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German Pages [289] Year 2013
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Frank Hahn
Der Sprache vertrauen – der Totalität entsagen Annäherungen an Franz Rosenzweigs Sprachdenken
ALBER PHILOSOPHIE
https://doi.org/10.5771/9783495998526
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Frank Hahn Der Sprache vertrauen – der Totalität entsagen
ALBER PHILOSOPHIE
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Über dieses Buch: Der Beitrag Franz Rosenzweigs zur Philosophie besteht seinen eigenen Worten nach vor allem in dem, was er Neues Denken oder Sprachdenken nennt. Um diesem Terminus nachzuspüren, begibt sich Frank Hahn auf die Bahn der Sprache, wie sie durch Rosenzweigs Hauptwerk »Stern der Erlösung« gezogen wird. Dabei wird zum einen die Überwindung des auf Totalität zielenden rein begrifflichen idealistischen Denkens herausgearbeitet. Ferner wird der Gegensatz des jüdisch geprägten Sprachdenkens zur analytischen Sprachphilosophie sowie zur Vorstellung von Sprache als Zeichensystem, dem es lediglich um Kommunikation oder Mitteilung geht, kenntlich gemacht. Die »wirklich gesprochene Sprache« ist für Rosenzweig kein Abbild der Wirklichkeit, sondern das Sprechen bewirkt überhaupt erst das, was wir Wirklichkeit – als eine Bewegung des Aufeinanderwirkens – nennen. Das jüdische Sprachdenken beschreibt darüber hinaus eine Umkehr der maßgeblichen Denkrichtungen europäischen Philosophierens: den Sinn eines Textes enthüllt erst der zukünftige Leser, und so wird die Zeit nicht auf die Zukunft hin, sondern von der Zukunft her gedacht. Ferner entdeckt sich das Ich erst im Angesprochenwerden durch ein Du. Wenngleich Rosenzweig mit dem Sprachdenken die religiösen Ereignisse von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung als Bahn der Sprache erfahrbar machen möchte, so verfolgt das vorliegende Buch nicht zuletzt das Ziel aufzuzeigen, wie das jüdische Sprachdenken auch jenseits des Religiösen für die Philosophie und das Leben fruchtbar gemacht werden kann. Auf diese Weise ist ein Kaleidoskop entstanden, das sich zwar um das Sprachdenken Rosenzweigs rankt, zugleich aber auch Texte von weiteren jüdischen Autoren, wie Hermann Cohen, Eugen Rosenstock-Huessy, Friedrich Weinreb und Emmanuel Levinas, kommentierend mit einbezieht.
Der Autor: Frank Hahn, geb. 1953, lebt als freier Autor und Essayist in Berlin, wo er auch den Verein »Spree-Athen e. V.« leitet, der mit regelmäßig stattfindenden Vorträgen und Symposien zu einer Vielzahl an Themen aus Philosophie, Literatur, interkulturellen Gesprächen sowie Fragen des Judentums öffentlich wirksam ist.
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Frank Hahn
Der Sprache vertrauen – der Totalität entsagen Annäherungen an Franz Rosenzweigs Sprachdenken
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg/München 2013 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Föhren Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Printed in Germany ISBN 978-3-495-48570-5
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Inhalt
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Kapitel 1: Fäden knüpfen: Hermann Cohens Denkbewegungen zwischen Ethik, Logik und Religion auf dem Grat zwischen Idealismus und Sprachdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 2: Die Kugelgestalt des Seins zerbrechen: Franz Rosenzweigs Weg vom Nichts zur Sprache – oder die Kritik am Idealismus
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Einleitung: Befreiung von der Totalität
Kapitel 3: Der Sprache vertrauen: die Nennung des Namens und die Grammatik der Schöpfung als erste Etappe auf der Bahn der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Kapitel 4: Zwiegespräch halten: die Offenbarung als Brücke zwischen höchster Subjektivität und unendlich klarer Objektivität – oder der Bahn zweiter Teil . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Kapitel 5: Exkurs: Ist das noch Philosophie? Bewährung der Wahrheit bei Rosenzweig – Bedeutung und Sinn bei Emmanuel Levinas . . 209 Kapitel 6: Die Zukunft vorwegnehmen – vom Du zum Wir, und damit zum Ihr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 A
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Inhalt
Jenseits des Buches und Danksagung . . . . . . . . . . . . . 280 Personenregister
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Einleitung: Befreiung von der Totalität
Das Vergangene ist nie vergangen. Unter dem auf-geschichteten Neuen bleibt die Ge-schichte des Alten stets anwesend, seine Ruinen entfachen manchen Tags unerwartet ihre ruinöse Wirkung. Die Frage nach der Entstehung und der Abwehr totalitären Denkens wird daher auf Dauer eifrigstes Anliegen denkender Menschen bleiben. Zu einfach wäre es, bei dem Wort totalitär vordergründig an Terror, Verfolgung und Lager zu denken und dann zu meinen, wir wären im Mitteleuropa des 21. Jahrhunderts auf der sicheren Seite – ganz abgesehen davon, dass auch hier und heute Menschen verfolgt und deportiert werden. Wenn wir jedoch der Entstehung totalitären Denkens nachspüren wollen, bevor es sich in einem totalitären politischen System verfestigt, dann gilt unsere Wachsamkeit bereits jedem in sich geschlossenen philosophischen System sowie jeder »Weltanschauung«, die die Welt in ein fest umrissenes Bild verwandelt, das sich anschauen lässt. Natürlich mutiert nicht zwangsläufig jedes Denksystem, das auf die Silbe -ismus endet, zur politischen Diktatur, zumal es meist gar nicht auf eine unmittelbare politische Anwendung ausgelegt ist. Aber ein vorherrschendes philosophisches System und die aus ihm abgesonderte Weltanschauung können sehr wohl die Abwehrkräfte gegen Einheits- und Totalitätsdenken schwächen. Der deutsche Idealismus – insbesondere in seiner Ausprägung durch Hegel und Fichte – markiert zweifellos einen Höhepunkt im Bemühen um jene Geschlossenheit des Systems, indem hier die Einheit des Denkens behauptet wird. Im Nachwort zu Franz Rosenzweigs »Stern der Erlösung« sagt Gershom Sholem dazu: »Das reine, autonome Denken »erzeugt« in sich selbst seinen Inhalt, das Sein; das Denken, das sich selbst denkt, denkt die Welt, denkt das All. Die Einheit von allem, die Allheit, ist uns sicher in der Einheit des Denkens. Doch wer garantiert uns, dass nur eine Allheit in der Welt existiert? Allein die Annahme, dass die Welt dazu gegeben sei, um im Denken gedacht zu werden! Über A
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der Fülle der Wissensinhalte steht die Einheit des Denkens, das seine Identität als das reine Sein denkt.« 1
Um dieses totalisierende Einheits- und Identitätsdenken auszuhebeln, hat Franz Rosenzweig sein »neues Denken« formuliert, indem er in den letzten Monaten des ersten Weltkriegs mit dem »Stern der Erlösung« ein monumentales Werk geschrieben hat. Natürlich war er nicht der erste und einzige, der seinerzeit dem Idealismus die Gefolgschaft versagte. Aber Rosenzweig hat sich der Reduzierung der Vielfalt (der Welt, der Menschen, des Wissens) auf die Einheit des Denkens, der Aufhebung des Besonderen im Allgemeinen und der tausend Möglichkeiten in dem einen Prinzip auf eine neue Weise widersetzt, die zugleich an alte Traditionen anknüpfte: seine Methode nannte er jüdisch und seinem »neuen Denken« gab er den Namen »Sprachdenken«. Rosenzweig gehörte wie Cassirer, Cohen, Bloch oder Benjamin zu jenen jüdischen Denkern, die einerseits an Kant und Hegel geschult, vor dem Hintergrund der Katastrophen des 20. Jahrhunderts zugleich das Gefährliche im idealistischen Systemdenken besonders scharfsichtig – jedoch auch aus gänzlich unterschiedlichen Perspektiven – wahrgenommen haben. Nehmen wir als Beispiel Ernst Cassirer, der zwar Kant bewunderte und sich seinem Erbe verpflichtet sah, der aber zugleich die unüberbrückbare Kluft zwischen moralischer und natürlicher Welt in Kants Denken deutlich benannte. Wenn nämlich das allgemeine Gesetz oder die Menschheit nur gedacht würden – als Erzeugnisse des reinen Denkens –, dann, so Cassirer, gebe der kategorische Imperativ nur ein »abstraktes und formales Gesetz, das den individuellen Willen bindet, aber der Realität der Dinge gegenüber vollkommen machtlos ist.« 2 Dass Adolf Eichmann in Jerusalem sein mörderisches Treiben unter Berufung auf den kategorischen Imperativ Kants zu »rechtfertigen« versuchte, empfinden wir als geschmacklose Perversion – wenn jedoch das allgemeine Gesetz oder die Menschheit, auf die sich der kategorische Imperativ bezieht, sich als Abstrakta des reinen Denkens geben, dann können die jeweiligen Machthaber diese Abstraktionen auch willkürlich und eigenwillig auslegen. Darauf wollte Cassirer hinweisen. Zugleich erinnert er daran, dass Kant selbst die Gershom Sholem: Franz Rosenzweig und sein Buch »Der Stern der Erlösung« – Nachwort, in: Der Stern der Erlösung von Franz Rosenzweig, Bibliothek Suhrkamp 1988, S. 530 2 Ernst Cassirer: Vom Mythus des Staates, Felix Meiner Verlag 2002, S. 343 1
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Existenz dieser Kluft schmerzlich bewusst gewesen war, es für ihn jedoch ein vergeblicher Wunsch blieb, sie zu schließen. Kant selbst habe darunter gelitten, dass die Pflicht des Menschen in ewigem Gegensatz zu seiner »Glückseligkeit« stehe. Es war nun Hegels Ehrgeiz, diese Kantische Kluft zwischen moralischer und natürlicher Welt einzubetonieren. Die ethische Ordnung finde man daher bei Hegel – so Cassirer – nicht in einem formalen Gesetz, sondern in der konkreten Realität des Lebens im Staate. Der preußische Staatsphilosoph wollte die »Kantischen Klagen« nicht länger hören, zwischen Sittlichkeit und Natur, individuellem und allgemeinem Selbstbewusstsein fand er die ersehnte Einheit – im Staat: »Der Staat ist der Geist, der in der Welt steht und sich in derselben mit Bewusstsein realisiert … es ist der Gang Gottes in der Welt, dass der Staat ist … bei der Idee des Staates muss man nicht besondere Staaten vor Augen haben, nicht besondere Institutionen, man muss vielmehr die Idee, diesen wirklichen Gott, für sich betrachten.« 3 Diese Vergötterung der Staatsidee gipfelte in der Hegelschen Synthese von Vernunft, Weltgeist und Geschichte, die sich im »real existierenden Staat« verwirkliche. Dies gibt einen Hinweis darauf, was Rosenzweig mit dem All- und Einheitsdenken des Idealismus meinte. Ernst Cassirer widmet sich in seinem letzten Werk »Vom Mythos des Staates«, das er 1945 im amerikanischen Exil vollendet hat, ausführlich der Hegelschen Staatstheorie. Als Zeitzeuge des Faschismus kann er angesichts der Skrupellosigkeit, mit der Hegel die Weltgeschichte als Weltgericht, das Wirkliche als das Vernünftige und den Weltgeist als die absolute Vernunft proklamiert, nur ein vernichtendes Urteil fällen: »Kein anderes philosophisches System hat so viel zur Vorbereitung des Faschismus und Imperialismus getan als Hegels Lehre vom Staat.« Zwei Sätze später untermauert er die Wucht dieses verbalen Fallbeils mit einem Hegel-Zitat, das nicht nur im Jahre 1945 Anlass gab, einem die Sprache zu verschlagen: »Dem Volke, dem solches Moment (Repräsentant des Weltgeistes zu sein, F. H.) als natürliches Prinzip zukommt, ist die Vollstreckung desselben im Fortgang des sich entwickelnden Selbstbewusstseins des Weltgeistes übertragen. Dieses Volk ist in der Weltgeschichte, für diese Epoche … das Herrschende. Gegen dies sein absolutes Recht, Träger der augenblicklichen Entwicklungsstufe des Weltgeistes zu sein, sind die Geister der anderen Völker 3
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rechtlos, und sie, wie die, deren Epoche vorbei ist, zählen nicht mehr in der Weltgeschichte.« 4
Der vornehme, im wahrhaften Sinne philosophische Kopf Ernst Cassirer hat hier jede Zurückhaltung aufgegeben und dennoch, wenn man den ganzen Text liest, sich darum bemüht, das Werk Hegels aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten und seiner herausgehobenen Stellung in der Geschichte der Philosophie gerecht zu werden. Franz Rosenzweig hatte im Jahre 1909 seine Dissertation zum Thema »Hegel und der Staat« geschrieben, aber erst 1920 veröffentlicht. »Unter dem Strich« kommt Rosenzweig zu demselben Ergebnis wie Cassirer – allerdings in vergleichsweise unschuldiger Lage, da der Faschismus vorerst nur als Gespenst einer historischen Möglichkeit unter vielen über Deutschland und Europa in vernebelter Lauerstellung schwebt. Insofern ist Rosenzweigs »Tonfall« im Vergleich zu Cassirer gemäßigt, wobei die Aufgabenstellung auch eine gänzlich andere war. Rosenzweig hat ein umfassendes Werk über Hegels Leben und Werk geschrieben, in dem er akribische Detailkenntnis mit der Kunst des großen Romanciers verbindet. Um nicht missverstanden zu werden: wir reden nicht jener sträflich verkürzten Argumentation das Wort, wonach bereits im Idealismus die Wurzeln des Faschismus angelegt waren. Wir leiten zunächst nur auf das Thema hin, welches die Generation der zwischen 1875 und 1890 Geborenen umgetrieben hat – zumindest deren »philosophische Köpfe«. Sie haben als 30–40–Jährige den Ausbruch des ersten Weltkriegs erlebt, und sofern sie nicht wie Rosenzweig vorher gestorben sind, auch die Terrorherrschaft der Nazis und den zweiten Weltkrieg. Es waren vor allem die jüdischen Denker dieser Generation, die einen außergewöhnlichen Scharfblick hinsichtlich der Folgen bestimmter Denkmethoden und philosophischer Systeme gezeigt haben. Cassirer (1876–1945) und Rosenzweig (1886–1929) gehören dazu, genauso wie Rosenstock-Huessy, Viktor von Weizsäcker, Ernst Bloch und andere. Rosenzweig, der zunächst 1906 ein Medizinstudium begonnen hatte, wechselte ein Jahr später zur Philosophie und war nach kurzer Zeit mit den Denkströmungen des 19. Jahrhunderts auf eine ganz eigene Weise vertraut. Man könnte fast sagen, er lebte in diesen Strömungen wie in einem Roman und konnte auf Art des großen Künstlers ihre Ursachen 4
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und Folgen in originelle Denkfiguren zusammenfassen – so wenn er z. B. Hegels Philosophie als eine »neuheidnisch-christliche« Synthese bezeichnete. Die verheerenden Wirkungen des »All- und Einheitsdenkens« eines Hegel waren ihm, der sich an Kant geschult hatte, früh bewusst geworden. Dass vor allem jüdische Denker die Avantgarde eines neuerlichen kritischen Denkens bildeten, lässt sich auch – aber nicht nur – darauf zurückführen, dass sie trotz aller Emanzipations- und Assimilationsbestrebungen immer am Rande der Gesellschaft standen und gerade in der genannten Periode um 1900 dem rasch um sich greifenden Antisemitismus ausgesetzt waren. Etwas Anderes kommt hinzu: da das Judentum oft als »reine Ethik« bezeichnet wird, ergab sich daraus zwar eine gewisse Affinität zum Denken Kants, zugleich aber war im Judentum schon die Abwehr gegen jegliches Einheits- oder Identitätsdenken angelegt. Das Denken der Differenz, der Spur, des Namenlosen, des Abgrunds, des Leeren und des Nichts ist dem Jüdischen quasi eingeschrieben – und damit das Widerständige gegen ein Denken in geschlossenen Systemen oder Totalitäten. Zur »Befreiung von der Totalität« erscheint uns daher die Beschäftigung mit jüdischen Denkern des 20. Jahrhunderts als unhintergehbare Aufgabe. Dies gilt umso mehr, als dass insbesondere nach der Katastrophe von 1933 sowie der anschließenden Vernichtung des europäischen Judentums der spezifische Beitrag jüdischer Denker aus der Zeit vor 1933 im öffentlichen Bewusstsein nur noch peripher präsent ist. Die vorliegende Arbeit soll einen bescheidenen Beitrag dazu leisten, sowohl das Besondere wie auch das ganz und gar Aktuelle des jüdischen Denkens am Beispiel der Arbeiten Franz Rosenzweigs und Hermann Cohens aufzuweisen. Wo aber finden wir aktuelle Bezüge in einem Denken, das vor 100 Jahren sich kritisch mit einem noch einmal 100 Jahre älteren Denken (dessen Epigonen also heute vor 200 Jahren gewirkt haben) auseinandergesetzt hat? Anders gefragt: was kann uns heute das Denken um 1900 über das Denken um 1800 sagen? Dazu seien einige kurze Bemerkungen vorangeschickt.
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Die Welt als Ganze angeschaut – das Elend mit den Weltanschauungen Auf den ersten Blick hat der reine Idealismus als philosophische Strömung offenbar längst »seine Zeit hinter sich«. Die scheinbare Selbstverständlichkeit dieser Behauptung schmilzt jedoch auf den zweiten Blick rasch dahin. Bevor wir diesen »zweiten Blick« wagen, schieben wir ein paar Gedanken zur Vermittlung philosophischer Diskurse oder Systeme über die Schiene der Weltanschauung ein. Da ja immer nur ein verschwindend kleiner Bruchteil der Menschen die Werke der großen Philosophen gelesen hat, so stellt sich die Frage, auf welche Weise dennoch diese philosophischen Systeme Einfluss auf Denken und Handeln ganzer Generationen gewonnen haben. Über die erwähnte Schiene der Weltanschauungen sind tatsächlich holzschnittartig zusammen gezimmerte Versatzstücke philosophischer Systeme und Methoden tröpfchenweise in die Gesellschaft eingesickert. Wir müssen daher zwischen Philosophie und Weltanschauung sehr präzise unterscheiden. Adorno hat seinerzeit den Wahn, sich eine Weltanschauung zuzulegen, verächtlich als kleinbürgerliches »Hobby« abgetan, dessen Ziel vor allem darin bestünde, sich des autonomen Denkens zu entschlagen, sobald man sich im Besitz einer einheitlichen, lückenlosen Erklärung des Welt-Ganzen wähne. Tatsächlich gilt die Weltanschauung der Beendigung des Fragens, während wahrhafte Philosophie unter je neuen Perspektiven die alten Fragen immer wieder in neuen Worten zu stellen hätte. Nicht minder scharf als Adorno hat Herbert Schnädelbach die Verachtung des Philosophen gegenüber der Weltanschauung formuliert: »In einer noch zu schreibenden Geschichte der Weltanschauung wird vermutlich dies als Spezifikum weltanschaulichen Denkens deutlich werden: ein universelles Deutungsmuster oder Interpretationsschema, das auf alles anwendbar ist und durch nichts Singuläres widerlegt werden kann, übernimmt in einem nachidealistischen Zeitalter die traditionelle Rolle des philosophischen Systems, und zwar in kognitiver und in normativer Hinsicht. Das Bedürfnis nach Ganzheit wird nur noch befriedigt durch eine »Schau« der Welt von einem einzigen »Gesichtspunkt« aus, der zugleich der eigene »Standpunkt« ist, und die Einzigkeit dieses Punktes ist der einzige Einheitspunkt für die Anschauung der Welt, des Ganzen.« 5 Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1983, S. 184
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In diesen Worten ist trefflich beschrieben, worauf wir mit dem ersten Satz hinweisen wollten: das Vergangene ist nie vergangen. Der Idealismus mag zu Beginn des 21. Jahrhunderts innerhalb der philosophischen Systeme ausgemustert sein, aber als Weltanschauung taucht er wie ein Gespenst in den politischen Entscheidungen, in Lebenshaltungen und Verhaltensweisen der Menschen immer wieder auf. Das Bedürfnis nach der »Erklärung des Ganzen« – auch »Welterklärung« genannt –, nach tragfähigen Lösungen für »das Ganze« scheint ungebrochen, was angesichts der Unübersichtlichkeit einer globalisierten Welt sowie der Unsicherheiten und unkalkulierbaren Risiken einer durch und durch ökonomisierten Gesellschaft nicht verwundert. Die Deutungsmuster unterscheiden sich in ihrer Komplexität und auch in der Lückenlosigkeit der Erklärung des Ganzen. Manchmal soll eine Weltanschauung auch nur das eigene Verhalten eines geängstigten und nach Identität suchenden Ich rechtfertigen – ohne den Anspruch, sich die Welt als Ganzes zu erklären. Die konkrete Form der jeweiligen Weltanschauung ist jedoch eher nebensächlicher Natur, wenn wir Adornos Befund folgen, wonach der Besitz einer Weltanschauung dazu dienen soll, sich des autonomen Denkens zu entschlagen. Rosenzweig hat auf seine Weise den lebensfeindlichen und weltabgewandten Charakter von Weltanschauungen benannt, indem er das eingängige Bild vom Stau des Lebensstroms geprägt hat. Welt und Leben seien in ständiger Bewegung – wie in einem »offenen Flussbett, durch das ununterbrochen der Strom der Dinge, Menschen, Ereignisse, hindurchströmt.« In der Weltanschauung aber werde das Flussbett zur Schale, »die der Betrachter mehr oder weniger gefüllt heraushebt aus jenem Strom, um sie in Ruhe staunend zu betrachten. Die Schale, nicht den Strom. Denn der Strom würde sich dem Verlangen, ihn aufzustauen, entziehen, er würde weiterströmen. Aber die Schale lässt sich herausheben.« 6 Wer meint, die Welt anzuschauen, blickt in Wirklichkeit gebannt auf eine Schale – er versucht, etwas fest-zustellen, das sich im ungehemmten Fluss und den rauschenden Stromschnellen des wirklichen Lebens jeder Fest-stellung entzieht. Schon dieser Versuch erweist sich so gesehen als Gewaltakt – und dazu noch als bodenlose Dummheit. Die Weltanschauung soll sich als Werkzeug bewähren, mit dem ihr »Eigentümer« die »Dinge auf den Punkt bringen« kann, statt ohne Franz Rosenzweig: Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand, Joseph Melzer Verlag 1964, S. 64
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Punkt und Komma das Denken wie das Leben in Bewegung zu halten. Die Fixierung auf das Endergebnis verstellt den so nötigen Blick auf die Offenheit und Unabgeschlossenheit von Welt und Leben, die in Wahrheit einfach weiterströmen und jedwede gedankliche Staustufen unterspülen. Die Staustufe ist nur ein anderes Wort für die Totalität der äußeren Form (der Schale), in welche die unüberschaubare – also nicht anschaubare – Vielzahl an Dingen und »Weltteilen« gezwängt werden soll. Was sich der Totalität der Schale nicht fügen mag, wird ausgeschlossen – es gehört und passt nicht dazu. Manchmal ist es dann vom abschließenden Urteil zur ausschließenden Beseitigung nicht weit. Die angeschaute Schale als Surrogat für die Wirklichkeit zu nehmen, entbindet natürlich darüber hinaus den Fanatiker, der sich eine Weltanschauung als Hobby hält, jedweder kritischen Prüfung seiner Anschauungen anhand von Erfahrung oder Tatsachen. Schlimmer noch: die Wirklichkeit (nicht die Realität) wird unter dem Prinzip des Historischen, das dem Einzelereignis angeblich erst seinen »Stellenwert« gibt, kurzerhand zum Trugbild oder Schein abgestempelt. Wenn man unter den geistigen Strömungen des 19. Jahrhunderts nach Tendenzen sucht, welche die Entstehung totalitären Denkens befördert haben, dann kommt man zweifelsohne am Historismus nicht vorbei. Hannah Arendt hat in ihrem beachtlichen Werk »Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft« gerade hinsichtlich der nationalsozialistischen und stalinistischen Ideologien äußerst scharfsichtig bemerkt: »… der Anspruch auf totale Welterklärung verspricht die totale Erklärung alles geschichtlich sich Ereignenden, und zwar totale Erklärung des Vergangenen, totales Sichauskennen im Gegenwärtigen und verlässliches Vorhersagen des Zukünftigen. Als solches wird ideologisches Denken … unabhängig von aller Erfahrung, die ihm selbst dann nichts Neues mitteilen kann, wenn das Mitzuteilende soeben erst entstanden ist. Es emanzipiert sich also von der Wirklichkeit … und besteht ihr gegenüber auf einer »eigentlicheren« Realität, die sich hinter diesem Gegebenen verberge … dem was faktisch geschieht, kommt ideologisches Denken dadurch bei, dass es aus einer als sicher angenommenen Prämisse nun mit absoluter Folgerichtigkeit … alles weitere deduziert.« 7
Was Rosenzweig plastisch mit dem Bild der Schale aussagen wollte, benennt Arendt schlicht und mit einem zur Ironie gewendeten wissenHannah Arendt: Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, Piper Verlag 1998, S. 964
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schaftlichen Stil als »Emanzipation von der Wirklichkeit« – sie hätte auch Leugnung der Wirklichkeit sagen können. Ihrer treffsicher beobachteten Verabsolutierung der Geschichte als Kennzeichen totalitärer Ideologien entspricht Rosenzweigs tiefsinnige Kritik an dem vom Historismus genährten europäischen Fortschrittsglauben des 19. und 20. Jahrhunderts. Das Brandgefährliche dieses Glaubens an einen unendlichen Fortschritt lässt sich wiederum in Hegels Phrase von der »Weltgeschichte als Weltgericht« erahnen. Getrieben von der Hoffnung auf zukünftige Erlösung durch die »historische« Tat liegt es in der Natur des politischen Aktivisten, buchstäblich über Leichen zu gehen, denn schließlich erfüllt er nicht nur den Richterspruch des Weltgerichts, sondern aus der Geschichte und ihren notwendigen Gesetzen von der Unvermeidlichkeit großer – manchmal tödlicher – Opfer soll die Erlösung »eines Tages« kommen. Die Illusion, dass dieses »einen Tages« – zumindest für die Überlebenden – alles »gut wird«, soll leichtgläubige Mitläufer rekrutieren, denn wer will nicht dazugehören, wenn es ums Überleben geht. Aus dieser Perspektive betrachtet, ist die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts alles andere als immunisiert gegen totalitäres Denken. Wie oft hören wir von einem »historischen Tag«, einer historischen Stunde, wo es – um mit Robert Musil zu sprechen – lediglich um die Einweihung eines Bahnhofsgebäudes geht? Was hier noch einen Hauch von Kabarett versprüht, wird unter dem verbalen Peitschenhieb des »historischen Auftrags« tödlicher Ernst. Kriegseinsätze, Einschnitte in das soziale Netz oder Bankenrettungsmanöver auf Kosten der Allgemeinheit erhalten mit dem Siegel des historisch Notwendigen sogleich den Glanz des Fortschrittlichen, dem sich keiner entziehen mag, der um die »westliche Wertegemeinschaft« sich Sorgen macht. Hier schleicht sich auf leisen, weltanschaulich geschusterten Sohlen, die Lückenlosigkeit der Erklärungen wieder ein, die ein post-idealistisches, post-heroisches, post-ideologisches Zeitalter schon meinte, hinter sich gelassen zu haben. Und noch ein zweiter Bereich des akademischen Lebens, der zudem ideologisch und praktisch tief hineingreift in den Alltag der Gesellschaft, hat in den letzten Jahren den Anspruch auf eine Totalität des Wissens erhoben: die Ökonomie. Herrschte zumindest bis Anfang der 90er Jahre noch eine Vielfalt theoretischer Ansätze und ökonomischer Schulen, so verengte sich die ökonomische Theorie bald auf einen marktradikalen Neoliberalismus, der die komplexen Phänomene der A
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globalen Wirtschaft aus einem einzigen – zudem sehr schlichten – Erklärungsmuster abzuleiten sich anschickte. Die Aktualität des Sprachdenkens als Abwehr gegen ein Denken der Totalität erhellt zudem der Begriff der Sprachferne, den Rosenzweig dem idealistischen Denken vorwirft. Erleben wir diese Sprachferne heute nicht in der Reduzierung von Sprache auf Information und Kommunikation? Man bedenke: die in quantifizierbare »Bites« zusammengepressten »Infos« verkörpern den Anspruch einer Totalität, in der sich – fast – alles ausdrücken lässt.
Die Gefahr der Ich-Philosophie Wenden wir uns noch einmal von der Weltanschauung der Philosophie und der Aktualität des Idealismus zu. Seit Descartes’ »Cogito, ergo sum« geht das idealistische Denken von einem Subjekt aus, welches die Begriffe (und aus diesen die Welt) aus sich heraus erzeugt. Das »Ich denke« begleitet nicht nur Kants kritisches Philosophieren, sondern gipfelt in Fichtes Setzung des Ich als das Erste jeder Philosophie. Deswegen sah Rosenzweig eine der wesentlichen Verirrungen des Idealismus darin, dass hier der moderne Geist um den »Glauben an das Ich« kreise – nach der antiken Kosmologie, der mittelalterlichen Theologie stehe die Neuzeit unter dem Anspruch einer Anthropologie, die – genau so wie ihre Vorläufer – die Welt aus einem Gesichtspunkt zu erklären versuche. Doch wie autonom und souverän ist das idealistische Ich, wenn es sich entweder einem abstrakten allgemeinen Gesetz oder – im Staatsmodell Hegels – dem Staat als Gott hinzugeben hat? Was ist dabei gewonnen, dass diese Hingabe an eine objektive Welt erfolgt, die aus dem Ich als subjektiven Geist erzeugt worden ist? Rosenzweig jedenfalls hat dieses idealistische Ich als ein zwischen Erzeugung und Hingabe bis zur Erschöpfung eingespanntes Wesen gesehen. Wir würden heute sagen: da das Ich mit sich selbst nicht viel anfangen kann, sich angesichts seiner fragmentarischen, ephimeren Existenz ängstigt, bedarf es also der »Welt«, auf die es in tätiger Hingabe wirken kann, in der es irgendwie mitmachen kann. In seiner obsessiven Suche nach Identität kann ein Ich so zum einfachen Mitläufer werden, oder aber sich so klettenhaft an die Sache heften, der es sich hingibt, dass es sich hierbei bis zum Rausch selbst verzehrt. Rosenzweigs Freund Eugen Rosenstock-Huessy erwähnt in diesem Zusammenhang als »letzten 16
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Ausläufer und Irrläufer« (der Ich-Philosophie, F. H.) den Aktivismus, sei es nun derjenige »hohlbusiger Kommunistinnen« oder jener der »zielbewussten Betriebsmenschen« – in beiden Fällen käme er »prinzipiell zur Unzeit, ungerufen«, nämlich dann, »wann es ihm, dem Herrn Ich, passt und beliebt, zur siegreichen Aktion zu schreiten«. 8 Heute würde niemand mehr das Wort hohlbusig verwenden, ohne sich selbst als sexistisch aus dem Diskurs herauszukatapultieren – aber mit zielbewussten Betriebsmenschen sind wir überall in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft umgeben, und insofern steht unsere Zeit so fern derjenigen vor 100 Jahren denn nicht. Wird nicht das Ideal des zielbewussten Betriebsmenschen, der auf Erfolg, Effizienz, Höchstleistung ohne Rücksicht auf Verluste gepolt wurde, als der einzige Weg zu gesellschaftlicher Anerkennung und moderatem Wohlstand gerühmt, der zugleich Dienst an einer auf globaler Ebene sich von Ideologien befreienden Menschheit sei? Hier fällt einem unwillkürlich Walter Benjamins Diktum vom Kapitalismus als Religion ohne Dogma ein. Die »Katechismen und Riten« dieser Religion sind flexibel ausgelegt, ihre Anwendung erfolgt lediglich nach Nützlichkeitserwägungen. In jedem Fall erleben wir, wie unser als post-ideologisch und post-heroisch gepriesenes Zeitalter einer Ideologie folgt, die so sehr aufs Ganze geht, dass die erste Person sich in toto in der Hingabe an die »dritte Person« verliert wie ihre Vorläufer: damals beschrieben die Hellsichtigen die Folgen der Hegelschen Vergötterung des Staates als eine Herabwürdigung des Menschen zum drittpersönlichen Individuum, wenn er lediglich als ein »Gegenstand der Statistik«, ein »Objekt der Gesetzgebung« behandelt werde, mit dem man wie mit einem Stück Natur experimentieren könne. Schon Rosenstock-Huessy machte für diese entwürdigenden Umstände die Verkennung der Sprache verantwortlich. Ob nämlich dem Ich in der dritten Person ein Er oder Es gegenübertrete oder in der zweiten Person ein Du, entscheide letztlich darüber, ob die Persönlichkeit des Ich als eine »dritt- oder zweitpersönliche« 9 , das Ich selbst als ein Es oder ein Du in den Kreis der menschlichen Beziehungen eintrete. Der Staat als Gott, das formale Gesetz, das Sittengesetz oder die reine Vernunft als Weltgeist stehen alle in der dritten Person.
Eugen Rosenstock-Huessy: Sprache des Menschengeschlechts, Band 1, Verlag Lambert Schneider 1963, S. 764 9 Ebd. 8
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Dem Ich, welches aus seiner Vereinzelung, Vereinsamung, fragmentarischen Existenz den Anschluss an das Ganze sucht, wird von dieser dritten Person die Ansprache, der Ruf an die Seele verwehrt. Zu groß, zu übermächtig, ganz und gar unpersönlich sind die Gestalten des Gesetzes oder des Weltgeistes für ein suchendes Ich. In der Hingabe an diese Unpersonen Kompass, Orientierung, Wegweisung zu finden, lässt keinen Raum mehr für die Seele, die nicht einem Er oder Es, sondern einem Du sich zuwenden möchte. Mehr noch, die einzelne Seele bedarf des Gerufenseins durch ein Du, um überhaupt sein Ich entdecken zu können. Um diese Thematik ist Rosenstock-Huessys Text »Angewandte Seelenkunde« aus dem Jahre 1916 genauso gewebt wie Hermann Cohens Schriften zur Religion und Ethik, denen Rosenzweig maßgebliche Anregungen für sein eigenes Werk verdankte.
Sprachdenken vs. denkendes Denken (und Offenbarung) Wenn der Glaube an das Ich der Ursprung jener Verstrickungen der Neuzeit sein sollte, in denen das logische Denken von der Totalität des All Besitz ergreifen und darüber verfügen möchte, dann könnte man mit Kants Worten doch fragen, warum man es nicht einmal andersherum versuchen sollte, indem man statt des Ich das Du an die erste Stelle setzt. Genau diese »Umbesetzung« haben Hermann Cohen und Eugen Rosenstock-Huessy gewagt, die den entscheidenden Anstoß für Rosenzweigs eigenes Werk gegeben haben. Das Ich komme überhaupt erst im Du dazu, sich zu entdecken – so Cohen. Schließlich sage es schon die Grammatik, dass zwischen der ersten und dritten Person zunächst noch die zweite ihren Platz habe. Und Eugen RosenstockHuessy spitzt es zu: nicht das Ich, sondern das Du sei grammatisch als erste Person Singular zu behandeln. Statt »Ich denke, also bin ich« müsse es heißen »Ich werde (von Gott) gerufen, also bin ich«. 10 Die neuerliche »kopernikanische Wende« der Philosophie hatte also ihren Ursprung in der Grammatik, und nicht in der Logik. Während Cohen diesen Sprung von der Logik zur Grammatik selbst nicht mehr gewagt hat, weilte Rosenstock-Huessy schon ganz im Denken der Sprache. Ihm war es selbstverständlich, dass die Sprache es sei, die uns den
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Weg zum erkennenden, fühlenden, wahrnehmenden Umgang mit der Welt und unseres gleichen zeigt – wenn wir nur hören wollten. Danach setze alles Denken nicht nur Sprache, sondern Sprechen voraus, in dem das gesprochene Wort im Anderen ertönt und auf neue Weise von ihm zurückkommt. Das Gespräch zwischen zweien – ob als inneres oder äußeres – erschien nun für das Denken unersetzlich. Hier war schon der Keim jenes neuen Denkens eines Rosenzweig gelegt, das er Sprachdenken im Unterschied zum denkenden Denken nannte. Als das vielleicht klarste und zugleich provozierendste Merkmal des Sprachdenkens wäre zu nennen, dass Denken keiner Vermittlung durch den Logos oder die Vernunft bedarf. Es ist genug, dass wir miteinander sprechen, die Sprache selbst ist die Vermittlung. Schon Hamann hatte in seiner Kritik an Kant den Satz »Sprache ist Vernunft« geprägt. Man könnte hinzufügen: da Vernunft von Vernehmen kommt, besteht sie zuvörderst in der Fähigkeit des Hörens, das dem Denken vorausgeht oder es zumindest begleitet. Das geduldige Hören als Zuhören und Hinhören wird bei Rosenzweig wesentlicher Ausgangspunkt seines Sprachdenkens, wenn er sagt, dass wir nicht so sehr der Sprache bedürfen, sondern der Zeit. Abwarten zu können, was der Andere sagt, sich Zeit lassen, ihm zuzuhören, aber auch mit der eigenen Antwort zu zögern, dies sind Elemente des Sprachdenkens, das sich vorgefasster Begrifflichkeiten genauso enthält wie des egomanischen Versuchs, den anderen durch die »Kunst der Rede« zu über-reden – stattdessen vielmehr gemeinsam ein Gespräch zu beginnen, in dem sich die Gesprächspartner vom Anderen in Frage stellen lassen, das Verstörung und Verunsicherung nicht nur zulässt, sondern nachgerade sucht. Der klassische Philosoph wird womöglich gelangweilt fragen, was hieran so umstürzend sei, nimmt er doch für sich in Anspruch, gerade in dieser seit Sokrates bekannten dialogischen Methode die Suche nach dem Wahren und Guten zu betreiben. Auch aus der Diskursethik und den Verfechtern des kommunikativen Handelns werden wir eher überlegenes Stirnrunzeln ernten, aber dies Alles erscheint uns voreilig. Rosenzweig geht es gerade nicht um ein Modell, sondern indem er den Anderen und das wartende Hören auf ihn als vorrangig vor dem Denken des Ich behauptet, wird die Richtung und Ausgangslage des Philosophierens verändert. Dabei stehen nicht Wissen und Erkenntnis im Vordergrund, sondern Sprechen und Offenbaren als das jeweils neu anhebende Be-wirken des Wirklichen. Das Sprachdenken nur als Dialogik zu bezeichnen, wäre eine vorA
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eilige Verkürzung. Rosenzweig entrollt eine »Bahn der Sprache«, auf der wir die Wirkkraft der Personalpronomen, der Modi und Tempi aus je neuen Perspektiven erleben. Wenn wir z. B. im Modus der fest-stellenden, indikativischen Form sprechen, dann erzählen wir, wie es war, stellen wir fest, wie es ist und erklären, wie es sein wird. Wie schon das Wort fest-stellen besagt, suchen wir das allgemein Verbindliche, die Prinzipien und Gesetze oder die logischen Ketten, denen wir mithilfe der Sprache nach-denken. So notwendig dieser Modus für die »Verständigung« im Alltag und auch für die empirische Wissenschaft sein mag, so bleiben das je neue sinnliche Wahrnehmen, das Erlebnis des Anderen, die Offenbarung eines Gesprächs von der fest-stellenden Sprache unberührt. Selbst wenn »über« solcherart Wahrnehmungen, Erlebnisse und Offenbarungen im Indikativ erzählt wird, bleibt es ein »über«. Rosenzweig aber spürt dem Nicht-Wiederholbaren nach, dem einmaligen Ereignis, der Offenbarung. Ihm ist jedes Gespräch, die Sprache selbst Offenbarung, denn »jedes Wort ertönt aus neuem Munde neu«, es wird immer wieder zum ersten Mal gesprochen – oder spricht es sich selbst? Schon aus diesem fast beiläufig hingeworfenen Hauch des Sprachdenkens mag erhellen, dass der nicht fixierte, fließende Strom der Sprache die Fixierung auf Begriffe, Kategorien und logische Ketten immer wieder unterbricht und auflöst. Der Sprache zu vertrauen, hieße demnach, den Fluss des Lebens im Fluss der Sprache aufzuspüren, die sich beide dem Stau der Weltanschauung widersetzen. Sprechen – vor allem als Wechselgespräch zwischen einem Du und einem Ich, als Wechselstrom von Antwort und Frage – bewirkt erst jene Wirklichkeit, welche eine sprachferne Logik oder ein idealistisches System von Begriffen meint, durch Erkenntnis dem Wissen verfügbar machen zu können. Es kommt ein Weiteres hinzu: so wie die Gegenwart durch das Angesprochenwerden vom Anderen je neu sich offenbart, so steht diese »dialogische« Gegenwart auch schon immer unter dem Vorrang einer Zukunft, die sich im Anderen als dem Uneinholbaren und Unverfügbaren ankündigt. Die höchste Form dieses Hineinholens der Zukunft in die Gegenwart ereignet sich laut Rosenzweig im gemeinsamen Gebet – und in dem Lauschen auf das nicht Gehörte, den übersinnlichen Charakter des Wortes. Wenn wir das Mitschwingen des Ungesagten, Ungehörten, des Nicht-Bedeutens in den Worten auch noch hören, dann ahnen wir, dass die Offenbarung oder »Enthüllung« des Sinns nur von der Zukunft her erhellen kann. Rosenzweig hat in diesem neuen Denken – oder Sprachdenken – 20
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die Möglichkeit einer »Verflüssigung« des Begegnens zwischen Mensch, Welt und Gott entdeckt, eines je neuen Anhebens, diese drei auf je neue Art zueinander in Beziehung zu setzen und nicht »alles auf eines« zu reduzieren, womit dieses Alles sich der Totalität des Einen fügen müsste. Diese als Einführung kurz skizzierten Denkwege waren keine ausschließliche »Entdeckung« Rosenzweigs. Vielmehr hat er sich selbst als Teil einer Gruppe oder einer Bewegung von Denkern gesehen, zu denen seine Freunde Eugen Rosenstock-Huessy, Herbert und Rudolf Ehrenberg gehörten, aber auch Hermann Cohen. Wenn Letzterer zwar nicht selbst zu den Sprachdenkern gezählt werden darf, so hat er durch sein »jüdisches Denken« Rosenzweig maßgeblich geprägt. Deswegen widmen wir auch gleich zu Beginn ein ganzes Kapitel Hermann Cohen, da er durch seine »Entdeckung des Ich im Du«, aber auch durch seine Dynamisierung der Begriffe sowie schließlich den »Umweg über das Nichts« im Denken des nicht auffindbaren Ursprungs Rosenzweigs Kritik am Idealismus vorbereitet hat. In den folgenden Kapiteln erzählen wir Rosenzweigs Erzählung, die aus der Kritik an der sprachfernen Logik die »Bahn der Sprache« entrollt, die auch als Bahn von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung zu lesen ist. Aus religionsphilosophischer Sicht ist Rosenzweigs Stern der Erlösung vielfach kommentiert, neu erzählt und wissenschaftlich analysiert worden. Wir jedoch möchten uns auf die Entwicklung des Sprachdenkens in Rosenzweigs Hauptwerk »Stern der Erlösung« konzentrieren, da dies in dieser Form bisher nur in Ansätzen geleistet wurde. 11 Die Textpassagen zur Sprache sind in der Tat auch eher fragmentarisch in das 500 Seiten umfassende Gesamtwerk des »Stern« eingesprenkelt. Wir möchten daher versuchen, diese »Sprenkel« miteinander als Weg oder Bahn abzuschreiten und dabei vor allem den vielen Verästelungen und Nebenwegen nachzuspüren, auf denen dann auch die philosophische Bedeutung und die Aktualität des Sprachdenkens erhellen sollte. Auf diesen Verästelungen begegnen wir weiteren jüdischen Denkern wie z. B. Emmanuel Levinas oder Abraham Heschel, aber auch Eugen Rosenstock-Huessy. Eine Frage jedoch – und zwar eine nach allem bisher Gesagten verwirrende und bestürzende Frage – wird offen bleiben: hat RosenEine Ausnahme bildet hier das hervorragende Werk von Bernhard Casper: Das dialogische Denken. Franz Rosenzweig, Ferdinand Ebner und Martin Buber, Verlag Karl Alber Freiburg 2002 (2. Auflage), dem der Autor viele Anregungen verdankt
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zweig am Ende selbst einen neuen Idealismus, ein neues System geschaffen? Der neuere Diskurs vereinnahmt ihn gern als Systemdenker, und er selbst hat diesem Versuch sicher Vorschub geleistet, wenn er Figuren wie »Bahn« oder »Stern« verwendet, mit denen er ankündigt, nach dem Zerbrechen des All- und Einheitsdenkens Mensch, Welt und Gott zu neuer Einheit zusammen zu fügen. Die Frage bleibt offen, so wie Rosenzweigs ganzes Werk seines so kurzen Lebens offen bleiben sollte. Rosenzweig hat zweifellos einen Weg mitgeebnet, der zur Dekonstruktion (und wie manche sagen zur Post-Moderne) geführt hat, wenngleich seine tiefe Gottesfurcht ihn ganz sicher vom post-modernen Denken trennt. Dem philosophischen Werk Rosenzweigs wäre der Vorwurf nicht zu ersparen, nach erfolgreicher »Dekonstruktion« minder erfolgreich eine neue »Konstruktion« versucht zu haben. Rosenzweig dekonstruiert den Idealismus, die Ontologie, das Einheits- und Identitätsdenken, das Fortschrittsdenken, den Historismus, er dekonstruiert sogar die Grammatik – aber zugleich konstruiert er eine scheinbar logische Folge von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung als eine Geschichte der Weltalter. Schließlich konstruiert er grammatische Formen, Kunstgattungen und die drei monotheistischen Religionen in ihren jeweiligen Zuordnungen zu diesen Weltaltern. Vieles davon ist gewagt oder eben konstruiert, denkt man z. B. auch an seine tief greifende Kritik am Islam. Hier wären manche Zweifel sowie manch beharrende Nachfrage angebracht; wir folgen Rosenzweig also nicht bedingungslos. Aber während Philosophen und Theologen Rosenzweigs Konstruktionen auf ihre Systematik untersuchen mögen, ist Absicht und Lesart des vorliegenden Buches eine andere. Wir lesen den »Stern der Erlösung« als Erzählung und nicht als System, ermuntert doch Rosenzweig selbst ausdrücklich zu solcher Lesart, indem er den »Stern« als »erzählende Philosophie« bezeichnet hat. Dabei streifen wir die theologischen Fragen seines Buches – insbesondere die nach dem Verhältnis zwischen Judentum, Christentum und Islam – nur am Rande. Vielmehr konzentrieren wir uns auf Rosenzweigs Entdeckungen entlang der Bahn der Sprache, die faszinierend genug sind, um sich ihnen als eigenständigem Thema zu widmen.
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Gottessuche, Glauben, Religion, Philosophie Noch eine Hürde könnte sich im Folgenden dem rein philosophischen Leser stellen: die Frage nach Gott. Wir möchten daher zweierlei in dieser Einleitung hervorheben, dessen sich der Leser während der Lektüre der kommenden Kapitel bewusst bleiben möge. Zum einen: ein ernsthaftes Philosophieren kann der Frage nach Gott nicht ausweichen, auch wenn es am Ende zu einer negativen Beantwortung kommen sollte. Zum anderen: da wir in Rosenzweig und Cohen zwei jüdischen Denkern begegnen, dürfen wir bei Nennung des Wortes Gott weder einen vom christlichen Verständnis her »figürlichen Gott« noch eine natürliche Gnade Gottes in uns aufrufen, sondern eher eine offene Frage, einen Abgrund, ein fast-Nichts. Wir kommen darauf zurück. Bis in das 18. Jahrhundert haben sich die Philosophen ganz selbstverständlich mit der Frage nach Gott oder sogar – wie noch im Falle Leibnizens – mit Gottesbeweisen beschäftigt. Theologie und Philosophie traten immer noch als Geschwisterpaar auf, bevor im Zuge der sog. Aufklärung die Philosophie bei ihrem Aufstieg zur »Leitwissenschaft« meinte, sich der Theologie als treue oder kritische Begleiterin entledigen zu können. Aber hier regierte mehr der Schein philosophischer Autonomie, denn so gänzlich die Amme zu verstoßen, von der man sich Jahrhunderte lang genährt wusste, widersprach weniger dem »Taktgefühl« als dem aus der Kindheit erhalten gebliebenen Wunsch nach Geborgenheit. So ließ sich der im Milieu des Pietismus aufgewachsene Immanuel Kant vernehmen, dass wir zwar das »höchste Gut«, nämlich das Sittengesetz, rein aus unserer Vernunft ableiten könnten, dass aber für die Erfüllung dieses Gesetzes unsere Vernunft nicht hinreiche, da hierzu ein »dem höchsten Gut angemessener Wille« erforderlich sei. Diese »Angemessenheit des Willens zum höchsten Gut« sei nur einem Gott gegeben. Kant spricht hier auch von der »Heiligkeit Seines Willens« und der Aufgabe des Menschen, in der »Beobachtung der Heiligen Pflicht, die uns Sein Gesetz auferlegt« 12 , Gott die höchste Ehre zu erweisen. Ohne diese Orientierung am »heiligen Willen« sei die Kluft zwischen Sollen und Können schwerlich zu überbrücken. Denn die Vernunft sei nicht nur in ihrer Erkenntnisleistung beim Erwerb neuen Wissens äußerst schwach, sondern darüber hinaus könne das Wissen 12
Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft, Felix Meiner Verlag 1985, S. 151 A
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uns noch nicht einmal sichere Auskunft darüber geben, ob unsere ethischen Handlungen in ihren Wirkungen einen Sinn hätten, dem gesetzten Anspruch auch nur minimal genügten oder wir uns der Glückseligkeit würdig erwiesen, wie Kant es formulierte. Um dennoch das Vertrauen in die »Koinzidenz von physischer Kraft und Vernunft« als Grundlage unseres ethischen Handelns jeweils neu zu schöpfen, erfordere gerade die Vernunft die Mitwirkung des Glaubens oder eben das »Postulat der … Existenz Gottes«. 13 Wie wir schon gesehen haben, ging Hegel in seiner »christlichneuheidnischen Synthese« (Rosenzweig) sehr viel weiter. Er identifizierte kurzerhand den Staat mit Gott und sah die Epoche des Christentums als die Selbstverwirklichung des Weltgeistes. Hegel verstand sich selbst als christlichen Philosophen, womit nun endlich auch die Philosophie die letzten Spuren abstreifen konnte, die sich an ihrem Gewand von den Fingernägeln der Theologie noch finden mochten. Die Philosophie hatte unter ihrem endgültigen Vollender die Theologie obsolet gemacht, indem diese jene aufgesogen hatte. Diese Vereinnahmung der Theologie durch die Philosophie war ein nicht unwesentliches Element, an dem sich die Opposition jüdischer Denker gegen den Idealismus entzündete, um jedoch nicht in ihr zu verharren, sondern einen anderen Weg des Philosophierens – über den griechischen Logos hinaus – in Deutschland und Europa zu eröffnen. Auch Hermann Cohen und Franz Rosenzweig begannen damit, Philosophie und Theologie einerseits zu entzerren und andererseits sie wieder auf den gemeinsamen Weg der Liebe zur Weisheit oder »Weisheit der Liebe« (Levinas) zu schicken. Blicken wir kurz auf die aktuelle Gemengelage unter den Philosophen. Auf die Gespräche zwischen Jürgen Habermas und den damaligen Kardinal Ratzinger muss nicht weiter verwiesen werden, um daran zu erinnern, dass auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Grenzen der Vernunft von aufgeklärten Köpfen anerkannt werden. Interessanter scheint uns das Werk des Berliner Philosophen Volker Gerhardt, der – man ist versucht zu sagen, in den Fußstapfen Hermann Cohens – sich um eine neuerliche Wechselbeziehung von Philosophie und Theologie bemüht. Es sei ein Fehler, dass die Philosophie die rationale Theologie aus ihrem Kanon herausgetrennt habe, so Gerhardt. Wenn nämlich die Philosophie weiterhin den klassischen Anspruch erhebe, sich mit dem 13
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Ganzen der Welt zu befassen, dann folge daraus notwendig die Einbeziehung Gottes in den philosophischen Diskurs, da erst »Gott die Korrespondenz zwischen Mensch und Welt garantieren könne«. Daraus folge, dass nur die Theologie das Ganze abklären könne. Auf der Suche nach dem Sinnhorizont als Bedingung unseres Verstehens ist »Gott die einzige Instanz, die den Sinn des Horizonts glaubwürdig garantieren kann.« Gerhardt wandelt in den Spuren seines großen Vorbildes Kant, wenn er sagt: »Beim Gedanken an das Äußerste, Grenzenlose der Welt wirkt der Glaube als ein von der Vernunft getragenes Gefühl, das der Vernunft die Sicherheit gibt, die sie aus eigener Kraft nicht gewinnen kann …« 14
Diese knappen Hinweise sollen genügen, um die bis heute anhaltende Virulenz der Gottesfrage für die Philosophie darzulegen. Selbst diejenigen, welche auf der Suche nach Gott wie Heidegger zu Gottesleugnern wurden, kommen an ihr nicht vorbei. Viel bedeutender als diese nicht originelle Feststellung ist jedoch die Frage nach Gott und Religion im jüdischen Glauben, welche die Leser des vorliegenden Werks interessieren wird, sofern sie mit jüdischen Angelegenheiten nicht vertraut sind. »Das Judentum ist keine Religion« – dieser Satz stammt von Emmanuel Levinas, und Rosenzweig selbst sieht in der Religion menschliche »Projektionen und Substanzialisierungen«, in denen der Mensch weniger Gott als vielmehr sich selbst anbetet. Dem Judentum ist darüber hinaus jede Personifizierung Gottes fremd – schon die Nennung seines Namens erscheint als Zugeständnis an eine christlich geprägte Gesellschaft. Gott ist der schlechthin Andere, der sich uns als Geisthauch, als Atem durch das Wort mitteilt. In der demütigen Perspektive auf diesen ganz Anderen kann es dem Menschen gelingen, immer wieder über die Schranken seines Ich hinaus zu gehen. Wir zitieren noch einmal die ganze Passage des oben angefangenen Textes von Levinas: »Das Judentum ist keine Religion, dieses Wort gibt es auf hebräisch nicht einmal. Es ist viel mehr, es ist eine Auffassung des Seins. Der Jude hat die Idee der Hoffnung und der Zukunft in die Geschichte eingeführt … zudem hat der Jude das Gefühl, dass seine Verpflichtungen dem anderen Menschen Volker Gerhardt: Das Göttliche als Sinn des Daseins. Reflexion über das Verhältnis von Gott und Natur, in: P. Kolmer/K. Köchy (Hg.): Gott und Natur. Naturwissenschaften und Theologie, Philosophische Positionen zum aktuellen Streit um die Evolutionstheorie, Verlag Karl Alber Freiburg 2011
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gegenüber noch vor seinen Verpflichtungen Gott gegenüber kommen, oder genauer gesagt, der andere Mensch ist die Stimme der höchsten Gefilde, des Heiligen selbst. Die Ethik ist eine Optik hin zu Gott; die einzige Art, Gott zu respektieren, ist, den Nächsten zu achten.« 15
Gottes Spur zu folgen, die sich im anderen Menschen offenbart, wird zur Aufgabe des gläubigen Juden. Gottesbeweise finden hier keinen Platz – im Gegenteil, aus dem Judentum sind radikale Äußerungen des Zweifels und der Relativierung hinsichtlich unseres Wissens über Gott tradiert. So wird der Gaon von Wilna mit den Worten zitiert: »Kein Mensch weiß irgend etwas über Gott, nicht einmal, ob er existiert«. Levinas’ Biograph Salomon Malka berichtet, dass unter den vielen hebräischen Namen für Gott auch der Name »Kawjachol« genannt werde. Dies bedeute so viel wie »den Verhältnissen entsprechend, verhältnismäßig. Oder aber: sozusagen«. 16 Dramatischer lässt sich nicht ausdrücken, dass die Suche nach Gott den Menschen öffnen soll für die Infragestellung und Relativierung des scheinbar Selbstverständlichen. Dies zeigt sich in erster Linie am Umgang mit den Texten. In knappster Form wird dafür wiederum in Malkas Levinas-Biographie ein Beispiel gegeben, wenn es um die Talmud-Lesungen geht, die der Philosoph Levinas über viele Jahre in Paris gehalten hat. Die Texte des Talmud seien wie »die Briefe einer fernen Geliebten, die man an seinem Herzen aufbewahrt, die man gläubig küsst, und die man wieder und wieder liest, wie einen Text, der in unsere Seele eingedrungen ist, sie geformt hat, mit dem sie seit dunklen Urzeiten kämpft« 17 , so wird der jüdische Gelehrte Shalom Rosenberg zitiert. Hier nun leuchtet die durchaus erotische Bedeutung der Sprache für das Judentum auf, und wir beginnen zu verstehen, aus welcher Seelenlust Rosenzweigs Sprachdenken gespeist wurde. Das Liebkosen und Küssen der Worte und Texte verbietet jedwede apologetische, moralisierende oder dogmatische Auslegung derselben. Levinas hat bei seinen Talmud-Lesungen dies peinlich beobachtet, indem er seine persönliche Textexegese vorgetragen hat, aber ansonsten die Schlussfolgerungen seinen Zuhörern überließ. Malka beschreibt das wahrhaft jüdische Drehen und Wenden der Worte als Grundlage von Levinas Lesungen: Zitiert nach Salomon Malka: Emmanuel Levinas – eine Biographie, Verlag C. H. Beck 2003, S. 124/125 16 Salomon Malka: Emmanuel Levinas, S. 176 17 Ebd., S. 122 15
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»Sein Ansatz war, in das Innere der Texte einzudringen und darin bohrend, wendend und umstürzend zu schürfen. Ein subversives Lesen, dem nichts Frömmelndes anhaftete, das das Frömmelnde sogar strikt von sich wies und auf die erworbene Freiheit stolz war …« 18
Levinas selbst fand immer neue poetische Bilder für den Umgang mit den alten Texten. So freute er sich besonders über deren zeitweilige Trockenheit, da diese ihm ermögliche, »dem wüstenhaften Text etwas Wasser zu entlocken.« Wir ahnen etwas von der heiligen Kraft, die wir den Worten entlocken können – und so wird auch die Offenbarung zu einer Begegnung mit dem Text, der uns spricht, den wir nachsprechen und immer neu lebendig werden lassen, indem wir die Worte küssen und streicheln. Mit diesen gänzlich unphilosophischen, unwissenschaftlichen Worten wäre das Sprachdenken schon benannt, aber Rosenzweig wollte über die Erotik der alten Texte hinaus philosophisch wirken, wie wir auf den nächsten Seiten erfahren werden. Noch eine Stimme, die den Unterschied zwischen christlichem und jüdischem Gottbegriff äußerst knapp und – für Christen sicher provokativ – zuspitzt, hören wir bei Leo Baeck. In seiner Schrift »Die romantische Religion« hebt Baeck hervor, dass das Judentum keine überlieferten Dogmen kenne, sondern nur Texte, die ein Jeder neu erforschen und auslegen solle. Es kenne keine göttlichen Gnadenmittel wie die heiligen Sakramente, sondern das Gesetz, welches zur ethischen Tat verpflichte. Baeck bezeichnet das Judentum als klassische Religion, während das Christentum seiner Ansicht nach eine romantische Religion sei. In schlichten Worten klärt er uns darüber auf, was das Judentum nicht sei: keine Religion, die eine entrückte Glaubensstimmung hervorzaubere oder die den Menschen in eine frömmelnde Hochstimmung der Hingabe an Gott versetzt. Schleiermachers »schlechthinnige Abhängigkeit« des Menschen von Gott und seiner Gnade – unabhängig von seinem Handeln – galt Baeck als exemplarischer und »schauderhafter« Ausdruck der romantischen Religion. Der Romantiker kokettiere mit seinem Glauben, der im bloßen religiösen Erlebnis, der Gotteserfahrung, zu einem religiösen Egoismus werde. Der Einzelne suche in der Hingabe an Gott nur sich selbst und nicht die Begegnung mit dem Anderen. Die Andersheit könnte denjenigen ändern, der sich dem Anderen öffne und sich ihm verantworte. Dem romantischen Schwärmer aber genüge die religiöse Stimmung, ihr sich hingebend sei er sich 18
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selbst genug. Wenn er den heiligen Geist empfängt, fühlte er sich gebessert und innerlich gereinigt – im Judentum aber helfe ihm kein Geist und kein Gott, der Mensch müsse die Arbeit an sich selbst ganz und gar allein leisten. 19 Gute Christen werden nun protestieren, dass ihr Glaube auf Schwärmerei und Selbstgenügsamkeit eingeengt wird, was in dieser Härte sicher überzogen erscheinen muss. Wir wollen hier keinen Disput und auch keinen Dialog zwischen Religionen führen – der radikale Hinweis aber auf das Fehlen von Dogmen, göttlicher Gnade und Gotteserfahrung sollte lediglich unsere Warnung unterstreichen, auf den kommenden Seiten nicht leichtfertig an den christlichen Gott zu denken, wenn dieser Name – für Juden sträflicherweise – genannt wird, sondern eher vielleicht gar nichts zu »denken«. In Zeiten, in denen die offizielle Erinnerungskultur in Deutschland abgenutzt erscheint und häufig nur noch ein Ritual bedient, erscheint es umso mehr als ein Desiderat, den Verlust der jüdischen Tradition in das Bewusstsein heutiger und kommender Generationen einzuschreiben. Erst wenn sich die europäische Philosophie dem besonderen Beitrag jüdischer Denker öffnet – ihrer ganz eigenen Methode der Kritik, des bohrenden, umstürzenden Umgangs mit dem Text, dem subversiven Lesen –, werden wir den Verlust wirklich ermessen. Erst wenn Europa seine Wurzeln nicht nur in Athen, sondern auch in Jerusalem (und Bagdad und Alexandria und Samarkand und Cordoba …) aufzuspüren bereit ist, lassen sich Bollwerke gegen eine Wiederholung seiner totalitären, kolonialen und imperialen Vergangenheit aufbauen, die auch dem nächsten Ansturm standhalten können. Die Hoffnung auf Befreiung von der Totalität leitet uns beim Lesen der kommenden Seiten – Rosenzweig selbst hat das Motto dazu gegeben, indem er die Einleitung des »Stern der Erlösung« mit dem Ruf »In Tyrannos!« anheben lässt.
Leo Baeck: Romantische Religion, in: Leo Baeck Werke Band 4, Gütersloher Verlagshaus 2006, S. 59/60
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Kapitel 1: Fäden knüpfen: Hermann Cohens Denkbewegungen zwischen Ethik, Logik und Religion auf dem Grat zwischen Idealismus und Sprachdenken Er habe sich noch für einen Idealisten gehalten – unauffällig streut Franz Rosenzweig diese Worte über Hermann Cohen in die Einleitung des »Stern der Erlösung«. Und Rosenzweigs Freund Eugen Rosenstock-Huessy spricht von Cohen als dem »Idealismus-Philosophen«, womit er wohl andeuten möchte, dass Cohen selbst nicht mehr zwangsläufig als Idealist zu lesen sei. Die Größe von Cohens Werk beruhe darauf, dass es aufgehört habe, Philosophie zu sein. Vielmehr spreche es aus dem Du des Glaubens heraus, so Rosenstock-Huessy. Rosenzweig – im Jahre 1918 weit mehr »Philosoph« als sein Freund Rosenstock-Huessy – spricht Cohen vom »Vorwurf« des Idealismus frei, indem er ihm attestiert: »… zum ersten Mal erkannte und anerkannte hier ein Philosoph, … dass dem Denken, wenn es auszog, um »rein zu erzeugen«, nicht das Sein entgegentrat, sondern – Nichts«. 1 Die Bedeutung dieser Worte wird der Leser am Ende des Kapitels verstehen – jetzt schon enthüllen sie jedoch Cohens Ferne zu Hegel und Heidegger, also zu den »Denkern des Seins«. Mehr noch: in Cohens Werk erleben wir den Bruch eines selbst ernannten Idealisten mit dem Idealismus, was doch deutlich frappierender und womöglich überzeugender sein dürfte als die Brüche eines Schopenhauer und Nietzsche, die ja explizit angetreten waren, dem Idealismus in vollem Harnisch in den Arm zu fallen. Fassen wir Rosenzweigs und Rosenstock-Huessys Kommentare zusammen, dann war Hermann Cohen der erste wahre Philosoph, dessen Werk nicht mehr Philosophie – oder mehr als Philosophie – gewesen sei. Demnach verdanken wir Cohen eine Zäsur im Gang der »Geschichte des Geistes«. So werden er und sein Werk jedoch selten wahrgenommen, da man ihn unter dem Etikett des Neu-Kantianers meint bequem abheften zu können.
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Franz Rosenzweig: Der Stern der Erlösung, Suhrkamp Verlag 1988, S. 24 A
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1 Fäden knüpfen
Cohens Arbeitsteilung zwischen Philosophie und Judentum Hermann Cohen (1842–1918) war der erste Bekenner des mosaischen Glaubens, der als ordentlicher Professor an einer deutschen Universität (Marburg) lehrte. Sein Forschungsschwerpunkt lag seit dem 1880 veröffentlichten Werk »Kants Theorie der Erfahrung« auf einer Neuberwertung der Kantischen Philosophie, und seine philosophischen Hauptwerke folgten dem Dreiklang des Kantischen Systems aus Logik, Ethik und Ästhetik: in den Jahren zwischen 1902 und 1912 erschienen Hermann Cohens »Logik der reinen Vernunft«, »Ethik des reinen Willens« und »Ästhetik des reinen Gefühls«, womit nicht zuletzt sein Name als »Haupt des Marburger Neo-Kantianismus« begründet wurde. Nach seiner Emeritierung ging Cohen 1912 nach Berlin, um an der »Hochschule für die Wissenschaft des Judentums« zu lehren. In seinen letzten Lebensjahren erschienen verschiedene religionsphilosophische Schriften, so z. B. 1915 »Der Begriff der Religion im System der Philosophie«, bevor es ihm noch vergönnt war, die Arbeit an seinem letzten großen Werk abzuschließen, der »Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums«, das 1918 wenige Monate nach seinem Tode veröffentlicht wurde. Die Schulphilosophen konstruieren gewöhnlich einen Bruch in Cohens Leben und Werk, wonach der professorale Lehrer eines verjüngten Kantianismus, mithin der Philosoph des NeoKantianismus in seinen letzten Lebensjahren sein Judentum, seinen prophetischen Glauben »wiederentdeckt habe«. Dass es sich bei dieser Sicht um die Ausgeburt akademischer Ignoranz, philosophischer – möglicherweise christlich- theologischer – Arroganz oder einfach nur dem nicht Wahrnehmenwollen der biographischen Fakten handelt, ist von manchem Cohen-Forscher in jüngster Zeit ausführlich und tiefgreifend aufgezeigt worden. So finden sich z. B. in den Texten Dieter Adelmanns 2 umfangreiche Belege nicht nur der jüdischen Quellen in Cohens Denken, sondern gerade auch seines ungebrochenen JudeSeins (oder stetigen Jude-Werdens) seit den Tagen seiner Jugend, als er mit seinem Vater das Buch »Die Herzenspflichten« von Bachja Ibn Dieter Adelmann: Reinige dein Denken. Über den jüdischen Hintergrund der Philosophie von Hermann Cohen, Verlag Königshausen und Neumann 2010. In den posthum erschienenen Aufsätzen des Cohen-Forschers Adelmann finden sich umfangreiche Materialien zu Cohens Verwurzelung in der jüdischen Tradition sowie zur Geschichte der Wissenschaft des Judentums im 19. und 20. Jahrhundert, auf die sich die hier gegebenen Hinweise zu Cohen beziehen
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Hermann Cohens Denkbewegungen zwischen Ethik, Logik und Religion
Paqda (1088–1130) las. Cohens Vater war Kantor der jüdischen Gemeinde in Coswig, und Hermann Cohens Umgebung ist seit den Tagen seiner Kindheit von Musik und Gebet durchdrungen gewesen. Als er am jüdisch-theologischen Seminar in Breslau seine Studien aufnahm, gehörte dazu ganz selbstverständlich auch das Studium der Synagogalmusik. Schon in seiner ersten Schrift über die platonische Ideenlehre legte Cohen quasi ein »Bekenntnis« zu den Propheten des Alten Testaments ab, indem er die Ideenlehre Platons als korrelative Ausformung des prophetischen Sehens, das eigentlich ein Hören sei, deutete. Aus dem Kreis seiner Breslauer Lehrer (wie z. B. Manuel Joel, H. Steinthal etc.) entwickelte sich die Gesellschaft für die Wissenschaft des Judentums, die um die Wende zum 20. Jahrhundert mit der Veröffentlichung einer mehrbändigen Reihe unter dem Titel »Grundriss einer Wissenschaft des Judentums« begann. Hermann Cohen gehörte von Beginn an zu den Mitherausgebern und Autoren dieses auf 36 Bände geplanten Werkes und unterzeichnete bereits 1904 einen Vertrag für die Publikation der »Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums«, die spätestens 1910 erfolgen sollte. All dies erfahren wir aus Adelmanns Forschungsarbeit, womit die These vom Bruch zwischen Schulphilosophie und Judentum in Cohens Leben ad absurdum geführt wird. Nicht ganz verständlich erscheint vor diesem Hintergrund Adelmanns teilweise heftige Polemik gegen Franz Rosenzweig, dem er vorwirft, die Geschichtsklitterung der offiziellen Cohen-Forschung gefördert zu haben. Gerade weil Rosenzweig sich als wichtigsten Schüler Cohens ausgegeben habe, wiege es umso schwerer, wenn dieser das Aufblühen in Cohens tiefer Sehnsucht nach Gott, in seiner Hinwendung zu den psalmischen Gesängen und in seinem religiösen Wirken auf dessen letzte Lebensjahre zu konzentrieren scheine. Nun stimmt es zwar, dass Rosenzweig in seinem unvergleichlichen Text »Über die jüdischen Schriften Hermann Cohens« nicht auf den schon so frühzeitig gefassten Plan für die Arbeit an der »Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums« eingeht, so dass tatsächlich auch hier der Eindruck entstehen kann, Cohen habe dieses Spätwerk in seiner religiösen »Lebensendphase« quasi »nachgeliefert«. Zugleich aber führt gerade Rosenzweig auf eine unvergleichlich warmherzige Art uns zu dem Menschen Hermann Cohen. Dies gelingt aber vor allem durch die Fülle der Bezüge auf Cohens gläubiges, prophetisches Gottvertrauen, auf seine nie verkümmerten jüdischen Quellen, seine beinah naive SehnA
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sucht nach Gottes Nähe, aber auch die herrlich ironische Streitbarkeit des Philosophen, wenn es um die Verteidigung des Jüdischen ging. Leicht gefallen sein dürfte es weder Cohen noch Rosenzweig, die Spannung zwischen Philosophie und Gottesfurcht, Ethik und Religion, Logos und Gebet, Vernunft und Sprache auszubalancieren, wobei sie gerade aus dieser Spannung immer wieder neue Funken für das Denken geschlagen haben. Darin bestand bereits seit Moses Mendelssohn das besondere Wirken der deutsch-jüdischen Denker. Aber Cohen und Rosenzweig sind daran nicht nur nicht gescheitert, sondern haben gerade aus dieser Spannung immer wieder neue Funken für das Denken geschlagen. Sie hatten dabei auf je eigene Weise das schwere Erbe Hegels zu tragen (und abzuwerfen), in dessen Synthese von Vernunft, Geist, Sein, Geschichte und Gott die Spannung endgültig aufgehoben schien. Dass »ausgerechnet« jüdische Denker an dieser Synthese zerrten und rüttelten – musste das nicht als ein großes Ärgernis für eine »idealistisch gesättigte« Kultur erscheinen? Liegen hier nicht sogar tiefere Wurzeln des Anti-Semitismus verborgen, die selten zur Sprache kommen? Jüdische Denker haben zumindest seit Jahrtausenden an den unaufhebbaren Rest erinnert, den kein System, keine Vernunft und Logik je einholen kann. Sie haben damit immer jenes Zwischen lebendig gehalten, das sich jedem Entweder-Oder entzieht, und dem Vergessen jener Mehrdeutigkeiten gewehrt, die der Sprache innewohnen. Dass an solcherlei Unternehmungen auch immer nicht-jüdische Denker sich versucht haben, entkräftet keinesfalls unsere unbequeme Fragestellung. Vielleicht haben sich jene von der fruchtbaren Unruhe anstecken lassen, die jüdische Denker zu allen Zeiten verbreitet haben. In den unterschiedlichen Antworten, die Rosenzweig und Cohen auf die erwähnte Spannung gaben, tat sich nun als eine neue die zwischen Idealismus und Sprachdenken auf. Schematisch gedacht würde Cohen mehr auf der Seite des Idealismus und Rosenzweig mehr auf jener des Sprachdenkens die Spannung auszuhalten haben. Aber mit solchen Schemata ist wenig bis nichts gewonnen. Rosenzweig hat ausdrücklich und radikal mit dem Idealismus gebrochen, wenngleich er letzte Spuren davon nicht verwischen konnte. Gelingen konnte ihm dies nur, weil er an Cohens erste Schritte in philosophisches Zukunftsland anknüpfen konnte, die sozusagen das Grenzgebiet zwischen Idealismus und Sprachdenken sichtlich markiert haben. Was damit gemeint sei? In einem von Rosenzweig zitierten Wort Cohens mag dieses Gebiet ganz trefflich, wenngleich nussschalenartig aufblitzen: 32
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»Der griechische Geist, und er ist der Typus des wissenschaftlichen Weltsinns, sucht die Vermittlung, wie sie es nennen, zwischen Gott und Mensch. Diesem griechischen Zauber ist der Jude Philo mit seinem Logos zum Opfer gefallen.« 3
Der Idealismus bedarf dieser Vermittlung jedoch nicht nur zwischen Mensch und Gott, sondern auch zwischen Mensch und Natur, Mensch und Mitmensch, indem er fortgesetzt nach dem eigentlichen Wesen fragt, das hinter der Erscheinung verborgen liegen soll. Begriffe, Ideen, Kategorien werden dann als die Agenturen jener Vermittlung zwischen Anschauung und Erkenntnis eingeschaltet. Der jüdische Monotheismus kennt keinen Logos, sondern die direkte Zwiesprache zwischen Gott und Mensch – wobei Gott weder als figürlich noch als ein bestimmbares Wesen oder Etwas zu »denken« ist. Überhaupt kann hier nicht von Denken die Rede sein, sondern höchstens kann der Geisthauch Gottes gehört werden. Das hebräische Wort ruach wird als Hauch, Wind, Geisthauch übersetzt. Damit ist genug gesagt über den jüdischen Gott, dessen Name nicht genannt wird. In jedem Fall: die direkte Zwiesprache kennt nur die sprachliche Vermittlung. Wenn Vernunft Sprache ist, wenn die Welt schon vor der Schöpfung sprachlich verfasst war, dann bewegen wir uns durch die Vermittlung der Sprache – hörend und antwortend – auf den Anderen und das Andere zu. Diese ersten Hinweise auf das Grenzgebiet zwischen Idealismus und Sprachdenken sollen lediglich den Appetit wecken und wach halten auf die schrittweise folgende Erschließung dieses Geländes. Folgen wir jedoch zunächst weiter den Spuren, auf denen Rosenzweig uns zu Cohen führt. Dabei erscheint die Frage zumindest frag-würdig, weshalb Cohen die Ausarbeitung seines philosophischen Systems zeitlich der Abfassung seiner Religionsschriften vorgezogen hat. Rosenzweig beantwortet diese Frage in mehreren Anläufen. Zum einen sieht er in Cohens Wirken eine »Arbeitsteilung zwischen der Arbeit an der deutschen Kultur ohne Hinter- und Nebensinn und der Arbeit am Fortbestand seiner jüdisch-prophetischen Religiosität«. 4 Und erst diese Arbeitsteilung habe seinem Gemüt die wahre Einheit und den Lebensmittelpunkt gegeben. Diese Worte versteht nur allzu gut, wem die Entwicklung des jüdischen Geisteslebens in Deutschland Franz Rosenzweig: Einleitung in die Akademieausgabe der jüdischen Schriften Hermann Cohens, in: Zweistromland, Philo Verlagsgesellschaft 2001, S. 200 4 Ebd., S. 185 3
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seit den Tagen Moses Mendelssohns gegenwärtig ist. Hat doch dieser »dritte Moses« seinen Mitbrüdern im Glauben geistige Wege aus der orthodoxen Enge geöffnet, ohne die Wurzeln des Offenbarungsglaubens ausreißen zu müssen. Nicht zuletzt fanden jüdische Denker deswegen in der deutschen Kultur bald eine geistige Heimat, weil beide Völker ihre Identitäten eher in der Sprache als in einer – noch nicht existierenden – Nation suchen mussten. Cohens Arbeitsteilung führte jedoch laut Rosenzweig auch zu einem experimentellen Charakter seiner Arbeit, wie das folgende Zitat zeigt: »Cohen ist, obwohl durch und durch Systematiker, gar kein architektonischer Denker. Sein System ist kein Gebäude, durch das der Baumeister, der es erstellt hat, nun den Beschauer hindurchführt. Sondern sein Denken spinnt erst die systematischen Beziehungen an, die vorher nicht sichtbar sind. Ganz wenige Voraussetzungen sind ihm gegeben, eigentlich nur zwei: die Sonderung der logischen und der ethischen Aufgabe. Dazwischen werden nun die Fäden gezogen, und zwar kommt es dabei offenbar nicht auf das Gespinst an, sondern auf das Spinnen; die Aufhängepunkte des Netzes sind fest, fest bis zur Starrheit, dazwischen bleibt alles locker, gewissermaßen im geistigen Aggregatzustand des Experiments … ist das Experiment gelungen, so kann die Versuchsanordnung ruhig wieder abgebaut werden; sie diente nur dem Experiment … Dieser experimentierende Grundzug seines Denkens, das nie eigentlich beweist, auch kaum je aufweist, sondern immer nur denkt, äußert sich nun auch darin, dass er immer erst dann denkt, wenn er – denkt. Er nimmt sich sein eigenes Denken allenfalls als Aufgabe, nie im Resultat vorweg.« 5
Implizit sind hier natürlich auch jene Fäden mitzudenken, die Cohen zwischen Logik, Ethik und Ästhetik sowie zwischen allen dreien und der Religion geknüpft und wieder abgebaut hat. In jedem Fall folgte also in Cohens Werk laut Rosenzweig Experiment auf Experiment – und wenn die »Religion der Vernunft« »allenfalls als Aufgabe« bei allen philosophischen Experimenten präsent war, nie aber als Resultat vorweggenommen werden sollte, dann ergibt sich beinah die Richtung von selbst, in der die aufgespannten Fäden wieder abrollen: Rosenzweig spricht vom Überschuss, der nach jedem Experiment übrig blieb – man könnte besser vom Rest sprechen. Der von der Ethik nicht beantwortbare Rest – oder eben die jenseits der Ethik vorhandenen Überschüsse – habe Cohen in der Ästhetik »anzulegen gedacht«. Aber auch nach diesem Denkexperiment hätte sich der Denker überzeugen kön5
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nen, dass immer noch ein Überschuss blieb. Zwar erlebten wir in der Kunst die »ästhetische Humanisierung des Religiösen« 6 , aber gerade in dieser so exakten Formulierung werde deutlich, dass immer noch etwas zurückbleibe, was selbst im Reiche der Kunst keine Unterkunft finde. Nun wurde der Weg frei für die Arbeit an den Religionsschriften. Cohen entdeckt hier den so weit reichenden Begriff der Korrelation – der Wechselbeziehung oder Wechselwirkung zwischen Gott und Mensch, aber auch Mensch und Natur, Gott und Natur etc. Mit der Korrelation ist sicher gestellt, dass Mensch und Gott getrennt bleiben, womit einer Vergöttlichung des Menschen genau so gewehrt ist wie einer Vermenschlichung Gottes – aber weit über dieses Bezugspaar hinaus formuliert Rosenzweig die größeren philosophischen Konsequenzen aus dem Begriff der Korrelation: »… was sich wechselseitig aufeinander bezieht, das ist nicht in Gefahr sich einander die Wirklichkeit streitig zu machen …« 7 Anders gesagt: die methodische Tendenz zur Reduzierung – also »alles« entweder aus dem Göttlichen, dem Menschlichen oder dem Natürlichen ableiten zu wollen – wird von Cohen zurückgewiesen. Er begegnet uns als ungewöhnlicher »Systemdenker«, der unter System nicht ein abgeschlossenes Gebäude versteht, sondern den Vorgang des Fädenknüpfens. Einigen ganz wenigen der Cohenschen Fäden – und vor allem ihrem Gesponnenwerden – wollen wir folgen, um exemplarisch drei wichtige Motive zu erhellen, die auf die eine oder andere Weise Rosenzweig zur Entdeckung des Sprachdenkens angeregt haben. Man könnte hier auch von »jüdischen Motiven« sprechen, da sie Bezüge zur Offenbarung, zur Kabbala oder zum Messianismus erkennen lassen. Gemeint sind die Entdeckung des Ich im Du, das Nichts als Grundlage des Etwas sowie die Zukunft als der wirklichen Zeit.
Die Entdeckung des Ich im Du – von der Ethik zur Religion In welchem Verhältnis stehen Ethik und Religion zueinander? Um dieser Frage näher zu kommen, verlangte Cohen von sich selbst zunächst ein Denkexperiment: könnte sich nicht die Religion eines Tages in reine Ethik auflösen? Der Lektüre des schon erwähnten Buches »Die Her6 7
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zenspflichten« von Bachja Ibn Paqda folgend, hatte Cohen schon immer die Auffassung vertreten, das Judentum sei eine reine Sittenlehre, und die Propheten seien die ersten Sozialpolitiker, die ethische Grundsätze predigten. Die radikale Operation einer Einpflanzung der Religion in das Feld der Ethik erscheint damit gar nicht so abwegig. Aber vor solch – möglicherweise endgültigem – Einschnitt müsste doch dieses Feld erst einmal genauer untersucht werden. Und dieses leistet Cohen in der »Ethik des reinen Willens«, in der bereits die Entdeckung des Ich im Du angelegt ist.
a.
Allheit, Mehrheit oder Einheit? Plural oder Singular?
Die »Ethik des reinen Willens« beginnt mit Sokrates und einer »großen Schwierigkeit«: die Ethik solle – so Cohen – nach Sokrates eine Lehre vom Menschen sein, zugleich ließe sie sich aber erst durch Befragung der Menschen erarbeiten. Wie können wir jedoch denjenigen befragen, dessen Eigenart oder Wesen wir erst suchen: »Wenn es nämlich erst die Ethik ist, welche die Lehre vom Menschen entwirft, so kann auch sie erst den Begriff des Menschen entdecken. Wie könnte aber eine Ansicht vom Menschen allgemein und unzweifelhaft geworden sein, wenn sie nicht im Begriffe des Menschen ihre Voraussetzung und ihren Grund hat? Weit gefehlt also, dass die Ethik von einer einheitlichen Ansicht vom Menschen ausgehen könnte, ist solche vielmehr erst ihr Ziel und ihr eigentlicher Inhalt.« 8
Es stelle sich nämlich gleich zu Beginn die Frage, ob wir den Menschen im Singular oder im Plural meinten, ob wir ihn als Einzelwesen oder als Teil einer Mehrheit oder sogar Allheit ansprächen. In dieser Problemstellung schimmert schon ein Sprachdenken gegen das idealistische Denken durch. Denn tatsächlich fragt Cohen nicht nach dem »Wesen« des Menschen, sondern nach der Beziehung, in der er zu Anderen steht. Die Sprache zu denken, heißt in Bezügen zu denken, denn die grammatischen Formen sagen eben vor allem etwas über die zeitlichen, räumlichen und kausalen Relationen aus. Aber zunächst geht es nur um die Frage nach Singular oder Plural, die Cohen zu einer Unterscheidung zwischen Sokrates und Platon führt: Sokrates habe sich vornehmlich Hermann Cohen: Ethik des reinen Willens, Werke Band 7, Georg Olms Verlag 1981, S. 3 (im Folgenden als EW gekennzeichnet)
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mit dem Menschen als Einzelnem beschäftigt, der zwar auch immer verschiedenen Mehrheiten wie Berufsgruppen, Familien oder Volksstämmen angehörte, aber darin nicht seine Partikularität, seine Vereinzelung als Individuum überwunden habe. Erst Platon habe den Begriff einer Seele entwickelt, die sowohl dem Individuum als auch dem Staat (man müsste hinzufügen, auch dem Kosmos) innewohne und auf diese Weise sein Einzelwesen mit der Zugehörigkeit zur Mehrheit und Allheit zu einer Einheit verknüpfe. Daraus folgt Cohens Interpretation der platonischen Lehre: Erst in der Beziehung zum Staat erlange der Einzelne seine innere Einheit. Dieser Spur folgt Cohen im ersten Teil seiner »Ethik des reinen Willens« konsequent und auf eine für heutige Ohren manchmal befremdliche Art. Tatsächlich lesen wir Sätze wie diesen: »Erst in der Allheit der staatlichen Einheit, in der Einheit der staatlichen Sittlichkeit erfüllt sich die Einheit des Menschen«. Dieses für uns schwer erträgliche Pathos hat sich noch zu Beginn des ersten Weltkriegs in mancher politischen Schrift Cohens entladen. Hat er dies selbst am Ende seines Schaffens bemerkt und korrigiert? Doch vergessen wir beim Lesen nicht, dass wir den Fäden eines Denkexperiments folgen: Wenn Cohen als Ausgangspunkt der Ethik die Beziehung des Einzelnen zum Staat sehen möchte, dann ist dies zunächst einmal ein Plädoyer gegen einen wurzellosen Individualismus, der leicht zur Vergötterung des Menschen führt. Es war eben nicht nur der wilhelminische Staat, der den Völkerfrieden oder die Würde des Einzelnen bedrohte, sondern die herrschende Elite dieses Staates war von einer »christlich-neuheidnischen« oder christlich-idealistischen Ideologie geprägt, die starke Züge der missionarischen Sendung des Hegelschen welthistorischen Individuums trug. Auf dem Grund des jüdischen Monotheismus bauend, war Cohen durch kein Tabu gefesselt und wagte gegen die Vermischung von Christologie und Machtpolitik einen mutigen Vorstoß, in dem er den Gedanken des einen – gottähnlichen oder gottgleichen – Menschen als Quelle für die verschiedenen Ich-Philosophien oder Heroenkulte benennt: »Darin besteht der schwere Anstoß, den Christus als Individuum bildet: dass er als das einzige Individuum gedacht werden muss … der stoisch-christliche Gedanke von der idealen Macht des Individuums, wie er in der Stoa wenigstens im Naturalismus wurzelt, hat die gesamte Ansicht von den eigensten Quellen der Geschichte beeinflusst und beherrscht. Und dieser Einfluss hat sich nicht beschränkt auf einen Idealismus des Leidens und der Entsagung, sondern oft genug, wie nicht minder auch in unserer Zeit, in dem MaterialisA
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mus der Macht-Anbetung sich bloßgestellt. Denn in der Geschichte werden nicht die Armen und die Mühseligen zu Heroen, sondern die Mächtigen. Die geschichtliche Ansicht wird daher zur leitenden in der Politik.« 9
Der »Idealist« Cohen warnt also vor einem Idealismus des »welthistorischen Individuums«, das zum Träger der Ideen des Guten, des Wahren, des Schöpferischen, Göttlichen, Ewigen wird und folglich als »einziger Mensch« und »Erlöser« – sei es in der Religion oder der Politik – angebetet wird. Die fatalen Folgen kennen wir aus leidvoller Geschichte; obwohl ursprünglich im Gekreuzigten der Leidende und nicht der Mächtige angebetet wurde, ließ sich das Motiv des Erlösers in Menschengestalt politisch nutzen und in sein Gegenteil verkehren. Auch in einem sich selbst als post-ideologisch und post-heroisch definierenden Zeitalter wie dem unsrigen sind Menschen nicht gegen die verführerische Macht von politischen und religiösen »Zauberern und Predigern« gefeit, wie nicht nur die verschiedenen Fundamentalismen zeigen. Vielleicht erliegen Menschen heute weniger dem politischen Magier als dem Vermittler, dem Darsteller, dem Berater, mithin denjenigen, die sich selbst gekonnt inszenieren. Die Magie bezieht ihre Wirkung in jedem Fall immer aus irgendeiner Form der Vergötterung des Individuums, der die Ich-Philosophien der Neuzeit Vorschub geleistet haben. Die Ethik hat also – auch für Cohen – die Aufgabe, die Bindung der Individuen an etwas Allgemeines (Mehrheit oder Allheit) zu suchen. Aber an wen oder was? Den Staat? Wie lässt sich dann aber verhindern, dass statt der Vergötterung des Individuums der Staat vergöttert wird – und so ein weiteres Mal der »reine Wille« vernichtet wird? Was meint aber Cohen mit dem Begriff eines »reinen Willens«? Zunächst markiert er damit den Unterschied zwischen Ethik und Logik, die es nur mit Erkenntnis zu tun habe und nicht mit dem Willen. Dann knüpft er seinen Faden vom reinen Willen über das »reine Bewusstsein« zum Selbstbewusstsein – denn das »Bewusstsein des reinen Willens« sei im Unterschied zum »Bewusstsein reiner Erkenntnis« nicht auf äußere Gegenstände gerichtet, sondern auf eine Handlung, die dem Willen des Subjekts (also dem Selbst) entspringe. Hier türmen sich – laut Cohen – erneute Schwierigkeiten, die uns der Idealismus beim Versuch der Begriffsbestimmung des Selbstbewusstseins hinterlassen habe. Descartes habe diese Schwierigkeiten systematisch aufgebaut, als 9
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er statt des »Cogitare« das »Cogito« als Prinzip der Grundlegung des Bewusstseins gesetzt und damit einer einseitigen Ich-Philosophie Vorschub geleistet habe, so Cohen. Um dieser Einseitigkeit zu begegnen, habe Kant das »Selbstbewusstsein hinter die Einheit des Bewusstseins zurückgedrängt«. Cohen bezeichnet es aber als einen »schwerwiegenden Fehler« Kants, diese Einheit des Bewusstseins auf die Erkenntnis im Bereich der mathematischen Naturwissenschaften eingeschränkt zu haben, während er diese Einheit – sowohl des Bewusstseins wie des Subjekts – aus der Ethik »verscheucht habe«. Was meint Cohen damit? Spielt er auf das Kantische »Ich denke« an, welches zwar nicht wie bei Descartes Grundlegung, aber doch zumindest »Begleitung« aller Erkenntnis und allen Handelns sei? Welche Brücke aber führt von dem »Ich denke« zum »allgemeinen Bewusstsein«? In der mathematischen Naturwissenschaft – so Cohen – erkennt Kant diese Einheit an. Wir würden sagen, weil er die wissenschaftliche Erkenntnis der Natur oder der Welt an die synthetische und analytische Kraft der Kategorien des Verstandes bindet. Wenn die Wirkung dieser Kategorien in jedem menschlichen Verstande vorausgesetzt wird, lässt sich daraus leicht die Einheit des Bewusstseins konstruieren. Im Bereich der Ethik aber spricht Kant von jeweils subjektiven Maximen statt von allgemeinen Kategorien. Dass diese Maximen schließlich mithilfe des kategorischen Imperativs an »allgemeine Gesetze« geknüpft werden, türmt nur eine weitere Schwierigkeit auf die schon existierenden auf. Denn die in der Ethik geforderte Beziehung zwischen dem Ich und der Mehrheit oder Allheit gerät damit immer mehr ins Abstrakte. Über die Kritik an Fichte schließlich gelingt Cohen der entscheidende Schritt. Fichte hat bekanntlich nicht nur am Beginn aller Philosophie »ein Ich gesetzt«, sondern die Welt in Ich und Nicht-Ich unterteilt. Hier kam der Mathematiker Cohen auf den Geschmack: schöpferisch an Fichtes Gedanken sei zwar der methodische Hebel, ein Etwas (die Welt außerhalb des Ich) über den »Umweg« seiner Negation zu finden, aber im Falle des Fichteschen Nicht-Ich sei dies nun schier gefährlich und auch offenkundig falsch, denn zwischen dem Ich und der Totalität der Welt der Objekte (also dem Er, Sie, Es) werde der Andere – das andere Ich des Mitmenschen – übersehen. Diese Kurzsichtigkeit Fichtes wird für Cohen nun aber zum produktiven Fehler, der ihm zu dem gesuchten Dritten führt. Cohen leistet in der »Ethik des reinen Willens« einen bedeutsamen Schritt, der 10 Jahre später in der »Religion der Vernunft« konstitutiv für das Gesamtwerk werden A
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sollte: das Ich lasse sich gar nicht zur Entdeckung bringen, ohne zunächst den Anderen oder – wie er später sagen wird – das Du zu »setzen«, womit die Ich-Philosophie eines Descartes und Fichte in ihrer Einseitigkeit deutlich wird. Wie kommt Cohen gerade in der Kollision mit Fichte auf das Du? Die Methode der Negation – »zum Etwas auf dem Umweg über das Nichts zu gelangen« – werden wir noch als Cohens schöpferische Neugestaltung der Logik kennen lernen. Sie hilft ihm in der Ethik dabei, den Inhalt der Fichteschen Negation zu erweitern: das Nicht-Ich nicht nur auf die Welt der Gegenstände zu beziehen, sondern in erster Linie auf den »Nebenmenschen«.
b.
