpunktet. Zu kritisieren an meiner gewählten Darstellung ist sicherlich, dass ich mit dieser Methode den Inschriftentext doch eigentlich auf vier verschiedene Weisen abbilde. Dies würde ich jedoch mehr als Zugewinn denn als Monendum empfinden, da es sich im engen Sinne zwar um einen Text, aber um unterschiedliche Rekonstruktionsstufen handelt. Die Transkription führt zur ergänzten diplomatischen Umschrift und diese wiederum zum edierten Text. Eine Ausnahme bilden die abgedruckten Digitalisate, die mehrere Aufgaben erfüllen sollen. Zum einen fängt das Digitalisat der gesamten Stele den Ist-Zustand des Dokuments im Jahr 2018 ein, zum anderen dient es zur Orientierung, da es die Anordnung der einzelnen Fragmente erkennen lässt. Eine Kontrolle meiner Lesungen ist dagegen aufgrund des gewählten Maßstabes im Druckmedium nicht möglich. Diese Aufgabe übernehmen die Digitalisate der einzelnen Fragmente jedoch auch nicht 30
Sterling Dow: Convention in Editing. London 1969, Cap. II.
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im vollen Umfang, da gerade die Randbuchstaben der Fragmente auf dem Textträger zwar noch fühlbar, selbst mit hohem technischem Aufwand aber nicht mehr richtig auf dem Digitalisat sichtbar zu machen sind. Folglich gilt an dieser Stelle immer noch die Aussage des Epigraphikers Hiller von Gaertringen, dass trotz der potenziellen Fehleranfälligkeit einer zeichnerischen Rekonstruktion wegen ihrer größeren Genauigkeit und ihres Visualisierungspotenzials häufig der Vorzug zu geben sei.31 Wegen der unbestreitbaren Gefahr, dass so eine Sicherheit der Lesungen suggeriert wird, die nicht sachadäquat ist, habe ich mich für einen Paralleldruck der Transkription und des Digitalisats entschieden sowie für die Verwendung von diakritischen Zeichen zur Markierung von nicht sicheren Lesungen. Mein edierter Text dagegen löst sich nicht nur durch das normalisierte Schriftbild, die Interpunktion und Rekonstruktion des verlorenen Textes vom Dokumenttext, sondern auch durch die Aufgabe des Zeilenverlaufs und den Wegfall der Fragmentmarkierung. Damit unterscheidet sich mein edierter Text auch von den vorangegangenen Editionen, da in dem letzten Bearbeitungsschritt des griechischen Textes der Fokus auf die inhaltliche Strukturierung gelegt worden ist. Absätze und Seitenumbrüche im edierten Text sind entsprechend der inhaltlichen Struktur des Textes gewählt worden. Parallel dazu abgedruckt wurde die vielleicht als fünfte Variation des Textes zu bezeichnende Übersetzung ins Deutsche. Würde nur der edierte Text alleine betrachtet werden, so wäre es dem Benutzer nicht möglich zu entscheiden, auf welcher Basis der Textverlust entstanden ist. Noch weniger deutlich wäre die fragmentarische Beschaffenheit bei alleiniger Betrachtung der Übersetzung. Zwar würde der Leser hier feststellen, dass diese zerstückelt und in nicht angemessenem Deutsch verfasst ist, aber was bereits am Text ergänzt ist und welche Buchstaben und Wörter noch auf der Stele zu lesen sind, erführe er nicht. Einen Versuch, eben dies auch in der deutschen Übersetzung zu gewährleisten, haben Brodersen, Günther und Schmitt mit ihren Übersetzungen in der Studienausgabe Historische griechische Inschriften in Übersetzung gemacht.32 Das Besondere an dieser Ausgabe ist die Darstellung der Übersetzung, die nicht nur den Inhalt des edierten griechischen Textes zu transportieren versucht, sondern auch die Eingriffe des Editors berücksichtigt. Dabei bedienen sich die Autoren der üblichen Konventionen, indem sie die Diakritika des Leidener Klammersystems auch auf die Übersetzung anwenden. In der Übersetzung wird Textverlust ebenfalls durch eckige Klammern angegeben, in denen entweder die Anzahl der entfallenen Buchstaben im griechischen Text vermerkt ist oder die Übersetzung der Ergänzung. Bereits an diesem Beispiel werden die Grenzen dieser Methode deutlich. Es findet eine deutliche Ver31 32
Friedrich Hiller von Gaertringen: Rezension zu: Tituli Asiae minoris. Vol. I. Tituli Lyciae lingua Lycia conscripti. In: Berliner Philologische Wochenschriften 21 (1901), Sp. 812–820, Sp. 816. Kai Brodersen / Wolfgang Günther / Hatto H. Schmitt: Historische griechische Inschriften in Übersetzung. Darmstadt 2011, Nr. 112.