Die Entdeckung des Anderen in der Rechtshandlung
Damit dieser »Nebenmensch« zum Bezugspunkt des Ich werden könne, dürfe er nicht nur als Teil einer diffusen Mehrheit wahrgenommen werden, sondern als »der Andere«. Das Wort Du vermeidet Cohen vorläufig noch. Mit dieser »Operation« hat Cohen die Fäden gesponnen, um den »reinen Willen« zu behaupten, ohne einer Vergötterung des Ich oder des Staates Vorschub zu leisten. Die Begegnung mit dem Anderen lässt keine Ich-Fixierung mehr zu, hebt aber gleichzeitig das Ich nicht in die Verdinglichung unter einem abstrakten, anonymen Staat auf. Der Andere begegnet uns – wenn wir nicht an die Familie oder die Freunde, sondern an das öffentliche oder gesellschaftliche Leben denken – zunächst auf dem Feld des Rechts, z. B. als Vertragspartner. Und genau dahin will Cohen nun seinen Faden ziehen, das Recht zur Grundlage des Staates zu erklären. Inzwischen mit dem Cohenschen Modus des Denkexperiments vertraut, ebenso mit seinem Gestus, hinter jedwedem Begriff eine Aufgabe statt ein schon Gegebenes zu suchen, dürften wir gegen den Irrtum gewappnet sein, Cohen sähe das Recht im Staat als bereits erfüllt an. Vielmehr möchte Cohen bekräftigen, dass seit Jahrtausenden ein erbitterter Kampf darum tobt, den Staat auf rechtliche Grundlagen zu stellen und hier also eine gigantische Aufgabe für etliche Generationen sich auftürme. Gleichwohl gilt, dass Rechtssprechung und Rechtsverhandlungen der Ort sind, an dem der Einzelne der Institution des Staates begegnet – aber eben nicht als Abstraktum, sondern im konkreten Fall der Auseinandersetzung mit dem Anderen. Jetzt nähern wir uns langsam der Antwort Cohens auf die Frage, wie der Vernichtung oder Auflösung des Individuums durch 40
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die vereinnahmende Allmacht des Staates zu wehren sei. Cohen benennt die Gefahr mit den Begriffen Verschmelzung und Vereinigung. Mit dem Anderen als Nicht-Ich sei gerade diese Vereinigung oder Verschmelzung nicht angestrebt – vielmehr erlebten das Ich und der Andere in der Rechtshandlung, dass sie zwar aufeinander angewiesen seien, aber nicht ineinander verschlungen sein dürften: »In der Tat zeigt es sich schon im Rechtsgeschäfte, wo es sich doch für jeden Kontrahenten um seinen Vorteil handelt, dass nichtsdestoweniger auch der Andere berücksichtigt werden muss; andernfalls könnte es nicht zu derjenigen Genauigkeit, Klarheit und Sicherheit kommen, welche in der Rechtshandlung gefordert werden.« 10
Mit dem »Rechtsgeschäfte« ist natürlich das ganze Feld gesellschaftlichen Wirkens – vom einfachen Geschäfts- oder Kaufvertrag und der politischen Teilhabe bis zur Gesetzgebung auf höchster Ebene – gemeint. Gerade weil das Ich und der Andere in diesem Rechtsgeschäft als Kontrahenten auftreten, besteht weder Neigung noch Gefahr einer »Vereinigung« oder »Verschmelzung« zwischen Beiden. Jeder wahrt seine Eigenart im gleichzeitigen Bewusstsein der Angewiesenheit auf den Anderen. Korrelation – einer der Grundbegriffe des Cohenschen Denkens – bedeutet Wechselwirkung und nicht Verschmelzung. Auf dem Felde des Rechts bzw. der Ethik demonstriert Cohen diese Einsicht, bevor er sie in die Religion als Korrelation zwischen Gott und Mensch einführt. Hierzu spinnt er besonders lange und reißfeste Fäden, denn gerade auf religiösem Gebiet erscheint ihm die Gefahr von Vereinigung und Verschmelzung besonders bedrohlich. Und dies aus zwei Gründen, deren nähere Betrachtung gleichzeitig Cohens Staatsbegriff in ein neues Licht setzt: »Der höchste Ausdruck, mit dem die Religion zu operieren vermag, ist die Liebe. Was bedeutet ihr dagegen das Erkennen? Im hebräischen Ausdruck bedeutet Erkennen zugleich Lieben. Umso mehr daher Lieben zugleich Erkennen. Die Liebe hat den Nebenmenschen geboren. Das ist ein großes Werk, das von der Ethik nicht verkleinert werden darf. Die Geschichte der Ethik hat, wie alle Arten der sittlichen Kultur, so vorzugsweise auch die Religion und ihre sittlichen Entdeckungen zu erforschen und zu würdigen. Aber die systematische Ethik muss ihre eigenen Wege gehen, sie darf sich von der Sprache und den Ausdrücken der Religion, die im strengen Sinne niemals Begriffe
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sind, nicht gängeln lassen. Daher müssen wir hier den Ausdruck der Liebe in Anspruch nehmen und in Frage stellen.« 11
Und er fährt mit dem folgenschweren Satz fort: »Die Liebe ist ein Affekt … das Selbstbewusstsein aber, welches den Anderen fordert, darf nicht auf den Affekt allein gegründet sein. Es beruht nicht auf dem Affekt; es wird von dem reinen Denken im reinen Willen gefordert. Der Andere wird vom Recht gefordert. Und wir werden sehen, wie er auch vom Staat gefordert wird, und dass es keineswegs richtig ist, dass im politischen Sinne der Andere ausschließlich als der Fremde betrachtet werden müsse, welcher die Einheitlichkeit des Staates bedrohte und zunichte machte.« 12
c.
Warnung vor politischer Theologie
Jetzt erst verstehen wir, warum Cohen das Recht und den Staat als eigentlichen Ort der Ethik immer und immer wieder hervorhebt. Er wird nicht müde, vor den politischen Folgen einer rein mystisch verstandenen Religion zu warnen. Sind der Einzelne oder sogar die Mehrheit erst im Nebel der mystischen Netze gefangen, könne sich leicht die Politik daran infizieren und statt eines Staatsbegriffs, der auf dem Recht gegründet sei, mit romantischen Begriffen wie Nation und Volk hantieren. Dies möchte Cohen unter allen Umständen verhindern, deswegen geht er den langen und steinigen Weg über die Allheit, den Staat, das Recht hin zum Anderen, der zunächst nur als Kontrahent der Rechtshandlung auftritt. Cohens Pathos von der »Einheit der staatlichen Sittlichkeit«, das uns zunächst etwas muffig anwehte, sollte – im Gegensatz zum heutigen Verständnis – gerade alles Völkische und National-Chauvinistische abwehren. In der »Rechtshandlung« sah Cohen die Gewähr dafür, nüchtern anzuerkennen, dass man aufeinander angewiesen sei, aber deswegen nicht miteinander zur Gefühlsgemeinschaft verschmelzen müsse. Während die romantische Hingabe an Volk und Nation immer auf die Ausschließung des Fremden abzielte, habe der Staat die Aufgabe, auf die »universelle Menschheit« hinzuführen, so Cohen. Wie aber kommt Cohen dazu, einen verknüpfenden Faden von der religiös getragenen Liebe zum »Fremdenhass« zu ziehen? Diese Frage erscheint zu wichtig, als sie zu übergehen, deswe11 12
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gen verfolgen wir ein wenig genauer den Weg des Fadens von der Quelle an. Religiöse Liebe bezeichnen wir »arglos« als Nächstenliebe. Die Arglosigkeit entspringe laut Cohen einem weltgeschichtlich folgenschweren »Übersetzungsfehler«. Von Nächstenliebe nämlich sei im hebräischen Urtext keinesfalls die Rede, sondern dort heißt es: »Liebe Deinen rea als Dich selbst.« Rea aber heißt der Andere. Und erst in der griechischen Übersetzung des Alten Testaments, der Septuaginta, sei aus dem Anderen der Nächste geworden. Cohen geht dem weiteren Bedeutungswandel des Wortes nach: »Dieser Ausdruck nimmt auch in dem klassischen Griechisch die erweiterte Bedeutung der Nähe an. Und in der römischen Sprache sind ja die Verwandten die Nahen. Wenn nun im lateinischen Sprachgebrauch rea mit proximus übersetzt wird, während die Vulgata dagegen mit dem nicht minder verfänglichen amicus übersetzt, so scheint durch den Superlativ der Positiv der Verwandten überstiegen zu sein. Also sind zugleich mit den Blutsverwandten auch die Stammesverwandten übertroffen; und welche andere Nähe und Freundschaft könnte es sonst noch geben, in welche die Menschen in engere Verbindung sich zusammenfügten? Man weiß aber, wie schwer und verhängnisvoll für das sittliche Selbstbewusstsein der Fortgang der Kultur diese Frage beantwortet hat … Näher als Blut und Stamm hat der Glaube die Menschen verkettet. Und der Genosse des Glaubens wurde zum eigentlichen Hausgenossen, er erzeugte jedoch unvermeidlich die legitime Ausnahme von der Regel der Nächstenliebe. Er wurde zum Nächsteren. Man kann es bei Hugo Grotius gewahren, man braucht dafür nicht auf die scholastische Literatur zurückzugreifen, wie die Kriege mit den unchristlichen Völkern dadurch gerechtfertigt wurden.« 13
Der Begriff der Nächstenliebe habe die Schablone für die »Einzäunung relativer Gemeinschaften« abgegeben, was diesen »zweideutigen Begriff in seiner ganzen Gefährlichkeit« erscheinen lasse. Wir vernehmen im inneren Ohr den anschwellenden Chor der Empörung gegen die als unzulässig geziehene Verquickung von Nächstenliebe und Ausschluss der Fremden. Zweifelsohne sind im alltäglichen Gebrauch des Wortes Nächstenliebe auch die entferntesten Menschen – also auch und gerade die Fremden – mit eingeschlossen. Zumindest theoretisch, denn ein jeder, der uns begegnet oder begegnen könnte, sei uns ungefragt der Nächste. Aber sprachlich ist der Nächste eben nicht »jedweder« Andere, also nicht der Andere »schlechthin«. 13
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Vom Anderen zum Nächsten verengt sich das Blickfeld – und so vermischte sich zu gewissen Zeiten der Glaubensgenosse mit dem Volksgenossen. Das Leben als Jude im kaiserlichen Deutschland hatte in Hermann Cohen ein feines Sensorium für diese Zusammenhänge ausgebildet. An diesem eher beiläufigen »Begriffsspiel« wird jedoch exemplarisch deutlich, wie dringend die christliche Gesellschaft des Miteinander mit den Juden bedurfte, um die politische Instrumentalisierung des »Christentums« mindestens zu neutralisieren. Dass Cohen hier so kritisch und akribisch einem scheinbar unverdächtigen Begriff wie dem der Nächstenliebe nachgeht, gibt bereits einen ersten Hinweis auf seine Skepsis gegenüber dem Begriff im Allgemeinen. Wir werden im weiteren Verlauf Vieles erfahren über die Bedeutung von Wort, Name und Sprache im jüdischen Denken. Auch Cohen vertraut dem Namen mehr als dem Begriff – wenngleich er den Unterschied zwischen beiden nie explizit herausgearbeitet hat. Aber die Erstarrung der Begriffe zu Normen und eindeutigen, unhinterfragbaren Formeln hat Cohen als eines der Grundprobleme der Philosophie seiner Zeit aufgespießt und selbst in ständig neuen Anläufen sich bemüht, die Begriffe aus ihrer Starre zu lösen und stattdessen die lebendige Wirklichkeit sprechen zu lassen. Anhand seiner »Logik« werden wir mehr dazu vernehmen. Doch zurück zum Kontrast zwischen Recht und Affekt. Noch einmal betont Cohen, dass in der »Rechtshandlung« – »wie sehr auch in ihr der Affekt mitwirken muss« – gar nicht die Frage auftrete, »ob und wie der Kontrahent in Bezug auf sein Ich mit dem anderen Kontrahenten in Bezug auf dessen Ich vereinigt werden könne oder solle … die Forderung der Vereinigung erstreckt sich und beschränkt sich auf die Vereinigung zur Rechtshandlung, also zur Erzeugung eines Rechtsinhalts, eines Rechtsverhältnisses, aber nicht etwa zur seelischen oder geistigen Verschmelzung von Subjekten«. 14 Sobald anstelle des Rechtsverhältnisses jedoch der in der Religion begründete Affekt der Liebe sich in das politische Geschäft einmische, werde die Einheitlichkeit des Staates bedroht, denn die sog. »Nächstenliebe« beinhalte bereits den Ausschluss der Fremden – so hatten wir es bei Cohen gehört. Rosenzweig wird zu diesem Thema sich ähnlich äußern, wenn er den Begriff »göttlicher Allliebe« zurückweisen wird. Liebe, so heißt es 14
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im »Stern der Erlösung«, sei immer nur auf den Augenblick und den Einzelnen bezogen, selbst Gott könne nicht alle Menschen zur gleichen Zeit lieben. Und auch Rosenzweig hört im Gesang und Gebet der religiösen Gemeinschaft immer das »furchtbare Wir« mit heraus, dem ein »grauenhaft ausgeschlossenes Ihr« gegenübersteht. Aus diesem Grund haben beide – Cohen und Rosenzweig – so vehement auf einer deutlichen Trennung zwischen Religion und Politik bestanden, man könnte auch sagen, sie haben sich mit der ganzen Kraft ihrer Worte gegen die Gefahr der politischen Theologie gestemmt. Dieser Begriff beschreibt nicht nur die Legitimierung staatlicher Machtansprüche durch religiöse Motive oder kirchliche Autoritäten, sondern jedwede ideologische Formation staatlicher oder politischer »Gefühlsgemeinschaften«, die eschatologische Parolen verkündet. Jede politische Partei oder Vereinigung ist potentiell gefährdet, in eschatologische, mithin religiöse Motive abzugleiten – wie es am Unfehlbarkeitsanspruch »Die Partei hat immer recht« sattsam empirisch bewiesen wurde. Cohen konnte anhand der unheilvollen Symbiose von Staat und preußisch-protestantischer Kirche im wilhelminischen Deutschland die Gefahren eines affektbeladenen Nationalbewusstseins als Ausdruck politischer Theologie unmittelbar wahrnehmen. Dass er dabei – aus heutiger Sicht – allzu naiv dem »Staat« als Institution einen auf das Recht gegründeten Widerstand gegen die Vermischung von Politik, Mystik und Eschatologie zuzutrauen schien, erscheint aus heutiger Sicht womöglich naiv. Immerhin brach schon 20 Jahre nach Cohens Wirken mit dem nationalsozialistischen Terror eine besondere Variante politischer Theologie und Eschatologie über Deutschland und Europa herein. Doch wir sind noch nicht dem gesuchten Du als Ursprung oder Quelle des Ich begegnet. »Der Andere« als Kontrahent des Ich – wie in der Rechtshandlung – bleibt doch ein Er. Wenn jedoch Cohens Skepsis gegen den Begriff – wie am Beispiel der Nächstenliebe – seine philosophische Rede, sein Knüpfwerk der Fäden tragen soll, dann hat sie sich überall zu beweisen. Auch die Allheit bzw. Einheit oder gar das Selbstbewusstsein des Staates, auch ein Begriff wie Rousseaus »volonte generale« bleiben in ihrer Abstraktion, praktischen Unverbindlichkeit und unpersönlichen Normierung eine Gefahrenquelle für das Ich, das Wir – vor allem das Ihr. Aus diesem Grund wird Cohen in seiner Ethik konkret und entwickelt ausführlich das Modell der Genossenschaften, das helfen solle, Habsucht und Egoismus abzubauen und das zur KeimA
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zelle staatlichen Lebens werden solle. Aber die eigentliche Pointe in Cohens weit ausgelegter Argumentationskette gipfelt tatsächlich in seinem »zweiten Anlauf« zum Du. Und obgleich Cohen nicht als Sprachdenker gelten kann, folgt er doch der »Nase« seines Sprachempfindens, wenn er – immer noch von der Rechtshandlung ausgehend – nun das Verhältnis zwischen dem Ich und dem Anderen neu und weitergehend bestimmt. Der Andere bewirke die Anderung, die das Ich erleiden müsse, »um Selbstbewusstsein zu werden«. Das Ich könne aber auf Dauer nicht ständige Änderungen erleiden, wenn diese nur unter dem »Anschein des Fremden« aufgenommen würden. So behutsam Cohen bisher die Sphäre des Rechts von der des Gefühls fernzuhalten bemüht war, so überführt er jetzt – zwar ebenfalls behutsam, aber unüberhörbar – das Recht in das Feld der Psychologie oder eben des auch von Affekten beherrschten Gebietes des Miteinanders von Menschen. Die Wirklichkeit des Lebens erfordert dies in der Tat – für den letzten großen Idealisten jedoch war dies ein großer Schritt. Aber was hat es nun mit seiner Nase des Sprachempfindens auf sich, die ihm bei seinen Tastversuchen half? Hören wir selbst, wie er die Rechtshandlung nach mehreren Seiten hin weiter abklopft und auf die Begriffe Vertrag und Rechtsanspruch stößt, was ihn letztlich zum Du führt: »Der Vertrag … zerstreut den Anschein des Fremden von dem Anderen. Der Vertrag ist ein Anspruch; ein Anspruch des Rechts, den ich an den Anderen erhebe. Ein solcher Rechtsanspruch, zum mindesten als Gerichtsanspruch, ist ja die Rechtshandlung überhaupt. Der Vertrag macht nun aus dem Anspruch die Ansprache. Und daher verwandelt sich der Andere zum Ich und Du. Du ist nicht Er. Er wäre der Andere. Er kommt in Gefahr, auch als Es behandelt zu werden. Du und Ich gehören schlechterdings zusammen. Ich kann nicht Du sagen, ohne dich auf mich zu beziehen …« 15
Wir können hier nicht dem ganzen kräftezehrenden Prozess des Knüpfens, Zerreißens und Neuspannens der Fäden in Cohens Werk nachgehen. Der Leser ahnt wohl selbst, dass Cohen diese aufreibend akribische Arbeit schon deswegen zu besorgen hatte, weil er die Widersprüche und Spannungen einer Ethik zwischen Staat und Recht einerseits sowie Affekt, Liebe und Religion andererseits niemals aufheben konnte. In der Ethik des reinen Willens schon kommt er zu dem Schluss, dass die »menschliche Freiheit« erst jenseits von Staat und Recht denkbar sei.
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Zugleich fordert er aber in demselben Werk, dass die Religion sich in der Ethik auflösen solle. Als zutiefst gläubiger Mensch kann er dieses Diktum nicht durchhalten – und so widmet er seine letzten Lebensjahre dem Versuch, Religion und Philosophie in lebendige Wechselwirkung zu bringen, sie also im selben Fadennetz schweben zu lassen. Die Themen seiner letzten Schriften bzw. Bücher lauten denn auch »Der Begriff der Religion im System der Philosophie« und »Die Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums«.
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Die Entdeckung des Du in der Korrelation zwischen Ethik und Religion
In diesen »Religionsschriften« spricht Cohen die anfänglich aufgeworfene Frage nach der Zermalmung des Individuums durch die Allmacht des Staates noch einmal und in aller Deutlichkeit an. Trotz der im Rechtsanspruch gefundenen Beziehung zwischen einem Du und einem Ich hielt Cohen in der »Ethik des reinen Willens« an dem Grundgedanken fest, nach dem das Individuum nur in Korrelation zur »Allheit des Staates« die Aufgabe der Selbstbestimmung bzw. der Selbstwerdung erfüllen könne. Nun jedoch stellt er die Frage, ob hier nicht eine doppelte Gefahr drohe, indem einerseits das noch gar nicht zum Selbst gewordene Individuum in der Verbindung mit der Allheit des Staates sich auflösen und aufgeben würde, bevor es überhaupt der Allheit gegenüber Einheit, geschweige denn Einzigkeit entwickeln konnte – und andererseits die Aufgabe ohnehin zu übermächtig, geradezu überwältigend und zermalmend erscheinen mag, als einzelner Mensch in seiner Verwundbarkeit und Vereinzeltheit seine Individualität nur in der Allheit von Staat und Menschheit suchen und finden zu wollen? Der Sprung vom kleinen Ich zur erdrückenden Übermacht des Staates oder der unendlichen Ferne der Menschheit erscheine zu groß, um ihn wagen zu dürfen und dabei zu hoffen, das andere Ufer sicher zu erreichen. Cohen hat dieses Spannungsfeld mit großem Pathos in beiden Religionsschriften eindringlich und fast dramatisch beschrieben. Paradoxerweise ist es das Pathos des Idealismus und Humanismus, das Cohen hier gegen diese beiden –ismen selbst aufwendet, um vor dem Absturz in einen idealistisch-humanistisch umhüllten Totalitarismus zu warnen. Ohne sie beim Namen zu nennen, beruft sich Cohen auf die von ihm verehrten Dichter und Denker Schiller und Kant, um sie einerseits A
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gegen Fehldeutungen und Instrumentalisierungen zu schützen, andererseits in leise polternder Ironie ihnen zu widersprechen: »Der Menschheit in seiner Person unterwirft sich der Mensch, indem er in sich, durch sich, für sich, als sich das Sittengesetz erdenkt … die Menschheit befreit sein Selbst vom Egoismus des Individuums und von allen Gefahren der Selbstsucht, der Eigenliebe und des Eigendünkels. Nehmt die Menschheit auf in euren Willen, und ihr errichtet ihren, euren Weltenthron. So hoch kann und soll der Mensch steigen, und nur in dieser Höhe steht er auf der sittlich wohl gegründeten Erde. Indessen steht er auch auf der Erde, ohne das sie diesen sittlichen Grund ihm immer darböte. Er ist ein von den Drangsalen der Erde heimgesuchtes Lebewesen, und sittliche Nöte und Krankheiten bedrohen sein Leben und sein Schicksal … Die Menschheit in ihrer soziologischen Zweideutigkeit wird zum Schicksal, welches den Menschen erhebt, indem es den Menschen zermalmt. Und sollte das etwa der Höhepunkt der Ethik werden, dass das Individuum vergehen muss vor und in der Allheit der Menschheit? So hat man oft die reine Ethik missverstanden, und dies dürfte im letzten Grund der Anstoß sein, den man an der Bekämpfung des Eudämonismus nimmt; dass man die Vernichtung des Individuums als die notwendige Konsequenz dieses Gegensatzes ansieht, so dass die Ethik der Menschheit mit der Selbstvernichtungslehre identisch würde.« 16
Wenn auch nicht unmittelbar die Vernichtung des Einzelnen drohe, so rücke die Menschheit das Individuum doch in »das Licht einer Vereinsamung und Isoliertheit, einer Bedürftigkeit und Gebrechlichkeit, die ihm entgehen würde, wenigstens seinem Bewusstsein, wenn die Menschheit nicht diese Mängel grell beleuchtete«. 17 Und diese Selbsterkenntnis seiner Schwächen und seiner »Sündhaftigkeit« sei die Geburtsstunde der Religion, so Cohen. Denn keine staatliche Allheit könne den Menschen von seiner »Sündhaftigkeit« befreien oder ihm in der Allheit Trost gewähren. Damit aber gelangt Cohen zum Höhepunkt der Unterscheidung eines Ich, das sich einem Es oder Er und einem Ich, das sich dem Du gegenüber sieht. Zugleich trennt er hier scharf Aufgaben und Möglichkeiten der Ethik von denen der Religion: »Das Individuum überhaupt darf nicht aufgegeben werden, nur seine Sündhaftigkeit soll aufgegeben werden. Der Ethik aber ist kein anderes Mittel gegen das Individuum gegeben als die Allheit, die Erhebung des Individuums zu ihr und seine Auflösung in sie. Die Ethik könnte daher dem SündenbeHermann Cohen: Der Begriff der Religion im System der Philosophie, Werke Band 10, Georg Olms Verlag 1996 (im Folgenden als BR gekennzeichnet), S. 52/53 17 Ebd. 16
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wusstsein nur dadurch Trost bringen, dass sie das Individuum zum Verschwinden bringt … es eröffnet sich hier die wichtige Einsicht: dass der Begriff des Menschen keineswegs allseitig durch die Ethik bestimmt wird dadurch, dass das Individuum in die Allheit des Staates und des Staatenbundes der Menschheit aufgehoben wird. Dieser Übergang erweist sich als ein Sprung, als eine Durchbrechung der sittlichen Stetigkeit …« 18
Und weiter: zwischen der Sünde und der Allheit spanne sich eine Brücke, die innerhalb der Grenzen der Ethik »in der Luft schwebt.« Die Sünde rufe nach Vergebung, Versöhnung und Erlösung, womit wir uns am »begrifflichen Ursprung der Religion« befänden. Das Denkexperiment einer Auflösung der Religion in die Ethik führt nun gerade zur Entdeckung, dass die Ethik das Individuum zum Verschwinden bringe könne, indem sie es in die Allheit des Staates aufhebe (im Sinne von annullieren). Damit fällt nun die Kantische Rede vom Sittengesetz und der »Menschheit in meiner Person« als eine idealistische Konstruktion in sich zusammen, die schon rein statisch nicht halten könne. Der Sprung ist zu groß! Die Brücke, über die der Einzelne gehen soll, schwebt in der Luft – also keine gute Aussicht, das andere Ufer zu erreichen. In der Tat haben es die Theoretiker des reinen souveränen Ich, des transzendentalen Subjekts, des unsterblichen welthistorischen Individuums nicht vermocht, auch nur ein paar Stufen näher zu bezeichnen, über die jene »Ich-Subjekte« nahe genug an die Menschheit gelangten, um sie mit dem berühmten »Kuss der ganzen Welt« zu berühren. Der Sprung ist zu groß! Und was ist mit dem »Recht als Grundlage des Staates«? Es war ein Denkexperiment, ein Faden, der wieder abgebaut wurde – als Aufgabe aber weiter bestehend. Nachdem Cohen selbst Zeuge der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts geworden ist, konstatiert er in der »hohen Mannigfaltigkeit des ethischen Lehrinhalts« einen »deutlichen Mangel«, den er mithilfe der Grammatik offen legt: »… so bedarf es doch noch einer anderen Vermittlung als nur derjenigen, welche zwischen dem Ich und der Menschheit gefordert wird. Neben dem Ich erhebt sich, und zwar im Unterschiede vom Es, der Er: ist Er nur das andere Beispiel vom Ich, dessen Gedanke daher durch das Ich schon mitgesetzt wäre? Die Sprache schon schützt vor diesem Irrtum: sie setzt vor das Er das Du. Ist auch das Du nur ein anderes Beispiel für das Ich und bedürfte es nicht einer eigenen Entdeckung des Du, auch wenn ich bereits meines 18
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eigenen Ich gewahr geworden bin? Vielleicht verhält es sich umgekehrt, dass erst das Du, die Entdeckung des Du, mich selbst auch zum Bewusstsein meines Ich, zur sittlichen Erkenntnis meines Ich zu bringen vermöchte.« 19
Wenngleich bereits Friedrich Jacobi, Wilhelm von Humboldt und Ludwig Feuerbach in manchen Textpassagen das Ich in Korrelation zum Du gedacht haben, so ereignete sich die eigentliche Zäsur im Denken erst durch den Beitrag jüdischer Denker wie Hermann Cohen und zeitgleich Eugen Rosenstock-Huessy, die beide das Primat des Du vor dem Ich in der Philosophie verankert haben. Sie haben damit eine Bewegung des Denkens angebahnt, die sich bei Franz Rosenzweig, Martin Buber, Emmanuel Levinas und anderen jüdischen Denkern fortsetzt und vertieft. Die Ich-Philosophie eines Descartes oder Fichte, von deren Kritik Cohen in der Ethik ausgegangen war, wird durch das Primat des Du ausgehebelt. Es fragt sich natürlich, worin das Besondere des Judentums bestehe, dass gerade aus den Kreisen seiner Denker die Entdeckung des Du als Voraussetzung zur sittlichen Erkenntnis des Ich so wirkungsvoll sich entwickelte. Zwei kurze Bemerkungen sollen hier genügen: nicht erst das Ereignis der Offenbarung, sondern bereits der erste wahrgenommene »göttliche Hauch« haben im Judentum das Erlebnis des Angesprochenseins geprägt. Der Mensch ist immer zuerst der Angerufene, der zur Antwort Aufgerufene, der sich vor dem Wort des Anderen zu verantworten hat. Wir werden im Weiteren dazu Ausführlicheres hören. Cohen im Besonderen entdeckt das Primat des Du in seinem großen Werk zur Religion, in dem er in der Sache nüchtern und schnörkellos – wenngleich mit heißem Herzen – die Grenzscheide zwischen Ethik und Religion zieht. Die Ethik kennt das Leiden nicht, so lapidar und dennoch schwerwiegend lautet Cohens Urteil. Sie könne dem an der Sünde Leidenden nur eine »kalte, unbeteiligte Vernunft« anbieten, mit deren Hilfe Leid und Sünde nur getilgt werden können, »wenn das Individuum gleich mitgetilgt« werde. Die Sünde darf hier nicht mit der christlichen Erbsünde verwechselt werden, sondern für Cohen wird damit die konkrete Verfehlung bezeichnet, die als physisches oder moralisches Übel von mir selbst begangen wird oder das mir bzw. Anderen als physisches oder moralisches Leiden widerfährt. In der »Religion der Vernunft« entwickelt Cohen beinahe eine – durchaus problematische und kritisch zu bewertende – »jüdische Theodizee«, Hermann Cohen: Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums, Marix Verlag 2008 (im Folgenden als RdV gekennzeichnet), S. 44
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indem er das Leiden in der Welt durch das Mitleid gerechtfertigt sieht, das der Mensch angesichts fremden Leidens in sich selbst entdeckt. Das Ich entdecke sich erst, indem es mit dem Du leide?
Die Zukunft erfüllt die Zeit a.
Verkündigung des Guten statt Ideenschau und romantischer Religion
Was aber bietet die Religion dem »Sünder« (also Jedem, der sich seines Verfehlens bewusst ist) an, das die kalte Vernunft ihm nicht zu geben vermag? Zunächst einmal ist hier zwischen jüdischen und christlichen Lesarten zu unterscheiden: die gängige Abwehr gegen den Begriff der Sünde ist nicht zuletzt eine gegen das christliche Dogma der Erbsünde, wohingegen das jüdische Verständnis von Sünde sich auf die Verfehlungen des Einzelnen bezieht, die auch nur er individuell – ohne göttliches Zutun – verantworten und korrigieren kann. Ferner haben die Christen weit weniger damit gerungen, wie die Grenze zwischen Ethik und Religion zu bestimmen sei, denn Religion war in vielen Zeiten, Schriften und Varianten des Christentums eher eine Frage der inneren Erbauung als der äußeren Tat. Der Kern des jüdischen Religionsbegriffs dagegen liegt im ethisch-sozialen Handeln, so wie eben auch Cohen das Judentum seit den Tagen seiner Jugend, als er Bachja Ibn Paqda gelesen hatte, zu allererst als Aufgabe sittlichen Handelns wahrgenommen hat. Cohen zieht unerbittlich die Trennlinie zu allen romantischen oder »fundamentalistischen« Auffassungen der Religion, indem er wie Leo Baeck beinah schroff sagt, Gott könne und dürfe bei der sittlichen Arbeit des Menschen nicht mitwirken: »Alle Aktivität liegt beim Menschen, dem sie nicht erlassen, kaum erleichtert werden kann. Aber der Erfolg dieser sittlichen Arbeit … hängt doch nicht ausschließlich vom Menschen und seiner Arbeit ab.« 20 An dieser Stelle erhalten wir eine teilweise Antwort auf die oben gestellte Frage, was die Religion dem »Sünder« anbieten kann, das er in der reinen Ethik nicht findet: im Bewusstsein der Möglichkeit des ständigen Scheiterns oder zumindest der Endlichkeit seiner Bemühungen 20
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bedürfe der Mensch der Zurüstung Gottes, um »sein Selbst von der Selbstsucht befreien zu können«. Diese Selbstsucht beherrscht den Menschen solange, wie er glaubt, die »Dinge regeln zu können«, die Ergebnisse seines Handelns zu berechnen und so die Zukunft zu kalkulieren. Um sich dieser Selbstsucht zu entschlagen und zugleich die sittliche Arbeit nicht aufzugeben, solle sich der Mensch auf Gott als »das Ziel, das Wahrzeichen und die Hoffnung« eben jener sittlichen Arbeit orientieren. Die Religion ergänzt insofern die Ethik – denn während die »Selbstgesetzlichkeit der Vernunft« lediglich eine »kalte Sittlichkeit« verbreite, die den Sünder und den schuldverstrickten Menschen zwar an seine Pflicht erinnere, ihn aber nicht aufrichte, könne die Religion ihm die Zurüstung geben, in der sich das ganze Feld von Trost, Vergebung, seelisch-moralischer Unterstützung, Zuversicht, Erleuchtung, Mitleid und Liebe öffnet. Klingt dies nicht auch nach einer romantischen Religion im Sinne Leo Baecks? Hören wir hier einen Gefühlsglauben heraus, der nur das Herz wärmt? Cohen geht es nicht um Wärme oder Kälte des Gefühls, sondern um eine andere Vernunft. Auch wenn Cohen selbst es so nicht sagt, so ist – nicht nur – nach jüdischer Auffassung Sprache die Vernunft. Dieser Zusammenhang scheint jedoch durchaus in Cohens Schriften hindurch, so wenn er am Beispiel der Suche nach dem Guten Ethik und Religion, griechische Philosophie und jüdische Weisheit unterscheidet: während Platon lediglich die Idee des Guten (das bekanntlich über das reine Sein hinausgehe) zu schauen vermochte, habe die »prophetische Verkündigung des Guten« dieses dem Menschen als erkennbare Wirklichkeit zugänglich gemacht, so Cohen. »ER hat verkündet, o Mensch, was gut sei!« – so lesen wir es bei den Propheten. 21 Es hat jemand gesagt, was gut sei – das Gute ist im Wort aufgehoben, das von Mund zu Ohr weiter getragen wird. Wir stehen Alle im Wort, das wir vernehmen – Vernunft leitet sich aus Vernehmen ab. Rosenzweig wird später sagen, das Wort, welches von innen töne, sei das Gleiche wie das, was außen vernommen werde. Das Wort führt von Mensch zu Mensch, im Wort setzen wir über von Einem zum Anderen, in der Sprache also werden wir beziehungsfähig zum Anderen. In diesem Sinne besagt auch für Cohen die Verkündigung des Guten die Möglichkeit der Beziehungsfähigkeit des einen Menschen zum Ande21
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ren, woraus schließlich die Menschheit werde. Und so ist das Gute für ihn nicht nur die Schöpfung, sondern die Menschheit – worunter nichts Anderes als der unerschöpfliche und nie zu vollendende Weg des Einigens der vielen Menschen zur Menschheit zu verstehen ist. Die »Menschheit« sei das Gute auch deswegen, weil Gott den Menschen gesucht habe, ja geradezu nach ihm verlange. Cohens zentraler Begriff der Korrelation ist ihm zuerst aus der – zutiefst jüdischen – Einsicht erwachsen, dass nicht nur der Mensch auf Gott, sondern Gott auch auf den Menschen angewiesen ist, ja dass beide sich korrelativ bedingen, was sich in der Zwiesprache zwischen Gott und Mensch zeigt. Die erste Zwiesprache jedoch hält Gott mit sich selbst, wenn er nach jedem Schöpfungstag sagt »Und siehe, es ist sehr gut!« Mit dem Guten, das als und in der Schöpfung verkündigt wird, begegnen wir einem weiteren Grundgedanken des Judentums, der sich von Maimonides über Mendelssohn bis zu Cohen, Rosenzweig und anderen immer wieder findet: als gut kann nur bezeichnet werden, dessen Dauer in der Zeit verbürgt ist, und deswegen verlangt die Existenz des Guten die fortgesetzte Neuschöpfung oder Erneuerung der Schöpfung als Bedingung ihrer Erhaltung.
b. Ein neuer Zeitbegriff In der Verknüpfung der Verkündigung des Guten mit der Beständigkeit und Dauer in der stetigen Erneuerung der Schöpfung offenbart sich Cohen ein neuer Begriff des Seins und der Zeit! Denn wenn jeden Tag, jede Minute, jede Sekunde die Schöpfungsarbeit nicht nur »fortgesetzt« wird, sondern neu anhebt, dann zerfällt jedweder statische Begriff des Seins, das vielmehr als ein – ständiges – Werden sich zeigt. Dies entspricht auch dem Unterschied zwischen dem griechischen und dem hebräischen Verb für »sein«: das griechische »einai« weist auf die Existenz der Welt in dem einen Sein, aus dem sich die Ontologie als die »Lehre vom Sein« entwickelt hat, während das hebräische »haya« zwar zuweilen mit »sein« übersetzt wird, in Wirklichkeit aber – unter anderem (!) – »werden« bedeutet. Hieraus schließt Cohen nun folgerichtig, dass ein neuer Zeitbegriff zu suchen sei, den er schließlich aus der Korrelation zwischen Mensch und Gott ableitet:
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»Ein neuer Zeitbegriff wird … für den Menschen in Korrelation zu Gott geschaffen: die Zukunft. Sie allein erfüllt die Zeit; sie allein macht die Zeit lebend, wahr und gehaltvoll. Was sonst als Zeitinhalt erscheint, ist nur Schattengebild; es schleicht daher und hinkt blutleer nach, während die Zukunft allein den Pulsschlag des Lebens hat …« 22
Was uns sonst als Zeitinhalt erscheint, soll nur ein »Schattengebild« sein? Wie ist das zu verstehen? Vermutlich möchte Cohen mit dem Wort Zeitinhalt die Abfolge von Augenblicken, von Ereignissen oder dem, was wir den Sekundenschlag nennen, bezeichnen. Eins folgt auf das Andere – oder genauer gesagt: das Andere folgt auf das Eine. Die Welt, der Mensch, das Ereignis oder Erlebnis – es schreitet alles von einer auf die andere Sekunde fort. Der Takt des Fortschritts schlägt unser aller Leben in den Bann. Aber fort wovon eigentlich? Hätte die Zukunft allein den »Pulsschlag des Lebens«, dann könnte man doch auch von »Hinschritt« sprechen, insofern als die Abfolge der Augenblicke doch eine Zeitreihe auf die Zukunft hin darstellt. Wir sprechen aber immer von Fortschritt. Liegt hier womöglich in der Sprache eine tiefere Einsicht? Könnte das Hinschreiten auf die Zukunft in Wahrheit ein Fort-schreiten sein – und zwar fort sowohl von der Gegenwart als auch fort von der Zukunft? Dies erscheint einleuchtend, wenn wir das Hinschreiten auf die Zukunft als Extrapolation der Gegenwart verstehen und damit als Entfernung von der Zukunft, indem wir uns ihr vermeintlich nähern. Wie ist das gemeint? Alle Pläne und Entwürfe, die wir für die Zukunft oder auf die Zukunft hin konstruieren, entspringen unserem gegenwärtigen Denken, das immer auch von Erfahrung und Wissen aus der Vergangenheit gespeist wird. Die gedachte oder geplante Zukunft wäre demnach gar keine »echte« Zukunft, sondern eine Folie für unsere gegenwärtigen Ängste und Hoffnungen sowie momentanen Fixierungen, Vorstellungen und Pläne. Eine merkwürdige dialektische Spannung zwischen Angst und Hoffnung gegenüber der Zukunft überkommt den Menschen, wenn er dem Schattengebild des Zeitinhalts als einer linearen Abfolge von Zeitabschnitten sich ausliefert: je stärker die Zukunftsangst wird, desto mehr beobachten wir Lähmungserscheinungen des Menschen gegenüber der Gegenwart, woraus dann oft die Flucht in eine fast pathologische Zukunftserwartung resultiert, die wir als Hoffnung auf »Erlösung«, Erfüllung der eigenen Sendung oder diffuse 22
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Heilserwartungen kennen. In all diesen pathologischen Formen der Verlängerung der Befindlichkeiten unserer Gegenwart nach vorn wird die Zukunft von der Gegenwart aufgesogen oder überrannt, so dass das Hin-schreiten auf Zukünftiges tatsächlich zu einem Fort-schreiten wird, eben fort auch von der wirklichen Zukunft, indem man nur ihrem Schattenbild hinterher hechelt. Der Zeitpfeil zeigt für den Fortschritt immer nur in eine Richtung – wie der Dichter Elazar Benyoetz treffend bemerkte: die Zukunft sitzt uns ständig im Nacken. Von Franz Rosenzweig werden wir Ähnliches hören, wenn er davon spricht, dass im idealistischen Denken die Vergangenheit die Gegenwart in die Zukunft schiebt. Alle Ideologien – ob fanatisch totalitär bis hin zum absoluten Vernichtungswillen gegen diejenigen, die sich »der Zukunft versperren«, oder schlicht der Illusion der Berechenbarkeit von Zukunft aufsitzend – sind letztlich Ausdruck der Pathologie des eindimensionalen Zeitpfeils. Können wir den Zeitpfeil aber umkehren? Genau dies behauptet und fordert Hermann Cohen. Der »letzte große Idealist« überwindet auch hierin den Idealismus, indem er sagt, die Zukunft allein erfülle die Zeit. Also nicht der Gedanke an die Zukunft, die Idee oder der Entwurf einer Zukunft erfüllt unser gegenwärtiges Denken und Handeln, sondern die Zukunft selbst. Um diese atemberaubende Zeitumkehr zu untermauern, führt jedoch Cohen nun »ausgerechnet« die Korrelation zwischen Mensch und Gott an. Bewegt er sich damit nicht genauso auf den Pfaden der »romantischen Religion«, die das Jenseits im gegenwärtigen Glaubenserlebnis vorwegnehmen möchte? Die Antwort lautet Nein, und wir können dieses Nein aus Cohens »Ethik des reinen Willens« begründen. Dort geht er dem Begriff der Ewigkeit nach: diese entziehe sich zum einen jedweder Kategorie von Zeitlichkeit, andererseits aber könne man durchaus von einer Korrelation zwischen Zeit und Ewigkeit sprechen. Die Ewigkeit als ethischer Begriff, als ein Begriff des reinen Willens, durchdringt sozusagen die Zeit. Was möchte Cohen damit sagen? Ewigkeit bedeute nicht einen ewigen Ort oder eine ewige Zeit, sondern den »ewigen Fortgang der sittlichen Arbeit«. 23 Mit dieser Formulierung macht es uns Cohen nicht ganz einfach, seine anderweitig treffende Einsicht zu goutieren, wonach Ewigkeit keine unendliche Dauer sei. Denn unter »ewigem Fortgang« könnte man doch wohl die niemals endende, sich auf der 23
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unendlichen Heerstraße der Zeit dahinschleppende Mühsal verstehen. Ist dies aber tatsächlich gemeint? Wenn Cohen seinen Leser vor dem folgenschweren Fehler warnt, Ewigkeit unter die Kategorie der Zeitlichkeit zu zwängen, dann dürften wir von ihm selbst die Vermeidung eines solchen Fehlers als erstes erwarten. Dies ließe jedoch dann nur eine Lesart des »ewigen Fortgangs« zu, in der die Aufgabe der »sittlichen Arbeit« oder der ständigen Erneuerung der Schöpfung nicht nur als eine nicht enden wollende und nie ganz zu erfüllende erscheint, sondern dieses sich scheinbar in eine unendliche Zukunft hinziehende Geschehen gerade durch das Wort »ewig« aus der Zeit herausgehoben wird. Dies ist alles Andere als ein Mysterium, spricht doch auch der Volksmund gern vom Stillstehen der Zeit, vom Festhalten des Augenblicks oder einem unvergesslichen Augenblick, um das ganz und gar Besondere dieses einen Augenblicks zu benennen, der eben nicht im selben Atemzug sich verflüchtigt wie andere vor und nach ihm. Dennoch: von einem solch unvergesslichen Augenblick wird meist nachträglich gesprochen, d. h. wenn dieser bereits Vergangenheit geworden ist und sich in der Erinnerung eingenistet hat. In der Tat: wir wissen immer erst, was geschehen ist, wenn dieses Geschehen schon der Vergangenheit angehört. Wissen wird dabei verstanden im Sinne eines umfassenderen Verständnisses der Gründe, Umstände, Bezüge und Folgen eines bestimmten Ereignisses. Deswegen wünschen wir in den meisten Fällen geradezu das Vergehen des Augenblicks, damit wir das Geschehene wahrhaft verstehen und in unser Leben »einbauen« können – sei es als schöne Erinnerung oder als verstehbare Grundlage für zukünftige Entscheidungen. Erst recht hoffen wir, dass unangenehme oder grausame Ereignisse möglichst rasch vergehen mögen – und dass wir sie sogar »vergessen« können. Die Gegenwart wird also scheinbar ständig in die Vergangenheit hineingezogen, der Augenblick versinkt im Vergangenen, kaum dass er angehoben hat. Wie kann dann Cohen davon sprechen, dass die Zukunft die Zeit erfülle? Natürlich ist der gegenwärtige Augenblick immer schon von den Gedanken daran erfüllt, was als Nächstes zu tun sei, welche Pläne wir verwirklichen möchten, was wir für den nächsten, übernächsten oder auch entfernteren Augenblick hoffen oder fürchten. Damit wäre aber die Flüchtigkeit des Augenblicks nicht aufgehoben, da wir ja »in Gedanken« schon immer im Zukünftigen und nicht im Gegenwärtigen lebten. Das Wahrnehmen und Erleben des Gegenwärtigen wäre dann genauso flüchtig wie im Falle des zur Vergangenheit verfliegenden Au56
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genblicks. Mit seinen Worten von der Zukunft als der wahren Zeit hat Cohen aber einen wesentlich weiteren Raum öffnen wollen. »Die Zukunft erfüllt die Zeit« bedeutet zunächst, dass die ewige Arbeit an der zu erfüllenden Aufgabe immer unter dem Nicht-Wissen des Kommenden, aber sehr wohl unter dem Wissen unseres wiederholten Scheiterns, das im Nicht-Wissen begründet ist, steht. Je eher wir bereit sind, die Zukunft als das nicht Begreifbare und nicht Wissbare herankommen zu lassen, desto besser werden wir das mögliche Scheitern unserer eigenen Ansprüche erdulden und daraus lernen. Zugleich schlummert gerade im Nicht-Wissen des Kommenden auch die Hoffnung, dass in den gegenwärtigen Augenblick das ganz Andere, das Unerwartete, Unberechenbare, Überraschende »im messianischen Sinn« hereinbrechen kann. Steht die Gegenwart unter der Erwartung des Unerwarteten, sind wir nicht zur ständigen Flucht aus dem »gegenwärtigen Elend« verdammt. Dies bedeutet aber, die Gegenwart in ihrer ganzen Fülle und allen Facetten auf sich wirken zu lassen, denn nur darin kündigt sich die Möglichkeit des ganz Anderen, »nicht Denkbaren« und »Unsagbaren« an, die eine unbekannte Zukunft in sich trägt. Dass jeder Augenblick auch »ganz anders sein könnte«, lässt auch den Schmerz und das Leid – und damit die radikalste Kritik – am Gegenwärtigen zu, ohne daran zu verzweifeln. Im Gegenteil: erst Schmerz, Leid und Trauer machen uns empfänglich für das Andere, das Warten auf etwas nicht Bestimmtes, das sich im stets neuen Fragen und Suchen nach dem Jenseits-des-Wissens als Zeitgewinn zeitigen kann. Der Augenblick wird damit aus der Zeit herausgehoben, die Zukunft wird schon in der Gegenwart erlebt als dieses Jenseits-des-Wissens, als ein Vorgeschmack auf eine Zukunft, die zugleich Ewigkeit ist. In diesem Sinne mögen wir es verstehen, dass die zeitlose Ewigkeit zur Zeit korreliert, indem sie diese durchdringt. Der Satz »Die Zukunft erfüllt die Zeit« spräche dann von der Zukunft als der Zeitform, die am ehesten von dieser Korrelation zur Ewigkeit gesättigt ist. Rosenzweig wird diese Korrelation umfassender noch beleuchten. Nun erst erschließt sich, warum Cohen davon spricht, dass in der Korrelation zwischen Gott und Mensch ein neuer Zeitbegriff entsteht: diese Korrelation lässt sich eben auch als eine zwischen Gott, dem Ewigen, und dem Menschen als dem Zeitgebundenen lesen. Gott und Ewigkeit entziehen sich unserem Wissen, und so auch die Zukunft. Diese ist auch deswegen von allen Zeitformen soz. in der unmittelbarsten Korrelation zur Ewigkeit zu denken. Der neue Zeitbegriff, aus der A
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Korrelation zwischen Mensch und Gott entwickelt, besagt also, dass die Zukunft als Zeitform Gott und Ewigkeit repräsentiert, sie steht für das ganz Andere und den ganz Anderen – ein Gedankengang, den wir später bei Levinas wieder finden werden. Die Sprache, in welcher der Mensch dem ganz Anderen gegenübertritt, ist das Gebet. Und so finden wir schon bei Cohen ein Motiv vorgebildet, welches Rosenzweig in seinem Umkreisen von Zukunft und Ewigkeit vertiefen wird, und das uns im Zusammenhang erneuter und ausführlicher Beschäftigung mit dem Thema Zeit in Rosenzweigs Werk begegnen wird: das Gebet als Vorwegnahme der Zukunft. Deswegen folgen – pinselstrichartig – Hinweise auf ein weiteres scheinbares Paradoxon: die philosophische Bedeutung des Gebets, der sich Hermann Cohen gewidmet hat, den die Nachwelt allzu dürr als Neokantianer etikettiert hat.
c. Die Vorwegnahme der Zukunft im Gebet Die enge Beziehung zwischen Lyrik und Gebet hatte Cohen bereits in seiner »Ästhetik des reinen Gefühls« hervorgehoben. In der Religion der Vernunft widmet er nun ein ganzes Kapitel dem Gebet, wobei er z. B. vom Erlebnis des Gedichtes als einem unendlichen und ewigen spricht. Ein lyrisches Gedicht sei in diesem Sinne genau so ein Bekenntnis wie das Gebet. In beiden sei von der unerfüllbaren, unerschöpflichen, immer neu zu suchenden Liebe die Rede – die Psalmen hätten in diesem Sinne eine erotische Komponente. (Rosenzweig wird all dies ausführlich behandeln). Der Inhalt von Gebet und Gedicht sei die Sehnsucht, im einen Fall die Sehnsucht nach dem Geliebten oder der Geliebten, im anderen Fall die Sehnsucht nach Gott. Allerdings dürfe diese nie in Schwermut umschlagen, da sie uns in diesem Falle der Fähigkeit beraube, die Zukunft vorwegzunehmen. Noch einmal wird hier deutlich eine Grenzscheide gegenüber der von Baeck so genannten »romantischen Religion« gezogen. Die romantische Sehnsucht fände eben Erfüllung im Weltschmerz, der in der Verschmelzung von Schmerz und Lust zu einem lustvollen Zustand sich steigern kann. Im wollüstigen Erleben dieses Zustandes vollendet sich die Konzentration auf die Gegenwart, die sich selbst genug ist, so wie in ihr das erhebende Gefühl des sentimental Gläubigen nur um ihn selbst kreist. In der Analogie zwischen Liebessehnsucht und Gottessehnsucht unterstreicht Cohen demgegenüber noch einmal, dass er unter Vorwegnah58
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me nicht das Erleben eines Zustands, sondern die Vorbereitung auf die Begegnung mit dem Anderen versteht: »Was die Sehnsucht für die Liebe, das ist die Andacht für das Gebet.« 24 Diese Vorbereitung dürfe niemals aufhören, niemals abbrechen, »solange das Gebet andauert«. Hier erzählt Cohen das wohl tiefgründigste Beispiel für die oben von uns umschriebene Steigerung der Intensität des Augenblicks, wenn dieser in die Bewegung des immer neuen Anhebens hinein wächst. Zwei einander durchdringende und sich gegenseitig aufschaukelnde Bewegungen sind hier zu unterscheiden: während das Gebet andauert, hebt gleichzeitig die Vorbereitung darauf immer neu an! Andacht und Gebet geraten so in eine rhythmische Bewegung zueinander, die unerschöpflich und unerfüllbar stets von neuem beginnt: »Jeder neue Moment des Gebets ist ein neuer Anhub, ein neuer Aufschwung der Andacht.« 25 In aller Intensität dieser fortgesetzten Erneuerung des Sprechens oder Singens der Psalmen drückt sich wohl am klarsten aus, was Cohen mit Vorwegnahme der Zukunft meint – jeder Augenblick des neu Anhebens der vorbereitenden Andacht ist erfüllt von der Erwartung der kommenden Zwiesprache mit Gott. Eine Zwiesprache, die eben angesichts der sich entziehenden Einzigkeit Gottes nur in einem Zwischen sich ereignen kann. Wir mögen es die stets bewegte Atmosphäre zwischen einem Noch-Nicht des Ewigen und einem Nicht-mehr des Zeitlichen nennen, das aber von dem Noch-Nicht der Zukunft erfüllt ist. Cohen selbst spricht hier von einem Schweben, »das zu einem festeren Halt wird als sonst die Wirklichkeit«: »Wer des wahren Gebets mächtig wird, der verliert die Erdenangst …« 26 Es sind heiligende und reinigende Worte, die der Betende spricht – und indem er sie immer von neuem laut ausspricht, gewinnen sie Kraft über sein Gemüt und sein Herz. Hierin kündigt sich bei Cohen schon das Sprachdenken an. Wie sehr er den entscheidenden Schritt vom Idealismus zum Sprachdenken tatsächlich vorbereitet hat, wird nirgends deutlicher als in dem Kapitel zum Gebet, das eines der grundlegenden in der »Religion der Vernunft« genannt werden darf. Dort folgt er direkt dem Diktum Hamanns und der Sprachdenker, wonach die Sprache der eigentliche Ausdruck der Vernunft sei. Was bedeutet dies in Hinblick auf Gott? Zunächst sei doch wohl zu fragen, was über24 25 26
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haupt der Begriff Hinblick auf Gott bedeute, denn Gott könne man doch nicht schauen. Auf welche Weise also könne man Vertrauen und Zuversicht gegenüber Gott gewinnen? Es wird »für das Gottvertrauen, für die Zuversicht auf seine Verzeihung unabwendbar die Sprache gefordert. Und diese Sprachform bildet das Gebet.« 27
Das Nichts als Ursprung – der Begriff als Frage und die Korrelation Wenden wir uns dem letzten der drei Cohenschen Motive zu, die Rosenzweig in seinem Werk aufgegriffen hat: dem Ursprung im Nichts. Wenn immer wieder ungeduldig die Frage gestellt wird, was denn mit dem Begriff Sprachdenken gemeint sei, dann wäre es ein eleganter Nebenweg des Antwortens, Sprachdenken als Offenhalten der Fragen zu bezeichnen. Damit wären auch die Antworten immer unabgeschlossen, offen und nie erschöpfend, und die Philosophie hätte sich jedwedem abgeschlossenen System zu versagen. Baut aber nicht jede Philosophie auf Begriffen auf, die uns zu »reiner Erkenntnis« führen sollen und die als ein eigenes System eine logische Ordnung in sich repräsentieren? Da die Sprache nicht »logisch«, sondern grammatisch aufgebaut ist, kann der Sprachdenker solchem System nur seinen Widerstand entgegensetzen – zumindest lehrt er uns den kritischen Umgang mit Begriffen, die er aus der Starre von Definitionen und logischen Reduktionen befreien möchte und nur als Fragen gelesen und gehört haben möchte. Den Analytiker und Logiker wird dies nicht zufrieden stellen – andererseits wird die Philosophie erst wirklich lebendig, wenn Philosophieren als Bewegung des Offenhaltens der Fragen verstanden wird. Und erst in dieser Bewegung des Offenhaltens wird der Philosoph den nötigen Mut und die methodische Gelassenheit finden, sein Denken auf die Spur des Nichts, der Leere und des Abgrunds zu lenken. Damit sind zugleich spezifisch jüdische Motive des Denkens angesprochen, wie sie von der Kabbala kommend zugleich über mannigfaltige Wege Eingang in das westeuropäische Denken gefunden haben. 28 Ebd., S. 448/449 Hier ist vor allem auf Gershom Sholems Werke zurückzugreifen, der über das Zimzum als einer Grundfigur der jüdischen Mystik und Kabbala geschrieben hat. Gott zieht
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Hermann Cohen hat auf seine Weise den Mut und eine ausdauernd gelassene Beharrlichkeit gezeigt, Philosophie als Bewegung des Offenhaltens der Fragen neu zu entfalten. Damit touchiert er zumindest die Grenze zum Sprachdenken, wobei er durch sein Verharren auf idealistischem Boden gerade angesichts des Offenhaltens der Fragen in »tiefste Not« gerät, wie er selbst freimütig bekennt. Insofern hat das Wort Mut hier seine Berechtigung. Der sog. Neu-Kantianer Hermann Cohen wagt in seinen philosophischen Hauptwerken, die zwischen 1902 und 1918 erschienen sind, nichts Geringeres als das Kantische System sowie die Hauptströmungen des Idealismus von Platon bis Hegel auf originelle Weise »umzumodeln«, ohne sie polemisch zu verreissen oder den Epochen-Schlussstrich unter sie zu setzen. Der Spur dieses trotz oder gerade wegen seiner subtilen Methodik epochalen philosophischen Weges in einzelnen Schritten nachzugehen, wäre ein reizvolles Unternehmen, das jedoch ein weiteres Buch erforderte. Wir streben hier »mittelfristig« dem Sprachdenken zu, dem wir jedoch besser folgen werden, wenn einige seiner philosophischen Quellen oder Wurzeln freigelegt sind. Wenn Sprachdenken Kritik am Begriff übt, wenn Sprachdenken Offenhalten der Fragen bedeutet, dann hat Hermann Cohen in seiner »Logik der reinen Erkenntnis« dafür auf philosophischem Gebiet den undurchdringlichen Wald der Systeme und Begriffe zunächst einmal durchforstet. Wir möchten dies an zwei Denkbewegungen exemplifizieren – wohl wissend, dass damit Dutzende anderer Denkbewegungen am Rande des Wegs unbeachtet liegen bleiben: die Umdeutung des Begriffs sowie das Offenhalten der Ursprungsfrage über den Umweg durch das Nichts.
a.
Der Umweg über das Nichts
In den einleitenden Kapiteln seiner »Logik der reinen Erkenntnis« stellt Cohen die Frage nach dem Ursprung und streift ihre Behandlung in der griechischen und mittelalterlichen Philosophie:
sich dabei ins Nichts zurück, um Platz für seine eigene Schöpfung zu machen – Mensch und Schöpfung schweben so ständig über dem Abgrund, der nur durch den Umweg über das Nichts (Gottes?) zu überbrücken ist. Sholem hat dazu sowohl in seinem Werk »Die jüdische Mystik« als auch in »Grundbegriffe des Judentums« ausführlich geschrieben. A
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»Der Ursprung bildet eine alte Frage. Die Wissenschaft der Griechen beginnt mit ihr, und nach alter Weisung auch ihre Philosophie. Im Anfang zwar steht das Wasser für den Ursprung der Dinge … bald aber tritt das Unendliche auf den Plan, als neue, als echte Art des Ursprungs. Und so kommt der Ausdruck des Anfangs, des Prinzips niemals von der Tagesordnung; und wie sehr sich die Richtungen verzweigen, der Ursprung bleibt doch immer das Problem.« 29
Im weiteren Verlauf des Textes wird deutlich, worauf Cohen hinlenken möchte: ob in den alten kosmogonischen Mythen der Ursprung im Chaos, ob er in der mosaischen Genesis in der Schöpfung oder bei Thales in der Materie (dem Wasser) gesehen wurde, immer begegne uns der Versuch, die Unendlichkeit des Ursprungs an einen fest zu bestimmenden, endlichen Ausgangspunkt zu heften. Dass Anaximander dann schließlich das Unendliche als Ursprung bezeichnet habe, sei laut Cohen der »Sache« zunächst dienlich gewesen, sei damit doch der Abstraktion Vorschub geleistet, indem das Unendliche zum geistigen Sein und schließlich im Lateinischen zum Prinzip mutiert sei. Durch diese Vergeistigung des Wortes sei aber das urmenschliche Interesse an der Frage des Ursprungs verdeckt und verdrängt worden. Besser hätte Cohen von Verdinglichung des Wortes sprechen sollen, denn mit Vergeistigung meint er hier die Fixierung des Wortes im »Geiste« auf eine dinghafte Vorstellung oder vorgestellte Dinglichkeit. Das Wort Prinzip z. B. löst eine bestimmte Vorstellung im Geist aus – und dieses schöne deutsche Wort sagt ziemlich genau, was passiert, wenn wir uns etwas vorstellen: wir stellen etwas vor die »Sache«, den Ursprung oder was immer wir wahrnehmen, entdecken, befragen wollen. Dadurch wird das Gesuchte verdeckt. Durch den Begriff des Prinzips also werde die Frage (nach dem Ursprung) verdeckt. Die Frage aber nach dem Ursprung könne auf ewig nur Frage, auf ewig nur offen bleiben – so Cohen. Heutige Naturwissenschaftler werden zustimmen, dass es auf die Frage nach dem Ursprung keine erschöpfende Antwort gibt, während die Mehrheit der Philosophen es scheinbar längst aufgegeben hat, die Frage nach dem Ursprung zu stellen. Dies hat zwar das philosophische Denken aus mancher dogmatischer Erstarrung gelöst, aber um den Preis neuerlicher Verdeckung. Dass die Frage nach dem Ursprung trotz alledem weiter geHermann Cohen: Logik der reinen Erkenntnis, Werke Band 6, Georg Olms Verlag 1977 (im Folgenden als LE gekennzeichnet), S. 35/36
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stellt wird, erleben wir im politischen Diskurs, dessen stets neue Suche nach »Werten«, »Menschenbildern« und »gesellschaftlichen Konstanten« munter historische und anthropologische Ursprungsforschung betreibt und dabei immer wieder behauptet, irgendwo auf den Grund zu stoßen. Die Frage nach dem Ursprung bleibt also wach, Cohen nennt sie ein urmenschliches Interesse – sie nicht mehr zu stellen, löst nichts. Sie in klaren Begriffen beantworten zu wollen, führt immer in die Gefahr der Verengung und Reduzierung. Es liegt deshalb zweifellos ein genialer Zug in Cohens Werk, dass er die Frage nach dem Ursprung für immer offen hält und sich einer definitiven Antwort enthält. Gerade weil der Ursprung sich uns entzieht, lässt sich an ihm exemplarisch das grundsätzliche Problem der Verdeckung zeigen: wenn wir meinen, mit einem Begriff der Frage auf den Leib zu rücken, das aufgeworfene Problem zu lösen, indem wir es am Begriff aufgespießt haben, dann haben wir vielleicht zunächst Beruhigung geschaffen, indem wir über den brodelnden Abgrund der Fragen einen Begriffsdeckel geschoben haben. Dienen die Begriffe dazu, den Abgrund zu verdecken, den wir fürchten, weil er bodenlos ist? Bedeutet Offenhalten der Frage, den Deckel nicht über den gähnenden Schlund zu schieben? Die Bewegung des Offenhaltens der Fragen nennt Cohen auch das Schweben über dem Abgrund, so wie für ihn der Begriff stets zwischen Lösung und Aufgabe schwebt. Philosophieren im Bewusstsein, jederzeit abstürzen zu können? Die definitive Antwort auf eine Frage schafft Balance nur für den Moment und nur die Illusion stabilen Gleichgewichts. Dies gilt ganz besonders für die Frage nach dem Ursprung, der sich sowohl unserer Anschauung als auch unserer Erkenntnis entzieht. Wir können über den Ursprung nichts sagen, genauso wenig wie über Gott – wenn wir aber nicht erwarten, die Frage in der Antwort abzuschließen, dann erlaubt diese Haltung das Offenhalten der Frage. Das allein hilft jedoch noch nicht, denn wie Cohen betont, das Problem liege in der Art des Fragens. Werde nach dem »Wesen eines Dings« (also eines Etwas) gefragt, erhielten wir als Antwort immer den Hinweis auf ein anderes Etwas. Zum Beispiel werde in den platonischen Dialogen auf die Frage, was die Gerechtigkeit, das Bett, der Tisch »eigentlich« seien, auf die Ideen und Urbilder als das Wesen der Dinge verwiesen. Damit aber führe der Weg des Fragens immer nur von einem Etwas zu einem anderen Etwas. Man könnte diese Reihe unendlich fortsetzen, der Ursprung aber könne nur außerhalb dieser unendlichen Reihe, die ein A
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Etwas mit dem nächsten kausal oder wie auch immer verbindet, liegen. Dieses Paradox führe den Philosophen in »tiefste Not« – so Cohen –, aus der nur ein abenteuerlicher Umweg befreien könne, nämlich der Weg über das Nichts: »… denn in dem Etwas selbst kann der Ursprung des Etwas nicht zu suchen sein. Das Urteil darf daher einen abenteuerlichen Umweg nicht scheuen, wenn anders es in seinem Ursprung das Etwas aufspüren will. Dieses Abenteuer des Denkens stellt das Nichts dar. Auf dem Umweg über das Nichts stellt das Urteil den Ursprung des Etwas dar. Es scheint absurd, um das Etwas zu finden, sich an das Nichts zu wenden, das den wahren Abgrund für das Denken zu enthalten scheint. Wie könnte diese Missgeburt des Denkens als Ursprungsbegriff des Etwas dienlich sein? Indessen wir stecken nun einmal in tiefster Not. Aus dem Etwas kann das Etwas nicht erzeugt werden. Das wäre idem per idem. Wir müssen wohl oder übel zu seinem Widerspiel unsere Zuflucht nehmen. Es warnt uns zwar der alte Spruch: Ex nihilo nil fit. Vielleicht aber: ab nihilo. Es soll ja nicht der Ursprung des Nichts, sondern der des Etwas gefunden werden. Das Nichts soll nur eine Station auf diesem Weg vorstellen. Wir kennen bereits die logische Richtung dieses Weges. Es ist die Frage, welche zum Etwas führen soll. Und eine Station auf diesem Wege der Frage, eine verstärkte Frage, nichts anderes bedeutet der Kreuzweg des Nichts …« 30
Wir sagten es: der Philosoph bedarf der Gelassenheit und des Mutes, wenn er auf seinem Weg die wahre Missgeburt des Denkens und den wahren Abgrund nicht scheut, vielmehr sogar danach sucht. Cohen kann sich jedoch auf eine lange philosophische Tradition der Suche nach dem Nichts stützen. Es sei nur daran erinnert, dass Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft von den »vier Nichtsen« spricht, und dass bereits wiederum die alten Griechen gute Vorbilder sind, wenn es um die Arbeit am Nichts geht. Cohen erwähnt z. B. Demokrit als einen der ersten, die über das »Nicht-Seiende« zum wahrhaft Seienden vorgedrungen seien, als er neben die Atome das Leere gestellt habe. Platon hat im Dialog »Sophistes« seine ganze Dialektik aus dem Nicht-Seienden entwickelt – hier gäbe es sogar eine Analogie zu Cohen: wenn das Seiende und das Sein die Welt vollkommen ausfüllten, dann gäbe es kein Werden, das ja auch das Nicht-Seiende oder das Noch-Nicht-Seiende umfasst. Mit diesem Hinweis auf das »Noch-Nicht« kommen wir Cohens Ansatz näher. Er sucht ein Noch-Nicht, aus dem ein Etwas erzeugt wird. Man könnte hier auch Pascal bemühen, der den Ausdruck vom 30
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»fast-Nichts« geprägt hat, den Leibniz aufgegriffen hat. Genau darum geht es auch Cohen – und er findet dieses fast-Nichts in der Mathematik, nämlich in der Infinitesimalmethode. Jetzt erscheint uns die Rede über das Nichts schon weniger spekulativ, wissen wir doch, dass Leibniz die Methode der Infinitesimalrechnung zur produktiven Anwendung in der Mathematik gebracht hat, nämlich in der Berechnung von Kurven und Flächen, die aus dem Differential – einer Größe zwischen Null und Etwas – erzeugt werden. Genauer gesagt: einem Differential, das größer ist als Null, aber kleiner als jede angebbare Größe, also ein »klassisches« Fast-Nichts. Der eigentliche Erfinder der Infinitesimalrechnung ist für Cohen jedoch Nicolaus Cusanus, den er als Begründer der deutschen Philosophie bezeichnet. Der Kardinal Cusanus aus Kues an der Mosel bewegte sich bekanntlich zwischen Mystik, systematischer Philosophie, Theologie, Naturwissenschaften und Mathematik. Der mathematische Begriff des Unendlichen sei ihm der Angelpunkt wissenschaftlicher Erkenntnis geworden, und Cohen zitiert den berühmten Satz des Cusanus: »Die Unendlichkeit selbst nenne ich das Maß von allem.« Als Denker des Unendlichen habe Cusanus den Grund für die weitere mathematische Ideenentwicklung gelegt, die dann schließlich Leibniz zur Infinitesimal-Analyse ausgearbeitet habe. Hatte aber Cohen nicht auf die Verdeckung des Ursprungs gerade durch das Unendliche hingewiesen? Offenbar ist hier von verschiedenen Unendlichen die Rede. Wir nähern uns einem Kernpunkt in Cohens Logik: der Zurückweisung jeglicher Seinsmetaphysik, in der lange Zeit das Sein als das AllUmfassende, das Ganze in seiner Totalität und damit als das absolut Unendliche gedacht wurde. Nachdem nun aber Cusanus das Unendliche nicht mehr primär als metaphysische, sondern als mathematische Größe bestimmt hatte, prägte Leibniz davon ausgehend einen neuen Zahlenbegriff, nämlich das Differential, welches eine unendlich kleine Differenz bezeichnet. Dieser Zahl wohnt nun für Cohen eine wunderbare philosophische Ironie inne: »Das Endliche, alles Endliche, soweit es in den Bereich der Mathematik fällt, soll in dieser neuen Zahl seinen zulänglichen Grund erlangen; und dieser Grund des Endlichen ist unendlich klein. Es ist, als ob es eine Ironie wäre auf das Unendliche, das bisher als ens realissimum zum Grunde des Endlichen gemacht wurde.« 31 31
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Tatsächlich haben wir es also mit zwei verschiedenen Graden und Qualitäten des Unendlichen zu tun. Cohen selbst unterstreicht dies: »Nicht jenes Unendliche der metaphysisch-theologischen Spekulation, sondern das Unendlichkleine soll fortan als der Archimedische Punkt erkannt werden. Es soll der Zentralpunkt der ganzen Mathematik werden. Die Regeln des Endlichen reüssieren im Unendlichkleinen, und die Regeln des Unendlichkleinen reüssieren im Endlichen.« 32
In der Mathematik hat dieser Perspektivenwechsel z. B. zur Lösung des Tangentenproblems beigetragen. Während in der antiken Vorstellung der Punkt noch als Grenze einer Linie bestimmt worden sei, habe Kepler im Punkt den »Anfang der Linie« – oder besser Kurve – gesehen. Die Kurve werde in seiner Analyse durch denjenigen Punkt erzeugt, an dem sie sich mit der Tangente berührt. Dieser »Akt der Erzeugung« sei jedoch nicht ein einmaliger, sondern von diesem bestimmten Punkt – den Cohen als absoluten Punkt bezeichnet – gehe ununterbrochen die Erzeugung der Kurve aus. Da der Punkt in seiner Flüchtigkeit und weiteren potentiell unendlichen Teilbarkeit exemplarisch das fast-Nichts charakterisiert, gibt uns die Lösung des Tangentenproblems ein anschauliches Beispiel dafür, wie aus dem Nichts ein Etwas erzeugt wird – wie es Cohen zeigen wollte. Wohin führt aber der ironische Perspektivenwechsel mit Blick auf das unendlich Kleine in der Philosophie? Welches »philosophische Etwas« ließe sich aus dem Nichts erzeugen? Einen Hinweis gibt Cohen unter Berufung auf den schon erwähnten Dialog »Sophistes«, in dem Platon die Behauptung des »Übervaters« Parmenides, es gäbe nur ein Seiendes und kein Nicht-Seiendes, widerlegt. Erst wenn wir die Existenz des Nicht-Seins zugäben, so Platons Argumentation, entstünde neben dem Sein überhaupt so etwas wie Werden, Vergehen und Entstehen. Der Ursprung des noch im Werden Befindlichen sei in dem zu suchen, was noch nicht ist. Cohen kommentiert diesen Dialog mit folgenden Worten: »Auch hier (im Dialog Sophistes, F. H.) führt das anscheinende Nichts wenigstens zur Entwicklung des Etwas, zur Entwicklung der Beziehungen unter den Arten des Seienden …« 33
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Er spricht damit die frühe Form der Dialektik an, die Platon als Denkbewegung zwischen gegensätzlichen Begriffen, die jedoch einander bedingen, entdeckt hat. So bedingt z. B. die Ruhe die Nicht-Ruhe, die wir Bewegung nennen. Im Laufe der Philosophie-Geschichte hat diese dialektische Methode jeweils neue Richtungen, Bestimmungen, Bewegungen und Nuancen erfahren, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann. Cusanus z. B. gab der Ruhe den Namen der explicatio, was nichts anderes besagt, als dass z. B. die Ruhe lediglich eine Sonderform der Bewegung sei, die sich aus dieser heraus expliziere oder herausrolle. Auch hier also finden wir das Motiv, wie das Etwas der Bewegung aus der Nicht-Bewegung, dem scheinbaren Nichts der Ruhe entsteht. Für Cohen selbst kann philosophische Erkenntnis sich nie auf scheinbar feststehende Dinge »an sich« beziehen, sondern vielmehr bildeten nach den Worten Adelmanns für Cohen nicht Dinge, sondern Korrelationen sowie Grenzlinien, die zwischen den Dingen und ihren Beziehungen verlaufen, das Bezugsfeld des Philosophierens. Träfen wir hier womöglich auf das gesuchte »philosophische Etwas«, das sich als eine unendlich kleine Differenz zwischen den Begriffen zeigt? Nennen wir es ruhig »philosophisches Differential«, das die scheinbar starren Grenzen zwischen den Begriffen wandelbar und durchlässig macht, was besagen will, dass die »Übergänge« zwischen den Begriffen in unendlich kleinen Schritten sich wandeln, aber niemals ein unvermittelter Sprung stattfindet. Gehören jedoch solcherart »Überlegungen« nicht zum Standardrepertoire dialektischen Denkens von Platon bis Hegel? Wo aber fänden wir dann die neue Dimension, die wir gerade aus Cohens Text herauszuschürfen suchen? Anders gefragt: was wird durch jenes »philosophische Differential« erzeugt? Zum einen wäre hier zu nennen, dass Cohen keine Angst vor dem Abgrund des Nichts hat, so dass er niemals in definitive Antworten flüchten muss, die schließlich im Bau eines geschlossenen Systems enden. So gelingt ihm das beständige Offenhalten der Fragen. Zum anderen entfaltet sein Begriff der Korrelation eine besondere Dynamik des Denkens, die über die Dialektik hinausgeht. Beide Aspekte seien hier ganz kurz angedeutet, da sie uns dem Verständnis des Sprachdenkens bei Rosenzweig näher bringen.
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Der Begriff als Frage
Erinnern wir uns: die Frage nach dem Ursprung sei durch die Vergeistigung des Wortes verdrängt und verdeckt worden, so hatte es Cohen gesagt. Ein Instrument der Vergeistigung ist zweifelsohne der Begriff, durch den das Einzigartige und Besondere auf ein Allgemeines reduziert wird. Durch diese Reduktion droht die Verdeckung des Mannigfaltigen und Vielschichtigen. Da das Wort Begriff auf das Be-greifen und ferner das Er-greifen hinzeigt, schleicht sich damit der gefährliche Versuch ein, mithilfe des Begriffs »etwas in der Hand zu haben, was wir nach Hause tragen können«, wie Adorno sagte. Er warnte seine Studenten ausdrücklich, dass die Philosophie diese Sicherheit nicht bieten könne und dürfe. So gesehen führt die Vergeistigung zur Verdinglichung – dem will Cohen entgegenwirken. Wäre nun Abhilfe zu schaffen, indem wir statt in abstrakten Begriffen Zuflucht in anschaulichen Bildern suchen, die uns den Weg zum Ursprung erhellen? Cohen setzt hier ein entschiedenes Nein: »Das Bild scheint den Begriff konkret, lebendig und regsam zu machen; das gerade Gegenteil ist der Fall. Im Bilde hört das Leben des Begriffs auf …« 34
Ein doppeltes Paradoxon: im Bild erstarrt das Leben, das angeblich der Begriff haben soll. Zunächst einmal: die Sprache der Philosophie kann weder auf Begriffe noch auf Bilder verzichten – aber damit bewegt sie sich immer am Abgrund des Lebens, immer in der Gefahr, das Lebendige abzutöten. Das Bild – vor allem, wenn es treffend oder schlagend genannt wird – kann uns noch unvermittelter zur Methode der Fixierung verleiten als der Begriff. Ein treffendes Bild trifft den Punkt, in dem alle weiteren Fragen sich erübrigen. Ein schlagendes Bild erschlägt jede weitere Frage. Cohen jedoch ist es um das Offenhalten der Fragen zu tun, was seiner Meinung nach der Begriff leisten kann – wenn er am Leben bleibt. Was bedeutet das? Hören wir weiter im Text: »… der Begriff muss immer Leben bedeuten, d. h. Regsamkeit, Offenbleiben der Probleme, und immanente Arbeit an deren Behandlung. Die Probleme, die der Begriff formulieren soll, dürfen in ihm niemals als geschlossen formuliert gedacht werden … der Begriff ist Frage und bleibt Frage, nichts als Frage. Auch die Antwort, die er enthält, muss eine neue Frage sein, eine neue Frage wecken. Das ist eben das innerliche methodische Verhältnis, welches 34
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zwischen Frage und Antwort besteht, dass jede Frage selbst eine Antwort sein muss; daher kann und muss auch jede Antwort eine Frage sein … Es ist eine neue Art von Wechselbedingung, Wechselwirkung, welche sich in dem System des Begriffs vollzieht: die Wechselwirkung von Frage und Antwort. Keine Lösung darf als definitiv gelten. Der Begriff ist keine absolute Totalität …« 35
Nehmen wir als Beispiel für diese kühne, nachgerade erfrischende, aber die Schulphilosophen vermutlich irritierende These das von Cohen so gern zitierte Begriffspaar Vereinigung und Sonderung. Bedingung jeder Erkenntnis sei die Sonderung, denn erst wenn sich ein Etwas vom diffusen Allgemeinen absondert, wird es als dieses spezifische Etwas erkennbar. Zugleich strebt es aber schon wieder nach Vereinigung – z. B. um als Gattungswesen unter einem Gattungsbegriff der Vereinzelung zu entgehen, was konkret im täglichen Leben bedeutet, sich einer Familie, einem Kreis Gleichgesinnter etc. anzuschließen oder zugehörig zu fühlen, zumindest die Möglichkeit dazu offen zu halten. Cohen expliziert dies am Beispiel des Lebens: in dem Begriff Leben drückt sich schon die Spannung und Wechselwirkung zwischen dem Individuell-Spontanen und dem Allgemeingültig-Gesetzmäßigen aus. Denn die Entdeckung des Lebens – so Cohen – habe zum Begriff des Systems geführt, wobei das Leben selbst danach strebe, sich als Individuelles in der Sonderung gegen das System zu behaupten, das seinerseits immer für Vereinigung stehe. So spricht man vom Planetensystem, Pflanzensystem, Sonnensystem oder vom System der lebendigen Körper. Da sich das Leben aber als je Individuelles, Einzigartiges in seiner Spontaneität erst als Leben erweist, war die Hervorhebung des Begriffs Individuum gegen das System geradezu zwingend geboten, so Cohen. Das Individuum sei ein ganz neuer Begriff, da es in seiner Sonderung weder im Ganzen aufgehe noch nur ein »Teil« sei. Die spontane Selbstäußerung des Lebens – soz. als Ausdruck eines ursprünglichen fast-Nichts – schaffe erst in ihrer sich entwickelnden Fülle ein Ganzes des Lebens: Vereinigung. Diese Selbstäußerung des lebendigen Individuums bedarf aber wiederum der Organe, um der ihm inne wohnenden Spontaneität Ausdruck zu verleihen, wobei unter Organen sowohl Teile des Körpers wie auch das Bewusstsein, die Seele und das Denkvermögen verstanden werden. In dieser Sonderung der Organe sei schon die nächste Vereinigung angelegt: der Organismus. Wechselbedingung, 35
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Wechselwirkung und Durchdringung sind Cohens beliebte Namen für die Bewegung der Begriffe, die er uns an Beispielen wie Sonderung und Vereinigung, Einheit und Mehrheit etc. vorführt. Dieser Vorgang – wenn sich denn die Frage immer wieder als Frage erhalten soll, um offen zu bleiben – kann nur als unerschöpflich gedacht werden. Jetzt dürfte der Leser verstehen, was wir mit der Cohenschen Umstülpung des Begriffs meinten. Jede Antwort als neue Frage zu lesen und zu hören, darf man getrost als eine zutiefst jüdische Methode bezeichnen. Man denke nur an das Werk zweier großer – und dabei so unterschiedlicher – jüdischer Dichter oder Aphoristiker, nämlich Elazar Benyoetz und Edmond Jabes. 36 Wir verstehen nun, wie ein Begriff Leben bekommt und lebendig bleibt. Aber können wir dann noch von Begriff sprechen? Es wird noch ironischer: um den Begriff von der absoluten Totalität, von der Verdinglichung und Verknöcherung zu befreien, hat Cohen einen Begriff geschaffen: die Korrelation, die er als eine neue Art von Wechselbedingung und Wechselwirkung einführt.
c. Die Korrelation Wenn der Begriff der Korrelation nach Cohens eigener Bestimmung des Begriffs auch nur Frage und nichts als Frage sein könne, dann wäre sie wohl als Bewegung in einem Zwischen zu denken, das nicht als gegebene Kategorie z. B. von Raum und Zeit zu verstehen ist. Vielmehr verändern sich durch die Bewegung der Korrelation nicht nur die jeweils korrelierenden Begriffe und die durch sie benannten Dinge, sondern die Kategorien von Raum und Zeit (oder Quantität und Qualität) werden mit in die Bewegung der Veränderung »hineingerissen«. Cohen spricht einmal sehr anschaulich davon, dass Kategorien keine Anker seien, an denen sich die Begriffe festmachen ließen, sondern vielmehr ein Floß, mit dem wir uns immer wieder vom Ufer abstoßen, um uns im Strom des Lebens neu zu orientieren. Korrelation bedeutet für Cohen also nicht nur das wechselseitige Aufeinander-Bezogen-Sein, sondern vor allem das neu in Beziehung-Setzen von Begriffen. Die
Als Beispiele empfohlen: Edmond Jabes: Buch der Fragen, Bibliothek Suhrkamp 1989 und Elazar Benyoetz: Bileams Esel und Kohelets Hund, Hanser Verlag 2008
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Hermann Cohens Denkbewegungen zwischen Ethik, Logik und Religion
Korrelation als Tätigkeit schafft die Bezüge immer neu. Am Beispiel der Korrelation von Gott und Mensch hatte Cohen einen neuen Zeitbegriff entdeckt. Dem entspricht seine Definition der Zeit als konstitutives Element der Ethik, deren Bereich sich auf das Handeln von Mensch und Gott bezieht. Anhand der Korrelationen von logischen oder Erkenntnisbegriffen entdeckt Cohen einen neuen Begriff des Raums – auch wenn er dies nicht so nennt. Knüpfen wir noch einmal an der Bewegung zwischen Vereinigung und Sonderung an, die Cohen auch als Durchdringung bezeichnet. Das oben gegebene Beispiel des Lebens lässt uns Cohens Diktum verstehen, wonach die Sonderung immer auch selbst Vereinigung sei (zu neuer Vereinigung führe), ohne jedoch in ihr aufzugehen! Doch die Durchdringung von Vereinigung und Sonderung versteht Cohen – jenseits konkreter Beispiele – als Bewegung des Denkens. Auch hier leuchtet das Ineinandergreifen der korrelierenden Begriffe unmittelbar ein, wenn wir z. B. statt Sonderung Unterscheidung sagen. Wenn wir etwas unterscheiden, dann scheiden wir es aus einem Größeren oder Allgemeinen heraus, trennen es oder sondern es ab. Dieses nun – bisher womöglich »Übersehene« – erscheint aber zugleich in neuen Zusammenhängen, schafft also Vereinigung. Ebenso wird mit jeder begrifflichen »Vereinigung« Anderes ausgesondert, also in jeder Vereinigung geschieht schon die Sonderung. Aber in dieser Durchdringung beider Begriffe zeigt sich schon ein Drittes, nämlich die Erhaltung. In der Formulierung Sonderung als Vereinigung solle ausdrücklich nicht das eine im anderen aufgehen, sondern sich im anderen erhalten. Am Beispiel von Einheit und Mehrheit sagt Cohen, was er unter Erhaltung versteht: »… die Mehrheit soll nicht in die Einheit zusammenfallen, und die Einheit soll nicht in die Mehrheit sich abspalten. Die Mehrheit soll, als Einheit freilich, Mehrheit bleiben. Und die Einheit soll als Einheit sich erhalten. Und beide sollen nicht nebeneinander lagern, so wenig als ineinander übergehen. Eine Durchdringung, wie man sie sich dynamisch nicht vorzustellen vermag, wird für die Erhaltung gefordert.« 37
Dynamik besagt offenbar – trotz der in ihr statthabenden Bewegung – eine auf ein Ergebnis zielende Kraft, die auf zeitliche Entwicklung oder räumliche Verschmelzung führen kann, also ein Nebeneinander oder ein Ineinander. Welches »Einander« wird aber stattdessen für die
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Durchdringung der Begriffe gefordert? Wir haben Cohens Begriff der Korrelation bereits als ein ständiges neu in Beziehung-Setzen bezeichnet, was nichts anderes bedeutet, als dass Begriffe, Dinge, Namen und sogar Korrelationen immer neu aufeinander und zueinander in Beziehung gesetzt werden. Diese Bewegung geht über die Vorstellung einer »gewöhnlichen« Dynamik offenbar hinaus, denn sie ist als Bewegung offen und unerschöpflich. So wie die Korrelation zwischen Gott und Mensch – als Tätigkeit des stets neu in Beziehung-Setzens – aufgrund der Unerschöpflichkeit Gottes unerschöpflich ist, so gilt dies für jede andere Korrelation auch, da sie schon sprachlich nicht auszuschöpfen ist. Die Korrelation, als Tätigkeit verstanden, befreit die Begriffe von ihren Festlegungen und übersetzt sie in lebendige Mehrdeutigkeiten. Dadurch führt sie uns in eine Gegend, in welcher das Sprachdenken über den Idealismus hinaus steigt. Deswegen wohl hat Rosenzweig davon gesprochen, dass Cohen philosophisches Zukunftsland erschlossen habe. Noch aber bleibt das Gesagte eine These, denn noch haben wir nur damit begonnen, dem Sprachdenken vorsichtig auf die Spur zu kommen. Hier sei deswegen nur soviel gesagt: wenngleich Cohen weiterhin vom Begriff des Begriffs spricht, so wandelt sich bei ihm doch die Gestalt des Begriffs, der nun nicht mehr »Werkzeug oder Instrument des Denkens« ist, als vielmehr Name oder Wort. Indem die Vereinigung und Sonderung z. B. die Bewegung zwischen dem Unterscheiden und dem Verbinden benennen, könnte man erstere als den Namen des Einigens und letztere als Namen des Unterscheidens oder Trennens bezeichnen. Wenn wir hier Begriff und Name bzw. Wort voneinander abheben, folgen wir einer langen Tradition der Sprachdenker, die bis zu Derrida und Levinas führt. Besagen soll sie Folgendes: während der Begriff dazu tendiert, das Denken zum Abschluss zu bringen, wird die Unübersetzbarkeit des Namens immer wieder neue Schichten an Bedeutung und Leben freilegen, sobald der Name neu genannt wird. Der Name ruft auf, ruft zur Verantwortung, so dass er unmittelbar Beziehung und Wirklichkeit hervor-ruft, während der Begriff vermittelt, ob zwischen Anschauung und Erkenntnis, Mensch und Gott oder Mensch und Mit-Mensch. Im jeweils neuen Benennen der Welt durch Namen oder Worte, im neu Anheben des Sprechens bisher ungesprochner Worte wird das Sein (»Einai«) stets vom Werden (»Haya«) neu in Frage gestellt; jedes Ende enthält schon einen neuen Anfang, jede Antwort eine Frage. Wir werden erinnert an Alfred North Whiteheads neuen 72
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»Begriff« der Monade als ein »Werde-Ding«. 38 Das Denken und Sprechen in der unendlich kleinen Differenz zwischen Begriffen, zwischen Sein und Werden schwebt stets über dem Abgrund, wie Cohen sagt. Dort unten aber lauert das Nichts, das nach kabbalistischer Methode immer wieder hervorbrechen kann. Entspringt hier die Sorge Cohens und Rosenzweigs vor einem Zurücksinken der Schöpfung ins Nichts? Kein abstraktes – rein begriffliches – Werden kann hier helfen, sondern nur der Mensch, dem die Erneuerung der Schöpfung geboten wird. Das Gebot aber vernimmt der Mensch erst in der Offenbarung, die Cohen als »Schöpfung der Vernunft« bezeichnet. Nicht die Geschichte, die von irgendeinem Ereignis – wie z. B. der Offenbarung – am Sinai erzählt, verbürgt diese Vernunftschöpfung. Vielmehr besagt für Cohen gerade die »Weigerung des Ewigen«, sein Angesicht zu zeigen, die eminent wichtige Bedeutung des Hörens gegenüber dem Schauen, das schließlich sogar nur noch als ein inneres Hören die Offenbarung bezeugen soll. Es ist eigentlich nichts passiert, als der Ewige vorüber zog, man hat nichts gesehen und kaum etwas gehört. Aber das Wort ist nah – im Herzen und im Munde des Menschen: »Im Herzen des Menschen und in der Sprachvernunft ist »das Wort«, wie hier das Gebot genannt wird, enthalten.« Das ist »Alles«, was »passiert« ist – Rosenzweig aber hat sein Sprachdenken aus diesem Wort der Offenbarung geschöpft und es in ihr grundgelegt, auch hierin Cohen folgend.
Siehe dazu Alfred North Whitehead: Prozess und Realität, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1987
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Kapitel 2: Die Kugelgestalt des Seins zerbrechen: Franz Rosenzweigs Weg vom Nichts zur Sprache – oder die Kritik am Idealismus
»Der Widerstand gegen die Idee der Totalität hat uns im »Stern der Erlösung« frappiert …« 1 – so hatte Emmanuel Levinas gesagt. Diese Einsicht spricht bereits gegen den Versuch, Rosenzweig zum »Systemdenker« zu erklären. Nicht dass er nicht systematisch gedacht hätte, aber doch immer mit vollen Segeln in Richtung auf den Bruch des »Systems«. Mit »System« meinte Rosenzweig den Idealismus, ohne dass er mühselig differenziert hätte zwischen verschiedenen historischen oder epistemologischen Spielarten des Idealismus. Unschwer lassen sich jedoch zwei Grundmotive seines Bruchs mit dem idealistischen Denken ausmachen: das Fehlen jeglicher Totalität lässt sich als Absage an jedwedes reduktionistische Denken lesen. Nicht länger sollte eines auf das Andere reduziert werden – weder die Welt und der Mensch auf Gott, noch Gott und Welt auf den Menschen, noch die Vielfalt des Besonderen auf die Einheit des Allgemeinen oder gar das Leben auf den Begriff. Hier zeigt sich das zweite Motiv in Rosenzweigs Kritik am Idealismus. Während Hermann Cohen um das Leben des Begriffs gerungen hat, geht es Rosenzweig um das Leben selbst. Den beständig fließenden Strom des Lebens aus der Abstraktion des Begriffs zu befreien und stattdessen das Leben in den Strom der lebendigen Sprache zu führen – dieses Motiv weist Rosenzweig als einen weit über seine Zeit hinausweisenden, modernen Denker aus. Was aber ist mit dem »Strom der lebendigen Sprache« gemeint? Gleich zu Beginn sei mit dreifachem Ausrufungszeichen betont, dass Rosenzweigs Sprachdenken nicht auf den Begriff des »linguistic turn« reduziert werden darf, vielmehr führt sein Judentum ihn zur Sprache, wonach Sprechen immer als Zwiesprache zwischen Gott und Mensch sich ereignet. Vor allem aber bedarf Zwiesprache – auch die zwischen Mensch und Mensch
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Emmanuel Levinas: Totalität und Unendlichkeit, Karl Alber Verlag 2002, S. 31
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Franz Rosenzweigs Weg vom Nichts zur Sprache
– nach diesem Verständnis nicht der Vermittlung durch den Logos. Wir erinnern uns an Rosenzweigs Worte zu Cohens jüdischen Schriften, Philo sei dem griechischen Zauber des Logos erlegen, der sich vermittelnd zwischen Gott und Mensch geschoben hat. Die Begegnung zwischen Gott, Mensch und Welt wollte Rosenzweig nicht durch Begriffe und Ideen vermittelt wissen, sondern durch Sprache.
Rosenzweigs existentielle Erfahrung Die deutliche Abneigung Rosenzweigs gegen begriffliche Abstraktion, Einheitsdenken und überhaupt »denkendes Denken« sind zwar nicht ausgelöst, aber doch sicher verstärkt worden durch zwei existentielle Erfahrungen des noch nicht 30-Jährigen angehenden Wissenschaftlers: das berühmte Leipziger Nachtgespräch mit seinen Freunden vom Juli 1913 sowie die Fronterfahrungen im ersten Weltkrieg. Wir wollen Rosenzweigs Werk nicht auf das Netz des Biographischen reduzieren, doch die Worte existentielle Erfahrung seien mehrfach unterstrichen als das, was sie wirklich besagen, nämlich eine Erfahrung auf Leben und Tod. Dass diese in den Schützengräben des Weltkrieges über jeden aus dem zivilen Leben herausgerissenen jungen Mensch hereinbrach, bedarf keiner Erörterung. Was aber hatte es mit dem »Leipziger Nachtgespräch« auf sich? In jener Julinacht des Jahres 1913 sprachen die Freunde Herbert und Rudolf Ehrenberg, Eugen Rosenstock-Huessy und Franz Rosenzweig über die Frage des Übertritts vom Judentum zum Christentum. Die drei Erstgenannten hatten diesen Schritt bereits getan, nun war es an Rosenzweig, sich seiner religiösen und damit existentiellen Grundlegungen zu vergewissern. Ein halbes Jahr befand er sich in einer krisenhaften Ausnahmesituation auf der Grenze zwischen Tod und Leben – oder, wie er sagte, in einer nervlichen Zusammenbruchskrise. Diese Krise überkam Rosenzweig als einem jungen Mann, der bereits den Weg vom Medizin- über das Philosophiestudium zum Doktoranden der Geschichtswissenschaft gegangen war. Das intensive Studium Kants war einer langen Beschäftigung mit Hegel vorausgegangen, woraus schließlich die fast monumental zu nennende Dissertation »Hegel und der Staat« entstanden war. Sein berühmter Lehrer, der Historiker Friedrich Meinecke, hatte Rosenzweig auf eine glänzende Karriere als Professor der Geschichte vorbereitet. Aber die Frage nach der Wahrheit des Lebens ließ die Frage A
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nach der Wahrheit des Wissens verblassen. Warum sollte sich Rosenzweig zum Christentum bekennen? Aus Gründen der Opportunität angesichts zunehmender anti-semitischer Tendenzen in der wilhelminischen Gesellschaft? Um sich also solchermaßen eine sichere Existenz in der nervösen Stimmung einer tief verstörten, verengten und verbissenen, mehrheitlich christlich geprägten Umgebung aufzubauen? Dies wären für den Wahrheitssucher Rosenzweig keine Kriterien gewesen – und waren es im Übrigen auch für seine Freunde nicht. Aber der Tatsache, dass aus dem erwähnten Klima der Enge und Nervosität überhaupt Menschen zur Entscheidung zwischen dem Glauben der Väter und dem der Gesellschaft sich gedrängt sahen, war in ihrer ganzen Tragweite nicht auszuweichen. Rosenzweig wendete diesen mannigfachen Druck der gesellschaftlichen Umgebung wie auch seiner eigenen inneren Stimme, die ihn rastlos suchen hieß, zur persönlichen Bewährung seiner Wahrheit. Anlässlich eines Besuchs in der Synagoge im Oktober 1913 war für ihn die Entscheidung gefallen, Jude zu bleiben, da er nun für sich zu erkennen meinte, im Judentum in Bezug auf seinen Glauben und die religiösen Fragen »Alles zu haben«. In diese Zeit fiel auch seine Teilnahme an den Vorlesungen Hermann Cohens an der Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Der 27-Jährige Rosenzweig verehrte den um 44 Jahre älteren Cohen wie wohl keinen anderen seiner Lehrer. Durch ihn erhielt der Jüngere unschätzbare Anregungen. So wurde Rosenzweig zum einen durch Cohen auf die Spur einer Neubestimmung der Beziehung zwischen Philosophie und Theologie geführt. Und »zum anderen«? Es müsste heißen »aber zum anderen«, denn Rosenzweigs »Denken« hatte sich – anders als bei dem noch im 19. Jahrhundert wurzelnden »letzten großen Idealisten« Cohen – dem Tod zu stellen, begann doch das 20. Jahrhundert tödlich, während das 19. in all seinen Gewaltausbrüchen auch noch Reste einer vermeintlichen »Unschuld« des 18. Jahrhunderts in sich barg. Rosenzweigs Buch »Stern der Erlösung«, das er im Sommer 1918 an der Front auf dem Balkan zu schreiben begann und im Februar 1919 – wieder daheim in der elterlichen Wohnung in Kassel – zum Abschluss brachte, beginnt denn auch mit dem Tod. Kann etwas tatsächlich mit dem Tod beginnen?
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Gegen das All- und Einheitsdenken des Idealismus Gleich zu Beginn des »Stern« überfällt den Leser das Paradox des Lebens schlechthin, wonach mit dem Tod »Alles« anfange. Nicht irgendein »Alles« jedoch, sondern »alles Erkennen«: »Vom Tode, von der Furcht des Todes, hebt alles Erkennen des All an«. Hören wir weiter in den Text hinein: »Die Angst des Irdischen abzuwerfen, dem Tod seinen Giftstachel zu nehmen, das vermisst sich die Philosophie. Alles Sterbliche lebt in dieser Angst des Todes, jede neue Geburt mehrt die Angst um einen neuen Grund, denn sie mehrt das Sterbliche. Ohne Aufhören gebiert Neues der Schoß der unermüdlichen Erde, und ein jedes ist dem Tod verfallen, jedes wartet mit Furcht und Zittern auf den Tag seiner Fahrt ins Dunkel. Aber die Philosophie leugnet diese Ängste der Erde … sie lässt den Leib dem Abgrund verfallen sein, aber die freie Seele flattert darüber hinweg. Dass die Angst des Todes von solcher Scheidung in Leib und Seele nichts weiß, dass sie Ich Ich Ich brüllt und von Ableitung der Angst auf einen bloßen »Leib« nichts hören will – was schert das die Philosophie …« 2
Vom Leben und seiner Angst abgehobene, abgelöste, also abstrakte Philosophie, die sich nicht um das zitternde, zagende Ich kümmert – Rosenzweig schleudert aus dieser Gemütslage den Philosophen ein angriffslustiges »In Philosophos« entgegen, das der Einleitung des »Stern« zum Geleit gegeben wird. Es wird Klage erhoben gegen die Philosophen, die sich auf den Höhen ihres geistigen Fluges gemütlich eingerichtet hätten, nur um den »Niederungen des Lebens« zu entkommen. Die Philosophie zeige den angesichts der »herzischenden Geschosse des blind unerbittlichen Todes« vor Angst Schlotternden nur ihr leeres Lächeln und weise mit ausgestrecktem Finger auf ein Jenseits. Aber der Mensch wolle gar keinen Fesseln des Diesseits entfliehen, sondern er wolle vielmehr in diesem Diesseits bleiben und –leben. Die Philosophie preise ihm den Tod als großartige Gelegenheit an, der Enge des Lebens zu entrinnen, der Mensch jedoch fühle nur gar zu gut, dass er zum Tode, aber nicht zum Selbstmord verurteilt sei. Rosenzweig scheint hier auf Sokrates zu antworten, der nicht nur das Philosophieren als ein Sterben-Lernen bezeichnet hatte, sondern im Angesicht des Todes fröhlich verkündete, wie sehr er sich einen Zustand Franz Rosenzweig: Stern der Erlösung, Bibliothek Suhrkamp 1988 (im Folgenden als SE gekennzeichnet), S. 3
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herbeiwünsche, in dem die Seele in der Erfüllung ihrer Aufgabe des Denkens nicht länger von den Leiden und Bedürfnissen des Körpers abgelenkt werde. Ferner erahnen wir in Rosenzweigs Polemik gegen den Fingerzeig auf ein Jenseits, was er unter der »christlich-neuheidnischen Synthese« des modernen Idealismus eines Hegel oder Schelling verstanden wissen wollte. Tatsächlich hatten schon die Griechen sich angeschickt, die Unsterblichkeit zu beweisen – ohne jedoch mit einem Erlöser oder Heiland »dienen« zu können. Dies geschah erst durch das Christentum, das sich wiederum bestens in den Spätidealismus nach 1800 eingliedern ließ. Einzig unterschieden sich eine auf das jenseits gerichtete Religion und Philosophie noch dadurch, dass erstere auf Glauben und Gnade baute, während letztere auf das Wissen. Aber auch diese letzte kleine Kluft wurde in der Philosophie Hegels überbrückt, die über alle Dichotomien und Aporien hinweg schließlich in ein »All- und Einheitsdenken« mündete. Wie aber korreliert die idealistische »Leugnung des Todes« laut Rosenzweig zu diesem All- und Einheitsdenken? Da der Idealismus es nur mit dem Erkennen des All zu tun habe, müsse er per definitionem den Tod auf ein unbedeutendes Nichts zusammenfalten, denn ein All würde nie sterben und im All stürbe nichts – »Sterben kann immer nur das Einzelne«. Mit dem Einzelnen aber gebe sich der Idealismus nicht ab, ihm sei es schließlich immer nur um das große Ganze (das All), um das Reine und Höhere zu schaffen. So lautet Rosenzweigs erste große Kritik am Idealismus, dass er dem Leben die Lebendigkeit abspreche, indem er alles Einzigartige, Besondere, Individuelle unter seinem All- und Einheitsdenken begrabe und ersticke. Kann aber der Begriff des All- und Einheitsdenkens jenseits polemischer Erfrischung irgendwie erhellend wirken? Wie wir schon ahnen, schält Rosenzweig als weiteren Grundirrtum des Idealismus die überhöhte Erwartung an das Denken heraus: auf die Frage, was die Welt sei, werde die Antwort im Denken gesucht, womit Rosenzweig unausgesprochen Denken nach vorgegebenen Begriffen meint, die ihrerseits den wild schießenden Strom des Lebens durch Fixierung, Erstarrung, Vivisektion zu bannen und zu bändigen suchten. Aber: über Jahrhunderte hinweg sei den Denkern noch bewusst gewesen, dass jenseits des Denkens in den Offenbarungen Quellen göttlichen Wissens sprudelten, was die ebenso jahrhundertealte Auseinandersetzung des Wissens mit dem Glauben immer wieder angetrieben habe. In Hegel – seiner Person und Philosophie – komme dies alles zu einem Abschluss, denn als solchen müsse man es wohl bezeich78
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nen, »wenn das Wissen nicht mehr bloß seinen Gegenstand, das All, sondern auch sich selber restlos, wenigstens nach seinen eigenen Ansprüchen und in seiner selbsteigenen Weise restlos, umgreift«. 3 Damit bewegt sich Rosenzweig zunächst ganz in den Bahnen der nach Schopenhauer und Kierkegaard üblichen Hegelinterpretation. Dass Gott die Welt zuerst begrifflich gedacht, dann – in einem Akt der Selbstentäußerung – die vorher gedachte Welt erschaffen habe, nun aber der Weltgeist-Gott durch den Verlauf der Weltgeschichte, die nicht nur vernünftig, sondern auch restlos nach logischen Begriffen erkennbar sei, in sich selbst zurückkehrt, kann man als Standardwissen zur Hegelschen Philosophie bezeichnen. Rosenzweig nennt das Ergebnis dieses Durchgangs des Weltgeistes durch die Geschichte All- und Einheitswissen, in dem das Wissen eben nicht nur seinen Gegenstand, sondern auch sich selbst restlos begreife. Dass es auch – von sog. linkshegelianischer Seite – ganz andere, auf den Begriff von Freiheit und Fortschritt im Bewusstsein abzielende Interpretationen Hegels gibt, sei nur am Rande erwähnt. Für Rosenzweig aber stand Hegel am Ende eines 2500-jährigen All- und Einheitsdenkens, deren Vertreter er als die ehrenwerte Gesellschaft der Philosophen von Jonien bis Jena bespöttelte. Der Jonier Parmenides habe das Sein als geschlossene Kugel gedacht, dem ein ebenfalls in logischen Formen aufbewahrtes und abgeschlossenes Denken entspräche. In Jena habe Hegel eine moderne Variante des Parmenides geschaffen: »Denn was in ihren ersten Anfängen die Philosophie mit naiver Offenheit ausgesprochen hatte, dass sie das »Sein« als Kugel, zum mindesten als Kreis, erkennen wollte, davon blieb sie beherrscht bis an ihren Ausgang in Hegel. Noch Hegels Dialektik glaubt sich selbst rechtfertigen zu können und zu müssen, indem sie in sich selbst zurückführt.«4
Diese Hegelsche Zurückführung des Denkens in sich selbst erneuert die Kugelgestalt des Seins: der in sich selbst zurückgekehrte Weltgeist formt aus dem absoluten Sein, dem reinen Nichts, der Vernunft, der Geschichte und Gott die Kugel des All und Einen. Damit wäre Alles gedacht und gesagt, womit jedoch Hegels eigener Anspruch, dass in seiner Person die Philosophie zum Abschluss gekommen sei, selbige in eine existentielle Krise gestürzt habe. Wo war der Weg hin zu einer
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Öffnung, die aus der geschlossenen Kugel herausführen könnte? Rosenzweig erwähnt Schopenhauer und Nietzsche als diejenigen, die das Konstrukt einer Einheit und Allheit des Seins als übergeordnetem System verworfen und demgegenüber das Einzelne vor Vereinnahmung durch das Absolute hätten schützen wollen. Darauf bezieht sich Rosenzweigs weithin berühmter Satz: »Wer die Einheit des Seins leugnet, der weist an erster Stelle die Einheit des Denkens zurück. Der ganzen ehrwürdigen Gesellschaft der Philosophen von Jonien bis Jena wirft den Handschuh hin, wer es tut.« 5 Der erste Satz des nächsten Abschnitts muss hier mitgelesen werden: »Unsere Zeit hat es getan.« Da in manchen Darstellungen der Eindruck erweckt wird, als habe Rosenzweig selbst als erster den Handschuh geworfen, ist hier Genauigkeit gefordert. Rosenzweig findet eine Situation vor, in der die Philosophen von Jonien bis Jena bereits den Handschuh vor ihren Füßen liegen sehen. Die Fehde tobt schon, nicht Rosenzweig hat sie eröffnet. Das ist in zweierlei Hinsicht wichtig zu betonen: zum einen gibt es immer wieder den Versuch, Rosenzweig in die Nähe Heideggers zu rücken. Dieser hatte bekanntlich die seiner Meinung nach seit Platon über 2500 Jahre währende »Verfallsgeschichte des Seins« nun glanzvoll an ihr Ende kommen sehen, weil ein genialer Über-Philosoph erschienen war, der das Sein noch einmal erfand und auf lichte Höhen der Philosophie führte: Heidegger höchst selbst. Bei Rosenzweig ist weder von Verfall die Rede, noch leidet er an krankhafter Selbstüberschätzung wie der in mehr als einer Hinsicht problematische Hüttenromantiker Martin Heidegger. Zum anderen rechnet Rosenzweig nicht ab, er ist kein Schwellen- oder Epochenmacher, der soz. nebenbei einige Jahrtausende der Geistesgeschichte abhaken und mit dem Stempel »erledigt« dem Staub der Vergangenheit überließe. Ganz im Gegenteil: »Die Stellung, die dem Denken seit den Joniern in aller Philosophie, die den Namen verdient, zukommt … diese Stellung wird von uns unbedingt aufrechterhalten.« 6
Aber die Kugelgestalt müsse aufgebrochen werden, um »Wege nach draußen« zu finden. Das allgemeine Sein als All-eines müsse zunächst in seine drei Elemente zerlegt werden, wenn die Philosophie etwas mit Leben und Wirklichkeit zu tun haben soll: Gott, Welt und Mensch. 5 6
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Höchste, taubblinde Subjektivität und unendlich klare Objektivität Soweit der Handschuh vor Hegels Füßen. Ob auch er einen Handschuh aufzulesen habe, wird im Falle Nietzsches nicht hinreichend deutlich, aber einen Schuh muss er sich mindestens anziehen. Rosenzweig formuliert an ihn die zu jener Zeit von der Schulphilosophie gestellte Frage, ob denn »das« noch Wissenschaft sei. Mit »das« ist das Philosophieren der neueren Zeit (Nietzsche) gemeint, wonach man die Dinge mal aus dieser und mal aus jener Perspektive sich anschaue. In der Behandlung dieser Frage offenbart Rosenzweig sein eigenes Anliegen, höchste Subjektivität mit unendlich klarer Objektivität zu verknüpfen. Man könnte auch sagen, Rosenzweig habe ebenfalls das Denken offen und unabgeschlossen halten wollen, indem das Individuelle und Besondere in seiner sich je erneuernden Einzigartigkeit hervorzuheben sei. Aber gleichzeitig knüpfte er unermüdlich die Fäden zwischen den jeweiligen Formen des Besonderen und dem – wie auch immer zu »denkenden« –Ganzen, zwischen Individualität und Universalität, was immer unter ihr zu verstehen sei. Der Totalität oder Totalisierung geschlossener Systeme stellt Rosenzweig Offenheit und – wenn man so will – höchste Subjektivität gegenüber, ohne den Anspruch auf »unendliche Objektivität« aufzugeben: »Hier aber tritt das Bedenkliche der neuen Philosophie ins hellste Licht, und die Frage, die Nietzsche entgegengehalten wurde, muss allen ernst zu nehmenden philosophischen Bestrebungen entgegen springen: ist das noch Wissenschaft? … Dieses Betrachten der Dinge, jedes für sich und eines jeden in zahllosen Beziehungen, bald von jenem, bald von diesem Punkt aus … So ist hier ein Bedürfnis der Philosophie fühlbar geworden, das sie offenbar aus sich selbst heraus nicht befriedigen kann … Soll sie ihren neuen Begriff nicht wieder preisgeben … so muss ihr, und zwar gerade ihrer Wissenschaftlichkeit, Unterstützung von anderswoher kommen. Sie muss ihre neue Ausgangsstellung, das Subjektive, ja extrem persönliche, mehr als das, Unvergleichbare, in sich selbst versenkte Selbst und dessen Standpunkt, festhalten und dennoch die Objektivität der Wissenschaft erreichen. Wo findet sich diese Brücke zwischen extremster Subjektivität, zwischen, man möchte sagen taubblinder Selbsthaftigkeit und der lichten Klarheit der Objektivität?« 7
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Nie wird Rosenzweig sich erkühnen, diese Objektivität zu »definieren«, vielmehr öffnet er in der Suche nach ihr das Tor zu einem Übersteigen des Entweder-Oder der philosophischen Schulen, das er vorfand. Die beiden philosophischen Extreme des 19. Jahrhunderts – extreme Totalität und Allheit hier, extreme Subjektivität, taubblinde Selbsthaftigkeit dort – entsprangen nach Rosenzweig einer gemeinsamen Wurzel: dem fehlenden Begriff der Offenbarung und damit dem fehlenden Vertrauen in die Sprache – denn wie anders als sprachlich habe sich Gott offenbaren können? Aber wir greifen vor. Rosenzweigs Antwort auf seine Frage nach der Brücke zwischen »extremster Subjektivität und der lichten Klarheit der Objektivität« gibt er selbst erst im dem der Offenbarung gewidmeten Teil des »Stern«, dem wir uns im übernächsten Kapitel dieses Buches widmen. Als Markstein des Ganzen seines Werks jedoch ist die zitierte Fragestellung aufzufassen und insofern als Einleitung unentbehrlich. Ferner: schon von Cohen her sind wir mit der Offenbarung als einem Akt des Hörens – auch des inneren – vertraut. Im Unterschied zu Cohen folgert Rosenzweig daraus die Notwendigkeit, das Denken in rein logischen Begriffen durch ein grammatisches – oder besser ein Sprachdenken – auf neue Wege zu führen. Aus der Sprachlichkeit der Offenbarung ergibt sich für ihn die Notwendigkeit einer neuen Form der Zusammenarbeit zwischen Philosophie und Theologie. Im Sinne Hermann Cohens begegnen uns Begriffe wie Offenbarung und Sprachdenken immer noch vorwiegend als Frage. Bevor sich im Weiteren die ersten Fragen in Antworten verwandeln, die uns als neue Fragen auf der Bahn oder der Spur des aus der Offenbarung gewachsenen Sprachdenkens den Weg zeigen werden, folgen wir Rosenzweigs eigenem Umweg über das Nichts. Am Ende der Einleitung des »Stern« – nachdem er Hegel, Kant, Schopenhauer und Nietzsche namentlich auftreten ließ – hebt er ganz besonders seinen Lehrer Hermann Cohen heraus. Dieser sei »entgegen seiner eigenen Selbstauffassung und gegen den Anschein seiner Werke« ganz etwas Anderes gewesen als ein bloßer Nachfahr des Kantischen Idealismus. Begründet wird diese Einschätzung Rosenzweigs in Cohens Denken aus dem Nichts. Nun steht das ganze erste – über 60 Seiten umfassende – Kapitel im ersten Buch des »Stern« unter dem Namen des Nichts und wurde schon zu Lebzeiten Rosenzweigs von den Lesern als dunkel und schwierig empfunden, so dass manch einer daran scheiterte und die Lektüre des ganzen Buches abbrach. Dies soll uns nicht widerfah82
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ren, zumal wir durch die Beschäftigung mit Cohens Philosophie auf den Umweg über das Nichts vorbereitet sind. Rosenzweig hat in den nachträglichen Bemerkungen zum »Stern« seinen Lesern keck empfohlen, an diesen Passagen – wenn sie denn als so dunkel empfunden würden – nicht länger zu verweilen, sondern einfach weiterzulesen, da sich ihr Sinn vom Ende her erschließe. Im Fall der vorliegenden Studie halten wir dennoch ein kurzes Verweilen bei den Themen des Nichts oder des Nicht-Wissens für unerlässlich, da sie quasi als Sprungbrett zum Sprachdenken hinführen und zum anderen von Beginn an Rosenzweigs methodische Strenge transparent werden lassen.
Vom Nichts zum Etwas – Rosenzweigs Umweg Kann man hier aber von Umweg sprechen? Der Weg, den Rosenzweig geht, soll die Philosophie wegführen vom Primat des Seins, mehr noch vom Denken des Seins. Doch wie diesen neuen Weg ebnen? Die Philosophen von Jonien bis Jena haben im Begriff des Seins Anfang und Ursprung der Welt gesucht und zu finden geglaubt – also galt es für Rosenzweig zunächst Anfang und Ursprung außerhalb und unabhängig vom »Sein« zu suchen. Diese Suche führt wie bei Cohen auf den Umweg über das Nichts. Zugleich sollte aber bei Rosenzweig die »Einheit des Seins« in ihrer »Kugelgestalt« zerbrochen werden; dem dient die Aufsplitterung des idealistisch gedachten »Seins« in drei gänzlich eigenständige »Elemente«: Gott, Mensch und Welt. Für jedes galt es, einen ganz eigenen Weg vom Nichts zum Etwas zu finden. Philosophie sollte nicht von der Voraussetzung eines Ganzen, einer All-Einheit ausgehen, sondern von zersplitterten Fragmenten verschiedener Modi des Nichts, um nicht von vornherein ein willkürliches Telos zu setzen. Um diesen Ansprüchen zu genügen, konstruiert Rosenzweig einen zweiten Schöpfungsmythos, eine heidnische Erzählung vom Anfang. Das erscheint für sein großes Anliegen der Erneuerung des jüdischen Denkens zunächst skurril, doch gerade dieser heidnische Mythos wird der »eigentlichen« Erzählung von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung größeres Gewicht geben. Auch die Sprache selbst als das große Thema der philosophischen Umkehr kommt bereits auf dem Umweg über das Nichts zum Etwas ins Spiel, indem Rosenzweig die Sprache über die Mathematik erhebt. Dabei wird für ihn zunächst Cohens Entdeckung des Differentials als Methode der Erzeugung des Etwas A
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aus dem Nichts der Ausgangspunkt seines Weges. Aus der Art, wie die mathematische Größe ins Unendlichkleine »verfließt« und damit in der Unendlichkeit als Endlichkeit erscheint, wird ihm in der Sprache die Bewegung von Bejahung und Verneinung: gewaltsame Verneinung des Nichts und ruhige Bejahung des Unendlichkleinen, dem das Nichts irgendwie »verhaftet« bleibe: »Zwei Wege erschließt es (das Unendlichkleine, F. H.) so vom Nichts zum Etwas, den Weg der Bejahung dessen, was nicht Nichts ist, und den Weg der Verneinung des Nichts.« 8
Cohens mathematische Logik überwindet Rosenzweig am Beispiel des Weges vom Nichts zum Etwas mithilfe der Worte Ja und Nein. Hier schon setzt er gewissermaßen in nuce die Sprache an die Stelle des (idealistischen) Denkens, später wird er es die Sprache vor der Sprache nennen. Überraschend konzediert Rosenzweig gerade an dieser Stelle der Einleitung des »Stern« Immanuel Kant das Verdienst, versucht zu haben, die Kugelgestalt des Seins aufzubrechen, indem er dieses »Sein« in drei Stücke »zerkritisiert« habe – in Gott, Welt und Mensch. Kant habe darauf die rationalen Wissenschaften der Theologie, Kosmologie und Psychologie (bzw. Anthropologie) aufgebaut – dies aber sind für Rosenzweig nur idealistische Konstruktionen und keinesfalls das gesuchte Etwas. Dieses findet er erst, indem er die Operation der Bejahung und Verneinung am Nichts Gottes, am Nichts des Menschen und der Welt in getrennten Schritten durchführt. Dem gehen wir im Folgenden in radikaler Kürze nach. Was besagen Bejahung und Verneinung als Antwort auf das Nichts Gottes? Das Urwort Ja werde in diesem Fall vernommen als »Bejahung all dessen, was nicht Nichts ist«. 9 Ein solches Alles aber könne nur ein Unendliches sein – Gott bejaht also mit dem Ja zum Nicht-Nichts seine eigene unendliche Tatsächlichkeit, sein unendliches Wesen, das sich als Kraft zur unendlichen Tat zeige. Die Richtung, in die sich die Kraft entfalten werde, sei damit aber keineswegs benannt. Als zweites Urwort tritt das Nein dem Nichts entgegen, einem Nichts, das inzwischen gegenüber dem bejahten Unendlichen zu einem »endlichen Punkt zusammengeschrumpft« sei. Dementsprechend rebelliere das Nein gegen die Endlichkeit mit der Behauptung seiner Freiheit: 8 9
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»Gottes Freiheit wird geboren aus der ursprünglichen Verneinung des Nichts … Gottes Freiheit ist schlechthin gewaltiges Nein.« 10 Durch die Stammworte Ja und Nein seien zwei »Eigenschaften« Gottes hervorgetreten: seine Freiheit als unendliche Willkür und sein unendliches Wesen als unendliche Unbestimmtheit und Trägheit. Dass Rosenzweig hier nicht vom Gott des Monotheismus spricht, sondern den Gott der »mythischen Vorwelt« meint, dürfte kaum eines zusätzlichen Hinweises bedürfen. Die antike Gottheit – so Rosenzweig – bewege sich zwischen Willkür und Schicksal. Damit aber wäre diese Gottheit auf sich selbst beschränkt und bezogen, sie wäre gefangen im ewigen Kreislauf von Pathos und Moira. 11 Gegenüber dem monotheistischen Gott des Judentums wäre diese antike Gottheit ein neues »Nichts«, aus dem sich ein ebenso neues Etwas hervorringen müsste. Betrachten wir kurz, wie Ja und Nein auf das Nichts des Menschen Antwort geben. »Im grenzenlosen Nicht seines Nichts gründet diese Bejahung sein Besonderes, sein Eigenes als Wesen« 12 , heißt es da zu Anfang. Anders gesagt: während Gott in der Grenzenlosigkeit all dessen, was nicht Nichts ist, das Wesen seiner Unendlichkeit entdeckte, wird sich der Mensch gerade angesichts jener Grenzenlosigkeit in der Bejahung des Nicht-Nichts seiner Endlichkeit bewusst. Diese Bewusstheit münde in ein Bewusst-sein vom Selbst des Menschen. Wie bei Gott kreise dieses Selbst in sich, es bleibe gebunden an seine nicht sich öffnende Selbsthaftigkeit – heute würden wir vielleicht Autismus sagen. Das Nein als Verneinung des Nichts rebelliert ähnlich wie im Falle Gottes gegen die Endlichkeit. Während jedoch Gott aus dieser Rebellion seine unendliche Freiheit behauptete, könne beim Menschen nur der unendliche Wille entstehen. Während Gottes Freiheit so unendlich sei wie sein Können, erfahre der Mensch, wie sich sein unendliches Wollen am endlichen Können bricht. Auf diese Erfahrung reagiere der Mensch der mythischen Vorwelt mit Trotz – die Entsprechung göttlicher Willkür. Während also der mythische Gott zwischen Pathos und Moira gebunden sei, kreise der mythische Mensch zwischen Trotz und stummem Selbst. Mensch und Gott bleiben stumm, in sich selbst befangen und gefangen, kein Wort vermittelt zwischen ihn, ein Über-
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setzen zwischen ihnen ist nicht möglich. Die zerbrochene Kugel des Seins bleibt ein Scherbenhaufen. Umso drängender kehrt die Frage neuerlich zurück, wozu Rosenzweig so ausführlich – auf immerhin mehr als 60 Seiten – diese Geschichten aus der »mythischen Vorwelt« erzählt, wenn er doch auf ganz andere Themen – Schöpfung, Offenbarung und Erlösung – Fahrt genommen hat? Wir nennen es Geschichten, damit nicht der Eindruck aufkommt, als ob Rosenzweig hier Geschichtsschreibung betreiben möchte. Es ist – wie man im englischen sagt – eine »story« oder eine Erzählung. Es wäre jedoch falsch, dieser Erzählung eine bestimmte Zeit zuordnen zu wollen, nur weil er sie in einer »mythischen Vorwelt« ansiedelt. Die Erzählung dauert vielmehr an und wird jeden Tag aufs Neue erzählt: täglich erleben wir ein erhebliches Maß an Trotz, stummem Selbst, Willkür und ein fast pathologisches Bemühen eines unendlichen Willens gegen das endliche Können. Hierin zeigt sich die Aktualität der mythischen Vorwelt – und gegen ganz aktuelle gesellschaftliche Symptome wie Autismus, Narzissmus, Trotz und Willkür bedarf es einer Therapie und einer Kur, wie Rosenzweig es in dem »Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand« sagt. Wäre die im »Stern der Erlösung« ausgebreitete Bahn von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung als »Kur« gegen die der geistigen Gesundheit abträglichen Erscheinungen der »mythischen Vorwelt« zu verstehen? Dann wäre seine Erzählung eines heidnischen Schöpfungsmythos als Negation und Kritik zwar nicht Voraussetzung, aber doch ein Desiderat für das Gelingen der folgenden Erzählungen des »Stern«. Rosenzweigs »ganzes Werk« könnte als Antwort auf eine – im heidnischen Schöpfungsmythos angelegte – stumme Welt gelesen werden: das gegenseitige Durchdringen der Sprachlichkeit von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung soll Gott, Mensch und Welt (sowie Mensch und Mensch) von ihrer Stummheit erlösen. Erst im Durchgang durch den ganzen Bahnverlauf von der Schöpfung bis zur Erlösung werden Mensch und Gott einer gemeinsamen Sprache teilhaftig, die sie auch in Beziehung zur Welt treten lässt, indem in ihr das Sprechen in unterschiedlichen Modi, Zeiten und zwischen verschiedenen Personen möglich wird: der Scherbenhaufen des zerbrochenen »Seins« wird so wieder zusammengefügt, nur nicht zu einer all-einen Kugel einer Seins-Totalität, sondern zu einem das Einzelne und Besondere nicht erstickenden Geflecht von Bezügen zwischen Gott, Mensch und Welt. Rosenzweig gibt diesem Geflecht schließlich die Figur eines Sterns – 86
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wir können unsere Skepsis gegenüber einem solchen neuerlich bildhaften Modell nicht verhehlen, entspringt doch an diesem Punkt der Verdacht eines wiederum geschlossenen Systems. Aber dies wäre ein eigenes Thema, wir konzentrieren uns hier – ab dem folgenden Kapitel – auf die Bahn der Sprache. Zuvor aber gilt es, den Idealismus als das Hindernis auf dem Weg zur Sprache kenntlich zu machen und durch methodisch strenge Kritik matt zu setzen. Nicht zuletzt diese Kritik erhält durch die Erzählung von der mythischen Vorwelt ihre Schärfe, erscheint doch der Idealismus als Fortsetzung oder moderne Variante dieser stummen Vorwelt. Rosenzweig hat seine heidnisch-antike Schöpfungsgeschichte nicht zuletzt deswegen konstruiert, um daran auf exemplarische Weise das Versagen des Idealismus zu zeigen, der im Denken befangen und dem die Sprache fremd blieb. Dem Weg von Jonien nach Jena entspricht der vom Denken des Seins zum Denken des Denkens. Der Idealismus habe zwar – auch für Rosenzweig – die Stummheit und Beziehungslosigkeit der Elemente als Problem wahrgenommen, aber seine Antwort darauf war der Logos, der die Welt durchwaltet und sich anmaßt, ihre Fülle und ungeordnet überschießende Lebendigkeit unter einen Begriff zu bringen. So bleiben Gott, Mensch und Welt »stumm«, denn die lebendige Sprache wird im leblosen Begriff erstickt. Exemplarisch erhellt dies daran, wie das Nichts der Welt bejaht und verneint wird. Wir bleiben also noch für einen Moment bei der Erzählung über die mythische Vorwelt.
Die Kritik am Idealismus a.
Im Begriff stirbt das Leben
Auf welche Weise also antworten Ja und Nein auf das Nichts der Welt? Wir hatten gehört, wie das Ja des Nicht-Nichts immer ein Unendliches enthülle. In der Welt zeige sich die Unendlichkeit nicht wie beim mythischen Gott als eine ausgebreitete Ruhe und Trägheit – wie also dann? Die Fülle der Welt sei unerschöpflich, stets neu gezeugt und neu empfangen, so Rosenzweigs »lebensphilosophisches Credo«. Und weiter: »So muss das Urja hier etwas anderes bejahen … als ein Unendliches kann nur bejaht werden ein »überall« Seiendes und »immer« Währendes … das
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Sein der Welt muss wirklich ihr Überall und Immer sein. Überall und immer ist aber das Sein der Welt nur im Denken. Der Logos ist das Wesen der Welt.« 13
Ist das nicht zu schnell geschlossen? Das Überall und Immer kann nicht physisch erfahren oder wahrgenommen werden, es ist gewissermaßen eine Annahme des Denkens – so weit kann man der Wendung »nur im Denken« folgen. Wird aber nicht auch die Unendlichkeit Gottes »nur gedacht«? Und wenn dem so ist, führte nicht gerade über den Logos ein Weg von der Welt zu Gott, so über die Stummheit sich hinwegsetzend? Dies geschähe aber tatsächlich nur im Denken und nicht in der Sprache, im Wort. Das Denken aber bleibt stumm. Als bloß »Gedachtes« wäre das Wort »unendlich« nur ein mathematisches Symbol oder ein Begriff, aber kein Name, der zum Benannten sich in Beziehung setzen ließe. Was heißt aber hier »in Beziehung setzen«? Zunächst nichts anderes als das Miteinander-Sprechen zwischen Gott, Mensch und Welt zu ermöglichen. Mit welchen Worten und auf welche Weise gesprochen werden kann, ist eine Frage, die sich im weiteren Verlauf des Buches aufklären wird. Nur soviel mag hier schon erwähnt werden: die Unendlichkeit als abstrakter Begriff wird z. B. im Gebet des Gläubigen zu einem Namen Gottes. Die Unendlichkeit der Welt wird erfahrbar nur an der erlebten Fülle des Besonderen und Einzelnen, nicht im Allgemeinen des Begriffs. Noch etwas anderes erscheint im obigen Zitat fragwürdig. Der Logos wird zum Wesen einer Welt des Mythos erklärt. Kann man so einfach – entgegen der europäischen philosophischen Tradition – Logos und Mythos zusammendenken? Dieser Frage wäre nachzugehen, auch im Sinne eines Neuschreibens eben dieser Philosophie. Schon in seinem Kommentar zu Cohens jüdischen Schriften hatte Rosenzweig vom griechischen Zauber des Logos gesprochen, dessen die Philosophen zur Vermittlung zwischen Mensch, Welt und Gott bedürft hätten. Dies scheint er nun in der Einleitung des »Stern« aufzugreifen. Der Mythos mag voller lebendiger Bilder erzählt werden, während der Logos leblose Begriffe anwendet – aber beide bleiben stumm. Auch im Mythos bleibt der antike Gott, so lebendig er dargestellt werden mag, nur auf sich bezogen, er findet nicht zum Menschen und dieser nicht zu ihm. Seine Physis sei nur metaphysisch, so Rosenzweig.
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Der Logos nun verhängt geradezu die Stummheit über die Welt, denn er ist das »allerorten und jederzeit in ihr Geltende«. Mit diesem »allerorten und jederzeit« wird dem Einzigartigen, Unerwarteten, dem Besonderen, welches sich der Regel entzieht oder widersetzt, der Ausdruck versagt, es wird zum Verstummen gebracht. Das allerorten und jederzeit Geltende aber bedeutet nichts anderes als reine »Anwendbarkeit«. Der Logos wird als Instrument gebraucht, um das Besondere unter den Begriff eines Allgemeinen zu bringen. »Der Logos der Welt ist in seiner Nichts-als-Anwendbarkeit aber auch Überall-und-immerAnwendbarkeit das Allgemeingültige«. 14 Diese Vorherrschaft des Allgemeingültigen wird von Rosenzweig als übermächtig angenommen – und das hat Folgen für die Verneinung des Nichts der Welt. Das Nein als Rebellion gegen Endlichkeit und Sterblichkeit hatte Gottes Freiheit und des Menschen Trotz hervorgebracht – die »Freiheit der Welt« äußert sich nun »in dem unerschöpflichen Brunnen ihrer Erscheinungen«. Jedes Neue sei eine »Verneinung des Nichts, etwas nie Gewesenes, ein Anfang für sich, etwas Unerhörtes, ein Neues unter der Sonne …« 15 Aber diese ständig neu gezeugte und empfangene Fülle des Lebens werde unter die »Alleinherrschaft des Logos« gezwungen. Das Denken triumphiere damit über das Leben: »Das All als ein eines und allgemeines kann nur zusammengehalten werden durch ein Denken, das aktive, spontane Kraft besitzt; indem so dem Denken die Lebendigkeit zugeschrieben wird, muss sie dem Leben wohl oder übel abgesprochen werden – dem Leben die Lebendigkeit!« 16
Dies nun sei die Crux des Idealismus, und also der ganzen Philosophie von Parmenides bis Hegel: er hätte die Erscheinung des Lebens, das Immerneue, Unerhörte nicht als spontan begreifen dürfen, weil er damit die Allherrschaft des Logos geleugnet hätte. So habe er »die sprudelnde Fülle zum toten Chaos des Gegebenen umfälschen müssen«. 17 Der Idealismus erscheint so in Rosenzweigs Erzählung als eine Spielart des heidnischen Mythos. Wenn wir dieser Erzählung in all ihren Verzweigungen und der Fülle ihrer verworrenen Fäden folgten, dann zeigte sich womöglich deutlicher die Umwandlung des heidnischen Mythos 14 15 16 17
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zur Philosophie, die Rosenzweig hier mit den Begriffen Metaphysik, Metaethik und Metalogik benennt. Aber in jedem Wandel bleibt die Spur des Gewandelten – und wenn Gott in der Metaphysik, der Mensch in der Metaethik und die Welt in der Metalogik auch in ihrer jeweiligen Lebendigkeit erscheinen, so verstummt dieselbe sogleich in der Leblosigkeit der philosophischen Begriffe. Gott, Mensch und Welt bleiben in der Welt des Logos als einer Welt allgemeingültiger Begriffe auf sich selbst bezogen, da es keine Allgemeingültigkeit gibt, unter die sich Gott, Welt und Mensch zu einer All-Einheit verfugen lassen. Statt einer Verfugung (oder Synthese), sollten die drei »Elemente« sich zueinander in Beziehung setzen, und dazu bedarf es des Wortes, das übersetzt. Doch davon wird noch zu sprechen sein. Der wissenschaftliche Philosoph oder der Philosophie-Historiker wird jedoch schon an dem pauschalisierenden Urteilsspruch gegen »die ganze Philosophie von Parmenides bis Hegel« Anstoß nehmen. Aber Rosenzweig differenziert sehr wohl: so spricht er im vorliegenden Zusammenhang nicht nur von der »ganzen idealistischen Philosophie«, sondern er kritisiert ausdrücklich die idealistischen Systeme von 1800, weil sie einen Zug zur Eindimensionalität erkennen ließen. Namentlich werden Hegel, Fichte und Schelling (ausdrücklich nicht Kant!) genannt. In ihren Systemen sei alles von »oben nach unten« geordnet und abgeleitet. Die Beziehungen innerhalb der idealistischen Systeme liefen von den Gattungen zu den Individuen, von den Begriffen zu den Dingen. Dieser Weg mag in der Wissenschaft, die sich einer Logik der Begriffe bedient, um die flüchtigen Erscheinungen der Welt zu ordnen, zunächst unumgänglich sein. Dennoch wird kein ernstzunehmender Wissenschaftler leugnen können, dass der Begriff dem Leben hinterher hinkt. Das Leben entzieht sich dem Begriff wie der Schmetterling, den der Forscher fängt und aufspießt, um ihn zu sezieren. Dabei erhält er eine Unmenge neuer nicht-lebender Einzelteile eines ehemals lebenden Tieres, die er begrifflich erfassen kann. Der fliegende, tänzelnde, in vielen Farben glänzende Schmetterling aber musste erst durchbohrt werden, um katalogisiert zu werden. Erst der tote Schmetterling lässt sich »auf den Begriff bringen«. Hermann Cohen hatte die Lebendigkeit des Begriffs eingefordert, um das Leben nicht im Begriff abzutöten. Auch Hegel muss man zugestehen, dass er in der Arbeit am Begriff unermüdlich die Bewegung des Begriffs zwischen These und Anti-These nicht nur gesehen, son90
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dern in größter Anstrengung herausgearbeitet hat. Rosenzweig unterschlägt das gern, weil er vor allem gegen die am Ende bei Hegel vorwaltende Totalität sich erhebt. In der Tat: da für Hegel die Wirklichkeit zum Begriff wird, können wir Adornos Satz zustimmen: »Womit sie (die Philosophie des Geistes) über den Begriff hinaus will, das treibt sie im Einzelnen stets wieder unter den Begriff.« 18 Adorno nimmt dennoch auch den »anderen Hegel« wahr, der Widersprüche sucht, sie unter Aufbietung größter sprachlicher Anstrengung im Begriff lebendig werden lässt, am Ende jedoch immer wieder in die Falle des mit sich selbst Identischen tappt. Im Idealismus, so Rosenzweig, erzeuge das »menschliche Subjekt« eine Welt aus Begriffen. Die Welt gerate ihm so zum Gegenstand, zu einem Objekt gegenüber dem erzeugenden Subjekt. Indem der Idealist die Welt im Prozess der reinen Vergeistigung verdinglicht, gerät er schließlich selbst in die Gefahr der Objektivierung seiner Person. In einer Welt, die nur nach geistigen Prinzipien geordnet erscheint, um sie dem Subjekt verfügbar zu machen, wird dieses leicht selbst zur Verfügungsmasse. In den idealistischen Systemen – die auch und gerade politisch immer nur in einem aufs Ganze gehenden -ismus enden – wird der einzelne Mensch auf seine »Aufgabe« oder seine »Hingabe« reduziert, die gegenüber der »Sache« oder der großen Idee von ihm gefordert wird. Die »Alleinherrschaft des Logos« triumphiert so über das lebendige Individuum. Im Folgenden untersuchen wir etwas genauer, wie Rosenzweig diesen Gedanken entwickelt.
b.
Begriff – Erzeugung – Hingabe
Der Idealismus habe den Begriff der Schöpfung durch den der Erzeugung ersetzt, was zweierlei schwerwiegende Folgen gezeitigt habe, so Rosenzweig. Zum einen sei der erzeugende Mensch mit allen Attributen eines Schöpfers ausgestattet worden, zum anderen wisse die Erzeugung nichts mehr von einer Offenbarung. Für Rosenzweig jedoch bleibt eine Schöpfung ohne Offenbarung ein Torso, stumm und nichtig, d. h. ins Nichts zurücksinkend. Erst in der Offenbarung, die hier Theodor Adorno: Skoteinos oder wie zu lesen sei, in: Zur Metaphysik der Erkenntnistheorie und Drei Studien zu Hegel, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2003, S. 354
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nicht nur religiös, sondern auch philosophisch gedacht wird, vollende sich die Schöpfung. Indem der Idealismus (!) die Offenbarung nicht anerkenne oder verwerfe, sei in seiner Denkweise die Welt in der Schöpfung bereits vollendet. Dieser Schluss leuchtet insofern ein, weil nur eine vollendete Welt vollständig gewusst werden kann, nur an ihr kann das Wissen vom Sein »sich selbst restlos umgreifen«. Das idealistische Schöpfer-Ich, das eine Welt aus Begriffen erzeugt, zahlt für diese Vollständigkeit des Wissens von der Welt und sich selbst allerdings einen hohen Preis: in der dialektischen Spannung zwischen Erzeugung und Hingabe wird es zerrieben. Folgen wir beiden Bewegungen anhand von Zitaten Rosenzweigs: »Es (das Ich, F. H.) erzeugt sie (die Dinge, F. H.) aus sich selbst: die Welt ist seines gleichen … als Begriffe tragen die Dinge Züge ihres Erzeugers, des Ich; aber als Dinge sind sie etwas für sich, aus dem erzeugenden Ich herausgetreten – Dinge. Jedes Ding steht zu seinem Begriff in dem gleichen Verhältnis wie die Dingwelt überhaupt zum »Ich«: er ist der Erzeuger seines Dings. Auch die Begriffe selbst sind, insofern sie noch »Inhalt« haben, selbst wieder Dinge, und als solche haben sie wieder ihren Begriff und so immer fort. Ein einziger Strom der Erzeugung geht also vom Ich durch die ganze Welt der Dinge. Sie ordnen sich alle in eine Reihe: einen Weg abwärts vom reinen Ich zum reinen Nicht-Ich, vom Ich-an-sich zum Ding-an-sich.«19
Offenbar spricht Rosenzweig hier von Hegels Versuch, die Spaltung der Welt in Subjekt und Objekt dialektisch »aufzuheben«. Der erste Schritt hierzu wäre eben jener »Strom der Erzeugung vom reinen Ich abwärts«, was Hegel auch als die »Entäußerung des Geistes« bezeichnet (das reine Ich entspricht bei Hegel dem reinen Geist). Die Welt der Dinge wird auf diesem Weg »abwärts« zu einem Appendix des reinen Ich – oder radikaler gesagt: in beinahe pantheistischer Überdehnung werden alle Dinge zu Teilen des Ich. Rosenzweig fasst dies in die Formel »vom Ich-an-sich zum Ding-an-sich«. Aber warum unterscheidet er das »reine Ich« vom »Ich-an-sich«? Hegelianisch gedacht: Das reine Ich (reiner Geist) wird erst wirklich rein, wenn es nach seiner Ent-äußerung (d. h. durch die Erzeugung der Dinge und in ihnen nach außen tretend) in sich selbst zurückkehrt. Das Ich-an-sich ist nicht »rein«, insofern es als subjektiver Geist nach der Welt greift. Dies gelingt mithilfe der Be-griffe, aus denen die Dinge-an-sich »erzeugt« werden. Auch dies wieder ein problematischer Begriff: bei Kant besagt er das 19
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»eigentliche Wesen« des Dinges, das sich unserer Erkenntnis entzieht. Genau an diesem Punkt sah Hegel die All-Einheit des Systems untergraben: wenn sich der subjektiven Erkenntnis auch nur ein Teil der objektiven Welt entzieht, dann bricht eine Lücke im System auf, die im Sinne der all-einen Lückenlosigkeit geschlossen werden muss. Insofern kann bei Hegel das Ding-an-sich nicht mehr das eigentliche – verborgene – Wesen des Dings bedeuten, sondern bezeichnet im Gegensatz zum Für-sich die Aufgehobenheit des Dings im Begriff, d. h. das Ding eben als reines Erzeugnis des Ich. Die Bewegung des Erzeugens erzeugt eben eine Welt als Gedanken des Ich – damit dieses Ich-an-sich zu einem Ich-an-und-für-sich und somit zu einem reinen Ich werde, muss der Geist in sich selbst zurückkehren. Und dies bezeichnet Rosenzweig mit Hingabe. Wieder Hegelianisch gedacht: während bisher die Welt ein Gedanke des Ich war, wird nun das Ich zu einem Gedanken der Welt – oder eben der allgemeinen Vernunft, des absoluten Geistes. Wie vollzieht sich diese Umkehr? Das »besondere« Ding-an-sich ist aus Begriffen erzeugt, die das Besondere immer wieder auf das Allgemeine zurückführen. Im Begriff selbst ist also die Bewegung abwärts und aufwärts – vom Allgemeinen zum Besonderen und vom Besonderen zum Allgemeinen – immer schon gedacht und wird bei Hegel zur Bewegung des Begriffs. Diese erstirbt spätestens dann, wenn der Geist oder das reine Ich nach der Entäußerung mittels der Hingabe in sich selbst zurückkehrt. Rosenzweig beschreibt dies so: »Im Begriff der Hingabe haben wir das Gegenstück zum Begriff der Erzeugung. Diese beherrscht den Weg vom Allgemeinen zum Besonderen, den Weg hinab, jene den Weg vom Besonderen zum Allgemeinen, den Weg hinauf. Beide zusammen, Erzeugung und Hingabe, schließen die idealistische Welt zum Ganzen. Der Weg hinauf beginnt mit jener ursprünglichen Hingabe der »Maxime« des eigenen Willens … an das Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung. Das geht nun immer weiter, indem immerfort das letzterreichte »Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung« wieder in die »Maxime des eigenen Willens« aufgenommen wird und so wieder an ihm die Kraft der idealistischen Hingabe sich erproben muss, indem auch es wieder zu einem Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung wird. Auf diesem Weg der Hingabe an immer höhere Gemeinschaften, immer umfassendere Allgemeinheiten des Lebens erweist sich das Allgemeine, ebenso wie in der Erzeugung das Besondere, als die Voraussetzung, das was schon im Voraus gesetzt ist. Und zwar in beiden Fällen gegen die ursprüngliche Tendenz; die ist bei der Erzeugung wie bei der Hingabe auf »Reinheit« gerichtet; die Erzeugung will an keinen fremden Stoff, die Hingabe an kein fremdes Gesetz geA
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bunden sein; Erzeugung und Hingabe wollen sich selbst das Gesetz geben; hier wie dort soll »die Freiheit« gerettet werden.« 20
Zum einen verweist Rosenzweig hier noch einmal auf die Geschlossenheit der idealistischen Welt zu einem Ganzen, das nun in der geschlossenen Figur einer auf- und abwärts verlaufenden Bewegung zwischen Erzeugung und Hingabe quasi wie in einem Paternoster erscheint. Wieder Hegelianisch gedacht: das »Ich-an-sich« gibt sich zunächst dem objektiven Geist in Gestalt von Vernunft, Staat und Geschichte hin – und damit »immer höheren Gemeinschaften und Allgemeinheiten«. Das eigentlich Reine und Höchste aber ist für Hegel der absolute Geist, der sich selbst denkt und in dem Gott, das reine Sein, Vernunft und Geschichte zur All-Einheit verschmelzen. Andererseits schwenkt Rosenzweig in obigem Zitat in seiner Kritik am Idealismus offenbar plötzlich von Hegel zu Kant – oder verschränkt er sogar den Idealismus beider? Der Kantische Satz von der Freiheit, die sich selbst das Gesetz gibt, klang am Ende des 18. Jahrhunderts revolutionär und hat bis heute nichts von seiner erhebenden Wirkung eingebüßt. Aber seine ursprüngliche Tendenz auf Freiheit werde durch bestimmte Voraussetzungen untergraben, so Rosenzweig – wobei er uns nicht sagt, ob er die Freiheit schon bei Kant untergraben sieht oder erst bei Hegel. Vielleicht erhoffte sich Rosenzweig durch das Offenhalten dieser Frage, das endgültige Urteil über beide großen Denker zu vermeiden, und also ihren Freiheitsanspruch der Tendenz nach lebendig zu halten. Vielleicht war er sich aber auch selbst in der Bewertung nicht sicher. Wie dem auch sei: dem Idealismus Kants und demjenigen Hegels ist offenbar nach Rosenzweigs Interpretation eines gemeinsam, dass sie nämlich beide bereits dasjenige voraussetzen, das in einem Prozess des Fragens und Suchens erst zu finden wäre. Das Sitten-gesetz als das Allgemeine wird im Voraus gesetzt – der freie Wille als das Besondere unterstellt sich ebenfalls bereits im Voraus gesetzten Maximen. Wir erinnern uns hier an Cohens Denkbewegungen, nach der die Autonomie des Willens und die Selbstgesetzgebung nie voraus gesetzt werden, sondern höchstens als Aufgabe – und somit als ständige Frage – formuliert werden können. Kant aber setzt gleich Mehreres voraus: 1.) dass jede einzelne Handlung immer Ausdruck der Maximen sei, unter denen das Individuum handelt; 2.) dass diese Maximen selbst 20
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wiederum sich jeweils unter einem allgemeinen Gesetz subsumieren lassen; 3.) dass erst durch die Bestimmung des höheren Ziels einer einzelnen Handlung der Handelnde zu einer wahrhaft menschlichen Person werde, weil erst durch die Bindung der einzelnen Handlung an ein allgemeines Gesetz der Zusammenhang zwischen Individuum und Menschheit, zwischen Individualität und Universalität hergestellt werde. Was viertens jedoch bereits eine bestimmte Hierarchie der Ziele des Handelns voraus setzt. Hingabe wäre dann gefordert an die höheren Ziele und das allgemeine Gesetz, während Erzeugung hier bedeutete, die Maximen des persönlichen Handelns hervorzubringen und bewusst zu machen. Was aber meint Rosenzweig mit der Voraussetzung? Will er damit sagen, dass Kant das allgemeine Gesetz und die Maximen des Handelns für den Handelnden als bereits gesetzt, d. h. als schon bekannte Gesetze und Maximen voraussetzte? Dann in der Tat wäre die ursprüngliche Tendenz auf Freiheit untergraben, denn auf diese Weise bliebe kaum ein offener Raum für Spontaneität. Es gibt ferner Handlungen des Affekts, die den so Handelnden selbst überraschen, so dass er beim »besten Willen« keine Maxime für diese Handlung benennen kann. Aber wäre die Freiheit denn nicht gewahrt, wenn der Mensch seine Handlungen im Nachhinein sich selbst und anderen gegenüber als Ausdruck bestimmter Maximen wertete? Selbst die scheinbare Weigerung, sich einer Maxime zu »unterwerfen«, könnte so noch eine vernunftgemäße Erklärung finden: z. B. kann sich jemand häufig nicht entscheiden – sei es beim Kauf alltäglicher Gegenstände, bei einer Essensbestellung im Lokal oder auch bei der Frage, welchen Film er sehen und welches Buch er lesen möchte. Er kann sein womöglich skurril anmutendes Verhalten damit begründen, er habe es sich zur Maxime gemacht, selbst bei den einfachsten Fragen sich Zeit zu nehmen für die Abwägung des Für und Wider. Spätestens jetzt wird sein zukünftiges Handeln von ihm selbst als Ausdruck einer im Voraus gesetzten Maxime begründet und erfahren werden. Wie immer wir es betrachten: Maximen sollen menschliches Handeln in der Hoffnung erklären, es berechenbar und damit womöglich kontrollierbar zu machen. Auch die geforderte und selbst praktizierte Hingabe an ein allgemeines Gesetz kann jegliche »Freiheit« vernichten, wie wir nicht nur aus der Erfahrung mit den Diktaturen wissen. Stures Beamtentum oder ignorante Paragraphenreiterei haben Menschen oft genug ins Unglück gestürzt. Umgekehrt hat zweifelsohne die Berufung auf ein allgemeines A
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Gesetz – z. B. das der Unverletzlichkeit der Person – Menschen vor Elend und Knechtschaft gerettet. Indem wir dies konzedieren, bewegen wir uns jedoch schon auf den Wegen Cohens, der den Rechtsgrundsatz oder die Selbstgesetzgebung in erster Linie als eine in jedem Einzelfall erst zu erfüllende Aufgabe bestimmt hat. Könnten wir aber nicht Kant aus dieser Cohenschen Perspektive lesen? Bestimmte Textpassagen Kants erlauben dies durchaus.
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Hingabe als Gabe oder Hybris?
Aber Rosenzweigs Kritik zielt noch in eine weitere Richtung. Wir werden dies erst nach Lektüre des übernächsten Kapitels besser verstehen, wenn es um den Begriff der Offenbarung geht. Soviel aber könnte schon aus dem Bisherigen deutlich geworden sein: er wirft dem Idealismus vor, dieser habe die Welt als vollendet gedacht, da sich in der Schöpfung bereits alles erschöpft habe, wobei diese recht eigentlich eher als menschliche Erzeugung (von Begriffen und Dingen) zu verstehen sei. In einer solchen Welt der reinen Schöpfung richtete sich schließlich die Erkenntnis auf die Gesetze der Erzeugung so wie das Handeln auf die Maximen des Willens. All diese Gesetze wären im Voraus gesetzt! In Rosenzweigs Verständnis aber durchbricht die Offenbarung jedwede Voraussetzung. Sie ereignet sich als das Einzigartige, noch nicht Gewesene und nicht Wiederholbare. Jede Begegnung zwischen Menschen, jedes Gespräch, auch das mit Gott, trägt immer die Möglichkeit einer neuen Offenbarung in sich – vorausgesetzt, die Menschen gehen ohne Voraussetzung, d. h. ohne Ziel, Plan, Absicht, Maxime in ein solches Gespräch hinein. Einzig gesetzt wäre der Andere, das Du, zu dem hin sich ein Ich öffnen kann, um aus dieser Begegnung verändert herauszukommen. Gegenüber einem solchen Du wäre dann auch die Hingabe nicht nur erwünscht, sondern sogar Bedingung der Offenbarung. Wer sich bisher über die negative Konnotation des Wortes Hingabe gewundert haben mag, für den löst sich hier das »Rätsel«. Natürlich beklagen wir in heutiger Zeit gern den Mangel an Hingabe, wobei häufig gar nicht überlegt wird, wem oder was sich der Mensch hingeben sollte. Aber genau in diesem wem oder was begegnet uns die ganze Kalamität: die Hingabe an ein Etwas, eine Sache, oder auch eine Idee birgt die doppelte Gefahr von Ich-Vergessenheit und Ich-Überhöhung. In der Hingabe an eine Sache kann das Ich selbst 96
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zur Sache, zur Maschine, zur reinen Funktion verdinglicht werden – zugleich kann dies von einer Gebärde egomanischer Selbstüberschätzung begleitet werden, die nicht zuletzt daraus entspringt, dass die angeblich »selbstlose« Hingabe an die »gute Sache« oder die »große Idee« als Rechtfertigung für Machtausübung, Gewalt oder Zwang gegenüber jenen herhalten muss, die sich eben der Sache oder Idee verweigern. Hier wäre schon nicht mehr von Hingabe zu sprechen, sondern von Fanatismus. Wie aber lässt sich der Punkt oder die Grenze bestimmen, an der Hingabe in Fanatismus umschlägt und die Intention auf das angeblich »Gute« zum »radikal Bösen« mutiert? Hilft Kants Formulierung uns weiter, nach der die Menschheit und der einzelne Mensch nie als Mittel zum Zweck missbraucht werden dürften, sondern immer als Zweck für sich selbst zu würdigen seien? Hätte Kant sich des heutigen Sprachgebrauchs bedient, dann wären ihm womöglich die Worte von der Würde und Unverletzlichkeit der Person gekommen. Der Begriff des Zwecks jedoch birgt große Gefahren des Missbrauchs, weist doch der Zweck schon immer auf einen bestimmten Nutzen, eine Verwendung, ein Ziel, zumindest also eine Fremdbestimmung hin. Nun könnte man argumentieren, dass Zweck für sich selbst in diesem Sinne als Selbstbestimmung zu verstehen wäre. Damit entkommen wir aber dem Zirkel nicht: denn was bedeutet »selbst«? Seit dem Tag unserer Entbindung ist dieses »selbst« in Wahrheit gebunden – zunächst an die unterschiedlichen Grade elterlicher Zuneigung, später an die äußeren Umstände von sozialer Herkunft, Stadt oder Land, an unseren Körper, an die Mitwelt, den Mitmenschen und schließlich daran, zu erfahren, wie unser eigenes Handeln häufig nicht zu dem Ergebnis führt, das wir uns gewünscht hatten. Der Mensch erlebt also auch die Bindung an den Irrtum, das Scheitern, die Zerbrechlichkeit des menschlichen Daseins – und tut dennoch meist so, als hätte er »alles im Griff«, könne die Welt gestalten oder die Zukunft planen. Das Selbst müsste also ehrlicherweise angesichts dieser mannigfachen Verstrickungen zugeben, dass es seine eigenen Ziele, sagen wir seine Bestimmung, nur zu einem geringen Teil wirklich selbst bestimmen kann. Der Versuch, sich über diese Einsicht hinwegzusetzen, nannten die Griechen Hybris. Markiert sie vielleicht die Grenze zwischen Hingabe und Fanatismus? Aber in welcher Gegend menschlichen Handelns hat die Hybris ihren Ursprung?
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Praxis und Poiesis: Hingabe an das Ding oder ein Du?
Wir werden hier an Hannah Arendts treffliche Unterscheidung zwischen Praxis und Poiesis, zwischen Herstellen und Handeln, erinnert. Das eigentliche Handeln in einer Gemeinschaft von Menschen bezeichnet Arendt als Miteinander-Sprechen – das jedoch nie aufhört. Dieses zutiefst politische Handeln des Miteinander-Sprechens, Einander-Begegnens oder Miteinander-tätig-werdens ist eingebettet in eine grenzenlose Pluralität von Handlungen, Ansichten, Gefühlen und Missverständnissen. Ein Leben in und mit dieser Pluralität bedarf denn auch der jeweils neu anhebenden sprachlichen Begegnung mit dem Anderen – ohne je ein Ende zu finden oder ein Ergebnis in Händen zu halten. Wer auf ein Ergebnis rechnet, wird mit desto größerer Überraschung das Unberechenbare des menschlichen Handelns erleben. Der Handelnde, so Arendt, wisse nie wirklich, was er tue, er nehme immer eine Schuld an Folgen auf sich, die er niemals beabsichtigen oder habe absehen können. Wir könnten das Ende oder das Resultat unseres Handelns vor allem deswegen nicht absehen, weil ein Getanes kein Ende habe: »Der durch eine einzige Tat entfesselte Prozess kann buchstäblich in seinen Folgen durch die Jahrhunderte und Jahrtausende dauern, bis die Menschheit selbst ein Ende gefunden hat.« 21 Dass die begonnene Tat, wiewohl sie von einem Menschen ausging, nie unzweideutig sein eigen genannt werden kann, vor allem aber in ihrem Verlauf und ihren Ergebnissen so fraglich und brüchig sich erweist, hat die Menschen seit jeher an der menschlichen Freiheit, Souveränität und Möglichkeiten, die politischen Angelegenheiten zu gestalten, zweifeln und verzweifeln lassen. Groß sei daher – so Arendt – die Versuchung gewesen, das Handeln der Mehrheit durch ein Herstellen zu ersetzen, in dem der Herstellende es nur mit sich selbst und seinem Erzeugnis zu tun habe. Dies trifft zunächst vor allem auf den Handwerker und Künstler zu, der – im Gegensatz zum öffentlichen Handeln – etwas herstellt, dessen Herstellungsprozess ein Resultat kennt und somit irgendwann an ein Ende kommt. Interessant für unsere Fragestellung scheint dabei die Begegnung mit einer Form der Hingabe an ein Etwas, die dennoch nicht oder sehr selten in Hybris und Fanatismus umschlägt. So wird z. B. nur derjenige Musiker es zur Meisterschaft bringen, der sich mit äußerster Hingabe 21
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der Musik und seinem Instrument zuwendet. Ebenso wird nur derjenige ein guter Handwerker, der voller Hingabe das Werk seiner Hände verfertigt. Während der Musiker sich noch dem Du des Komponisten gegenüber in der Pflicht zu antworten sehen mag, hat es der Handwerker vordringlich mit dem Material als einer Sache zu tun. Aber die Hingabe beider gilt nicht zuletzt dem Ergebnis ihrer Tätigkeit: der einfühlsamen Aufführung oder dem formvollendeten Werkstück. Künstler und Handwerker stellen in diesem Sinne etwas her, und sie werden so lange an ihrem Werkstück weiter feilen und arbeiten, bis es ihren Vorstellungen entspricht. Künstler und Handwerker spüren im Umgang mit ihrem Stoff, dass sie diesem auf vielfältige Weise unterworfen sind – kein günstiger Nährboden für das Aufkeimen von Hybris. Was aber geschieht, wenn das Herstellen in diesem handwerklichen Sinn das Handeln ersetzt? Dies ist Hannah Arendts Thema, in das sie mit folgendem Gedankengang einführt: im Sinne eines reibungslosen Funktionierens der Gesellschaft habe man sich danach umgesehen, wie das Ungefähr und die Unberechenbarkeit menschlichen Handelns – als Folge der Verstrickung des Handelnden in die Pluralität der Mithandelnden – in Berechenbarkeit und Planbarkeit umgebogen werden könne. Vereinfacht gesagt, sei dabei immer versucht worden, »das Handeln der Vielen im Miteinander durch eine Tätigkeit zu ersetzen, für die es nur eines Mannes bedarf, der, abgesondert von den Störungen durch die Anderen, von Anfang bis Ende Herr seines Tuns bleibt.« 22 Dieser Versuch, Handeln durch Herstellen zu ersetzen, ziehe sich wie ein roter Faden durch die Geschichte als die uralte Polemik gegen die Demokratie, so Arendt. Anders gesagt: in dem Versuch, das Miteinander der Menschen, ihr Miteinander-Sprechen, VoneinanderLernen und Füreinander-Sorgen zu berechnen, planbar im Sinne eines Kontroll-Mechanismus machen zu wollen, liegt vermutlich der Ursprung der Hybris. Was also beim Handwerker noch als Hingabe an das Etwas seines Werkes und des »Stoffes« war, wird, auf das menschliche Miteinander übertragen, von Hingabe in Hybris umschlagen, sobald mit Etwas und Sache nicht mehr Werk und Stoff, sondern lebendige Menschen gemeint sind. In der »wahren« Hingabe als einer Gabe, besser dem Akt des Gebens findet sich immer eine Spur von Demut. Der Gebende wird in diesem 22
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Akt von sich selbst genügend absehen, um nicht in die Falle der IchFixierung zu stolpern. Solange die Hingabe an eine Sache lediglich den Prozess des Herstellens (im Bereich Kunst oder Handwerk) begleitet, wird dieser eigentliche – mit Demut verbundene – Akt des Gebens nicht verletzt. Sobald jedoch der Handelnde behauptet oder von sich glaubt, sein Handeln sei Ausdruck der Hingabe an die Sache der Menschheit, hat er die Schwelle zur Hybris schon übertreten und befindet sich bereits im Vorhof des Fanatismus. Dass er damit die Menschheit selbst zur Sache erniedrigt, führt uns zum Ausgangspunkt dieses kurzen Exkurses zurück: statt der »wirklichen« Menschheit als der »Ansammlung« aller einzelnen Menschen (die heute Lebenden sowie die noch nicht Geborenen und schon Gestorbenen) gerät die Menschheit als Idee zur Sache, denn in dieser Idee als Abstraktion kommt der einzelne Mensch nicht mehr vor. Wer sich voller Hybris dieser Sache hingibt, behauptet zudem zu wissen, wer oder was die Menschheit sei und was es heißt, für diese Menschheit zu sprechen und im Sinne der Geschichte der Menschheit zu handeln. Er gibt damit vor, zu wissen, was niemand wissen kann. Aber da eben nur die Sache und Er – oder besser ein Es und ein Ich – in das Handeln verstrickt sind, kann kein Du ihn seines Hochmuts entbinden, kann dieses Du keine Demut erbitten und das Ich aus der Verstrickung mit dem Es befreien. Die Analogie dieses in Ich und Es verstrickten Handelns als reiner Herstellung bezeichnet die Umstände treffend, denn die Sache selbst, zu der Menschheit und Geschichte geschrumpft sind und der sich das Ich hingibt, ist ja nichts anderes als das Erzeugnis des Ich. Der Handelnde hat zunächst die Idee oder das Bild der Menschheit hergestellt, auf das er sich nun in seinem Handeln beruft. Die Hingabe setzt die Erzeugung voraus – aber setzt nicht umgekehrt auch die Erzeugung Hingabe voraus? Wer eine Welt aus Begriffen aus sich heraus erzeugt, fühlt sich meist zur Hingabe an das Höhere berufen, und er nimmt die Mühsal der Arbeit des begrifflichen Herstellens sowie den tätigen Einsatz für die hohen Ziele gern als süße Belohnung in Form eitler und eingebildeter Bedeutung seiner selbst auf sich. Wieder hegelianisch gedacht: hier kehrt der Weltgeist in sich selbst zurück. Doch wie sollen wir nun Kant in diesem Zusammenhang lesen? Wir hatten weiter oben gefragt, ob Kants Diktum vom Menschen und der Menschheit, die sich ihren Zweck selbst geben, bei der Differenzierung zwischen Hingabe, Hybris und Fanatismus weiterhelfen könnte. Nach dem Gang der bisherigen Überlegungen fällt es schwer, Kant 100
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ganz und gar von einer gewissen Mitverantwortung an der Vertauschung von Herstellen und Handeln freizusprechen – und damit an der Verschiebung der Hingabe auf das Feld der Hybris. Laut offizieller Kant-Rezeption liegt für den Königsberger Philosophen des Menschen höchstes Ziel darin, in seiner Person der Menschheit zu genügen. Nun muss man das keineswegs als Hybris auslegen, denn zum einen klingt im Wort genügen ein Ton der Demut und Bescheidenheit, beinah Unterwerfung mit. Zum anderen wissen wir aus der Lektüre Humboldts, Mendelssohns und anderer Zeitgenossen, wie dieses Diktum seinerzeit zu verstehen war: der einzelne Mensch solle sich so verhalten, als ob er der einzige Repräsentant seiner Gattung wäre und als ob man also in seiner Person exemplarisch die Menschheit als Ganze kennen lernen würde. Dennoch: es wird etwas im Voraus gesetzt, was wir als empirischen Gegenstand nicht voraussetzen können – und was als Idee auch nur ein Abstraktum der dritten Person bleibt: die Menschheit. So kreist der kategorische Imperativ weiterhin um die Pole der ersten und dritten Person. Rosenzweig bemerkt dazu lakonisch, die »Menschheit« gäbe es nicht, vielmehr begegneten wir immer nur diesem oder jenem Menschen als einem konkreten Du.
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Die dialektische Spannung zwischen Erzeugung und Hingabe beschreibt also eine in sich selbst zurücklaufende Bewegung zwischen Ich und Es. Der »Fehler«, den der Idealismus laut Rosenzweig dabei begeht, beginnt mit der Vorstellung, der Mensch könne aus sich heraus – mithilfe des Denkens und der gedachten Begriffe – eine Welt erzeugen. Da er zwischen sich und der Welt keinen Platz für den ganz Anderen lässt – das göttliche und auch das menschliche Du –, verfällt das stolze Ich, bevor es in der Hingabe an das »Höhere« sich selbst so wie den Anderen vergisst, der Vergötterung seiner selbst. Das liest sich bei Rosenzweig folgendermaßen: »So hat also der Idealismus vollbracht, wessen er sich von Anfang an vermessen hatte, als er das Ich zur Wurzel des Erkennens machte: Gott ist zum Gegenstand geworden, zum absoluten Gegenstand zwar nicht des Erkennens, aber des Wollens. Gott als … absolute Persönlichkeit … aber an diesem Punkt macht der Idealismus nun regelmäßig die Entdeckung … Gott als Geist ist niemand anderes als das Subjekt der Erkenntnis, das Ich. Und nun wird der A
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letzte Sinn des Idealismus klar: die Vernunft hat gesiegt, das Ende läuft in den Anfang zurück, der höchste Gegenstand des Denkens ist das Denken selbst; es gibt nichts, was der Vernunft nicht zugänglich wäre!« 23
Wieder stellt sich die Frage, ob Rosenzweig mit seiner Polemik auf Kant oder Hegel – oder auf beide – zielt? Gott als absolute Persönlichkeit zu denken, die zugleich das Subjekt der Erkenntnis sei – soweit hat sich Kant nie vermessen, wohl aber Hegel. Und obwohl manch Kantianer meint, im Sinne seines Meisters alle Aporien, welche die Vernunft ihrerseits aufwirft, schließlich mithilfe einer sich selbst kritisierenden Vernunft lösen zu können, so hat Kant selbst doch immer wieder die ungeheure Schwäche der Vernunft betont und ihr damit letztlich weit weniger Potential zur Korrektur ihrer selbst zugetraut als es seine Epigonen getan haben. Hegel hat sich demgegenüber von vornherein nicht vom Problem einer endlichen Vernunft beirren lassen, sondern stattdessen voll Emphase jene idealistische Zuversicht verkündet, die Rosenzweig am Ende zitiert: es gäbe nichts, was nicht der Vernunft zugänglich wäre. In jedem Fall begegnen wir erneut dem Zirkel des Denkens, wonach nur die Vernunft Urteile und Resultate vernünftigen Denkens korrigieren könne. Ein Jenseits der Vernunft, das zugleich einem lebendigen Philosophieren zugänglich wäre, wird vom Idealismus in den Bereich der Esoterik verlegt (Kant) oder vom heidnischgriechisch-christlichen Weltgeist (Hegel) aufgesogen. Rosenzweig suchte demgegenüber nach einem Korrektiv der Vernunft – und fand dieses in der Sprache, die nicht nur im Sinne Hamanns selbst Vernunft, sondern zugleich menschlicher und göttlicher Natur sei. Bevor wir der Einlösung dieses zweifellos kühnen Anspruchs nachgehen, erscheint jedoch ein weiteres Wort zur Aktualität Rosenzweigs angebracht. Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als ob wir in der heutigen Zeit gegen die Totalitätsansprüche des Idealismus, sein kreis- oder ellipsenförmig geschlossenes Denken immunisiert wären. Die Wissenschaft hat sich längst von geschlossenen Systemen und letzten Antworten emanzipiert, und im Zuge der ökologischen Bewegungen ist ein lineares Fortschrittsdenken, das sich in seiner grenzenlosen Zuversicht der Beherrschbarkeit der Natur und der Technik der Vernunft anvertraut hatte, diskreditiert worden. Sogar im Politischen scheint alles Handeln unter dem Anspruch der Pluralität von Methoden, Meinungen und Perspektiven sich zu vollziehen. Dennoch kann man den spätidealisti23
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schen Charakter unserer Epoche kaum leugnen. Dazu seien im Folgenden einige wenige und ganz lose Anmerkungen in den Text gestreut, die der aktuellen »Paternoster-Bewegung« von Erzeugung und Hingabe nachspüren.
Kleiner Exkurs: Altlasten des Idealismus heute und wissenschaftlicher Universalismus Wenngleich weniges problematischer erscheint als der Versuch einer »archäologischen« Untersuchung der Gegenwart, so kann man sich vielleicht darauf einigen, dass moderne Gesellschaften für sich gern das Merkmal der Ideologiefreiheit in Anspruch nehmen. Verglichen mit früheren Epochen, in denen das Modell einer lückenlosen Welterklärung auf Basis einer bestimmten Weltanschauung den Weg in den Totalitarismus gebahnt haben, erfreuen wir uns sicher einer Vielfalt von politischen, kulturellen, künstlerischen und religiösen Strömungen. Aber: dies besagt zunächst einmal gar nichts. Zum einen verdeckt die Huldigung an den »Pluralismus« allzu leicht, dass (partei)politische Entscheidungen immer nach bestimmten vorausgesetzten Maximen und nicht zuletzt dahinter sich verbergenden Interessen getroffen werden und weniger im Sinne der Lebenswirklichkeit der Menschen, so dass weder von Ideologie- noch von Herrschaftsfreiheit gesprochen werden kann. Zum anderen stößt der gesellschaftliche oder politische Pluralismus dort an seine Grenzen, wo die Wissenschaften einen Anspruch auf Universalität behaupten, was der feinere und akademisch konnotierte Begriff für Lückenlosigkeit wäre. Das führt uns zu der von dem Soziologen Immanuel Wallerstein getroffenen Unterscheidung zwischen »humanistischem und wissenschaftlichem Universalismus« 24 : ersterer war weder humanistisch noch human, der Begriff soll jedoch auf einen Universalismus hindeuten, der ausdrücklich von Menschen geschaffen wurde, um über andere Menschen zu herrschen. Die Ideologie der Kreuzfahrer, der Conquistadores, der Kolonialpolitiker bis hin zu den totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts folgte dem Muster des »humanistischen Universalismus«, indem bestimmte Wertmaßstäbe, Glaubenssätze oder Weltsichten einer einzigen GrupImmanuel Wallerstein: Die Barbarei der Anderen, Verlag Klaus Wagenbach 2010, S. 61 ff.
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pierung für universell gültig erklärt wurden, so dass der »Rest« der Nation oder der Menschheit sich diesem Gültigkeitsanspruch zu unterwerfen hatte. Ob für die Strategie der Unterwerfung der christliche Glauben, die moralische Überlegenheit der europäischen Zivilisation oder die »arische Rasse« ins Feld geführt wurden, sind aus Sicht der Weltgeschichte nur noch Unterschiede in den Nuancen. Wenngleich nicht mehr ideologisch so plump auftretend, wirken auf subtile Art auch in demokratischen Systemen die Mechanismen der Ausgrenzung und des Ressentiments gegenüber den »Anderen« (ethnischen, sozialen oder religiösen Milieus), und koloniale Verhaltensweisen sind auch in »post-kolonialen Zeiten« eher die Regel als die Ausnahme. Vor allem aber stellt Wallerstein die These auf, dass der sich weiter zurückziehende humanistische Universalismus zunehmend Raum freigegeben habe für den »wissenschaftlichen Universalismus«, der sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts auf ein System der Wissenserzeugung in den europäischen und amerikanischen Universitäten stützte, das als positives und empirisches Wissen von den politischen und ökonomischen Eliten jederzeit anwendbar sei. Das erzeugte Wissen werde dabei sowohl von den Natur- wie den Geisteswissenschaftlern zur Gewissheit erklärt, womit es als Instrument zur Beherrschung der Welt in die Nähe totalitärer Ideologien geraten könne. Man könnte sagen: die Eliten haben sich des wissenschaftlichen Universalismus bedient, um die Welt mithilfe wissenschaftlicher statt theologisch-spekulativer Methoden zu beherrschen. Wie sich das in unseren Tagen darstellt, werden wir gleich an zwei Beispielen aufzeigen. Doch zunächst sei darauf aufmerksam gemacht, dass wir uns mit diesen Beobachtungen wieder ganz eng an Rosenzweigs Text und seiner Idealismus-Kritik befinden. Denn schon die Behauptung, dass »es nichts gibt, was nicht der Vernunft zugänglich wäre«, stellt einen universellen Anspruch der Vernunft dar, dem sich in seiner Lückenlosigkeit nichts und niemand zu entziehen vermag. Folgen wir der Paternoster-Bewegung von Erzeugung und Hingabe: Wer erzeugt die Erzeugung? Rosenzweig bietet uns in obigem Zitat das »Subjekt der Erkenntnis« an, das sich als »Gott und Geist entdeckt«. Diese »Lehre« von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen wurde spätestens seit der Renaissance zur Triebkraft einer ungestümen wissenschaftlichen und technischen Entwicklung. Aber wie konnte der Mensch als ein endliches Wesen, nur mit endlichen Kräften ausgestattet, die Hybris behaupten, sich zum zweiten Gott zu stilisieren, der auch das Unendliche 104
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zu meistern vermag? Drohte der Mensch nicht an dieser idealistischen Überdehnung seiner Kräfte zu zerbrechen? Der Anspruch auf die Gottesebenbildlichkeit des Menschen war nur einzulösen, wenn er sich die Mittel zur Beherrschung der Welt verschaffte. Das setzte die Berechenbarkeit des unendlichen Raumes und der unendlichen Zeit voraus. Seit dem 15. Jahrhundert kamen dem Menschen dabei die Mathematik und die mechanischen Wissenschaften zu Hilfe: sie boten das Instrument, um das Unendliche auf den Maßstab des Endlichen zu verkleinern, »bis das, was die Sinne als unendlich groß empfinden, auf ein Größenmaß herabgeschraubt ist, das von Menschen nach Maßgabe ihrer eigenen körperlichen und sinnlichen Größenordnung gehandhabt werden kann«. 25 Damit aber war die Hybris des zweiten Gottes wissenschaftlich abgesichert. Plastisch-gegenständliche Beispiele für jene Verkleinerung oder Zusammenschrumpfung der Welt auf menschliches Maß sind der Globus als Erdkugel im Kleinen und das Teleskop als Instrument des »Herunterschraubens der Größenordnung«. Der Mensch erzeugt auf diese Weise aus sich heraus ein Ensemble an Gegenständen und technischen Geräte, mit deren Hilfe er eine Welt erzeugt, die er handhaben, berechnen und beherrschen kann – der er sich planend, denkend, konstruierend und sogar spielerisch hingeben kann. Hier tritt nun aber auch deutlich die andere Bedeutung von Hingeben hervor: in der Hingabe gegenüber einem Du mag die Gabe überwiegen, während die Hingabe gegenüber der Sache, der Technik, einer aus der Vernunft erzeugten Welt rasch dazu führt, dass sich der Hingebende hinweg gibt, dass also das »Subjekt der Erkenntnis« aufhört, reines Subjekt zu sein und stattdessen seinem eigenen Erzeugnis gegenüber zum Objekt zusammenschrumpft. Die Mechanismen der Technik gewinnen, sobald aus den Händen ihres Erzeugers freigelassen, eine eigene Dynamik, die sich nicht nur zu verselbstständigen droht, sondern sich sogar gegen die ursprüngliche Intention ihres Erzeugers wenden kann. Ursprünglich mag die Technik als Befreiung von kraftzehrender und stumpfsinniger Arbeit gedacht gewesen sein – dass sie aber auf andere Weise Stumpfsinn verbreitet und an den Kräften zehrt, wurde schon in der Phase der frühen Industrialisierung mit ihrer beginnenden Massenproduktion erfahren. Später wuchs die Geschwindigkeit der Transportmittel den Menschen buchstäblich über den Kopf – der verstörte Großstadtmensch der 20er Jahre musste lernen, seinen eigenen Körper25
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rhythmus dem Taktschlag des Großstadtverkehrs anzupassen. Dies mag nach wohlfeiler Technikkritik und Zivilisationsschelte klingen, doch verkennen wir keineswegs die Bedeutung technischer Entwicklungen für die Befreiung des Menschen von unwürdigen Lebensbedingungen. Aber erstens unterscheidet sich der Einsatz modernster technischer Mittel für den Bau von Brücken und Eisenbahnen, zur Versorgung mit Wasser und Gesundheit von der Produktion technischer Geräte, auf die wir durchaus verzichten könnten, ohne an Lebensqualität einzubüßen. Zweitens aber schließen wir uns Blumenbergs Diktum an, dass zwar der Geist die Technik hervorgebracht habe – dass aber meist vergessen werde, wie und dass die Technik auf den Geist zurückwirke. 26 Eine dieser Wirkungen nennen wir gemeinhin Entfremdung. Hannah Arendt hat schon vor Jahrzehenten darauf aufmerksam gemacht, dass die gewonnene räumliche und zeitliche Nähe durch Teleskop, Flugzeug und andere Maschinen durch eine vorhergehende gesteigerte Ferne oder Entfernung von der Welt erkauft worden sei: »Es liegt im Wesen des menschlichen Vermessungs-Vermögens, dass es sich, um überhaupt zu funktionieren, vorerst aus der Nähe selbst gleichsam zurückziehen, dass es eine Entfernung zwischen sich und das zu Messende, legen muss … die Tatsache, dass die entscheidende Erdschrumpfung schließlich die Folge der Erfindung des Flugzeugs ist, dass heißt eines Geräts, mit Hilfe dessen man sich von der Erdoberfläche überhaupt entfernt, weist deutlich auf das Phänomen hin, mit dem wir es hier zu tun haben: jede Verringerung von Entfernung auf der Erde kann nur um den Preis einer vergrößerten Entfernung des Menschen von der Erde gewonnen werden, also um den Preis einer entscheidenden Entfremdung des Menschen von seiner unmittelbaren irdischen Behausung.« 27
Entfernen wir uns nun womöglich von Rosenzweigs Text? Nur scheinbar, denn wir hatten in der wissenschaftlich-technischen Weltbeherrschung der letzten 500 Jahre das von Rosenzweig dem Idealismus vorgeworfene Motiv von Erzeugung und Hingabe wieder gefunden. Wir hatten ferner die doppelte Bewegung eines Subjekts, das sich in der Erzeugung zur Gottesebenbildlichkeit aufschwingt und in der Hingabe den Status des Subjekts gänzlich verlieren kann, hervorgehoben.
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S. dazu Hans Blumenberg: Kleine Geistesgeschichte der Technik, Suhrkamp 2009. Hannah Arendt: Vita Activa, S. 321
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Könnte man den Idealismus als einen Versuch auslegen, der durch äußere Gegenstände drohenden Verdinglichung – oder Objektivierung – des Subjekts zuvorzukommen, indem eine Vernunft vorausgesetzt wird, die immer »von ihrem Ende her in den Anfang zurückläuft«? Wenn sowohl das erzeugende Subjekt der Erkenntnis zur reinen Vernunft wird, als auch seine Erzeugnisse selbst wieder durch ihren Gebrauch und den ihr inhärenten Zuwachs an Erkenntnis neuerlich Vernunft fördern und hervorbringen, dann schlösse sich der Kreis. Anders gesagt: es schlösse sich der Kreis der Voraussetzungen, die zu allererst es sind, welche Rosenzweig aus streng philosophischer Sicht kritisiert. Die erste Voraussetzung des Idealismus lautet: »es gibt nichts, was der Vernunft nicht zugänglich wäre«. Das reine Ich oder Subjekt der Erkenntnis, welches als schöpferisches Wesen die Vernunft verkörpert, bringt durch die Vermessung der Welt, durch Mechanisierung und Automatisierung einen Prozess ins Rollen, der das Vorausgesetzte beweisen soll: die wissenschaftlich-technische Entwicklung als Folge der menschlichen Vernunft beweist diese selbst im Prozess der Weltbeherrschung. Dieselbe Vernunft, welche die Welt beherrscht, erlaubt es dem Menschen, diese Beherrschung auch zu denken – und so läuft das Ende (die technisierte Welt) in den Anfang zurück, nämlich in die neuerliche Suche nach bisher unbekannten Gesetzen und Regelmäßigkeiten der Natur, mit denen das Schwungrad der Erzeugung oder des technischen Fortschritts weiter getrieben wird. Das Resultat heißt unendlicher Fortschritt, und in diesem findet sich die Vernunft selbst bestätigt – sie läuft immer wieder vom Ende in den Anfang zurück. Hegel hatte durch die Erzeugung von Begriffen eine Welt der Dinge erzeugen wollen – in Analogie dazu erzeugt der tätige Mensch der Neuzeit Geräte, mit deren Hilfe er eine verkleinerte, soz. handliche Welt erzeugt, die ihrerseits zur Erzeugung neuer Geräte antreibt. Immer wieder soll dabei die erste Voraussetzung – die Beherrschbarkeit der Welt durch Vernunft – bewiesen werden. Das alles nennt sich auch wissenschaftlicher Universalismus – und wenn sich zeigen ließe, dass dieser seine Gültigkeit auch in unserer Zeit nicht verloren hat, gewönne Rosenzweigs Kritik zusätzlich an Aktualität. Deswegen seien hier exemplarisch zwei Fälle genannt.