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mischung des edierten Textes mit dem Text der Übersetzung statt. In meiner Edition ist dagegen für ein tieferes Verständnis der Übersetzung zumindest immer der edierte Text, wenn nicht sogar die ganze Edition vonnöten. Die Übersetzung dient in dieser Gebrauchsweise dem Nachweis, dass der rekonstruierte Text historisch, logisch und sprachlich sinnvoll ist. Bei welcher Darstellungsmethode nun die Vorteile überwiegen, liegt im Auge des Betrachters und richtet sich nach seinen Fragen an den Text.
4. Fazit Welche Rückschlüsse lassen sich nun anhand der Editionsgeschichte der logistai-Inschrift mit Bezug auf die Edition fragmentarischer Inschriften ziehen? Grundsätzlich ist zunächst festzuhalten, dass gerade Editionen fragmentarischer Inschriften einem vom Fundgeschehen abhängigen Wandel unterworfen sind und einer Aktualisierung bei Auffindung weiterer Fragmente bedürfen. Anders als bei Inschriften, deren Textverlust auf einem intakten Textträger durch Verwitterung, Abrieb oder Ähnliches entstanden ist, besteht hier die Hoffnung, dass weitere Textfragmente auftauchen, die den edierten Text bestätigen, ergänzen oder auch widerlegen. Wie die logistai-Inschrift noch einmal vor Augen führt, spielt jedoch auch die Anordnung der bereits bekannten Fragmente eine wichtige Rolle für die Rekonstruktionsgeschichte der Inschrift: Jedenfalls sollte die Komposition der Bruchstücke zu einem Ganzen ein für die Leser transparenter Vorgang sein. Eine Edition fragmentarischer Inschriften kann schneller veraltet sein als andere Editionen und sollte daher dynamischer angelegt sein. Auch sollte in einer Edition immer der fragmentarische Charakter der Inschrift und eine Unterscheidung zu anderen Textverlusten deutlich gemacht werden. Dies kann entweder in einer ausführlichen Dokumentbeschreibung oder durch ein Digitalisat des Dokuments geschehen. Rein im edierten Text kann die Ursache des Textverlustes nicht verdeutlicht werden. Als geeignetes Darstellungsmittel bietet sich seit fast zwei Jahrhunderten eine ergänzte diplomatische Umschrift an, da diese zum einen den aktuellen Forschungsstand der Ergänzungen abbildet, zum anderen aber auch die Fragmente für sich darstellt und dem Benutzer so die Möglichkeit verschafft, diese für sich zu betrachten. Außerdem lassen sich Funde neuer Fragmente mit dieser Darstellung gut vergleichen und deren eventuelle Zugehörigkeit klären.
Die Autor*innen der Beiträge
Jessica Bauer M. A. arbeitet derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet der Neueren deutschen Literaturwissenschaft an der Universität Kassel. Im Rahmen ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit der Narratologie von Konflikterzählungen in Sebastian Francks »Chronica, Zey¨tbuo ch und geschy¨chtbibel« (1531/36). Ihre Forschungsinteressen sind weiterhin Zensurthematiken und die deutschsprachige Science-Fiction-Literatur. Univ.-Prof. Dr. Anke Bosse, Professorin für Neuere deutschsprachige Literatur und Direktorin des Musil-Instituts für Literaturforschung / Kärntner Literaturarchivs an der Universität Klagenfurt (Österreich). Schwerpunkte: Editionsphilologie, ,critique ge´ne´tique‘ / Schreibprozessforschung, Medialität / Materialität der Literatur, Intertextualität, Intermedialität, Interkulturalität, Digital Humanities, Literatur der Goethezeit und Literatur des 20./21. Jahrhunderts. Mag. Dr. Vanessa Hannesschläger hat Literaturwissenschaft studiert. Sie verfasste ihre Dissertation zu Fremdsprachen in den Bühnentexten Peter Handkes an der Universität Wien, wo sie im Digital Humanities Masterstudiengang unterrichtet. Sie hat am Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage der Österreichischen Akademie der Wissenschaften am Aufbau der Europäischen Forschungsinfrastrukturkonsortien CLARIN und DARIAH mitgearbeitet, sowie für das Deutsche Literaturarchiv Marbach am Projekt „Peter Handke Notizbücher. Digitale Edition“, und leitet heute die Abteilung für Europäische Projekte des Ars Electronica Festivals. Gianna Hedderich M. A. studierte Geschichte sowie Editions- und Dokumentwissenschaften in Wuppertal und wurde mit einer Arbeit zum griechischen Zinswesen promoviert. Seit 2021 arbeitet sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Mentoring Geschichte an der Bergischen Universität Wuppertal. Neben der griechischen Epigraphik und Wirtschaftsgeschichte gilt ihr besonderes Interesse derzeit der Erschließung des Nachlasses von Wilhelm Dörpfeld, zu dem sie bereits erste Arbeiten vorgelegt hat. https://doi.org/10.1515/9783111006147–015
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Die Autor*innen der Beiträge
Dr. Sarah Hutterer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Lyrik des deutschen Mittelalters: Eine elektronische Edition des Minnesang“ an der Universität Stuttgart. Sie studierte Deutsche und Klassische Philologie in Wien und promovierte dort 2022 über modulare Textpraktiken in der spätmittelalterlichen Schriftlichkeit anhand der „Konstanzer Weltchronik“. Ihre Forschungsinteressen sind Theorie und Geschichte der Überlieferung, Formen mittelalterlicher Textualität, Latein und Volkssprache, Lyrik des Hoch- und Spätmittelalters sowie Editionsphilologie und Textkritik. Shiamin Kwa Ph. D. is a translator and writer based in Philadelphia. She is associate professor at Bryn Mawr College where she co-chairs the Bryn Mawr and Haverford (BiCo) East Asian Languages and Cultures Department and co-directs the BiCo Program in Comparative Literature. She is the author of „Perfect Copies: Reproduction and the Contemporary Comic“ (Rutgers, 2023) and „Regarding Frames: Thinking with Comics in the Twenty-First Century“ (RIT Press, 2020). Dr. Anne Lorenz arbeitet derzeit im Forschungsprojekt „DER STURM. Digitale Quellenedition zur Geschichte der internationalen Avantgarde“ an der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Nach ihrer Promotion zum Thema Redefreiheit war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Editionsprojekt „Vernetzte Korrespondenzen“ am Deutschen Literaturarchiv Marbach tätig. Ihre Forschungsinteressen sind Briefnetzwerke des 20. Jahrhunderts, künstlerische Avantgarden, Exilliteratur und Digitale Editionen. Dr. Frederike Neuber, Studium der Italianistik, Geschichte, Kunstgeschichte und Editionswissenschaften in Berlin und Rom, Promotion in Digital Humanities in Graz und Köln. Mitherausgeberin der digitalen Jean Paul Briefedition an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften; zudem Koordinatorin für den Bereich Digital Humanities bei TELOTA (The Electronic Life of The Academy). Mitglied im Institut für Dokumentologie und Editorik und Managing Editor der Rezensionszeitschrift RIDE (A review journal for digital editions and