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Immer noch auf Exkursion: Klimawandel und digitale Prothesen Das erste Beispiel zeigt auf paradoxe Weise die Verfangenheit des heutigen Denkens in den Fallstricken, die es vorgibt, zu zerschneiden: die Ökologie-Bewegung der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts war seinerzeit gegen den Anspruch einer Beherrschbarkeit der Welt durch ein rein mathematisches und naturwissenschaftliches Denken angetreten. Die Folgen der Technisierung für die Ökologie des Planeten Erde wurden gebrandmarkt, unter dem Schlagwort Treibhauseffekt wurde frühzeitig vor einem gefährlichen Anstieg der Temperaturen gewarnt. Heute ist der sog. Klimawandel allgegenwärtig, wobei über die Ursachen – ob durch den Menschen oder die Sonne hervorgerufen – noch gestritten wird. Interessant ist nun Folgendes: von wissenschaftlichen Instituten zur Klimaforschung werden mathematische Modelle entwickelt und angewandt, mit deren Hilfe präzise Szenarien gegen die Erderwärmung berechnet werden. In den berühmten Wenn-dannStrategien wird eine angeblich verifizierbare Korrelation zwischen Reduzierung des CO2 -Ausstoßes und dem Rückgang oder Stillstand der Erwärmung postuliert. Auf politischer Ebene wird dann gefordert, zu einem Zeitpunkt X die Erwärmung auf maximal zwei Grad Celsius zu begrenzen. Die mathematischen Symbole einer Jahreszahl und einer Temperaturangabe werden der Politik und ihren äußerst komplexen Entscheidungsprozessen voraus gesetzt! Die Zukunft soll also weiterhin – im Sinne eines wissenschaftlichen Universalismus – berechenbar sein und damit die Welt beherrschbar? Lauern hier nicht neue Gefahren, wenn sich politisches Handeln anmaßt, nur Vollstreckerin wissenschaftlicher Erkenntnisse zu sein? Inwieweit können solche lückenlosen Erklärungsmodelle, welche die Wissenschaft der Politik bereit stellt, zu einem neuerlichen Aufleben des »humanistischen Universalismus« führen, durch den bestimmte Teile der Menschheit ausgegrenzt werden, wenn sie keinen genügenden Beitrag zu den »Klimazielen« leisten? Wohlgemerkt: es ist nichts dagegen einzuwenden, dass Wissenschaftler über größere Zusammenhänge des Lebens und Zusammenlebens auf dem Planeten forschen – dazu gehört auch der Klimawandel. Aber diese Forschungen auf einfache Mathematik zu reduzieren, erscheint als spätidealistisches Denkmuster mit all seinen Gefahren. Schließlich ereignet sich die Verkleinerung der Welt heute auf eine noch nie dagewesene Weise: jeder Mensch kann heute mithilfe 108
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digitaler Technik die Welt in der Hand halten. Dass der technische Begriff des Mobiltelefons hierzulande frühzeitig in Handy übersetzt wurde, spricht für sich. In der Tat hat es mit einem Telefon nur noch wenig zu tun – vielmehr kann der Benutzer alle Informationen über die Welt jederzeit abrufen, er kann sich »die Welt« erklären und zeigen lassen, statt sie selbst wahrzunehmen oder zu erkunden. So ist das multifunktionale Mobiltelefon längst zum Du geworden, das seinen Inhaber überallhin begleitet und für ihn die Welt wahrnimmt und ihm den Weg weist. Immer seltener erblicken, erfühlen, erschmecken Menschen auf unmittelbare Weise die Natur oder auch nur die Gegend, in der sie sich gerade aufhalten. Die Wahrnehmung wird vermittelt durch Navigationssysteme und somit verhindert, denn die unausgesetzte Fixierung auf das kleine Du in der Hand lässt eine unvermittelte oder unmittelbare Begegnung mit der Welt nicht mehr zu. Dazu passt die Strategie der Hersteller oder Erzeuger. Die multifunktionalen Geräte sollen in ihren Maßen, Materialen und dem äußeren Design so der Gestalt und Bewegung der Hand angepasst werden, dass das Gerät als Fortsatz oder Teil der Hand erscheint. Man spricht inzwischen auch von einer digitalen Prothese bzw. von einem Hybrid zwischen menschlichem Organ und Maschine – es soll eine Symbiose entstehen, indem das ursprünglich vom Menschen Erzeugte auf die Hingabe des ganzen Menschen konzipiert ist. Diese neuartige Form von Hingabe an die Technik können wir täglich beobachten, wenn die Benutzer dieser Apparate fast zärtlich mit ihnen spielen, sie in kleine Täschchen stecken, in der Hand hin und her wiegen und Augen und Hände nicht mehr von ihnen lassen können. In dieser Hingabe an ein Ding, das er als Teil seines Körpers und seines Ich erfährt, geschieht die fortschreitende Verdinglichung des Menschen selbst. Auf bestürzende Weise werden wir überall im öffentlichen Raum Zeuge dieses Hingegebenwerdens des Menschen an ein Ding, als ob wir das langsame Dahinsiechen des Menschen beobachteten. All diese Zusammenhänge sind wahrlich nicht neu, sie sollten deswegen nur kurz erwähnt werden, um die Aktualität der Rosenzweigschen Kritik an dem Begriffspaar Erzeugung und Hingabe zu betonen. Kann man aber seine Kritik am Idealismus so leichtfüßig auf die Welt der modernen Medien, Technik oder Politik übertragen? Ist dies nicht ein zu gewagter Sprung? Doch fragen wir anders: wäre die technische Entwicklung ohne den Idealismus überhaupt möglich gewesen? Wir leben also in einer Welt selbst gesetzter Voraussetzungen, die A
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sich uns als fortlaufende Erzeugung von Dingen darstellt, denen wir buchstäblich unser Leben hingeben. In einem Prozess fortgesetzter Entfremdung der Arbeit und von der Arbeit werden wir scheinbar gezwungen, »mit der Zeit zu gehen« und den Bestand an technischen Geräten, die uns tagtäglich umgeben, ständig zu erneuern. Nur scheinbar haben wir uns sehr weit von Rosenzweigs Text entfernt, denn zum einen sind wir nur, wenngleich durch mannigfache Windungen hindurch, der Spur von Erzeugung und Hingabe gefolgt, die Rosenzweig gelegt hat. Zum anderen sollte diese »Entfernung«, die besser Exkursion heißen sollte, nicht nur die Nähe Rosenzweigs zur Jetzt-Zeit hervorheben, sondern auch das gesellschaftskritische Potential seines Denkens, das gern marginalisiert wird. Hier und da flackern immer wieder Fragen nach der Nähe Hannah Arendts oder sogar Theodor Adornos zu Rosenzweig auf, ein vertiefender Vergleich fehlt jedoch bisher. Vielleicht kann unser kurzer und bescheidener Exkurs in dieser Hinsicht anregend wirken. Indem Rosenzweig die »Elemente« Gott, Welt und Mensch als je eigenständige, nicht aufeinander reduzierbare, zueinander in Beziehung setzen möchte, statt sie voneinander abzuleiten, zeigt er jedenfalls auf seine Weise einen Weg aus der Verdinglichung und der Vergötterung des Menschen.
Der Bruch mit dem Idealismus: die Sprache denken Aber wo findet Rosenzweig den Ausstieg aus der Paternoster-Fahrt zwischen Erzeugung und Hingabe? Indem er weder Maximen, noch Gesetze, weder ein Ich noch Begriffe voraussetzt, sondern einzig die Sprache. Es sollte uns diese »Wendung« nach dem bisher Gesagten wenig überraschen, denn wir haben gehört, dass bei Rosenzweig die Urworte Ja und Nein auf das Nichts antworten und ein Etwas erzeugen. Nicht also ein Ich, sondern das Wort erzeugt. Als Ursprung des idealistischen Irrwegs von Erzeugung und Hingabe bezeichnet Rosenzweig jedenfalls dessen fehlendes Vertrauen in die Sprache: Indem er die Erzeugung der Welt aus dem reinen Denken herleiten wolle, sei er auf die »schiefe Ebene seiner reinen, sprachfremden, hintermenschlichen Logik« 28 getrieben worden. Den »Übergang« vom Ich zur Welt habe der Idealismus mithilfe dieser Logik schaffen wollen, statt mithilfe der Sprache. 28
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Frank Hahn
https://doi.org/10.5771/9783495998526 .
Franz Rosenzweigs Weg vom Nichts zur Sprache
Die idealistische Philosophie hat versucht, die »zersprengten Elemente« Gott, Mensch und Welt unter die Allherrschaft des Logos zu bringen. Gegenüber Gott muss der Logos als reines Denken versagen, aber auch Mensch und Welt verweigern sich in der lebendigen Fülle des Unerhörten und Überraschenden dem sezierenden, abtötenden Begriff. Korrelation, wechselweise Beziehung zwischen Gott, Mensch und Welt kann nur in der Über-setzung des über-setzenden Wortes gelingen. Aber gibt es ein menschliches Vermögen, das Wort Gottes zu hören? Noch radikaler gefragt: vernehmen wir das Wort des anderen Menschen so, wie es gesprochen wurde oder wie wir es hören? Gott, Welt und Mensch begegnen einander sprachlich, ob sie aber »dieselbe Sprache sprechen«, bleibt mehr als zweifelhaft. Und wer kann zwischen den Sprachen übersetzen? Gibt es überhaupt die Möglichkeit der Übersetzung? All diese Fragen haben nicht nur jüdische Menschen seit je beschäftigt; Rosenzweig greift nun diese Fragen zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder auf, um seiner Zeit einen Weg aus idealistischer Erstarrung zu öffnen und sich selbst seines Jude-Seins in einer umfassenden inneren Wanderung zu vergewissern, schließlich aber auch Klarheit über die Aufgaben des modernen Judentums in der Gesellschaft zu schaffen. Wir stehen damit nun in unserer Erzählung auf der Schwelle zwischen der Idealismus-Kritik und dem Sprachdenken Rosenzweigs. Diese Schwelle empfiehlt sich als Ort eines Innehaltens, um das eben Gesagte noch einmal aus der Sicht einer jüdischen Denkerin anders gesagt zu hören, die sich seit Jahrzehnten dem Werk Rosenzweigs gewidmet hat: in einem Prologomena überschriebenen Aufsatz zum Buch »Ruth« hat Eveline Goodman-Thau in streng verdichteter Form das Sprachdenken bzw. das neue Denken Franz Rosenzweigs auf eine Weise zusammengefasst, der wir vor dem Hintergrund des bisher Gesagten mühelos folgen können. Als passendes Stretto dieses Kapitels und zugleich Überleitung zum nächsten zitieren bzw. paraphrasieren wir daraus einige Passagen, beginnend mit der folgenden: »Ob religiöse Erfahrung überhaupt in einer Sprache ausgedrückt werden kann, wird bereits im biblischen Text thematisiert. Die Offenbarung Gottes am Berge Sinai als religiöse Grunderfahrung ist die Erfahrung mit Sprache schlechthin, welche in der Begegnung Gottes mit dem ganzen Volk Israel in die geschichtliche Zeit eingegangen ist …« 29 Eveline Goodman-Thau: Zeitbruch- zur messianischen Grunderfahrung in der jüdischen Tradition, Akademie Verlag Berlin 1995, S. 15
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Hiermit benennt Goodman-Thau die Spannung, aus der das Sprachdenken seine Impulse gewonnen hat, um dann direkt auf Rosenzweigs Arbeit einzugehen. Den radikalen Bruch, den der Philosoph Rosenzweig gegenüber dem deutschen Idealismus vollzogen habe, wertet Goodman-Thau als Versuch, die Philosophie vor ihrem eigenen Untergang zu retten. Das ganze Werk Rosenzweigs sei ein großartig angelegter Versuch, Philosophie und Theologie vor der Gefahr der Abstraktion zu bewahren und Denken und Glauben in einen neuen Zusammenhang zu setzen. Sie zitiert in diesem Zusammenhang Martin Buber: »Rosenzweig redet nicht über Anschauungen über Gott, Mensch und Welt, ja möchte auch noch dieses »über« loswerden und sagen, er redet zwischen ihnen – wie ein Dolmetscher redet.« Rosenzweig habe demgemäß die Aufgabe des Menschen darin gesehen, das Verhältnis von Gott, Mensch und Welt in Sprache zu übersetzen. »Das neue Denken Rosenzweigs will zeigen, dass die Gesetze des Denkens nicht identisch sind mit den Gesetzen der Wirklichkeit. Weil der Denker kein abstraktes Wesen ist und persönlichen Anteil an der Frage wie der Antwort hat, ist sein Denken existentiell bezogen und kann weder vorgefasste Begriffe benutzen, noch sich auf vorbestimmte Ziele zubewegen, wie Philosophie es praktiziert.« Und weiter: »An die Stelle des abstrakten, reinen und zeitlosen Denkens, wie es frühere Philosophie ausgebildet hat, tritt im neuen Denken die Methode des Sprechens.« 30 Da aber laut Rosenzweig Sprechen immer »zeitgebunden, zeitgenährt« ist, in dem es sich »seine Stichworte vom Anderen geben« lässt, könne der »Sprachdenker« nichts vorausberechnen; er müsse warten können, da er vom Anderen abhängig sei: er braucht Zeit. Rosenzweig verbindet also Zeit und Sprechen, betont Goodman-Thau. Der Sprecher müsse seine Rede unterbrechen, d. h. seine Redezeit unterbrechen und sich auf ein anderes Zeitmaß, das des Hörers, einstellen, der an seiner Stelle zum Sprecher werde. Diese Beobachtung leitet natürlich auf das veränderte Zeitmaß im Gespräch zwischen Mensch und Gott hin. Wie schon oben angedeutet, suchte Rosenzweig nach einer »Sprache der religiösen Erfahrung«, die er letztlich in der Sprache der Offenbarung fand. Hier nun hebt Goodman-Thau hervor, dass für Rosenzweig Sprache ihren Ursprung in der Mündlichkeit habe (»Alles Wort ist gesprochenes Wort«). In der Bibel finde Rosenzweig ein Buch, das 30
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im Dienst der Mündlichkeit stehe. Es müsse laut gelesen werden, um verstanden zu werden. Aber: die Begegnung des Menschen mit dieser Schrift sei eine Begegnung mit dem Leben (weder mit dem Wort an sich noch mit dem Buch, schon gar nicht mit einer Theorie). GoodmanThau fährt fort: »Rosenzweig, der allen Theorien, Programmen, Systemen und Spekulationen misstrauisch gegenüberstand, bezweifelte die Gültigkeit seiner eigenen Ansichten, solange sie nicht durch das Leben selbst bestätigt werden konnten. Der Stern der Erlösung erschien Rosenzweig als »eben doch nur ein Buch« … in dieser Hinsicht war Rosenzweig Existentialist: nur das Leben kann die Theorie bestätigen, das Leben des Individuums, das sein eigenes Leben lebt, dies ist die Wahrheit des Lebens«. 31
Schließlich fasst Goodman-Thau Rosenzweigs Motive folgendermaßen zu vier zentralen Themen zusammen: die Betonung der konkreten Situation, die Wichtigkeit des gesprochenen Wortes und des Gesprächs, die Erfahrung der Zeit und ihres Rhythmus sowie schließlich die tiefe Bedeutsamkeit des Namens. Den drei letzteren – Sprache, Zeit, Name – werden wir uns in den folgenden Kapiteln entlang der Erzählung Rosenzweigs von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung widmen. Dabei sollten wir stets einer der wesentlichen Aussagen seines heidnischen Schöpfungsmythos gewahr bleiben: das Wissen des Nichts verwirft jegliches Wissen von Ursprung und Anfang, womit nicht nur dem Denken des Seins als einem auf Prinzipien gründenden der Boden entzogen wird, sondern auch das Modell eines linearen Fortschritts wie dessen romantischem Gegenmodell ausgehebelt wird. Beruht doch sowohl das eine wie das andere auf der Annahme eines Urzustandes, den das eine fortlaufend überwinden will, während das andere zu ihm zurückkehren möchte. Die Verweigerung des Ursprungsdenkens begleitet auch die Bahn von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung. Die Schöpfung als sprachlicher Akt ereignet sich nicht am Nichts oder aus dem Nichts, sondern an einer mythischen Vorwelt, in der bereits Ja und Nein zu vernehmen waren. Mit Schöpfung und Offenbarung wird die Sprache vor der Sprache zu einer, die Gott, Mensch und Welt sprechen können, womit ein Für-, Zu- und Miteinander der drei »Elemente« ermöglicht. Aber auch hier gilt: die Bahn von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung ist kein »Modell« eines historischen Fortschreitens von der einen zur nächsten Dimension, so als hätten wir die Schöpfung und 31
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Offenbarung bereits »hinter uns gelassen«. Es ist uns vielmehr aufgegeben, die Schöpfung jeden Augenblick zu erneuern, die Offenbarung je neu zu erleben und die Erlösung als Zukunft im je neu gesprochenen Gebet vorwegzunehmen. Die Arbeit an dieser Aufgabe nur kann neuerliche Rückfälle in das Verstummen verhindern – wie wir sie im letzten Jahrhundert wiederholt erlebt haben.
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Kapitel 3: Der Sprache vertrauen: die Nennung des Namens und die Grammatik der Schöpfung als erste Etappe auf der Bahn der Sprache
Der Idealismus vertraue der Sprache nicht, so haben wir vernommen. Warum sieht Rosenzweig ausgerechnet in der »Sprachferne« oder dem Unverständnis von Sprache das große Versagen des Idealismus? Vor allem: auf welchen Wegen ist er zu dieser »Einsicht« gekommen? Rosenzweig selbst gibt dazu in den »Nachträglichen Bemerkungen zum Stern der Erlösung«, welche mit »Neues Denken« überschrieben sind, offenherzig Auskunft. In der Methode des Sprachdenkens konzentriere sich alles, was vom »Stern der Erlösung« an Erneuerung des Denkens ausgehen könne. Er nennt dann Feuerbach und Hermann Cohen als Entdecker dieser Methode, während er jedoch die wesentlichen Anregungen für das Zustandekommen des »Stern« Eugen RosenstockHuessy verdanke, dessen »Angewandte Seelenkunde« ihn bereits eineinhalb Jahre beschäftigt habe, bevor er mit dem Schreiben des »Stern« begann. Rosenzweig nennt als weitere Zeitgenossen, die parallel zu seinem Werk sich um die Darstellung der »neuen Wissenschaft« verdient gemacht hätten, Viktor von Weizsäcker, Hans Ehrenberg, Martin Buber, Rudolf Ehrenberg und Ferdinand Ebner. Zweierlei ist hier bemerkenswert: zum einen reiht Rosenzweig sein eigenes Werk bescheiden ein in den »Zug der Zeit«, in der mehrere Menschen teils in gemeinsamer Arbeit, teils auf unterschiedlichen und eigenen Wegen gleichzeitig das Denken grundlegend erneuerten, indem sie die Bedeutung von Sprache, dem Gespräch zwischen Du und Ich sowie der Zeit in reichhaltigen Texten ausgearbeitet haben. Zum anderen besteht Rosenzweig auch sechs Jahre nach Erscheinen des »Stern« strikt darauf, dass es sich bei diesem Werk um eine »neue Wissenschaft« handle, und nicht um »theologisches Denken« – jedenfalls nicht so, wie Theologie bisher verstanden wurde. Rosenzweig geht es auch nicht darum, den monotheistischen Glauben zu »verkünden«. Dass er selbst an den einzigen Gott glaubt, öffnet ihm ungeahnte Einsichten in den Strom der Sprache (um nicht vom Wesen der Sprache zu sprechen!). Aber sein A
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Anliegen ist keine religiöse »Botschaft«, sondern eine Erneuerung des Denkens. Kommen wir aber nun auf die oben gestellte Frage nach dem Wie und Wer als Ursprung des Sprachdenkens zurück. Wenn Rosenzweig dabei als wichtigsten Anreger seinen Freund Eugen Rosenstock-Huessy nennt, dann wollen wir zumindest diesen Hinweis aufgreifen und in ganz wenigen Sätzen auf dessen 1916 verfasste Schrift »Angewandte Seelenkunde« eingehen. Zu Beginn des nächsten Kapitels werden wir diesen Text ein weiteres Mal – als Einführung zum Thema Offenbarung in Rosenzweigs »Stern« – zitieren, deswegen sollen hier ein paar Pinselstriche genügen. In der »Angewandten Seelenkunde« formuliert RosenstockHuessy seine Kritik an der Ich-Philosophie des Idealismus. Dass ein Ich sich erst als ein solches in der Ansprache durch ein Du erfahren könne, werde von den idealistischen Philosophen der Weltanschauung und des Bewusstseins ignoriert. Eine Ausnahme sei Hermann Cohen, den Rosenstock-Huessy als »Samariter des Denkens« bezeichnet, da sein letztes großes Werk aus dem »Du des Glaubens« heraus spreche. 1 Damit aber habe dieses Werk des letzten großen deutschen IdealismusPhilosophen aufgehört, Philosophie zu sein. Fast wörtlich finden wir diese Charakterisierung Cohens bei Rosenzweig wieder. Das Ich wird, um überhaupt zu einem »Selbstbewusstsein« erwachen zu können, zunächst von einem Du angesprochen, auf dessen Wort das Ich antwortet. Die Sprache – und die Grammatik – werden damit für RosenstockHuessy zum »Schlüssel, der das Schloss der Seele aufschließt«. 2 Der hörende und sprechende Mensch ist jeweils ein anderer, wenn er in verschiedenen Modi, Zeiten und Personen – also unterschiedlichen grammatischen Formen – spricht. Rosenstock-Huessy weist insbesondere auf die Bedeutung der Modi bei den Verben hin. Der Indikativ sei der Modus der Vergangenheit, denn in ihm werde Gewesenes, Vorübergegangenes, Gewordenes erzählt, während die Zukunft im Konjunktiv voraus geahnt oder gehofft werde. Die Gegenwart jedoch ereigne sich im Modus des Imperativs, der das Verhältnis von Du und Ich sprachlich ausdrücke, und im imperativischen Gebot oder Geheiß die Eugen Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, in: Die Sprache des Menschengeschlechts – eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, Verlag Lambert Schneider 1963, S. 760 2 Ebd., S. 753 1
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Wende von der Vergangenheit zur Zukunft herbeiführe. 3 Ein schlichtes, fast banales Beispiel dafür wäre das Gebot »Komm mit!« – eben noch saß der Angesprochene vielleicht selbstvergessen auf einem Sofa oder schlenderte an dem Ansprechenden in umgekehrter Richtung vorbei, und nun, wenn er dem Aufruf folgt, steht er auf oder kehrt um. Umkehr aber bedeutet nichts anderes als den Übergang vom Gewesenen zum Künftigen an sich selbst zuzulassen. Wir werden im nächsten Kapitel auf diesen Zusammenhang noch genauer eingehen, hier mögen diese wenigen Hinweise reichen, um den Funken ausfindig zu machen, der Rosenzweig elektrisiert hat. Der Zusammenhang zwischen dem »Du des Glaubens«, das er bei Cohen gefunden hatte, und der Grammatik, war nur allzu offensichtlich. Hinzu kommt zweierlei: Rosenstock-Huessy hob die Sprache der Konvention, des Kaufmanns, des Wissenschaftlers, also die bereits geschriebene und gebräuchliche Sprache der Verständigung scharf vom Sprechen selbst ab. Das Sprechen könne nur am Leben bleiben, wenn die Menschen immer wieder in den Urquell der hervorströmenden Sprache hinabstiegen, so Rosenstock-Huessys naturhafte, mythendurchtränkte Ausdrucksweise. Zum anderen entfalte nur dieser jeweils neu hervorbrechende Sprachstrom die Kraft, durch welche die Seele des Menschen ergriffen werden könne – wie exemplarisch im Glauben an die Offenbarung. Nun waren für Rosenzweig alle wesentlichen Elemente benannt, aus denen sich eine »Bahn der Sprache« bauen ließ, die den Menschen Schöpfung, Offenbarung und Erlösung erleben lasse. Auf dieser Sprachbahn bewegt sich nach Rosenzweig die Bahn des Weltgeschehens und des Lebens. Woraus gewann Rosenstock-Huessy seinerseits die Anregung zum Sprachdenken? Er selbst gibt darüber im Vorwort zur »Sprache des Menschengeschlechts« spärliche Auskunft – zu viele biographische Details möchte er nicht preisgeben, weil diese seiner Meinung nach das Eintauchen in seine Texte eher erschwerten, da sie die Aufmerksamkeit vom Wesentlichen weglenkten. Aber soviel erfahren wir dennoch: Rosenstock-Huessy war offenbar seit seiner Kindheit von Sprache fasziniert, die Literatur und manche Philologen hätten ihn »trunken gemacht mit den süßen Weinen der Sprachen«. Später hat er sich offenbar mit vergleichender Philologie, Ägyptologie und den »Sprachdenkern« von Heraklit über Abjathar bis Hamann beschäftigt, und ab 1912 stand für ihn der Plan fest, ein umfassendes Sprachwerk vorzu3
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legen. In der englischen – gänzlich abgeänderten – Version des Vorworts erwähnt Rosenstock-Huessy etwas präziser den Ägyptologen Alan Gardiner und sein Werk über den Ursprung der Sprache sowie die französische Schule der Soziologie, in der es immer auch um Sprache gehe. Diese Spuren sollen genügen, um den unruhigen Leser zufrieden zu stellen, der nach Rosenstock-Huessys »Kompetenz« hinsichtlich der Philologie fragt. Sie genügen auch, um den allgemeinen Hang nach Aufsuchung geistiger Kontinuitäten zu befriedigen, zeigt sich Rosenstock-Huessy in seinem Bemühen um die Sprache doch eingebettet in jene Traditionslinie, die über Steinthal, Humboldt, Hamann bis in die Antike zurückführt. Und noch etwas erfahren wir aus Rosenstock-Huessys spärlichen Hinweisen: beiläufig eingestreut erscheint bei ihm der Begriff Sprachdenken bzw. Sprachdenker, den Rosenzweig Jahre später seinem Projekt einer Erneuerung des Denkens als Namen gibt.
Der Sprache vertrauen? Die beiden Stichworte, die Rosenzweig gibt, lauten Vertrauen auf die Sprache und Bahn der Sprache. Beginnen wir mit dem Vertrauen. Wie können, wie sollen wir ausgerechnet der Sprache vertrauen? Indem wir sprechen, reden wir fast immer aneinander vorbei, ein Missverständnis folgt auf das andere, und der oft als nachgiebiges Zurückweichen vor dem eigenen Wort verstandene Satz »So habe ich es nicht gemeint« zeugt meist weniger von Charakterschwäche als von den schwankenden Bedeutungen der Worte. Schon Wilhelm von Humboldt hatte auf die Vieldeutigkeit des Wortes hingewiesen, das in tausend Nuancen schillere und aus jedem Munde in anderer Bedeutung töne: »Keiner denkt bei dem Wort gerade das, was der andere, und die noch so kleine Verschiedenheit zittert … durch die ganze Sprache fort … alles Verstehen ist daher immer zugleich ein Nicht-Verstehen …« 4 Aus dieser Einsicht speist sich denn auch seit der Antike die Sprachskepsis in Wissenschaft und Philosophie. Im Judentum, das seine geistige Kraft unabhängig von und parallel zu der europäischen Philosophie und Wissenschaft ausgeprägt hat, regt aber gerade das »Zittern der kleinsten Wilhelm von Humboldt: Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus, in: Humboldt Werke Band 3, J. G. Cotta’sche Buchhandlung 1979, S. 228
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Verschiedenheit in den Worten« zu den reichsten und immer wieder neuen Bemühungen um das Auffinden neuer Bedeutungen in den Worten an. Die alten biblischen Texte sind nie »fertig«, nie zu Ende gesprochen, sondern bleiben nimmer versiegende Quelle sprachlicher, geistiger und alltäglicher Lebendigkeit, weil sie niemals ganz und vor allem nicht eindeutig verstanden werden können. Woher sollen wir aber in der Bewegung auf so schwankendem Boden ein Vertrauen gegenüber der Sprache gewinnen? Sollen wir womöglich der Sprache gerade deswegen vertrauen, weil das »letzte Wort« nie gesprochen wird? Weil das nie fertige, nie zu Ende Gesprochensein uns immer die Möglichkeit schenkt, neu anzufangen? Das Nicht-Verstehen als Geschenk? Holt uns über die Sprache das Wort Heraklits wieder ein, wonach das einzig Feststehende die Veränderung sei? Rosenzweigs Bild vom Strom des Lebens, der sich nicht stauen lässt, tönt ganz heraklitisch. Leben und Sprache aber fließen entweder im gleichen Strombett oder zumindest in zwei parallelen, zwischen denen das Übersetzen gelingen kann, oder dem aneinander Vorbeireden wäre kein Ende. Schon Humboldts Hinweis auf die noch so kleine Verschiedenheit im Wort, wenn es der eine und wenn es der Andere spricht, bedeutet nicht Resignation, sondern Aufforderung, weiter zu sprechen, den Stau der Worte und des Sprechens nicht zuzulassen. Bloße »Kommunikation« führt dann unweigerlich zu diesem Stau, wenn die Beteiligten meinen, einander endlich zu verstehen, nachdem »alles gesagt« sei. Jedes wahrhaftige Sprechen aber weiß um den unsagbaren Rest im Sagen und dem Gesagten. Hier ist immer neuer Anlauf nötig, ein ständig neu anhebendes Sprechen. Wiederum hatte schon Humboldt die Einsicht ausgesprochen, Sprache sei streng genommen die Totalität des jedesmaligen (d. h. immer neu anhebenden) Sprechens. Rosenzweig unterscheidet die Sprache als das bereits Gesprochene vom Sprechen, wobei nur das Letztere der lebendig strömenden Wirklichkeit entspreche. Müsste es also nicht eher heißen: Dem Sprechen vertrauen und der Sprache misstrauen? Entsteht womöglich erst aus dem Misstrauen zur Sprache ein Sprechen? Wir werden sehen. Rosenzweig jedenfalls nennt es Sprechen der Seele oder »das sich Offenbaren der menschlichen Innerlichkeit, das alles andere menschliche Sich-Äußern umschließt.« 5 Dies bedeutet zum einen, dass bereits jede vorsprachliche menschliche Äußerung wie Gestik und Mimik, körperliche Bewegungen wie 5
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der Tanz und auch das Schweigen sprachlich verfasst sind. Wenn der Mensch empfindet, wahrnimmt, stammelt, singt, träumt, dann tut er es sprachlich, weil all sein Leben und Wirken in der Sprache lebt und wirkt. Zum anderen ist hier vom Offenbaren der menschlichen Innerlichkeit die Rede. Damit ist implizit bereits schon ein Anderer anwesend – tatsächlich oder zumindest in der Vorstellung –, dem gegenüber sich die Seele offenbart. Bei Rosenzweig ist der Erste unter den Anderen Gott, dem die sprechende Seele antwortet. Mit dem ersten Gespräch zwischen Gott und Mensch hebe der Strom aller Zwiegespräche zwischen Mensch und Mensch an. Indem wir »Gott« sagen, sprechen wir aus, was nicht zu benennen ist – die Frage nach Gott ist somit geradezu exemplarisch für die Suche nach Worten für das Unsagbare. Das Sprechen der Seele beginnt womöglich erst dann, wenn einem die Worte fehlen – das Innerste des Menschen tut sich nicht in Eloquenz, sondern eher im Stammeln kund. Jede Rede über Gott kann in diesem Sinne nur stammeln. Doch das Schweben der Worte im Ungewissen weckt nur unser Misstrauen gegenüber einer Sprache, die zu Information, Kommunikation und Thematisierung verkümmert. Vertrauen demgegenüber sollen wir dem Geschenk des unaufhörlichen Sprechen-Könnens, das uns vielleicht eine Annährung an das Nicht-Sagbare verheißt. Diese Bewegung des Annäherns nennt Rosenzweig die Bahn der Sprache – ihr sollen wir vertrauen, und nicht einem Zeichensystem oder einer Schulgrammatik, mit deren Hilfe wir lernen, uns zu »verständigen«. Nun kennen wir Bahnen, entlang derer oder auf denen sich etwas bewegt, üblicherweise aus der Astronomie und der Mathematik. Aber die Sprache? Erstickte in der Enge der Bahn nicht die Fülle des »Zitterns« der verschiedenen Bedeutungen? Nun wissen wir aber auch aus Astronomie und Mathematik, dass Bahnen nicht immer linear verlaufen, vielmehr von Wendungen, Kehren, Schleifen und Anomalien geprägt sind. Hören wir aber zunächst Rosenzweig selbst: »… die Sprache ist die wahrhaft »höhere« Mathematik, die uns aus dem einzelnen Punkt des selbst erlebten Wunders den ganzen Bahnverlauf des geglaubten offenbart: und ihr zu vertrauen ist leicht, denn sie ist in uns und um uns, und keine andere, wie sie uns von »außen« kommt, als wie sie aus unserm »Innen« dem »Außen« widertönt. Das Wort ist das gleiche wie es gehört und wie es gesprochen wird.« 6 6
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Dass Rosenzweig mithilfe der Grammatik über die Mathematik hinausgeht, hatten wir schon bei seiner Abhandlung über die drei Nichtse vernommen. Doch welches selbst erlebte Wunder meint er hier? Wenn für Rosenzweig ursprüngliches Sprechen die Antwort auf das Wort der Offenbarung bedeutet, dann spricht er hier wohl vom Wunder der Offenbarung. Von diesem »einzelnen Punkt« aus offenbare sich nun »der ganze Bahnverlauf das geglaubten Wunders«. 7 Der »ganze Bahnverlauf« folgt dem Geschehen von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung, an deren »Wunder« der Mensch glauben soll. Die Bahn der Sprache führt dabei vom göttlichen Du der Offenbarung zum Ich des so angesprochen Menschen zum Wir. In all diesen Pronomina ist natürlich auch das Er, Sie, Es sowie das Ihr mitgedacht sowie die verschiedenen Zeiten und Fälle, in denen sich das jeweilige Du und Ich, die verschiedenen Wir und Ihr bewegen. Der »Urgrund« dieser grammatischen Bezüge ist schon mit der Schöpfung gelegt. Wir werden die einzelnen »Stationen« dieser Bahn im weiteren Verlauf abschreiten. Doch ist nicht die Sprache selbst das Wunder? In ihrer Spur erst öffnet sich der Weg von der Schöpfung zur Offenbarung und Erlösung – oder um Rosenzweig näher zu kommen: Schöpfung Offenbarung Erlösung ohne Kommata und Bindestrich werden zu einer sich zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit entrollenden Bahn, die als Bahn der Sprache uns ermöglicht, in ihr uns als Antwortende, Hörende und Sprechende zu bewegen. Wunder der Offenbarung, Wunder der Sprache? Anders gesagt: Sprache ist Offenbarung und Offenbarung ist Sprache. Sie teilt nicht einen Inhalt außerhalb des Wortes mit, sondern im Sprechen gebietet sie, verheißt sie auf eine Weise, dass sich der hörende Mensch nicht entziehen kann, dem, was er nur undeutlich »versteht«. Er könnte misstrauisch werden, aber da die Sprache, wie sie von außen kommt, die gleiche ist, als die sie von Innen dem Außen wieder tönt, können wir ihr vertrauen. Das Wort Gottes und das Wort des Menschen ist das Gleiche, wird Rosenzweig später sagen. Wir können hinzufügen: und deswegen können wir hören, dass »Etwas gesprochen wurde« in der Offenbarung. In diesem Sinne heißt Sprachvertrauen Gottvertrauen – oder Gottvertrauen Sprachvertrauen. Schon Cohen hatte die Offenbarung ein inneres Hören genannt. Dies hat Folgen für das Sprechen zwischen Mensch und Mensch, da es aus dem Sprechen zwischen Mensch und Gott seine Lebendigkeit 7
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erst erhält. Auch hier sind die Worte, die von außen kommen, die Gleichen, wie die von Innen wider tönenden. Das Wort sei das gleiche wie es gehört und wie es gesprochen werde. Damit soll nicht das »noch so kleine Zittern in der Verschiedenheit der Bedeutungen der Worte« verwischt werden. Rosenzweig spricht nur die Tatsache aus, dass Mensch, Gott und Welt in all ihrer Verschiedenheit und Eigenart sich alle auf der Bahn der Sprache bewegen und nur durch Sprache zueinander in Beziehung kommen können. Ferner: bevor sich das Wort in eine Mannigfaltigkeit von Bedeutungen ausfaltet, tönt der phonetische Laut des Wortes aus dem Munde des Sprechenden genauso hervor, wie er ans Ohr des Hörenden gelangt. Schließlich ist auch dies eine Besonderheit der Sprache, dass der Mensch selbst hört, was er sagt. Leicht sei es von daher, der Sprache zu vertrauen, so Rosenzweig. Humboldts Satz ließe sich eben umgekehrt sprechen, so dass selbst das Nicht-Verstehen immer auch ein Verstehen ist, denn gerade das Zittern verschiedener Bedeutungen bringt uns näher zusammen, wenn wir es auskosten und uns gemeinsam auf die Suche nach den Spuren der Worte machen. Wenn alle das Gleiche meinen, verödet das Gespräch, welches eine Vielfalt der Beziehungen auffaltet – auf dem Boden des Konsenses wuchert schnellt die subtile Gewalt des mit sich selbst Identischen. Dagegen klingt in der Bahn des unendlichen Hörens und Sprechens, Fragens und Antwortens schon so etwas wie die Anbahnung einer Brücke von der höchsten Subjektivität zur unendlichen Objektivität an. Rosenzweig selbst spricht an anderer Stelle vom Zusammenhang der Menschheit, der sich im Leben und Wirken der Sprache zeigt, die Anfang und Ende der Welt durch ihre Bahn zusammenhält.
Begriff und Name Es stellt sich aber die Frage, ob es nur eine einzige Bahn der Sprache gibt oder mehrere? Die Vielfalt der Sprachen, die Summe allen Sprechens und die unerschöpflichen Möglichkeiten der Sprache auf eine einzige Bahn zwängen zu wollen, könnte in einen neuen Idealismus hinein münden, nämlich einen Sprachidealismus. Auf der einen »großen Bahn« bewegt sich der Mensch von der Schöpfung zur Offenbarung und Erlösung – und findet dafür die je eigenen Sprechweisen. Es ist der Weg vom Erzählen über das Erleben bis zur Ahnung, oder grammatisch der Weg vom Es über das Du zum Ich und Wir, wie wir 122
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noch im Einzelnen hören werden. Rosenzweig durchschreitet diese Bahn im »Stern« von Punkt zu Punkt. Aber in und neben diesem großen Strombett fließen unzählige Nebenarme wie in einem unendlich fein verästelten Flussdelta. Die Bahn der Worte, die Bahn der Gleichnisse, die Bahn der Gebote und Gebete, die Bahn der Erzählungen, die Bahn der Alltagssprache, die Bahn der Kriegs- und Friedenssprache. All diese Bahnen queren einander und können an den Knotenpunkten der Begegnung zu Verwirrungen und Missverständnissen führen – wenn z. B. jemand in der Alltagssprache zu dichten beginnt, oder jemand im Frieden die Sprache des Krieges im Munde führt. Das Wort Bahn bedeutet in diesem Sinne nur, dass wir meistens schon nach den ersten Worten, die jemand an uns richtet, wissen können, worauf er hinaus will, in welcher Lebenswirklichkeit er sich bewegt. Wenn wir geduldig sind, dann können wir ihn auf eine andere Bahn locken – er wird dann überrascht feststellen, wie sich sein »Wortschatz« allmählich erweitert. Diese Überlegungen streift Rosenzweig nur am Rande, obgleich sie alle im Sprachdenken angelegt sind. Kehren wir aber zu seinen Texten zurück. Bevor wir den Weg der großen Bahn im »Stern« zusammen mit Rosenzweig abschreiten, stimmen wir uns auf das Thema wiederum mit einem Blick in das »Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand« ein. Im Kapitel über die »Kur« präsentiert Rosenzweig quasi den »Grundriss« oder die kurze Version der langen Bahn – die Bahn der Worte, auf denen der Mensch »zur Welt kommt«, indem er die Dinge benennt. Dabei variiert Rosenzweig ein weiteres Mal das Thema der Differenz zwischen einem idealistischen »Denken der Welt« und dem Sprachdenken – wir könnten auch sagen: des Unterschieds zwischen Begriff und Name. So lesen wir: »Welcher Platz bleibt denn für die Sprache? Da es ihr anders als etwa dem »Denken« verwehrt ist sich einzureden, sie sei selber das Wesen der Welt. Es bleibt ihr nur das eine: Brücke zu schlagen zwischen der Welt und dem anderen. Und das tut sie. Was überbückt denn die Kluft zwischen Mir und der Welt? Ja, wie komme denn ich als Weltteil, Weltbürger der ich bin, dazu, einen Unterschied zwischen mir und der Welt auch nur zu behaupten? Wie komme ich überhaupt dazu, ihr gegenüber noch etwas anderes sein zu wollen als Teil unter ihren Teilen, Bürger unter ihren Bürgern? Die Antwort, dass ich sie denke, denkend und schauend spiegele, gilt ja nicht mehr. Denn sie spiegelt auch mich, mein Denken und mein Schauen … die Sprache erhebt solche Ansprüche nicht. Sie will gar nicht, kann gar nicht Wesen der Welt sein wollen. Sie gibt ihr bloß Namen. Adam nennt. Zu den Dingen finden
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sich die Worte. Wo ein Wort erklungen ist, da hat der Mensch das Zeichen seiner Anwesenheit gesetzt. Das Wort ist nicht ein Teil der Welt. Es ist das Siegel des Menschen.« 8
Scheint dies nicht ein Widerspruch zu sein? Zum einen bewegen sich Welt, Mensch und Gott für sich und aufeinander hin nur auf der Bahn der Sprache, und nun erklärt Rosenzweig schroff, das Wort sei nicht Teil der Welt und die Sprache nicht ihr Wesen? Doch Rosenzweig sagt nur das für sein Sprachdenken Offensichtliche: wäre die Sprache ein Teil der Welt, dann wäre die »Welt« mehr als die Sprache, es gäbe nach Schöpfung und Offenbarung noch eine Welt vor der und außerhalb der Sprache. Gerade dies bestreitet aber das Sprachdenken, indem sich hier das Verhältnis umkehrt: die Welt wird zu einem Teil der Sprache. Das Wort ist demnach nicht nur »in der Welt«, sondern vielmehr ist die Welt im Wort, in der Sprache aufgehoben, so wie es das hebräische Wort »teba« besagt, das nicht nur »Wort« bedeutet, sondern auch Gefäß, Schiff, Arche. In dieser »teba« ist nach hebräischem Verständnis auch der Mensch über den Strom der Zeiten hinweg unterwegs. Setzen wir somit in der Teba (im Wort) über die Kluft hinweg, die sich zwischen Mensch und Welt auftut? Aber warum sprechen wir überhaupt von Kluft? Das Identitätsdenken möchte gern die Differenz zwischen dem Du, dem Ich, dem Wir, Ihr sowie dem Er, Sie, Es verwischen, es behauptet eine universalistische Schau, in der Alles zu sich selbst kommt, auch das Andere geht schließlich im Selben auf. Anders gesagt: der Idealismus möchte die »Kluft« zwischen Subjekt und Objekt (Mensch und Welt) mithilfe des begrifflichen Denkens schließen. Die Begriffe sollen es ermöglichen, die Welt zu verstehen, um sie sich dann anzueignen. Wenn die Welt – maßstabsgerecht verkleinert – im extremen Fall des »reinen Idealismus« zu einem Gedanken des Menschen schrumpft, dann schrumpft auch der »Unterschied zwischen mir und der Welt« auf ein Nichts zusammen. Dieser »Zaubervorgang« der maßstabsgerechten Spiegelung der Welt im menschlichen Denken bedient sich der Sprache als eines reinen Werkzeugs, sich Zugang zur Welt mithilfe des »Zauberworts« zu verschaffen. Das »Password« unserer rechnergesteuerten Gesellschaft bezeichnet diese Reduzierung des Worts auf einen Zugangscode ungeschminkt. Franz Rosenzweig: Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand, Joseph Melzer Verlag 1964, S. 73
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Schon längst vor Einführung des Computers hatte der Begriff die Eigenschaft eines Zugangscodes angenommen. Der Begriff soll den Gegenstand einordnen, die Vielfalt seiner Erscheinungen unter den oder auf den Begriff bringen. Die Vielfalt soll sich dergestalt der Einheit begrifflichen Denkens unterordnen, damit der Mensch die Welt sich denkend aneignen kann – oder wie Rosenzweig sagt, der Mensch sich denkend und schauend spiegele. Im Gegensatz zum Denken aber erhebt die Sprache nicht den Anspruch der Spiegelung bzw. der Abbildung von etwas. »Sie gibt bloß Namen«! Mit der Nennung des Namens wollen wir uns das Benannte nicht aneignen, sondern uns zu ihm in Beziehung setzen. Es gibt sicher Fälle, in denen jemand beim Namen genannt oder aufgerufen wird, weil man ihn befehligt und somit benutzt, sich ihn also aneignen und unterwerfen möchte. Ansonsten verleiht die Nennung des Namens keine Gewalt über den Anderen, mit der Nennung des Namens sind wir sogar weit davon entfernt, den Angesprochenen wirklich zu kennen. Die Nennung des Namens ist bestenfalls Anfang des Kennenlernens, des in-Beziehung-Setzens – während der Begriff suggerieren soll, dass wir mit einer Sache fertig geworden sind. Dementsprechend gibt es für Rosenzweig keine »Deckungsgleichheit« zwischen Namen und benanntem Ding, der Name ist weder das Ding noch bezeichnet er dessen »Wesen«. Die Namensgebung oder die Benennung der Dinge ist vielmehr ein »öffentlicher Akt«, der nicht die Wirklichkeit abbildet, sondern das Geflecht sich stets bewegender und neu entstehender Beziehungen zwischen Mensch, Welt und Gott ver-wirklicht. Wir werden auf diese Komplexität der Namensgebung im übernächsten Abschnitt ausführlicher eingehen. Hier sei noch ein Wort zum Eigennamen gesagt: der Name als Eigenname »ist mehr« als die Person, die wir in ihrem Namen ansprechen. Denn wenn wir fragen, wer dieser oder jener sei, was seine »Persönlichkeit« ausmache, dann mögen wir dieses und jenes aufzählen, aber »vollständig« werden wir diesen Menschen nie beschreiben. Die ständigen Veränderungen seiner »Persönlichkeit«, die geheimen Winkel seiner Seele, vor allem wer er hätte werden können, dies alles gehört zu ihm, wird aber häufig übersehen oder gar nicht wahrgenommen. Im Eigennamen aber ist all dies »aufgehoben«, der Name ist gewissermaßen das Dauernde, welches die ständigen Veränderungen des Namensträgers »überdauert«, was also bleibt, und insofern die Kontinuität der Person über die Zeiten hinweg ermöglicht: »Der Name A
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ist nicht »Wesen, er ist etwas anderes. Er ist aber so bleibend, wie das »Wesen« sein müsste …« 9 Rosenzweig spricht auch von der Doppelnatur des Menschen, insofern er über den Geschlechtsnamen an die Vergangenheit der vorherigen Generationen gebunden ist, während sich im Eigennamen die zukünftige Erwartung an seine Person ausspricht. 10 Wenn das Neugeborene einen Namen bekommt, sind in diesem Namen schon Erwartungen Anderer an ihn oder sie mit gesagt; und auch die Verpflichtung, dem gegebenen Namen gerecht zu werden. In diesen Erwartungen und Hoffnungen »überlebt« der Eigenname die in ihm Angerufenen, die ursprünglich ihren Namen von denen erhielten, die schon lange verstorben sind. Auf diese Weise verbindet sich im Namen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Mit dem Namen wird man angesprochen und in die Mitte des Lebens gerufen, auf dass niemand der Namenlosigkeit zum Opfer fiele. Im Namen laufen alle Erinnerungen, Hoffnungen, Enttäuschungen, verpassten Möglichkeiten, Stolz und Freude an Erlebtes, aber auch alle Schuld und alles Verfehlen in einem einzigen Wort zusammen. Deswegen wird im Eigennamen auch die Einzigkeit der Person genannt, der Name ist nicht reduzierbar auf einige wenige Merkmale und also nicht übersetzbar. Gattungsnamen oder Namen, die wir den Dingen oder den Worten geben, sind zwar übersetzbar, aber auch in ihnen klingt die Unbestimmtheit und Vielfalt der Bedeutungen mit, die aus dem Ineinanderwirken verschiedener Zeiten folgen – sowie all das Ungesagte und vielleicht niemals Sagbare, das auch dem Eigennamen seine Unübersetzbarkeit und somit Unreduzierbarkeit verleiht; denn hinter jedem Name verbirgt sich, besser gesagt in jedem Namen lebt und webt eine ganze Geschichte, ein Mythos, ein Phantasiegebilde, mit dessen Aussprechen Menschen den Sinn der Welt umkreist haben – wie der Dichter Bruno Schulz sagt: »die nüchternsten Begriffe und Definitionen sind entfernte Derivate der Geschichten und Mythen von früher …« 11 Die Namen wären demnach »weniger entfernte Derivate«. Kommen wir also im Wort und mit dem Wort zur Wirklichkeit der Welt? Wenn wir mit dieser Frage der Versuchung erliegen, die Wirklichkeit lediglich als ein Gegebenes zu konstruieren, dann verharrten wir Ebd., S. 43 Ebd., S. 89 11 Bruno Schulz: Die Mythisierung der Wirklichkeit, in: Die Zimtläden, Deutscher Taschenbuch Verlag, 2009, S. 150 9
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nach wie vor in einem mehr oder weniger statischen Modell scheinbar dynamischer Subjekt-Objekt-Beziehungen. Dann in der Tat bräuchten wir nur noch das Password zur Entschlüsselung dieses Gegebenen. Dagegen erhebt der Dichter – noch einmal Bruno Schulz – Einspruch: »Wir halten das Wort üblicherweise für den Schatten der Wirklichkeit, für ihr Abbild. Richtiger wäre die umgekehrte Behauptung. Die Wirklichkeit ist der Schatten des Wortes.« 12
Auch Rosenzweig kehrt schon in obigem Zitat – zumindest implizit – die Frage nach der Wirklichkeit um: Wirklichkeit ist nicht ein Gegebenes, zu dem wir durch Denken oder Sprechen »kommen«, sondern Wirklichkeit entsteht erst im jedesmaligen Sprechen oder Benennen der Dinge: »Wo ein Wort erklungen ist, da hat der Mensch das Zeichen seiner Anwesenheit gesetzt«. Erst jetzt ist eine Beziehung zwischen dem Menschen und der Welt gebaut – anders gesagt: erst jetzt, im Nennen des Wortes und des Namens, geschieht die Wirklichkeit als ein Aufeinanderwirken von Mensch und Welt. Mit dem Namen verbindet sich jedoch in der jüdischen Überlieferung noch ein Weiteres, das wir als Sprachmystik oder Gottesfurcht oder Offenbarungsglauben kennen. Gershom Sholem hat ausgeführt, dass nach der jüdischen Mystik des 12. und 13. Jahrhunderts die ganze Tora aus den 72 Namen Gottes bestehe. 13 Es gab sogar die Auffassung, wonach die Tora als Ganzes nur den einen großen Namen Gottes bilde (»Die fünf Bücher der Tora sind der Name des Heiligen«). Der Name (hebräisch Schem) hat im religiösen Gefühl der Juden eine unerschöpfliche Sprachkraft – denn während Gott selbst unsichtbar und unnennbar blieb, »war sein Name im Tempel anwesend« und wurde so zum Inbegriff des Heiligen und Ewigen, denn »der Name lebt und besteht in Ewigkeit, während selbst Himmel und Erde vergehen«. 14 Es scheint paradox, dass der Name Gottes nicht genannt werden darf, und dennoch die ganze Sprache, die Schrift und die Tora nur aus den Namen Gottes bestehen sollen. Sholem macht deshalb folgende Unterscheidung: der Name Gottes dürfe zwar nicht aus-gesprochen, aber an-gesprochen werden. 15 Ebd., S. 152 Gershom Sholem: Der Name Gottes und die Sprachtheorie der Kabbala, in: Judaica 3, Bibiliothek Suhrkamp 1973, S. 28 f. sowie S. 47 14 Ebd., S. 14 15 Ebd., S. 15 12 13
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Dieses Ansprechen oder Anrufen Gottes geschieht natürlich im Gebet, aber wenn wir der sprachmystischen Auffassung des Judentums einen Raum geben, wonach die ganze Schöpfung durch den Namen Gottes erfolgt ist – die Schöpfung quasi eine Ausfaltung des göttlichen Namens ist – dann sprechen wir in jedem Namen, den wir einem Menschen oder einem Gegenstand geben, zugleich auch den Namen Gottes an. Auch die Offenbarung ist im Übrigen nach dieser Auffassung nichts anderes als die Selbstoffenbarung des un-aussprechlichen göttlichen Namens. Nun hat zwar Rosenzweig unter anderem den in mystische Traditionen eingebundenen Jehuda Halevi übersetzt, aber es wäre doch unzulässig, Rosenzweig in den Bereich der Sprachmystik oder der Kabbala schieben zu wollen. Und dennoch: jeder denkende Mensch, der sich – ob im 18. oder im 20. Jahrhundert – um die Erneuerung der jüdischen Wurzeln bemüht hat (und darum geht es selbstverständlich auch im »Stern«), hat immer auch aus den älteren jüdischen Traditionen bewusst oder unbewusst, explizit oder implizit geschöpft. Und so wird uns ein kurzer Blick (oder besser ein Hinhören) auf das »mystische« Verständnis der Sprache im Judentum helfen, das Sprachdenken Rosenzweigs deutlicher in die großen jüdischen Traditionslinien eingeschrieben zu finden. Deshalb folgt ein kurzer Einschub zum »jüdischen Verständnis vom Ursprung der Sprache« nach Friedrich Weinreb, der kein »Sprachmystiker« aus vergangenen Zeiten war, sondern der die jüdische Weisheitslehre, wie sie sich aus dem Wort, der Zahl und dem Buchstaben entwickelt hat, in unserer Zeit erneuert hat.
Das jüdische Verständnis vom Ursprung der Sprache »Im Anfang war das Wort – und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort« … diese biblischen Worte kennen wir alle, aber was bedeuten sie uns heute? In der griechischen Übersetzung wurde das Wort zum Logos, woraus die Logik sich ableitet, da »Logos« auch Ordnung, Gesetz, Reihe bezeichnete. Im Hebräischen sprengt das Wort jedoch die Logik – es ist göttlicher Geist-Hauch und körperliches Zeichen, das Jenseitige im Diesseitigen. So bezeichnet Weinreb es, bei dem wir auch eine vorläufige Antwort auf die Frage finden, wie aus jüdischer Sicht das Wort Wirklichkeit werde. »Im Anfang war das Wort« – war da tatsächlich ein Wort oder ein Buchstabe oder nur ein Atmen? Weinreb erinnert an das »Erste«, das sich im hebräischen »Ruach« als Geist128
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Hauch ankündigt, der dem ersten Buchstaben Alef vorausgeschickt wurde. In diesem Geist-Hauch teilte sich Gott dem Menschen mit, kaum vernehmbar, denn dieser erste Hauch wurde gar nicht oder nur undeutlich gehört, wobei er in allen folgenden Buchstaben, Worten und Sätzen jedoch mitschwingt, auch ungehört und ungesagt. Nach jüdischem Verständnis – hier bewegt sich Weinreb auf den Pfaden der »Sprachmystik« – ist jeder Buchstabe ein Name, und jedes Wort ein Name Gottes, denn alle Zeichen und Buchstaben habe Gott in einem Kelch aufbewahrt, deren Inhalt er immer aufs Neue mische, um neue Geschichten, Bedeutungen und Welten zu erzählen. Der (göttliche) Name als Ursprung, als agens der Schöpfung – hier begegnet uns diese jüdische Überlieferung erneut. Um in diesem Strom aus vielfältig zu Mischendem, aus undeutlichen und unhörbaren Lauten eine Orientierung zu gewinnen, habe man die Schriftzeichen – die Konsonanten – aufgeschrieben, in denen das Wort erscheine. Sie seien der sinnlich wahrnehmbare Körper des geistigen Hauches – der diesseitige Ausdruck von etwas, was aus dem Jenseits komme. Durch die Schriftzeichen jedoch hätten sich die Menschen zu der Annahme verleiten lassen, in den Zeichen, den Konsonanten sei schon Alles enthalten. Aber nur in den Konsonanten ließe sich die Welt nicht aussprechen. Es fehlt in ihnen die andere Seite der Wirklichkeit, der geistige Hauch, der in den Vokalen lebe. Aber die Vokale ließen sich weder in ihrem Klang noch in ihrer Bedeutung festlegen, und so habe man 2000 Jahre gezögert, sie in die Schriftsprache aufzunehmen. Es besteht also eine beinah unerträgliche Spannung zwischen dem geschriebenen und dem gesprochenen Wort – wobei wir an dieser Stelle gar nicht auf die sehr komplexe Auseinandersetzung zur Frage des schriftlichen oder mündlichen Ursprungs der Sprache eingehen können und wollen, die z. B. zwischen Derrida und Levinas geführt wurde. In jedem Fall aber enthält das Wort mehr als das Zeichen, in dem es sich im Hier und Jetzt zeigt. Die – 2000 Jahre lang nicht sichtbaren – Vokale machten das Wort lebendig, allerdings nur durch einen Menschen, der sich im Sprechen dem ganzen Wort mit seinem Klang und seiner Melodie hingebe. Dieser körperliche Vorgang des Sprechens ist die Voraussetzung, den Geist des Gesprochenen lebendig werden zu lassen. Nicht nur im Hebräischen ist das Wort für Sprache identisch mit dem für Zunge – ein Hinweis darauf, dass beim Sprechen Mund, Zunge, Lippen, Zähne, Gaumen, und über den Atem schließlich der ganze Körper mitwirkten. »Es heißt deshalb: wie du die Worte der Thora nicht nur mit den A
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Augen lesen, sondern mit dem Mund sprechen sollst, wobei dein ganzer Körper mitwirkt, so sollst du auch die Dinge und die Menschen um dich herum erfahren: spreche sie aus, indem dein Sein, dein Körper, dein Dasein sie erlebt, dadurch werden sie erst.« 16 Das Sprechen der Worte also bewirkt das Werden der Wirklichkeit, lässt Wirklichkeit als das Aufeinanderwirken von Mensch und Welt geschehen. Erst im mit-erlebenden Sprechen – also Benennen – der Dinge und Menschen werden diese. Das gesprochene, im wirklichen Sinne gesungene Wort hat die Kraft, eine lebendige Beziehung zwischen Mensch und Welt, Mensch und Mensch wirksam werden zu lassen. Im lebendigen Wort ereignet sich ein Aufeinander- und Zusammenwirken zwischen dem Sprechenden und dem Angesprochenen. Da jedes Wort und jeder Satz mit seinen Vokalen und den Konsonanten immer beides enthalte – Geist und Körper, Jenseits und Diesseits – bewegten sich Wort und Sprache im stetigen Wechsel zwischen dem Materiell-körperlichen und dem Geistigen, nicht konkret »Fassbaren«. Da der Mensch selbst im Zwischen lebe – zwischen dem Diesseits und dem Jenseits –, sei er zum Sprechen und die Sprache für ihn geschaffen. Nur der Mensch könne die Laute, die Vokale des geistigen Hauches sprechen und somit die Worte (der Bibel) weiter tragen. Wir haben schon das hebräische Wort »teba« kennen gelernt, das so viel wie Gefäß, Kästchen, aber auch Arche und schließlich Wort bedeutet. Es soll also etwas hineingelegt werden zur Aufbewahrung. Hier soll nicht der ganze Text Weinrebs exzerpiert werden, in dem er aus dem Zusammenhang von Buchstabe, Zahl, Wort und Satz die wichtigsten Geschichten des Alten Testaments zu einer ganz ungewöhnlichen und diesseitigen Lebendigkeit erweckt. Aber aus dem Gesagten erhellen ohne weitere »Erklärungen« die vielfältigen Verbindungen, die das Wort »teba« stiftet: Mensch und Tier überleben die Sintflut in der Arche, Moses wird in ein Kästchen gelegt und in diesem aus dem Wasser gezogen – und in das Wort haben die Menschen all jenes hineingelegt, das von Generation zu Generation weitergegeben werden sollte. In der »teba« können wir über-setzen in ein anderes, neues Leben, zu anderen Menschen, anderen Sprachen und Kulturen – und in der »teba« habe Gott sich von Jenseits her dem Menschen mitgeteilt. Weinreb nimmt dem Wort »Jenseits« jeglichen Hauch des Entrückten: Friedrich Weinreb: Wort, Sprache und Sprechen – jüdische Überlieferung vom Ursprung und Wesen der Sprache, Verlag der Friedrich Weinreb Stiftung 2008, S. 27
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wenn Alles, also auch das Ewige, Göttliche, Jenseitige in das Wort hineingelegt wurde, dann sei es doch schon hier im Diesseits. Nicht sei es unsere Aufgabe, auf ein Jenseits hin uns fromm und gläubig zu geben, denn auf diese Weise würden wir aus dem Jenseits nur eine Kategorie des Denkens machen und es damit von uns fernhalten, es in eine unbestimmte Zukunft verschieben. Vielmehr sollten wir dem Namen der »teba« auf der Spur bleiben: denn er heißt auch Hineinlegen, was nichts anderes bedeutet als dass jedes Wort als Name sich danach »sehnt«, dass etwas hineingelegt wird – oder dass es bzw. er immer neu ausgelegt wird. Dies ist eine andere Weise zu sagen, dass im Namen die verschiedenen Zeiten sich einander durchdringen, dass im Namen immer schon alle Namen sowie auch alles Zeiträumliche und das Ewige mit zu hören ist. 17 Wort und Name reichen nach Weinreb in alle Dimensionen des diesseitigen und jenseitigen Lebens hinein, es erscheint in ihnen eine unendliche Vielheit an möglichen Verknüpfungen zwischen Namen, die wir Worte nennen – all dies im Unterschied zum Begriff, in dem man danach strebt, die Vieldeutigkeit zu vermindern. In diesen kurz eingestreuten Bemerkungen ist bereits vieles angesprochen, das wir im weiteren Verlauf auf Rosenzweigs Bahn der Sprache bzw. in seinem Sprachdenken kennen lernen werden.
Die Bahn der Namensnennung Die Kluft zwischen Wort und Ding schließt der Name nicht, in ihm öffnet sie sich vielmehr auf je neue Weise. Tatsächlich hat bereits Humboldt sich der Wahrnehmung dieser Kluft gestellt und daraus die Bedeutung des jedesmaligen, neu anhebenden Sprechens hergeleitet: »Aber das Wort gleicht einem Scheinobjekt … die Kluft zwischen dem Wort und seinem Gegenstande … die Sprache kann nur so zur Wirklichkeit gebracht werden, dass an einen gewagten Versuch sich ein neuer anknüpft …« 18 Dabei müsse das Wort seine Wesenheit in einem Hörenden und Erwidernden gewinnen, womit Humboldt nicht nur dem »dialogischen Denken« den Weg bereiten half, sondern sich dem jüdischen Begriff der Zeugenschaft näherte, von der wir noch hören werden. Sprache als das Knüpfen eines »gewagten Versuchs an den 17 18
Ebd., S. 218/219 Wilhelm von Humboldt: Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus, S. 201/202 A
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nächsten« schließt zwar die Kluft zwischen Wort und Ding nicht, schlägt aber laut Rosenzweig eine Brücke über dieselbe. Dies geschieht im Nennen der Namen, wenn die immer neu anhebende Namensnennung ein anderer Name für Humboldts »gewagten Versuch« ist. Rosenzweig nennt diesen »gewagten Versuch« die »Vielgespaltenheit« von Wort und Sprache: »… die Sprache des Menschen ist vielgespalten; was hat das Wort (der Name, F. H.) mit seinem Ding zu tun? Wo viele Worte (Namen, F. H.) sich um ein Ding scharen und kaum zwei genau das gleiche meinen …« 19
Im Unterschied und in Ergänzung zu Humboldt wird für einen jüdischen Autor, wenn er von der Vielgespaltenheit der menschlichen Sprache (als Name dafür, dass zwei nie genau das Gleiche meinen) spricht, immer der biblische Text eine der Quellen sein. In unzähligen Versionen sind die Geschichten vom Turmbau zu Babel sowie dem Tanz ums goldene Kalb kommentiert worden. Während Babel auch ein Name für die Verwirrung der Sprache ist, wird die Errichtung des zu Edelmetall erstarrten Kalb-Monuments als versuchte Zähmung der Worte, ihre Festlegung auf den einen Sinn ausgelegt. Moses’ Antwort darauf war die Zertrümmerung der Gesetzestafeln, woraufhin die auf die Tafeln eingeritzten Buchstaben gen Himmel auseinander geflogen sind. Seitdem ist ihr Sinn verhüllt und in alle Winde zerstreut – also auch eine Form der Sprachverwirrung. In jedem Fall hat der Mensch den Zugang zu dem einen Sinn der Buchstaben und Worte verloren, die in unzählige Sinnmöglichkeiten ausufernde Mehrdeutigkeit von Wort und Name verpflichtet den Menschen zum ständigen Übersetzen, Auslegen, Kommentieren und neuer Namensnennung. An Beispielen dafür, wie sich um ein Ding viele Worte scharen, mangelt es schon beim Nennen alltäglicher Phänomene nicht, versucht man einmal, die vielen Namen für die Vielfalt der Erscheinungsformen von Schnee oder Regen zu überschlagen. Da sprechen wir vom Schauer, Guss, Nieseln, Platzregen, Schnürregen, Gewitter usw. Der Schnee kommt neben Pulverschnee, Pappschnee oder Nassschnee auch als Harsch oder Sulz daher. Bemühen wir jedoch ein eher philosophisches Beispiel für die Vielheit der Worte, die sich um ein Ding scharen. Hierbei tritt zugleich auch der Reichtum an sinnlicher Vielfalt bei gleichzeitiger Überset19
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zung des Sinnlichen in die Sphäre des Denkens, Handelns und Unsinnlichen in einem Wort zutage: die Rede ist von der Vielgespaltenheit des Wortes Kap, wie sie Jacques Derrida in seinem kleinen Aufsatz »Das andere Kap« auffächert. Schon in den Namen (Land)-zunge oder (Land)-spitze wird das zunächst »geographische« Phänomen des Kaps ins Körperliche übersetzt. Da Kap sich aus dem lateinischen »caput« ableitet, steht das Kap auch für das Haupt, die Erhöhung. (Der Kapitän und die Kapitale werden zu weiteren wichtigen Figuren in Derridas Text). Ganz anders konnotiert hören sich weitere Namen für das Kap an: Ausläufer und Anhängsel. Hier kommt etwas an sein Ende bzw. ist nur das Ende, der Fortsatz von etwas Größerem – und so wird das Kap auch zum Ende der bekannten Welt, zur Grenze, zum Abschluss oder zum Telos von etwas. Dreht man die Perspektive auf »Angriff«, dann benennen wir die Vorgeschobenheit des Kap mit Namen wie Vorstoß, Vorhut, Vorsprung, Bug, Schnabel, Feder. In diesen Namen klingen für Derrida bereits Intentionen des Zugreifens, in-Besitz-Nehmens, der Avantgarde wie des Avancen-Machens mit, in jedem Fall aber benennen diese Worte nicht das Ende (Telos), sondern den Anfang von etwas (arche). Der Befehl, der Vorstoß, die Unterwerfung, die Hegemonie (auch die der Ideen) ertönen im Namen Kap genauso wie das Ende. Ohne hier auf die zeitweilige innige Durchdringung von Anfang und Ende (als Telos) einzugehen (der Feldherr, Politiker, idealistische Denker denkt den Anfang immer schon vom Ende her oder wird eben nie beginnen oder ein »klar definiertes Ziel«), so führt Derrida die »schnabelhafte« Spaltung im Namen des Kap (in Anfang und Ende) zu der sicher nicht neuen Einsicht, dass jeder Name, jedes Wort auch sein Gegenteil sagen kann oder schon enthält. Er gibt dieser Spaltung den Namen des Mit-sich-selbst-Differierens. 20 Adorno forderte seinerzeit im Hinausgehen über den Begriff, das Nicht-Identische im Wort herauszuarbeiten. Damit erhellt in einer weiteren Variation die Bedeutung des Namens gegenüber dem Begriff: im Namen wird immer schon das Nicht-Identische, das Mit-sich-selbst-Differieren auch gesagt. Wobei das »Mit-Sich« ein weiteres Paradox darstellt: auch in der Differenz bleibt das Differierende auf eine bestimmte Weise doch bei sich. Der unbedarfte Leser könnte spätestens hier das gerade heranreifende Vertrauen zur Sprache flugs wieder verlieren, da Sprechen als Namensnennung zunächst einmal Verwirrung stiftet. Rosenzweig 20
Jacques Derrida: Das andere Kap, Edition Suhrkamp 1992, S. 22–38 A
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steigert dieselbe sogar noch, wenn er sagt, das Wort des Menschen sei stets in jedem neuem Munde wieder erstes Wort! Diese unentbehrliche Einsicht wurde in der praktischen Philosophie selten zur Kenntnis genommen. Warum unentbehrlich? Weil es keine Wiederholung der Sprechsituationen geben kann, jedes Aussprechen ist einmalig und einzigartig. Jedes »aber«, »immer«, jedes »Verlangen«, »Glauben« usw. tönt nicht nur neu im neuen Mund, sondern es wird immer wieder zum ersten Mal gesprochen, weil Sprechen situationsgebunden ist. Die Vielgespaltenheit der Worte wirft bei jedem Sprechen sofort die Frage auf: wer spricht wann zu wem und warum? Der einzelne Wer ist jedoch heute ein anderer als morgen. Sprache und Sprechen reflektieren nicht nur, in ihnen ereignet sich der Strom der ständigen Veränderung von Mensch und Welt. Dennoch gibt es bestimmte Kontinuitäten – Rosenzweig bezeichnet sie mit Bahn. Jeder einzelne hat von frühester Kindheit an seine eigene Bahn des Erlebens, auf der er die gesprochenen und gehörten Worte mit einer unzähligen Vielfalt an subjektiven Eindrücken, Begegnungen und Bezügen verbindet, aber auch deswegen ist das von ihm gesprochene Wort im Strom der Sprache immer ein neues und erstes. Man könnte sagen, dass diese Milliarden Bahnen des subjektiven Erlebens alle in die Bahn der Sprache einmünden. Oder verhält es sich umgekehrt? Da Empfindungen subjektiv sind, also sich nur bedingt übersetzen lassen, kommt – gerade nach jüdischem Sprachverständnis – ein Weiteres hinzu, und zwar die Bedeutung der Zeugenschaft. Zwischen dem Namen und dem benannten Ding (oder dem benannten Menschen) entsteht erst dann eine lebendige Beziehung, wenn die Namensgebung öffentlich – also unter Zeugen – geschieht. Laut Rosenzweig müssen sowohl das benannte Ding als auch die Menschen anwesend sein, denen dieses Ding unter neuem Namen gezeigt werden soll. Es sei ein Urrecht des Menschen, jedem Ding jederzeit einen neuen Namen zu geben, aber nur unter der Voraussetzung, dass dies wie in der Offenbarung öffentlich geschieht. So wie die Offenbarung am Sinai ohne Zeugen nicht verbürgt wäre und auf die Nachwelt nicht hätte überliefert werden können, so bedingt die Zeugenschaft beim Benennen der Dinge die Überlieferung der Namen und Worte über den Strom der Zeiten hinweg. Mögen die Worte vielgespalten und unwiederholbar sein, willkürlich sind sie nie gewählt, dafür bürgen die Zeugen. Kann man das so sagen? Es könnte doch jemand auf die Idee kommen, die Anwesenheit von Zeugen beim Benennen der Dinge als 134
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»Verabredung« zu deuten: es haben sich um das zu benennende Ding drei oder dreihundert Personen versammelt und sich auf einen Namen geeinigt, der nun fortan verabredungsgemäß als dieser Name für dieses Ding gilt. Dann wäre aber tatsächlich das Wort nur Zeichen und die Sprache nur Konvention. Abgesehen davon, dass jede Sprache zur reinen Konvention degenerieren kann, versteht Rosenzweig die Namensnennung nicht als endgültigen, sondern als vorläufigen Akt. Das Ding nähme im Laufe der Zeiten verschiedene und immer wieder neue Namen an, so werden wir noch von Rosenzweig hören. Gerade weil auch die Namensgebung immer nur eine Annäherung an die Vielfalt und Veränderlichkeit des Lebens, ein »neuer gewagter Versuch« im Strom der Sprache darstellt, nach neuen Spuren des unverständlichen Worts und des nicht weniger geheimnisvollen Lebens zu haschen, ist der einst gegebene Name nie das letzte Wort. Die Anwesenheit von Zeugen besagt lediglich, dass jedes Sprechen eines ent-sprechenden Hörens bedarf. Gerade wenn das Wort und der Name nicht eindeutige Zeichen sein sollen, sondern aus ihnen das Wirken des Lebendigen emporsprießen soll, müssen drei anwesend sein: Ding, Sprecher und Hörer. Vielleicht verstehen wir dies besser am Beispiel der von Bruno Liebrucks so genannten Dreistrahligkeit der semantischen Relation. Liebrucks zeigt auf, wie das Sprachdenken die einfache Vorstellung einer Subjekt-Objekt-Relation aufhebt: »Der Laut zeigt nach drei Seiten: 1. zum sich und die Dinge ausdrückend-darstellenden Sprecher, 2. zum Angesprochenen, der in Richtung auf den Partner ein Signal gibt, worauf dann beide 3. in Richtung aufeinander und in Richtung auf das »über« die Dinge Ausgesagte sehen. Wir sehen hier die Sprache als Umweg, wir bezeichnen nicht direkt die Wirklichkeit um uns her, sondern mit der Sprache umschreiben wir sie. Die Dreistrahligkeit der semantischen Relation heißt: jede menschliche Rede hat die Eigentümlichkeit, dass sie immer etwas von dem enthält, der spricht, immer etwas von dem, der angeredet wird, und immer etwas von der Sache, »über die« gesprochen wird. Dieser nach drei Seiten gerichtete Grundcharakter aller menschlichen Aussagen zeigt schon die nur eingeschränkte Bedeutung der berühmten SubjektObjekt-Relation innerhalb der menschlichen Erkenntnis …« 21
Hier wird zum einen die Zeichentheorie der Sprache ausgehebelt: das Wort bildet nicht etwa zeichenhaft die »Wirklichkeit« der Dinge, es Bruno Liebrucks: Sprache und Bewusstsein, Akademische Verlagsgesellschaft Frankfurt/Main 1964, Band 1, S. 217/218
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bezeichnet also nicht einfach ein Ding, sondern in ihm »kristallisiert sich« vielmehr der Eindruck, den der »Bezeichnende« vom Ding hat, womit das Wort beinah mehr über ihn als über das Bezeichnete aussagt (zumindest aber nicht weniger). Ferner widerspricht die Dreistrahligkeit dem Sender-Empfänger-Modell: wenn überhaupt solch technischmechanische Vokabeln ein sprachliches Geschehen benennen sollen, dann wäre zumindest jeder der beiden – der Sprechende und der Angesprochene – sowohl »Sender« wie auch »Empfänger«, und tatsächlich zeigt der Laut auf den »sich und die Dinge ausdrückend-darstellenden Sprecher«, d. h. dieser selbst empfängt sein eigenes Wort. Aber was wird eigentlich »gesendet« und was »empfangen«? Eben keine »Information«, keine »Definition«, keine »Bezeichnung« und auch kein »Begriff« – dies sind alles Namen, die der Zeichentheorie die »Ehre erweisen« sollen, indem sie glauben machen möchten, dass wir mithilfe von Zeichen und Worten die Welt der Objekte zupackend erfassen oder die Wirklichkeit feststellend bezeichnen können. Gerade dies leugnet Liebrucks und spricht vom Umweg, von der Umschreibung der Wirklichkeit durch die Sprache. Was »gesendet« und »empfangen« wird, ist ein vielschichtiges Geflecht von fließenden Bezügen zwischen dem Sprechenden, dem Angesprochenen und dem besprochenen Ding. Nicht nur »enthält jede menschliche Rede« etwas vom Sprecher, vom Hörer und von dem benannten Ding, sondern vor allem etwas von den je sich wandelnden Relationen zwischen den Dreien. Das Wort benennt nicht nur den Eindruck, den das Ding auf den Sprecher ausübt, sondern bereits dessen »Eindruck« von dem Anderen und dessen vermeintlicher Auffassungs- und Wahrnehmungsfähigkeit in Bezug auf das benannte Ding und das gesprochene Wort. Diese Wort- und Namenssuche ereignet sich deswegen – zumindest bei aufmerksamen und sensiblen Naturen – wie ein wackliger Gang oder unsicherer Tanz auf einem gespannten Seil, da der Sprecher die Vermutungen über den Anderen und die eigenen Eindrücke nie endgültig und eindeutig sagen kann. Hier kommt nun ein Weiteres jener »Dreistrahligkeit der semantischen Relation« zum Tragen: der Laut zeigt auf den sich (und seine Eindrücke vom Ding) ausdrückenden Sprecher, d. h. dieser hört sich selbst, sein eigenes Ohr fängt das von ihm gesprochene Wort wieder auf. Dieser Vorgang ist geradezu notwendig, um bei besagtem Tanz auf dem Seil nicht abzustürzen, denn nur im Hören des selbst Gesagten lässt sich ein drohender Sturz ausbalancieren, indem ein »falsches« Wort korrigiert oder zurückgenommen wird. Nicht zuletzt in diesem 136
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hochgradig vielschichtigen Prozess des Sprechens und Benennens entsteht jene Atmosphäre aus geistigem Hauch und körperlicher Artikulation, die wir Wirklichkeit nennen – nicht die Wirklichkeit des Dings, sondern die Wirklichkeit des Aufeinanderwirkens zwischen Zweien und einem Ding, zwischen zwei »Subjekten« und einem »Objekt«. In der »Dreistrahligkeit der semantischen Relation« erscheint eine philosophische Dimension, die letztlich zu einer buchstäblichen Relativierung des Subjekts führt. Buchstäblich insofern, als dass schon im »einfachen« Akt des Sagens oder Benennens das Subjekt immer in eine Relation zum Anderen, zum Gegenstand und zu sich selbst »hinein gerät«. Mehr als buchstäblich, d. h. dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend, hieße Relativierung des Subjekts dessen Zurücknahme oder Verminderung in Relation zu den vielfältigen Bezügen, die im gesprochenen Wort benannt sind. Der Sprecher wird sein eigener Zeuge. Es wird ihm sein Wort nicht nur von dem anwesenden Zweiten bezeugt, sondern er selbst kann es bezeugen. Warum bedeutet dies eine »Zurücknahme des Subjekts«? Weil der Sprecher hört, dass er nicht nur »etwas« über ein verdinglichtes Objekt oder den von ihm Angesprochenen sagt, sondern auch über sich selbst. Ferner vermag er sich im Hören seiner eigenen Worte bewusst zu werden, dass er mit diesen Worten einen Raum von Bezügen schafft, in den er ab sofort mit eingebunden ist. Indem er spricht, steht er nicht mehr draußen, er kann sich dem eigenen Wort nicht mehr entziehen: das Subjekt wird zum Objekt der Wirkung seiner eigenen Worte, oder der durch sein gesprochenes Wort entfalteten Wirklichkeit. Nun könnte man sagen, diese Wirkung ließe sich am besten an der sprachlichen, gestischen und mimischen Antwort seines Gegenübers ablesen. Gewiss mag diese ihm z. B. signalisieren, dass er nicht verstanden wurde, so dass er nun nach neuen Worten sucht. Die Dreistrahligkeit aber erlaubte es, schon vorher – noch im Sprechen – Worte zurückzunehmen und neu anzusetzen, um dem Gegenüber das Verständnis zu erleichtern. Größere Sorgfalt, mehr Bedacht, ein zärtlicher, scheuer, vielleicht ehrfürchtiger, tastender Umgang mit Worten anstelle des rigorosen »So und nicht anders« wäre eine Haltung, die wir mit Zurücknahme des Subjekts meinen. Der vermeintliche Zwang, zu sprechen wie »gedruckt«, fördert den Typus des Wortgewaltigen. Wer über jeden Widerspruch erhaben ist, übt mit seinem Wort eben Gewalt aus. Die Dreistrahligkeit verhindert sicher nicht, dass diese »Gewalttäter« sich im Glanze des eigenen Wortes sonnen – aber im ständigen und bewussten Hinhören auf das selbst GesagA
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te hätte jeder zumindest die Möglichkeit eines vorsichtigeren Umgangs mit der Sprache, in dem Worte auf neue Weise geheiligt würden, wie Abraham Heschel es ausgedrückt hat. Der sprechende Mensch kann sich im Moment des Aussprechens gegenüber seinen eigenen Worten verantworten. So gewönne er die Möglichkeit, dass sein Sprechen, sein Handeln und Reflektieren zunehmend ineinander wachsen. Greifen wir aber noch einmal die Zeugenschaft und das Urrecht des Menschen zur Namensnennung auf. In der Überlieferung der Namen stehen die Zeugen dafür, dass der alte Name nicht verschwindet, sondern sich vielmehr jeder neue Name mit den bereits an dem Ding haftenden Namen auseinandersetzen muss. Hieraus wächst laut Rosenzweig die Pflicht zur Überlieferung, durch die eben auch die Bahn entsteht. Hören wir Rosenzweig selbst: »… neben diesen Namen, die es (das Ding, F. H.) annimmt, hat es andere, die es nicht erst annimmt, sondern schon hat. Das mögen auch einmal erstmalig »Eigennamen« gewesen sein. Aber einmal genannt, haften sie am Ding. Es heißt nun so. Und das Recht des Dings auf diesen seinen Namen, den es hat, ist nicht geringer als das andere, mit neuen Namen benannt zu werden. Die Geber des alten Namens sind abwesend, vielleicht längst gestorben. Trotzdem bleibt der alte Name, den sie gaben, an dem Ding hängen. Ja jeder neue Name muss sich mit dem alten irgendwie auseinandersetzen. Das Ding wird immer benannter. Und verliert doch nicht seine Fähigkeit, neu benannt zu werden. Neue Namen zu nennen ist des Menschen gutes Recht. Die alten zu nennen, ist ihm Gebot. Er muss es, auch wenn er nicht will. Durch die alten und durch die Pflicht, sie überliefernd fortzusetzen und in die eigenen zu übersetzen, wird letzthin der Zusammenhang der Menschheit geschaffen. Menschheit ist immer abwesend. Anwesend sind nur Menschen, nur der und der und der. Aber die Sprache und das über sie gehängte Gesetz des Überlieferns und Übersetzens, der ständigen Auseinandersetzung jedes neuen mit jedem alten Wort, bindet das Ding an die ganze Menschheit. Wo ist sie anwesend? Im Wort des Menschen freilich nicht. Aber eben im Wort Gottes … das Wort Gottes trägt die Gewissheit in sich, Wort aller zu werden.« 22
So wie sich »viele Worte um das Ding scharen«, so werden wir bei den Worten Rosenzweigs selbst zu Zeugen, wie sich die Menschen um die Dinge versammeln. »Das Ding wird immer benannter«. Das bedeutet keineswegs, dass es immer »erkannter« und in seinem »Wesen klarer« werde, sondern zunächst einmal nur, dass es immer mehr be-sprochen Franz Rosenzweig: Das Büchlein vom gesunden und kranken Menschenverstand, S. 75
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wird. Es mag einen neuen Namen bekommen, aber um immer benannter zu werden, genügt es schon, dass derselbe Name von einer wachsenden Anzahl Menschen genannt wird, da eben jedes Wort aus jedem neuen Munde neu tönt. Bei der Begegnung mit den Dingen jedoch haben wir die Verpflichtung, die Spur der alten Namen nicht zu verwischen, in die zugleich die Spur der längst Gestorbenen eingefurcht ist. So sind die Abwesenden in der Spur der Dinge und Worte stets anwesend. Denn einst haben die Verstorbenen sich um das Ding versammelt und es in einem öffentlich bezeugten Akt der Namensgebung benannt, und so haftet nicht nur der alte Name an den Dingen, sondern das jeweilige Ereignis der Namensgebung als Offenbarung, als Zusammenkunft von Menschen, die in diesem Akt eine neue Wirklichkeit der Wahrnehmung, der Beziehung zueinander und den Dingen gestiftet haben. Die fortlaufende Kette der Ereignisse von Namensnennungen hat in jedes Wort seine Spur geritzt, in der Rosenzweig den Zusammenhang der Menschheit wahrnimmt – um uns im gleichen Atemzug zuzurufen, dass eben diese Menschheit niemals anwesend ist; dies könne man immer nur von dem konkreten Menschen sagen, die »Menschheit« hingegen könne nicht erfahren werden, sie sei nicht präsent, zumindest nicht im Wort des Menschen. Zum einen erklingt hier die Warnung, Rosenzweig nicht auf das idealistische Gleis zu versetzen, auf dem »die Idee der Menschheit« schon allzu oft für diverse menschenfeindliche ideologische »Projekte« missbraucht worden ist. Zum anderen wird das Wort des Menschen gegenüber dem Wort Gottes relativiert – dazu führt Rosenzweig aus: »… das Wort des Menschen allein tut’s freilich nicht. Wenn nicht Gewissheit wäre, dass der Anfang, den der stets einzelne Mensch mit seinem Wort setzt, fortgesetzt würde bis zum letzten allgemeinen Ziel der Sprache. Wenn nicht in jedem Wort, das einmal erstes war, die Kraft steckte, sich fortzusetzen und übersetzen zu lassen über den Strom der Zeit bis hin zu dem Augenblick, wo es letztes Wort geworden ist … wenn nicht zum Wort des Menschen, dem stets mit jedem Munde wieder ersten Wort, das stets und vom ersten Augenblick an, wo es zuerst gesprochen ward, letzte Wort käme: das Wort Gottes.« 23
Nach den Hinweisen auf den ersten, nicht vernehmbaren Geist-Hauch, der dem Sprechen vorausgeht sowie auf die Sprachverwirrung nach Babel sollten uns diese Worte nicht irritieren. So wie dem Menschen das »erste Wort« nur als ein durch unzählige Übersetzungen und Aus23
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legungen hindurchgegangenes, verkleidetes zu Gehör kommt, so wird sich auch das »letzte Wort« immer unserem Verstehen, gar der Erkenntnis entziehen. Ob es dieses letzte Wort gibt, wissen wir nicht. Ob insofern von einem »letzten, allgemeinen Ziel der Sprache« die Rede sein soll, ist zumindest fraglich. Wenn wir diese Textpassage jedoch soz. nicht-teleologisch lesen, dann könnte man die Bahn der Sprache als eine »Fähre« sich vorstellen, auf der die Über-setzung in die Ewigkeit geschieht. Wir werden am Schluss – bei Behandlung des Kapitels zur Erlösung – auf die Zukunft als eine besondere Form der Ewigkeit eingehen und dabei die Bedeutung des Gebets in Rosenzweigs Sprachdenken genauer kennen lernen. Hier möge sich der Leser zunächst damit bescheiden, dass es des Menschen Aufgabe sei, zwischen erstem und letztem Wort die Bahn der Sprache auszulegen und abzuschreiten. Man könnte auch sagen: zwischen erstem und letztem Wort haben wir nur die Sprache der Verfehlungen, Missverständnisse und Mehrdeutigkeiten – mehr haben wir nicht, aber auch nicht weniger! Die Sprache schenkt uns den unendlich sprudelnden Quell der Poesie, des Witzes und der Ironie, mit dem wir uns gegen die Ödnis der Klarheit und des sturen Verstehens wappnen können. Dennoch mag die Gewissheit vom göttlichen Anfang und Ende der Sprache es uns erleichtern, die Bahn zu beschreiten.
Vom Bösen als Abschneiden des Wortes Die Frage jedoch meldet sich immer wieder zu Gehör, inwieweit Rosenzweig mit dem Bild der Bahn einen Sprachidealismus konstruiert. Tatsächlich ließe sich Rosenzweigs Sprachbahn – so weit wir sie am Beispiel der Namensnennung verfolgt haben – so deuten, als ob im Verlauf der Bahn die Worte immer klarer und deutlicher würden, also Wort und Ding in wachsende Kongruenz gerieten, um schließlich eines Tages deckungsgleich zu werden. Dem aber widerspräche das Leben selbst, denn unter den vielen Worten, die sich um ein Ding scharen, finden sich selbstverständlich auch solche der Lüge, des Verbergens, Verschweigens und Verdrehens. Das Wunder der Sprache lässt uns das Wort Gottes vernehmen und unseres an ihn richten. In der Sprache können wir über-setzen zum Anderen und seine Worte an unser Ohr lassen. Aber in derselben Sprache verletzen, hintergehen und manipulieren wir den Anderen. Die Verführung kommerzieller Werbung oder 140
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politischer Agitation, die Propaganda des Krieges und der Heiratsschwindel – all dies ereignet sich im gesprochenen oder geschriebenen Wort. Warum vermeidet Rosenzweig auch nur den schüchternsten Fingerzeig auf dieses alltägliche Erlebnis der »Entweihung« von Worten? Der Philosoph Rainer Wiehl – einer der wenigen deutschen Philosophen, der sich wissenschaftlich und publizistisch dem Werk Franz Rosenzweigs gewidmet hat – stellte des Öfteren die Frage, warum Rosenzweig nie über das Böse gesprochen habe. Sicher hatten die Denker des Jahres 1918 noch nicht das Grauen der Jahre 1941–1945 erlebt. Der erste Weltkrieg gilt zwar dem Historiker als Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts, aber zu ihr hatten alle europäischen Nationen beigetragen, so dass man vom Versagen der bürgerlichen Welt, vom Scheitern ganz Europas sprechen konnte. Nach 1945 jedoch blickte man direkt in die Hölle, Unsagbares war geschehen, für das selbst das Wort vom »Bösen« zu schwach und matt erscheint. Und dennoch: Franz Rosenzweig hatte das Grauen des ersten Weltkriegs an der Front erlebt, der »Stern der Erlösung« beginnt mit der Erfahrung des Todes. Und am Ende dieses Krieges sprach Rosenzweig ahnend aus, was selbst die meisten Juden noch 1933 nicht wahrhaben wollten: »Deutschlands Unverwüstetheit wird ihm nicht viel zum Wiederaufkommen helfen; das Schlimme ist einfach die Einschnürung in einen engen Raum, während die anderen sich die Welt verteilen. Das wird die schon vor dem Krieg charakteristische deutsche Engigkeit der Herzen noch verstärken. Ganz einerlei, ob demokratische Regierung oder junkerliche Reaktion … eng auf jeden Fall, und also auch selbst, wenn die Demokratie die linke Färbung behalten wird, antisemitisch; …« 24
Die Demokratie behielt keine drei Monate eine linke Färbung, und der Antisemitismus breitete sich ungehindert im Land aus – und das schon ein Jahrzehnt vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Warum aber findet sich von dieser politischen Hellsichtigkeit Rosenzweigs außerhalb der Briefe nichts in seinen Texten, schon gar nicht in den weit verstreuten Passagen zum Sprachdenken? Wir können hier nur Vermutungen anstellen. Rosenzweig suchte in der Kraft der Sprache Heilung für eine entgleiste Gesellschaft, die nicht zuletzt durch eine aus der Spur geratene Philosophie und Theologie selbst die Spur verloren hatte. Vor dem Anderen die »Wahrheit« zu bewähren, hieß für Zitiert nach Jörg Kohr: Gott selbst muss das letzte Wort sprechen – Religion und Politik im Denken Franz Rosenzweigs, Verlag Karl Alber 2008, S. 45
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ihn, die vielfältigen Sprachbahnen, in denen die Wirklichkeit sich ereignet, zu durchmessen. Übersetzung zwischen Mensch, Welt und Gott, zwischen sinnlicher und übersinnlicher Wahrnehmung und Begegnung, ist nur möglich in der Sprache, denn sie selbst ist sinnlichübersinnlich, göttlich und menschlich. In dieser Entdeckung, die nicht nur seine eigene war, spürte Rosenzweig die Kraft zu einer Erneuerung des Denkens. Dies galt es, ausführlich zu begründen und die Bahnen der Sprache kraftvoll nachzuzeichnen. Das Neue, sozusagen gerade offenbar Gewordene in die Philosophie oder überhaupt das Denken einzuführen, ist zu Beginn immer ein hartes Ringen, wobei letztlich die möglichst reine Darstellung der neuen Einsichten angestrebt wird. In dieser frühen Phase eines Umsturzes der Denkstile fürchtet jeder Autor, die Entdeckung des Neuen durch gleichzeitige Kritik daran frühzeitig zu verwässern. Die dialektische Durchdringung der zugleich mit der Entdeckung neu aufgeworfenen Probleme überlässt er gern den Kommentatoren oder zukünftigen Autoren. Nun mag sich im Falle Rosenzweigs Alles ganz anders verhalten. War er so in seine eigenen Texte verwoben, dass ihm die Idee eines Missverstehens derselben als Sprachidealismus gar nicht in den Sinn kam? Oder meinte er, mit den oben zitierten Passagen aus dem »Büchlein« sei »alles gesagt«? Wenn wir besagte Zeilen daraufhin noch einmal prüfen, dann ließe sich Letzteres vermuten. Wir hatten bereits das Gebot und die Pflicht hervorgehoben, die alten Namen überliefernd fortzusetzen. Genau diese gebotene Pflicht wird von dem politischen Agitator, dem Heiratsschwindler oder Werbestrategen missachtet. Aber auch der Mensch des Alltags verletzt diese Pflicht, wenn er mit reinem Geschwätz, einer Sucht nach Kommunikation und einer autistischen Ich-Sprache jeden Tag zum Versiegen der Sprachkraft seinen Teil beiträgt. Worte verlieren ihre Bedeutung, weil sie im Munde der Sprachkonsumenten zur Ware werden und langsam zerbröseln – nur noch Mittel zum Zweck der Vorteilsnahme, Werkzeug der Verständigung. Die Sprache der Politik entfaltet dabei immer noch das größte Gewaltpotential, da durch sie über Menschen bestimmt, entschieden und verfügt wird – und zwar vor den Augen einer Öffentlichkeit, deren Mehrheit direkt betroffen ist. Nicht als ob in der Sphäre der Privatwirtschaft gegenüber dem Einzelnen die sprachliche und tatsächlich ausgeübte Brutalität nicht ungleich stärker empfunden würde, da sie sich zumeist auch am Einzelnen ungebremst entladen kann. Aber unter dem sich steigernden Zwang zur Entscheidung werden im Politischen Worte geprägt wie »al142
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ternativlos«, mit dem Anderen buchstäblich das Wort abgeschnitten wird. Politische Herrschaft aber legt es gerade auf dieses Abschneiden an, denn sie manifestiert sich in ihren eigenen Worten, in denen die Erinnerung an ihre Vorgänger im Amt verblassen soll. So wie der Mensch mit der Sprache das Siegel seiner Anwesenheit in die Welt setzt, so verstehen es die politisch Mächtigen, ihr Siegel dem Volk und der Geschichte aufzudrücken. Sicher verläuft dieser Prozess in demokratisch gewählten Regierungen wesentlich subtiler und eher auf leisen Sohlen als in Diktaturen. In jedem Fall aber bürgt die politische Elite gerade nicht für die Überlieferung der alten Namen. Die Gewaltherrschaft eines Diktators zeichnet sich jedoch ganz besonders dadurch aus, dass die Worte abgeschnitten werden von ihrer Vergangenheit und der damit verbundenen Zeugenschaft für die schon verstorbenen Namensgeber. Darüber hinaus erfasst dieses Abschneiden alle Lebensbereiche, vom Alltag bis zur Wissenschaft und zur Religion. In unzähligen Studien wurde exemplarisch die Erfahrung dieses Wort-Abschneidens im Nationalsozialismus herausgearbeitet. Man könnte daraus eine nicht enden wollende Tabelle von Worten unter der Überschrift »Ab heute heißt es …« erstellen. »Ab heute« hieß es »Heil Hitler« statt »Guten Tag«. »Ab heute« hieß es Volksgenosse statt Mitbürger, »Kraft durch Freude« statt Ausflugsfahrt. Vor allem aber gab es »ab heute« »entartete Kunst«, »rassisch minderwertige Menschen« und »unwertes Leben«. Fiel es niemandem auf, dass ein Adjektiv wie »unwert« schon sprachlich gar nicht dem Leben beigesellt werden kann? Zumindest nicht, wenn man die Pflicht zur Überlieferung eingehalten hätte. Wie konnte ein Wort wie Rassenhygiene überhaupt ausgesprochen werden? Der es im Munde führte, hatte sich damit unweigerlich von der Menschheit und allem Menschlichen losgesagt und sein Zuhause unter den Menschenwölfen und Menschenratten gefunden, wie RosenstockHuessy gesagt hätte. Diese wenigen Beispiele genügen als Versuch einer Antwort auf die Frage Rainer Wiehls nach dem Schweigen Rosenzweigs zum Bösen. Auch wenn er sich nicht wie Hannah Arendt auf die Spurensuche nach dem Bösen begeben hat, so hätte er dennoch behaupten können, das Nötige dazu gesagt zu haben: das Böse manifestiert sich im Abschneiden des Wortes, wodurch das Gebot und die Pflicht zur fortsetzenden Überlieferung verletzt werden. Fassen wir unseren ersten Anlauf zum Verständnis der Sprachbahn mit Rosenzweigs eigenen Worten zusammen:
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»Indem das Ding ist, wird es auch schon genannt; und das Wort trägt es hinein in einen Fluss der Dinge, wo die Frage nach dem Wesen des Dings sinnlos wird, weil die Welt selber hier nur Teil ist und kein Wesen hat, sondern ihr selber hier wie jedem ihrer Teile nur – etwas geschehen kann. Im kleinsten Ding wirken alle drei Gewalten ineinander. Es ist ein Stück Welt, Menschen geben ihm seinen Namen, Gott spricht ihm, dem vielfach Benannten, den Urteilsspruch des Schicksals. An jedem Punkt dieser Geschichte geschehen selber wieder neue »Dinge«, jedes wird selber wieder zum Ereignis. So hört dieser Gang von den Dingen her nicht auf. Nur weil die Welt der Dinge selber ein Teil ist, nur deshalb geschieht ihr auch als Ganzem, dem Etwas, das sie ist, ihre Geschichte, in der sie verwirklicht wird. Denn sie ist nur wirklich in diesem Geschehen, das jeden Punkt ihres Seins einspannt zwischen menschlichem Wort und göttlichem Spruch. Welt an sich gibt es nicht. Von Welt reden heißt: von unserer und Gottes Welt reden. Erst indem sie beides wird – und es wird kein Wort in ihr gesprochen, ohne dass ihr dieses Werden geschieht – erst also indem sie des Menschen und Gottes Welt wird, erst dadurch wird sie Welt.« 25
Das Geschehen der Welt und der Geschichte ist eingespannt zwischen menschlichem Wort und göttlichem Spruch – mit diesen Worten ist die Bahn der Sprache benannt. Zugleich wird hier das vernichtende Urteil über den Idealismus gesprochen, denn ein Wesen der Dinge gibt es nicht, so wie überhaupt die Wirklichkeit nie ist, sondern höchstens geschieht. Das Sein wird abgelöst vom Ereignis, das sich im fortgesetzten Sprechen ereignet. Die fortgesetzte Benennung der Dinge – unter dem Gebot der Überlieferung – bedeutet Arbeit am Text, die alte und neue Bedeutungen aufdeckt und freilegt, also offenbart. Das gesprochene Wort stiftet so den immer neuen Zusammenhang des Aufeinander- und Zusammenwirkens von Mensch, Welt und Gott als einer wirkenden und bewirkten Wirklichkeit. Man kann es Zusammenhang der Menschheit nennen. Wir aber wollen nun der großen Sprachbahn Rosenzweigs folgen, wie sie im »Stern der Erlösung« sich entrollt, dabei die Seelengrammatik Rosentock-Huessys in eine Geschichte von Schöpfung, Offenbarung und Erlösung übersetzend.