resources). Dr. Esbjörn Nyström (geb. 1973) studierte Germanistik sowie Allgemeine und schwedische Literaturwissenschaft in Umea˚ und Karlsruhe. Seine Promotion erfolgte 2004 an der Universität Göteborg mit einer Dissertation zur Textgeschichte von Brechts und Weills „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“. Er war von 2011 bis 2014 an der Universität Stockholm mit einem vom schwedischen Forschungsrat finanzierten Projekt zur Editionstheorie des Opernlibrettos beschäftigt. Davor und auch danach war er insgesamt sechs Jahre als Lektor für schwedische Philologie an der Universität Tartu (Estland) tätig. Von 2018 bis 2019 lehrte er Germanistik an der Universität Göteborg. Er veröffentlichte Aufsätze
Die Autor*innen der Beiträge
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u. a. zur Editionstheorie des Opernlibrettos und zur Narratologie des Filmskripts sowie zu Goethe, R. Wagner, Lagerlöf, Brecht, Nelly Sachs und Felicitas Hoppe. Dr. Cord Pagenstecher, Historiker an der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin, Bereich Digitale Interview-Sammlungen. Aufbau und Kuratierung von Oral History-Archiven wie „Zwangsarbeit 1939–1945“ oder „Colonia Dignidad“. Leitung des Interviewportals „Oral-History.Digital“ (https://www. oral-history.digital/). Vorher Tätigkeiten bei der Berliner Geschichtswerkstatt und der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Veröffentlichungen zur Oral und Visual History, NS-Zwangsarbeit sowie Migrations- und Tourismusgeschichte (www.cord-pagenstecher.de). John Rodzvilla M. L. S. is an Assistant Professor in Digital Publishing at Emerson College. He was the editor of some of the earliest collections of work about weblogs. Prof. Dr. Patrick Sahle ist Professor für Digital Humanities am Historischen Seminar der Bergischen Universität Wuppertal. Nach einem Studium der Geschichte, Philosophie und Politik und einer Promotion zu „Digitalen Editionsformen“ im Fach Historisch-Kulturwissenschaftlicher Informationsverarbeitung an der Universität zu Köln hatte er dort das Cologne Center for eHumanities (CCeH) und das Data Center for the Humanities (DCH) mitaufgebaut und geleitet. Er kümmerte sich dabei auch um die Digitalisierung der Langzeitvorhaben der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Seit 2019 bringt er seine vielfältigen Aktivitäten in den Bereichen Digitalisierung, Erschließung und Edition an der Bergischen Universität Wuppertal ein. Dort ist er unter anderem am Masterstudiengang Editions- und Dokumentwissenschaft (EDW) beteiligt. Als DH-Partner trägt er auch das Projekt „Niklas Luhmann – Theorie als Passion“ (2014–2030) der Universität Bielefeld mit. Dipl.-Soz. Johannes F. K. Schmidt, Universität Bielefeld, Fakultät für Soziologie, Niklas-Luhmann-Archiv. Studium der Soziologie in München und Bielefeld; 1996–2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld bzw. wissenschaftlicher Assistent am Soziologischen Seminar der Universität Luzern; seit 2015 wissenschaftlicher Koordinator des Akademieprojekts „Niklas Luhmann – Theorie als Passion. Wissenschaftliche Erschließung und Edition des Nachlasses“ (https://niklas-luhmann-archiv.de) an der Universität Bielefeld. Diverse Publikationen und Herausgaben: https://pub. uni-bielefeld.de/person/25653450. Niklas Sommer M. A., Doktorand der Philosophie an der Friedrich-SchillerUniversität Jena mit einer Arbeit zu Schillers philosophischem Schaffen der
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Die Autor*innen der Beiträge
1790er Jahre; außerdem wissenschaftlicher Mitarbeiter im von der ThyssenStiftung geförderten Editionsprojekt „Schillers Kant-Studien“ am Lehrstuhl für praktische Philosophie (Prof. Dr. Esser) der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Zuvor Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes. Lehrbeauftragter an den Universitäten Jena und Marburg. Publikationen (Auswahl): „Exzerpt aus ,Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft‘ aus dem SchillerNachlass“, in: „Deutsche Zeitschrift für Philosophie“ (im Erscheinen); „Der Satz der Identität. Ein Gespräch zwischen Schiller und Schelling, das nicht stattfand“, in: Lo Sguardo (2020); „Der physiologische Idealismus – die Apologie der Farbenlehre“, in: Daniel Schubbe, Søren R. Fauth (Hrsg.): „Schopenhauer und Goethe“ (2016).