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Die Nennung des Namens und die Grammatik der Schöpfung
Die Bahn der Sprache – entrollt aus dem ersten Wort der Schöpfung Auf den gezeigten Nebenarmen der großen Sprachbahn haben sich zwar Bahnen der Namensnennung entfaltet, aber von Grammatik war bisher nicht die Rede. Mit ihr aber beginnt Rosenzweig seine Geschichte der Schöpfung. Grammatik bedeutet für ihn jedoch nicht ein nachträglich konstruiertes »Stammbaum-Schema« grammatischer Formen, Deklinationen und Konjugationen, das der Sprache als äußeres Gerüst übergestülpt werde. Vielmehr begibt sich Rosenzweig gemäß Rosenstock-Huessys Definition vom »Gestaltenwandel« auf die Spur des Wortwandels. Wenn der Strom des Lebens dem ständigen Wandel unterworfen sei, dann müsse der Strom der Sprache, der das Leben umgestalte und ständig neu hervorbringe, ebenfalls als ständige Umwandlung daherfließen – und zwar als ein Wandel der Wortarten, als sinngebender Übergang von einer Wortart in die andere. Die Grammatik hätte also zu untersuchen, wie und warum beim Sprechen der Übergang vom Adjektiv zum Substantiv, vom Verb zum Adjektiv oder hinsichtlich der Modi vom Indikativ zum Imperativ geschieht, statt als ein starres Gerüst turm- oder plattformartige Deklinationsund Konjugations-Formen nebeneinander zu stellen. Diese Übergänge der Wortarten antworten auf die fortgesetzten Fragen des Menschen, mit deren Hilfe er in der Welt und im Leben Orientierung sucht. Jedes Wie, Wann, Wo, Warum, Wodurch oder Wer eröffnet neue Stämme von Wortarten, wie wir noch sehen werden. Da die Sprache, wie wir gehört haben, uns von außen als dieselbe tönt wie von innen, bedarf auch die sinnliche Wahrnehmung des Menschen der Sprache, und nur in der Sprache gelingt ein orientierender Zugang zur Welt. Nicht die Anschauung der Dinge liefert uns die Sinnesdaten, die wir nur sammeln und »verarbeiten« müssten, sondern damit diese sinnliche Erfahrung uns etwas sagen kann, müssen wir sie in Worten benennen – in schon bekannten oder neu von uns gesagten. Leuchtet hier ein gemeinsames Anliegen Rosenzweigs und Kants auf – nur dass der Eine auf die Vernunft baute, der Andere auf Sprache?
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Rosenzweig und Kant
Kants kopernikanische Wende besagt nichts Anderes als seinen Versuch eines neuen Verfahrens in der Metaphysik: »ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, dass wir annehmen, die Gegenstände müssen sich unserem Erkenntnis richten« – statt wie bisher anzunehmen, »alle Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten.« Er fragt also nach der methodischen Art und Weise, mit der wir in unserem Verstand die Begriffe bilden, unter die wir das »Mannigfaltige der Anschauung« subsumieren. Rosenzweig fragt nach den grammatischen Bedingungen, unter denen wir Orientierung im Leben und Zugang zur Welt finden, also Bezüge zur Welt, zum Mitmenschen und zu Gott schaffen und gestalten können. Natürlich klaffen zwischen beiden Ansätzen Welten, die unüberbrückbar erscheinen. Dem einen geht es um Erkenntnis des Gegebenen, dem anderen um den Aufbau eines Geflechts von Bezügen sowie stetigen Gestaltenwandel, dem Einen um die Einheit der Apperzeption unter dem »Ich denke«, dem Anderen um Übersetzung zwischen einem Du und einem Ich. Kant trennt das Wissen vom Glauben, Rosenzweig sucht eine Korrelation zwischen beiden. In der Schöpfung entsteht für ihn die Bahn der Grammatik, wir haben es also hier nicht mit einem mythischen Akt zu tun, sondern mit einem Prozess der Sprachgebung, mit der die Stummheit in der Welt überwunden wird. Es gäbe also genügend Gründe, jegliche gedankliche Berührung zwischen Kant und Rosenzweig als abwegig zu betrachten. Und dennoch gibt es gute Gründe, der Spur ihrer Gemeinsamkeiten zunächst ein wenig zu folgen: 1. Für Rosenzweig begann sein Philosophie-Studium mit einem Seminar über die Kritik der reinen Vernunft. Wie Bernhard Caspers ausführlich belegt, war Kant für ihn zu Beginn des Studiums »riesengroß«, denn in ihm erkannte er den »Zerstörer der »Was ist eigentlich?«-Frage«. Tatsächlich sah Rosenzweig die Größe Kants darin, dass er mit dem »nach dem einen Wesen des All fragenden abendländischen Denken« gebrochen habe. Damit seien der Philosophie neue, weite Wege gewiesen worden, die Rosenzweig schon im Jahre 1907 so formulierte: »Wir also müssen uns mit ihm (Kant) befassen und zwar zu dem Zweck – um nicht mehr zu
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philosophieren« 26 – wobei Rosenzweig darunter eben das All- und Einheitsdenken von Jonien bis Jena verstand. Die Frage nach dem Wesen der Dinge – oder dem Ding an sich – zu stellen, ergab angesichts ihrer Unbeantwortbarkeit für Rosenzweig genauso wenig Sinn wie für Kant. Wir hatten es im »Büchlein« gelesen, wie das Wort das Ding in einen Fluss der Dinge hineintrage, wo die Frage nach dem Wesen des Dings sinnlos werde – das Geschehen dieses Flusses erfordere unsere Aufmerksamkeit, denn darin wirkten mit der Welt, dem Menschen und Gott »drei Gewalten auf das Ding ein«. Rosenzweig verabschiedet die »Was ist eigentlich?-Frage«, weil er die Sprache denkt. Dies gerade nicht zu tun, sondern in Sprachferne zu verharren, wirft er Kant vor. Damit befindet sich Rosenzweig im Übrigen in bester Gesellschaft: bereits Johann Georg Hamann und später dann der Lehrer Hermann Cohens, Heymann Steinthal, kritisierten Kant für sein Unverständnis der Sprache. Hamanns knappster und wohl treffendster Satz dazu lautet bekanntlich »Vernunft ist Sprache«. Der am rabbinischen Seminar wirkende Steinthal, der u. a. die Sprachschriften Humboldts herausgab, forderte gar von den Philosophen, Kant zu Ende zu denken, indem die Kategorienlehre aus der »Kritik der reinen Vernunft« aus der Grammatik oder dem Denken der Sprache neu konzipiert werde. In gewisser Weise hat Rosenzweig in seinem Sprachdenken Steinthals Forderung, Kant zu Ende zu denken, aufgegriffen. Wenngleich Rosenzweig selbst darauf keinen ausdrücklichen Hinweis gibt – was jedoch angesichts der seinerzeit üblichen Zitierunlust nicht ungewöhnlich wäre –, so können wir davon ausgehen, dass er über Cohen die von Steinthal gestellte Aufgabe kannte. Ob er seine Ausfaltung der Grammatik aus dem Wort der Schöpfung tatsächlich im Bewusstsein geschrieben hat, Kant zu Ende zu denken, wissen wir nicht, und dies mag sogar als verwegen konstruierte These erscheinen. Widerlegt hat sie jedoch auch noch niemand, so dass wir uns kühn vorwagen, die Entstehung der grammatischen Kategorien nach Rosenzweig mit den Kategorientafel des Verstandes nach Kant in Vergleich zu setzen.
Bernhard Casper: Das dialogische Denken. Franz Rosenzweig, Ferdinand Ebner, Martin Buber, Verlag Karl Alber Freiburg 2002 (2. Auflage), S. 77
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Wir wagen diesen Vergleich auch deswegen, um die Philosophischen Fakultäten angesichts der bedauerlichen Ausblendung Rosenzweigs aus dem offiziellen Kanon aus der Reserve zu locken. Rosenzweigs Werk wird immer noch in erster Linie als Religionsphilosophie, Theologie oder jüdisches Glaubensbekenntnis fehl gedeutet. Er selbst besteht jedoch darauf, eine Erneuerung der Philosophie geleistet zu haben. Unabhängig davon, inwieweit ihm dies gelungen ist oder nicht, wäre es an der Zeit, dass Philosophen sich seines Werkes annähmen, um neue Wege des Philosophierens zu eröffnen oder zumindest die Geschichte der Philosophie des 20. Jahrhunderts vollständiger als bisher zu lehren. Insofern mag es helfen, wenn wir auf den folgenden Seiten Rosenzweigs Sprachdenken auch als Versuch lesen, Kant zu Ende zu denken. Es gab tatsächlich auf den großen Rosenzweig-Kolloquien hie und da Stimmen, die sein Werk als Fortsetzung der Vernunftkritik interpretierten – allerdings nie von der Sprache her.
Rosenzweig führt den Leser auf die Spur seiner Grammatik tatsächlich auf Kantischen Wegen, indem er das »Ding an sich« als »gestaltlos« verwirft. Das Stammwort der Schöpfung, aus dem er die ganze Grammatik der menschlichen Sprache entstehen lässt, heißt »gut«. Denn Gott sprach am siebten Tag, als er sein Werk betrachtete: »Und siehe, es war sehr gut«. Dieses »gut« entspreche dem »Ur-Ja«, dem Rosenzweig im einleitenden Kapitel über die Vorwelt die Kraft der »Bejahung einer Unendlichkeit an Möglichkeiten« zugesprochen hatte, die dann in der Schöpfung als endliche Kreaturen Wirklichkeit geworden seien. Diese Bejahung, so Rosenzweig, stelle ein freies »So« ins Unendliche hin. Aber: »Ein solches freies So wird nicht veranschaulicht durch ein Substantiv, das selber ja erst der Bestimmung seines Wie bedarf und ohne diese gestaltloses »Ding an sich« ist.« 27 Die »Was ist eigentlich?-Frage« wird also von Rosenzweig in eine »Wie ist es beschaffen?-Frage« umgewandelt – oder besser gesagt in die Frage nach den Eigenschaften, den Modalitäten und Relationen der Dinge. Auch Kant hatte die Frage nach dem »Ding an sich«, dessen Wesen wir ohnehin nicht ergründen könnten, abgebogen und sich stattdessen in seiner Vernunftkritik mit jenen Kategorien des Verstandes beschäftigt, die wir aus der Erfahrung kennen, und in denen wir die Natur und die 27
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Dinge befragen. Zur Erinnerung seien diese Kantischen Kategorien kurz zusammengefasst: Alle unser Erfahrungswissen gründet auf vier Kategorien, die sich jeweils in drei Grundsätze unterteilen – wir sprechen deswegen gewöhnlich von zwölf Kategorien. Die ersten Kategorien sind jene der Quantität und Qualität. Bei der Frage nach der Quantität dessen, was wir anschaulich wahrnehmen, wollen wir wissen, ob etwas unter dem Begriff der Einheit, der Vielheit oder Allheit aufzufassen sei – ob es also eines, vieles oder alles sei. Bei der Qualität beurteilen wir die Dinge nach Affirmation, Negation oder Limitation – ob also etwas bejaht oder verneint wird oder diese Frage offen bleiben muss. Ferner bedarf unser Urteil, um vollständig etwas über die Dinge auszusagen, der Kategorien der Relation und der Modalität. Die Relation beantwortet die Frage nach der Wechselwirkung der Dinge mit ihrer Umgebung und unterteilt sich in kausale, hypothetische und disjunktive Urteile. Das kausale Urteil untersucht die Dinge auf ihre Ursache-Wirkung-Relation, das hypothetische zeigt die Dinge zwar in einem Gesamtzusammenhang, aber ohne dass es zwischen ihnen eine kausale oder eine Wechselwirkung gäbe. Die Erkenntnis einer solchen wechselseitigen Einwirkung aufeinander ergibt sich aus dem disjunktiven Urteil. Der auf besondere Weise schöpferische Kant-Interpret Volker Gerhardt erweitert die Sicht auf das hypothetische Urteil um den Begriff der Substanz, die etwas trägt. Erfahrung – so sagt er – bedürfe des Wechsels der Erscheinungen, der jedoch selbst wiederum etwas Beharrliches – eben die Substanz – voraussetze, woran er sich zeigen könne. Die Pointe liege darin, dass ausgerechnet die Veränderung die Substanz verbürge. Dieser Aspekt wird in der Kant-Forschung zumeist unter lebensfernen Begriffen verschüttet, obwohl gerade in ihm jene dynamische Methode in Kants Denken trefflich erhellt, die allzu oft unterschätzt wurde. Der Wechsel von Beharrung und Veränderung als Bedingung menschlicher Erfahrung war uns – auf scheinbar ganz andere Weise – bei Rosenzweigs Untersuchung der Namensgebung begegnet: das Wort ertönt aus jedem Munde neu, wird von jedem neuen Menschen zum ersten Mal gesprochen, weil es nur auf diese Weise lebt. Der stetige Wechsel von Intonation, Bedeutung, Klangfarbe, Zwischenräumen des Zweifels, der Ironie sowie der Intensität des Anspruchs oder Gebots bedarf der »Beharrung« der alten Namen, die an den Dingen haften. Bevor wir auf einen weiteren für unseren Zweck wichtigen Aspekt in Gerhardts Kant-Interpretation hinweisen, soll noch kurz der letzten A
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Kategorie erwähnt werden, nämlich der Modalität. Ihre Funktion in der Urteilsfindung gegenüber unserer Erfahrung leuchtet so unmittelbar ein, dass keine weiteren Erklärungen nötig sind: wir fragen nach dem Modus einer Sache, ob sie nur möglich oder wirklich und ob sie notwendig sei. Volker Gerhardt hat in umfassenden jahrzehntelangen Studien herausgearbeitet, dass Kant einer der ersten Lebensphilosophen war, in dessen Erfahrungsbegriff die Leiblichkeit, die Spontaneität der Einbildungskraft oder das selbstgewirkte Gefühl als der Vernunft ebenbürtige Kräfte des Menschen ausgearbeitet wurden. Es war im Übrigen kein Geringerer als der mit Rosenzweig befreundete Viktor von Weizsäcker, der die Bedeutung Kants als Lebensphilosoph schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts erkannt hatte. Weizsäckers berühmtes Diktum, wonach derjenige, der das Leben erforschen wolle, am Leben teilnehmen müsse, findet nach Gerhardt seine Entsprechung bei Kant selbst. Die Erkenntnis, dass »alle im Raume gleichzeitig wahrgenommenen Substanzen in durchgängiger Wechselwirkung« 28 miteinander stünden, erfahre durch Kants Sinnen- und Leibphilosophie eine entscheidende, fast durchgängig übersehene Zuspitzung, die Gerhardt folgendermaßen formuliert: »Zur Existenz der Dinge gelangen wir nur, indem wir mit ihnen in Wechselwirkung existieren.« 29 Ein solcher Satz erklärt Kants Bedeutung für die Methoden der Naturwissenschaft, er lässt uns an Cohens Begriff der Korrelation denken – und an Weizsäckers Begriff der Wirklichkeit als des aufeinander und zusammen Wirkens. Dennoch versäumt Kant jedweden Hinweis auf die Sprache, in der wir als Menschen wirken und das auf uns Wirkende erfahren und erleben. Dieses Versäumnis spiegelt sich schließlich in dem Kantischen »Ich denke«, das alle unsere Vorstellungen begleite. Im Sprachdenker hingegen wird das Denken immer »begleitet« vom Sprechen – oder präziser gesagt Denken ist Sprechen, selbst – wie Humboldt ausführte – in der Einsamkeit des Ich, das zumindest, um »denken« zu können, mit sich selbst oder dem »anderen Ich« sprechen müsse. Während bei Kant gewissermaßen das Ich sich in der Aktivität des eigenen Denkens entdeckt, sagen uns von Hermann Cohen bis Emmanuel Levinas jüdische Denker, dass die Übersetzung der Anschauung in Vorstellungen zitiert nach Volker Gerhardt: Immanuel Kant – Vernunft und Leben, Reclam Universal Bibliothek 2002, S. 175 29 Ebd., S. 176 28
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und Begriffe noch keinesfalls zur Entdeckung des Ich bzw. des »SelbstBewusstseins« führe, sondern dass hierfür die Ansprache durch ein Du nötig sei. Die Bedeutung dieser Unterscheidung sollte besonders an dem problematischen Begriff des »allgemeinen Selbstbewusstseins« erhellen, wie ihn Kant verwendet. Über die Verknüpfung des individuellen mit dem allgemeinen Selbstbewusstsein haben seit jeher KantInterpreten verschiedenster Schulen gestritten. Wenn die universelle Leistung des individuellen Bewusstseins im Verknüpfen von Begriffen besteht, die in keiner Anschauung, sondern in den Kategorien des Verstandes gegeben sind, dann hieße dies doch wohl, dass die Kategorien universeller Natur sind, also das »Ich denke« aller Menschen in für alle gültigen, universellen Kategorien des Verstandes geschieht. Ohne den schwierigen Gedankengang Kants banalisieren zu wollen, stellt sich hier jedoch die Frage, ob ein solches Modell der Wirklichkeit des Lebens entspricht. Dass die Möglichkeit einer solchen Übereinstimmung zwischen individuellem und universellem Bewusstsein durch die Tatsache gegeben erscheint, dass Denken und Urteilen aller Menschen im Wesentlichen ein Akt des Vergleichens und Unterscheidens ist, den man selbstverständlich entlang der Kantischen Kategorien analysieren kann, sei unbestritten. Das Wort Möglichkeit wäre dabei jedoch dreifach und fett zu unterstreichen. Deswegen auch hat Hermann Cohen vom Selbstbewusstsein als Aufgabe gesprochen. Wir wollen gar nicht auf die Bandbreite unterschiedlicher Wahrnehmungen unter den Menschen eingehen, die auch – trotz angenommener Universalität der Kategorien – dem einen etwas als notwendig oder nicht abgeschlossen erscheinen lassen und dem anderen nicht. Dies wäre nur der Beginn des wissenschaftlichen Diskurses, in dessen Verlauf man »Klärung« erhofft. Schwerwiegender aber scheint doch wohl der Einwand, dass die Kategorien des Verstandes sich nur auf einen ganz bestimmten Ausschnitt menschlicher Erfahrung, seiner Wahrnehmung sowie seines Urteilsvermögens beziehen. Alle ästhetischen, moralischen, phänomenologischen, »religiösen« Formen der Anschauung und Wahrnehmung, des Wissens und Erkennens, werden davon nicht oder nur teilweise berührt. Sicher widmet sich Kant diesen Formen in den zwei weiteren Kritiken – aber erst in der Wechselwirkung all dieser »Bewusstseinsebenen« könnte man überhaupt von der Einheit des Bewusstseins sprechen. Diese Schwierigkeiten wären vermeidbar, wenn die Kategorien sprachlich gedacht würden. Abgetrennt vom natürlichen Sprechen erstarren sie notwendig zu festen Formen, die unter sich A
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und neben anderen sich auf Tafeln wieder finden – statt im Sinne Cohens als lebendige Floßfahrer und Lotsen im Strom des Lebens. Damit schwenken wir langsam wieder auf den Pfad der Sprachbahn ein, wobei sich noch eine letzte, durchaus gewichtige Frage ergibt: was ist ein allgemeines Selbstbewusstsein, das sich auf irgendeine Weise im individuellen Selbstbewusstsein manifestieren soll? Ein solcher Begriff ist genauso abstrakt wie jener der Menschheit. Schon das Wort Bewusstsein verweist auf ein Wissen, das sich aber immer nur im einzelnen Menschen finden lässt, nicht in einer von konkreten Menschen abgelösten Allgemeinheit. Wir pflichten Rosenzweig bei, dass es der Einzelne nie mit der Menschheit zu tun habe, »denn die ist immer abwesend – anwesend ist immer nur der und der«. Bereits Cohen hatte sein Unbehagen darüber ausgedrückt, dass der Schritt vom Ich zur Menschheit (oder zur Allgemeinheit) für den Menschen schlicht zu groß sei. Man könnte es zuspitzen und sagen, dieser Schritt führe über die Klippe hinaus, von der aus der Sturz ins Nirgendwo beginne. Nur ein konkretes Du kann das Ich am Rande der Klippe auffangen. Auch wir stehen nun schon mit einem Bein wieder jenseits der Kantischen Welt oder zumindest in dem weiten Feld der von Kant hinterlassenen offenen Fragen. Der Vollständigkeit halber müssen wir aber noch – ohne Kommentar und Ausführung – die Kategorien von Raum und Zeit erwähnen, die Kant als natürliche Bedingungen unserer Anschauung versteht. Wir dürften damit die wesentlichen Ingredienzien gesammelt haben, um mit unserem Experiment zu beginnen.
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»Und siehe, es war sehr gut« – die ganze Grammatik aus einem Wort
Selbstverständlich lässt sich Rosenzweigs Grammatik nicht als maßstabsgenaue Abbildung der Kantischen Kategorientafel darstellen. Dies wäre eine fahrlässige Überspannung. Uns geht es eher um ein freies Spiel der Assoziationen zum Thema, wie Kant Sprache hätte denken können – und wie Rosenzweig mit seinem Sprachdenken einige der oben aufgeworfenen Fragen beantwortet. Wir wollen zeigen, dass die »Kategorien« keine von der Sprache und dem Sprechen abgelösten Inhalte unseres Verstandes sind. Vielmehr gibt ein Wort das andere, der Mensch antwortet und fragt danach, welches Wort dem ersten Gegenhalt bietet, damit es etwas aussagt und nicht flüchtig sein Leben ver152
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haucht. Daraus entstehen die Fragen nach dem Wie, Wo, Warum, Wodurch etc. – der Mensch sucht damit nach Orientierung in einem Oben, Unten, Vorher, Nachher, um nicht schwindlig zu werden. Raum und Zeit sind also nicht Formen der Anschauung, sondern Relationen, die das fragende Sprechen zu Tage fördert. Wie schon erwähnt, entfaltet Rosenzweig die Bahn der Grammatik aus dem Stammwort »Gut« der Schöpfung. Er begründet dies damit, dass die Welt zunächst »nichts als Eigenschaft« sei. Und nach dieser fragt der Mensch, nicht nach dem Wesen. Der »gesunde Menschenverstand« fragt danach, wie etwas aussieht oder ertönt, welche Merkmale es trägt, wie es beschaffen ist. Die Frage nach der Beschaffenheit klingt zwar implizit in den Kantischen Kategorien auch an, wird aber explizit in die Kritik der Urteilskraft verschoben. Aber: alle vier übergreifenden Kantischen Kategorien unterteilen sich in drei weitere, die alle mit einem Adjektiv ausgedrückt werden können. Aus einem Adjektiv entfaltet Rosenzweig seine ganze Grammatik, aber nicht mit einem beliebigen. Vielmehr unterscheidet er »anschauliche und bewertende Adjektive«. Stammwort könne nur ein bewertendes Adjektiv werden, das eine »eindeutige Verwendung im Satz« zulasse. Das Adjektiv »hohes« z. B. wäre demnach als Stammwort ungeeignet, da es immer nur in Verbindung mit einem Substantiv – ein hohes Gebäude oder ein hohes Ziel – auftreten könne. Auch »blau« oder »gelb« wären anschauliche Adjektive, die immer auf blaue oder gelbe Gegenstände hinwiesen. Sie wären zu spezifisch, um das Urja als »freies So« unterstützen zu können. Diese Kraft eigne nur bewertenden Adjektiven wie »schön« und »gut«, in denen für Rosenzweig eine »positive Bewertung« des laut gewordenen Ur-Ja der Schöpfung erklinge. Man könnte das bewertende Adjektiv durchaus in der Kategorie der Modalität »unterbringen«, denn in dem »Gut« der Schöpfung wird nicht nur ihre Wirklichkeit ausgesagt, sondern auch, dass sie notwendig gut sein müsse – oder Gott hätte die Welt besser gar nicht geschaffen. (Dieses Argument von Leibniz soll nicht einen figürlichen Gott hineinschmuggeln, an den auch sicher Leibniz nicht geglaubt hat, sondern vielmehr jeglichen Manichäismus im Zusammenhang mit der Schöpfung vermeiden helfen. Nur weil das Werk der Schöpfung gut war, kann die Welt – durch fortgesetzte Neuschöpfung – von Bestand sein). Mit den Worten des Dichter-Philosophen, der Rosenzweig zweifelsohne war, unterstreicht er das bisher Gefundene: A
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»Das Eigenschaftswort ist, im Unterschied von Substantiv und Verb, recht der Ausdruck für das freie Sosein. Es fasst das So schlechthin, ohne zunächst Rücksicht zu nehmen auf einen Träger, auf Beziehungen, auf Ursprünge. So wie das Auge des Künstlers das Blau des Himmels, das Grün der Wiese trinkt, ohne zunächst nach Himmel und Wiese viel zu fragen. Die Welt ist lauter Eigenschaft, sie ist es von Anfang an.« 30
Von hier aus entrollt Rosenzweig in immer wieder überraschenden Wendungen eine Spirale grammatischer Begriffe und Formen – schließlich kann ein Wort nicht ohne das andere leben. Wir folgen ihm auf diesem Weg auf den nächsten Seiten. Wem dieses zu langwierig, umständlich oder langweilig wird, darf die Seiten bis zum Abschnitt »c. Die Na-Und-Frage – Vernunft und Sprache« gern überspringen. Für diese Eiligen hieße das Folgende in Kurzform: die Eigenschaft bedarf eines Trägers, also eines Substantivs. Dieses erscheine zunächst als ein unbestimmtes, das jedoch – mit dem unbestimmten Artikel benannt – im Raum zu finden sei. Ferner bedarf das Substantiv der Deklination, um seine Relation zu anderen Substantiven anzuzeigen. Schon diese Relation ist immer auch als gewordene, vorübergehende oder erst werdende eine zeitliche, so dass sich das Verb mit seiner Konjugation aus dem Gesagten als weitere Wortart ergibt. Alle diejenigen, die der Rosenzweigschen Ausfaltung der Grammatik im Einzelnen weiter folgen möchten, lesen entweder hier weiter oder das Ganze im Original: Sobald wir also eine Eigenschaft wahrnehmen, beginnen wir zu vergleichen, fragen wir nach mehr und weniger, größer und kleiner – und sogar nach dem Größten und Kleinsten. Diese Fragen erhalten aber nur Antwort, wenn die Eigenschaften nicht mehr frei im Raum schweben, sondern Eigenschaft eines Dings geworden sind: »Vergleichung, Steigerung, Verabsolutierung – Komparativ und Superlativ – wachsen nicht unmittelbar aus der einzeln bejahten Eigenschaft hervor, sondern setzen voraus, dass die Eigenschaft eines Dings geworden ist. Die Dinge sind an sich viele; sie werden verglichen und mit ihnen dann die Eigenschaften. Für sich ist die Eigenschaft einzeln, unvergleichbar, einfache Bejahung – »positiv«. Aber das Ding tritt hinzu, der Träger der Eigenschaften.« 31
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Dieses zum Adjektiv nun hinzutretende Substantiv wird – kantisch gesprochen – nach den Kategorien von Quantität und Qualität befragt. Rosenzweig sagt es so: sobald wir diesen Menschen oder jenen Baum als Ding benennen, fragen wir danach, ob es sich um ein Einzelexemplar handelt oder ob Baum bzw. Mensch einer Vielheit oder sogar einer Allheit von Menschen bzw. Bäumen angehören. Wir erhielten damit den Begriff der Menschheit – oder den der Gattung der Bäume. Aber Rosenzweig bremst ab: bevor ein »richtiges« Substantiv wie z. B. Baum oder Stock genannt werden könne, werde zunächst auf ein unbestimmtes »dies da« gezeigt, wofür wir auch den unbestimmten Artikel verwendeten. Warum geht er diesen Umweg? Die Sprache folgt dem Fluss des Lebens und also der Wahrnehmung. Die sei irritiert durch den Übergang von dem üppig-überwältigenden Eindruck der wirklichen Eigenschaft (gut, schön, blau etc.) zum Träger dieser Eigenschaft, der noch gar nicht benannt sei und insofern relativ zum konkreten Blau des Himmels eine Abstraktion darstelle. Zur Abmilderung dieser Irritation werde das Fürwort »dies« im Vorgang der Wahrnehmung dazwischen geschaltet, um ein Ding zu bezeichnen, das noch nicht erkannt und benannt ist: »Das »Dies« zeigt auf das Ding bloß hin und drückt in diesem Zeigen aus, dass hier ein etwas zu suchen ist.« Und weiter: »Im »hier«, das im »dies« steckt, ist also der Raum gesetzt als die allgemeine Bedingung, unter der das Ding, bisher nur als ein Etwas bestimmt, zu suchen ist.« 32 Gewissermaßen im Vorbeigehen schüttelt Rosenzweig wie selbstverständlich die Kantische Kategorie des Raumes aus dem Ärmel. Vom »dies da« führt Rosenzweigs Weg zum unbestimmten und schließlich zum bestimmten Artikel, durch den erst das »Ding« sicher als ein Einzelnes benannt und erkannt werden könne. Denn zunächst bliebe das Ding weiterhin in der relativen Abstraktion gegenüber der »grellen« Wirklichkeit der Eigenschaft: »dies da ist ein Baum oder ein Mensch« zeige uns Baum und Mensch jeweils als Vertreter ihrer Gattung (Allheit), aber noch nicht als Individuum. Gegenüber dieser Allheit – oder zumindest Vielheit, die auch durch den unbestimmten Artikel ausgedrückt wird – müsse sich das Einzelne als Glied legitimieren, um als Einzelnes wahrgenommen zu werden, so Rosenzweig. Was ansonsten der Eigenname leiste, nämlich Individualität zu geben, diese Rolle
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komme in dem bisherigen Gang der Sprachentwicklung dem bestimmten Artikel zu. Der bestimmte Artikel wird quasi zum Scharnier, um das herum sich die Fragen nach Quantität und Qualität drehen, die Fragen also nach Vielheit und Einheit, Allheit und Einzelheit, nach dem Sosein oder dem nicht Sosein. Rosenzweig hält sich jedoch nicht lange damit auf, sondern kurbelt aus dem Scharnier des bestimmten Artikels gleich das »Objekt« hervor: »Das einzelne, durch den bestimmten Artikel festgelegte Ding kann nun also endlich mit Ruhe als Gegenstand bezeichnet werden. Es »steht« jetzt auf eigenen Füßen einem etwaigen Schöpfer »gegen«-über da, ein bestimmtes, bejahtes Ding im unendlichen Raum des Erkennens oder der Schöpfung. Dass es als »Gegenstand« zur Ruhe kommt, wird auch daran deutlich, dass es als solcher, als »Objekt«, seine Stelle im Satz bekommt.« 33
Plötzlich gibt es einen Satz, nachdem bisher nur von einzelnen Worten die Rede war! Wir staunen atemlos, wie Rosenzweig mit steigender Geschwindigkeit in der Art eines »Zauberers« aus seinem Hut zunächst ein Adjektiv, dann ein Fürwort, das uns auf die Kategorie des Raumes geführt hat, sodann ein Substantiv mit unbestimmten und bestimmten Artikel als Dreh- und Angelpunkt der Kategorien von Quantität und Qualität gezaubert hat – und wenige Zeilen weiter nun das Objekt im Satz steht. Die Geschwindigkeit, mit der nun die »ganze Sprache« aus dem Hut entschlüpft, wird weiter beschleunigt: das Objekt durchwandert die Fälle. Während Nominativ, Genitiv und Akkusativ auf je eigene Art Fälle des Habens, des Besitzes und des Zugriffs bezeichnen, wird der Dativ als die »Form des Gehörens, Schenkens, Dankens, der Hingegebenheit wie des Hinstrebens« bezeichnet, in dem »Objekt und Subjekt zusammen treten«. Obwohl hier implizit schon das Verbum durchschimmert, lassen sich zunächst allein über die Fälle die Beziehungen zwischen Objekt und Subjekt ausmachen. Nach Kantschen Begriffen bewegen wir uns hier in der Kategorie der Relation, in der wir die Dinge nach ihrem Verhältnis zueinander beurteilen – ob wir es also mit kausalen oder wechselseitig aufeinander einwirkenden Relationen zu tun haben. Die Fälle schaffen demnach Orientierung im Raum, denn jeder von ihnen bezeichnet eine spezifische Art der »Zuordnung«, wodurch die beson33
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dere Art des Nebeneinander, Zueinander, Voneinander oder im Falle der wechselseitigen Durchdringung als »Durcheinander« benannt wird. Aber jede Ursache-Wirkung-Relation wie auch die beiden anderen Relationen lässt sich nur wahrnehmen unter der Zeit als Anschauungsform, so würde Kant es sagen. Das Vor- und Nacheinander ist in den Fällen des Ergreifens, Besitzens usw. mit gedacht. Das meinten wir mit dem impliziten Durchschimmern des Verbums in der Deklination des Substantivs. Dies sollte tatsächlich schon jetzt deutlich geworden sein: Rosenzweigs grammatische »Zauberkünste« beruhen darauf, dass sein Sprachdenken ganz von diesem Durchschimmern einer Wortart in der anderen erfüllt ist. So ergibt sich für ihn mit federleichten, aus dem Lebens- und Sprachstrom gewonnenen Schritten der Übergang von einer Wortart zur anderen. Die Schautafeln der Grammatik weichen dem Leben und einer lebendigen, dynamischen Grammatik: ein Wort gibt das andere. Deswegen ist der folgende Gang auch kein Umweg, obwohl Rosenzweig das zeitigende Verbum nicht direkt aus dem Substantiv ableitet, sondern an den Anfang zurückgeht, zum Adjektiv. Wir sagen »deswegen«, weil die Deklination – wie gezeigt – ohnehin zeitliche Relationen bereits impliziert. Aber in der Sprache ist alles mit allem verknüpft, also »zurück zum Adjektiv«! Bisher – so Rosenzweig – habe er das Bejahtsein der Welt nur in Richtung ihres Wie weiterentwickelt. Das sei aber nur eine Richtung des Ganzen: »… im Ja steckt nicht bloß das So, sondern auch schon das »dass«. In der Stamm-Bejahung »Gut!« etwa steckt nicht bloß ein Wie, sondern auch ein Ob; »Gut!« bedeutet »es ist gut« … Die Kopula »sein« steckt in jeder bejahten Eigenschaft; und sie (die Kopula, F. H.) erlaubt es uns nun auch, die bisherige starre Gleichsetzung des Gegenstandes mit dem Ding zu überwinden. Die Dinge sind ja in Bewegung; auch die Bewegung und mit ihr also ihre überdingliche Voraussetzung, die Zeit, und die Umstände und Formen, in denen die Bewegung geschieht, – diese alle sind in der Kopula »sein« mit der ursprünglich allein bejahten Eigenschaft verbunden.« 34
Verknüpfung von Modalität, Qualität, Relation in der Kategorie der Zeit – all dies geschieht hier in drei Sätzen! In den »Umständen und Formen der Bewegung« umfasst er bereits die gesamte Konjugation der Verben. Mit Vergangenheit und Zukunft bezeichnen wir verschiedene Umstände und Formen der im Verb vorgestellten Bewegung. Auch ob die Bewegung tatsächlich stattfindet (Indikativ) oder nur 34
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möglich, ersehnt oder erstrebt sein mag (Konjunktiv) will derjenige wissen, der nach den besonderen »Umständen und Formen« fragt. Aber damit nicht genug, die »Zauberei« geht weiter! Dass wir es nur nicht in der Geschwindigkeit der Vorführung übersehen haben, weist uns Rosenzweig noch einmal auf die innige »Verwandtschaft« von Adjektiv und Verb hin: »Die Verbindung geschieht hier in der Form, die zwischen Adjektivum und Verbum, also zwischen Ding und Geschehen, mitteninne steht und die in gewissen späten Stadien der Sprachentwicklung, bei uns heute im ganzen Passiv, geradezu das Verbum beiseite schiebt: das Partizip. Die Tätigkeit wird hier als Eigenschaft gefasst und nur durch die Kopula, also nur durch die allgemeine Bezeichnung als seiend, in ihrem Verhältnis zur Zeit, zu den bestimmten Dingen und zur Wirklichkeit überhaupt festgelegt. Diese an der Kopula vorgenommenen Festlegungen setzen allerdings doch schon das voll entwickelte Verb voraus, weshalb sie eben auch nur in späten Entwicklungsstadien als Vereinfachung auftreten. Dass sie durchgängig möglich sind, veranschaulicht aber den engen Zusammenhang, der auch das Verbum mit dem Stammwort, dem Adjektiv, verbindet.« 35
Tatsächlich sind in unserem täglichen Sprechen diese beiden Wortformen so ineinander verflochten, dass wir es nicht mehr bewusst wahrnehmen. »Bekannt«, »verhext«, »entlegen«, »bedeutend« usw. – wir könnten die Reihe ohne sichtbares Ende fortsetzen – bezeichnen zweifelsohne Eigenschaften, so dass wir im subjektiven Spracherleben diese Worte als Adjektive auffassen. In Wahrheit sind es jedoch ursprüngliche Bewegungen oder Tätigkeiten, die sich verfestigt haben und zu Eigenschaften »geronnen« sind. Um jedes Wort kristallisieren sich Verwandte, die aus der eigenen wie aus anderen Wortklassen stammen können. Worte erscheinen hier als Monaden, die keiner Fenster bedürfen, da sie quasi osmotisch einen Stoffwechselsaustausch mit allen anderen Wörtern betreiben, durch den die Sprache als Ganze atmet. So auch ist Rosenzweigs Bemerkung zu verstehen, dass nicht eigentlich die Worte das wichtige sind, sondern die Sätze. Ein Wort kann vom Verbum zum Substantiv, vom Adjektiv zum Verbum und wiederum als Partizip zum Adjektiv werden: jedes der ursprünglichen Wortformen kann quasi »beiseite geschoben« werden. Die Bahn der Sprache entfaltet sich von einem Punkt aus, dem adjektivischen Stammwort »Gut!«. Der Strom des Lebens kann nur in dieser Bahn fließen. Das 35
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möchte Rosenzweig zeigen. Der Mensch fragt nach dem Wie (Qualität, Quantität und Modalität), dem Wo (Raum), dem Wann (Zeit), nach Gattung und Individuum (Vielheit, Einheit, Allheit), nach den kausalen oder korrelativen Bezügen zwischen Subjekt und Objekt (Relation) – die Sprache führt ihn zu jeder dieser Fragen und gibt ihm die Antwort. Jedes Wort erhält so seinen momentanen Platz im Ganzen der Sprachbewegung, den es schon im nächsten Moment verändern kann. Diese Beweglichkeit trägt nicht zuletzt Poesie und Literatur im Allgemeinen. Kein starres grammatisches Schema kann diese stetigen Veränderungen abbilden – auch nicht die Kategorien. Zum Schluss beschreibt Rosenzweig schließlich noch das Geflecht der Konjugation. Der Infinitiv stelle Bejahung und »reine Bewegung« dar. Wir kennen diesen Ansatz aus Humboldts Sprachforschung sowie von zeitgenössischen Autoren: In manchen Sprachen – vor allem im asiatischen Raum – steht diese Bewegung, also das reine Geschehen, so im Vordergrund, dass es das Substantivum als Subjekt des Satzes beiseite schiebt. Rosenzweig verweist auf »manche Sprachen«, in denen der Infinitiv des Verbums quasi zum Subjekt des Satzes erhoben werde, mit folgendem Beispiel: der Satz »der Storch verschlang den Frosch« laute in »manchen Sprachen« »es war Verschlingen von Seiten des Storches mit Bezug auf den Frosch.« Die Bewegung sei hier wichtiger als derjenige, der bewege. Rosenzweig nennt diese Bewegung nun ein »Ding unter Dingen« – wahrlich keine schöne Formulierung, die auf den substantivischen Charakter des Infinitivs verweisen soll. Noch mehr stört dann im nächsten Satz das Wort »Dinglichkeit«, das zwar Bewegung ausdrücken soll, jedoch eher die Assoziation der Erstarrung weckt: »Diese Dinglichkeit ist ihr (der Sprache, F. H.) nun weiterhin auch innerhalb des Verbums überhaupt zu sichern, indem die einzelne Bewegung in die ruhige Parallelbeziehung zur Gesamtheit des Geschehens gebracht wird, die ihr der Indikativ schafft, im Gegensatz zu den hinsichtlich der Linien des übrigen Geschehens kon- oder divergierenden Linien des Imperativs, Konjunktivs oder Optativs.« 36
So sehr die »Dinglichkeit« unser Empfinden stört, werden wir jedoch gleich verstehen, was Rosenzweig zu diesem »Missgriff« verleitet haben mag. Zunächst jedoch benennt Rosenzweig hier in der nicht zu überbietenden Schlichtheit von drei Zeilen einen Kerngedanken des 36
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Sprachdenkens. Damit die Sprache im Fluss bleibt und die Wirklichkeit des Lebensstromes getreu zum Ausdruck bringen kann, muss sie selbst sich in dieser »ruhigen Parallelbeziehung« zwischen dem fortlaufend Geschehenden, dem zukünftig womöglich Geschehenden, dem gegenwärtigen Angesprochenwerden und dem bereits Geschehenen bewegen. Deutlicher gesagt: der Bewegung des ständigen Werdens und jeweils neu Geschaffenwerdens gegenüber soll das bereits Gewesene und Geschehene wie ein Orgelton vernehmbar bleiben – die grammatische Ausformung jener fortgesetzten Überlieferung der Namen, denen wir im »Büchlein« begegnet waren. Nun wird deutlich, warum er die »Dinglichkeit« an den Anfang des obigen Zitats gestellt hatte: er möchte die »Verdinglichung« hervorheben, die dem Verb in der Vergangenheitsform anhaftet, indem Geschehen als vollendet bzw. abgeschlossen erzählt wird. Diese Vollendung ver-gegenständlicht das Geschehen, es steht uns, die wir aus der Perspektive der Gegenwart darauf blicken, als Gegenstand gegenüber. Das Geschehen wird somit zum Objekt, so dass Rosenzweig die Vergangenheitsform die objektivste Form des Verbums nennt. Ihr Modus ist der Indikativ, in dem das Gewesene erzählt wird. Und so führt die erste Etappe der Sprachbahn vom Wort »Gut« zur vorläufigen Vollendung eines Geschehens. »Gut!« könne man sich tatsächlich erst »zum Meisterlohn nach getaner Arbeit« zurufen. »Gut« als Stammwort der Schöpfung sagt uns eben auch, dass diese bereits geschehen ist. Das Geschehene wird im Indikativ erzählt – und zwar in einer feststellenden Sprache. Gegenwart und Zukunft haben andere Modi, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden. Aber die Sprachbahn der Schöpfung vollendet sich im Indikativ, oder wie Rosenzweig sagt, es trete nun am Schluss der Ausgangspunkt in helles Licht: das Geschaffensein im Anfang. Mit seiner Grammatik der Schöpfung erinnert Rosenzweig noch einmal an die Existenz der Welt vor dem Erscheinen des Menschen in ihr – und er »beweist« ihre grammatische Verfasstheit. Was zunächst skurril erscheinen mochte, dass vor dem Dasein und dem ersten Wort des Menschen bereits die Grammatik in ihren Grundelementen ausgebildet sei, gewinnt hier epistemologische Bedeutung. Die Grammatik existiert in der Welt vor jedem menschlichen Sprechen, jedoch erst nach dem ersten Wort Gottes. Für die Philosophen bedeutet dies den Vorrang der Grammatik vor der Logik, wenn sie sich wahrnehmend und erkennend der Welt nähern möchten. In dem Schon-da-Sein der Welt ist auch die Grammatik »schon da«, denn sie 160
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ist als Bahn der Sprache in das Wort »gut« eingefaltet, und wir konnten Rosenzweig bei ihrer Ausfaltung über die Schulter sehen.
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Die »Na – und – Frage«: Vernunft oder Sprache
Was hat Rosenzweig – so möchte man nun fragen – mit dem Ausrollen der Bahn der Grammatik gegenüber der Vernunftkritik Kants gewonnen? Kant nahm richtigerweise an, dass wir die Dinge nicht so wahrnehmen wie sie sind. Abgesehen davon, dass sich damit die Frage nach dem Wesen der Dinge eigentlich erübrigt hatte, bestand die große Leistung Kants zweifelsohne darin, jedweder Abbild-Theorie der Spiegelung einer vorgegebenen Realität im Denken widersprochen zu haben. Seine Einsicht lautete, dass wir die Dinge nicht so wahrnähmen, wie sie eigentlich seien, sondern nur so, wie sie sich in den Kategorien des Verstandes darstellten. Dies aber führte zu den bekannten Dichotomien zwischen Anschauung und Begriff, sinnlich-empirischer Wahrnehmung und logischer Begriffsbildung – so als ob wir in zwei Welten lebten. Während bei Kant – trotz des Begriffs eines »allgemeinen Selbstbewusstseins« oder der »Einheit des Bewusstseins« – die Kluft zwischen materieller und ideeller Welt bestehen bleibt, wird bei Rosenzweig die Begegnung mit der Welt dadurch »erleichtert«, dass diese bereits sprachlich verfasst ist. Der Mensch muss nicht der Welt »fremde« Kategorien aus seinem inneren geistigen Wesen hervorzaubern, um durch diese Brille überhaupt etwas erkennen zu können, sondern der sprechende Mensch bewegt sich in einer Welt der Schöpfung, die grammatisch aufgebaut ist. Da der Mensch dieser Welt gar nicht anders als sprachlich begegnen könne, unterbleibt die Zerteilung der erkennenden Weltbegegnung in Anschauung und Begriff. Der Prozess von Wahrnehmung und Erkenntnis kann beim Sprachdenken nur einer sein – vermittelt durch die Sprache. Und dieser Prozess führt von der Eigenschaft als dem Allgemeinen zum Besonderen »dies da« und schließlich zu »diesem Baum« oder »diesem Esel«. Bei Kant verläuft der Prozess gerade umgekehrt, indem von einem Mannigfaltigen (Besonderen) der Anschauung der Weg zum allgemeinen Begriff führt, unter den das Besondere subsumiert wird. In der Grammatik Rosenzweigs kommt die Vielfalt der Welt zur lebendigen »Erscheinung« – das »Ding« durchläuft diverse Wortarten, die wiederum untereinander vielfältig verknüpft sind, so dass in jedem Adjektiv und Substantiv das A
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Verb – und umgekehrt – durchschimmert, in jedem Verb bereits die Vielfalt der Zeiten und kausalen Bezüge mit enthalten ist. Kants Weg der Vernunft, mithilfe der reinen Verstandeskategorien die Vielfalt der Erscheinungen zu begreifen, musste notwendig in eine Reduktion dieser Vielfalt führen – was Kant selbst durchaus schmerzlich bewusst war, als er die Schwäche der Vernunft beklagte. Dennoch erhob er den Anspruch, dass diese »schwache« Vernunft mit Hilfe der Kategorienlehre sich über sich selbst aufklären könne (Kritik der Vernunft), um auf diese Weise die Irrtümer mit der Zeit auszusondern und Fortschritte in der Erkenntnis zu machen. Dieser Weg Kants erscheint gegenüber früheren scholastischen Modellen der »Welterklärung« zwar als ein wohltuender Fortschritt, da eben jede Erkenntnis als eine vorläufige sich der Kritik unterwerfen müsse, aber muss dies notwendig zu einer Reduktion von Vielfalt führen? Ist dieser Vorwurf überhaupt berechtigt? Zumindest wird die potentiell unendliche Vielzahl von Eigenschaften, Beziehungen und Wechselwirkungen durch die zwölf Kategorien niemals vollständig erfasst, da zum Vorgang der Erkenntnis ihre Reduzierung auf eine oder einige wenige als vorteilhaft angesehen wird. Wir verhält es sich aber nun mit der Sprache? Auch sie erhebt nicht den Anspruch, das »Ding an sich« zu bezeichnen – das hatten wir schon bei der Namensnennung gehört. Gerade in dem Satz »viele Namen scharen sich um das Ding« kommt ja zum Ausdruck, dass die Sprache immer nach weiteren Benennungen sucht, womit also schon das Unabgeschlossene und nicht Reduktionistische in der sprachlichen Begegnung der Welt gegenüber zum Ausdruck kommt. Um es noch einmal anders zu sagen: während die Kategorien unterteilen und damit abgrenzen, verbindet die Grammatik in den Überlappungen der Wortarten Eigenschaften als frühere, geronnene Tätigkeiten mit zukünftigen und gegenwärtigen. In jeder Kreatur findet sich damit das Gewordensein zugleich mit dem zukünftigen Werden. Der dynamischen Vielfalt des Lebensstromes kommen Sprache und Grammatik im Sinne Rosenzweigs näher als die begriffliche Logik. Das heißt wahrlich nicht, dass es eine klare Sprache gäbe oder dass Worte die Wirklichkeit besser »erfassten« als die Kategorien. Das Leben – so würde Rosenzweig vermutlich antworten – entzieht sich ohnehin der »Erfassung«, da es nicht still steht. Die Vielfalt der Bedeutungen hinter und in jedem Wort jedoch öffnet vielfältige Türen zur Wirklichkeit des Lebens, ohne das Besondere auf ein Allgemeines reduzieren zu müssen. 162
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Die eigentliche Pointe der Ausfaltung der Grammatik aus einem Wort gegenüber der Kantischen »Kritik der Vernunft« – und anderen Formen des Idealismus – teilt sich in zwei Stränge. Zum einen überhebt uns das Denken der Sprache jenem mühseligen Schürfen nach dem Geist oder dem Logos, das den Idealismus prägt. Zum anderen aber erweist sich plötzlich das idealistische Ich als zweifelhaft. Ist uns eigentlich aufgefallen, dass in der Grammatik der Schöpfung keine Personalpronomina vorgekommen sind? Ein Du, Ich, Er, Sie, Es oder Wir hat Rosenzweig bei all seinen »Zauberkünsten« uns bisher nicht vorgeführt. Wie hätte er dies auch tun können, da in der Schöpfung zunächst nur Gott und Welt ihr Dasein manifestiert haben? »Gottes ewiger Schöpfermacht« stehe zunächst nur die »Kreatürlichkeit der Welt« gegenüber. Klafft hier nicht ein Widerspruch? Einerseits führt uns Rosenzweig den Indikativ als Modus wissenschaftlicher Erkenntnis vor, andererseits versteckt er die Personalpronomen noch im Hut. Wer aber soll denn erkennen, wenn nicht ein Ich oder Er oder Sie? Einerseits soll die Schöpfung als schon Geschehenes erzählt werden, aber wer außer einem Ich oder Du soll erzählen? Natürlich können nur Personen, ob im Singular oder Plural, Erkenntnisse hervorbringen und Geschichten erzählen. Aber die Schöpfung ist vor der Offenbarung eine noch »unbewohnte« Welt – auch wenn die Grammatik schon sich entfaltet. Die Sprachbahn muss weiter gezogen werden, wenn der Mensch in der Welt wirken soll. In der Grammatik ist die Möglichkeit des Sprechens vom Wort »Gut« aus angelegt, aber noch bleibt Alles stumm. Die Welt (samt Grammatik) war vor dem Menschen da – aber erst er empfing die Sprache als die »Morgengabe des Schöpfers«, so Rosenzweig. Das Flussbett der Sprache – die Grammatik – ist mit der Schöpfung entstanden, das Wasser wird aber darin erst fließen, wenn der Mensch spricht. Was haben diese Windungen des Weges mit Kant zu tun? Die spontane Antwort lautet: Das »Ich denke« kommt zu früh! Was heißt das? Rosenzweigs grundlegende Kritik am Idealismus lautet, dass dieser das Ich zum »Erzeuger der Welt« überhöht habe. Die »Erzeugung« geschähe dabei aus reinen, logisch gebildeten Begriffen, die selbst wiederum die Dinge erzeugten. Das Begriffe bildende Ich werde unter dem Es der von ihm erzeugten Begriffe und Dinge selbst verdinglicht. Begonnen habe diese Fehlentwicklung durch die Missachtung der Sprache, durch das Primat der Logik über die Grammatik. Das Ich wird von der Logik an einer Stelle des Systems gesetzt, wo es sprachlich gar nicht erscheinen kann! Rosenzweig führt den Leser präA
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zise auf den Punkt hin, an dem sich die Wege von idealistischer Philosophie und Sprachdenken trennen, indem er zunächst die scheinbare Deckungsgleichheit zwischen beiden hervorhebt. Beide hätten nämlich das Gegenständliche der Eigenschaft betont – also die Bewegung und das Geschehen als bereits in der reinen Eigenschaft (»Gut«) vorhanden gesetzt. Das Adjektiv, welches das Gegenständliche der Welt benennt, könne nicht ohne die Kopula »ist« stehen, die Welt sei schließlich lauter Eigenschaft, so Rosenzweig. Auch das idealistische Weltbild stünde grammatisch unter den Kategorien des Präteritums, der dritten Person, der beiden Artikel, des bestimmten und unbestimmten, der Pronomina – und endlich des Adjektivs. Beide – Idealismus und Sprachdenken – hätten auf diese Weise die Gegenständlichkeit der Welt sichern wollen. 37 Der Sprachdenker jedoch möchte damit die Welt der Gegenstände deutlich abgrenzen und absetzen vom Menschen, was dadurch verstärkt wird, dass diese – rein gegenständliche – Welt der Schöpfung zunächst stumm bleibt. Der Mensch erst wird durch das Gespräch zwischen einem Du und einem Ich, durch sein »Lautgeben« die Dinge zum Sprechen bringen. Im Idealismus wird die Schöpfung nicht durch das Sprechen belebt, sondern durch die logische Erzeugung der Begriffe. Der Sprachdenker Rosenzweig verfährt im Entwerfen seiner Grammatik mit großer Zurückhaltung, indem er die Personalpronomina in der »stummen Schöpfung« und ihrer reinen Kreatürlichkeit gar nicht auftreten lässt. Das »Symbol des ersten Geschaffenen« sei ein Eigenschaftswort – das Stammwort der Schöpfung »(es ist) gut«. Damit sollte es gut sein, könnte man sagen. Der Idealismus aber stelle an diesem Punkt die Weichen seiner weiteren Entwicklung fatal falsch, indem er als sein Stammwort das Personalpronomen »Ich« setze. Hier kommt die eigentliche Pointe des ganzen bisherigen Verlaufs: Rosenzweig ficht es an, dass man das Ich zum Stammwort der gegenständlichen Welt erheben könne, »weil es mit dem doch auch vom Idealismus als die Grundform der Gegenständlichkeit anerkannten Eigenschaftswort nicht grammatisch zusammengehört«. 38 Welch kühne Behauptung! Hat nicht Rosenzweig selbst – scheinbar unbekümmert ob bisheriger Regeln oder sprachwissenschaftlicher Normen – bei den Übergängen von einer Wortart zur anderen imaginäre Zäune eingerissen und scheut nun vor dem letzten Übergang zurück? Warum sollten 37 38
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Dazu: SE, S. 156 Ebd.
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Die Nennung des Namens und die Grammatik der Schöpfung
das Adjektiv und das Personalpronomen grammatisch nicht zusammengehören? Zum einen lässt sich ein Mensch – Ich oder Du – nicht auf eine oder mehrere Eigenschaften reduzieren. Sie sind ihm etwas Äußerliches, das zufällig und wandelbar wie ein Kleid oder ein Mantel ihn umhüllen mag. Die unvermittelte Verknüpfung des Personalpronomens mit dem Adjektiv würde insofern das Ich oder Du der Person zu einem Mantel verdinglichen. Ein Weiteres kommt jedoch hinzu, das wesentlich ist: Rosenzweig hat in seiner Grammatik gezeigt, wie etwas entsteht – Dinge, Naturwesen sowie Beziehungen zwischen ihnen. Aber wie entsteht ein Ich? Wir kennen die Antwort schon von Hermann Cohen. Um »Ich« sagen zu können, bedarf es der Ansprache durch ein Du – das Ich muss beim Namen genannt werden, entweder von Gott oder vom Menschen. Deswegen bleibt die Schöpfung stumm, und erst in der Offenbarung kann von einem Ich und einem Du buchstäblich die Rede sein. Wir werden dies im nächsten Kapitel erleben. Der Idealismus begehe nun den schweren Fehler, so Rosenzweig, den Zusammenhang zwischen Ich und Eigenschaft, da er grammatisch nicht herzustellen sei, »rein logisch« zu konstruieren. Rosenzweig sieht den Geburtsfehler des Idealismus quasi in seinem »Sprachfehler«, also dem Verlassen der Grammatik im entscheidenden Moment. Durch dieses »Versagen der Sprache« sei ihr »harmloses Selbstvertrauen gelähmt« 39 worden. Daraus folge, dass »die idealistische Welt nicht durch das Wort, sondern durch das Denken geschaffen ist«. Das denkende Ich sei schon »vor« der Erzeugung da – welche Erzeugung meint Rosenzweig hier? Aus den vorigen Textpassagen können wir es herauslesen: die Erzeugung der Dinge aus Begriffen, die ihrerseits vom Ich erzeugt werden. Damit ist nur in philosophie-theoretischen Worten ausgedrückt, was Rosenzweig im »Büchlein« lebensnah beschrieben hat: der Idealist kann sich nicht mit dem Kauf des Stücks Käse zufrieden geben, sondern fragt, was der Käse eigentlich sei. Erst indem er diesen besonderen Käse unter Kategorien und Begriffe »verallgemeinert« hat, ist es ein »wirklicher Käse«, den das reine Denken erzeugt hat. Das »Ich denke« gelangt durch diesen Akt der begrifflichen Erzeugung, indem es also das Besondere durch ein übergreifendes Allgemeines bestimmt, zur Einheit seines Selbstbewusstseins. In der Natur dieser reinen Denkbewegung liegt es, dass jenes Ich jedoch seine Besonderheit im39
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mer wieder durch das Allgemeine eines Vernunftwesens oder »reinen Selbstbewusstseins« bestimmt. Erst in dieser Hingabe an ein Allgemeines der Vernunft, der Idee oder dem Selbstbewusstsein komme das idealistische Ich zu sich selbst! Schon im vorigen Kapitel hatten wir die Bewegung zwischen Erzeugung und Hingabe erwähnt, in der sich nach Rosenzweig das idealistische Ich erschöpft. Der Zusammenhang zwischen dem Ich des »reinen Denkens« und dem allgemeinen Selbstbewusstsein wäre damit rein logisch konstruiert so wie der zwischen erstem Ich und erster Eigenschaft. Muss an dieser Stelle noch gefragt werden, warum der Begriff des »reinen Denkens« so fatale Folgen hat? Zum einen wird damit fortlaufend suggeriert, der Mensch könne denken ohne zu sprechen, »Denken« ereigne sich soz. im sprachfreien Raum, den es bekanntlich nicht gibt. Ferner wird damit ein »Weltbild« befördert, in dem Wissen, Erkenntnis, Wahrnehmung primär als Subjekt-Objekt-Beziehung behandelt werden. Die Figur der »Dreistrahligkeit der Sprache« zeigt jedoch plausibel auf, dass erstens mindestens Subjekt-Subjekt-Objekt bei jedweder Wahrnehmung – explizit oder implizit – anwesend sein müssen, und dass zweitens zwischen diesen Dreien ein Geflecht von Wechselwirkungen entsteht, das auf einer weiteren Ebene das erste, sprechende Subjekt mit sich selbst in Wechselwirkung von Sprechen und Hören bringt. Die Einschränkung des reinen Denkens auf die Wechselwirkung zwischen Ich und Es, Erzeugung und Hingabe, spiegelt die Illusion einer Vernunft vor, mit der sich alles »regeln lässt«. Die Hingabe aber an die Vernunft oder ein allgemeines Sittengesetz kann zu mancherlei Verblendungen führen – denn da wir der Vernunft oder dem allgemeinen Selbstbewusstsein genauso wenig begegnen werden wie der Menschheit, tritt leicht die Einbildung an Stelle der Wirklichkeit. Der Menschheit begegnen wir immer nur im Anderen, dem Du des konkreten Menschen. Der aber spielt in der Logik des reinen Denkens nur eine periphere Rolle. Wie sich Du und Ich aus dem weiteren Ausrollen von Rosenzweigs Sprachbahn entfalten, erfahren wir im nächsten Kapitel. Hier jedoch noch eine kleine Schlussnote zur »Beruhigung« der Kantianer: Sie mögen fragen, warum wir Rosenzweigs Sprachdenken vornehmlich als Kritik am Idealismus Kants ausgelegt haben. Hat nicht Rosenzweig selbst behauptet, seine Kritik am Idealismus ziele vor allem auf Hegel, Fichte und Schelling? Wir entgegnen darauf: zum einen haben wir wiederholt betont, dass Kant selbst vor einer endgül166
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Die Nennung des Namens und die Grammatik der Schöpfung
tigen »Welterklärung« gewarnt hat, indem er die Erkenntnis des »Dings an sich« oder der Welt, so wie sei eigentlich sei, für unmöglich erklärt hat. Gerade diese »Lücke im System« war jedoch Anlass für jemanden wie Hegel, nach philosophischen Wegen zu suchen, die Lücke zu schließen, mithin also ein geschlossenes System zu entwerfen. Dagegen richtete Rosenzweig seine Kritik und wenngleich er damit nicht der erste war, so beschritt er in seiner Kritik doch gänzlich neue Wege, indem er das idealistische durch das Sprachdenken aushebelte. Da musste er notwendig bei Kant ansetzen, denn bei ihm – wie wir gesehen haben – ereignete sich der eigentliche »Sündenfall« des Idealismus durch die Hervorhebung des Ich als dem ersten »Stammwort«. Auch die Reduktion des Besonderen auf das Allgemeine wird in den Kantischen Kategorien vorgebildet, um dann bei Hegel ihre »Vollendung« zu erfahren. Dennoch hat Rosenzweig selbst in dem späteren Text »Das neue Denken« betont, dass die Beschäftigung mit Kant weiterhin verlohne, da dessen Philosophie durch das Sprachdenken nicht aufgehoben oder entwertet sei, sondern vielmehr aus dieser Perspektive sich neue Einsichten in Kants Werk ergäben. Ging es nicht darum, Kant im Denken der Sprache weiter zu denken? Dies kann schließlich nur gelingen, wenn über Kant hinaus gedacht wird. Kein ernsthafter Kantianer wird es leugnen, dass Kant die Sprache nicht gedacht habe. Die Folgen dieses Versäumnisses hat Rosenzweig auf originelle Weise durchdrungen. Er hat Kant damit nicht »zu Ende gedacht«, denn dieses würde beim schlechtesten Willen gegenüber keinem Denker gelingen. Das Werk der großen Denker kennt kein Ende, sondern immer nur neuen Anfang.
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Kapitel 4: Zwiegespräch halten: die Offenbarung als Brücke zwischen höchster Subjektivität und unendlich klarer Objektivität – oder der Bahn zweiter Teil Rosenzweig hat eine Grammatik aus dem Schöpfungsgeschehen entworfen, aber von einer gesprochenen Sprache war bisher die Rede nicht. Wie auch, wenn in dieser Grammatik die Personalpronomina Du und Ich noch gar nicht vorgekommen sind? Auf der bisher durchlaufenen Sprachbahn hatte Rosenzweig die Sprache lediglich als eine feststellende gezeigt, für die der Modus des Indikativs auszureichen schien. Die Schöpfung als das Gewesene, das sich schon ereignet hat, lässt sich auf diese Weise er-schöpfend erzählen, jetzt aber wenden wir uns der Offenbarung zu. Sie will erlebt, und nicht nur erzählt sein – der für dieses Erlebnis angemessene Modus ist für Rosenzweig der Imperativ. Zur Einführung in das Thema beginnen wir erneut mit einigen Bemerkungen zu Eugen Rosenstock-Huessys »Angewandter Seelenkunde«, in der die imperativische Gestalt des – immer gegenwärtigen – Erlebens mit wenigen Worten anschaulich gemacht wird. Es sei die Grammatik und nicht die Psychologie, die uns laut Rosenstock-Huessy die »Geheimnisse« des Seelenlebens aufschließt. Dabei wirft Rosenstock-Huessy quasi die Schulgrammatik über den Haufen: in ihr würden schon die Modi der Zeiten nicht differenziert, wenn Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft schlicht allesamt in den Formen des Indikativ, Konjunktiv und Imperativ nebeneinander aufgelistet werden. Damit verschwimme aber bis zur Unkenntlichkeit ein entscheidender Unterschied zwischen den Zeiten, den sowohl Rosenzweig als auch Rosenstock-Huessy so benennen: die Vergangenheit wird erzählt, die Gegenwart erlebt und die Zukunft erwartet. Der Indikativ erlaubt jedoch nur die Beschreibung, Feststellung oder bestenfalls die Erzählung von Ereignissen. So wird denn auch die Zukunft nur aus dem gegenwärtigen und vergangenen Geschehen heraus »erzählt« – und die Gegenwart wird festgestellt, aber nicht erlebt. Diese sprachliche Einebnung der Zeit-Unterschiede entspringt nicht zuletzt dem verkümmerten Verständnis von Sprache als einem Sender-Empfänger168
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Offenbarung als Brücke
Modell, dem sich offenbar auch schon Rosenstock-Huessy vor 100 Jahren ausgesetzt sah. Wer die Seele auf die Funktion des Empfängers und Transformators von Erkenntnissen, Gefühlen und Urteilen reduziere 1 , so Rosenstock-Huessy, dem genüge grammatisch der Indikativ, da in diesem alles erklärt, beschrieben, erzählt und festgestellt werde. Der Indikativ sei der Modus einer Wissenschaftssprache, die sich mit dem bereits Erkannten, also Gewesenen, mithin Vergangenen beschäftige. In diesem Modus könne man sich zwar über das Festgestellte verständigen (Sender-Empfänger) 2 , aber nicht über das Feststellen hinaus tätig werden, handeln im Sinne einer Begegnung zwischen Mensch und Mensch. Denn wenn sich nicht nur Sender und Empfänger, sondern Menschen einander begegnen, dann geschieht ihnen etwas, indem sie sprechen – sie werden in das gegenwärtige Geschehen einer »Verwandlung« ihrer Seelen hineingerissen. Jedes wahrhaftige Gespräch verändert die Gesprächspartner, so dass sie Andere werden.
Das Gebot zu hören oder die Umkehr der Seele durch den Imperativ: alles eine Frage der Zeit Dieses Geschehen wird als gegenwärtig erlebt – welches aber wäre der klassische Modus der Gegenwart? Nach Rosenstock-Huessy der Imperativ, denn in ihm ereigne sich die Wende von der Vergangenheit in die Zukunft – er nennt dies auch die »Hereinreißung des Kommenden in das Heute und Hier«, 3 durch die eine Verwandlung der Seele geschehe. In der Tat reißt das göttliche Gebot »Liebe mich«, aber auch der menschliche Anspruch »Vertraue mir, hilf mir« uns aus dem Alltäglichen, der Routine, dem abstrakt Unpersönlichen einer bloßen Verständigung heraus. Dieser Anruf, dieses Gebot verlangt eine Antwort des ganzen Menschen, der nun aus sich heraus gehen muss, und dies hinterlässt immer eine Spur der Verwandlung. Aber folgen wir Rosenstock-Huessys Gedankenbewegung etwas umfassender. Laut Rosenstock-Huessy sei es Aufgabe der Psychologie, sich mit
Eugen Rosenstock-Huessy: Angewandte Seelenkunde, in: Die Sprache des Menschengeschlechts – eine leibhaftige Grammatik in vier Teilen, Verlag Lambert Schneider 1963, S. 746 2 Ebd., S. 760 3 Ebd. 1
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jener Kraft zu beschäftigen, die den einzelnen Menschen ergreifen kann und durch die in ihm das »Gesetz der Welt- und Menschheitsgeschichte« plötzlich aufgeschlagen gelesen werden könne. Rosenstock-Huessy spricht hier vom Offenbarungsglauben als einer historischen Wirklichkeit, deren Wirkung auf die Seele der Menschen als Prophetie bekannt ist. Dabei zieht er genau wie Rosenzweig eine scharfe Grenze zu jeglicher Form des Okkultismus, der Magie oder des Wunderglaubens. Das überlieferte Geschehen einer Offenbarung zeige zunächst nur die Übereinstimmung der historischen Kunde mit der »natürlichen Seelenbeschaffenheit des Menschen, sich durch das Wort ergreifen zu lassen«. An die Adresse des Idealismus richtet Rosenstock-Huessy sein Wort, dass der Mensch, um etwas zu be-greifen, zunächst er-griffen werden müsse. Das Erlebnis einer Offenbarung beruht auf dem Hören und die Erschütterung der Seele auf dem empfangenen Wort. Hier geschehe eine Verwandlung der Seele in der Zeit, für die der Idealismus mit seinen zeitlosen Begriffen keine Worte finde. Exemplarisch für dieses »Versagen« sei eine Grammatik, die vom Ich ausgehe: »Diese Lehre entspricht der Behauptung der griechischen Grammatik, das Ich sei die erste Person des Verbums. Und sie gibt damit deutlich ihre Abkunft von einem antiquierten Standpunkt des Denkens zu erkennen«. 4
Welche Person sollte aber statt des Ich die erste in der Konjugation des Verbums sein? Ganz offenkundig kommt dem Du diese Stelle zu, denn jedes Ich entdeckt sich selbst erst in der Antwort auf ein Du. Rosenstock-Huessy gibt dafür Beispiele aus dem Alltag. Das erste, was dem Kind widerfahre, sei, dass es angeredet werde – es werde gebeten, angelächelt, getröstet, gestraft, beschenkt, gesättigt. Es erfahre sich als »mächtiges Du« für eine Außenwelt, die zunächst vor allem aus den Eltern bestehe. Die Grammatik der Seele beginnt also mit dem Hören. Wir hören, dass wir für andere da sind und etwas bedeuten, dass sie etwas »von uns wollen« – und dieses Hören geht dem Sprechen voraus. Indem wir uns selbst aussprechen und aussagen, dass wir selbst sind und wer wir sind, sprechen wir in dieser Selbigkeit vor allem unsere Andersheit gegenüber den Anderen aus. Das »Ich bin ich« sei die Antwort des von draußen mit seinem Namen angeredeten Menschen, so Rosenstock-Huessy. Wenn das Kind immer wieder trotzig »Selber« sa4
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ge, um seine Selbstständigkeit gegenüber den Anderen und der Außenwelt einzufordern und festzuhalten, dann antwortet es damit doch ganz offenbar auf das Wort, das von außen, vom »anderen Du«, vernommen wird. Das Kind erfahre durch dieses andere Du – Vater, Mutter, Onkel, Bruder, Gott und Welt –, dass es selbst eben nicht Welt, Vater, Mutter oder Gott sei, sondern etwas anderes. Um es in der Tradition von Hamann, Humboldt, Steinthal zu sagen: Vernunft kommt von Vernehmen, die Sprache ist das bildende Organ des Gedankens, ohne zu sprechen kann sich kein Gedanke formen – oder wie Rosenstock-Huessy schnörkellos sagt: das Hören geht dem Sprechen vorauf. Das erste Wort und jedes darauf folgende sind demnach nie Setzung, sondern Antwort. Und so auch in der Philosophie: Fichtes Ich bleibt auf ewig die berühmte Setzung, in der jedes Nicht-Ich als Ableitung des Ich nur auf dem zweiten Rang sitzt. Auch Descartes cogito ignoriert die Grammatik der Seele, Rosenstock-Huessy verwirft denn auch Descartes berühmten Satz auf originelle und kühne Weise: statt »ich denke, also bin ich« müsse es heißen »Gott hat mich gerufen, also bin ich«. Die Ich-Philosophien der verschiedenen Jahrhunderte ignorieren das Geflecht der wechselseitigen Bezüge zwischen Mensch, Welt und Gott, in welcher das Ich lebt und ständige Wandlung erfährt. Der Idealismus verleugnet diese Wandlung, weil das Ich auf die sinnliche Wahrnehmung der äußeren Welt (Anschauung) unter dem ewig gleichen Kanon an Ideen oder Kategorien anspricht. Es ist diese Wandellosigkeit, die Rosenstock-Huessy als Mangel des Idealismus bloßlegt, womit wir den oben umgeleiteten Faden wieder aufnehmen und der Bedeutung des Imperativs als Form der Gegenwart und der Verwandlung nachgehen. Das Gebot oder Geheiß des »Geh, höre, sei, werde, komm« ruft den Menschen auf und aus seinem bisherigen Gleichmaß heraus, sich dem Wort zuzuwenden, das an ihn gerichtet ist: er wird zur Antwort und damit zur Ver-antwortung gerufen. Schon das Hören bedeutet also eine Wendung, während im Antworten auf das an ihn gerichtete imperativische Wort bzw. Gebot eine Wandlung oder Verwandlung der Seele einsetzt, wenn sie sich nicht flüchtend entzieht – was treffend im Wort Abstraktion zum Ausdruck gebracht wird. Wer die Bitte, das Flehen des Nächsten nicht als Gebot zur Ver-antwortung wahrnimmt, wer auf das Gebot der Liebe oder das Geheiß helfend zu handeln, mit Phrasen, Floskeln, Abstraktionen oder Plastikwörtern antwortet, der bewegt sich nach einem Ausdruck Rosenstock-Huessys in der KaufA
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mannssprache, die abwägt, die Dinge handhabt und wie Kleingeld handelt. In ihr kann man sich verständigen – mehr nicht. Die unwirtliche Gegend dieser Verständigung werde bewohnt vom »Menschenfuchs, Menschenwolf oder der Menschenschlange«, während der »Menschenmensch« sich laut Rosenstock-Huessy begreiflich machen wolle, und zwar gegenüber Gott und gegenüber seinem Nächsten. 5 Hinsichtlich des Mitmenschen könne dies nur in einem Ereignis des gegenseitigen Ergriffenwerdens gelingen. Kunstworte oder gedrechselte Abstrakta verbauen den Weg dorthin, deswegen müsse man hinuntersteigen zum Urquell der Sprache, an dem jeder nicht nur sein eigenes Wort finden müsse, sondern auch das zeitgemäße, das eben heute und nicht morgen oder gestern wirkt. Wir erinnern uns an Rosenzweigs Hinweis, dass jedes Wort zum ersten Mal gesprochen wird. Obwohl mit diesen Anmerkungen hinreichend der markante Unterschied zwischen Gebot, Geheiß und Befehl deutlich geworden sein sollte, wird der idealistisch geprägte Mensch vermutlich Einspruch einlegen: er hat bisher das selbstbestimmte Individuum, das selbstbewusste reine Ich als den »zentralen Ort« des Widerstands gegen Fremdbestimmung und somit auch gegen alle totalitären Formen des Denkens und Handelns begriffen. Nun soll jedoch gerade das im Imperativ ausgesprochene Gebot uns vor Fixierung, Abstraktion und dem Absoluten – mithin auch Dogmatik – bewahren! Sprechen denn nicht gerade Ideologen, Demagogen und Diktatoren fortwährend das imperativische »Du musst« oder »Ihr müsst« aus? Da sie den Anderen gegenüber Gebote und Befehle erteilen, sich selbst jedoch der Verantwortung gegenüber dem Gesetz oder der Menschlichkeit entziehen, bestätigt dieser Gebrauch des Imperativs in der Tat die Maßlosigkeit jeder Ich-Philosophie. Solange der Wahn des »selbstbestimmten Ich« nicht ausgehebelt wird, kann der eine Ideologe immer nur gegen den nächsten ausgewechselt werden. Der Imperativ aber, von dem Rosenstock-Huessy und Rosenzweig sprechen, entlarvt gerade das selbstbestimmte oder autonome Individuum – das bürgerliche Subjekt – als Illusion oder Ideologie. Denn der Andere ist ja immer schon mit mir oder vor mir da – und so bin ich ihm immer schon etwas schuldig, mindestens eine Antwort. Der Imperativ des Gebots bezeichnet nichts anderes als die Wirklichkeit des Aufeinander-Bezogen-Seins der Menschen untereinander – und zwar Aller. Dieser Imperativ wirkt nicht als 5
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Befehl, dem blind zu folgen wäre, sondern soll uns dem Anderen gegenüber öffnen. Gott sucht den Menschen und der Mensch fragt nach Gott – sie wissen jeweils nicht, ob der Andere überhaupt antworten wird. Das Liebesgebot wäre demnach eher eine Frage, eine gegenseitige Suche danach, ob überhaupt jemand antwortet. Diese Suche wird sich ereignen als ein fortgesetztes, sich je steigerndes gemeinsames Tasten und Stochern nach Worten, nach einem Ahnen um die Dinge, »um die es wirklich geht«. Dies kann nur unter dem Gebot gelingen, sich dem Wort des Anderen nicht leichtfertig zu entziehen – d. h. das Suchen und Tasten kann in seiner womöglich quälenden und manchmal aussichtslosen Mühsal nur von dem Urvertrauen getragen werden, das wir Liebe nennen. Sie ist das ursprüngliche Gebot, dem sich zu entziehen gleichbedeutend wäre mit dem Marsch in die Barbarei. Der Imperativ der Sprachdenker befiehlt nicht, er spricht nicht eine Handlungszumutung aus, sondern er knüpft den ersten Faden eines unendlich sich windenden Bandes von Fragen und Suchen zwischen Mensch und Gott, Mensch und Mitmensch. Der Begriff der Handlungszumutung bezieht sich auf den Ideologen oder politischen Aktivisten – ob in Diktaturen oder sog. Demokratien –, der keinen Mitmenschen kennt, sondern nur Werkzeuge in Menschengestalt. Er will überzeugen, überreden, organisieren und zum Tun bewegen oder zwingen. Der Imperativ der Sprachdenker soll den Raum des gegenseitigen Hinhörens erschließen, womit eine »Philosophie des nächsten Du« 6 entsteht, welche Rosenstock-Huessy jener Ich-Es-Philosophie entgegensetzt, die es nur mit »Selbstbewusstsein« und Weltanschauung zu tun habe. Der erhörte Andere aber vertritt in seinem Wort bereits die Zukunft, welche die Gegenwart des Hörenden in das Kommende hineinreißt. Die Erfüllung durch die Zukunft, die Erwartung des einzigartigen Moments, Zeitumkehr und Ich-Umkehr – dies sind die Themen der Offenbarung. Dies sind zugleich die großen Themen einer Philosophie jenseits eines auf Zeitlosigkeit und Ich-Denken ausgerichteten Idealismus. Deswegen bedarf die Philosophie der Mitarbeit der Theologie – und umgekehrt. Rosenzweigs neues Denken hebt daher mit der Forderung nach einer neuen Form der Zusammenarbeit von Philosophie und Theologie an, und der Begriff der Offenbarung wird ihm dabei zum Schlüssel einer Neuausrichtung philosophischen Denkens, das von der Sprache her gedacht wird. Offenbarung ist Sprache und Spra6
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che Offenbarung. Wir folgen nun Rosenzweigs Weg zur Entdeckung des Ich im Du und zur Zeitumkehr, die im Offenbarungsgeschehen als Wirken der zeitlosen Ewigkeit in der Zeit erlebt wird. Dieser Weg mündet schließlich in die Einlösung eines Versprechens, das Rosenzweig im ersten Teil des Stern gegeben hat: zu zeigen, wie durch die Offenbarung eine Brücke zwischen höchster Subjektivität und unendlich klarer Objektivität entsteht. Doch am Anfang steht die Liebe.
Die Offenbarung a.
Die ständige Erneuerung der treulosen Liebe
Das Kapitel über die Offenbarung beginnt Rosenzweig mit den biblischen Worten »Stark wie der Tod ist die Liebe.« Damit hebt er die Bedeutung dieses zentralen Kapitels des »Stern« hervor – denn was waren die allerersten Worte dieses Buchs? »Vom Tode, von der Furcht des Todes, hebt alles Erkennen des All an«. Dass erneut ein Kapitel – und zwar nicht irgendeines – mit dem Tod beginnt, veranschaulicht exemplarisch Rosenzweigs Bestimmung der Sprache als höherer Mathematik, auf deren Bahn ein Punkt den ganzen Bahnverlauf voraussagt. Der Text als Ganzer handelt von Tod – und Leben. Rosenzweig hat buchstäblich auf Tod und Leben geschrieben; vielleicht hat das Schreiben ihm Leben gegeben, auf jeden Fall entlässt er seinen Leser am Ende aus dem Buch hinaus ins Leben. Aber das Leben und die Liebe bedürfen des Todes. Ohne den Tod wäre die Schöpfung keine Schöpfung, also kein Geschöpf, denn dessen Geschöpflichkeit beruhe auf seiner Vergänglichkeit. Deswegen bezeichnet Rosenzweig den Tod als dem »Schlussstein der Schöpfung«, der »allem Geschaffenen erst den unverwischbaren Schlussstein der Geschöpflichkeit, das Wort »Gewesen« aufdrückt«. 7 Die Liebe sei es, welche diesem Schlussstein den Kampf ansage, aber sie bedarf des Schlusssteins im »dunklen Gewölbe der Schöpfung«, der zum »Grundstein des lichten Hauses der Offenbarung« werde. Die Liebe kenne nur die Gegenwart, lebe von der Gegenwart, schmachte nach Gegenwart. Wie dürfen wir dies verstehen? Beruht Liebe denn nicht auf der Treue und damit auf einem Versprechen, das gerade nicht den Launen des gegenwärtigen Augenblicks er7
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liegt? Wird die Liebe nicht gerade dadurch stark, dass sie hofft, für die Dauer eines Lebens selbst lebendig zu bleiben? Das hieße doch aber, dass die Liebe so inständig auf die Zukunft baut wie kein anderes Gefühl. Zunächst aber spricht Rosenzweig nicht von der Liebe zwischen Menschen, sondern von der Liebe Gottes zum Menschen – wenngleich wir sehen werden, wie göttliche und menschliche Liebe einander nicht nur bedingen, sondern oft nicht unterscheidbar sind. Wird mit diesem Hinweis das Paradoxon nicht noch gesteigert? Gottes Liebe kenne nur die Gegenwart? Wenn Gott nicht aus der Ewigkeit für die Ewigkeit liebt, wie soll der Mensch Treue und Beständigkeit der Liebe üben und erfahren? Doch hier – am Beginn des Kapitels zur Offenbarung – stellt Rosenzweig zuerst einmal die Frage nach dem Verhältnis von Schöpfung und Offenbarung. Wenn die Geschöpfe der Schöpfung dem Tod ausgeliefert sind und der Schöpfungsakt selbst das Gewesene ist – was oder wer kann dann die Schöpfung vor dem Versinken ins Nichts bewahren? Mit dem Ereignis der Offenbarung sagen Liebe und Gegenwart dem Tod und dem Gewesenen den Kampf an. Durch die in der Offenbarung erfahrene Hinwendung Gottes zum Menschen und seinem Liebesgebot erfährt die menschliche Seele ihre Erneuerung, und so stehen in der Überschrift zum Offenbarungskapitel die Worte von der allzeit erneuerten Geburt der Seele. Doch wie wird aus dem einmaligen Ereignis der Offenbarung eine allzeitige, d. h. über alle Zeiten hinweg tätige Kraft wirksam? Nun sprechen wir nicht von einer anonymen Kraft, die sich offenbart hat, sondern von Gott. Nach Rosenzweig könne das ewige Wesen Gottes sein eigenes Versinken ins Nichts nur aufhalten, wenn es einmal aus der Ewigkeit heraustrete und sich in der Gegenwart des Augenblicks zeige (offenbare, F. H.), ohne in der Flüchtigkeit desselben an Ewigkeit zu verlieren. Inwieweit aber kann sich das einmalige Ereignis eines Hineinströmens der Ewigkeit in den Augenblick in den nächsten Augenblick hinein fortsetzen, nachdem der vorige Augenblick verflogen ist? Ferner fragt sich, ob das Wort Augenblick noch zuträfe, wenn alle Augenblicke von der Ewigkeit erfüllt wären – sie wären dann nicht mehr augenblicklich, sondern immerwährend. Rosenzweig sagt, das Aufleuchten (der unendlichen, ewigen Schöpferkraft) im Augenblick dürfe nicht nur einmal geschehen, sondern müsse »in der Länge der Zeit immer neu von Ding zu Ding« weiter fließen. Die Betonung liegt dabei auf immer neu, also auch immer anders. Deswegen müsse die ewige A
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Schöpfermacht die ganze Breite der Schöpfung ganz durchlaufen, was nur einer Kraft unendlichen Atems 8 möglich sei. An anderer Stelle bezeichnet Rosenzweig diese Kraft als etwas in »sich Steigerungsfähiges«, die nie ermüden dürfe. Was Rosenzweig hier in mehreren Anläufen als Kern der Offenbarung herausschälen möchte, ist die Liebe: »Es ist die Liebe, auf die alle hier an den Begriff des Offenbarers gestellten Forderungen zutreffen, die Liebe des Liebenden, nicht die der Geliebten.« 9
Diese Liebe leuchtet im Augenblick auf, soll aber die breite Unendlichkeit der Schöpfung durchlaufen, ohne außer Atem zu kommen. Wir kennen die erhabenen Worte von Gottes Allmacht und Allwissen, aber eine »Allliebe« kann es laut Rosenzweig nicht geben. Die Liebe könne immer nur »eines zur Zeit« ergreifen – und so bedürfe sie des unendlichen Atems, um alles und jeden in der unendlich ausgebreiteten Schöpfung jeweils zu seiner Zeit zu lieben: Augenblick und Ewigkeit. Die Liebe sei treulos und zugleich beständig, sie lebe im Augenblick, aber verbinde ihn mit der Ewigkeit. In diesem Forteilen von Ding zu Ding und von Augenblick zu Augenblick geschieht die »allzeiterneuerte Geburt der Seele«, was in der Überschrift des Kapitels Rosenzweigs anderer Name für Offenbarung ist. Wie die Schöpfung und wie die Geburt der Seele zu allen Zeiten »erneuert« werden muss, so auch die Liebe. Erneuerung bedeutet, immer wieder anzufangen, aber nicht immer wieder »von vorn«, denn diese Erneuerung beruhe auf Steigerung wie das Leben selbst: »Sie (die Liebe) steigert sich, weil sie immer neu sein will; sie will immer neu sein, um beständig sein zu können; sie kann beständig nur sein, indem sie ganz im Unbeständigen, im Augenblick, lebt …« 10
In diesen Worten benennt Rosenzweig bereits die Verschränkung der Zeiten ineinander, die er im Kapitel zur Erlösung wesentlich weiter ausarbeitet: die Liebe bestrahle und belebe bald dieses und bald jenes – »ein Gang, der … nie an sein Ende zu kommen braucht«. Das infinite, ewig neue Beginnen, das sich in der Zeitlosigkeit des Infinitiv zeigt, verknüpft die Zeiten der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander. Das Beginnen selbst ist gegenwärtig, in ihm wird die Vergangenheit zugleich aufgehoben und erneuert sowie die Zukunft in den Ebd. SE, S. 181 10 SE, S. 182 8 9
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Augenblick hineingerissen. Das Leben selbst kann nur lebendig bleiben im ewigen neu Beginnen – so wie die untreu-treue, unbeständig-beständige Liebe, die in den Augenblick die Ewigkeit hinein nimmt. Rosenzweig rundet diesen Gedanken vorläufig so ab: »Gott liebt immer nur, wen und was er liebt; aber was seine Liebe von einer »Allliebe« scheidet, ist nur ein Noch-Nicht; nur noch nicht liebt Gott alles außer dem, was er schon liebt. Seine Liebe wandelt in immer frischem Trieb durch die Welt. Sie ist immer im Heute und ganz im Heute, aber alles tote Gestern und Morgen wird in dieses sieghafte Heute einmal verschlungen, diese Liebe ist der ewige Sieg über den Tod; die Schöpfung, die der Tod krönt und schließt, kann ihr nicht Stand halten; sie muss sich ihr ergeben in jedem Augenblick und darum schließlich auch in der Fülle aller Augenblicke, in der Ewigkeit.« 11
b. Die Entdeckung des Ich im Du Die Liebe, wie sie Rosenzweig uns als von Augenblick zu Augenblick sich erneuernde vorgeführt hat, ist zeitgebunden und zugleich als nie zu vollendende über alle Zeiten ausgebreitet. Diesem »über alle Zeiten hinweg« entsprächen die grammatischen Formen des Indikativ und des Infinitiv. Dass sich aber der gegenwärtige Augenblick nur im Modus des Imperativs ausdrücken lässt, hatten wir bereits zu Beginn dieses Kapitels erwähnt. Er ist zugleich der Modus, der unmittelbar auf ein Du verweist, besser noch aus einem Du uns entgegentönt, dem sich ein Ich antwortend öffnen soll. Aber kann der Mensch der Vorwelt mit seinem in sich gekehrten stummen Selbst sich überhaupt Gottes Liebe gegenüber öffnen? Dieser Mensch war selbstgerecht, er hatte den Trotz verinnerlicht, der alles äußere Begehren an ihm abperlen ließ. Er war angereichert mit hochmütigem Stolz (Hybris), in dessen Rüstung er sich über den Nächsten, das Schicksal, selbst die Götter erhob. Diesem Menschen geschehe jedoch eine Wandlung, indem er sich dem göttlichen Wort öffne: das stumme Selbst weiche dem hörenden und antwortenden Ich, und der trotzige Stolz verwandle sich in ruhigen Stolz. Was das für ein Stolz sei, fragt Rosenzweig und antwortet:
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»Es müsste ein Stolz sein, der nicht stolz »auf« dieses oder jenes wäre, denn dann wäre er zwar Eigenschaft, aber nur Eigenschaften unter Eigenschaften, nicht wesentliche Eigenschaft, in der der ganze Mensch zu ruhen vermag. Das Wort Stolz ist vielleicht zu sehr nach der anderen Seite hin belastet; es klingt zuviel von Hochmut darin, dessen echte Äußerung eben nur der Trotz ist. Und doch steht der Stolz rein in der Mitte zwischen Trotz und jener Umkehrung des Trotzes, die wir suchen. Er kann sich »äußern«; dann wird er ganz von selbst hochmütiger Trotz, Hybris; aber er kann auch ganz jenseits allen Gedankens an Äußerung einfach nichts weiter als sein. Solch einfach seiender Stolz aber, in welchem der Mensch stille ist und sich tragen lässt, ist nun freilich das reine Gegenteil des stets neu aufwallenden Trotzes. Es ist die Demut. Auch die Demut ist ja ein Stolz …« 12
Statt Wandlung spricht Rosenzweig wenige Seiten später von Umkehr, aus der das Ich entsteht. Verstehen wir nun besser die drei »Nichtse« samt den Stammworten Ja und Nein aus der Einleitung? Die Umkehr gerät ihn zum großen Nein, in dessen Zeichen die Offenbarung stehe: »Nein ist ihr Urwort. Ihr erstes lautes aber, ihr »Stammwort« heißt ICH«. 13 Wie ist dieses Nein zu verstehen? Damit sich Gott liebend dem Menschen zuwenden könne, müsse er sein stummes Selbst verneinen, das bisher nur als dauernde Macht und ewige Ruhe in sich selbst kreiste. Dasselbe gilt für den Menschen, der sein hochmütiges Selbst verneinen müsse, um sich demütig der Liebe und dem Wort Gottes zu öffnen. Fragwürdiger scheint jedoch, dass als Stammwort der Offenbarung das Ich genannt wird. Gerade hatten wir von Rosenzweig gelernt, dieses Ich als Stammwort des Idealismus zu verachten. Mehr noch, der Idealismus habe laut Rosenzweig die Offenbarung gänzlich verworfen und seine aus dem »Ich denke« abgeleitete Logik als reine Schöpfungslehre verstanden. Haben wir es womöglich mit zwei verschiedenen »Ichen« zu tun? Offenbart sich an diesem Beispiel ein Weiteres, das Sprachdenken und Idealismus unterscheidet? Rosenzweig hatte dem Idealismus vorgeworfen, seine Gedankenbahn bei der Schöpfung enden zu lassen. Demgegenüber läuft die Sprachbahn des Sprachdenkers weiter: die Schöpfung fußt auf dem Stammwort »gut«, aus dem sich eine Grammatik entwickelt hatte, deren Bahn wir von Wortart zu Wortart beschritten haben. Die auf dem Stammwort »Ich« 12 13
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fußende Offenbarung folgt nicht den Wortarten, sondern »… dem wirklichen Gesprochenwerden der Sprache … von wirklichem Wort zu wirklichem Wort … wir finden es unmittelbar als Wort und AntWort«. 14 Was versteht Rosenzweig unter »wirklichem Wort«? Das Wort, welches nur seine Art repräsentiert, eignet sich wohl zur Feststellung des Geschehens, zur erzählenden, nachdenkenden und auch reflektierenden Beschreibung des Gewesenen. Das wirkliche – augenblicklich gesprochene – Wort jedoch begegnet uns mit der Wucht dieses Augenblicks, indem es uns erschüttert, erhebt, durchdringt, ängstigt oder erfreut. Das wirkliche Wort lässt uns nicht kalt, es ergreift uns unmittelbar, denn es begegnet uns als Gebot, als Imperativ des Hinhörens und Bittens, dem wir uns zu öffnen haben. Aus diesem sprachlichen Unterschied zwischen Schöpfung und Offenbarung erhellt nun die Andersheit des Ichs der Offenbarung gegenüber dem idealistischen Ich. Das Ich der Offenbarung entdeckt sich erst, indem und weil es von einem Anderen, von einem Du angesprochen wird, während das Ich des Idealismus sich der Einsicht verweigert, das es auch des Du bedarf, um zu »denken«. Rosenzweig folgt seinem Freund Rosenstock-Huessy in der Verwerfung des Ich als erster Person – das göttliche Gebot »Du sollst mich lieben« erschüttert und ergreift den Menschen hier und jetzt. Deswegen sagt Rosenzweig, der Imperativ sei reine Gegenwart, denn das Gebot wisse nur vom Augenblick, es erwarte den Erfolg noch im Augenblick seines Lautwerdens. In diesem unmittelbaren Angesprochenwerden erst entdeckt sich das Ich, da es auf jedes Gebot eine Antwort sucht, die nicht zuletzt von der Frage durchdrungen wird, ob das Ich das Gebot erfüllen kann. Das imperativische Wort, das der Mensch hört, löst schon während des Hörens das Ant-worten aus, wenngleich zunächst auch als stummes Selbstgespräch des nach Worten Ringenden. Damit zeigt sich das Ich der Offenbarung aber erst von der einen Seite. Dass erst der Mensch, der von einem Du angesprochen wird, sein Ich entdeckt, hatten wir schon bei Cohen vernommen. Dass aber auch Gott sein »Ich« erst erfährt, wenn er nach dem Du des Menschen sucht, gehört zu den aufregenden »Zumutungen« Rosenzweigs. Aber Gott fragt ja tatsächlich »Adam, wo bist Du?«. Rosenzweig sagt nun, dass allein die Frage nach dem Du (Adam) dem Ich (Gottes) genüge, sich selbst zu entdecken! Das Ich brauche das Du nicht zu sehen, sondern 14
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schon in der Frage bezeuge das Ich den Glauben an das Dasein des Du: »Das Ich entdeckt sich in dem Augenblick, wo es das Dasein des Du durch die Frage nach dem Wo des Du behauptet«. Und schließlich: »Sich selbst entdeckt es – nicht etwa das Du. Die Frage nach dem Du bleibt bloße Frage.« 15 Gewöhnlich würde man auf solche Art die Suche des Menschen nach Gott beschreiben. In diesem Fall wäre es eine schlichte, erhabene Ausdrucksweise für die Gottsuche. Das Verhältnis jedoch ohne viel Aufhebens umzukehren, befremdet zunächst aufgrund der hierin scheinbar aufleuchtenden »Vermenschlichung« Gottes. Erinnern wir uns jedoch an Cohens Begriff der Korrelation: Mensch und Gott sind wechselseitig aufeinander bezogen, d. h. sie können nicht ohne den jeweils anderen »gedacht« werden. Dieser Andere ist zugleich der ganz Andere und der nicht-Andere – aus dieser korrelativen Spannung entspringt bei Rosenzweig nun das Ich Gottes, der überhaupt als Einziger Liebe gebieten könne: »So ist nun das Ich des Sprechers, das Stammwort des ganzen Offenbarungsdialogs, auch das Siegel, das jedem Wort aufgedrückt, das einzelne Gebot als Gebot der Liebe kennzeichnet. Das »Ich, der Ewige«, dies Ich, mit dem als dem großen, die eigene Verborgenheit verneinende Nein des verborgenen Gottes die ganze Offenbarung anhebt, begleitet sie durch alle einzelnen Gebote hindurch«.16
Alle Gefahr einer Verwechslung mit dem idealistischen Ich ist nun gebannt. Schon vorher hätte es dem aufmerksamen Leser auffallen können, dass mit dem Ich der Offenbarung das Ich Gottes gemeint ist. Sorgt Rosenzweig womöglich absichtlich für Verwirrung, indem er Liebe, Ich, Sprache immer als zugleich göttlich und menschlich »denkt«? Oder sind es nicht Liebe, Sprache und der Name des Ich, die uns immer verwirren, deren Natur soz. die Verwirrung wäre? Die Sprache Gottes ist auch die des Menschen, das betont Rosenzweig immer wieder. So ist auch das erste Rufen Gottes nach Adam in Korrelation zur Frage des Menschen nach Gott zu verstehen. »Die Frage nach dem Du genügt dem Ich, sich selbst zu entdecken – es braucht das Du nicht zu sehen«, lasen wir bereits weiter oben. Die Frage nach Gott bezeugte demnach bereits den Glauben an ihn, so ließe sich dieser Satz deuten. Wir stehen damit an der Schwelle zum Reich des Zwie15 16
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gesprächs. Warum nur die Schwelle? Bis zu diesem Punkt hat Gott durch seine Frage und sein Gebot sein Ich entdeckt. Etwas voreilig haben wir die dabei sich offenbarende Methode auch auf die Entdeckung des menschlichen Ich übertragen. Der Mensch hat aber noch nicht geantwortet, dies kann er auch nur in seinem eigenen Namen. Der nächste Abschnitt auf der Sprachbahn steht daher ganz im Zeichen des Eigennamens
c.
Der Eigenname: von der höchsten Subjektivität zu unendlich klarer Objektivität
Rosenzweig hatte in der Einleitung zum zweiten Buch des »Stern« der Antwort auf die Frage nach einer Brücke zwischen höchster Subjektivität und unendlich klarer Objektivität vorgegriffen und die Leser seines Buches »gewarnt«, dass der Bau jener Brücke der Offenbarung bedarf. Hier wendet Rosenzweig nun den Gang der bisherigen Philosophie um: nicht mehr das schon Geschehene bürgt für Objektivität, sondern das stets neu Erlebte. Im Geschehen klingt nur die dritte Person, erst im Erleben sprechen ein Du und ein Ich miteinander. Deswegen bedarf die Grammatik zu ihrer Vollständigkeit der Offenbarung – erst jetzt stehen die Personalpronomina der ersten und zweiten Person »an ihrem Platz«, den wir vorher noch leer gefunden haben. Das Geschehen der Schöpfung wird im Indikativ erzählt, während das Erlebnis der Offenbarung nur erlebt werden kann – im Imperativ. Denn nur dieser verlasse nicht den Kreis des Ich und Du: »Was in jenem allumfassenden, einsamen, monologischen »Lasset uns« Gottes bei der Schöpfung des Menschen vorausklang, das geht im Ich und Du des Offenbarungsimperativs in Erfüllung. Das Er-sie-es der dritten Person ist verklungen. Es war nur der Grund und Boden, aus dem das Ich und Du hervorwuchs. Dem Erleben, nicht dem Geschehen dient jetzt das Verb zum Ausdruck.« 17
In der Frage »Wo bist Du, Adam?« hat Gott gegenüber dem gesuchten Du sein Ich »entdeckt«, das nun gebieten könne. Das Gebot »Du sollst …« bringe als »gesprochenes, vernommenes und vollzogenes Gebot« ein »Subjekt des Erlebens« hervor, welches nicht länger »Ding 17
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unter Dingen« sei. Erleben könne dieses Subjekt nur etwas als Einzelner, in seiner »höchsten Subjektivität«. Indem Gott diesen einzelnen Mensch beim Namen ruft, werde er erst aus der Vielheit anderer Einzelner herausgehoben: »Das Ich oder das Du, so in seiner Gegenständlichkeit angesehen, ist Einzelner schlechtweg, nicht Einzelner durch Vermittlung irgendeiner Vielheit, es ist kein »der«, weil es »einer« wäre, sondern Einzelner ohne Gattung. An Stelle der Artikel tritt hier die unmittelbare Bestimmtheit des Eigennamens. Mit dem Anruf des Eigennamens trat das Wort der Offenbarung in die wirkliche Wechselrede ein; im Eigennamen ist Bresche in die starre Mauer der Dinghaftigkeit gelegt. Was einen eigenen Namen hat, kann nicht mehr Ding, nicht mehr jedermanns Sache sein; er ist unfähig, restlos in die Gattung einzugehen, denn es gibt keine Gattung, der es zugehörte, es ist seine eigene Gattung. Es hat auch nicht mehr seinen Ort in der Welt, seinen Augenblick im Geschehen, sondern es trägt sein Hier und Jetzt mit sich herum; wo es ist, ist ein Mittelpunkt, und wo es den Mund öffnet, ist ein Anfang.« 18
Radikalste, höchste Subjektivität spricht aus diesen Worten. Wüssten wir nicht, dass Rosenzweig mit dem »Einzelnen« kein idealistisches Ich meint, könnten wir irritiert sein. Verwirrt aber nicht die Behauptung, der Einzelne sei nicht einmal »Gattungswesen«? Er sei unfähig, restlos in die Gattung einzugehen, da er seine eigene Gattung sei! Tatsächlich kann sich der mit Namen Gerufene nicht mehr hinter einem Gesetz, einer Konvention, Partei, Kirche, Wertegemeinschaft oder dem allgemeinen Konsensus verbergen, sondern ist als das unvertretbare Selbst angesprochen, als ein Ich, das selbst antworten und sich verantworten muss. Er wird als angesprochenes Ich aus dem ruhigen Lauf seiner bisherigen »Welt« herausgerissen, die ihm geläufig und selbstverständlich war. Mit Rosenstock-Huessy könnten wir von der Hereinreißung des Kommenden in das Hier und Heute des beim Namen Genannten sprechen. Bei Levinas heißt es, mit der Namensnennung werde der Mensch zugleich buchstäblich in Frage gestellt, d. h. es wird nach ihm gefragt und nach keinem Anderen. Laut Rosenzweig hat der solchermaßen Angesprochene seinen Ort nicht mehr in der Welt – will heißen eine feste Ordnung stetiger Wiederholungen, auf die man bauen und mit denen man rechnen kann, weicht dem augenblicklichen Hier und Jetzt, das der Einzelne stets »mit sich herum trägt«. In aller Schärfe treffen wir damit auch erneut auf den ewig bleibenden Rest an Diffe18
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renz, der den Anderen von mir trennt. Da der Einzelne aber auch in sich selbst immer den Anderen erlebt, müssen wir wohl – in noch weit schärferer Wendung – von der offen bleibenden Differenz im je einzelnen Menschen sprechen. So wie der Augenblick – aus allen anderen Augenblicken herausgehoben – nur einmal sich ereignet, so ereignet sich die Ansprache, das Gebot, die Bitte an den Einzelnen mit seinem Eigennamen immer in einem bestimmten Augenblick. Der Einzelne erlebt die Anrufung – selbst wenn sie zu verschiedenen Zeiten mit den gleichen Worten wiederholt würde – immer als ein anderer Einzelner, in einer jeweils einzigartigen Lage, angesprochen von einem jeweils anderen Anderen, der das Wort, das er ausspricht, zum ersten Mal spricht. Hier erscheint es beinah unmöglich, dass überhaupt eine Brücke zum Anderen – gar nicht von einer »unendlich klaren Objektivität« zu sprechen – gebaut werden könne. Vielleicht begreifen wir erst angesichts dieser fast »ausweglosen Lage« die Bedeutung des Eigennamens: er erst sichert dem Einzelnen seine Dauer. Hören wir dazu Rosenzweigs Bemerkungen aus dem Büchlein: »Was geschieht dem Menschen in dem Augenblick, wo sein Name genannt wird? … Der Mensch wird wachgerufen, zur Geistesgegenwart gezwungen. Er wird in die Gegenwart, seine Gegenwart, und in sein Inneres, in sich selbst, hineingerufen … der Mensch weiß plötzlich, dass er er selbst ist, weiß es, solange er den Ruf hört. Er weiß in sich die Kraft, anzufangen. Und was gibt ihm diese Kraft, er selbst zu sein und anzufangen, die Kraft des Geistes und der Gegenwart? Merkwürdig, der Name ist ja gerade das Dauernde, das einzig greifbar Dauernde, das der Mensch hat. Und nun soll ihm dieses Dauernde die Kraft des Augenblicks – und Gegenwart ist Augenblick – schenken? Ist das dauernde Wesen des Menschen, gegenwärtig zu sein, anzufangen?« 19
Wenn »in der Gegenwart leben« bedeutet, immer wieder neu anzufangen, dann fragen wir uns, woraufhin wir ständig anfangen sollten. Wäre der jeden Augenblick neu anhebende Anfang nach Art des Sisyphos ein verzweifeltes auf-der-Stelle-Treten, blieben wir in dem Selbst gefangen, das uns durch den Eigennamen erst aufgegangen war. Lesen wir die besagte Stelle im Büchlein ein wenig weiter. Ein »Wesen« habe weder der Mensch noch der Augenblick, so korrigiert Rosenzweig unmittelbar seine eigene Fragestellung. Der Augenblick könne sich der Gefahr, von der ewig veraltenden Macht der Vergangenheit verschlun19
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gen zu werden, nur dadurch entziehen, indem er jeden Augenblick neu geboren werde: »Diese unaufhörliche Erneuerung der Gegenwart aber ist das Werk der Zukunft. Die Zukunft ist der unerschöpfliche Born, aus dem in jedem Augenblick neue gegenwärtige Augenblicke hervorquellen, so dass es nichts ausmacht, wenn jeden Augenblick Gegenwart wieder zur Vergangenheit erstirbt. Die Gabe der Geistes-Gegenwart wird dem Menschen jeden Augenblick vom Herrn der Zukunft geschenkt …« 20
Ohne von der Zukunft seine Kraft zu empfangen, versänke der Augenblick unmittelbar ins Nichts, die Gegenwart in die Vergangenheit. Der Eigenname vertritt laut Rosenzweig die Zukunft, denn an ihn sind alle Hoffnungen der Eltern bei der Namensgebung geknüpft. Wir wünschen uns, dass ein Kind »so werde wie sein Name«. Ergreifende Analogie zur Offenbarung: Gott hat keinen Namen, aber in der Offenbarung antwortet er auf die Frage, wie sein Name sei: Ich werde der sein, der ich sein werde. Der gattungslose, auf sich gestellte Einzelne empfängt mit dem Eigennamen das Gebot und die Aufgabe, zu werden wie sein Name. Aber wie? Haben wir nicht gehört, dass er seinen Ort nicht mehr in der Welt habe? Woran soll sich der mit Namen Gerufene orientieren, wo findet er die Wegweiser auf seinem Weg des Werdens? Während der Idealismus das autonome Ich zu dessen Orientierung an das (Sitten-)gesetz verweist, erlebt sich das mit Namen genannte Ich als Gegenüber des Du, von dem es angesprochen wird. Auf das Sittengesetz kann der Mensch nicht antworten – wie kann er es dann erfüllen? Auf das Du des sich offenbarenden Gottes kann das Ich nicht nur, es muss antworten – wobei seine erste Antwort vermutlich eine Frage sein wird: wo bist du? So wie der Einzelne mit seiner Namensnennung in Frage gestellt wird, stellt er nun selbst Gott und die Welt in Frage, die er bisher vielleicht nur hingenommen oder gar nicht wahrgenommen (für wahr genommen) hat. Jetzt aber gibt es einen Anfang und Mittelpunkt seines Erlebens: den Anfang erlebt er mit der Nennung seines Namens. Zum Mittelpunkt des ganz subjektiven Erlebens wird das Zwiegespräch mit dem ersten Du (Gott), das in der Wechselrede von Frage und Antwort die Fragwürdigkeit von Ich und Du, Gott und Welt immer neu benennt. Doch ohne einen »zweiten« Mittelpunkt in der 20
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Welt, der zu dem subjektiven Erlebnismittelpunkt korrespondiert, ohne eine seine innere Ordnung begleitende äußere Ordnung wäre der Einzelne trotz eines ihn anrufenden Du kaum in der Lage, jene existentielle Fragwürdigkeit zu ertragen. Wir sind nun an dem Punkt des Textes angekommen, an dem Rosenzweig seine selbst aufgeworfene Frage nach der Brücke zwischen höchster Subjektivität und unendlich klarer Objektivität zu beantworten scheint: »Mittelpunkt und Anfang gab es in der viel verflochtenen Welt der Dinge überhaupt nicht; das Ich mit seinem Eigennamen aber, indem es, gemäß seiner Schöpfung als Mensch und »Adam« zugleich, in sich selber Mittelpunkt und Anfang ist, bringt nun diese Begriffe Mittelpunkt und Anfang in die Welt; denn es fordert in der Welt seinem Erlebnismittelpunkt einen Mittelpunkt, seinem Erlebnisanfang einen Anfang. Es verlangt nach Orientierung, nach einer Welt, die nicht in gleichgültigem Nebeneinander hinfließt, sondern eine, die seiner inneren, es in seinem Erleben stets begleitenden Ordnung den festen Grund einer äußeren Ordnung unterbaut.« 21
Gleich im ersten Satz erinnert uns Rosenzweig noch einmal an die Orientierungslosigkeit einer nur geschaffenen, stummen, in sich selbst verharrenden Welt: sie kennt weder Anfang noch Mittelpunkt. Aber hat Gott nicht den Anfang, soz. den Ton gesetzt mit dem Stammwort »gut«? Dennoch blieb diese Welt namenlos – eine Welt ohne Namen erscheint nicht nur als das Grauen schlechthin, sondern bietet in der Tat keine Orientierung, als ob jedes Ding »ohne Namen« hieße. Wenn aber der Name für die jeweils eigene Gattung steht, wo finden wir dann die Brücke zur unendlich klaren Objektivität? Rosenzweig hatte uns zwar damit beruhigt, dass der Eigenname dem so Genannten eine Dauer als Person verleihe. Aber damit steht die stabile Brücke zur Objektivität noch nicht. Spitzen wir deshalb die Frage noch einmal zu, indem wir auf den Unterschied zwischen Eigennamen und Gattungsnamen hinweisen. Dabei kommt uns Jacques Derridas Text »Babylonische Türme« 22 in den Sinn: Babel ist der Eigenname einer Stadt, zugleich aber auch der Name für Verwirrung, womit es zum Gattungsnamen wird. Diese Spannung zwischen Gattungsnamen und Eigennamen bleibt nicht nur verwirrend, sondern der Eigenname selbst verwirrt: Babel ist nämlich nicht nur der Name einer Stadt, sondern auch SE, S. 208 Jacques Derrida: Babylonische Türme. Wege, Umwege, Abwege, in: Alfred Hirsch (Hg.): Übersetzung und Dekonstruktion, Edition Suhrkamp 1997, S. 119–165
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ein Name Gottes – eines Gottes, der in seinem Namen in Babel die Sprache verwirrt. Er stiftet Verwirrung, um der Hybris der Menschen zu wehren, die mit dem Bau des Turmes hofften, den Himmel zu erklimmen und »von oben« die Welt vollständig zu erkennen. Diese Welt wäre ihrer Erklärbarkeit wegen unter eine Sprache gezwungen worden – ein Gewaltakt, der große Imperien kennzeichnet. Verwirrung war geboten, um die Vielfalt gegen Vereinheitlichung, um die Demut des Übersetzens gegen den Hochmut der reinen Begriffe zu setzen. Warum kann man von einer Demut des Übersetzens sprechen? Jede Übersetzung wird das »Original« verfehlen, ihm etwas schuldig bleiben, und nur der Übersetzer, welcher sich dessen bewusst ist und sich dieser Schuld demütig hingibt, wird ein guter Übersetzer sein. In Babel hat Gott in seinem Namen die Menschen gezwungen, fortan zu übersetzen. Nicht nur in seinem Namen, sondern auch seinen Namen, der un-übersetzbar ist. Ist aber nicht jeder Eigenname, jedes Wort unübersetzbar? Seit Babel sind die Menschen einerseits aufgefordert zu übersetzen, und müssen zugleich die Unmöglichkeit der Übersetzung erleben. Werden wir damit nicht aufs offene Meer der höchsten Subjektivität zurückgeworfen? Erscheint die Brücke zur Objektivität nicht ferner denn je, sogar unmöglich je gebaut zu werden? Es kommt darauf an, was wir und was Rosenzweig unter Objektivität verstehen. Das subjektive Erlebnis des mit dem Namen Gerufenseins bedarf der Verankerung in einem allgemeingültigen Erlebnis gleicher Art – wäre dies ein Ausdruck für die Suche nach Objektivität? Dieser eher mathematische Begriff des Allgemeingültigen verdeckt das wirkliche Geschehen und würde die anfangs gesuchte Ergriffenheit verhindern. Sagen wir es anders: das Geschehen der Offenbarung als eines Angesprochenwerdens von Gott wurde nicht nur von einem Menschen, sondern von Vielen, also einer gewissen Allgemeinheit erlebt, so ist es in der Bibel bezeugt. Aber was haben diese Menschen tatsächlich erlebt? Alles andere als deutliche Worte waren zu hören, vielmehr ist von einem undeutlichen, manchmal sogar dumpfen Grollen die Rede. Moses hat dieses unvernehmliche Donnern übersetzt, aber wie jede Übersetzung bleibt sie etwas schuldig, hat sie etwas in dem »ursprünglichen Sinn« der Worte verfehlt. Dennoch: mit der Offenbarung hat es einen Anfang in der Welt gegeben, indem nicht nur ein einzelner Mensch, sondern ein ganzes Volk von Gott angesprochen wurde. Diesem Anfang in der Zeit entspräche ein Ort als Mittelpunkt, an dem die Offenbarung sich einst ereignet habe, so Rosenzweig. In diesem Einst seien 186
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Anfang und Mittelpunkt noch nicht getrennt gewesen. Für den gläubigen Menschen – ob Jude oder Christ – mag es zunächst genügen, dass mit der Offenbarung das subjektive Erlebnis des Angesprochenwerdens »auf Grund gestellt ist«, wie Rosenzweig sagt. Aus dem geoffenbarten Namen Gottes heraus lebten die verfasste Gemeinde und das verfasste Wort ihr Leben bis auf den heutigen Tag, bis auf den gegenwärtigen Augenblick und bis in das eigene Erlebnis. In der Gemeinde der Betenden und Gottesfürchtigen wäre dem Mittelpunkt des subjektiven Erlebens ein zweiter Mittelpunkt in der Welt gegeben. Aber ist die Gemeinde gleichbedeutend mit Welt? Anders gefragt: wie gehen die Gottesfürchtigen mit dem Mangel der Übersetzung des göttlichen Wortes um? Das Judentum lebt aus der rabbinischen Tradition der Auslegung der Texte, die aus Kommentaren zu Kommentaren zu Kommentaren – und so fort bis ins Unendliche – besteht. Diese Tradition kennt die Notwendigkeit, jeden Text neu zu schreiben und zu Gehör zu bringen, immer von Neuem zu beginnen, ohne je eine »wahre Übersetzung« zu treffen. Ist der zweite Mittelpunkt womöglich die Arbeit des ständigen Übersetzens? Eines Übersetzens, das sich seines Scheiterns voller Demut immer bewusst ist? Rosenzweig aber fordert als zweiten Mittelpunkt den festen Grund einer Ordnung, die das subjektive Erleben stets begleitet. Der feste Grund irritiert nach dem Gesagten, aber offenbar möchte Rosenzweig damit nur besagen, dass die Offenbarung keine subjektive Einbildung, sondern ein historisch bezeugtes Ereignis ist, das einen Grund gelegt hat. Aber nach der Grundlegung wird gebaut, und das Gebäude der Welt – so sehr es des festen Grundes bedarf – ist kein fest stehendes, sondern ein stets fließendes. Lässt sich aber im Strom des Lebens, im Fluss der Welt ein Mittelpunkt finden? Vielleicht ist es das Schiffchen, die Fähre – teba –, die auf dem Wasser verkehrt, die auch Wort bedeutet, das stets über-setzt. Der zweite Mittelpunkt wäre damit kein fester Punkt an einem Ort, sondern ein bewegliches Etwas, nennen wir es Fähre, Gefäß oder Wort oder die Arbeit der Über-setzung. Bewegen sich Fähre, Gefäß und Wort womöglich auf der Bahn der Sprache, von der Rosenzweig erzählt? Wäre diese Bahn der Sprache nicht auch ein zweiter Mittelpunkt? Die Übersetzung als je neu beginnende Suche nach dem, was überhört wurde: Laut Rosenzweig besteht das »dauernde Wesen« des Menschen darin, immer neu anzufangen. In jedem Anfang als einem Sprechen, das als Frage und Antwort zwischen einem Du und Ich anhebt, A
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und das einen unendlichen Faden des Infragestellens, Hinhörens, Bezeugens, Benennens sowie der antwortenden Fragen und fragenden Antworten entrollt, entstünde so ein je neues Geflecht von Bezügen zwischen Mensch, Mitmensch, Gott und Welt. Dieses Geflecht nennen wir die Wirklichkeit im Sinne des Aufeinanderwirkens von Mensch, Welt und Gott, die für die Beteiligten zum Mittelpunkt des Erlebens wird. Aber die Wirklichkeit dieser Welt heißt eben auch: Übersetzen, ohne wirklich übersetzen zu können, Fragen stellen ohne definitive Antworten zu bekommen. Die Ratlosigkeit, das Umherirren in der Wüste, die Fragwürdigkeit – auch sie können ein zweiter Mittelpunkt genannt werden bzw. sind immer mit genannt, wenn wir vom zweiten Mittelpunkt sprechen. Wenn wir Objektivität also mit Wirklichkeit übersetzen, die aus dem Aufeinander-Wirken entsteht, dann kann sie nicht reduziert werden auf das schon Bekannte, auf Gesetz- und Regelmäßigkeit. Was aber bisher verborgen war, überhört oder nicht gesprochen, bedarf der Offenbarung im Wort. Dies ist nicht reine Erkenntnis, sondern Bewirken von Wirklichkeit durch das Gespräch. Jedes wahrhafte Gespräch ist nicht nur ein Anfang, das eine neue Wirklichkeit ausspricht, sondern ist wie die Offenbarung ein einzigartiges Ereignis. Je mehr es sich bekannten Kategorien entzieht, desto größer ist seine Objektivität in der hier gegebenen Übersetzung. Wenn Literaten, Dichter und Geschichtsschreiber die Kunde solcher Offenbarwerdungen über Generationen hinweg tragen, dann kann dieses einmalige Ereignis weitere solcher einzigartigen Brüche des schon Bekannten zeitigen – vorausgesetzt es findet sich der Leser, der die Ereignisse selbst neu erzählt, der also wieder anfängt. Ohne den Leser gibt es kein Zeugnis, so wie es ohne das sprechende Du kein Ich und ohne das hörende Ich kein Du gibt. Leser, Du und Ich werden so jeweils zur Zukunft, von der Schreiber, Erzähler, Dichter, Propheten erfüllt sein müssen, um überhaupt das Wagnis des Wortes zu beginnen. Zwischen dieser Zukunft und der Vergangenheit, zwischen Hörer, Sprecher, Schreiber und Leser reiht sich die Kette der »beweglichen Mittelpunkte« zur Bahn der Sprache, ohne das Einzigartige, Unverhoffte, Überraschende in einem allgemeinen Gesetz oder Prinzip abzutöten oder auf dieses zu reduzieren. Rosenzweig verwendet also einen anderen Begriff von Objektivität als die Wissenschaft oder die Schulphilosophie. Weder ein Ganzes oder Absolutes sind hier gemeint noch eine dem Menschen gegenüber 188
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gestellte Welt, die nach allgemein verbindlichen Regeln oder Gesetzen aufgebaut ist. Seine unendlich klare Objektivität benennt kein Sein, sondern ein Werden. Und auch dieses – obwohl es quasi auf den Bahngeleisen der Sprache verläuft – ist nicht durch ein Gesetz des Bahnverlaufs determiniert, sondern wird einzig durch die Möglichkeit neuer Offenbarungen als offenes und unabgeschlossenes Werden erlebt. In diesem Sinn sprengt Rosenzweig das Systemdenken der Schulphilosophie durch eine Zukunft, welche die Gegenwart »auffängt« oder ihr den Halt gibt, nicht unmittelbar in die Vergangenheit zurückzusinken, womit jede Möglichkeit der Berechnung oder systematisch-logischen Verfügung über die Zukunft bzw. über den Anderen verhindert wird. Man könnte von einer Objektivität des jeweiligen neu Anfangens im Gegenüber neuer Offenbarungen sprechen.
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Sich vom Anderen das Stichwort geben lassen
Um Rosenzweigs Verständnis einer offenen und unabgeschlossenen Objektivität des Werdens, die sich auf der Bahn einer Sprache zwischen erstem und letztem Wort entfaltet, zu illustrieren, erscheint es gerade hier angebracht, eines der bekanntesten Zitate zu präsentieren, mit denen Rosenzweig »nachträglich« – nämlich in den nachträglichen Bemerkungen zum Stern der Erlösung unter dem Titel »Das Neue Denken« – der Öffentlichkeit seine Methode des Sprachdenkens erläutert hat: »An die Stelle der Methode des Denkens, wie sie alle frühere Philosophie ausgebildet hat, tritt die Methode des Sprechens. Das Denken ist zeitlos, will es sein; es will mit einem Schlag tausend Verbindungen schlagen; das Letzte, das Ziel ist ihm das Erste. Sprechen ist zeitgebunden, zeitgenährt; es kann und will diesen Nährboden nicht verlassen; es weiß nicht im voraus, wo es herauskommen wird; es lässt sich seine Stichworte vom Anderen geben. Es lebt überhaupt vom Leben des Anderen, mag der nun der Hörer der Erzählung sein oder der Antwortende des Zwiegesprächs oder der Mitsprecher des Chors; während Denken immer einsam ist, mag es auch gemeinsam zwischen mehreren »Symphilosophierenden« geschehen: auch dann macht der andere mir nur die Einwände, die ich mir eigentlich selbst machen müsste, – worauf ja die Langweiligkeit der meisten philosophischen Dialoge, auch des überwiegenden Teils der platonischen, beruht. Im wirklichen Gespräch aber geschieht eben etwas; ich weiß nicht vorher, was mit der andere sagen wird, weil ich nämlich noch nicht einmal weiß, was ich selber sagen werde; es könnte ja A
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sein, dass der andere anfängt, ja es wird sogar im echten Gespräch meist so sein; … Der Denker weiß ja eben seine Gedanken im Voraus; dass es sie ausspricht, ist nur eine Konzession an die Mangelhaftigkeit unserer, wie er es nennt, Verständigungsmittel; die nicht darin besteht, dass wir Sprache, sondern darin, dass wir Zeit brauchen. Zeit brauchen heißt: nichts vorwegnehmen können, alles abwarten müssen, mit dem Eigenen vom Anderen abhängig sein. Das alles ist dem denkenden Denker völlig undenkbar, während es dem Sprachdenker einzig entspricht. Sprachdenker – denn natürlich ist auch das neue, das sprechende Denken ein Denken, so gut wie das alte, das denkende Denken nicht ohne inneres Sprechen geschah; der Unterschied zwischen altem und neuem, logischem und grammatischem Denken liegt nicht in laut und leise, sondern im Bedürfnis des Anderen und, was dasselbe ist, im Ernstnehmen der Zeit: denken heißt hier für niemanden denken und zu niemandem sprechen (wobei man für niemanden, wenn einem das lieblicher klingt, auch alle, die berühmte »Allgemeinheit«, setzen kann), sprechen aber heißt zu jemandem sprechen und für jemanden denken; und dieser Jemand ist immer ein ganz bestimmter Jemand und hat nicht bloß Ohren wie die Allgemeinheit, sondern auch einen Mund.« 23
Im wirklichen Gespräch geschieht etwas – Sprechen schafft Wirklichkeit in dem Sinne, dass die Worte etwas bewirken oder der Eine auf den Anderen wirkt, in jedem Fall das gesprochene Wort Wirkung zeitigt. Rosenzweig möchte diese Erfahrung scharf gegen ein »gemeinsames Philosophieren« oder eine »zielführende Debatte« abgrenzen. Wie viele Gespräche, die sich um Gott und die Welt scharen, werden vom Ich des einen oder anderen Gesprächspartners vorgeplant – das Ich will überzeugen, seinen Standpunkt vermitteln und spielt womöglich schon vorher denkbare Varianten der Entgegnung des Anderen durch. Selbst wenn dies nicht bewusst geschieht, dann verläuft das Gespräch häufig in den Spuren des Herumtastens zwischen Zustimmung und Ablehnung – statt zunächst einmal die Worte frei zu geben an eine Vielfalt von Bedeutungen, die das Denken der Gesprächspartner in einen Mückentanz der Möglichkeiten entführen. Unter dem Zwang der Kategorien des »erfolgreichen Gesprächs« – im Sinne von Zustimmung und Verständigung – erstarren die Worte oft in der Enge dieser Kategorien. Zumeist verkümmert ein so genanntes Gespräch zum Monolog, in dem Gesprächs-partner nur noch die Rolle der Kulisse für den Darstel-
Franz Rosenzweig: Das neue Denken, in: Zweistromland – Kleinere Schriften zur Religion und Philosophie, Philo Verlagsanstalt 2001, S. 223
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ler des Monologs spielen. Dies alles erleben wir täglich, womit jedoch lediglich der Saum praktischen Philosophierens berührt ist. Dennoch treffen wir damit auf das philosophische Thema der Zeit und des Anderen – negativ im Begriff des »zielführenden Gesprächs« ausgedrückt, womit signalisiert wird, dass die Zeit knapp sei und man am Anderen nur als dem Verfügbaren interessiert sei. Das Sprechen bedarf der Zeit und des Anderen, sagt Rosenzweig. Aber wer ist dieses Du des Anderen, und welche Zeit ist gemeint? Der Andere als das Du wird das Ich in Frage stellen, indem es gerade nicht Konsens und Distanzlosigkeit verspricht – ein Du, das als der ganz Andere die ganze Unsicherheit und Verletzlichkeit menschlicher Begegnung erfahrbar werden lässt bis zu einem Grade, an dem das Ich sich selbst fremd wird. So radikal zumindest denkt Levinas die Begegnung mit dem Anderen. Rosenzweig äußert sich nicht so explizit – wenn aber das wirkliche Gespräch Wirkung zeitigen soll, dann bedarf es der Überraschung einer zunächst unverhofften Entfernung beider Gesprächspartner voneinander, um das Andere als Anderes zu erfahren und nicht in die Konvention der eigenen Worte vorschnell zu übersetzen oder dieser zu unterwerfen. In jedem Fall bedarf der Aufbau dieser Spannung von Ferne, Nähe, neuer Ferne usw. – nichts anderes als das Infragestellen und sich Ver-antworten begegnet uns hier – der Zeit. Nicht überraschend ist der Hinweis, wie wichtig das Schweigen in einem Gespräch sein kann. Abwarten können, selbst unter größter Spannung des Erwartens, ist gefragt. Jenes Erwarten sollte die Neugier auf den Anderen oder die Andersheit ausdrücken. Nur wenn ich mich selbst ganz in den Zustand des staunenden, fragenden Hörers begebe, der sein eigenes Wissen oder gar seine »Meinung« aus dem Geschehen fern hält und sich stattdessen überraschen lassen will, kann sich mir etwas offenbaren. Aber darin erschöpft sich nicht die andere Weise, Zeit zu denken. Es geht nicht nur um das berühmte »Anhalten des Augenblicks«, sondern um die Zukunft. Wir hatten von Rosenzweig schon vernommen, dass der Augenblick nur dann vor dem Versinken in die Vergangenheit bewahrt werden könne, wenn er unaufhörlich von der Zukunft her erneuert werde, die als das ganz Andere, Unbekannte, Unverhoffte uns erscheinen wird. Dem »denkenden Denken« sei das Letzte (das Ziel) das Erste – es wisse schon vorher, worauf es hinaus wolle, so Rosenzweig. Auf diese Weise wäre die Zukunft nur ein GedankenkonsA
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trukt der Gegenwart – statt des Hineinreißens des Kommenden in das Hier und Jetzt würde das Hier und Jetzt in das Kommende hinein gerissen. Das Letzte aber kennen wir nicht, nicht einmal das Nächste, denn es geschieht erst im Sprechen. Bevor ich etwas aus-spreche, kann dieses Etwas nichts zeitigen – aber immer spreche ich mich einem Anderen gegenüber aus, dessen Antwort, die mein Aus-sprechen in Frage stellen kann, ich nicht kenne. Der Andere vertritt in diesem Sinne das noch Werdende, die – unbekannte – Zukunft. Die Öffnung auf den Anderen hin hält die Möglichkeit einer Offenbarung offen – in Erwartung der Zukunft, die wir im Augenblick abwarten. Die Spannung von Ab-warten und Er-warten einer Zukunft möglicher Offenbarung(en) gibt dem Augenblick die Stabilität, verlängert diesen sozusagen auf eine Weise, die das Verschlucken im Vergehen auch des nächsten Augenblicks sozusagen aufhält. In dieser Spannung des von der Zukunft getragenen Augenblicks geschieht die Zeit, wie Rosenzweig sagt – und entsteht die Wirklichkeit nicht nur des wirklichen Gesprächs, sondern dieses Gespräch selbst be-wirkt erst jenes Zusammenwirken von Klang und Bedeutung des Wortes, Empfindung und Ausdruck zwischen den Gesprächspartnern, den wir als Wirklichkeit benennen können. Da wir uns dem Zeitbegriff Rosenzweigs im letzten Kapitel noch ausführlich widmen werden, fassen wir zunächst zusammen: Sprache als die gesprochene Sprache schafft Wirklichkeit, indem sie das Beziehungsgeflecht zwischen dem Selbst und dem Anderen, zwischen den Zeiten und so schließlich zwischen Mensch, Welt und Gott jeden Augenblick des Gesprächs neu spricht.
e. Gleichnis und Offenbarung Dieses je neu wirft erneut die Frage nach Sinn und Bedeutung der Worte auf. Im Sprachdenken Rosenzweigs sollen Worte nicht etwas bedeuten, sondern einfach nur sprechen – sie sollen niemals Gleichnis sein, sondern mehr als Gleichnis und damit wahrhaft Gleichnis. Damit kommen wir zurück auf das Geschehen der Offenbarung – und die Frage der Zeugenschaft. Sind die Bücher der Bibel nur voller Gleichnisse, die eigentlich »etwas anderes« bedeuten? Rosenzweig wendet die Frage anders: ist die Sprache nicht überhaupt ein Gleichnis? Dazu schreibt er:
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»Wir hatten die Offenbarung als das unter der Liebe Gottes geschehende Mündigwerden des stummen Selbst zur redenden Seele erkannt. Wenn Sprache mehr ist als nur ein Vergleich, wenn sie wahrhaft Gleichnis – und also mehr als Gleichnis ist, so muss das, was wir in unserem Ich als lebendiges Wort vernehmen, und was aus unserem Du lebendig entgegen tönt, auch in dem großen historischen Zeugnis der Offenbarung, dessen Notwendigkeit wir gerade aus der Gegenwärtigkeit unseres Erlebens erkannten, geschrieben stehen. (Hervorhebung F. H.) Wiederum suchen wir das Wort des Menschen im Wort Gottes.« 24
Noch einmal hebt Rosenzweig die unendlich klare Objektivität des Offenbarungsgeschehens hervor: »das große historische Zeugnis«! Noch einmal möchte er das (subjektive) gegenwärtige Erleben verankert wissen im festen Grund dieses Zeugnisses: »es steht geschrieben«! Für die Bahn der Sprache öffnet er damit einen weiteren Wegabschnitt, der in unserem Text nur bruchstückhaft behandelt werden kann: die Gleichnishaftigkeit einer sinnlich-übersinnlichen Sprache. Wenn es überhaupt einen Zusammenhang in der Welt geben soll, wenn der feste Grund der Offenbarung wirklich tragen soll, dann bedarf es zunächst des gemeinsamen Wortes. Deswegen betont Rosenzweig erneut, das Wort, welches wir von außen empfangen sei das Gleiche wie das in unserem Inneren vernommene und wie das Wort Gottes, das im historischen Zeugnis geschrieben stehe. Auch wenn wir es nicht immer hören und deswegen erst suchen müssen. Hier ist noch gar nicht die Rede von Bedeutungen und Verstehen, sondern zunächst vom sinnlichen Vorgang des Hörens der Laute und Klänge. Wie das sinnliche Wort in seinen »göttlichen Übersinn« über-setzt wird, erfahren wir noch. Was hat es nun aber mit dem Gleichnis auf sich? Unter einem Gleichnis verstehen wir nicht zuletzt den Vergleich einer Begebenheit, eines Ereignisses oder einer Sache mit einem treffenden Bild, das mit einem Schlage das Geschehnis zu lebendiger Anschauung bringen soll. Mit dem Bild soll überzeugend auf einmal »alles« gesagt sein! Solch ein Anspruch würde die Mehrdeutigkeit der Worte, wie sie aus dem Geisthauch sich über die ganze Sprache ergossen hat, verletzen. Wäre »alles« gesagt, dann wäre es eben auf den Punkt gebracht, mit dem ein Satz endet. Dass die ursprüngliche Version der Tora ohne Punkt und Komma geschrieben war, zeigt ein weiteres Element von Sprache als 24
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Fluss, der nie stillstehen darf, da im Anhalten des Fließens die Lebendigkeit des Wortes zur Bedeutung erstarren würde. Abgesehen davon: selbst wenn manches Gleichnis die zu benennende Sache erhellt, gelingt der Vergleich nicht immer, so dass gerade bei rätselhaft-dunklen Gleichnissen weitere Erklärungen hinzugefügt werden, die mit den Worten »Das bedeutet …« anheben. Damit aber wird die unmittelbare, sinnliche Wirkung des gesprochenen Wortes verhindert – im Falle der Offenbarung als Offenbarwerdung der Liebe Gottes zum Menschen würde von der Sinnlichkeit abstrahiert und zwischen die an ein persönliches Du gerichteten Worte ein unpersönliches Es geschoben. Deswegen sagt Rosenzweig: »Das Gleichnis der Liebe geht als Gleichnis durch die ganze Offenbarung hindurch. Es ist das immer wiederkehrende Gleichnis der Propheten. Aber es soll eben mehr sein als Gleichnis. Und das ist es erst, wenn es ohne ein »das bedeutet«, ohne Hinweis also auf das, dessen Gleichnis es sein soll, auftritt.« 25
Das Gleichnis der Liebe soll mehr sein als Gleichnis, d. h. die menschliche Liebe soll nicht als Gleichnis oder Allegorie zur Liebe Gottes verstanden werden, sondern die menschliche Liebe soll als menschliche Liebe sprechen – in all ihrer Sinnlichkeit. Rosenzweig erwähnt hier besonders das Hohe Lied Salomo, das in der Form orientalischer Liebeslyrik unmittelbar auf das Buch Kohelet (Prediger Salomo) im biblischen Text folgt. Rosenzweig bezeichnet diese höchst erotische Erzählung als den »zentralen Text der Offenbarung«, indem hier die rein sinnliche, irdische Liebe zwischen Braut und Geliebtem zu Wort komme. Der Leser scheine hier vor die Wahl gestellt, »entweder diesen rein menschlich-sinnlichen Sinn als Irrtum innerhalb der Heiligen Schrift aufzufassen, oder anzuerkennen, dass hier gerade in dem rein sinnlichen Sinn, unmittelbar und nicht »bloß« gleichnisweise, die tiefere Bedeutung steckt«, so Rosenzweig. Auf welche »tiefere Bedeutung« spielt Rosenzweig hier an? Und was meint er mit dem wahrhaften Gleichnis, das mehr sei als Gleichnis? Um diesen Fragen weiter nachzugehen, machen wir einen kleinen Umweg über Franz Kafkas kurzen Text »Von den Gleichnissen« 26 : Hier
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wird in wenigen Zeilen beschrieben, wie sich die Menschen darüber beschweren, dass die Weisen immer nur in Gleichnissen sprächen. Daraufhin entgegnet einer, die Menschen sollten, statt zu lamentieren, einfach den Gleichnissen folgen und auf diese Weise selbst zum Gleichnis werden. »Dies ist doch auch nur ein Gleichnis«, sagt einer. Darauf der andere: »Du hast gewonnen.« Der nächste sagt: »Aber nur im Gleichnis«. Und der letzte antwortet: »Nein, in der Wirklichkeit, im Gleichnis hast du verloren.« Dieser Text war in Germanistik-Seminaren als Musterexemplar für hermeneutische Übungen stets beliebt, führte jedoch häufig nur zu der »Entdeckung«, dass es sich hier um ein »Paradox« handle. Welch Wunder! Mehr soll uns durch den Text nicht geschehen, als dass wir »Heureka, ein Paradox!« ausrufen können? Bei näherem Zusehen – und nach dem Abklingen der ersten Verwirrung – sollte den Leser vorsichtig die Ahnung beschleichen, dass dieses gegenseitige sich »Überkreuzen« von Wirklichkeit und Gleichnis darauf verweist, dass wir es mindestens mit zwei Ebenen oder Begriffen von Wirklichkeit und Gleichnis zu tun haben. Ein Gesprächspartner hält sich für besonders schlau und möchte die ganze Welt in ein Gleichnis »auflösen«: es sei auch nur wieder als Gleichnis aufzufassen, dass die Menschen zum Gleichnis werden sollen, behauptet er. Als ihm ein anderer daraufhin spontan zuruft, er habe gewonnen, antwortet der erste schlaumeierisch »Aber nur im Gleichnis«. Wohin soll das noch führen? Die Wirklichkeit scheint sich in eine ewige Reihe von Gleichnissen aufzulösen. Hier greift nun der letzte Sprecher ein und stellt lakonisch fest, dass der Erste – wider seine eigene Auffassung – in der Wirklichkeit gewonnen und im Gleichnis verloren habe. Haben aber nicht beide Recht? Je nachdem wie wir Wirklichkeit auffassen: wir sind es inzwischen gewohnt, Wirklichkeit für Realität zu halten, was eigentlich eine Zusammenfassung von Dingen (»res«) zur »Dinglichkeit« bedeutet. Dieser stünden wir als einer »gegebenen, objektiven Wirklichkeit« gegenüber, die wir mithilfe objektiver Kategorien der Erkenntnis uns anzueignen versuchen. Diese Realität soll vermessen, bemessen, analysiert und der Vernunft nach den Operationsmethoden unseres Verstandes zugänglich gemacht werden. Das Gleichnis hat in ihr keinen Ort, denn wie Blumenberg über die Metapher sagt, es verzögert, es unterbricht den Gang logischer Erkenntnis und trägt zu dieser nichts bei. Dass die Menschen zum Gleichnis werden sollen, erscheint vom Standpunkt der Realität nichts weniA
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ger als unsinnig, ja nachgerade der wahren Erkenntnis hinderlich. Der gleichnishafte Mensch käme nie in der – nur wissenschaftlich erfassbaren – Realität an, ihren Ansprüchen würde er also nicht genügen. So kann also im Ernst die Forderung nach einem gleichnishaften Menschen selbst nur als Gleichnis verstanden werden, mit dem etwas »anderes« gesagt sein soll, z. B. dass der gleichnishafte Mensch eine Idee verkörpern solle oder – wie man heute umgangssprachlich gern sagt – »bestimmte Werte lebt«. Wenn wir jedoch unter Wirklichkeit das weite Feld von Begegnungen und Bewegungen des Aufeinander-, Füreinander- und Zusammenwirkens zwischen Menschen sowie zwischen Mensch, Welt und Gott verstehen, dann fällt es nicht schwer, der Spur Viktor von Weizsäckers zu folgen, der einmal gesagt hat, die Wirklichkeit sei die Realisierung des Unmöglichen. Was hier als verwegene These erscheint, wird am Beispiel der Sprache einsichtig: sie zieht ihre Bahn ständig im lebendigen Bemühen, das Unaussprechliche auszusprechen. Das unaufhörliche Noch-Nicht flackert zwischen dem ausgesprochenen Wort und dem Unaussprechlichen – oder um bei Weizsäckers Formulierung zu bleiben – zwischen einer Wirklichkeit gewordenen »Unmöglichkeit« und dem uneinholbaren Rest an weiteren »Unmöglichkeiten«. In diesem Gebiet des Zwischen schenkt uns das Gleichnis häufig Orientierung durch starke Bilder, die das gesuchte Noch-Nicht umschreiben, und mit malenden Worten ausschmücken. Ein allzu großer Reichtum an verbaler Ornamentik – dies könnte Rosenzweigs Bedenken sein – zieht leicht die Aufmerksamkeit und den sinnlichen Genuss auf den poetischen Schmuck statt auf die »Sache selbst«. Das Bild schiebt sich – wie der Begriff – zwischen das Erzählte und den Hörer (Leser), dessen sinnliche Ergriffenheit damit häufig eher auf das fixierbare Bild als auf die im nicht-fixierbaren Zwischen gesprochenen Worte gelenkt wird. Natürlich kann das Bild die Ergriffenheit auf die »Sache selbst« lenken, aber in aller Strenge bleibt es ein dazwischen Geschobenes. In dieser Bedeutung von Gleichnis bestünde die Gefahr, dass der zum Gleichnis gewordene Mensch zur Ikone wird, wie wir es bei der Überhöhung bis hin zur Vergötterung von Menschen in Sport, Film, Show und Politik erleben. Kafka spricht offenbar die Gefahr dieser Erstarrung des Menschen zum Bild an, wenn er seinen letzten Gesprächspartner sagen lässt: »Im Gleichnis hast du verloren«. Wenn der Mensch selbst zum Gleichnis werden soll, dann nicht im Bild, sondern in der Wirklichkeit, die als das 196
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Bewirkt-Werden durch das Aufeinander- und Zusammenwirken von Menschen, Dingen und Kräften sich ereignet – so könnte man Kafkas in dem launigen Schlagabtausch seiner Gesprächsszene verschlüsselte »Forderung« lesen. Anders gesagt: der Mensch als Gleichnis soll nicht zum Bild erstarren, sondern sich in Bewegung, d. h. in Beziehung setzen – man könnte sagen sich mit Welt und Mitmensch in Ver-gleichung setzen. Gleichnis wäre also der Name für dieses In-Ver-gleichung-Setzen. Indem der zum Gleichnis gewordene Mensch die Wirklichkeit der wirkenden Bezüge zwischen sich und Anderen, Mensch und Welt, Mensch und Gott zeitigt und vergleichend in Beziehung setzt, geschieht ein Über-setzen von dem Einen zum Anderen. Wir erinnern uns des hebräischen Wortes »teba«, das sowohl Wort wie Fähre bedeutet. Der gleichnishafte Mensch setzte demnach im Wort zum Anderen über, wodurch beide – sowie auch Welt und Gott – in Vergleich und in Beziehung gesetzt würden. Der Mensch ist im Wort, das ihn wie die Fähre über das Wasser – die Zeiten – hinwegträgt. Aber das Wort ist auch in ihm, als Gleichnis wird er selbst zum Wort. Er macht das Wort auf seine Weise so lebendig, dass nicht mehr nach Sinn und Bedeutung gefragt wird, sondern das Sprechen selbst zum »Sinn« wird, oder wie Levinas sagt: im Sagen gibt der Mensch nicht einen Inhalt, sondern sich selbst. Damit erhält das Wort Gleichnis eine weitere Bedeutung: mit dem »gleich« ist nämlich auch das »Zu-gleich« gegeben. Wenn wir nämlich sagen, der zum Gleichnis gewordene Mensch sei zugleich Wort geworden, dann klingt darin jenes vielfältige Zugleich der Worte und der Sprache an, das sich als ein Zugleich der verschiedenen Zeiten, aber auch als ein Zugleich unterschiedlicher Bedeutungsebenen zeigt. Ein gutes Beispiel dafür sind die vier Lesarten der Tora, die zugleich in jedem Wort anwesend sind und wirksam werden: gezeigt werden diese vier Ebenen am Beispiel des Wortes »Paradies«, das im Hebräischen lediglich in den vier Konsonanten PaRDeS erscheint. Aus der Kombination dieser vier Buchstaben ergeben sich folgende Lesarten eines Textes: P bedeutet hier Peschat (einfach) und bedeutet den wörtlichen oder buchstäblichen Sinn, R steht für Remes (Andeutung) und damit für den allegorischen Sinn bzw. das »augenzwinkernd Gesagte«, D steht für Drasch, das wie Midrasch das Forschen heißt und somit den einklagbaren, interpretativen Sinn meint, und schließlich steht das S für Sod (das Geheimnis), was den verborgenen, unerforschlichen Sinn des Wortes umfasst. Man kann dies auch als den von Rosenzweig A
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so genannten göttlichen Übersinn im Wort lesen. Alle diese Ebenen sind immer zugleich in jedem gesprochenen und geschriebenen Wort anwesend, auch wenn wir Schwierigkeiten haben, dies zu hören, zu lesen oder gar selbst auszudrücken. Man könnte nun sagen, dass der zum Gleichnis gewordene Mensch sich auf allen vier Ebenen zugleich bewegt, indem er z. B. die sinnliche und die nicht-sinnliche Bedeutung der Worte zugleich vernimmt und aussagt. Jedoch: das PaRDeS, das auf hebräisch »Obstgarten« bedeutet, bewohnen wir nicht mehr, so dass hier das Zugleich der vier Ebenen bestenfalls in ein Nach- oder Nebeneinander herüber gleiten kann. Gerade diese Einschränkung aber bewahrt uns vor neuer Idealisierung, besagt sie doch, dass niemand zu etwas geworden sein kann, auch nicht zu einem Gleichnis, sondern lediglich stets im Werden des Geworden-Seins unter-wegs sein wird. Im Übrigen bewegen wir uns mit diesen Hinweisen schon auf den sinnlich-übersinnlichen Charakter der Sprache hin, wie Rosenzweig es nennt.
f.
Das Sinnlich-Übersinnliche der Liebe und der Sprache
Kommen wir zurück zum Hohen Lied Salomo, in dessen rein sinnlichem Sinn Rosenzweig eine tiefere Bedeutung und sogar den zentralen Text der Offenbarung sah. Angesichts der überströmenden sinnlich-erotischen Sprache in diesem Text verwundert es nicht, dass über Bedeutung und Existenz eines solchen Textes in der Heiligen Schrift seit Jahrhunderten gestritten wird. Wenn dieses Liebeslied als rein menschlich verstanden werde, dann gehöre es nicht in die Heilige Schrift, könne demgemäß also nur als Gleichnis der göttlichen Liebe aufgefasst werden, so sagten die Einen. Die Anderen sahen gerade in dem »rein sinnlichen Sinn« dieses Liedes seine Bedeutung als »mystisches Gedicht«. Obgleich sich diese Sichtweise – laut Rosenzweig die bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts geltende – noch auf der Spur des üblichen Begriffs vom Gleichnis bewegt, knüpft er hier an, um gerade durch ihren zugleich »übersinnlich-sinnlichen« Charakter der Sprache die Kraft zuzusprechen, Wirklichkeit zu bewirken oder zu zeitigen: »Man wusste eben (bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, F. H.), dass das Ich und Du der innermenschlichen Sprache ohne weiteres auch das Ich und Du zwischen Gott und Mensch ist. Man wusste, dass in der Sprache der Unter-
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schied von »Immanenz« und »Transzendenz« erlischt. Nicht obwohl, sondern weil das Hohe Lied ein »echtes«, will sagen: ein »weltliches« Liebeslied war, gerade darum war es ein echtes »geistliches« Lied der Liebe Gottes zum Menschen …« 27
Und weiter: »Die Liebe kann gar nicht »rein menschlich« sein. Indem sie spricht – und sie muss sprechen, denn es gibt gar kein anderes aus sich selber Heraussprechen als die Sprache der Liebe – indem sie also spricht, wird sie schon ein Übermenschliches; denn die Sinnlichkeit des Wortes ist randvoll von seinem göttlichen Übersinn; die Liebe ist wie die Sprache selbst sinnlich-übersinnlich. Anders gesagt: das Gleichnis ist nicht ihr schmückender Zubehör, sondern Wesen«. 28 Dass jemand wie Rosenzweig, der sich ansonsten scheut, vom Wesen einer Sache zu sprechen, hier gerade der Sprache ein Wesen zuspricht, lässt aufmerken. Durch den kleinen Umweg über Kafka sind wir jedoch vorbereitet: da in den zitierten Worten Rosenzweig durch die Sprache schon im Gleichnis »lebt«, d. h. im Zugleich und im Bewirktwerden der Wirklichkeit, hat er den Unterschied zwischen Wesen und Erscheinung, zwischen Sein und Werden schon »aufgehoben«. Wenn er von Wesen spricht, dann meint er nicht das idealistische oder essentialistische Wesen, sondern möchte auf jenes Zugleich des Gleichnisses und die in ihm geschehende Bewegung des Bewirkens hinführen. Das Wesen der Sprache sei das Gleichnis: ihr Charakter ist zugleich sinnlich wie übersinnlich. Zwischen dem Sinnlichen und Übersinnlichen gilt es, überzusetzen, es miteinander in Beziehung oder Vergleichung zu setzen. Über-setzen vom Sinnlichen zum Über-sinnlichen heißt natürlich auch und vor allem, zwischen Mensch und Gott »überzusetzen«. Und nur so können wir auch Rosenzweigs Satz verstehen, den er am Anfang und jetzt am Ende des Kapitels zur Offenbarung schreibt, dass die Sprache des Menschen und die Sprache Gottes dieselbe seien – oder anders gesagt: die Sprache Gottes ist zugleich die Sprache des Menschen. Als solche aber kann sie nur sinnlich sein – um in dieser Sinnlichkeit das Übersinnliche zu sagen. Nichts anderes sagt Rosenzweig über das Hohe Lied: hier spricht die Sprache der irdischen, körperlichen Liebe: »Deine Brüste sind besser als Wein«; »deine Lippen träufeln Honigseim«; und schließlich,
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nachdem die Braut noch »ein verschlossener Garten, eine versiegelte Quelle« war, heißt es dann: »Ich komme in meinen Garten, meine Schwester, meine Braut. Ich pflücke meine Myrrhe samt meinem Balsam, esse meine Wabe samt meinem Honig, trinke meinen Wein samt meiner Milch«. Gerade weil hier ein weltliches Liebeslied gesungen wird, sei es ein geistliches, so Rosenzweig. Und weiter: die Liebe kann gar nicht rein menschlich sein! In der Tat bedingen und durchdringen das Weltliche und Geistliche, das Sinnliche und das Übersinnliche einander, was nirgends so deutlich wird wie in der Sprache: Gott hat sich sinnlich offenbart, d. h. in der Sprache, die sich dem Hörsinn mitteilt. Wir hören »etwas«, aber zugleich (fast) nichts. Gerade diese Erfahrung, zu hören, dass wir (fast) nichts hören, lässt uns die Durchdringung von sinnlich Erfahrbarem und dem, was über die Sinne hinausgeht (das Übersinnliche), erahnen. Die Sprache als Gleichnis: der Laut, der Buchstabe, das Wort sind zugleich sinnlich (hörbar) und übersinnlich (nicht hörbar), zugleich einerseits Mitteilung, Bedeutung, Sinn und andererseits Ereignis, Offenbarung ohne Mitteilung und ablösbaren Sinn. In diesem Zugleich zwischen sinnlich und übersinnlich und dem Übersetzen zwischen ihnen liegt denn wohl auch die »tiefere Bedeutung« des »rein sinnlichen Sinns«, von der Rosenzweig spricht. In der Tat: wenn Rosenzweig die Reduktion des Menschen auf Gott oder umgekehrt Gottes auf den Menschen mit dem Zerbrechen der Kugelgestalt des Seins abgewehrt hat, wenn also einerseits Gott und Mensch »ihre eigene Sprache sprechen«, dann bedarf es der Übersetzung – die eben nur gelingen kann im Zugleich der göttlichen und menschlichen Sprache. Über-setzen bedeutet, aus-sich-heraus-Gehen oder aus-sichheraus-Sprechen – zum Anderen hin. Dieses Über-sich-hinaus-Gehen und Aus-sich-heraus-Sprechen benennt Rosenzweig, indem er sagt, dass die Liebe gar nicht rein menschlich sein könne, denn »es gibt gar kein anderes aus sich selber Heraussprechen als die Sprache der Liebe« – in der (Sprache der) Liebe spricht und geht der Mensch also über sich und das rein Menschliche hinaus. Die Sprache der Liebe soll die Sinne wecken und wach küssen. Der Laut eines bestimmten Wortes soll Lust erzeugen, der betörende Klang eines Satzes höchste Sinnlichkeit verströmen wie beim unendlichen Überfließen des einen Körpers im Aufgenommensein durch den anderen. Wenn es jedoch dabei bliebe, dann hätten jene nicht Unrecht, die eine solche erotische Erzählung eher in einem Liebesroman als in der 200
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Heiligen Schrift ansiedeln möchten. Aber es bleibt eben nicht dabei. Denn die Liebe wird, indem sie aus sich heraus spricht, schon ein »Übermenschliches«. Wenn die sinnlich ergreifenden Worte und die sinnlich betörende Liebe sich nur darin erschöpften, die Ergriffenen im sinnlichen Genuss ihrer jeweils eigenen Empfindungen zu erschöpfen, dann wäre es kein aus sich heraus Sprechen. Aber in der Sinnlichkeit kündigt sich mit dem Begehren nach dem Anderen die Sehnsucht nach der Verschmelzung mit ihm an, wobei zugleich die Unmöglichkeit der Erfüllung dieser Sehnsucht erfahren wird, denn der Andere wird immer uneinholbar der Andere bleiben. Gerade im Erlebnis der sinnlichen Empfindungen wird diese Uneinholbarkeit erfahrbar, denn jeder der beiden Liebenden erlebt den Sinnenreiz auf je eigene, nicht »übertragbare« Art. Die erotische Liebesbeziehung lässt deshalb in der höchsten Sinnlichkeit umso intensiver die Uneinholbarkeit des Anderen, das ewige Getrenntsein und die Einsamkeit spüren. Dieser höchste Schmerz in der höchsten Lust kann nur ertragen werden, wenn körperliches Begehren sich in ständig sich erneuernde Hingabe an den Menschen wandelt, die nichts von endgültigem Besitz und erschöpfender Befriedigung weiß. Das Verlangen nach dem Anderen weist auf die Spur eines Über-sinns, der, wie das Wort sagt, über den Sinn des sinnlichen Augenblicks hinausweist. Die Ergriffenheit durch die Sinnlichkeit der Liebe oder des Wortes weckt das Verlangen nach Überschreiten des Selbst, das sich dem Anderen als Anderen öffnet. Über das Beispiel der Liebe hinaus können wir daher sagen: das Übersinnliche, was sich unserer sinnlichen Wahrnehmung entzieht, sie übersteigt, ist ein Name für den Anderen oder das Andere, sei es der andere Mensch, Gott, der Tod, die Ewigkeit, Unendlichkeit oder das Nichts. Die Sprache – auch die gestische und mimische – kann zum Anderen hin einen Spalt öffnen. Deswegen ist sie wie die Liebe sinnlichübersinnlich. Dass Sprechen ein körperlicher Akt ist, der fast alle Gliedmaßen und Organe zur Artikulation eines Lautes einspannt, wurde schon von Wilhelm von Humboldt bemerkt, als er beschrieb, wie sich der Ton aus der Brust hervorringt und über die Lippen nach außen dringt. Auch das Hören des Gesprochenen affiziert offenbar all unsere Sinne, indem über die winzigen Verästelungen des Ohres sich unendliche feine Frequenzen im Körper ausbreiten, die Empfindungen und Gefühle zum Schwingen bringen, die alle unsere Sinne an- oder aufregen. Sprechen heißt eben vor allem erst einmal Laut geben – der A
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vom Ohr des Hörenden als Schall aufgefangen wird. Umso erstaunlicher muss es erscheinen, dass aus diesen zunächst ganz körperlichen und sinnlichen Vorgängen ergreifende Gefühle, tiefe Poesie, geistreiche Witze, grammatische Tabellen, Marschbefehle und Kriegserklärungen, aber auch Liebeserklärungen und Gebete sich herausschälen lassen. Wunder der Sprache? Rosenzweig nennt die Sprache eine Morgengabe des Schöpfers an den Menschen – tatsächlich haben wir mit ihr ein kostbares Geschenk empfangen, welches die sinnliche Wahrnehmung der Welt erst ermöglicht, da wir das Wahrgenommene nun benennen können und so zu ihm in Beziehung treten können. Erst in der sprachlichen Vermittlung werden wir der unterschiedlichen Ebenen unserer Wahrnehmung gewahr – verschiedenen Graden an Intensität sowie zeitlicher und räumlicher Bewegung und schließlich auch dessen, was sich der Wahrnehmung entzieht und verschließt. Hier bedarf es des stets neu anhebenden Über-setzens zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem, das als Wechselspiel zwischen Offenbarung und Verbergung sich ereignet. So auch in der göttlichen Offenbarung: Gott teilt sich dem hörenden Sinn des Menschen auf sinnliche Weise mit, zugleich aber verbirgt oder verhüllt sich der Einzige. Nennt deswegen Rosenzweig das Hohe Lied den zentralen Text der Offenbarung, weil die erotische Liebeserzählung uns auf das Spiel zwischen Entkleidung und Verhüllung, Offenbarung und Verbergung einstimmt? Weil hier durch die höchste Sinnlichkeit unser Sinn für den göttlichen Übersinn geweckt wird?
g.
Der göttliche Übersinn
An diesem Punkt trennt eine tiefe Kluft das Sprachdenken von Linguistik, Sprachphilosophie oder Sprachanalytik. Das »Übersinnliche« der Sprache – wenngleich es so nicht genannt wird – verorten diese Disziplinen höchstens in der Fähigkeit zu Abstraktion und Begriffsbildung. Auf philosophischem Gebiet hat sich seinerzeit Fichte z. B. der Frage gewidmet, wie aus dem sinnlichen Laut eine übersinnliche Idee sich herausschäle. Aber gerade um Ideen und Begriffe geht es Rosenzweig nicht. Er spricht nicht nur vom sinnlich-übersinnlichen Charakter der Sprache, sondern wenige Sätze nach dieser Passage lesen wir bei ihm, dass jedes Wort randvoll sei vom göttlichen Übersinn. 202
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Dass jedes Wort randvoll von göttlichem Übersinn sei, heißt zunächst einmal, dass der Mensch nicht über die Sprache verfügt, sie nicht »beherrscht«: in jedem gesprochenen Wort und jedem geschriebenen Text bleibt ein verborgener, weder hörbarer noch sichtbarer Rest, der sich dem Verstehen entzieht und uns zugleich auffordert, das Hör- und Sichtbare von Sprache und Schrift nicht als »letztes Wort« zu nehmen. Dieser verborgene Rest besagt mehr als nur eine schillernde Mehrdeutigkeit des Wortes. Auch ist es nicht damit getan, hier den berühmten Subtext oder die Bedeutung hinter den Bedeutungen anzuführen, was jeweils nicht mehr besagt als das populäre, geflügelte Wort vom »Zwischen den Zeilen lesen«. Der göttliche Übersinn weist vielmehr auf den nicht mitteilbaren Rest im Wort hin, der sich jeder Bedeutung entzieht. Tatsächlich aber ahnen wir erst etwas von der hauch-dünnen Spur dieses Verborgenen, wenn wir noch einmal der außerordentlichen Bedeutung der Sprache im Judentum nachgehen, die mit einem doppelten Bruch zusammenhängt: zum einen hat Moses die ersten Tafeln zerbrochen, auf denen das Wort Gottes geschrieben stand. Daraufhin sind die Buchstaben in alle Richtungen des Himmels verweht worden und halten sich seitdem »bedeckt«. Die Schrift sperrt sich damit jedem unmittelbaren »Zugang«, sie ist buchstäblich unzugänglich geworden – was nicht zuletzt das berühmte Bild erklärt, wonach die Tora im Lesen »entkleidet« werden müsse. 29 Es wurde nach dem Zerbrechen der Tafeln bekanntlich eine »Kopie« in Form neuer Tafeln angefertigt, wobei die ersten Tafeln den zweiten immer als Bruchstücke beigegeben sind, um den Bruch – und damit die Unmöglichkeit eines vollständigen Entzifferns der Schrift – in Erinnerung zu halten. Ein weiterer »Bruch« wurde schon erwähnt: dadurch dass der erste göttliche Hauch, noch vor dem Aussprechen des Alef, nicht oder nur undeutlich hörbar war, geschah ein Bruch auch in der mündlichen Übermittlung des Wortes: der Bruch als Unterbrechung im Vernehmen der ganzen Fülle des göttlichen Wortes. Von daher schwingt also in jedem Wort etwas Unhörbares und Nicht-Darstellbares mit: göttlicher Übersinn. In einem Text über Edmond Jabes hat Eveline Goodman-Thau beschrieben, wie die Existenz dieses Bruchs sich im Exil des Wortes zeigten. 30 Das Wort sei Siehe dazu: Chaim Vogt-Moykopf: Buchstabenglut – Jüdisches Denken als universelles Konzept in der deutschsprachigen Literatur, Campus Verlag 2009 u. a., S. 38/39 30 Eveline Goodman-Thau: Das Zuhören ist Lesen mit dem Ohr. Edmond Jabes im 29
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durch den Bruch genau so ins Exil getrieben worden wie das jüdische Volk selbst, aber nur das Wort könne über den Bruch oder den Riss, der durch die Welt geht, hinüberführen oder über-setzen. Und so sei aus dem jüdischen Volk heraus, dessen Geschichte eben auch eine Geschichte voller Brüche ist, aus jedem Untergang ein neuer Text geschrieben worden, der einen Versuch darstelle, die Kontinuität der Welt und des Worts zu bewähren – in diesem Sinne den ersten Bruch nicht nur nicht zu vergessen, sondern ihm gegenüber eine Schuld abzutragen (die Schuld des Nicht-Hörens). Jeder neue Text, aber auch jedes neu anhebende Sprechen stehe so immer unter dem dreifachen Anspruch des Erinnerns, des Über-setzens über den Riss sowie des Abtragens von Schuld. Nur so sei über die Risse und Brüche der Geschichte hinweg Kontinuität möglich – nur so gelänge das Überleben im Exil, und all dies geschehe im Wort und der Sprache. Das Schreiben wird damit für Juden zu einer Frage des Überlebens, wenngleich mit jedem neuen Text nicht nur ein neuer Aufbruch geschehe, sondern ein Auszug in die Fremde, denn jeder neue Text werde geschrieben und gelesen als neuerliche In-Frage-Stellung, wovon die Schriften Jabes’ mit bestürzender Eindringlichkeit zeugen. Nehmen wir Gottes Geheiß an Abraham, Alles hinter sich zu lassen und in die Fremde (die Wüste) zu gehen, erinnern wir ferner noch einmal an die Verwirrung von Babel, so erschließt sich ein ganzes Geflecht jüdischer Lebensspuren, die auf das Wort vom göttlichen Übersinn hinführen oder umgekehrt von ihm herkommen: Exil, Wüste, Abwesenheit, Abgrund, Entzug, Verwirrung, Nichts. All dies sind Namen für den Anderen oder das Andere, das sich uns als Unhörbares und Unsichtbares entzieht – und damit für den Übersinn. Die Sprache könne dorthin einen Spalt öffnen, hatten wir anfänglich gesagt. Genau aus diesem Grund sind für das Judentum die Sprache, das Buch, das Wort der Ort des Überlebens – in der Sprache z. B. kann die Abwesenheit anwesend werden. So habe Jabes seine Bücher geschrieben, um den Abwesenden, nicht zuletzt den Opfern der Shoah, deren Stimmen erloschen sind, eine Stimme zu geben. In »Die Schrift der Wüste« äußert Jabes die Vermutung, Moses sei vom Volk Israel dazu veranlasst worden, die Tafeln zu zerschlagen: »Es ist, als hätten die Israelis Moses verdrängt, um mit dem Buch in unmittelbaren Kontakt zu treten, ohne Vermittlung, um aus dem Text die EntSchiffbruch des Buches, in: Aufstand der Wasser – Jüdische Hermeneutik zwischen Tradition und Moderne, Philo Verlagsgesellschaft 2002, S. 210–228
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sprechung Gottes zu machen. Die Entsprechung jenes unsichtbaren Gottes, von dem selbst der Name unaussprechlich ist. … die Juden hören nicht auf, das Buch zu befragen, weil darin ihre Wahrheit liegt. Und zugleich kann dort ihre Freiheit sich ausleben, die man ihnen überall sonst verwehrt.« 31 Der Bruch sei mithin herbeigeführt worden, um bis in alle Ewigkeit nach dem Unhörbaren im Wort zu fragen ohne es je zu hören, so wie die Verwirrung von Babel die Übersetzung verlange, die immer ein Verfehlen bleibe. Laut Lyotard sei es geradezu die Bestimmung des Judentums, das überhörte und gebrochene Wort vor dem Vergessen, dem Verwehen in der Wüste zu bewahren. 32 Worte wie »Unhörbar« oder »Unsagbar« sollen uns nicht in das Einerlei eines grauen und nebelhaften Nichts stoßen, sie besagen lediglich, dass die Sprache hier nichts mitteilt außer sich selbst und ihre Sprachlichkeit. Nach Derrida werde die Sprache selbst Ereignis, das keinen darüber hinausgehenden Sinn mitteile. Dies geschehe im heiligen Text oder der Offenbarung, »in der das Sich-Ereignen des Sprechens nichts mitteilt, was außerhalb des Ereignisses sinnvoll wäre … im heiligen Text und der Offenbarung fallen Wörtlichkeit und Sinn zusammen.« 33 Im Schöpfungsakt fallen Lesen, Sprechen und Schaffen in eins zusammen, und in der Offenbarung wird durch das Sprechen nicht etwas offenbart, sondern das Sprechen (die Sprache) selbst ist die Offenbarung. In diesem sprachlichen Ereignis wird der Mensch teilhaftig am Nicht-Mitteilbaren und Unaussprechlichen. Eine heilige Unterbrechung der Zeit und Aufbruch des Raums, um durch den schmalen Spalt des Sprachereignisses den Riss zu offenbaren, der alles durchzieht und den es durch Sprache im Erwarten weiterer Offenbarungen je neu zu überqueren gilt. Alles menschliche Sprechen wäre ein Versuch, über diesen Riss hinüber zu setzen – und dabei zugleich ein ständiges Verfehlen des Sinns, ein Scheitern am Nicht-Mitteilbaren Rest. Während damit jeder absoluten Wahrheit der Boden entzogen ist und wir jeder Totalität zu entsagen haben, geschieht jedoch alles Sprechen, Lesen
Zitiert nach Eveline Goodman-Thau: Der Aufstand der Wasser, Philo Verlagsgesellschaft Berlin/Wien, S. 217 32 Ebd., S. 244 33 Jacques Derrida: Babylonische Türme, in: Alfred Hirsch: Übersetzung und Dekonstruktion, Edition Suhrkamp 1997, S. 162 31
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und Schreiben in Erwartung neuer Offenbarungen als das Zusammenfallen von Ereignis und Sprechen. Alles In-Frage-Stellen begleitet die Frage danach, wie nah oder fern das jeweilige Sprechen von der Wirklichkeit des »absoluten Textes« geschieht. Rosenzweigs Zeitbegriff wird im letzten Kapitel ausführlicher exzerpiert, soviel sie in diesem Zusammenhang jedoch schon gesagt: wenn im Augenblick der Offenbarung das Nicht-Mitteilbare und Unaussprechliche aufleuchtet, dann versammelt sich in diesem ganz gegenwärtigen Augenblick nicht nur alle Vergangenheit und Zukunft, sondern es leuchtet in diesem Augenblick auch die unvordenkliche Vergangenheit und die uneinholbare Zukunft auf – ein anderes Wort für Ewigkeit. In der Sprachlichkeit der Sprache ereignet sich die Zeitaufhebung, ein Riss in der Zeit – die Sprache wird zur Spur der Ewigkeit. Lässt sich diese spezifisch jüdische Erfahrung in eine universelle, die besonderen Kulturen übergreifende Aufgabe übersetzen? Wenn das sprechende Denken im Gegensatz zum denkenden Denken keine ausschließlich jüdische Form der Begegnung von Mensch und Welt sein soll, dann ist es mehr als berechtigt, diese Frage zu stellen. Die reine Sprachlichkeit der Sprache oder die Aufhebung der Zeit bedeuten – auch diesseits religiöser Erfahrungen – Umkehr. Wenn das lineare oder vektorale Zeitverständnis ausgehebelt würde und stattdessen wir der Durchdringung aller Zeitebenen in der Gegenwart eines Augenblicks gewahr würden, riefe dies eine Unmenge an Fragen an unsere kulturelle, geistige und gesellschaftliche Verfasstheit hervor. Wenn wir uns dem Hören einer unvordenklichen Vergangenheit und uneinholbaren Zukunft in der Gegenwärtigkeit des Wortes öffneten, dann wäre dies zum einen die unhintergehbare Abwehr gegen voreilige Feststellungen, erstarrte Begriffe, Absolutheitsansprüche oder monokausale Logiken. Identitäre Zuschreibungen würden als lächerlich entlarvt, die einzige Orientierung wäre die Unabgeschlossenheit unserer Begegnung mit Mensch und Welt. Die Zukunft als das ganz Andere und der Andere würden der Gegenwart erst ihren Sinn geben. Ferner: der im Wort stets anwesende nicht-mitteilbare Rest sowie das Verbergen und Sich-Entziehen der »reinen Sprache« sollten uns der immerwährenden Anwesenheit eines Abwesenden in der Sprache inne werden lassen. Natürlich reflektieren die Poesie und auch die erzählende Literatur diese Bewegung von Sprachlichkeit und Zeitaufhebung. Für den Dichter und Erzähler ist dies keine Endeckung, sondern die mühevolle 206
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Wirklichkeit des täglichen Schaffens. Aber unabhängig davon kennt fast jeder einen schwachen Schimmer des gerade Gesagten aus der Erfahrung eines inneren Gesprächs mit den Abwesenden, die man gern noch einmal träfe, die aber entweder weit weg leben, nichts mehr von sich hören lassen oder bereits gestorben sind. Durch das Sprechen rufen wir die Abwesenden zu einer abwesenden Anwesenheit, die wir nur im Übersinn der Worte sagen können. Auf einer ersten Ebene lassen sich – in dem Fluidum der »Zeitlosigkeit«, die unendliche Geduld erlaubt – dem einst hastig und missverständlich Gesprochenen eine Vielzahl neuer Bedeutungen ablauschen. Während das im Jetzt gesprochene Wort uns in eine Vielzahl von emotionalen Verknotungen, Verletzungen, in ungeduldiges Verstehenwollen, Missverstehen und Lügen verstrickt, fällt all dies im inneren Gespräch mit den Abwesenden von uns ab, in dem vielmehr der Übersinn der Worte spricht. Nicht nur öffnen wir uns einer anderen Wahrnehmung der Anderen – und somit unserer Selbst –, sondern wir tasten mit wachsender Sicherheit nach Demut und »Gerechtigkeit«. Indem wir Vieles, was einst zwischen uns und dem Anderen gesagt wurde, als mehr oder weniger redliche, doch vielfach gescheiterte Versuche des Sagens und Meinens in uns zur Sprache bringen, und indem wir es anders sprechen und sprechen lassen, entrichten wir einen kleinen Teil unserer Schuld des Nicht-Hörens. In diesem schwachen Entrichten einer Schuld wird die Vergangenheit von der Zukunft erfüllt, die unsere Gegenwart ist. Wir werden somit nicht nur Zeuge, wie die Zukunft die Zeit erfüllt, sondern »Mithelfer« dieser Zeitumkehr, indem wir uns dem Strom der Sprache hingeben. In dieser Erfahrung erleben wir – oft gepaart mit sanfter oder heiterer Ironie – das zutiefst menschliche Vermögen zu verzeihen. Auf einer weiteren Ebene jedoch lässt sich die Sprachlichkeit der Sprache im Gespräch mit den Abwesenden erleben, wird doch in diesem Gespräch nicht etwas mitgeteilt. Vielmehr leuchtet in diesen Worten, die wir mit den Abwesenden wechseln das Unsagbare auf – ja, wir empfangen im Wechsel Worte auch von den nicht Anwesenden, unsagbare Worte. Wir fragen nicht mehr nach danach, was die Worte bedeuten, bezeichnen oder benennen, sondern wir werden selbst ganz Frage und fragen nach dem Zeugnis, das wir und die Anderen unsagbar und unhörbar ablegten, wenn wir und sie könnten. Erweitern wir den Kreis der nicht anwesenden Gesprächspartner A
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zeitlich und räumlich bis ins Unendliche, ertasten wir darin ein feines Gewebe mannigfacher Beziehungen des Zusammenwirkens, das uns an Rosenzweigs Wort vom Zusammenhang der Menschheit erinnert. Durch die Sprache allein wird dieses Gewebe gesponnen, und nur sprachlich können wir es weiter weben. Es lässt sich in seiner Ganzheit weder ermessen noch erleben, nur in Fragmenten, Bruchstücken und Trümmern. Aber alle noch so flüchtigen und fast verwehenden Wortfäden sind zwischen dem »ersten und dem letzten Wort« aufgehoben. Anders gesagt: Rosenzweigs Erzählung von der Offenbarung als Brücke zwischen höchster Subjektivität und unendlich klarer Objektivität ist keine Erbauungsliteratur, sondern – im Sinne Cohens – ständige Aufgabe, weiter gelesen und erzählt zu werden und dabei die Worte von festgelegten Bedeutungen zu befreien. Wie anders könnten wir der Sprache vertrauen? Wir haben nicht mehr als die Sprache – aber auch nicht weniger! Mit dem Imperativ und dem Gebot der Liebe hatten wir dieses Kapitel begonnen. Wir hatten den Weg von der Frage nach dem Du über das Liebesgebot bis zur Anrufung des Menschen mit seinem Eigennamen als die Offenbarung nachgezeichnet, die alles auf Grund stellt. Erst mit dem Imperativ und der Nennung des Namens sind auch die grammatischen Formen der Personalpronomina auf Grund gestellt. Es ist nun auch eine Brücke gebaut, die das taubblinde, selbsthafte Ich zum Du hin öffnet und in die unendlich klare Objektivität des Sprachstroms zum je neuen Anfangen des Über-setzens und Erwartens neuer Offenbarungen hinführt. Auch die Liebe muss sprechen, um zu lieben. »Die Liebe ist so stark wie der Tod« – diese Worte zu Beginn des Offenbarungskapitels im »Stern« sind dem Hohen Lied entnommen. Sie sind randvoll mit göttlichem Übersinn. Die Liebe sucht uns heim, entzieht uns jede Gewissheit, stellt in Frage, fordert Hingabe an das Unbekannte oder den Abgrund – wie der Tod. Emmanuel Levinas sagt: »Dieses Nahen des Todes zeigt an, dass wir in Beziehung sind mit etwas absolut Anderem, mit etwas, dessen Existenz als solche aus Andersheit gebildet ist. Meine Einsamkeit wird dergestalt durch den Tod nicht bestätigt, sondern durch den Tod zerbrochen.« 34
Emmanuel Levinas: Die Zeit und der Andere, Felix Meiner Verlag Hamburg 1984, S. 47
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Kapitel 5: Exkurs: Ist das noch Philosophie? Bewährung der Wahrheit bei Rosenzweig – Bedeutung und Sinn bei Emmanuel Levinas
»Ist« das noch Philosophie, wenn vom göttlichen Übersinn der Worte und ihrem zusätzlichen Hauch die Rede ist? Wären hier nicht Poesie oder Religion »zuständig«? Das Wort »zuständig sein« kommt hier gelegen, denn statt zu fragen, »was Philosophie denn überhaupt ist«, fragen wir besser und in der Aussicht auf tiefere Einsicht nach ihrer »Zuständigkeit«, wir fragen also, wofür Philosophie zu stehen, ein-zustehen habe. Zunächst doch wohl für das, was sie zur Sprache bringt – d. h. für die Worte, die sie sagt. Sprache und Philosophie sind auf eine Weise ineinander verklammert, dass schon deswegen die Philosophie an den Fragen nach dem Übersinn und dem zusätzlichen Hauch der Worte nicht vorbeikommt. Zumal Philosophie nach eigenem sowie landläufigem Verständnis sich klar ausdrücken solle. Wie aber ist dieses Gebot der Klarheit zu erfüllen, wenn Philosophieren nur in der Sprache möglich ist, die Sprache selbst aber nicht klar, sondern sinnlichübersinnlich »ist«, wenn sie vom Hof des Unbestimmten, vom zusätzlichen Hauch durchwoben erscheint? Adorno nennt es das Paradox der Philosophie: konkret zu sagen, was sie nicht sagen kann. Aber gerade dies müsse sie zu ihrer Sache machen – auch in der (sprachlichen) Darstellung. Diese Forderung zieht zum Beispiel einen äußerst bedachtsamen Umgang mit dem Wörtchen »ist« nach sich – darin sind sich Rosenzweig und Adorno ganz einig. Jener hebt hervor, dass bei der »Was-Ist-Frage« – wenn z. B. danach gefragt werde, was der Käse, der Tisch, die Gerechtigkeit oder der Mensch eigentlich seien – das Befragte zu »etwas Anderem«, mindestens zu dem Wesen von etwas, werde. Adorno seinerseits warnt vor der immer drohenden Gefahr der Verdinglichung, die allein schon in der Form der Kopula »Ist« erscheine, denn diese »verfolgt jene Intention des Aufspießens, deren Korrektur an der Philosophie wäre«. Danach hätte Philosophie zu allererst einzustehen für eine Korrektur – nicht zuletzt für die Korrektur einer begrifflichen Wissenschaftssprache, aber auch der von ihr selbst geA
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sprochenen Sprache. Adorno sagt dazu: »Insofern ist alle philosophische Sprache eine gegen die Sprache, gezeichnet vom Mal ihrer eigenen Unmöglichkeit«. 1 Bezieht sich diese Unmöglichkeit einer philosophischen Sprache nicht gerade auf den Übersinn der Worte, den wir im vorigen Kapitel umkreist haben? Wenn Philosophie sich der Forderung nach Klarheit entzieht, sie aber dennoch auf ihre Weise leisten soll, dann laut Adorno nur in einem »Ausbrechen aus der Verdinglichung von Bewusstsein und Sachen«. Unter dieser Prämisse möchte Adorno die philosophische Sprache vor dem »brutalen Kommando von Klarheit« schützen, das meist darauf hinauslaufe, so zu reden, wie ohnehin alle reden. Statt einem solchen Kommando blind zu folgen, kann es nur Aufgabe der Philosophie sein – auch hierin wären sich Rosenzweig und Adorno einig gewesen –, aus dem Reduktionismus rein begrifflichen Denkens auszubrechen: »Der Sprache verlangt das Gebot der Klarheit vergebens etwas ab, was sie in der Unmittelbarkeit ihrer Worte und Sätze überhaupt nicht geben kann, sondern einzig und fragmentarisch genug, in deren Konfiguration. Besser wäre ein Verfahren, das, Verbaldefinitionen als bloße Festsetzungen sorglich vermeidend, die Begriffe so getreu wie nur möglich dem anbildet, was sie in der Sprache sagen: virtuell als Namen.« 2
Erneut begegnet uns das Übersteigen des Begriffs durch den Namen – dieses Mal in einem ausschließlich philosophischen Text. Wenngleich der Name sich einer dekretierten Definition widersetzt und so der Gefahr der Verdinglichung durch den Begriff widerstrebt, unterschlägt Adorno nicht die andere Gefahr der Beliebigkeit des Ausdrucks. Folgerichtig fordert er daher eine Prägnanz des Ausdrucks sowie die Vermeidung sprachlicher Beliebigkeit. Um dies zu ermöglichen, schlägt er ein sprachliches Verfahren vor, wie sie ein Emigrant beim Erlernen einer fremden Sprache anwendet. Dabei würden sich zahlreiche Worte erst im Kontext aufschließen, sie wären lange noch von einem Hof der Unbestimmtheit umgeben, bis sie, durch die Fülle der Kombinationen, in denen sie erscheinen, sich schließlich ganz enträtselten. Dass sie sich ganz enträtseln, dürfte eingedenk des Übersinns der Worte kaum gelingen – dass aber überhaupt eine Fülle an Kombinationen sowie die Aufgabe des Übersetzens als eines Enträtselns von Worten Eingang ins Theodor Adorno: Skoteinos oder wie zu lesen sei, in: Zur Metakritik der Erkenntnistheorie und Drei Studien zu Hegel, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2003, S. 335 2 Ebd., S. 340 1
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Bewährung der Wahrheit bei Rosenzweig
Werk eines modernen Philosophen findet, beantwortet in einem ersten Anlauf die oben gestellte Frage: gerade die Philosophie hat es genuin mit dem Übersinn der Worte zu tun. Noch mehr und in noch anderer Weise gilt dies für Rosenzweigs Philosophie. Die schwierigen Passagen zum göttlichen Übersinn der Worte und dem sinnlich-übersinnlichen Charakter der Sprache könnten als religiöse oder poetisch-ästhetische Sprachverliebtheit gelesen werden. Deswegen erinnern wir bei dieser Gelegenheit daran, dass Rosenzweig den »Stern« als philosophisches Werk verstanden wissen wollte, auch wenn aufgrund der Themen Schöpfung-Offenbarung-Erlösung sowie dem breiten Raum, den liturgische Fragen und das Verhältnis zwischen Judentum und Christentum darin einnehmen, diesem Buch allzu oft ein religiöser Inhalt zugeschrieben wird. Dies lag Rosenzweig völlig fern, er betonte sogar, das Wort Religion komme im »Stern« nicht ein einziges Mal vor.