Register der Autor*innen und Werke
Apollinaire, Guillaume (1880–1918) 209 Äsop (6. Jh. v. Chr.) 193 Balla, Giacomo (1871–1958) 202 – Dinamismo di un cane al guinzaglio 202 – Velocita` d’Automobile + Luce + Rumore 202 Bergson, Henri (1859–1941) 201 Berners-Lee, Tim (*1955) 55 Bernhard, Thomas (1931–1989) 28, 30 – In hora mortis 28 Bibel 48, 55, 188, 195 Buch der Könige Bibel Boccioni, Umberto (1882–1916) 202, 210, 212 – Die Aussteller an das Publikum 210 – La citta` che sale 202 – Technisches Manifest der futuristischen Malerei 202 Büchner, Georg (1813–1837) 16 – Woyzeck 16 Carra`, Carlo Dalmazzo (1881–1966) 202 – Il Funerale dell’anarchico Galli 202 Delaunay, Robert Victor Fe´lix (1885–1941) 209 Döblin, Alfred (1878–1957) 205, 210 Erasmus von Rotterdam (1466–1536) 192–194 – Adagia 193–194 Escher, Alfred (1819–1882) 74 Fellinger, Raimund (1951–2020) 28 Fichte, Johann Gottlieb (1762–1814) 137 – Wissenschaftslehre nova methodo 137 Flavius Josephus Josephus, Flavius Franck, Sebastian (1499–1542) 181–198 – Chronica, Zey¨tbuoch und geschy¨chtbibel 181–183, 185–187, 191, 194–198 https://doi.org/10.1515/9783111006147–016
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Register der Autor*innen und Werke
Garfinkel, Harold (1917–2011) 122–124, 127, 130–132 – Occasion Maps 123–125, 127, 130 Goethe, Johann Wolfgang von (1749–1832) 18–23, 140, 145–146 – West-östlicher Divan 19–23 Gregorovius, Ferdinand (1821–1891) 76, 125 Grillparzer, Franz (1791–1872) 24 Handke, Peter (*1942) 85, 89 – Notizbücher 85 Hart, Michael Stern (1947–2011) 55 Hartmann von Aue (12. / 13. Jh.) 150 – Erec 150–154, 161, 163 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–1831) 137 Heilige Schrift Bibel Heym, Georg (1887–1912) 23 Hölderlin, Friedrich (1770–1843) 23 Hugo von Montfort (1357–1423) 75 Jean Paul (1763–1825) 77 Josephus, Flavius (1. Jh.) 188 Justinus, Marcus Junianus (3. Jh.) 189 Kafka, Franz (1883–1924) 16 – Der Process 16 Kant, Immanuel (1724–1804) 137–139, 142, 144–148 – Kritik der Urteilskraft 138–139, 145 – Opus Postumum 137 King James Bible Bibel Kofler, Werner (1947–2011) 24, 27, 30 – Am Schreibtisch 27 – Der wilde Jäger, prompt 24, 27 Körner, Christian Gottfried (1756–1831) 138–141, 143–146 Lampersberg, Gerhard (1928–2002) 27–28 Luhman, Niklas (1927–1998) 110–120, 131–132 – »,Was ist der Fall‘ und ,Was steckt dahinter‘?« 113, 120 – Zettelkasten 110, 115, 131 logistai-Inschrift 228–229, 236, 239 Luther, Martin (1483–1546) 181, 197 Makkabäerbuch Bibel Manessische Liederhandschrift 158 Marinetti, Filippo Tommaso (1876–1944) 203–205, 207, 210 – All’automobile da corsa 204, 210 – Futuristisches Manifest 203, 210 – Technisches Manifest der futuristischen Literatur 205–206
Register der Autor*innen und Werke
McLuhan, Marshall (1911–1980) 75 Meyer, Conrad Ferdinand (1825–1898) 23 Polybios (2. Jh. v. Chr.) 188 Renner, Klaus Gerhard (1949–2019) 24 – Der wilde Jäger 24 Robbe-Grillet, Alain (1922–2008) 167–168 – Les Gommes 168 Roberts, Keiler (*1978) 165–179 – Chlorine Gardens 171–174 – Miseryland 169–171 – My Begging Chart 167 – Rat Time 172, 175–177 – The Joy of Quitting 167, 172 Schiller, Friedrich (1759–1805) 137–148 – Augustenburger Briefe 140–143 – Kallias-Briefe 137–147 – Über Anmut und Würde 144 – Über die ästhetische Erziehung des Menschen 140–141 – Vorlesung über Ästhetik 138, 144, 147 Schwitters, Kurt (1887–1946) 217 Severini, Gino (1883–1966) 202–204, 206, 212–213, 220–221 – Danzatrice ossessionante (dt. Ruhelose Tänzerin) 212, 220 – La Danza del Pan-Pan al Monico 202 – Geroglifico dinamico di Bal Tabarin 202, 204, 206 Trakl, Georg (1887–1914) 23 Walden, Herwarth (1878–1941) 208–210, 212, 217, 220 – Einblick in Kunst 212, 220 Walser, Robert (1878–1956) 45 – Mikrogramme 45 Weber, Carl Maria von (1786–1826) 80 Weingartner Liederhandschrift 157
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