Bewährung der Wahrheit In seinem späteren erläuternden Kommentar zum »Stern« – unter dem Titel »Das neue Denken« erschienen – leidet er an Bescheidenheit keinen Mangel, wenn es um seinen Beitrag zur Philosophie geht. Sein Werk eine neue kopernikanische Wende zu nennen, wäre ihm zu kurz gegriffen, denn nach einer solchen Wende würde man die Dinge zwar »verkehrt herum« anschauen, es wären aber immer noch dieselben Dinge! Gemeint sind damit weniger die Dinge an sich als wohl vielmehr die Fixierung des philosophischen Fragens auf das Verhältnis zwischen anschauendem Subjekt und angeschautem Objekt. Rosenzweig erhebt jedoch im neuen Denken den Anspruch, anstelle des »statischen Objektivitätsbegriffs«, der auf Widerspruchslosigkeits- und Gegenstandstheorien aufbaue, einen dynamischen einzuführen. Das bedeutet: Wahrheit könne niemals objektiv statisch verstanden werden, sondern immer nur als Wahrheit für jemanden, und deshalb sollten wir nicht von einer, sondern nur von einer vielfältigen Wahrheit reden, wobei sich »die« Wahrheit in »unsere« Wahrheit wandle. Und dann folgt ein weiterer viel zitierter Satz Rosenzweigs, der wohl am knappsten seine Philosophie benennt:
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»Wahrheit hört so auf, zu sein, was wahr »ist«, und wird das, was als wahr bewährt werden will. Der Begriff der Bewährung der Wahrheit wird zum Grundbegriff dieser neuen Erkenntnistheorie«. 3
Die verschiedenen »Wahrheiten« folgen – gewissermaßen als ein »fließendes Modell« – für Rosenzweig einer Art Rangordnung, in dem Erkenntnis allmählich in Bewährung übergeht. Beginnend mit den »statischen« Wahrheiten, in deren Erkenntnis wir alle leicht »mit dem Aufwand von ein bisschen Gehirnschmalz« übereinstimmen, wie z. B. der mathematischen Wahrheit der Gleichung »2 mal 2 = 4«, gelangt er dann zu den »Wahrheiten, die sich der Mensch etwas kosten lässt, hin zu denen, die er nicht anders bewähren kann als mit dem Opfer seines Lebens, und schließlich zu denen, deren Wahrheit erst der Lebenseinsatz aller Geschlechter bewähren kann«.4 Der moderne Leser wird sich vermutlich einem solchen »Wahrheitsanspruch« verweigern, doch Rosenzweig fordert hier weder den Heldentod noch das Opfer des Märtyrers, um zur Wahrheit zu kommen – wenngleich wir aus der Geschichte natürlich Situationen kennen, in denen Wahrheit nur unter Inkaufnahme des eigenen Todes bewährt werden konnte. Aber dies sind Grenzsituationen, die aufgrund ihres Ausnahmecharakters sicher auch nicht exemplarisch geeignet sind, den Grundbegriff einer neuen Erkenntnistheorie zu enthüllen. Und doch: verbirgt sich in den Worten vom Opfer des Lebens, das für die Wahrheit zu erbringen sei, nicht auch ein erkenntnistheoretisch »ironisches Motiv«? Soll damit nicht deutlich betont werden, dass es »die Wahrheit« nicht gibt? Wir lesen diese Passage auch als Absage an eine Wahrheit der ewigen Ideen oder allgemeingültigen Werte, in deren Namen fürchterliche Verbrechen begangen wurden. Denn wird die Wahrheit in abstrakten Gedankenkonstrukten, philosophischen oder weltanschaulichen Begriffen gesucht, dann wird in ihrem Namen die Nähe jenes zeit- und sprachgebundene Miteinander – oder besser Füreinander – in die Ferne gerückt, das zwischen dem Einen und dem Anderen, dem Du und dem Ich erst ein Ich und ein Du werden lässt. Folgt der Mensch – bisweilen fanatisch und verbissen – der Wahrheit »ewiger« Ideen und Werte, dann verstrickt er sich zunehmend in das eigene Ich statt sich auf den Anderen hin zu öffnen. Die höchste Stufe des Franz Rosenzweig: Das neue Denken, in: Zweistromland – Kleinere Schriften zur Religion und Philosophie, Philo Verlagsanstalt 2001, S. 231 4 Ebd. 3
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Bezeugens der Wahrheit mit dem Opfer des eigenen Lebens zu verbinden, ließe sich also auch als eine die Erkenntnistheorie ironisierende Weise lesen, da hier die Bewährung der Wahrheit mit dem völligen Desinteresse an der eigenen Person einhergeht. Aber dies kann nur eine Lesart des obigen Zitats sein. Doch bevor wir uns der Frage des Bewährens der Wahrheit auf Kosten des Lebens aus weiteren Perspektiven nähern, möchten wir noch etwas bei dem Verb bewähren verweilen und dann ein anschauliches Beispiel aus der Literatur zur Illustration der Rosenzweigschen Sätze zitieren. Im Allgemeinen verwenden wir das Verb sich bewähren in der transitiven Form. Etwas bewährt sich, d. h. es hat nach mehreren Versuchen oder längerer Beobachtung das »gehalten, was es versprochen hat«. Da ein Etwas nichts selbst verspricht, meint man eigentlich die Erwartungen, die wir an dieses Etwas gesetzt haben. Anders ist es beim Jemand, der selbst etwas verspricht, wovon die Anderen dann erwarten dürfen, dass er es hält. Tut er dies, dann hat er sich bewährt – sowohl unseren Erwartungen gegenüber wie sich selbst. Unabhängig von solcherart Erwartungen mag ein Mensch die Aufgabe seines Lebens darin sehen, sich zu bewähren. Dies kann ganz Unterschiedliches bedeuten, je nach Charakter, Lebensumständen und eigenen Vorhaben. Doch im Allgemeinen meint dieses »sich im Leben bewähren«, dass der Mensch gefährlichen Verlockungen widersteht, an den häufig leidvollen Wechselfällen des Lebens nicht zerbricht oder in Zynismus verfällt, den Anderen gegenüber seine Schuld begleicht und bereit ist, aus jedem Scheitern zu lernen und neu zu beginnen. Doch Rosenzweig verwendet bewähren nicht transitiv, er spricht nicht davon, dass der Mensch sich bewährt, sondern die »Wahrheit«. Andererseits: Bewähren ließe sich auch als Beglaubigen oder Bezeugen übersetzen. In beiden Worten aber schimmert das transitive sich Bewähren durch, denn der Bezeugende muss für das Bezeugte mit dem eigenen Namen einstehen, sich in seinem Namen bewähren. Das nicht-transitive Bewähren ließe sich darüber hinaus jedoch auch als Wahrwerden übersetzen, d. h. die »Wahrheit« ereignet sich erst im Prozess des Bewährens und wird auch erst in diesem als »Wahrheit« erkannt. Wird also etwas erst im »bewährenden Sprechen« wahr? Wenn etwas aber doch schon existiert, ein »Sein« hat, bevor jemand darüber spricht oder es benennt, ist es dann in diesem »unbenannten Sein« weniger »wahr«? Genau darauf scheint Rosenzweig es »abgesehen« zu haben. Ob »etwas« – allgemein gesprochen – geschehen ist oder nicht, hat demnach keine Bedeutung, solange A
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dieses etwas nicht von jemandem für wahr genommen wird und von diesem jemand aussagend bewährt oder bezeugt wird. Die »Wahrheit« dieses Geschehenen muss sich als »Wahrheit« für jemanden zeigen, wie Rosenzweig sagt. »Wahrheit« ist also immer an eine bestimmte Person gebunden, die sie – in der Sprache – bezeugen und bewähren muss. Darüber hinaus ist dieses Bewähren gebunden an die Zeit. Was jemand heute bewährt, mag ihm selbst viele Jahre verschlossen gewesen sein, obwohl es in all diesen Jahren nicht weniger der »Wahrheit« – im Sinne einer Tatsache – entbehrte. Wir können die »Wahrheit« verfehlen, wenn wir sie zu früh oder zu spät bewähren. Ferner besagt es schon die Sprache, dass sich der Bewährende oder Bezeugende immer an Jemanden wendet. Und so wie das sprechende Bewähren der Zeit bedarf, so ist es eingebunden in ein Sprechereignis, das – wie Rosenzweig sagt – »vom Leben des Anderen lebt«. Um etwas als wahr zu bewähren, können wir weder der Zeit noch dem Anderen vorgreifen, dessen hörende, sprechende oder schweigende Erwiderung in die weitere Auswahl der bewährenden und bezeugenden Worte einfließen werden – ob bewusst oder nicht. Die Bewährung der Wahrheit wird damit zu einem anderen Namen für das Sprachdenken, das Rosenzweig in knappsten Worten als das Bedürfen der Zeit und des Anderen benannt hat. Rosenzweigs »neue Erkenntnistheorie« besagt also, dass Erkenntnis als Bewährung zeit- und sprachgebunden ist. Um ein Beispiel für diese Gebundenheit der »Wahrheit« an die Zeit und den Anderen zu geben, möchten wir kurz auf den Roman »Der Fall Maurizius« von Jakob Wassermann eingehen, der in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts erschienen ist und sich am Fall eines Justizirrtums dem Themenfeld Schuld, Verblendung, Fanatismus, Leiden, Schweigen – und schließlich dem Bewähren und Bezeugen einer Wahrheit, »die etwas kostet«, widmet. »Vielleicht entsteht die Wahrheit erst durch die Zeit und in der Zeit?« 5 , so fragt die Romanfigur des Staatsanwalts Andergast, der durch eine ungewöhnliche Verkettung von Umständen erkennen muss, dass er vor 18 Jahren einen jungen Mann zu Unrecht wegen Mordes an dessen Ehefrau verurteilt hat. Immerhin wurde seinerzeit das Todesurteil in eine lebenslängliche Strafe umgewandelt – was umso mehr den Verdacht eines schwerwiegenden Justizirrtums nährte. Andergast jedoch war nicht nur von der Berechtigung seines Urteils fest über5
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Jakob Wassermann: Der Fall Maurizius, Berliner Wissenschaftsverlag 2003, S. 336
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zeugt, sondern sah darin eine besondere »Bewährung« von Recht und Ordnung, wobei er seine eigene Entschlossenheit in der Durchsetzung des Urteils als Heldentat zur Verteidigung der europäischen Zivilisation genoss. Das Gesetz, das Prinzip – die Menschheit selbst stellte er über den Menschen Maurizius, der nur der »Angeklagte« war. 18 Jahre später besucht er diesen Menschen Maurizius in seiner Zelle und erhält im Verlauf tagelang geführter, für beide Seiten quälender, Gespräche zunächst die Ahnung und schließlich die Gewissheit eines grausamen Irrtums. Andergast, der 18 Jahre in ungetrübter Selbstgerechtigkeit an die Wahrheit des von ihm geforderten Urteils geglaubt hatte, erlebt im Gespräch mit dem Angeklagten, wie sich die angebliche Wahrheit in Lüge verwandelt. Die Unschuld des Angeklagten, der gewaltige Irrtum bzw. das Versagen einer Rechtssprechung, die diesen Unschuldigen dem langsamen Sterben der Haft ausgeliefert hat – vor allem aber seine eigene Schuld in diesem monströsen Fehlurteil werden dem bisher gefühlskalten und menschenfernen Staatsanwalt zur neuen Wahrheit. Er bewährt sie durch sein Zuhören – und bezahlt sie schließlich mit seinem Leben. Mitten in dieser Erschütterung durchfährt ihn der »tödlich-fahle Gedanke«, dass wir heute etwas als Wahrheit bereit sind aufzunehmen, was wir vor drei, fünf, zwölf oder sechzehn Jahren – zeitgetrübt, zeitbefangen – nicht sehen wollten, obwohl es im abstrakten Sinn »dieselbe Wahrheit« war. Aber was heißt hier »wir«? Dass Andergast nicht hören wollte, ist eine Sache – aber auch Maurizius wollte oder besser konnte nicht sprechen. Die gegenseitige Angewiesenheit von Hören und Sprechen wird nun sogar von einem wie Andergast – der bisher als selbstzufriedener »Freisler« der wilhelminischen Epoche erschien – reflektiert, als er zu sich selbst sagt: »Möglicherweise war er (der Angeklagte Maurizius) sich bewusst, dass die Wahrheit nur für ihn selbst Wahrheit war, für mich, für uns aber nicht, für mich, für uns wurde sie erst in dem Augenblick reif, wo er, fast wider seinen Willen, bereit war, sie auszusprechen …« 6 Widerwillig hörte Andergast zunächst hin, als Maurizius widerwillig zu sprechen anhob. Hierin zeigt sich eine Bewährung, die etwas kostet – tatsächlich kostet sie nicht nur »etwas«, nicht nur Überwindung des Widerwillens, sondern am Ende kostet sie das Leben beider Personen, des Staatsanwalts wie des Angeklagten: der Eine kann mit der Schuld, der Andere mit der neu gewonnenen Freiheit nicht leben. Diese »widerwillig geführten Ge6
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spräche« einer quälenden und tödlichen Bewährung sind jedoch nur aufgrund einer anderen Bewährung möglich geworden: der 16-jährige Sohn des Staatsanwalts war durch verschiedene Umstände auf die Spur des möglichen Justizirrtums und der Verstrickung seines Vaters geraten. Er möchte die Wahrheit herausfinden und macht sich auf die Suche nach dem einzigen noch lebenden Belastungszeugen des damaligen Prozesses. Andergasts Sohn verlässt zu diesem Zweck heimlich das Haus seines Vaters, wobei er noch einen scharfen und endgültigen Abschiedsbrief hinterlässt, der den ersten Zusammenbruch des Staatsanwalts bewirkt. Natürlich gerät auch das Aufeinandertreffen des Sohnes und des Belastungszeugen, den er schließlich ausfindig machen kann, zur Bewährung der Wahrheit. Auch der Zeuge spricht wider Willen Dinge aus, die er mehr als 18 Jahre lang nicht aussprechen konnte und wollte: die Zeitgebundenheit der Erkenntnis, des Denkens und des Sprechens.
Was kostet die Wahrheit? Der »Fall Maurizius« könnte als Illustration der »neuen Erkenntnistheorie« Rosenzweigs gelesen werden. Zugleich aber erzählt Wassermann in seinem Roman nichts, was nicht dem gesunden Menschenverstand unmittelbar einleuchtete. Darf man hier also in einen hohen Ton verfallen und von neuer Erkenntnistheorie sprechen? Denken wir jedoch an Rosenzweigs »Büchlein vom kranken und gesunden Menschenverstand«: der Autor möchte nicht nur die Kluft zwischen Philosophie und »gesundem Menschenverstand« »überbrücken«, sondern seine Philosophie, das »neue Denken«, ist nichts Anderes als gesunder Menschenverstand. In seiner Schrift »Das neue Denken« liest sich das so: »Die neue Philosophie tut da nichts anderes, als dass sie die »Methode« des gesunden Menschenverstands zur Methode des wissenschaftlichen Denkens macht. Worin unterschiedet sich denn der gesunde Menschenverstand vom kranken, der sich, genau wie die alte Philosophie, die Philosophie des »philosophischen Staunens« – Staunen heißt Stillestehen –, in eine Sache verbeißt und sie nicht eher loslassen möchte, bis er sie ganz »hat«? Er kann warten, weiterleben, er hat keine »fixe Idee«, er weiß: kommt Zeit, kommt Rat. Dieses Geheimnis ist die ganze Weisheit der neuen Philosophie.« 7 7
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Franz Rosenzweig: Das neue Denken, S. 220/221
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Was sich hier für den »alten Philosophen« leichtfüßig und beinah trivial anhören könnte, wird sich vor dem Hintergrund des Sprachdenkens tatsächlich als eine quasi filigrane Methode des Entdeckens enthüllen, die aus dem übersinnlichen Charakter der Sprache schöpft. Im Übrigen ist in diesem Zitat noch einmal schlicht und trefflich die Zeitgebundenheit des Philosophierens ausgesagt. Doch kommen wir zunächst noch einmal auf zwei Behauptungen Rosenzweigs zu sprechen, die der Leser ungenügend kommentiert finden mag: der »neuen Erkenntnistheorie« und den unterschiedlichen Kosten der Wahrheit. Dass Erkenntnis etwas mit dem Erkennenden zu tun hat, wissen wir spätestens seit Sokrates. Ihm aber wird auch die sogenannte Lehre der Wiedererkennung zugeschrieben – als ob also das Erkannte schon früher einmal erkannt und bekannt war. Ohne auf den seit der Antike um dieses Thema kreisenden Widerstreit einzugehen, scheint jedoch Rosenzweig die Betonung nicht auf Wiederholung des schon Gewussten aus den »Tiefen der Seele«, sondern vielmehr auf die Wandlung oder Umkehr des Erkennenden als Voraussetzung einer Erkenntnis zu legen. Der Erkennende könnte demnach nicht auf ein vorhandenes und zu erinnerndes »Wissen« zurückgreifen, sondern müsste sich die Wahrheit etwas »kosten lassen«, indem er im Bewähren der Wahrheit ein Anderer wird. Exemplarisch ereignet sich solch eine Umkehr im Eingeständnis des Scheiterns, der Schuld oder des Irrtums. Die Folgen eines solchen Eingeständnisses sind vielfältig, aber immer kosten sie etwas – sei es die Trennung von Menschen, den Verlust von Identitäten hinsichtlich des Lebenswegs oder die »Sicherheit« des Urteils. Die Bewährung der Wahrheit als Umkehr erfährt der Betroffene auch als Bloßstellung und Ausgesetztsein gegenüber dem Anderen. In diesen Worten benennt Emmanuel Levinas die Grunderfahrung der Begegnung mit dem Anderen. Wir werden später genauer darauf eingehen. Hier soll der Hinweis genügen, dass für Levinas die Bloßstellung und das Ausgesetztsein gegenüber dem Anderen – als Angewiesenheit auf ihn, als Für-den-Anderen-Sein –als das voranfängliche Sagen erscheinen. Rosenzweig spricht vom Bedürfen des Anderen, das dem Sprechen als ein unendliches Hören und Antworten zugrunde liegt. In der Erfahrung des bis zur Selbstaufgabe oder reinen Passivität gehenden Ausgesetztseins erklingt zugleich aber immer auch die Antwort des Anderen, in der die Bewährung der Wahrheit erst gelingen kann. Zum einen bedarf der Umkehrende zumeist des Anderen, um an den »Kosten der Wahrheit« nicht zu zerbrechen – eine Einsicht des gesunA
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den Menschenverstands, die jedoch noch auf der individualpsychologischen Ebene verbleibt. Für den hier gesuchten Zusammenhang von Sprachdenken und Erkenntnistheorie entscheidender ist jedoch, dass der Umkehrende, der Wahrheit Bewährende im Zwiegespräch mit dem Anderen – ob Mitmensch oder Gott – gemäß der Dreistrahligkeit der semantischen Relation seine eigenen Worte hört. Wenn der Andere gar durch Schweigen antwortet, wird das Hören auf das eigene Wort in einer Weise verstärkt, die sogar zum Widerruf des gerade Gesagten führen kann. Je neues Sprechen und Widersprechen sind – auch wenn wir an das oben zitierte literarische Beispiel denken – als unendliche Bewegung notwendig, um in der schmerzhaften Bewährung der Umkehr Wahrheit und Irrtum immer aufs Neue zu unterscheiden. Nun mag der wissenschaftliche Philosoph oder gar der Wissenschaftler einwenden, dass hier der Name Erkenntnis in Hinblick auf das persönliche Leben ausgelegt wird, wie es auch das Wort Eingeständnis unterstreicht – während Erkenntnis doch gerade auf Objektivierung subjektiver Eindrücke und Erfahrungen ziele. Hier öffnet sich ein weites Feld, das den Gang unserer laufenden »Untersuchung« auf allzu viele Nebenpfade ablenkte. Nur soviel sei angemerkt: Rosenzweigs neue Erkenntnistheorie bezieht sich auf jene Erkenntnis oder Bewährung der Wahrheit, die uns etwas kostet. Diese beruht auf innerer Umkehr, die jedoch des Außen bedarf, denn bewähren kann sie sich nur in der Sprache, besser im Sprechen, das als Wechselgespräch des Anderen bedarf. Dem gesunden Menschenverstand erscheint dies plausibel. Damit wird jene Erkenntnis-theorie nicht entwertet, derer sich die Wissenschaft bedient, in dem – sehr grob gesagt – ein Objekt durch ein Subjekt nach bestimmten Kriterien und Kategorien klassifiziert wird, wobei das Subjekt selbst letztlich unbeteiligt bleibt. Zwischen Subjekt und Objekt schieben sich logische, kritische oder dialektische Kategorien, die den Erkennenden und das Erkannte zueinander auf Distanz halten. Diese Methode des Erkennens ist für die Aufgaben der Wissenschaft zweifellos zweckdienlich – zu fragen wäre aber, inwieweit philosophische, ästhetische und ethische »Erkenntnis« des hörend-antwortenden Wechselgesprächs bedarf. Ob nicht jede wirkliche »Erkenntnis« das monologische, denkende Denken (»Ich denke«) in Richtung auf ein dialogisches, sprechendes Denken hin überschreiten muss? Rosenzweig aber wirft dem denkenden Denken darüber hinaus eine Verkennung oder Verleugnung des Lebens vor, und damit auch des Todes. Leben und Tod sind gerade durch jenes ineinander ver218
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woben, das Erkenntnis bedingt: die Umkehr. Es ist die Endlichkeit und Vergänglichkeit des Lebens, welche die stets erneuerte Umkehr fordert, denn endlich und vergänglich ist unser jeweiliges Wissen, unsere jeweilige Erfahrung, Wahrnehmung und Möglichkeit des Sprechens. Das »alte Denken« leugnet den Tod, weil es die Endlichkeit leugnet und stattdessen von ewig gültigen Prinzipien, Ideen und Wahrheiten erzählt. Deswegen fragt Rosenzweig nicht, was wahr »ist«, sondern danach, was als wahr bewährt wird. Bewährung der Wahrheit wird somit eine Frage auf Leben und Tod. Heißt das aber, wie Rosenzweig sagt, dass die höchste Wahrheit nur bewährt werden könne durch das Opfer des Lebens? Geschähe dann aber die Bewährung nicht vielmehr im Handeln und weniger im Sprechen? Wenn z. B. Menschen unter der Folter unsägliche Schmerzen ertragen und schließlich bereit sind zu sterben, um niemanden zu verraten, dann bewähren sie die »Wahrheit« der Treue, der Freundschaft, des Vertrauens oder sogar der Liebe. Wir hören ferner von denjenigen, die andere Menschen aus tödlicher Gefahr retten, wohl wissend, dass sie selbst dafür mit ihrem Leben bezahlen werden wie z. B. die Feuerwehrleute nach dem Anschlag auf das New Yorker World Trade Center. Auch sie bewähren die »Wahrheit« der Nächstenliebe und die ihres Berufs als Retter in der Not, indem sie ihr Leben hingeben. Erwähnen könnten wir auch Widerstandskämpfer, die für ihre Idee oder ihren Glauben an Gott gestorben sind. Doch können wir in diesen Fällen von »Erkenntnistheorie« sprechen? In den hier erwähnten Beispielen handeln Menschen nicht aus »philosophischer Einsicht«, ihr Handeln leiten sie nicht aus irgendeiner Theorie ab, sie leiten es gar nicht ab, sondern sie tun, was sie aus Ihrem Inneren tun müssen, sie bewähren ihre Wahrheit – nicht mehr und nicht weniger. Die Aufopferung des Lebens für die »Wahrheit« mit einer »Erkenntnistheorie« in Verbindung zu bringen, erscheint abwegig – erst recht der Satz, dass die »höchste Wahrheit« den »Lebenseinsatz aller Geschlechter« koste. Wie verhält es sich jedoch mit einer Form der Bewährung, die sich »rein sprachlich« – schreibend oder sprechend – ereignet, und an dessen Ende nur der Tod als »Ausweg« erscheint? Wir denken dabei an jene Schriftsteller, die nach 1945 ihre eigenen Erfahrungen mit Deportation, Folter, Lagerhaft sowie der Vernichtung ihrer Familien in der Shoah zum Thema ihres Schreibens gemacht haben. Einige haben sich danach das Leben genommen wie Jean Amery, Primo Levi oder Paul A
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Celan. Andere haben zwar überlebt wie Jorge Semprun, aber das Schreiben als Überleben war oft ein schmerzhaftes Balancieren am Rand des Todes. In den meisten Fällen hat es 15 oder 20 Jahre gedauert, bis diese Zeugen überhaupt schreiben oder sprechen konnten – ein weiteres Beispiel für die Zeitgebundenheit der Wahrheit. Semprun z. B. schreibt, dass er das Geschehene vergessen wollte, aber es gelang ihm nicht. Hat uns hier Rosenzweigs Begriff der »Erkenntnistheorie« etwas zu sagen? Sein lapidar erscheinender Satz »Kommt Zeit, kommt Rat« berührt bei aller hingeworfenen Lässigkeit die Bedingungen, unter denen Sprechen, also Bewähren und insofern Erkenntnis möglich wird. Es wäre in diesem Zusammenhang eine lohnende Aufgabe, Rosenzweigs Bewährung der Wahrheit in Hinblick auf die Debatte um das Thema »Zeugenschaft nach der Shoah« zu vertiefen. Die inzwischen umfangreichen Forschungen zu primärer und sekundärer Zeugenschaft, zur Traumatisierung sowie zur künstlerischen Verantwortung gegenüber Auschwitz, die u. a. an Paul Celans Wort »Niemand zeugt für den Zeugen« entbrannt sind, könnten Rosenzweigs Erkenntnisbegriff sicher auf besondere Weise illustrieren und zugleich von ihm neue Anregungen erhalten. Wir enthalten uns hier jedweder Versuchung, auch nur ansatzweise in diese Richtung weiter zu forschen, da wir ansonsten ein ganz neues und anderes Fass öffneten, das ein eigenes Projekt wäre und den Rahmen dieses Buches sprengen müsste.
Bewährung der Wahrheit, Sprachdenken und jüdische Hermeneutik Es ließe sich aber die Frage, welche Wahrheit nur mit dem Einsatz des Lebens bewährt werden könne, noch auf ganz andere Weise lesen. Wir kommen damit auf den Ausgangspunkt dieses Kapitels zurück, nämlich zu der Frage, ob und auf welche Weise der göttliche Übersinn, der in jedem Wort mit erklingt, das Interesse der Philosophie berühre. Wiederum öffnet uns der gesunde Menschenverstand hier eine Pforte, deren Betreten sich als fruchtbringend erweisen könnte: wir kennen den Satz, wonach das Leben erst im Tode seine Vollendung erfahre. Anders gesagt: erst am Ende des Lebens – im Angesicht des Todes – wird der Mensch eine Antwort auf die Frage bekommen, was »es Alles zu bedeuten hatte«. Die »Wahrheit« zeigte sich demnach erst, wenn sie durch den Einsatz eines ganzen Lebens bewährt wird. 220
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So gesund er auch ansonsten sein mag, hier scheint der solcherart gepriesene Menschenverstand doch im Ungefähren zu tappen und drückt eher die Hoffnung aus, es möge so sein, wie er sagt. An diesem kritischen Punkt springt dem gesunden Menschenverstand nun die Sprache bei, besser das Sprachdenken. Lesen wir den Satz, dass wir erst am Ende des Lebens (womöglich) erkennten, was es »alles zu bedeuten hatte«, von der Sprache her, dann hieße es: wir brauchen vielleicht ein ganzes Leben, um einen Satz zu verstehen. Demnach wäre das ganze Leben der Aufgabe gewidmet, diesen »einen Satz« zu entziffern – oder einfach zu lesen. Das »Entziffern« als Freilegen des Sinns ist auch eine Aufgabe der Hermeneutik. Folgen wir ein wenig den Spuren der jüdischen Hermeneutik, um Rosenzweigs Frage nach der Bewährung und des Einsatzes des ganzen Lebens weiter nachzuspüren. Nach jüdischer Texttradition bzw. jüdischer Hermeneutik kann der »eine Satz« auch die Tora bedeuten, die nach dem Tanz um das goldene Kalb und die Zertrümmerung der Schrifttafeln durch Moses als Ganze unzugänglich geworden ist. Der Text hält sich seit diesem Zeitpunkt »bedeckt«, das Lesen der Tora wird zu einem »Akt des Entkleidens« – gelesen wird nur »der rückwärtige Sinn, die Kehrseite des Buchstabens und des Wortes«. 8 Die Mehrdeutigkeit, der buchstäbliche »Un-Sinn« oder Über-Sinn der Worte führt dazu, dass die Worte jedwede Bedeutung fliehen, wodurch der Leser, Hörer oder Schreiber Buchstaben und Text je neu zu entziffern oder zu lesen hat. Anders gesagt: wie wir schon im vorigen Kapitel gehört haben, enthält der Text neben dem buchstäblichen, dem metaphorischen und dem durch Forschen einklagbaren Sinn zusätzlich den verborgenen, unzugänglichen Sinn (den göttlichen Übersinn), die alle auf spezifische Weise »buchstabiert« (Buchstaben als Ziffer) werden. Dieses Entziffern des (nicht nur heiligen) Textes wird somit zur lebenslänglichen Aufgabe, will sagen zur Bewährung der Wahrheit als Bewährung des Textes für die Dauer des Lebens. Hier kristallisiert sich eine ganz spezifische Bedeutung von Sprachdenken heraus: übersetzen wir nämlich Bewährung der Wahrheit mit unendlicher Arbeit am Text, der von göttlichem Übersinn randvoll ist, dann geht das Sprachdenken über das »nur« dialogische Denken hinaus. Vielmehr wäre es als ein »unendliches Erzählen« zu Siehe dazu: Chaim Vogt-Moykopf: Buchstabenglut – Jüdisches Denken als universelles Konzept in der deutschsprachigen Literatur, Campus Verlag 2009 u. a., S. 38/39
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verstehen, in dem nicht nur das Vergangene bezeugt und bewährt wird, sondern dessen »Sinngebung« vom zukünftigen Leser und Hörer abhängt. Diese »doppelte Verschuldung« gegenüber den vergangenen und zukünftigen Lesern, Schreibern und Hörern berührt den Kern der jüdischen Hermeneutik, wonach »… spätere Kommentare und Texte den Inhalt früherer Texte bestimmen und die Arbeit an der Überlieferung logisch und hermeneutisch den Urtexten vorausgeht«. 9 In der Tat: wenn sich die Buchstaben nur von ihrer »Kehrseite« zeigen, also einen rückwärtigen Sinn offenbaren, dann müssen wir eben auch rückwärts lesen, d. h. von der Zukunft aus. Bewähren wird damit zum Bezeugen: erst wenn zukünftige Hörer oder Leser ihrerseits das Gehörte und Gelesene auf ihre Weise bezeugen, wird sich der »Sinn« der Aussage des (heutigen) Zeugen oder Erzählers erweisen. Darin manifestiert sich auch das Widerständige der Sprache (von Buchstaben, Worten und Sätzen) gegen jedwedes abschließende Erklären und Verstehen – all dies in der hoffenden Erwartung, dass zukünftige Zeugen sich weiter in die Ränder und Abgründe des Nicht-Verstehens eingraben, indem sie die Nicht-Vernehmbarkeit des nicht mehr oder noch nicht Vernehmbaren anders benennen. In jedem Fall können Rosenzweigs Worte aus einer der Schlüsselpasssagen des neuen Denkens (siehe 4. Kapitel) als Nukleus der unendlichen Zeugenschaft gelesen werden – wir wiederholen sie hier: »An die Stelle der Methode des Denkens, wie sie alle frühere Philosophie ausgebildet hat, tritt die Methode des Sprechens. Das Denken ist zeitlos, will es sein; es will mit einem Schlag tausend Verbindungen schlagen; das Letzte, das Ziel ist ihm das Erste. Sprechen ist zeitgebunden, zeitgenährt; es kann und will diesen Nährboden nicht verlassen; es weiß nicht im voraus, wo es herauskommen wird; es lässt sich seine Stichworte vom Anderen geben. Es lebt überhaupt vom Leben des Anderen, mag der nun der Hörer der Erzählung sein oder der Antwortende des Zwiegesprächs …« 10
Im Unterschied zur objektiven Hermeneutik, die den Text und seinen Gegenstand immer auf Distanz zum Interpreten oder Kommentator halten möchte, sind in der Erzählung Sprecher und Hörer in dieselbe persönlich einbegriffen. Die jüdische Hermeneutik berührt sich demgegenüber hier, wie Almut Bruckstein dargelegt hat, mit Rosenzweigs Almut Bruckstein: Die Maske des Moses – Studien zur jüdischen Hermeneutik, Philo Verlagsgesellschaft 2001, S. 41 10 Franz Rosenzweig: Das neue Denken, S. 223 9
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Begriff der Bewährung, und zwar als einer gegenüber dem (heiligen) Text. Die schon erwähnte Unzugänglichkeit des Textes beruht nicht zuletzt auf der Abwesenheit der Vokale, wodurch der Leser zunächst eine an sich »sinnlose Buchstabenfolge« lese und damit der Glaube an die Buchstäblichkeit hinfällig werde. Vielmehr fordere die Abwesenheit einer primären festgelegten Bedeutung eine unendliche Lektüre, die dem Text einen immer neuen Sinn gibt. 11 Der göttliche Übersinn in den Worten fordere unsere Bewährung in der Sinngebung. Gerade weil der Text selbst keinen verbindlichen Sinn vorgebe, hänge alles von der Auslegung ab, die aus jeder neuen Lektüre und jedem neuen Lautsprechen der alten Texte spricht. 12 Die Verbindlichkeit – so Bruckstein weiter – werde nicht gefordert gegenüber einem einzigen Sinn des Textes, sondern als »Treue zur Schrift« 13 – denn die Schrift, die Buchstaben, die Sprache waren vor jedem Sinn. Wie aber lässt sich Treue zeigen gegenüber einem Text, dessen Sinn wir nicht verstehen? Gegenüber einer Schrift, die sich verhüllt und unzugänglich ist? Das scheinbare Paradox löst sich, sobald wir Sinn nicht auf eine Aussage oder Auslegung fixieren, sondern als das unendliche Weiter-Gelesen-Werden des Textes verstehen. Dafür haben wir zu bürgen und Zeugnis abzulegen! Wir stehen mit unserem Namen dafür ein, dass die unendliche Lektüre des Textes, sein ständig neu Gesprochen- und Gelesenwerden lebendig wird. Dabei fordert eine jüdische Hermeneutik das je neue Hinausgehen über den Text: in ihm gerade auch das zu lesen, was nicht geschrieben steht. Der Vorwurf der klassischen Hermeneutik, dass damit einer beliebigen Interpretation die Tür geöffnet wird, verfehlt den Kern, denn selbst eine gegenüber dem bisherigen Verständnis gegenteilige Lesart oder ein Lesen dessen, »was nicht geschrieben steht«, ist ja nie Setzung, sondern immer Antwort auf schon Gesagtes – oder eine Frage, die laut Hermann Cohen
Siehe dazu: Almut Bruckstein, Die Maske des Moses, insbesondere S. 99–103 Die Lektüre von Brucksteins »Maske des Moses« gibt einen tiefen Einblick in das jüdische Sprachverständnis aus moderner Sicht, wobei die traditionelle talmudische Textauslegung mit der post-modernen Methode der Dekonstruktion in Beziehung gesetzt wird. Themen wir die Unterwanderung, das Exil, der Umweg zum Text, die Irrelevanz des Autors und die Bedeutung des »rückwärts Lesens« als Umkehrung der hermeneutischen Richtung werden unter Hinweis auf ihre talmudischen und midraschischen Quellen sehr anschaulich erörtert. 13 Ebd. 11 12
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zugleich Antwort ist. Fragen aber sind nicht »beliebig«, denn sie benennen auf je eigene Weise das Fehlende, das nicht Gesagte. Das Fragen setzt damit eine tiefere Beziehung zu dem Gesagten voraus als vorgebliches Verstehen. Das unendliche Lesen und Erzählen zielt denn auch nicht auf »Konsens«, sondern gräbt bewusst nach dem »Dissens«, denn nur indem die Erzählung des antwortenden Anderen, des zukünftigen Zeugen durch eine neue Tönung von der bisherigen »abweicht«, eröffnen sich neue Wege, dem Text sein »Geheimnis« zu entlocken. In diesem Sinne kehrt die jüdische Hermeneutik die »Richtung« der Textauslegung um: sie ist nicht auf einen Urtext fixiert, dessen ursprünglichem Sinn sich die Interpretation mithilfe intensiven Quellenstudiums mit wachsender Genauigkeit anzunähern hätte. Vielmehr dient der frühere Text nur als Folie, um die spätere Auslegung vorzubereiten, das Zukünftige in die Gegenwart herein zu reißen. Hören wir zur Bedeutung des Antwortens als der zukünftigen Sinngebung noch einmal Rosenzweig über die Methode des Lernens und Sprechens: »vor allem auf eine konkrete Methode des Lernens und des Sprechens hin, eine Methode, die … beim gesprochenen Wort des Anderen (beginnt) … das eigene Wort (ist) immer schon Ant-Wort, … dessen eingedenk, dass das eigene Sprechen seinen Bestand erst vor dem Gehör des Anderen findet. … erst die Anderen, die meine Aussage hören, werden den Sinn dieser Aussage bestimmen. Das heißt eben, dass das Spätere – nämlich die Antwort des Anderen – den Sinn des Früheren – nämlich den Sinn meiner Aussage – bestimmt.« 14
Die Antwort des Anderen als das Spätere, noch Kommende – dies bedeutet zweifellos, dass der Andere womöglich weit nach uns leben wird, so dass wir seine Antwort selbst nie hören werden. Auch Gott kann der Andere sein. Und nun bekommt die Frage der Bewährung der Wahrheit eine zusätzliche – wenn man so will auch »erkenntnistheoretische« – Wendung: die »Erkenntnis« dessen, wie Wahrheit zu bewähren sei, kann nicht auf Wissen beruhen, denn wir wissen nicht, wie die Antwort auf unser Tun und Sagen sich anhören wird. Den »Erfolg« des Handelns nicht abschätzen zu können, nicht nach Vernunftgründen abwägen, keiner Diskursethik und keinem normativen Rahmen folgen zu können, und dennoch, wenn ich gerufen werde, Alles einzusetzen, auch das eigene Leben – damit kommt das »alte Den-
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ken« eines abwägenden, vernünftigen Kalküls an sein Ende. Es öffnet sich ein »Jenseits der Vernunft« oder »Jenseits des Seins«, in dem jedoch keinesfalls die »Unvernunft« regiert, sondern Vernunft als Sprache – oder als Gebot. Nehmen wir ein weiteres Beispiel für die »Bewährung der Wahrheit«: Im Deutschland der Nazi-Zeit oder im damals besetzten Polen einem Juden zu helfen, ihn gar zu verstecken oder zur Flucht zu verhelfen, war alles andere als »vernünftig«, insofern man damit das eigene Leben riskierte; die allermeisten Menschen folgten der »normativen Vernunft« und verhielten sich passiv, schweigend, wegschauend. Doch diejenigen Menschen, die noch Mitgefühl und Scham kannten, verstrickten sich allzu häufig in das Abwägende des Kalküls, indem sie sich z. B. vorrechneten, dass die Rettung von zwei Juden vielleicht zum Tod ihrer sechsköpfigen Familie führen könnte – »sechs gegen zwei« war eine überzeugende Rechnung, die dem helfenden Handeln entgegenstand. Bewährung der Wahrheit konnte in diesem Fall nur bedeuten, allem abwägenden Kalkül zu entsagen und den Einsatz des eigenen Lebens zu »riskieren«. Dieses Beispiel darf uns Nachgeborene jedoch nicht dazu verleiten zu richten, denn niemand kann sagen, wie er selbst gehandelt hätte. Es lässt sich aber daran das bisher Gesagte noch einmal zusammenfassen: die Bewährung der Wahrheit – in diesem Fall wäre es die Wahrheit des Menschseins gegen die Barbarei – ist immer auch als Bewährung gegenüber dem Text zu verstehen. Text als Textur, d. h. Gewebe, bedeutet immer auch Textur (Verflochtenheit) des Lebens – oder das Leben als Text. Wenn wir – wie weiter oben gesagt – vielleicht ein ganzes Leben brauchen, um einen Satz zu verstehen, dann ließe sich dies auch anders sagen: vielleicht ist das ganze Leben nur ein Satz, und diesen kann ich nur bewähren durch den Ein-Satz des Lebens. Einem Juden das Leben zu retten und dabei das eigene zu verlieren – vielleicht wäre dies der »Einsatz« gewesen, auf den viele ihr ganzes Leben warten, oder der eine Satz, der die Wahrheit – auch in der Antwort der später Lebenden – bewährt hätte. Bewährung in diesem Sinn als »neues Denken« jenseits des Kalküls und der reinen Vernunftgründe antwortet auf den »göttlichen Übersinn«, mit dem jedes Wort randvoll ist. Bewährung in diesem Sinn also ist Sprachdenken. Derjenige, der eine Wahrheit bewährt, die etwas kostet, wird selbst zum Gleichnis und zum Wort, das nichts mehr mitteilt außer dem Ereignis des Sprechens selbst. Der göttliche ÜberA
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sinn, der in jedem Wort mitklingt, weist dabei nicht zuletzt auf das göttliche Gebot oder Gesetz hin. Ein Gebot oder Gesetz, das der Mensch kaum oder gar nicht gehört, geschweige denn verstanden hat: das stimmlose Aleph, der erste Hauch waren nicht vernehmbar, nur dass irgendetwas »gesagt« wurde. Der Mensch aber ist gerufen, nach Geboten zu handeln, die er nicht verstanden (oder gehört) hat, deren »Sinn« später sich klären mag – so einfach und so unendlich verschachtelt und fragwürdig begegnet uns die Hermeneutik, vor allem aber die Ethik des Judentums. Ist das noch Philosophie, hatten wir oben gefragt. An diesem Punkt wäre zu unterscheiden zwischen einer Philosophie vor und nach Auschwitz. Edmond Jabes spricht in diesem Zusammenhang davon, dass die Worte nach Auschwitz »verwundet« seien. Zugleich aber konzediert er der Philosophie, dass sie – gerade vor diesem Hintergrund – einen entscheidenden Schritt aus der Philosophie heraus gemacht habe, »um in das einzutreten, was ich das Poetische nenne, und um es zum ersten Mal philosophisch zu denken.« 15 Die Philosophie habe verstanden, dass es nicht nur die eine Logik gäbe, sondern dass es viele gibt, darunter auch die poetische Logik. Ferner: Emmanuel Levinas hat als Philosoph jenen »Schritt aus der Philosophie heraus« gewagt. Er hat eines der anspruchsvollsten Werke einer Philosophie nach Auschwitz geschrieben, das die Ethik zur ersten Philosophie erklärt. In seinem Buch »Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht«, das den sechs Millionen ermordeten Juden gewidmet ist, bringt er den Gehorsam gegenüber dem göttlichen Gebot in das Feld der Philosophie ein und verlangt von einem ethisch handelnden Menschen, »dem Befehl zu gehorchen, bevor man ihn gehört hat«. 16 Das stimmlose Aleph, der göttliche Übersinn als das nicht Hörbare in jedem Wort klingen hier wieder an – und die Abwehr gegen das Kalkül. Wenn es um die Rettung des Nächsten aus unmittelbarer Gefahr geht, braucht der Mensch keinen Befehl zu hören, er hat nur dem zu gehorchen, was nicht gesagt werden muss, weil es schon als das nicht zu Sagende in jedes Wort eingeschrieben ist. Ferner: der nie verstummende Orgelton von »Jenseits des Seins« sind die »Themen« Verwundung, Verletzung, In: Migranten – Edmond Jabes, Luigi Nono, Massimo Cacciari, hrsg. von Nils Röller, Merve Verlag 1995, S. 115 16 Emmanuel Levinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Verlag Karl Alber 1988, S. 329 15
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Schmerz, Ausgesetzt-Sein und Trauma. Unter diesem Gesichtspunkt böte es sich an, die Bezüge dieses Werks zu Rosenzweigs Bewährung der Wahrheit, die uns etwas kostet, die uns schmerzt und uns ausliefert bis hin zur Aufopferung des eigenen Lebens, zu untersuchen. Um diese Aufgabe angemessen zu leisten, wäre jedoch ein eigenes Buch gefordert. Das Gleiche gilt von einer Gegenüberstellung des »Stern der Erlösung« und dem ersten großen Werk Levinas’, »Totalität und Unendlichkeit«, in dem nach eigenem Bekunden des Autors Rosenzweigs »Stern der Erlösung« ganz gegenwärtig sei. Dennoch möchten wir Rosenzweigs »neues Denken« in angemessener Länge – besser Kürze – aus der Sicht von Levinas beleuchten, da er in seinem gesamten Werk immer aufs Neue das Thema der In-Frage-Stellung durch den Anderen, den Übersinn, die Bewährung und ihre Kosten umkreist. Levinas spricht von der Bewegung auf den Anderen hin (als Antwort), die ihm als das Erste der Philosophie gilt. Diese Bewegung kostet etwas, da in der Begegnung mit dem Anderen etwas in Frage gestellt wird – nicht nur »Fiktionen und Postulate«, sondern das Ich selbst. Denn in der Begegnung mit dem Anderen fordert der Übersinn der Worte, auf das zu hören, was nicht gesagt wurde – Levinas spricht nicht von Übersinn, sondern von Spur. Die Spur fordert uns dazu auf, aus dem Identischen hinauszugehen – dies kann uns buchstäblich den Verlust der Haut kosten, stellen wir uns doch gegenüber dem »nackten, bloßgestellten Antlitz« des Anderen selbst unmittelbar bloß. Lassen wir also – als »letzten« Versuch einer Antwort auf die Frage »Ist das noch Philosophie?« – Levinas selbst zu Wort kommen – in seinem Durchstreifen der Wortfelder Sinn und Bedeutung, Sprache, Zeichen und Spur. Wir beziehen uns dabei auf eine kleinere Schrift, die unter dem Titel »Sinn und Bedeutung« in dem Essayband »Humanismus des anderen Menschen« enthalten ist.
Levinas über Sinn und Bedeutung a.
Bewegung auf den Anderen hin – Öffnung und Bewährung
In der Bewegung auf den Anderen, von der Levinas spricht, haben wir uns (und die Wahrheit) zu bewähren, so ließe es sich lesen, wenn er sagt, dass in der Bewegung auf den Anderen und im Verlangen nach ihm »die souveräne Identifikation des Ich mit sich selbst kompromitA
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tiert wird«. 17 Im Windschatten der vorherrschend europäisch geprägten Ich-Philosophien haben wir Kulturtechniken erlernt, die uns vor der Verunsicherung durch das Antlitz des Anderen schützen. In unsere Wahrnehmung sind äußerst wirksame und langlebige Sichtblenden eingeschoben, die uns erfolgreich dem gegenüber abschirmen, was Levinas die Unverhülltheit oder die Nacktheit des Antlitzes 18 nennt, in der uns der Andere als ein verletzbarer Mensch, als ein Bittender, womöglich Flehender gegenübertritt. Die Wahrnehmung der Verletzbarkeit des Anderen, seine Bloßstellung würde schließlich uns selbst bloß stellen in unserer Verwundbarkeit – eine Vorstellung, welche die spätmoderne Leistungsgesellschaft aus dem Sattel werfen könnte. Gerade darin aber, die Verfügungsgewalt des Ich-Bewusstseins aus dem Sattel zu werfen, manifestiert sich für Levinas der Ausgangspunkt seiner Philosophie, womit er sich auf seine Weise quer zur europäischen Tradition stellt. Die Bewährung im Antlitz des Anderen kostet uns etwas – zunächst den sicheren Sitz im »Sattel« der Ich-heit oder der Souveränität des Ich. Im Weiteren kostet es uns die Hülle der Verdeckung, und die Bewährung gerät zur Bloßstellung (Kompromittierung). Wobei zu ergänzen wäre, dass sich das lateinische compromittere auch als »sich gegenseitig ein Versprechen geben« übersetzen lässt. Wir haben dann das Versprechen zu bewähren. Hier folgt auf die erste Bloßstellung – denn schon im ersten Akt des Versprechens tritt der Mensch aus seiner Verbergung oder Umhüllung heraus – eine zweite, die sich ereignet durch die Art und Weise, wie und ob das Versprechen eingelöst oder womöglich nicht eingelöst wird. Aber bleiben wir bei Levinas und der Bewegung auf den Anderen hin. In seinem Aufsatz »Sinn und Bedeutung« ergibt sich eine Anknüpfung an Rosenzweigs Kreisen um die Frage nach Bedeutung, Sinn und Übersinn der Sprache und des Sprechens. Levinas eröffnet seinen Text mit dem Hinweis auf zwei verschiedene Bedeutungen von Bedeutung, wie sie durch die Geschichte überliefert sind: im Platonismus sowie im Idealismus um 1800 habe man den Dingen eine feststehende Bedeutung gegeben, die im Urbild oder den ewigen Idee das Wesen der Dinge von ihrem Abbild oder Schein unterschieden habe. Mit dem Verblassen des Idealismus in der Moderne habe sich die Bedeutung des Emmanuel Levinas: Sinn und Bedeutung in »Humanismus des anderen Menschen«, Felix Meiner Verlag 2005, S. 38 18 Ebd., S. 40/41 17
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Wortes Bedeutung verschoben – statt ewiger Urbilder und Formen hätte man eine jeweils bestimmte Bedeutung der Dinge aus ihrem kulturellen und historischen Kontext abgeleitet. Bedeutungen wären damit fließend und wandelbar geworden. Hermeneutiker und Ethnologen hätten nun die Aufgabe der Übersetzung unterschiedlicher Bedeutungen zwischen den Kulturen übernommen. Damit aber, so Levinas, sei eine Frage nicht gestellt: die nach dem »einzigen Sinn«. Auf die Frage »was bedeutet das?« wird – auch wenn man den kulturellen Kontext jeder Bedeutung voraussetzt – fast immer mit dem Zeigen auf ein Bild, eine sprachliche Metapher oder begriffliche Erklärung geantwortet. Ähnlich wie die Frage nach dem Wesen oder die »Was Ist-Frage« wird uns immer ein Etwas präsentiert. Doch schon Cohen hatte es ausgesprochen, dass damit des Fragens kein Ende sei, führe die Kette doch von dem einen Etwas zum nächsten und so ins Unendliche. Schließlich, so Levinas, stünde die Frage nach der Bedeutung des Wortes Bedeutung an, und darüber hinaus eine weitere Frage, die lautet: »Fordern denn nicht alle Bedeutungen einen einzigen Sinn, von dem sie ihr Bedeuten selbst erhalten?« 19 Es geht um den un-beantwortbaren Rest, um den göttlichen Übersinn bei Rosenzweig, den Hauch der Worte, der über ihre Bedeutung hinausgeht. Der Alltag, so Levinas, fordere zwar Eindeutigkeit, auch in der Sprache, aber sobald man vom Alltag und der normalen Unterhaltung sich entferne, verstumme die Frage nach dem »einzigen« Sinn nicht mehr. Das Wort »einzig« blitzt hier jedoch zu grell hervor, als dass es uns nicht verstören würde. Es kann den Klang des Absoluten, des Totalen nicht gut abschütteln. Vielleicht überzeugt uns im Lichte dieser Verstörung der »Übersinn« besser als der »einzige« Sinn. Dass Levinas andererseits nicht »das Absolute« im Sinn hat, wenn er vom »einzigen« Sinn spricht, zeigt sich nach der nächsten Biegung seines Weges. Sinn bedeutet ihm Orientierung auf den Anderen hin. Er hakt sich damit an einer der markantesten Schwachstellen des europäischen Philosophierens ein: dem Identitäts- oder Einheitsdenken. Die Philosophie lege es darauf an, das Andere immer in das Selbe zu verwandeln – so Levinas’ Vorwurf an das griechische Erbe des Philosophierens. Er stellt dabei zwei Figuren aus dem griechischen und dem hebräischen Mythos gegenüber: Odysseus und Abraham. Der Erste kehre immer wieder zu seiner Geburtsinsel zurück, während Abraham 19
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sich von seiner Heimat stetig weiter entferne und immer der Fremde bleibe. Das Motiv der Rückkehr zu sich selbst (in den Heimathafen des Odysseus) kehre in der Teleologie wieder, die der Geschichte einen Sinn unterschiebt – damit aber wisse man schon am Anfang, worauf alles hinauslaufe, so Levinas. Nicht nur deswegen lehnt es Levinas ab, nach einem Sinn des Lebens oder der Geschichte zu fragen, was schon deswegen banal sei, weil auf diese Weise nur die Identität des mit sich selbst Identischen bewiesen werden solle. Aber auch Odysseus ist immer wieder unterwegs. Die Sinnfrage gerät bei Levinas so in die Bewegung des Unterwegs-Seins, sie wird aus jeglicher metaphysischer Abstraktion befreit und vielmehr als das tatsächlich Sinnliche der in Bewegung befindlichen Suche nach Orientierung verstanden. Als »Dynamik aus sich selbst heraus« verwehre die Suche nach Sinn gerade die Rückkehr zu sich selbst sowie die Verwandlung des Anderen in das Selbe: »Sie kann nur als Bewegung gesetzt werden, die aus dem Identischen hinausgeht, auf ein Anderes hin, das absolut anders ist.« 20
Hier sollen wir »absolut« als ab- oder losgelöst lesen, was bedeutet, dass der oder das absolut Andere für uns uneinholbar bleiben. Wie Abraham werden wir immer unterwegs – auf Wanderschaft – zum Anderen sein, jedoch nie ankommen. Die Suche nach Sinn als »Bewegung auf ein Anderes hin«: Levinas sagt mit seinen Worten, was wir in der jüdischen Hermeneutik vernommen haben, dass der »Sinn des Textes« nur zu finden sei, indem man aus ihm oder über ihn hinausgeht und etwas in ihm liest, was nicht geschrieben steht. Auch der »göttliche Übersinn« der Worte kann demnach als Bewegung auf ein Anderes, sogar auf ein absolut Anderes hin gelesen werden. Abgelöst vom kulturellen Kontext, so wäre Levinas’ Wort vom absolut Anderen auszulegen, wird immer ein nicht benennbarer »Rest« der Uneinholbarkeit des Anderen bleiben, der jeden Versuch scheitern lässt, ihn mit bekannten Begriffen oder Bildern in unsere Welt der Wahrnehmungen, Denkstile und Bedeutungen herein zu holen und zu verstricken. Diese Verstrickung des Anderen in die eigenen Begriffe und Bilder bedeutet für Levinas Verfügung über den Anderen. Sich stattdessen auf die Andersheit des Anderen einzulassen, bedeutet, dass 20
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Bewährung der Wahrheit bei Rosenzweig
»die Gegenwart des Antlitzes … die Verfügungsgewalt des Bewusstseins außer Kraft setzt … das Antlitz hebt die Intentionalität … aus dem Sattel.« 21
Hier wird Cohens und Rosenzweigs, auch Rosenstock-Huessys Primat des Du vor dem Ich noch einmal auf radikale Weise zugespitzt – fordert Levinas doch nicht nur, die Denkrichtung vom Bewusstsein des Ich als dem Ersten wegzulenken, sondern dieses Ich, das sich einst als das »Cogito« gemütlich auf dem Thron der Erkenntnis, des Fortschritts und der Geschichte eingerichtet hatte, aus dem Sattel zu werfen. Soll es nicht mehr Herr seiner selbst sein? Nicht mehr mithilfe wissenschaftlicher Methodik entweder das Ganze erkennen können (auf Grundlage der Analogie zwischen kosmischer und menschlicher Vernunft) oder zumindest soviel von den Teilen, dass »Es«, wenn nicht Herr seiner selbst, doch Herr der Welt spielen kann? Levinas macht reinen Tisch: der Einzelne sei immer schon dem Anderen unterworfen, bevor er überhaupt das Wort »Ich« sagen kann. Diese radikale Zuspitzung dessen, was Cohen und Rosenzweig bereits zum Ausdruck gebracht hatten, setzt Levinas der europäischen Philosophie entgegen, die bisher – in seinen Worten – in der Verweigerung gegenüber dem Anderen ihre Manifestation gefunden habe. Angesichts solcher Worte überrascht das immer noch weit verbreitete Unverständnis der philosophischen Zunft ihm gegenüber nicht. Vergessen wir aber nicht, dass Levinas seine eigene Philosophie aus der Reibung mit der Ontologie Heideggers und der Phänomenologie Husserls gewonnen hat – und schon der Titel seines ersten eigenen Werks kündet von der Entdeckung philosophischen Neulands: »Ausweg aus dem Sein«. Er suchte nach einem »Jenseits des Seins«, das zuweilen auch ein »Anders-als-Sein« genannt wird. Kurz gesagt: Wenn das Sein keine Öffnung hätte, durch die jenes Anders-als-Sein hindurchschiene, bliebe es – in sich selbst kreisend – die geschlossene Kugelgestalt, in der alles Seiende nur immer wieder zu sich selbst zurückehren würde wie einst Odysseus. Auch hier ähnelt das Grundmotiv Levinas’ dem Rosenzweigs. Was aber bricht die Kugelgestalt auf, wodurch geschieht die Öffnung? Das Antlitz, welches »seine eigene plastische (stumme) Wesensform durchbricht … und sich seiner Form entkleidet«, manifestiert sich als »erste Rede« – Sprechen bedeutet demnach, hinter seiner Form hervorzukommen, Levinas bezeichnet 21
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dies als »Öffnung in der Öffnung«. 22 In »Totalität und Unendlichkeit« spricht er von der Bezeugung seiner selbst, die nur als Antlitz, d. h. als Wort möglich sei. Dieses Hervorkommen des Antlitzes als Wort – aus seiner stummen Form heraus – nennt Levinas Epiphanie, also Erscheinung – wohlweislich sich absetzend gegen das eher profane Phänomen. Im Sprechen des Antlitzes, das nicht notwendig ein lautes Sprechen sein muss, sondern als lautloses, mimisches oder gestisches Sprechen sowie als sprechendes Schweigen sich darbieten kann, setzt sich das unverhüllte, nun ganz geöffnete Antlitz seinem Gegenüber aus, es stellt sich bloß, kompromittiert sich. Hierin liegt für Levinas eine ethische Dimension, da nun der Andere, dem gegenüber das Antlitz erscheint und sich bloßstellt, ebenfalls kompromittiert und in Frage gestellt wird.
b.
Spur und Übersinn
Trotz aller Kompromittierung und Infragestellung sei unser Verlangen nach dem Anderen, so Levinas, unstillbar. Dieses Verlangen wird von ihm als eines nach dem Unendlichen oder nach Ewigkeit, dem absolut Anderen, verstanden. Ein Verlangen also nach dem, das sich all unseren Begriffen entzieht. Dies klingt zunächst ganz vertraut, dem griechischidealistischen Diskurs geradezu inhärent. In diesem hören Ewigkeit und Unendliches auf den Namen Transzendenz – mit diesem Wort aber wird gerade jenes begrifflich eingeholt und aufgespießt, was sich nach Levinas dem Begriff entzieht. Die europäische Philosophie hat sich immer wieder daran abgearbeitet, eine Einheit von Wissen und Glauben zu konstruieren – was man auch als Versuch werten kann, die Transzendenz in die Immanenz hineinzuholen. Levinas’ Kritik an diesen Versuchen ergibt sich aus seinem Odysseus-Beispiel – so als ob durch den Grenzzaun zwischen Glauben und Wissen hindurch die Hand der Immanenz immer nach der Transzendenz greifen würde, um alles Transzendente auf diese Seite des Zaunes, eben in die Immanenz zu holen. Für Levinas hat die Philosophie durch diese Versuche selbst Schaden gelitten, da sie sich auf diese Weise der Beunruhigung entzogen habe, die von dem absolut Anderen ausgeht. Diese Beunruhigung aber – wie wir nun mehrfach angedeutet haben – zeigt sich nicht 22
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im Reden über Gott oder Ewigkeit, sondern in der ersten Begegnung mit dem Antlitz des Anderen, das immer auch Spur ist. Mit Hilfe des Begriffs der Spur betritt Levinas nach eigenen Worten einen Weg zwischen und zugleich jenseits des Platonismus und der Phänomenologie. Wir können und wollen dies nicht angemessen kommentieren, es wäre jedoch für die Forschung eine eminent wichtige Aufgabe, diesen Weg auszuleuchten. Für unseren Zusammenhang scheint es zunächst ausreichend zu sein, der Spur als Bedeuten einer Beziehung jenseits von »Immanenz und Transzendenz« zu folgen. Auch hier spricht Levinas von einem dritten Weg. Dieser Ausdruck benennt im Wesentlichen die Weigerung, mithilfe eines Denkens vom Sein Transzendenz in Immanenz oder das Außerordentliche in die Ordnung hineinzuholen. Levinas möchte das Jenseitige, das »Transzendente« nicht als eine Welt hinter der wirklichen Welt verstanden wissen. 23 Das Antlitz würde dann zur bloßen »Ikone«, wenn es »aus einer anderen Welt« kommt, die es zum einen verbirgt, aber auf die es durch sein Erscheinen zugleich zeigt. Wenn also z. B. in den Symbolen der Religion oder der Kunst nur Zeichen gesehen werden, die auf eine »andere, bessere Welt« hindeuten, dann wären sie entweder tatsächlich »nur« Zeichen ohne Bezug zur Wirklichkeit oder magische Instrumente, um die andere Welt zu beschwören, dass sie sich zeige und sich der schon bekannten Welt verfügbar mache. Die Transzendenz würde so in die Immanenz hineingeholt. Statt Zeichen spricht Levinas daher von Spur. Diese Unterscheidung ist eminent wichtig, und wir meinen hier eine Nähe zu Rosenzweigs göttlichem Übersinn, vom dem das Wort randvoll ist, zu erkennen. Levinas bricht hier wie Rosenzweig mit der landläufigen Zeichentheorie, wonach wir zum Zwecke der Kommunikation uns mithilfe sprachlicher Zeichen verständigen. Nicht nur folgte man darin dem Irrtum, dass eine außersprachliche Wirklichkeit existierte, die nur noch des Abbildens durch Zeichen bedürfte, sondern im Zeichen – ob als Bild oder Schrift – besteht immer die Gefahr der Erstarrung, des dogmatischen Festhaltens am Identischen des Zeichens: Kreisen in der Immanenz. In der Spur erlischt die Immanenz, denn sie (die Spur) bildet nichts ab, sie widersetzt sich dem zeichentheoretischen Begriffspaar »Signifikant und Signifikat«. »In der Spur ist das
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Verhältnis zwischen Bedeutetem und Bedeuten keine Korrelation, sondern die Ungeradheit selbst …« 24 Ungeradheit, Inkompatibilität, Unverfügbarkeit, Uneinholbarkeit – die Spur wird durch das Antlitz »gelegt«, das von anderswo herkomme, sogar vom »absolut Abwesenden« oder von einer »unvordenklichen Vergangenheit«. Damit wird schon die Frage beantwortet, ob nicht auch die Spur – wie das Zeichen – auf etwas zeige oder etwas bedeute. Sie zeigt nicht auf etwas, aber vielleicht zeigt sie – als ihr eigenes Verwischen und Verlöschen. Selbst wenn jemand, z. B. im Falle eines Verbrechens, keine Spur hinterlassen möchte, bleibt zumindest die Spur des Verwischens. Eine Spur ist deshalb trotz (oder wegen?) ihrer Flüchtigkeit beständiger als das Zeichen, denn die Spur bleibt, und wenn es nur die des Verwischens ist. Die Spur lässt mehr erahnen als begreifen, denn sie ist immer Spur eines Vorübergegangenen. Die Spur als verwischte, verwehte Öffnung? Die Fragen bleiben offen, auch die »Transzendenz« wird in der Spur »verwischt«, so dass sie sich kaum noch in die Immanenz holen lässt. In dieser Verwischung taucht plötzlich die Frage nach der Bedeutung des Worts Bedeutung wieder auf, wenn Levinas sagt: »Das Jenseits, von dem das Antlitz herkommt, bedeutet als Spur …« 25 Dieser Satz entzieht dem »Bedeuten« plötzlich den Akkusativ! Hier fordert Levinas offenbar eine andere Lesart des Bedeutens: nicht ein Zeichen, das auf etwas anderes deutet, nicht ein Dieses, das Jenes bedeutet – sondern eine Erzählung? Wenn deuten mit zählen verwandt ist, läge dies nahe. Und wenn wir Erzählung als unendliche Lektüre, als je neues Sprechen oder Widersprechen (denn es könnte alles auch ganz anders gewesen sein) lesen, dann könnte »bedeuten« dieses erzählende Offenhalten heißen, das nur lebt und gelingt im Gespräch zwischen Menschen, die selbst Bedeutung sind – nicht Menschen, die »bedeutsam sind« oder sich dafür halten. Der Mensch als Bedeutung oder als Gleichnis – als wahrhaftes Gleichnis, das mehr als Gleichnis ist. In diesem Sinne wäre Bedeutung das sprachliche Ereignis, das Beziehung stiftet zwischen dem Ich und dem Du, zwischen Gott und Mensch oder zwischen Vergangenem, Gegenwärtigen und Zukünftigen. Bedeutung hieße Sprechen. Wenn Levinas also von der Bedeutung als Spur spricht, dann bedeutet diese nicht etwas, nicht die24 25
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ses oder jenes, auch nicht nichts, sondern bedeutet einfach – als Spur eines Vorübergegangenen. Cohen nennt Gott den »ewig Vorübergegangenen«. Das Bedeuten als Zeigen auf etwas findet hier seine Grenze. Aber: Jedes Zeichen ist auch Spur! Levinas sagt: »Zusätzlich zu dem, was das Zeichen bedeutet, ist es auch noch das Vorübergegangensein dessen, der das Zeichen hinterlassen hat«. 26 Zusätzlich zur sinnlichen Bedeutung des Worts ist es randvoll mit göttlichem Übersinn – könnten wir mit Rosenzweig antworten. Ließe sich Rosenzweigs »Übersinn« demnach als Spur des »Vorübergegangenseins« lesen – als Spur des vorübergegangenen stimmlosen ersten Aleph oder der vorübergegangenen, weil in alle Winde verstreuten, Buchstaben nach der Zertrümmerung der Gesetzestafeln durch Moses? Der verfliegende Hauch und die verwischte Spur hinterlassen gerade in ihrer Flüchtigkeit etwas, und wenn es nur das Verfliegen und Verwischen selbst wäre. Entsteht aber nicht gerade in dieser Bewegung die Beziehung zum Anderen oder die Beziehung zwischen den verschiedenen Zeiten und der zeitlosen Ewigkeit? Spur als Bedeutung? Bedeutung als Spur? Wird also in Levinas’ Begriff der »Spur-Bedeutung« der göttliche Übersinn, mit dem das Wort randvoll ist, in das Feld der Philosophie »zurückgeholt«? Sicher nicht als Definition, aber doch als Frage, nicht als Begriff, sondern als Öffnung eines Augenblicks. Sich den Spuren gegenüber zu öffnen, die Spuren als Bedeutung und die Bedeutung als Spur zu deuten und wahrzunehmen, bedeutet schließlich auch ein Bewähren – im Sprechen oder Sagen jenseits oder diesseits der Zeichen. Ob in einem Brief – was Levinas als Beispiel anführt –, in dessen Handschrift und Stil sich eine Spur kundtut, oder in einer Geste, einem Musikstück, einem Händedruck, einem Augenblick oder schließlich im Schweigen, im Warten: der Spur des Anderen nachzuspüren, ohne sie voreilig aus dem Eigenen heraus zu bezeichnen, sich dem plötzlichen Aufleuchten dieser Spur offen zu halten, ohne sie zu erwarten, all dies fordert Bewährung einer Wahrheit. Die Spur nämlich kann in der Kompromittierung des Anderen uns selbst bloßstellen – so wie auch das Übersehen oder Überhören der Spur. Bewährung der Wahrheit heißt auch, der Kompromittierung nicht auszuweichen. 26
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Mit jedem gesprochenen und nicht gesprochenen Wort hinterlassen wir selbst eine Spur, die verwischbar, aber nicht unauslöschlich ist. Gerade darin fürchten wir die Kompromittierung – aber die Unauslöschlichkeit wird immer begleitet von der Korrigierbarkeit. Bewährung der Wahrheit geschieht nicht zuletzt in der Spurensuche als nicht endender Suche nach Worten und Sätzen, die neue Bedeutungen schaffen und über jedwede Bedeutung hinausgehen. In dieser Bewegung des stetigen Neubeginnens des Sprechens kompromittieren wir uns und stellen uns in Frage, wie Levinas betont, weil es sich um eine Bewegung aus uns heraus auf den Anderen hin handelt. Zugleich aber erleben wir jeden Augenblick als neue Öffnung, in der wir uns eingedenk des göttlichen Übersinns von Konvention, Abstraktion und festgelegten Bedeutungen – kurz den Zwängen der Kommunikation – befreien können. Hier begegnen sich Rosenzweigs Sprachdenken und Levinas’ Spur. Wir hatten gefragt: Ist das noch Philosophie? Bewährung der Wahrheit, Bedeutung der Bedeutung, göttlicher Übersinn, einziger Sinn, Bewegung auf den Anderen hin, Spur – Levinas hat dieses unerschöpfliche Sprachfeld in die Spur einer Philosophie des »Jenseits des Seins« eingeschrieben.
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Kapitel 6: Die Zukunft vorwegnehmen – vom Du zum Wir und zum Ihr
»Liebe deinen Nächsten« – so beginnt das Kapitel zur Erlösung im »Stern«, in dem Rosenzweig auf der Bahn der Sprache nicht nur die noch nicht genannten grammatischen Formen auf höchst überraschende Weise einander zuordnet, sondern auch etwas über das letzte Geheimnis der Sprache sagt. Der Modus der Zukunft sowie die Pluralformen der ersten und zweiten Person sind bisher auf der Bahn der Sprache uns noch nicht begegnet. Aber: mit dem Ausruf »Liebe Deinen Nächsten« schallt uns zu Beginn des Kapitels zur Erlösung erneut ein Imperativ entgegen, der doch als Modus der Gegenwart bezeichnet worden war. Um nichts anderes als das Gebot der Liebe ging es im Übrigen im Geschehen der Offenbarung, das ausführlich geschildert worden war. Warum steht nun das Liebesgebot am Anfang eines neuen Abschnitts, während es doch offensichtlich den Schlussstein des vorigen Kapitels bildete? Plausibel wäre die Form einer erinnernden Zusammenfassung, bevor »es weitergeht im Text«. Aber Rosenzweig hat scheinbar etwas Weiteres im Sinn, er möchte offenbar mit dem Gebot der Liebe wirklich neu anfangen, weil er Bedenken trägt, womöglich missverstanden worden zu sein. Er warnt deshalb eindringlich vor einer »falschen« Mystik, die sich in der Hingabe an Gott verzehrt. Denn die Liebe zwischen Gott und Mensch, wie sie von der Offenbarung her als das erste Gebot an den Menschen erging, dürfe sich niemals in einer Hingabe an Gott erschöpfen. In der reinen Gottesliebe bliebe die Seele trotz aller Öffnung taub und blind. Die wirkliche Öffnung des »trotzigen Selbst« ereignet sich erst, sobald die Seele gegenüber Welt und Mitmensch »lebendige Gestalt« annimmt. Deswegen heißt es am Anfang »Liebe deinen Nächsten«, um dann das Thema des Erlösungskapitels zu benennen: die wechselweise Vereinigung der Seele mit der Welt als Ganzem. Die Schöpfung handelte von der Beziehung zwischen Gott und Welt, in der Offenbarung ereignete sich das Wechselgespräch zwischen A
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6 Die Zukunft vorwegnehmen
Gott und Mensch, während nun im Zeichen der Erlösung Mensch und Welt aufeinander wirken. Liebe deinen Nächsten heißt nun: dem Augenblick der Liebe und des Lebens in der Welt Dauer verleihen. Wie aber soll dies gelingen, solange Mensch und Welt als Lebewesen, die unfertig, endlich, vergänglich sind, ineinander verstrickt sind? Rosenzweig hat es pointiert so formuliert: »… dass das Gute nur möglich wäre in einer Welt, die schon gut ist, dass der Einzelne nicht gut sein kann, ohne dass Alle gut sind – und dass doch andererseits es in der Welt, nach dem großen Wort der preußischen Königin, nur gut werden kann durch die Guten. Es ist unlösbar; denn Mensch und Welt sind nicht voneinander zu lösen.« 1 Und er fährt fort: »Aus dieser wechselweisen Bindung können sie sich nicht lösen … sie können sich nicht selber voneinander lösen, sie können nur miteinander – er-löst werden, erlöst von einem Dritten, der Eines am Anderen, Eines durch das Andere erlöst.« 2
So problematisch der Begriff der Erlösung für uns sein mag – Rosenzweig selbst bezieht ihn doch unmittelbar auf das Leben, wenn er von der Erlösung von Welt und Mensch aneinander spricht. Wir haben nicht die Absicht, uns auf das Thema der Erlösung aus religiöser Sicht einzulassen, was angesichts des Wagnisses, sich mit dem »Stern der Erlösung« zu beschäftigen, entweder als Feigheit oder als krasser Fall von Verfehlung des Themas ausgelegt werden könnte. Wir beschränken uns jedoch weiterhin auf das Sprachliche, und, wie schon eingangs bemerkt, fehlen uns auf der Bahn der Sprache – im Sinne einer vollständigen Grammatik – noch bestimmte Personalpronomina sowie der Modus der Zukunft. Obgleich wir an diversen Textstellen immer wieder auf die Vorgängigkeit der Zukunft im jüdischen Denken im Allgemeinen und im Sprachdenken im Besonderen hingewiesen haben, bedarf diese Frage weiterer Durchdringung. Im Folgenden geht es also – gewissermaßen aus Sicht einer Philosophie der Zeit – um die Zukunft als Zeit der Ewigkeit, den Weg vom Du-Ich zum Wir-Ihr, der sich in zwei weitere Wege gabelt: das Gebet und die politische Philosophie. Dass wir dabei auch immer wieder das »Religiöse« streifen, versteht sich bei Rosenzweig von selbst.
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Vom Du zum Wir und zum Ihr
Die Zukunft vorwegnehmen Die Offenbarung ist dem Menschen bereits einmal geschehen, der Schöpfer hat die Welt einst erschaffen – damit sei in Hinsicht auf Gott und in Bezug auf den Menschen, so Rosenzweig, das »einfürallemal Geschehene dem augenblickshaften Geschehenden schon vorangegangen«. Die Welt jedoch – er meint damit die Natur und ihre Lebewesen, aber auch »Institutionen, Gemeinschaften, Gefühle, Dinge, Werke« – wachse von Augenblick zu Augenblick durch ihre ständige Erneuerung. Wir ergänzen hier: natürlich bedarf auch der Mensch in seinem Leben des ständigen Neubeginns, um wachsen und leben zu können – aber dies geschieht laut Rosenzweig bereits auf dem Grund der Offenbarung, d. h. auf dem Boden der Sprache, des Zwiegesprächs mit Gott und Mitmensch. Der Mensch bewegt sich auf der Bahn der Sprache, die als Bahn in jedem Wort und jedem Satz Schöpfung, Offenbarung und Erlösung erzählt, erlebt und vorwegnimmt. So hören wir im gesprochenen Wort, und so sprechen wir im gehörten Wort immer schon das nicht-mehr-Seiende und das noch-nicht-Gewordene mit. Auf diese Weise durchdringen sich im Sprechen die vergangene Vergangenheit, die augenblickliche Gegenwart und die ewige Zukunft – in Rosenzweigs Worten: der immerwährende Grund der Dinge, die allzeiterneuerte Gegenwart und die ewige Zukunft. Diese Wortwahl weicht zugleich die Grenzen zwischen den Zeiten auf, denn das Immerwährende und das Allzeiterneuerte ritzen auch in die Vergangenheit und Gegenwart eine Spur des Ewigen hinein, an der sich der Widerstand gegen das Versinken in die Vergänglichkeit zeigt. Doch wir greifen vor. Der Welt mangelt es laut Rosenzweig in ihrem Werden an jenem Grund, auf den der Mensch sein Werden (in der Offenbarung) und Gott das Seinige (in der Schöpfung) aufbauen können: »Die Welt ist noch nicht fertig«. Dieser Zustand des Werdens, der Unfertigkeit erfordere sprachlich eine Form, in der weder das Vergangene erzählt noch das Gegenwärtige erlebt werden können. Würde aber das noch nicht Fertige lediglich als das zukünftig (nie ganz) fertig Werdende erzählt werden, dann würde man es unabwendbar zum »starren Vergangenen« machen – dies folgt aus der Grammatik, wonach nur erzählt werden kann, was schon geschehen ist. In der Poesie kann auch die Zukunft »erzählt« werden, allerdings wechselt dann die Weise des Erzählens zu einer des Hoffens, Wünschens oder des Voraussagens und Ahnens. Und so sagt Rosenzweig auch: Das Zukünftige will voA
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6 Die Zukunft vorwegnehmen
rausgesagt werden … es ist … nur zu fassen durch das Mittel der Vorwegnahme.« 3 Dies ist zunächst eine ganz sachliche Aussage, die sich wiederum aus der Grammatik ableiten lässt. Sprachlich können wir, wenn wir das Zukünftige aussagen wollen, es nur im Voraus sagen. Dieses Voraussagen bedeutet keine magische Formel zur Bannung der Zukunft, sondern schlicht nur das, was es sagt: im Voraus sagen, was erst kommen wird. Aber wir wissen nicht, was kommen wird! Um was für eine Art der Voraussage handelt es sich dann also? Wie geschieht die Vorwegnahme der Zukunft? Dazu wäre zunächst zu fragen, was Rosenzweig unter Zukunft versteht. Sein Zukunftsbegriff erwächst aus der Frage danach, wie dem Augenblick der Liebe und des Lebens Dauer zu verleihen, wie Mensch und Welt von ihrer Vergänglichkeit zu erlösen seien. Wahre Dauerhaftigkeit, so Rosenzweig, sei aber stets Dauer auf die Zukunft hin oder besser von der Zukunft her: »Nicht was immer war, ist dauerhaft; die Welt war immer; auch nicht, was allzeit erneuert wird; das Erlebnis wird allzeit erneuert; einzig, was ewig kommt: das Reich …« 4 In dem Ewig Kommen des Reiches wird schon gesagt, dass es nie sein wird, doch dazu hören wir bald Genaueres. Hier sei jedoch zunächst hervorgehoben, dass Rosenzweig mit der Vorwegnahme der Zukunft sich dem idealistischen Gedanken des unendlichen Fortschritts entgegenstellt, wie es bereits bei Hermann Cohen zu lesen war. Wie im ersten Kapitel dieses Buches ausgeführt, hatte dieser davor gewarnt, die Ewigkeit als eine unendliche Dauer zu missdeuten. Im Reflektieren dieser Warnung erschien schon bei Cohen der idealistische Fortschrittsgedanke als potentiell gefährliche Projektion des gegenwärtig Gedachten auf die Zukunft. Rosenzweig seinerseits sagt dazu: »… wenn von »ewigem« Fortschritt auch geredet wird – in Wahrheit ist immer nur »unendlicher« Fortschritt gemeint, ein Fortschritt, der so immer weiter fort schreitet und wo jeder Augenblick noch die verbürgte Gewissheit hat, noch an die Reihe zu kommen … (in ihm) ist die Zukunft keine Zukunft, sondern nur eine in die unendliche Länge hingezogene, nach vorwärts projizierte Vergangenheit … der Augenblick (ist hier) nicht ewig, sondern ein sich immerwährend Weiterschleppendes auf der langen Heerstraße der Zeit.« 5
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Vom Du zum Wir und zum Ihr
Dies bedeute ein »Hervorziehen der zögernd hergezogen kommenden Zukunft, ehe diese Zukunft nächst gegenwärtiger Augenblick und als solcher reif zur Verewigung« geworden sei. Damit aber werde das Kommen des Zukünftigen verzögert und nicht beschleunigt. Wenngleich Rosenzweig dabei von Menschen spricht, die in ihrem Gebet versuchten, das Kommen des Reichs zu beschleunigen, so meint er natürlich auch und zuvörderst die »weltlichen« Menschen, die religiöse Heilserwartungen auf die Geschichte und also in das Politische übertragen. So nennt er denn diese Ungeduldigen, die das Übernächste vor dem Nächsten hervorziehen wollen, Sektierer, Schwärmer und Tyrannen. 6 Wenn also im Geschichtlichen oder Politischen von Vorwegnahme der Zukunft die Rede ist, dann sollten wir uns unverzüglich zum Widerstreit gegen totalitäre Ansprüche rüsten. Weder die Voraussage noch die Vorwegnahme des Zukünftigen dürfen von der Gegenwart und ihren Maßstäben aus gedacht werden. Denn wie bereits zitiert, sah schon Hannah Arendt den Keim eines jeden Totalitarismus in dem Versuch, die Zukunft kontrollieren zu wollen. Was also möchte Rosenzweig mit den Worten Voraussage und Vorwegnahme sagen? Anders gefragt: auf welche Weise geht Rosenzweig über Hermann Cohens Zukunftsbegriff hinaus oder setzt zumindest andere Akzente? Wir erinnern uns: auch dieser sprach davon, dass die Vorwegnahme das Charakteristikum der Zeit sei, und dass die Zukunft als wahre Zeit Gegenwart und Vergangenheit erfülle, ja die Zukunft sei überhaupt zuerst! Cohen hat diese Zeitumkehr zunächst mathematisch herausgearbeitet, indem er auf das Gesetz der Reihe hinwies, wonach die Reihe nicht durch das Fortschreiten ihrer Glieder bestimmt werde, sondern umgekehrt die einzelnen Glieder durch das »letzte Glied« der Reihe bestimmt seien, in dem sich ihr Formgesetz vollende. Darüber hinaus hatten wir in Cohens Begriff der Ewigkeit die Zeitaufhebung als ein Charakteristikum seines Denkens entdeckt, indem das noch Kommende, das Unerwartete, das noch nicht Gewusste als zukünftige Offenbarungen in jeden Augenblick hineinwirken und diesen auf eine Weise anreichern, die wir mit den Worten Fülle und Reichtum bezeichnet hatten. Und schließlich hat Cohen das Gebet als einen Weg der Vorwegnahme der Zukunft benannt. All diese Spuren finden wir bei Rosenzweig wieder. Wenn er von der Zukunft als einer Reihe spricht, »in der jedes Glied durch das erste vorweggenommen wird«, erinnert 6
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6 Die Zukunft vorwegnehmen
dies deutlich an Cohens mathematisches Beispiel – wenngleich es dann eigentlich nicht das erste, sondern das letzte Glied sein müsste, das die anderen vorwegnimmt. Aber Rosenzweig folgt nicht der Mathematik, sondern der Sprache. Hierin gewinnt sein Zeitdenken eine neue Originalität gegenüber Cohen, wenngleich ansonsten Rosenzweigs Denkbewegung derjenigen Cohens hinsichtlich der »Themen« Zeitumkehr, Zeitaufhebung und Gebet folgt. Das Neue oder Andere in Rosenzweigs Zeitdenken erschließt sich aus seinem Sprachdenken, das uns für den Moment noch nicht auf der Bahn der Sprache zu weiteren grammatischen Formen begleitet, sondern als das Fließende die Zeit weder als Substanz oder Zustand noch als vektorale bzw. linear-skalare Bewegung denkt, sondern als ein Zeitigen der Zeit. Wodurch wird Zeit gezeitigt? Durch das Sprechen, jedoch verstanden als ein Sprechen der Schöpfung und der Offenbarung, also ein Sprechen, in dem die Worte nicht Zeichen für etwas sind, keine Mitteilung oder Information geben, sondern in dem die Worte und Sätze selbst das Ereignis sind. In ihnen und durch sie geschieht etwas, das vorher nicht existierte. Im Imperativ rufen wir den Anderen in die Gegenwart des Geistes – Gegenwart also wird gezeitigt in einem Gespräch zwischen Zweien, aus dem beide verändert hervorgehen (Rosenstock-Huessy spricht von »Gestaltenwandel«). Wie aber wird die Zukunft gezeitigt? Im Indikativ können wir die Zukunft nicht voraussagen, denn der Indikativ erzählt, beschreibt und stellt fest. Die Zukunft als das nicht Wissbare, Unbekannte, noch nicht Geschehene lässt sich nicht erzählen – insofern kann der Indikativ, auch in seinen grammatischen Formen des »Futurum«, nicht der Modus der wirklichen Zukunft sein. Bliebe also nur der Konjunktiv? Zunächst spitzen wir die Frage nach der Zukunft, wie sie sich vom Sprachdenken her stellt, weiter zu: während die Gegenwart immer durch eine Beziehung zwischen einem bestimmten Du und einem bestimmten Ich erfüllt und gezeitigt wird, steht die Zukunft unter einer Erwartung. Erwartet wird die Überwindung der Vergänglichkeit des Lebens bzw. die Verleihung von Dauerhaftigkeit – erfüllt und gezeitigt werden kann diese Erwartung nur in einem Wir, einem Wir der Gemeinschaft zwischen Mensch und Welt sowie zwischen den Menschen. Ist dies nicht ein zu kühner Sprung? Erinnern wir uns an Cohens »Sprung« von der platonischen Idee des Guten zu dem Guten, das der Dauer bedarf, um gut zu werden, also der ständig erneuerten Schöpfung. Rosenzweig spitzt diese Aussage zu, indem er auf den notwendigen Zusammenhang von Mensch 242
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und Welt verweist und sagt, dass »der Einzelne nicht gut sein kann, ohne dass Alle gut sind«. Das Gute begegnete uns als das Stammwort der Schöpfung, die nur durch die Offenbarung Dauer gewinnt, nur durch das Zwiegespräch zwischen Mensch und Gott vor dem Versinken ins Nichts bewahrt wird. Wie aber? Zunächst als Versprechen, dass dieses neu gewonnene Du-Ich (das jederzeit auch das zwischen-menschliche Du-Ich sein kann) nicht sich selbst genügt, sondern auf die Welt der Kreatur wirkt. In diesem Wirken aber wächst das Du-Ich über sich hinaus zum Wir von Mensch und Welt heran, die »nicht voneinander zu lösen sind«, vielmehr der Erlösung bedürfen. Dieses Wir gilt es jedoch doppelt abzugrenzen, und zwar sowohl gegenüber einem möglichen Kollektivismus wie auch gegenüber einem esoterisch-romantischen »Wir-Gefühl«. Wie Rosenzweig diese Aufgabe wiederum von der Sprache her löst, werden wir noch im Abschnitt über den Dualis hören. Eines jedoch lässt sich unmittelbar nachvollziehen: weder die »ganze Menschheit« noch Mensch und Welt werden jemals ein Wir, so wie zwischen zwei Menschen ein Du-Ich entstehen kann. Insofern ist das Wir immer zukünftig – Cohen spräche hier von einer ewigen Aufgabe. Rosenzweig benennt das »Immer Zukünftig-Sein« mit Worten, die als Schlüssel des Erlösungskapitels gelesen werden können, indem sie das Zeitigen der Zukunft erhellen: »Das Reich … ist immer im Kommen … es ist immer zukünftig – aber zukünftig ist es immer. Es ist immer ebenso schon da wie zukünftig. Es ist einfürallemal noch nicht da. Es kommt ewig. Ewigkeit ist nicht eine sehr lange Zeit, sondern ein Morgen, das ebenso gut heute sein könnte. Ewigkeit ist eine Zukunft, die, ohne aufzuhören, Zukunft zu sein, dennoch gegenwärtig ist. Ewigkeit ist ein Heute, das aber sich bewusst ist, mehr als Heute zu sein …« 7
Eine Fülle an Paradoxa! Die Verbindung der Kopula »ist« mit dem Zukünftigen, das ja deswegen zukünftig genannt wird, weil es eben gerade (noch) nicht ist! Das einfürallemal als beinahe superlativische Steigerung des »Ist«, das aber noch nicht da ist! Die Zukunft als Ewigkeit, die dennoch gegenwärtig ist! Damit aber ist entweder die Ewigkeit keine Ewigkeit mehr, weil sie zeitlich gedacht wird, oder die Zukunft keine Zeit mehr, weil sie ewig »ist«. Geradezu exemplarisch versagt hier jedwedes Entweder-Oder! Vielmehr begegnet uns hier die Zukunft als eine andere Zeit in der Zeit oder als ein Anderes der Zeit. 7
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Wie die Ewigkeit zwar als »zeitlos« außerhalb der Zeit, aber zugleich in der Zeit geschieht, spiegelt sich dieses Zugleich in einer Zukunft, die zugleich Gegenwart »ist« – besser gesagt einer Zukunft, welche sich im Gegenwärtigen zeitigt. Um dieses Zeitigen ist es Rosenzweig ja zu tun – die Zukunft erscheint so als eine andere Zeit in der Gegenwart: nicht was morgen sein wird, sondern was schon heute als etwas anderes erlebt wird als die bloße Gegenwart. Um diesem Zugleich der anderen Zeit oder des Anderen der Zeit kommentierend etwas näher zu kommen, lesen wir noch weiter: »Denn zur Zukunft gehört vor allem das Vorwegnehmen, dies, dass das Ende jeden Augenblick erwartet werden muss. Erst dadurch wird sie (die Zukunft, F. H.) zur Zeit der Ewigkeit … dass jeder Augenblick der letzte sein kann, macht ihn ewig. Und eben dass jeder Augenblick der letzte sein kann, macht ihn zum Ursprung der Zukunft …« 8
Selbstverständlich ist das Wort »letzter Augenblick« von einer messianischen Erwartung geprägt, man kann jedoch diese Sätze Rosenzweigs auch parallel zu jeglicher religiöser Heilserwartung lesen. Wäre ein Augenblick der letzte, dann wäre in ihm nicht nur die Vergangenheit erfüllt, sondern die (von heute aus gedachte) Zukunft schon geschehen. Dies käme einer Aufhebung der Zeit gleich. Diese Zeitaufhebung in den tatsächlich erlebten Augenblick – als ob er der letzte wäre – hineinwirken zu lassen: dies besagt jenes Zugleich von Zukunft und Gegenwart in der Zeitlosigkeit des ewigen Kommens. Wird hier ein Weg geebnet, die Dauerhaftigkeit des Lebens im Augenblick zu zeitigen? In der Tat würde jeder Augenblick sich ins Nichts verflüchtigen, würde er nicht in den nächstfolgenden hinein gehoben. Wir nehmen den überaus vergänglichen, flüchtigen Augenblick überhaupt nur wahr, weil er in den nächstfolgenden scheinbar nahtlos übergeht, in ihm also erst einen »festen Halt« bekommt. So werden Vergangenheit und Gegenwart in der Zukunft befestigt (Zukunft als die wahre Zeit): wir erinnern uns des Vergangenen als etwas Gegenwärtigem, und wir erleben das Gegenwärtige immer unter der Erwartung eines Zukünftigen. Dauer bedeutet also nicht, dass etwas für immer bleibt oder sich statisch »über die Zeiten hin« unverändert erhält, sondern Dauer heißt – ähnlich wie wir es beim Weiter-Gelesen-Werden des Textes gehört haben –, dass Welt und Mensch ständig vom Zukünftig-Ewigen her »erneuert« werden. Der 8
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ständige Wandel findet dabei seine Dauerhaftigkeit oder Beständigkeit in der Zeitaufhebung bzw. Durchdringung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – und Ewigkeit. Diese »logische Unmöglichkeit« lässt sich nur in solchen oder ähnlichen Worten ausdrücken, wie sie Rosenzweig hier gekommen sind, indem er von der Ewigkeit als einer Zukunft spricht, »die ohne aufzuhören, Zukunft zu sein, dennoch gegenwärtig ist«: ein Morgen, das ebenso gut Heute sein könnte. Damit wird schließlich gesagt, dass wir das Gegenwärtige immer nur als das Flüchtige, Vorläufig-Unfertige, nicht »Greifbare«, Ungewisse, als ein unentscheidbares Geflecht von fließenden Bezügen zwischen Mensch und Welt erleben können, das erst durch das – ebenfalls unbekannte – Zukünftige sich in diese oder jene Richtung bewegt. Zum einen wird damit jeder Versuch konterkariert, die Zukunft als Projektion der Gegenwart zu »entwerfen«. Zum anderen erhellt daraus zunehmend, was die Vorwegnahme der Zukunft, ihr Hineinwirken in die Gegenwart bedeuten mag, so als ob der Küstensaum eines Landstrichs zunehmend von dem heranspülenden Meer geflutet wird. Von der Zukunft als dem Anderen, als Gott, als mögliche Offenbarung, als das Übersinnliche der Sprache – wir haben uns mit diesen Namen für Zukunft wiederholt beschäftigt – den gegenwärtigen Augenblick überfluten zu lassen, unterspült jeglichen Totalitarismus, denn dieser bedarf in seiner rhetorischen Wirkung einer idealischen Verklärung der Vergangenheit, gepaart mit dem ebenso idealischen Herbeisehnen einer abstrakt gedachten und daher toten Zukunft. Für Rosenzweig bedeutet die »wahre« Zukunft – im Gegensatz zu einer nach vorn gerichteten Projektion von Gegenwart oder Vergangenheit – den Augenblick, der Ewigkeit wird. Bei der Offenbarung war dieses Hineinbrechen der Ewigkeit in den Augenblick uns schon in der augenblicksverhafteten Liebe des Ewigen gegenüber dem Menschen begegnet. Nun aber lässt Rosenzweig die Zukunft zur »Zeit der Ewigkeit« werden, die sich soz. in einem Augenblick sammelt, der der letzte sein könnte. Diese Zeitaufhebung des Ineinanderlaufens verschiedener Zeiten, diese Durchdringung von Zukunft, Gegenwart, Vergangenheit und Ewigkeit in einem Augenblick, kann man als Zeit jenseits der Zeit oder Zeit ohne Zeitlichkeit benennen. Ein anderer Name dafür heißt Ewigkeit. Reiner Wiehl hat Rosenzweigs neues Denken in Bezug auf das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit treffend zusammengefasst: Rosenzweig habe geltend gemacht, dass »das Ewige im Zeitlichen und das Zeitliche im Ewigen sei«. Ferner: »dass diese verschieA
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denen Zeiten in ihm, dem Ewigen, sind, wie umgekehrt das Ewige im Vergangenen, im Gegenwärtigen und im Zukünftigen … darin drückt sich der Glaube und die Zuversicht solch gelingender Einheit von Zeit und Ewigkeit im Blick auf das je einzeln gelebte Leben aus.« 9 In diesen Worten wird nun auch deutlich, dass keinesfalls das Denken des letzten Augenblicks sowie der Zukunft als Ewigkeit auf eine religiöse Heilserwartung zu beschränken sei. Wenn wir z. B. nicht mehr lebende oder zwar noch lebende, aber abwesende Menschen, wenn wir vergangene und gegenwärtige Begebenheiten oder Erlebnisse aus ihrer Zeitgebundenheit herauslösen und als Zukünftige uns bemühen wahrzunehmen, als Zukünftige, die aber ganz Gegenwart sind – öffnen wir dann nicht ein Fenster, von dem aus auch »alles ganz anders« aussehen könnte? Anders gesagt: wenn wir uns die unfertige Welt und den immer werdenden, schwankenden Menschen für einen Augenblick von einer schon geschehenen Zukunft her als anders Gewordene denken, dann knüpften sich ungeahnte Möglichkeiten des Miteinander in der Öffnung auf dieses ganz Andere hin, das als jederzeit mögliche Offenbarung sich zeigen und zeitigen kann. Die Wahrnehmung der Menschen oder auch der welthaften Dinge, denen wir hier und jetzt – in diesem Augenblick – begegnen, würde sich in ihrer Intensität steigern, wenn wir den Augenblick so erleben, als könnte er »der letzte« sein. Wie würden dann in unserer Wahrnehmung von Mensch und Welt ihr jeweiliges ewiges Gewordensein und ewiges Werden mitdenken – als wenn auch das Werden schon ein Gewordenes wäre. Auf diese Weise geschieht eine Vorwegnahme der Zukunft, die in der zeitaufhebenden, vielleicht als unendlich sich zeitigenden Konzentration auf den Augenblick, der Ewigkeit wird, sich erfüllt. Die Unterbrechung der chronologischen Zeit ereignet sich zwar exemplarisch im Gebet, wie wir noch hören werden, aber die »Zeitlosigkeit« des Augenblicks einer Ewigkeit lässt sich durchaus allgemeiner als poetisches Moment der Unterbrechung des gewöhnlichen Laufs der Dinge bezeichnen. Aus der Enge stereotyper Reaktionen, der immer wiederholten, um sich selbst kreisenden Denk- und Handlungsmuster zu entkommen, bedarf es zuweilen der »Zeitaufhebung« oder des Hereinholens der Zukunft, des Schon-Geworden-Seins zu einem Anderen. Reiner Wiehl: Die Hoffnung zwischen Zeit und Ewigkeit – zum Ewigkeitsdenken Franz Rosenzweigs, in: Zeitwelten – Philosophisches Denken an den Rändern von Natur und Geschichte, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 1998, S. 183
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Auch in der psychotherapeutischen Gesprächspraxis gibt es das »Experiment« einer Vorwegnahme der Zukunft. So wird der Patient z. B. aufgefordert, seine heutige Situation einmal aus Sicht seines Lebens, wie es in 15 oder 20 Jahren sein wird, wahrzunehmen. Dieser Perspektivenwechsel bedeutet zunächst ein Verlassen der Gegenwart, um sich dem gänzlich Unbekannten zu öffnen, dem ganz Anderen, Fremden. Das Ziel dieser Reise in die Zukunft ist es, Fixierungen und Einpanzerungen des Ich im Hier und Heute zu durchbrechen sowie Ängste vor einer vielleicht neurotisch nach vorn projizierten Vergangenheit aufzulösen. Da niemand weiß, was in 15 oder 20 Jahren sein wird, gibt es kein vorher festgelegtes Ergebnis, vielmehr die Möglichkeit, dass der Patient gerade wegen der schier weitläufigen Öffnung auf ein Unbekanntes hin selbst sich als Anderer wahrnehmen kann. Zwar wird in diesem Fall nicht von Ewigkeit gesprochen, aber dennoch wird die Gegenwart auf paradoxe Weise erfüllt von der Zukunft, einem Morgen, das schon Heute sein könnte.
Welt und Mensch jenseits der Totalität Zur Beruhigung des ungeduldigen Lesers: im folgenden Abschnitt werden wir uns endlich (!) den gesuchten grammatischen Formen der Zukunft auf der Bahn der Sprache widmen. Ganz kurz aber sei der gegenüber Cohen neue philosophische Akzent in der Vorwegnahme der Zukunft gewürdigt, den Rosenzweig setzt. Die Konzentration auf den Augenblick, der von Ewigkeit durchtränkt ist, führt ihn auf Wege, die der Lebensphilosophie nahe kommen. So sollte für Rosenzweig die Vorwegnahme der Zukunft (als Durchdringung von Augenblick und Ewigkeit) Spuren in den Augenblicken des Lebens hinterlassen. Gelebt werde von Augenblick zu Augenblick, und das Leben erfülle sich in der Fülle der Individualität und der je individuellen Formenvielfalt des Lebendigen – so Rosenzweig. So wie die Liebe immer nur auf den Nächsten geht und von Augenblick zu Augenblick erneuert werden muss. Sagen wir es ein weiteres Mal etwas anders: das Leben und die Liebe sind immer augenblicksverhaftet; dem Augenblick des Lebens und der Liebe also in der Durchdringung mit der Ewigkeit Dauer zu verleihen, damit beginnt das Werk der Erlösung von Vergänglichkeit und Endlichkeit. Dauer gewinnt der Augenblick im jeweils neu Beginnen, aber nicht einem Beginnen, das die Vergangenheit immer wiederholt, sonA
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dern das von der Zukunft her Fülle, Spontaneität und Intensität des Lebens steigert. Diese Steigerung bedarf der Begegnung von Welt und Mensch, deren Wechselwirkung laut Rosenzweig »eingespannt ist zwischen Wachstum des Lebens und Wirken der Liebe«. Ausdrücklich versteht Rosenzweig dieses Aneinander-Erlösen von Mensch und Welt als Gegenentwurf zur »Entzauberung der Welt«, die seit dem 17. Jahrhundert durch die Naturwissenschaften eingeleitet worden sei. Die Welt sei seitdem in das »Gesetz von Substanz und Kausalität« aufgehoben, nun gelte es, diese »erstarrte Welt« wieder mit Leben zu erfüllen. Und zwar von der Zukunft her, die sich im Anderen, im Nächsten zeitigt oder begibt. Der Nächste gilt Rosenzweig als »Platzhalter des Fernsten«. 10 Der Augenblick und der Nächste werden herausgehoben aus der Zeit und der Gattung wie in der Offenbarung der Eigenname. Hier zeigt sich Rosenzweigs Denken erneut nicht nur als ein anti-idealistisches, sondern anti-totalitäres. Der Augenblick hat Vorrang vor der Totalität des Seins, der Nächste vor der Menschheit. Aus dem Allgemeinen gilt es das Besondere, aus der Mehrheit den Einzelnen, aus dem Strom der Zeit den Augenblick herauszuheben – niemals darf das Besondere, der Einzelne auf das jeweils große Ganze, die Totalität des Seins reduziert werden. Nur im Herausheben aus der Einerleiheit kann Leben gedeihen und Liebe geschehen. Die Zukunft ist nicht einholbar, und so ist sie der Name für die Uneinholbarkeit des Anderen, des Nächsten. Der unendliche Fortschritt geht über den Augenblick hinweg, indem ein Augenblick auf der Heerstraße der Zeit dem nächsten gleicht, denn er ist ja nur Durchgangstation, um »weiterzukommen«. Auf dieser Heerstraße der unendlich sich wiederholenden Augenblicke wird die Zeitigung der Zeit abgetötet. Der Volksmund nennt diese monotone Wiederholung des ewig Gleichen das Davonlaufen der Zeit und er liegt damit nicht einmal ganz falsch. Allerdings ist es der Mensch, der davonläuft – und zwar »von der Zeit«, die sich im Augenblick der Ewigkeit erfüllte. Anders gesagt: die Menschen versuchen zwar, jener Wiederholung des ewig Gleichen, die von der Monotonie des Tages- und Arbeitsablaufs bis hin zum industriellen Massendesign und schließlich zum »copypaste« die »spätkapitalistische« Gesellschaft prägt, zu entfliehen. Sie jagen dem »wirklichen Leben« nach, um nicht überall nur der Kopie des Lebens ausgeliefert zu sein. Aber solange es ein »Jagen« bleibt, 10
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hetzt der Mensch auf derselben Heerstraße dem Fortschritt hinterher – nur dass er der monotonen Wiederholung des Gleichen durch die möglichst rasche Abfolge des Verschiedenen entkommen möchte. Dieses bleibt dabei ein Äußerliches der verschiedenen Erlebnisse, Stile, Moden, Kulissen. Die Zeit, die ihm aufgrund ihrer Monotonie davonzulaufen schien, läuft nun womöglich aufgrund des beschleunigten Wechsels der »Tapeten« noch schneller davon. Dem Augenblick Ewigkeit zu verleihen, bedarf jedoch des geduldigen Wartens, des bewegten Stillhaltens, um die Fülle des individuellen Lebens wahrzunehmen, der Leere, um die Fülle aufnehmen zu können. Von der Zukunft her zu warten, heißt eben nichts er-warten – und erst in diesem Nichts-Erwarten kann die Liebe zum Nächsten wirken und er-füllt werden. Ihr hilft dabei die Enttäuschung, so Rosenzweig. Denn allein die Enttäuschung bewahre die Liebe davor, zur »Zwecktat« zu werden: »… sie (die Enttäuschung) bewahre vor der natürlichen Erwartung eines Erfolgs, der nach Analogie vergangener Erfolge erwartet werden kann … die Enttäuschung hält die Liebe bei Kräften. Wäre es anders … wäre die Liebe nicht Liebestat, sondern Zwecktat.« 11 Dies betrifft eben nicht nur die Liebe zwischen zwei Menschen, sondern da es hier Rosenzweig um das Aufeinanderwirken von Mensch und Welt geht, stellt Rosenzweig dieses Wirken ausdrücklich unter das Gebot, den Anderen, den Nächsten nie einem höheren Ganzen zu opfern, ganz im Sinne Kants nie zu einem »Zweck« herabzuwürdigen. Dort nur, »wo einer oder etwas zum Nächsten einer Seele geworden ist, da ist er ein Stück Welt geworden, was er vorher nicht war: Seele!« Eindeutiger kann man nicht gegen jedweden Kollektivismus Stellung beziehen – Welt und Mensch müssen laut Rosenzweig Stück für Stück einander entgegen wachsen, d. h. immer »eins nach dem anderen«. Damit sich eine Gemeinschaft bilden könne, müssen immer zunächst zwei zusammenkommen. Damit kommen wir nun zu den grammatischen Besonderheiten einer Zukunft, die nicht Projektionsfläche der Gegenwart ist. Aus jenem Wir, das sich immer »eins nach dem Anderen« aus einem Du-Ich bildet, klingt eine doppelte Abwehr heraus: gegen ein seelenloses Kollektiv und gegen den Indikativ der Erzählung und Beschreibung. Hören wir nun, welche grammatischen Formen Rosenzweig aus dieser Einsicht heraus für die letzte Strecke der Sprachbahn »ins Spiel bringt«. 11
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Die Zukunft kommt im Modus des Kohortativ Zweimal schon haben wir die Unangemessenheit des Indikativ für das Zeitigen der Zukunft angedeutet. Führen wir dieses weiter aus: ist uns eigentlich bewusst, dass wir die Zukunft ausschließlich in den Modi des Indikativ und des Konjunktiv aussagen? Dies spiegelt die »Verlegenheit« wider, dass wir über die Zukunft nur aus der Perspektive der Vergangenheit und Gegenwart sprechen, um sie (die Zukunft) damit zu verfehlen. Denn wir sollen nicht über die Zukunft sprechen, sondern wir sollen sie zeitigen. Verbauen wir uns mit der Verwendung der »falschen« grammatischen Form den Weg dazu? Zeigt sich geradezu ein Verfehlen der Wirklichkeit, wenn wir die Zukunft im Indikativ aussagen? Wir sagen z. B. »Er wird zu dieser Zeit dort ankommen« – obwohl wir aus heutiger Sicht nicht wissen, ob dies tatsächlich stattfinden wird. Der Indikativ spiegelt lediglich unsere Erwartung, Hoffnung oder schlicht das Vertrauen in die Regelmäßigkeit einer sich stets wiederholenden Routine des Geschehens wider. Sprechen wir aber im erwähnten Fall im Konjunktiv, wird man uns vielleicht vorwerfen, nicht klar zu sagen, wann und ob der erwartete Zug »tatsächlich ankommt« – der Konjunktiv lässt alles in der Schwebe. Natürlich kennen wir noch den Konjunktiv des Hoffens, Wünschens, Sehnens, der damit jedoch auch wieder nur die gegenwärtige Zukunft oder auch zukünftige Gegenwart benennt. So wird also in den Modi des Indikativ und Konjunktiv eine zukünftige Vergangenheit und zukünftige Gegenwart statt einer zukünftigen Zukunft »beschrieben«. Welcher Modus erlaubt nun aber eine in diesem Sinne verstandene Zeitigung der Zukunft? Der Imperativ war schon für die Gegenwart »reserviert«, abgesehen davon, dass man der Zukunft nicht gebieten kann – aber man kann sie erbitten, und erbeten! Und so findet Rosenzweig den Modus der Zukunft im gesprochenen Gebet, im gemeinsamen Lobgesang der Psalmen, den die Gemeinde – das Wir – erhebt, um Gott zu danken. Hier, in dem »gleichatmenden Zwiegesang« der Gemeinde, erklingt nun im Modus des Kohortativ das »Lasset und danken«: »Es kann nur die Gemeinsamkeit des Gesangs sein, und diese Gemeinsamkeit nicht als die vollendete Tatsache, nicht als ein Indikativ, sondern erst als eine gerade eben begründete Tatsache. So muss die Stiftung der Gemeinsamkeit dem Inhalt des Gesangs vorangehen, als eine Aufforderung zum gemeinsamen Singen, Danken, Bekennen, »dass er gut ist«, oder vielmehr … weil er
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gut ist«. Und diese Aufforderung wiederum darf kein Imperativ sein, keine Aufforderung des Auffordernden an einen Aufgeforderten, der der Aufforderung nachzukommen hätte, sondern die Aufforderung muss selbst unter dem Zeichen der Gemeinsamkeit stehen, der Auffordernde muss zugleich selber Aufgeforderter sein, sich selber mit auffordern: die Aufforderung muss im Kohortativ stehen, einerlei ob dieser Unterschied vom Imperativ äußerlich erkennbar ist oder nicht; auch die scheinbare Aufforderung, das »Danket«, darf nur den Sinn eines »Lasst uns danken« haben; der Auffordernde dankt selber mit, ja er fordert nur auf, um selber mit danken zu können …« 12
Hat die Erlösung ein »Stammwort« wie das gut der Schöpfung oder das Ich der Offenbarung? Wenn es ein solches gäbe, dann müsste es und heißen, denn mit diesem und würden die Stammworte gut und Ich verbunden. Rosenzweig spricht nun nicht mehr von Stammwort, sondern von einer Brücke, die in der Verbindung der zwei ersten Stammworte durch das und zu dem Ausruf »Er ist gut« führe. Dieser Satz müsse nun gemeinsam von Welt und Mensch gesprochen werden, so dass die Sprache zwischen Mensch und Welt der innermenschlichen entspreche – so wie schon bei der Offenbarung für Rosenzweig ohne weiteres zwischen Mensch und Gott die gleiche Sprache gesprochen wird. So können wir nun von hier aus auf den Verlauf der Sprachbahn zurückblicken: die Schöpfung wird erzählt, die Offenbarung im Gespräch zwischen zweien erlebt, und die Erlösung im gemeinsamen Lobgesang erbeten. Die Sprache entfaltet im Durchlaufen dieser Bahn erst ihre ganze Fülle, die Rosenzweig in den drei »Gattungen« Erzählung, Zwiegespräch und Gebet aufgehoben denkt. Als grammatische Formen entsprechen ihnen der Indikativ, der Imperativ und der Kohortativ. Dieser ist die Form eines strophisch sich steigernden Gesangs. In der Schlussstrophe dieses Gesangs vereinigten sich, so Rosenzweig, die zu Anfang einzeln wechselseitig sich zum Danken auffordernden Stimmen zum mächtigen Unisono des »Wir«.
Der Dualis Das mächtige Unisono hebt ein weiteres Mal die schon zweimalige Warnung vor einem Wir hervor, das in einen Kollektivismus führen könne. Rosenzweig wehrt dieser Gefahr durch eine weitere grammati12
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sche Sonderform: den Dualis. In diesem wird der unpersönliche, jedes Du-Ich übergehende Plural umgangen, ja sogar abgewiesen. Die neuere Kenntnis der grammatischen Form des Dualis verdanken wir Wilhelm von Humboldt, der in seiner Schrift »Über den Dualis« aus dem erstaunlichen Fundus seiner Kenntnisse alter und neuer asiatischer, ozeanischer, afrikanischer und amerikanischer Sprachen schöpfend, den bis dahin wenig wahrgenommenen Differenzierungen in den grammatischen Formen der Pronomina nachspürte. Gemäß seiner Grundauffassung, dass Sprache mehr als ein Verständigungsmittel und also vielmehr »geistiger Abdruck der jeweiligen Weltansicht« sei, erwähnt er z. B. die ganz unterschiedlichen Formen der dritten Person des Pronomens, die sich in manchen Sprachen ausgeprägt haben, um die besondere Lage der Person – ob sie als liegend, stehend, sitzend etc. bezeichnet wird – anzuzeigen. Genauso sei gerade in den alten Sprachen auch eine Differenzierung des Plurals zu beobachten, aus der die Sonderform des Dualis hervorgegangen sei. Während der Plural nur eine allgemeine, also undifferenzierte Vielheit oder Mehrheit gegenüber der Einheit oder Einzelheit ausdrückt, habe die Zweiheit im Dualis eine eigene grammatische Form gefunden. Der Dualität oder Zweiheit begegnen wir überall – Humboldt nennt es das »doppelte Gebiet des Sichtbaren und Unsichtbaren«, das sowohl im Sinnlichen wie auch im »Organismus des Geistes« dem Denken und Empfinden gegeben sei: die Sehnsucht nach dem anderen Geschlecht, die Bildung unseres Körpers in zwei gleiche Teile und in »paarweise vorhandene Gliedmaßen und Sinnenwerkzeuge« werden erwähnt, auf der Seite der Sinnlichkeit ferner das Erlebnis der Naturerscheinungen als Zweiheiten wie z. B. das Auftreten von Tag und Nacht, Himmel und Erde, Landmassen und Gewässern. In den »Gesetzen des Denkens« begegneten wie ebenfalls dem Begriff der Zweiheit: Satz und Gegensatz, Setzen und Aufheben, Sein und Nicht-Sein, Ich und Welt werden von Humboldt als Beispiele genannt. 13 Natürlich ist hier Vorsicht geboten, denn die »Gesetze des Denkens« entsprechen oft nicht der Wirklichkeit, die sich fast immer im Zwischen ereignet und so immer auch über die Zweiheit hinaus ein Drittes und Weiteres hervorbringt. Wo z. B. fängt das Meer an und hört das Land auf? Auch bei den Geschlechtern wissen wir inzwischen, dass in jedem Mann eine Frau (und umgekehrt) »lebt«. Wilhelm von Humboldt: Über den Dualis, in: Schriften zur Sprachphilosophie, Werke in fünf Bänden, Band 3, J. G. Cotta’sche Buchhandlung 1979, S. 136/137
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Aber die so genannten »Gesetze des Denkens« einer Dualität haben Humboldt schließlich auf die Spur des dialogischen Denkens geführt. Die Sprache selbst – so sagt er – sei das beste Beispiel für die Bedeutung der Zweiheit, denn »alles Sprechen beruht auf der Wechselrede«. 14 Die Möglichkeit des Sprechens werde durch Anrede und Erwiderung bedingt. Von diesem Punkt der Betrachtung aus besteigt Humboldt einen der Gipfelpunkte seines Denkens, indem er die Angewiesenheit des Ich auf den Anderen als Grundbedingung menschlicher Existenz hervorhebt. Seine berühmte Formulierung vom Begriff, »der erst Bestimmtheit und Gewissheit durch das Zurückstrahlen aus einer fremden Denkkraft erreicht«, 15 taucht hier an prominenter Stelle auf. Für unser Thema des Sprachdenkens dürfte besonders Humboldts Hinweis auf »die befremdende Kluft zwischen Wort und seinem Gegenstand« von Bedeutung sein. Die Sprache – besser müsste es hier wiederum Sprechen heißen – entstehe überhaupt erst, indem sich »ein gewagter Versuch (des Findens von Worten und Namen, F. H.) an den nächsten anknüpfe«. 16 Dies aber könne nur gesellschaftlich geschehen, denn erst in einem Hörenden und Erwidernden könne das Wort »Wesenheit« gewinnen. Hier hebt Humboldt die Bedeutung des Du hervor, das nicht wie das Er nur ein Nicht-Ich sei, also nicht nur dem Ich gegenüber ein verschiedener Gegenstand. Vielmehr erschließe das Du eine andere als die nur gegenständliche Sphäre – nämlich diejenige des gemeinsamen Handelns. An diesem Punkt greift Rosenzweig den Faden auf, indem er zugleich dem Dualis eine neue, erweiterte Geltung verleiht. Das Wir des Dualis müsse sich nicht auf die Zweiheit beschränken – es könnten auch drei oder mehrere darunter genannt werden, solange nur deutlich werde, wer gemeint ist: »Das Wir ist stets »Wir alle«. Jedenfalls: Wir alle, die wir hier beisammen sind«. Das Wort Wir ist ja nicht ohne Gebärde zu verstehen. Wenn einer Er sagt, so weiß ich, dass einer gemeint ist, und das Gleiche weiß ich auch im Dunkeln, wenn ich eine Stimme Ich oder Du sagen höre. Aber wenn einer Wir sagt, so weiß ich, auch wenn ich ihn nicht sehe, nicht wen er meint, ob
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sich und mich, sich und mich und irgendwelche anderen, sich und irgendwelche anderen ohne mich, schließlich welche anderen …« 17
Grundsätzlich deutet jedes Wir auf den denkbar allerweitesten Kreis hin, der durch eine »sprechende Gebärde« oder einen Zusatz (»wir Deutschen, wir Philologen«) eingeschränkt werde. In jedem Fall aber betont Rosenzweig: »Wir ist kein Plural« – denn dieser habe seine Wurzel in der dritten Person Singular, also einem Er oder einer Sie, die sich mit anderen dritten Personen, die Er und Sie genannt werden, zu größeren Gruppen zusammenschließen. Die dritte Person aber haben wir bereits als den unpersönlichen Gegenstand gegenüber dem Ich kennen gelernt. Im Plural schließen sich demnach beziehungslose Subjekte zu einer kollektiven Masse zusammen, in der das Ich in der Ansammlung von Nicht-Ichen selbst zum Nicht-Ich, zum möglichst unterschiedslosen, gleichgerichteten Massepunkt reduziert wird. Während die idealistische Philosophie der »Eingliederung« des Ich in das Kollektiv meist nur durch die Beharrung auf monadischen Egoitäten widerstanden hat, findet Rosenzweig mit Humboldts Hilfe das gesuchte Dritte, das zwischen dem reinen Ich und der reinen Allgemeinheit eines kollektiven Wir die Zweiheit behauptet. In einem bemerkenswerten Text zum Vergleich des Dualis bei Humboldt und Rosenzweig hat Donatella di Cesare besonders diesen Punkt unterstrichen. Rosenzweigs Begriff der »Allheit« lasse nach ihrer Interpretation kein Aufgehen in der Totalität zu, eben weil das Wir sich nicht in die Allgemeinheit aufheben lasse. Di Cesare sagt es so: »Rosenzweigs Wir ist weder die Vergemeinschaftung monadischer Egoitäten noch die unpersönliche Pluralisierung des Ich. Es ist vielmehr die »aus dem Dual entwickelte Allheit«, die singuläre Einheit von persönlichen Einzelnen, in welcher die duale Spaltung des dialogischen Miteinanders immer bewahrt wird«. 18
Sie zitiert in diesem Zusammenhang auch Martin Buber, der in Bezug auf diesen Dual von einem »Zwischen« gesprochen habe, um das »lebendige Wir« von dem »kollektiven Wir« zu unterscheiden, was in dem Satz »Nur Menschen, die fähig sind, zueinander wahrhaft Du zu sagen, können miteinender wahrhaft Wir sagen« gipfele. SE, S. 263 Donatella di Cesare, Der Dual der Erlösung. Zur Genealogie des Wir bei Rosenzweig – www.solon-line.de 2. 5. 2012
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Tatsächlich unterstreicht Rosenzweig, dass im vielstimmigen Schlussgesang der singenden Lobpreisung Gottes alle Stimmen selbstständig geworden seien – »jede singt die Worte nach der eigenen Weise ihrer Seele« –, sich jedoch dem gleichen Rhythmus fügten und in einer Harmonie des Ganzen zusammenfänden. Dieser Schlussgesang erklingt nach Rosenzweig erst, nachdem im Kohortativ der Einzelne mit seinem »Lasset uns …« aus dem Chor hervorgetreten war und im Dualis die zweite Stimme darauf geantwortet hatte, um sich sodann zum choralmäßigen Wir aufzuschwingen – in beiden grammatischen Formen des Dualis und des Kohortativ zusammen ereignet sich die Vorwegnahme der Zukunft, denn schon der gemeinsame Dank sei die Erfüllung der Zukunft in Ewigkeit. Das Gebet der Gemeinde unterbricht die chronologische Zeit und bewirkt Zeitaufhebung – in diesem Sinne wird hier die Zukunft vorweggenommen. Geschieht dies aber nicht bereits im einzeln gesprochenen Gebet? Sicher erlebt der einzelne Beter in der Anrufung Gottes auch eine Zeitaufhebung, aber erst im gemeinsamen Gebet mit Anderen kann sich der Mensch auch auf die Welt – und nicht nur auf Gott – beziehen. Anders gesagt: im gemeinsamen Dankgebet wird zumindest ein Teil der Gegenwart zur Zukunft, indem aus mehreren Du-bezogenen Ich-en ein kleines Wir als ein Stück Welt zusammengefunden hat.
Das grauenhafte Ihr … Nehmen wir das Wort von einem Stück Welt ernst, dann erhebt sich sogleich die Frage nach dem Rest, der scheinbar noch nicht Welt geworden ist. In der Tat: auf der Bahn der Sprache gibt ein Wort das andere. Sobald Rosenzweig das Wir des strophischen Schlussgesangs entdeckt hat, stellt sich schon rein grammatisch die Frage nach der Stellung des Ihr, an welches das Wir sein Wort richtet. Rosenzweig nennt dieses Ihr grauenhaft, weil es vom Wir aus seiner Geschlossenheit und Einigkeit ins kalte Grauen des Nichts gestoßen werde. 19 Weiter noch: das Wir könne nicht einmal vermeiden, Gericht über das Ihr zu halten! Fällt mit dem Ihr also die gerade gewonnene Hoffnung auf ein nicht kollektivistisches Wir in sich zusammen, die sich an mit dem Dualis verknüpft hatte? Ferner fragt sich, warum Rosenzweig das Ihr »grauen19
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haft« nennt, müsste er nicht eher vom grauenhaften Wir sprechen, da es so grausam ist, das Ihr ins »kalte Grauen des Nichts« zu stoßen? Erlebt wird das »Grauen« jedoch vom Ihr, an ihm als dem Ausgeschlossenen wird das »kalte Nichts« dieses Grauens sichtbar. Der Leser mag solch harsche Worte wie »Grauen« und »kaltes Nichts« als pathetisch überzogen empfinden. Doch je stärker sich ein Wir zunächst rhetorisch und schließlich im Leben behauptet, desto »schwächer« muss sich das in seiner Ausgeschlossenheit gedemütigte Ihr fühlen: eine grauenhafte Erfahrung menschlicher Kälte. Die Rede ist hier selbstverständlich nicht vom freiwilligen Verzicht des Ihr auf eine Gemeinschaft mit dem Wir. Rosenzweig spricht tatsächlich nur das Offensichtliche aus, wenn er das Ihr grauenhaft nennt: dass nämlich früher oder später jede Gemeinschaft, die Wir sagt, den Zusammenhalt dieses Wir aus dem Ausschluss des Ihr gewinnt. Auf den Ausschluss der Anderen folgt dann fast immer der Argwohn, der über Verdächtigungen bis zu Anklagen sich steigert: das Wir hält über das Ihr Gericht! Das Ausschlussverfahren der Parteien, die Exkommunikation bei den Kirchen sind deswegen grauenhaft, weil sie die Gemeinschaft in Wir und Ihr spalten, weil sie eine Freund-Feind-Logik entfachen, die offenbar alle Gesellschaften und Kulturen kennen. Da erscheint die Hilfe des Dualis recht matt, um nicht zu sagen aussichtslos. Und dennoch: es gehört zweifellos zu den besonderen »Verdiensten« Rosenzweigs, im Anschluss an Humboldt daran erinnert zu haben, dass in jedem Plural ein Dual verborgen liegt, ja dass jeder Plural ursprünglich ein Dual gewesen sei. Mit seinem fast als Hilfeschrei zu hörenden »Wir ist kein Plural« stemmt sich Rosenzweig gegen die Grauenhaftigkeit eines seelenlosen kollektiven Wir, das Konsens und Bekenntnis erzwingen will. Hier leuchtet eine eminent politische und höchst aktuelle Frage auf: wer hat das Recht, für wen zu sprechen? Da jedem Wir ein ausgestoßenes Ihr gegenübersteht, sollten wir hier besonders auf der Hut sein, wenn das Wir sich anmaßt, auch noch für das zuvor verstoßene Ihr zu sprechen. Die Mehrheitsgesellschaft spricht im Namen der Minderheiten, die sie ausschließt. Das Wir der »Leitkultur« fragt gar nicht mehr danach, wer zu ihr gehören möchte und wer nicht, sondern maßt sich an, im Namen »der Gesellschaft«, der Mehrheit, der europäischen Zivilisation, der Demokratie zu sprechen. Wer immer in der Öffentlichkeit »Wir« sagt, sollte genau sagen, wen er meint. Es erscheint geradezu als ein Desiderat, über den Dualis neue Wege im politischen Miteinander zu finden, worauf wir am Ende noch einmal zurückkommen werden. 256
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Das letzte Geheimnis der Sprache Das politische Miteinander wird auf dem Marktplatz (der Agora) verhandelt – wechseln wir zunächst jedoch noch einmal in die Synagoge. Wir waren Rosenzweigs Betrachtungen zum Verhältnis zwischen dem Wir und dem Ihr noch nicht bis ans »Ende« gefolgt, an dem Rosenzweig uns nichts weniger verspricht als »das letzte Geheimnis der Sprache« zu lüften. In diesem kündigt sich Hoffnung für das verstoßene Ihr an – denn in Wahrheit spreche nicht das Wir selbst, sondern das »Ihr« werde vom Wort selbst gesprochen. Das Ihr werde so gesprochen, wie wir alle gesprochen werden, denn das Wort spricht. Worin besteht hier die Hoffnung für das Ihr? Wohl darin, dass es doch noch eine Gemeinschaft mit dem Wir bilden könnte, wenn wir alle gemeinsam unter denselben Worten stehen, die uns sprechen. Hören wir Rosenzweigs eigene Worte zum letzten Geheimnis der Sprache: »Doch noch immer sind es Worte, ist es Wort, auf was sich die Stimmen der beseelten Welt einen. Das Wort, das sie singen, ist Wir. Als Gesang wäre es ein letztes, ein voller »Schlussakkord«. Aber als Wort kann es so wenig wie irgendein Wort letztes sein. Das Wort ist nie letztes, ist nie bloß Gesprochenes, sondern immer ist es auch Sprechendes. Das ist ja das eigentliche Geheimnis der Sprache, dieses ihr eigene Leben: das Wort spricht.« 20
Und so spreche »aus dem gesungenen Wir« ein gesprochenes Wort und spreche: Ihr. Weil das Ihr aber im gleichatmenden Zwiegesang des Wir von »niemandem« gesprochen werde als vom Wort selbst, handelt es sich hier auch nicht um eine Wechselrede aus Rede und Antwort wie zwischen einem Du und einem Ich. Auch deswegen nennt Rosenzweig das Ihr grauenhaft, weil es niemandem gegenüber antworten kann. Aber – und hierin wurzelt die große Zuversicht für das Ihr – das Ihr kann Schritt für Schritt vom Wort ergriffen werden. Was wir bereits mit dem göttlichen Übersinn der Worte vernommen hatten, erfährt hier eine weitere Steigerung: die Welt, die Menschen, Wir und Ihr sind ein Buch, ein Text, der ständig neu gesprochen und geschrieben wird. Ob dieses Buch von Gott gesprochen und geschrieben wird oder nicht, mag jeder für sich entscheiden. Aber nachdem das Sprachdenken uns bisher Wege gezeigt hat, uns dem Anderen, der Zukunft, dem Augenblick, dem Gespräch hinzugeben, ohne ein bestimmtes Etwas zu erwarten, ohne verfügen, vereinnahmen oder kontrollieren zu wollen, besagt 20
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das »letzte Geheimnis der Sprache« nichts anderes, als dass wir uns auch dem Wort hingeben – ohne Anspruch darauf, es zu besitzen. Was will Rosenzweig damit sagen? Wähnen wir uns im Besitz des Wortes, dann wollen wir über es auch verfügen, indem wir es zum reinen Zeichen, reinen Begriff, d. h. zum Werkzeug der reinen Mitteilung, der bloßen Kommunikation innerhalb des mehrfach erwähnten Sender-Empfänger-Modells herabwürdigen. Doch verlieren wir nicht zuletzt durch diese »Schändung« des Wortes die angebliche Verfügung über dasselbe? Schrumpfen Begegnung und Gespräch zwischen Menschen nicht zur bloßen Kommunikation im Sinne des Informationsaustauschs, wenn das Wort selbst zum Zeichen schrumpft? Birgt es jedoch nicht umgekehrt die Gefahr der manipulativen Ausschaltung des Denkens durch ästhetischen Schein und Wortgeklingel, wenn wir uns dem Wort nur »hingeben« oder uns von ihm »ergreifen« lassen? Selbstverständlich – aber diese Gefahr gilt es »auszuhalten«, wenn wir statt nur immerfort nachzudenken uns darauf einlassen, vielmehr nachzuhören. Einem Wort »nachhören«, es den Raum durch seinen Klang erfüllen hören, seiner Musikalität sich hingeben – all dies kann nicht nur neue Dimensionen der Wahrnehmung, sondern vor allem die Tür zum Anderen öffnen. Im Gebet und im Gedicht findet diese Hingabe an das sprechende Wort seinen höchsten Ausdruck. Der letzte Abschnitt der Bahn der Sprache – nach Erzählung und Zwiegespräch – ist für Rosenzweig das Gebet. Trotz aller Geduld, die von Rosenzweig versprochene neue Zusammenarbeit von Philosophie und Theologie kennen zu lernen, mag sich nun der Philosoph vornehm mit der Bemerkung abwenden, hier würde nicht mehr seine Sache verhandelt. In der Tat hat schon Bernhard Casper darauf hingewiesen, dass die modernen Wörterbücher der Philosophie das Wort Gebet nicht mehr kennen. Dies erscheine sogar konsequent, solange Philosophieren entweder bedeute, alles in die Einheit der absoluten Vernunft einzuholen oder aber das, was die Alltagssprache ohnehin vorbringe, nur genauer zu sagen. Kurz gesagt fehle einer nur auf die Vernunft gerichteten Philosophie das Verständnis für die Transzendenz. Ohne ein solches Verständnis würden sich jedoch dem Philosophen weder Zeit und Geschichte noch die Wirklichkeit der Welt und des Anderen öffnen, so Casper. 21 Hinzufügen möchte man, Bernhard Casper: Das Gebet stiftet die menschliche Weltordnung – zum Verständnis der Erlösung bei Franz Rosenzweig, in: Zeitgewinn, Verlag Josef Knecht 1987
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auch an das Thema Tod könne sich der Philosoph ohne das Verständnis des Gebets nicht ernstlich heranwagen. Dabei beschäftigt sich die Philosophie seit ihren Anfängen mit dem Tod. Philosophieren heiße sterben lernen, hören wir schon von Sokrates. Darin kündigt sich bereits die Einsicht an, dass sich das Leben erst im Tod vollende. Diese Einsicht der Vernunft hilft aber dem Einzelnen, der hier und jetzt vom Tod bedrängt ist, in keiner Weise. Im Angesicht des eigenen oder des Nächsten Todes verstummt das Wort der Vernunft. Darauf zielte der Vorwurf Rosenzweigs an die Philosophen am Anfang des »Stern«, sie würden den Tod verleugnen. Zu fragen wäre doch, ob das Gebet am Ende des Lebens nicht helfen kann, durch die Hereinnahme des Todes ins Leben dieses zu vollenden, auf dass aus dem Tod – wie Rosenzweig sagt – neues Leben werde? Hereinnahme ohne hereinzukommen, denn der Tod bleibt der ganz Andere – so wäre mehr von Annahme des Todes zu sprechen –, aber in der Öffnung auf den Tod wird das Leben selbst ein anderes. Fragen, denen die Philosophie schwerlich wird ausweichen können. Wir wollen deswegen bei den Themen Gebet und sprechende Worte noch aus dreierlei philosophischer Perspektive kurz verweilen – es folgen zwei Zwischenrufe und eine winzige meditative Unterbrechung. Den ersten Zwischenruf überlassen wir dem Rabbiner und Philosophen Abraham Heschel, der sich direkt dem Gebet widmet. Der zweite Zwischenruf erfolgt dann von Emmanuel Levians zum Sprechen der Worte. Unterbrochen werden diese beiden Zwischenrufe ganz kurz von einer Betrachtung zur Philosophie der Bewegung, wohin uns die »Ton-Worte« der Musik führen.
Gebet und Sprachkraft Abraham Heschel hat sein Buch »Der Mensch fragt nach Gott« in folgende Überschriften gegliedert: »Beten beginnt, wo Expression aufhört«, »Die Lehre vom Gebet als gesellschaftlichem Akt«, »Gebet und Gemeinschaft«, »Eine Seinsnotwendigkeit«, »Eine Antwort des ganzen Menschen«, »Der Verlust des Ganzen« oder auch »Geistliches Zartgefühl« und »Dreißig Jahrhunderte Erfahrung«. 22 Zeigt sich hier nicht eine verblüffende Öffnung zum Gespräch mit dem Philosophen? Scheinen nicht umgekehrt Fragen hierdurch auf, denen sich der Philo22
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soph gar nicht entziehen kann? Hier wäre zweifellos ein Feld ergiebiger Nachfragen, doch wir sind auf der Spur der Worte, die sprechen, die Heschel intensiv ausleuchtet. Zwei seiner Überschriften lauten »Die Würde des Wortes« und »Worte sprechen«. Wir schlagen vor, bei unserer Spurensuche für einen Moment Heschel zu folgen und fassen den Text dieser seiner beiden Unterkapitel zusammen. Mittelpunkt und Höhepunkt dieser Passage führt die Gedanken weiter, die wir schon bei Rosenzweigs Behandlung des Gleichnisses, der Zeichen und Bedeutung von Worten kennen gelernt hatten – und lenkt dabei auf unser jetzt brennendes Thema der sprechenden Worte hin: »Ein Wort ist ein Brennpunkt, der Punkt, in dem sich Bedeutungen treffen und von dem Bedeutungen auszugehen scheinen. Im Gebet wenden wir uns, ähnlich wie im Gedicht, den Worten zu, nicht um sie als Zeichen für Worte zu gebrauchen, sondern um Dinge in ihrem Licht zu sehen. Im Alltag sprechen im Allgemeinen wir, aber die Worte bleiben stumm. In der Dichtung, im Gebet sprechen die Worte.« 23
Dies dürfe natürlich nicht zu einer Passivität des Beters führen, vielmehr sei es seine Aufgabe, die meist gezähmte Kraft des Wortes loszubinden. Daraus entwickle sich eine wechselseitige Beziehung zwischen dem Beter und dem Wort – dieser müsse dabei das, was im Text ruht, offenbar machen. Dabei sollen die Worte nicht »von unseren Lippen fallen wie totes Laub im Herbst«, vielmehr sollen sie »aufsteigen wie Vögel aus dem Herzen in den weiten Raum der Ewigkeit«. Heschel möchte den Menschen darauf vorbereiten, zu fühlen, wie stark und zart Worte sein können und welche Kraft und Herrlichkeit ihr Klang erwecken könne. Und er schließt diese Zeilen mit dem Blick auf das Gebet als Antwort auf die Krisen des Lebens: »In der Krise, in Augenblicken der Verzweiflung, ist ein Gebetswort wie ein Griff, an dem wir Halt finden, wenn wir auf rasender Fahrt hin- und hergeschleudert werden.« 24 Aber Heschel spürt in diesem besonderen Bezug des Beters zum Wort etwas Allgemeines auf, mit dem er unsere Zivilisation herausfordert, die gerade so viel für die Liquidierung der Sprachen tue. In plastischen Worten klagt er eben diese Zivilisation an, sich vom Boden der Worte entfernt zu haben, über das Wesen und die Kraft des Wortes 23 24
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nicht mehr nachzudenken. Worte würden zu abgedroschenen Redensarten, zu Abfallsprodukten des intellektuellen Hinterhofs. Es gehöre zur alltäglichen Beschäftigung der Menschen, sie zu missbrauchen und ständig zu schänden: »Wir alle leben in ihnen, fühlen in ihnen, denken in ihnen, versäumen aber, ihre eigenständige Würde zu wahren, ihre Kraft und Bedeutung zu respektieren, und so werden sie zu verwahrlosten streunenden Hunden, ein Mund voll Staub«. 25 Worte seien weder Druckerschwärze auf Papier noch Kofferträger von Gedanken, sondern Verpflichtungen. Wenn ein Mensch ein Gelübde, Ehrenwort, Versprechen oder einen Eid ablege, dann bekomme sein Wort eine verpflichtende Wirklichkeit. Im Gebet werde dies Wort im Augenblick des Sprechens wie ein Pfand gegeben – das Gebet werde damit zum Gegenteil des »So-tun-als-ob«. Diese Verpflichtung des gegebenen Wortes könnte dazu verleiten, das Wort auf Bestimmtheit und Klarheit einzuschränken. Die Bestimmtheit aber liegt nicht im Wort, sondern in der Verpflichtung, die der Sprecher oder Beter, der sich dem Wort hingibt, auf sich nimmt. Ergänzend möchte man hinzufügen: gerade wenn wir Worte nicht als Zeichen auffassen, die uns einen Gegenstand zeigen, sondern vielmehr dem Wort selbst begegnen, es unmittelbar – d. h. ohne die Vorstellung eines bezeichneten Gegenstandes – verstehen, wächst aus dieser Begegnung mit der Unmittelbarkeit des Wortes die verpflichtende Kraft. Das Wort selbst spricht zunächst den an, der es dann ausspricht. Je mehr dieser sich von der »Fülle, Tiefe und Mehrdimensionalität« des Wortes hat ansprechen lassen, desto stärker mag sich in ihm der Wunsch regen, die potentielle Fülle des Wortes zu erfüllen. Ist nicht ein gegebenes Versprechen voll der Fülle? Nimmt der Mensch die Verpflichtung auf sich, dieses Versprechen einzulösen, bindet er sich an das Wort, d. h. an dessen Erfüllung. Dies ist im übrigen die einzige Weise, auf die der Mensch Gleichnis zu sein hat im Sinne des »Für-etwas-Stehens«, denn er steht hier mit seiner ganzen Person für die unendliche Fülle des Wortes, seinen Übersinn ein. Wenngleich Heschel betont, dass wir uns im Alltag nicht in einer »poetischen Sprache« verständigen werden, so könnte seine Rede von den abgedroschenen Redensarten aus dem intellektuellen Hinterhof aktueller nicht sein. Gesellschaftliche Gruppen, bestimmte Milieus in Politik, Wissenschaft oder dem Kulturleben entwickeln ihre jeweils ei-
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gene Sprache, die man besser als Jargon bezeichnet. Wer »etwas werden« will, wird »Mitmacher« – irgendeinem Milieu, einer Partei, einer Peer Group schließt er sich an, indem er sich möglichst rasch den gängigen Jargon der entsprechenden Gruppe aneignet. Es ist dies eine Variante der Schändung von Worten – eine andere zeigt sich im Fieber der Nachrichtenwelt, in der es auf Geschwindigkeit in der Verbreitung der »News« ankommt. Das Wort geht dabei in der Bedeutung unter.
Worte ohne Bedeutung – Sprechen in der Bewegung des Zwischen Gibt es überhaupt Worte ohne Bedeutung? Die Musik berührt uns unmittelbar, obwohl oder womöglich gerade weil sie keine Bedeutung ausdrückt – dabei könnten wir ja die Töne oder Sequenzen der Musik auch Worte nennen. Töne machen etwas mit uns, sie setzen uns in Bewegung, so dass wir mitsummen, mitsingen, den Takt schlagen oder uns im Rhythmus wiegen. Dabei fragen wir nicht nach der Bedeutung der Töne. Wir gehen auch nicht davon aus, dass die Töne »uns gehören«, sagen wir doch »es klingt«. Manch einer hat sogar gehört, wie »das Universum summt«. Beim Singen beobachten wir unsere Atmung, konzentrieren uns auf die Formung unserer Lippen und lauschen dem ausgehauchten Ton nach, wie »er klingt«. Töne werden moduliert, der Komponist arbeitet mit verschiedenen Tonarten oder Inversionen, und schon feinste Dissonanzen verändern eine Tonsequenz oder sogar die ganze Komposition von Grund auf. Aber nur durch den Wechsel in Tonart, Rhythmus oder Harmonie hören wir wirklich; indem die Monotonie gebrochen wird, geraten wir als Hörende in Bewegung. Könnte uns dies nicht auch mit Worten widerfahren, wenn wir sie nicht schändeten und wie zerbröselten Staub aus unserem Mund fallen ließen? Dass durch natürliche Modulation und den Austausch von Buchstaben und Silben die erstaunlichsten Verschiebungen von Bedeutungen bis hin zur Bedeutungslosigkeit stattfinden, kennen wir aus dem Witz. Auch der wirkliche Dichter nutzt die Möglichkeit feinster Dissonanzen in der Reihenfolge der Buchstaben, um Klänge zu mischen, die uns das Sprechen der Worte erleben lassen, weil wir gar nicht mehr auf Bedeutungen achten. Ein verblüffend treffendes Beispiel gibt uns die japanische Schriftstellerin Yoko Tawada, wenn sie im Wort Über262
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setzungen lediglich das t mit einem e vertauscht hat: Überseezungen! Was bedeutet dieses Wort? Weil es eben nichts bedeutet, sondern nur spricht, öffnet sich durch unser Nachsprechen ein ganzes Kaleidoskop neuer Bedeutungen oder Deutungen, die unser bisheriges Verständnis von Übersetzung genauso verwirren wie die Bedeutung von Zunge, Übersee, Über und See. Dies ist noch einmal ein munteres Beispiel für den sinnlich-übersinnlichen Charakter der Sprache. Die Sprache – oder das Sprechen – können den Stau des Lebensstroms lösen, den das Denken zuweilen und eine Weltanschauung immer verursachen. Ähnlich wie die Musik hat das Wort die Kraft, das Fließen des Lebens zu Gehör zu bringen! Die Welt ist immerfort im Werden – nachdem wir aber die bisherige Bahn von der Schöpfung bis zur Erlösung abgeschritten haben, wissen wir, dass dieses Werden nicht orientierungslos geschieht, sondern als Bewegung der Elemente aufeinander zu, um schließlich im Gang vom Ich und Er über das Du hin zum Wir die Wirklichkeit des ZusammenWirkens zu stiften. Im Erlösungskapitel nennt Rosenzweig diesen Weg auch »Weltwanderung«, wobei die dabei eingehaltene Reihenfolge völlig unbestimmt sei. Immer antworte dem Weckruf die nächste Stimme; welche dies aber sei, das stehe nicht in der Wahl des Rufenden. Die Unbestimmtheit der Liebestat macht ihre Spontaneität aus, würden wir heute sagen – d. h. jeder kann jeden Augenblick der Nächste sein, dem diese Spontaneität gilt, und deshalb kann er auch Platzhalter für alle Menschen werden. Diese Unbestimmtheit aber verbürgt auch die immer von neuem anhebende, nicht endende Bewegung des Aufeinander-Zu, die sich schon in der Sprache zeigt: das Verbum erlöst »das Objekt aus seiner passiver Starrheit zur Bewegung und das Subjekt aus seiner Insichverschlossenheit zur Tat«. Die Erlösung des Objekts aus passiver Starrheit versperrt den üblichen Weg, auf dem das Objekt vom Subjekt verschluckt oder vereinnahmt wird, auf bloße Verfügbarkeit reduziert wird. Das erlösende Verbum benennt sozusagen das Zwischen einer Bewegung, mit dem die starre »Logik« des Entweder-Oder ausgehebelt wird. Dieses dynamische Zwischen kann sich jedoch nur entfalten, wenn die sich aufeinander zu Bewegenden einen Resonanzboden für die innere Bewegung des jeweils anderen ausbilden. Ein anschauliches Beispiel dafür gibt Rudolf zur Lippe in seiner »Philosophie der Bewegung und des Wandels«. Er berichtet dort von einem Spaziergang im herbstlichen Laubwald. Vom Spiel der Farben A
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und des Lichts unter den noch an einigen Bäumen spärlich flatternden Blättern schweift der Blick in den Haufen trockenen Laubs am Boden. Nun geschieht etwas, das Lippe eine »meditative Erfahrung« nennt: Durch intensives Hineinblicken in die braunen und gelben, am Boden liegenden Blätter, entsteht eine Empfindung für die Räume zwischen den Blättern: »Plötzlich ergriff mich leicht und unweigerlich ein Bewusstsein, nicht mehr Blätter zu sehen, offene, halb und ganz überdeckte, sondern ihr Liegen.« 26 Und weiter: »Was mich plötzlich erreichte, war eben nicht ein Etwas, nichts Festes, kein Gegenstand – ich nahm Wirklichkeit wahr, aber eben das Wirken, nicht ein Bewirktes.« 27 Dieses Sehen jedoch könne nur dann gelingen, wenn »das Geschehen außen zugleich ein Geschehen innen ist«. Der Raum zwischen den Blättern wird eben nicht mehr als Raum, sondern als Bewegung im Zwischen wahrgenommen – dabei wird das Liegen, welches wir üblicherweise mit Ruhe assoziieren, dynamisiert, es wird im Infinitivum des Verbs zur Bewegung des anhaltenden Liegens oder es wird zum liegenden Bewegtsein.
Sagen und Gesagtes Bewegung müsse in der Sprache selbst ausschwingen, gerade die Sprache habe die Kraft, ein scheinbar starres Sein in Schwingung zu versetzen – so könnte man einige Passagen von Emmanuel Levinas lesen, in denen das Sprechen der Worte uns noch einmal begegnet. In »Jenseits des Seins« spricht Levinas in leichter Abwandlung dessen, was Rosenzweig und Heschel als sprechendes Wort bezeichneten, vom »eigenen Gebaren« des Wortes. Dieses – und damit seine eigentliche Verbalität – erreiche es aber erst, »wo es aufhört, Handlungen und Ereignisse zu benennen.« 28 Was möchte Levinas mit »Verbalität« sagen? Das Wort Verbalität weist auf die Doppelbedeutung von Verbum hin, das zum einen im Lateinischen Wort heißt und zum anderen in der
Rudolf zur Lippe: Das Denken zum Tanzen bringen – Philosophie des Wandels und der Bewegung, Verlag Karl Alber 2010, S. 66 27 Ebd., S. 69 28 Emmanuel Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Verlag Karl Alber 1992, S. 87 26
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Grammatik das Zeitwort darstellt. Wenn im Wort diese Eigenschaft des Zeitwortes wirke, dann erreiche es seine Verbalität als eine Bewegung des Zeitigens, die – jenseits aller anderen Aussagen – zu der des eigenen Fließens werde, wie am Beispiel des Verbs »sein«: »Das Verb sein sagt das Fließen der Zeit …«. Levinas fährt fort: »Als erreiche in dem Wort sein das Verb allererst seine Funktion als Verb«. 29 Das Verb sein, indem es das »Fließen der Zeit sagt«, löst nun auch die Starre des Substantivs Sein, das als Gegensatz zum Werden für das Immerwährende, Feste, Schon-Da-Seiende, Erstarrte steht. Und so sagt Levinas: »Die aus der Verbalität des Verbs hervorgegangene Sprache besteht dann nicht nur darin, das sein des Seins verstehbar zu machen, sondern auch darin, es in Schwingung zu setzen«. 30 Denken wir an das obige Beispiel der bewegt liegenden Blätter im Herbstwald, dann dürften wir Levinas folgen können, wenn er die Sprache als »Auswuchs des Verbs« versteht. Sie sei der Träger des sinnlichen Lebens. Aber: da Sprache nicht nur aus Verben, sondern auch aus Nomina bestehe, würden mitten im Fluss auch »Identitäten«, feststehende Einheiten benannt – außer dem Sagen gibt es das Schon-Gesagte. Wir greifen nun einen Faden auf, den wir früher als göttlichen Übersinn der Worte, als Spur des ganz Anderen kennen gelernt hatten, und den Levinas nun als »Sagen ohne Gesagtes« benennt. Dieses Sagen ohne Gesagtes sei ein Sagen jenseits aller semantischen Bedeutungen. Levinas ist damit ganz nah bei Rosenzweig und dem Warten auf den Anderen. Levinas sieht das Sagen als »Angebot an den Nächsten«, als dem Anderen »übertragene Bedeutsamkeit«. In diesem Sinne sei Sagen auch Verantwortung für den Anderen, Sagen hieße demnach auch für den Anderen Bürgen – vom Zeugen, Bezeugen und Verbürgen der Worte war schon im vorigen Kapitel die Rede. Auf Zeugnis und Bürgschaft aber baut sich jede Gemeinschaft – ob mit oder ohne Vertrag – auf. Durch das Sprechen, so Levinas, werde diese Zeugenschaft oder Bürgschaft in die Welt gesetzt, denn indem der Mensch spricht, ist er nicht mehr für sich, sein Wort ist an jemanden gerichtet, dem er sich aussetzt. Dass Ich und Du sich im Sprechen einander aussetzen, bedarf keiner Frage. Aber setzen sich nicht auch das Ihr und das Wir einander aus, gerade weil keine direkte Wechselrede stattfindet? Erklingt im
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Lobgesang des Wir auch ein Sagen ohne Gesagtes? Wenn Rosenzweig dem zustimmen könnte, dann verhieße das Sagen ohne Gesagtes als ein Bürgen weitere Zuversicht für das Ihr, da im Bürgen das Für-denAnderen-Einstehen mitgesagt wird. Das sich-Aussetzen geschieht bei Levinas im übrigen nicht nur an den Anderen, auf den der Sagende wartet, sondern an das Wort selbst, denn auch für ihn ist es das Wort, »das spricht« – oder die Sprache, »die spricht«. »Das Subjekt des Sagens gibt nicht Zeichen, es macht sich zum Zeichen, es geht auf in Verpflichtung …«, so Levinas. 31 Welche Kluft trennt dieses »Sagen« von der reinen »Kommunikation« als Austausch von Informationen, die nur das schon Gesagte vermittelt, die nichts riskiert, nichts gibt, die nur eine »Botschaft« versendet oder ein Ziel verfolgt! Sich selbst im Wort zum Zeichen machen: hier ist Levinas ganz nah bei Rosenzweigs Gleichnischarakter der Sprache und der Bewährung der Wahrheit. Könnte der Gedanke an die Verbalität des Wortes Sein, in dem das Fließen des Seins sich sagt, womöglich sogar den Argwohn der Philosophen gegenüber dem Gebet erschüttern? Gegen die Schändung der Worte einzustehen, sollte zumindest ein nicht geringes Anliegen – nicht nur der Philosophie – sein.
Die Frage nach dem Wir und dem Ihr als Zentrum des Politischen Nicht nur der Philosophie. Wir hatten einen Ausflug ins Politische versprochen. Dies liegt nahe, denn gerade hier – auf der Agora – treffen immer ein Wir und ein Ihr aufeinander. Hannah Arendt bezeichnet politisches Handeln vor allem als ein Miteinander-Sprechen – so könnte man fragen, inwieweit auch hier die Worte sprechen. Wir wollen dieser Frage nun zum Schluss nachgehen, wenngleich Rosenzweig dringlich davor warnt, den »Stern« in irgendeiner Weise politisch »umzusetzen«. Eine unmittelbare »Umsetzung« kann auch nicht unser Ansinnen sein – schon deswegen nicht, weil man sich an der Um-setzung eines ganzen Buches leicht überhebt. Rosenzweig selbst warnt in einem Brief vom Juni 1924 jedenfalls davor, aus seiner Theorie unmittelbar eine Politik machen zu wollen und nicht »nur die Einschränkung 31
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jeder (aber trotzdem zu machenden) Politik«. 32 In seiner Studie »Politik und Religion im Denken Franz Rosenzweigs« hat Jörg Kohr anhand eben dieses Zitats die unmissverständliche Trennung herausgearbeitet, die Rosenzweig zwischen Politik und Offenbarungsreligion zieht, wobei er im weiteren Verlauf statt Trennung von einer distanzierten Beziehung spricht. Denn der Gläubige sei schließlich auf die Welt als Handlungsraum verwiesen, sich dabei aber zugleich der Unabschließbarkeit politischen Suchens nach dem Guten und Richtigen bewusst. Politisches Handeln werde deswegen von Rosenzweig als ein Trotzdem-Handeln im Bewusstsein seiner eigenen Beschränkungen verstanden. Erlösung jedoch dürfe niemals von der Politik oder der Geschichte erhofft oder gar angestrebt, sondern nur von Gott als dem Erlöser erbeten werden. In äußerster Schärfe wird diese Zurückweisung jedweder Erlösungserwartung an Politik und Geschichte im letzten Teil des »Stern« formuliert, indem Rosenzweig – nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Weltkriegserfahrung – zwischen Weltgeschichte und Heilsgeschichte einen markanten Trennungsstrich zieht. Das christliche Europa habe im Verlauf des 19. Jahrhunderts seine Heilsund Erlösungserwartung auf die Geschichte übertragen, so dass die Kriege jener Periode – bis hin zum Weltkrieg des Jahres 1914 – als Fortsetzung mittelalterlicher Glaubenskriege im Ringen um die weltweite Vormachtstellung der jeweiligen »christlichen Nation« zu verstehen seien. Ob das Volk der Gnade Gottes würdig sei, »ob es als Stein im Bau des Reichs gebraucht werde«, darüber entscheide allein der Krieg, so fasst Rosenzweig den Prozess des »nation building« des 19. Jahrhunderts zusammen. Er nennt diesen auch einen Versuch, mithilfe des Staates Ewigkeit in der Zeit zu erreichen. Der Staat selbst werde »zum immer zu erneuernden Versuch, den Völkern in der Zeit Ewigkeit zu geben«. 33 Hier also treffen wir auf das Motiv der Erlösung für die »Legitimation« weltlicher, imperialer Politik – oder eben die Vorwegnahme der Zukunft durch den Fortschritt der Geschichte. Unter der Verheißung ideologisch aufgeladener Zukunftserwartungen haben die europäischen Mächte seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ein Übermaß an Leiden durch Krieg, Gewalt und Despotie den Menschen zugefügt. Der Staat habe Revolutionen und Epochen ausgerufen, in denen Jörg Kohr: Gott selbst muss das letzte Wort sprechen – Religion und Politik im Denken Franz Rosenzweigs, Verlag Karl Alber 2008, S. 281 33 SE, S. 369 32
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die Ewigkeit zum jeweils Allerneuesten erklärt worden sei! Dies ist offenbar als Anspielung auf den Hegelschen Weltgeist als Ewigkeit zu verstehen, der in der jeweils zum »Allerneuesten« ausgerufenen Epoche zu sich selbst kommt. Auf diese Weise aber setze sich die Weltgeschichte mit ihrem Anspruch auf Ewigkeit und Erlösung an die Stelle der Heilsgeschichte! Das jüdische Volk – so konnte Rosenzweig noch 1918 schreiben – verweigere sich dieser weltgeschichtlichen Mission, es mache einfach nicht mit! Dadurch aber werde es dem Staat zum »ewigen Ärgernis« – welch weise Voraussicht eines jüdischen Denkers im Jahre 1918, der womöglich schon ahnte, wie man sich dieses »Ärgernisses« entledigen würde. Greifen wir beide Motive Rosenzweigs auf: die Beschränkung und das Nicht-Mitmachen, die als bewusste Haltung der Verweigerung hochpolitisch sind – wenn man Politik als Miteinander-Sprechen versteht, in dem immer auch ein Schweigen, Widersprechen oder Verstummen als Möglichkeit mit klingt. Kommen wir noch einmal auf das Wir und das Ihr zurück. Im politischen Miteinander stellt sich die Frage nach der Eigenart des Wir in durchdringender Schärfe: inwieweit bleibt die Zweiheit in der Form des Dualis erhalten, oder kommt es zu einer Verschmelzung von Ich und Du oder gar zu einem kollektiven und somit eher abstrakten Wir? Daran schließt sich die Frage nach dem Verhältnis des Wir zum Ihr an – als der Frage nach Zugehörigkeit oder Ausschluss zur oder aus der Gemeinschaft? Doch wie war denn das Wir zuallererst entstanden? Nach Rosenzweig kann ein Wir erst aus dem Durchleben des Zwiegesprächs sich entfalten, in dem sich Du und Ich zueinander ganz öffnen. In einem solchermaßen »wirklichen« Gespräch geht jeder der beiden Gesprächspartner als ein Anderer aus dem fragenden, antwortenden und zuhörenden Miteinander-Sprechen hervor. Aber dieses Wir der Zweiheit ist noch keine Gemeinschaft, weder eine religiöse Gemeinde noch der Zusammenhalt einer Polis. In der Gemeinschaft verblasst zunehmend das duale Wir, stattdessen setzt sich ein plurales oder kollektives Wir scharf vom Ihr ab. Wir hatten gehört, wie diese Trennung in der Synagoge durch den gemeinsamen Lobgesang – durch das sprechende Wort – schließlich überwunden wird. Das Ihr überlässt sich – singend und sprechend – dem sprechenden Wort und wächst in diesem Wort dem Wir zu. Doch auf der Agora finden andere Begegnungen statt als in der Synagoge. Während hier das Wort eint, indem es von allen gemeinsam gesprochen und gesun268
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gen wird, gilt auf der Agora gerade das Gegenteil! Während, solange der Gottesglauben nicht für politische Macht missbraucht wird und solange die Betenden Gott das letzte Wort sprechen lassen, das Wir des betenden Lobgesangs durch die Demut vor Gott am Hineinwuchern in die Totalität gehemmt wird, trägt das Wir des politischen Raumes – trotz aller »checks und balances« – immer schon den Keim des allumfassenden Kollektivs in sich, das sich abwechselnd »Volk«, Klasse, »Rasse«, Partei, Mehrheit oder auch Menschheit nennt. Deswegen wäre das einheitsstiftende Nachsprechen oder Mitsprechen der politischen Rede ein Zeichen gefährlicher Massensuggestion, des Wahns oder der Demagogie. Die politische Rede verlangt Widerspruch, Einspruch – gerade weil in ihr sich immer ein Wir formiert, das grauenhaft ein Ihr ausstößt. Das politische (oder öffentliche) Wort trennt, es eint nicht, denn immer bleiben Menschen unter seiner Gewalt, für die und denen es nicht gilt. Insofern muss es ein hoffnungsloses Unterfangen bleiben, eine Analogie zwischen Synagoge und Agora konstruieren zu wollen. Doch die Beziehung zwischen Du, Ich, Wir und Ihr schwelt gerade als politische Frage weiter. Wenn nun nach Abraham Heschel die Worte nicht nur im Gebet, sondern auch im Gedicht sprechen, wäre vielleicht einmal nach der Bedeutung der Poesie für das politische Miteinander zu fragen. Nicht dass im Lesen von Gedichten der Ausschluss des Ihr aufgehoben würde; aber die erwähnten Begriffe Beschränkung, Widerspruch und Nicht-Mitmachen könnten eben auch politisch gelesen werden als Beschränkung der Macht, Widerspruch gegen den grauenhaften Ausschluss des Ihr und Verweigerung gegen eine Sprache der Gewalt und der Verdinglichung. Keinesfalls wollen wir hier durch die »Hintertür« doch noch die politische »Umsetzung« des Sprachdenkens einfädeln. Aber einige Namen, in denen das Sprachdenken Rosenzweigs sich selbst aussagt, haben unserer Ansicht nach über den religiösen Bereich hinaus Bedeutung für das menschliche Zusammenleben: so z. B. das Über-sinnliche der Sprache oder das letzte Geheimnis der Sprache als das Sprechen der Worte. Und die Bedeutung des Gedichts für das Politische? Um nicht ein ganz neues Buch aufzuschlagen, wollen wir am Schluss nur – quasi fragmentarisch – ein paar Gedankensplitter zu dieser Frage ausstreuen. Dabei scheint es hilfreich – gerade eingedenk der Frage nach der Beziehung zwischen Du, Ich, Wir und Ihr –, noch einmal Levinas’ Unterscheidung zwischen Sagen und Gesagtem zu bemühen. A
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Der Dritte tritt auf – die Frage nach der Gerechtigkeit Das Sagen, so Levinas, gehe jedem Gesagten voraus, indem es eben nicht Thema, Mitteilung, Intention, Telos oder Kommunikation sei, sondern ein unvordenkliches sich Aussetzen, sich Öffnen dem Anderen gegenüber, reine Gabe. In diesem Sagen als Geben wird der eine zum Bürgen für den Anderen, erst im Sprechen mit dem Du kann sich ein Ich wahrnehmen: ich bürge für Dich, damit mein Ich ein von dir Angesprochener werde. Aber dieses sich dem Anderen Öffnen, das »Einer für den Anderen-Sein« ist – wie schon gesagt – noch keine Gemeinschaft im Sinne einer Polis. Diese entsteht nach Levinas erst, wenn der Dritte hinzu kommt. Nun gerät alles in Bewegung: in welchem Verhältnis stehen der Andere und der Dritte zueinander – und ich zu ihnen? Hat einer Vortritt vor dem Anderen? Hier ist implizit auch schon die Frage nach dem Wir und dem Ihr angesprochen. Statt der Bahn der Sprache zu folgen und das je neue Knüpfen und Lösen von Beziehungen zwischen Du, Ich, Wir, Ihr als unendliche Aufgabe des Miteinander-Sprechens aufzugreifen, setzen Politik und Philosophie ein weiteres Mal auf den Begriff, der in diesem Fall Gerechtigkeit heißt. Spätestens seit Platons »Politeia« scheint in ihr der Kern des Politischen sich zu manifestieren. Was sagt jedoch der Name Gerechtigkeit? Mithilfe eines abstrakten Begriffs soll offenbar ein »Problem« handhabbar werden. Damit besteht die Gefahr der Erstarrung des Zwischenmenschlichen, wie sie schon in der Starre des Begriffs sich ankündigt: nach Levinas führe die »Suche« nach der Gerechtigkeit zum »Vergleich des Unvergleichlichen, und somit zum Abwägen, Denken und Objektivieren«. 34 Anders gesagt: »das Sagen verfestigt sich zum Gesagten«. 35 Die Gerechtigkeit könnte dann missverstanden werden als Technik des sozialen Gleichgewichts, die als anonymes Gesetz über eine unpersönliche Totalität herrsche. Andererseits aber sei der Dritte ohnehin schon immer anwesend – auch im voranfänglichen Sagen zwischen dem Du und dem Ich, in dem der Eine für den Anderen bürgt. Denn: »In der Nähe des Anderen bedrängen mich auch all die Anderen, die Andere sind für den Anderen Emmanuel Levinas: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Verlag Karl Alber Freiburg 1998, S. 345 35 Ebd., S. 346 34
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… der Andere ist von vornherein der Bruder aller anderen Menschen.« 36 Insofern dürfe die Verantwortung für den Anderen, welche die Anderen des Anderen einschließt, nicht zu einer sozialen Technik verkümmern oder auf ein reines Kalkül reduziert werden. Weil die Brüderlichkeit der gattungsmäßigen Gemeinschaft vorausgehe, dürfe die Gerechtigkeit die Verantwortung für den Anderen nicht abschwächen. Im Gegenteil: Gerechtigkeit baue überhaupt erst auf der Beziehung zwischen einem Du und einem Ich auf, sie könne sich nur entfalten in einer Gesellschaft, die am Nächsten nicht vorbeigehe. Dennoch macht die Asymmetrie, die sich mit Eintritt des Dritten in das Verhältnis zwischen Zweien einschleicht, die Verfestigung des Sagens zum Gesagten anscheinend unvermeidbar. Levinas jedenfalls spricht davon, dass die abwägende und urteilende Gerechtigkeit die Thematisierbarkeit des Sagens erfordere. Er warnt davor, dass sich in der – politisch unvermeidlichen – Thematisierung das vorursprüngliche Sagen (als ein Geben, das sich zur Sprache bringt) in ein idealisiertes Gesagtes verwandle. Diese Warnung sollte zunächst als Aufgabe der Wachsamkeit gelesen werden, stets an die Spur des Sagens im Gesagten zu erinnern und sie nicht verglimmen zu lassen. Andernfalls liefen wir Gefahr, dass »sich in einem Gesagten alles für uns ausdrücken lässt, selbst das Unsagbare, doch um den Preis eines Verrats …« 37 (Der Satz fährt übrigens fort: … »den zu reduzieren die Philosophie aufgerufen ist«, wobei uns hier noch nicht die Frage beschäftigen soll, ob die Philosophie oder die Poesie). »Alles« ausdrücken oder sagen zu können bedeutet Verrat am Unsagbaren, am Göttlichen, am Undenkbaren, an dem Unvermögen, das uns vor der Verführung durch das Vermögen bewahren kann – Verrat auch am Über-sinnlichen der Sprache.
Der Sprache misstrauen Dieser Verrat fordert von uns Misstrauen gegen die Sprache – soll dies als Summa am Ende dieses Buches stehen, das den Titel »Der Sprache vertrauen« trägt? Wir hatten jedoch schon bei den ersten Schritten auf Rosenzweigs Bahn der Sprache dieses Misstrauen gegenüber einer 36 37
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Sprache angesprochen, die sich in Information, Kommunikation und Thematisierbarkeit erschöpft. Vertrauen hingegen gebe uns das Sprechen-Können als eine Annäherung an das Nicht-Sagbare – und schließlich jenes starke Bekenntnis Rosenzweigs, wonach das Wort Gottes und das Wort des Menschen das Gleiche seien. Levinas hat genau an dieser Stelle seinen »Einsatz« – denn das gerade gehörte Zitat zum »Verrat« bezieht sich auf Gott, der eben »nicht-thematisierbar« sei und in keine grammatische Kategorie passe. Misstrauen ist jedoch nicht nur geboten, sondern gefordert gegenüber der Anmaßung, alles sagen zu können. Und tatsächlich leben wir in einer Zeit, in der es scheinbar keine Grenzen des Sagbaren gibt – man spricht zwar nicht vom Sagbaren, sondern vom Kommunizierbaren und meint pausenloses Geschwätz. In der digitalen Welt erscheint nicht nur alles machbar, sondern auch alles »sagbar«. Jeder kann jedem eine »Botschaft« schicken, das Netz quillt über von virtuellem Buchstabenmüll. Dabei kehrt sich das Wort aus der Literatur um, wonach der Text den Autor spricht, denn nun be-spricht uns das Netz. Während wir meinen, über Suchmaschinen etwas zu suchen, werden wir längst selbst von diesen Maschinen gesucht und – gefunden. Das Gesetz des Marktes beherrscht längst die Sprache: wir finden für jedes Problem eine Lösung, für jeden Kundenwunsch das richtige Produkt. Warum also nicht auch das »richtige Wort«? Und so werden Worte zur Ware, zum Zeichen, zur Aufforderung mitzumachen, zum Unterdrücken des Zweifels, zur reinen Affirmation einer Welt des »Positiven« schlechthin. Beschränkung gibt es nicht mehr und Widerspruch scheint zwecklos. Wenn sich »Alles« sagen lässt, erlöschen irgendwann die Spuren des Sagens im Gesagten und die Sprache verfällt in die Verdinglichung, in der jedes Menschliche eliminiert wird, um unkenntlich zu machen, was den Menschen geschieht. Totalitäre Regime haben die Verdinglichung aufs Grausamste perfektioniert. So erfahren wir im Film »Shoah« von Claude Lanzmann, dass überlebende Juden von der SS geschlagen wurden, wenn sie die Ermordeten als »Tote« oder »Opfer« bezeichneten. Für die SS waren es »Figuren«, »Lumpen« oder »Dreck«. In seinem Buch »Das Menschengeschlecht« schreibt Robert Antelme, der selbst im KZ saß, dass man sich der Sprache verweigern musste, um nicht in das Spiel der Mörder, welche die Sprache längst in ein Instrument der Gewalt verwandelt hatten, verstrickt zu werden. Der französische Philosoph Maurice Blanchot kommentierte diese Verweigerung als Zurückhaltung der 272
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Sprache, oder als ein »Sprechen, indem man verweigert, sich aber vorbehält zu sprechen.« 38 Die stille Gegenwart des Nächsten als Sprache zu empfangen, die ungehört, unaussprechbar, und dennoch unaufhörlich sei, das Schweigen, die unendliche Stille des Wortes über die Gegenwart einer Sprache der Mörder zu stellen, im Schweigen zu sprechen, ohne dass man etwas hört, aber die Nächsten dennoch das Sagen darüber vernehmen, dass etwas unaussprechbar bleibt – um auf diese Weise in der stillen Gemeinschaft zu überleben? Antelme beschreibt schließlich den ungeheuren Druck, endlich sprechen zu können. In den ersten Tagen nach der Befreiung hätten alle unter einem »regelrechten Fieberwahn« gestanden, zu sprechen und endlich angehört zu werden. Aber dann passierte etwas: das Gesagte wurde soz. vom Sagen »eingeholt« – das vorher Unaussprechliche zeigte sich weiterhin oder erneut als unaussprechlich. Vermutlich, weil die Wenigsten etwas hören wollten, oder weil die Sprache immer noch gezeichnet war von der ihr angetanen Gewalt. Wahrscheinlich aber aufgrund der Furcht, dass das Geschehene im Gesagten – in der Information, der Kommunikation, dem Diskurs oder anderen Formen eines auf Thematisierung zielenden Zeichensystems – die Perversion der Verdinglichung fortschreibt und so auch den Menschen weiterhin Gewalt getan wird, den Über-Lebenden wie den Ermordeten. Die Scham davor, mit der sprachlichen Darstellung des Geschehens nicht nur etwas zu sagen, was unsagbar bleibt, sondern damit auch die Worte selbst zu entweihen. Antelme fasst die Unmöglichkeit des Sprechens in einem Satz zusammen: »Kaum begannen wir zu erzählen, verschlug es uns schon die Sprache.« 39 In einer Welt, in der sich alles ausdrücken lässt, verschlägt es uns immer seltener die Sprache. Die Scham zu sprechen scheint ausgelöscht, und das Verstummen im Wort als Zeichen der Schwäche. Hätten wir jedoch nicht allen Grund, auch heute uns der Sprache manches Mal zu verweigern, die als eine verdinglichte uns allerorten beherrschen möchte, während wir immer noch vorgeben, sie zu beherrschen? Natürlich leben wir nicht in einer politischen Diktatur, und schon gar nicht soll die heutige Gesellschaft mit dem Nationalsozialismus verglichen werden – sonst begingen wir selbst den Fehler, Alles Maurice Blanchot: Das Unzerstörbare, Edition Akzente, Carl Hanser Verlag 1991, S. 203 39 Ebd. 38
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mit Allem zu vergleichen. Aber der Zusammenhang zwischen Gewaltherrschaft und Sprache lässt sich am Beispiel der Nazi-Diktatur besonders dramatisch erhellen: denn offenbar war die Sprache der Demütigung, Gewalt und Vernichtung die letzte Stufe eines Weges, der mit Verblendung, Verführung, Vereinnahmung, Aus- und Abgrenzung sowie der Entlastung und Abschaffung des Gewissens begann. Letzteres setzt eine Sprache voraus, die Nähe in Ferne, Menschen in Dinge, Sinnliches in die Abstraktion einer hohlen Begriffsleere verwandelt.
Die Poesie Wäre es also an der Zeit, die Beschränkung und das Nicht-Mitmachen als ein erstes Verstummen neu zu lernen? Vertrauen in die Sprache zu gewinnen durch geübtes Schweigen und beredte Stille – also aus dem Verstummen heraus erst zu einem wirklichen Sprechen zu finden? Immerhin spricht Rosenzweig davon, sich das Stichwort vom Anderen geben zu lassen – dafür müssen wir selbst zunächst schweigen. Das Sprechen lebt erst vom Wort des Anderen her, das wir nur verstummend und schweigend hören können. Erinnern wir uns, wie Rosenzweig diese Methode in seiner Arbeit im Lehrhaus zuspitzte: erst die Anderen, die meine Aussage hören, würden den Sinn dieser Aussage bestimmen. Das Spätere – die Antwort des Anderen – also gäbe dem Früheren seinen Sinn. Dies eben geschieht auch im Gedicht: »… es endet wohl, hört aber nicht auf, es sucht ein anderes Gedicht in selbst, im Autor, im Leser, im Schweigen.« 40 Im Schweigen: wäre somit das Verstummen nicht die Geburt der – zumindest modernen – Poesie, die aus dem Verstummen heraus neue Worte finden oder sprechen lassen möchte, die noch nicht entweiht oder geschändet sind? Das Verstummen ist ja meist kein endgültiges, sondern es möchte sich in ein Sagen auflösen – ein Sagen, das auch Schweigen sein kann. Dies hätte mindestens dort einzusetzen, wo der Verrat am Unsagbaren droht, den Levinas der Philosophie aufgibt zu reduzieren. Gelingen könnte dies nur einer »Philosophie«, die Poesie wird und somit aufhörte, Philosophie zu sein. Womöglich hätte Levinas dem auf Nachfragen zuge-
Pedro Salinas nach Hugo Friedrich: Struktur der modernen Lyrik, Rowohlts Enzyklopädie 2006, S. 179
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stimmt. So sucht er in einem Kommentar zum Werk Maurice Blanchots nach der Gegend, in der die Poesie zu finden sei – als siedelnde oder nomadisch umherwandernde. Zunächst spricht er von einem Ufer, an das uns die Literatur (Poesie) wirft, »an dem kein Gedanke landen kann, sie mündet im Undenkbaren …« 41 Dem Denken – als einem denkenden Denken – wird im nicht-Landen-können der Boden entzogen, es irrt nomadenhaft umher, um schließlich in der Literatur einen Aufenthalt ohne Ort zu finden – damit aber ist »der Boden bereitet für das Umherwandern!« 42 Sprechendes, lesendes und schreibendes Umherwandern bedeutet unendliche Lektüre – zwischen den Splittern einer fragmentierten Sprache: »Oder lässt der Sinn die Sprache explodieren, um zwischen den Splittern Bedeutungen zu entfalten, jedoch geistig, wahrhaftig, ohne auf nachgelieferte Interpretationen zu warten … ?« 43
Wir erinnern uns an die unendliche Lektüre des Textes als Grundlage der jüdischen Hermeneutik – und an das Über-Sinnliche der Sprache. Demnach würden sich zwischen den Splittern nicht nur jeweils neue Bedeutungen entfalten (die sich nie an einem Ort aufhalten könnten), sondern ein »Sinn« jenseits jeder Bedeutung. Zeigt sich hier nicht die Spur eines »vorursprünglichen Sagens … das gegenüber dem Gesagten noch indifferente Sagen, das sich selbst zur Sprache bringt im Geben« … ? Im Sprechen dem Anderen kein Zeichen, sondern sich selbst als Zeichen geben – äußerster Einspruch gegen die Verdinglichung des Wortes. Und so sagt Levinas: »Schreiben hieße aufs wesentliche Sprechen zurückkommen, das darin bestünde, die Dinge aus den Worten zu entfernen …« 44 Von Dingen und Bedeutungen befreite Worte – erst dann sprechen die Worte selbst. Der Dichter hat deswegen auch keine Gewalt über sein Werk, vielmehr betrachten die Wörter den Schreibenden. Wieder geschieht die Umkehrung: das Spätere gibt dem Früheren erst einen Sinn, die Worte des Dichters schreiben ihn. Das heißt aber auch, alles bleibt Frage, das Sprechen bleibt im Fluss wie auch das DenEmmanuel Levinas: Maurice Blanchot – der Blick des Dichters, in: Eigennamen, Edition Akzente, Carl Hanser Verlag 1988, S. 30 42 Ebd., S. 37 43 Ebd., S. 45 44 Ebd., S. 30 41
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ken, »auch wenn die Gedanken dabei ertrinken«. 45 Das Sprechen im Fluss halten – damit auch das Widersprechen. »Wesentliches Sprechen« heißt Widersprechen und bedarf des Widerspruchs. »Das poetische Wort ist das, was sich selbst widerspricht.« 46 Das Wort, das sich selbst widerspricht, kommt dem wahren näher als die blanke Affirmation – wir denken an Adornos berühmte Wendung, wonach nur der Gedanke wahr sei, der sich selbst nicht versteht. Vor allem aber begegnet uns hier wieder das Wort, das spricht – als dasjenige, das sich selbst widerspricht. Kommen wir hier womöglich der Frage näher, ob Rosenzweigs letztes Geheimnis der Sprache die Konstellation des Miteinander-Sprechens auf der Agora verändern kann? Widerspruch hat statt im politischen Streitgespräch, im Diskurs von einander sich monologisch befehdenden Fechtmeistern der Rhetorik. Aber hier sprechen und widersprechen die Redner und Gegenredner, sie würden sich dagegen verwahren, dass nicht sie es sind, die sprechen, sondern das Wort. Wenn dieser Diskurs logisch, analytisch oder gar dialektisch ausgefochten würde, so wäre dies schon fast ein Ereignis. Meist jedoch erscheinen nur blasse Spuren dieser Diskursformen im rhetorischen Schlagabtausch der »Argumente« – diese WortZusammensetzung enthält das lateinische Mens (Maß, Geist), was wiederum das Abmessen, Vermessen, Abwägen und Kalkulieren zur Sprache bringt. Der diskursive Widerspruch also bricht keineswegs die Verdinglichung der Sprache auf. Er verbleibt vielmehr im Gesagten, in dem nur Behelfsbrücken vom Wir zum Ihr führen, die nach kurzem Gebrauch wieder abgerissen werden. Spüren wir aber – wie in der Poesie – dem Selbst-Widerspruch des Wortes nach, dann könnten wir Zeuge werden, wie sich das Wort selbst seiner Verdinglichung widersetzt – statt vom Diskurs verschlungen und ein sich selbst entfremdetes zu werden. In Levinas’ Zitat von den (sich) selbst (wider-) sprechenden Worten kommt auf knappste Weise zum Ausdruck, was Rosenzweig als den sinnlich-übersinnlichen Charakter der Sprache benannt hat. Das Wort greift über das Wort und seine einzelnen Bedeutungen hinaus, diesen und damit auch sich selbst widersprechend – aber immer in der Sprache. Ehrfurcht vor dem Wort Elazar Benyoetz: Die Eselin Bileams und Kohelets Hund, Carl Hanser Verlag 2007, S. 109 46 Emmanuel Levinas: Die Dienerin und ihr Herr, in: Eigennamen, Edition Akzente, Carl Hanser Verlag 1988, S. 50 45
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also gebietet es, dass wir dem Wort aufmerksam lauschen, wie es sich selbst spricht und widerspricht. Das Wort spricht, das Ich, das Wir und Ihr sind nur Gefäße, um den Schall der Worte zu tragen. Könnte diese ehrfurchtsvolle Scham dem Wort gegenüber auch auf der Agora Einzug halten? Dann wäre vielleicht das Streitgespräch nicht mehr eines, in dem es um den Machtanspruch der einen gegen die anderen in der Form des Rechthabens ginge, die lediglich auf parteiliche Entscheidung und Beschluss drängt. Ein Streitgespräch aber des Wortes mit sich selbst ließe uns zunächst als Zuhörer dabei sein. Könnten hier das Wir und das Ihr auf der gleichen imaginären Tribüne sitzen, den sprechenden und sich widersprechenden Worten lauschend? Während Entscheidung und Beschluss – wie auch die Partei (pars = Teil) – immer zwischen einem Wir und Ihr abtrennen und aufteilen, denn der Beschluss meint nichts anderes als die abschließende, sich schließende Begründung, die eben auch ein Ausschließen bedeutet, widerspricht das sich selbst widersprechende Wort gerade dem Schluss – ob als Abschluss, Ausschluss oder Beschluss. Jedoch auch kein Einschluss kann hier statthaben: so als ob die Tribüne, auf der Wir und Ihr gemeinsam dem Wort Gehör schenken, ein Raum des Konsens sei, dessen Mauern alle beide (Wir und Ihr) umschlössen. Nicht nach Konsens ist gefragt, um der Grauenhaftigkeit des Ihr zu wehren, sondern nach dem gemeinsamen Sprachvertrauen von Wir und Ihr, in dem das sich selbst wieder sprechende und widersprechende Wort das Sprechen im Fluss, in der Schwebe und so diesseits von Beschlüssen hält. Jegliche von Entscheidungen und Beschlüssen geschlossene Mauern und Türen werden auf diese Weise für die Begegnung zwischen dem Wir und dem Ihr geöffnet. Es geht nicht – wie in der Synagoge – darum, das Ihr in das Wir hineinzuholen. Was auf der Agora jedoch als Möglichkeit erscheint, wenn die verdinglichte Sprache durch das sich selbst wider-sprechende Wort aufgebrochen wird, ist die Erstarrung einer Einteilung der Gemeinschaft in unverbrüchliche Wir- und Ihr-Teile. Wenn die Zuhörer auf der imaginären Bühne der Worte selbst zu sprechen beginnen und sich dabei der Kraft der sich selbst sprechenden Worte hingeben statt sie zu ersticken (Sagen statt Gesagtes), dann kann sich zwar die Spannung zwischen einem Wir und einem Ihr im Sprechen und Widersprechen der Worte je neu aufbauen, aber wer heute Ihr heißt, kann sich im nächsten Moment schon ein Wir nennen und umgekehrt – jedes Wir wird immer auch zugleich ein Ihr sein und umgekehrt. A
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Die vielfältigen Bewegungen der Umkehr in dem sich selbst widersprechenden Wort lassen in ihrer je neu anhebenden Unabgeschlossenheit das Unsagbare und Undenkbare (wohin die Literatur führen soll) durchscheinen. Am Undenkbaren aber zerschellt die Macht zwar nicht als physische Gewalt, aber indem der Widerspruch des poetischen Wortes sich im Widerstand der Nein-Sager manifestiert, öffnet das Undenkbare die Tür zum inneren Raum des nicht Verfügbaren und nicht Zwangsläufigen. Wahrhafte Kritik kann nur aus dem Unsagbaren leben, nicht indem sie es sagt, sondern sagt, dass es unsagbar ist. Auch der Widerstand – ob ziviler Ungehorsam, schlichte Weigerung des Mitmachens oder aktiver bis passiver Widerstand – kann erst wirksam sich entfalten, wenn das Unsagbare und Undenkbare sich als geistige Kraft gegen das Bestehende behaupten. Dies aber kann nur aus einer Sprache heraus gelingen, die sich der Verdinglichung widersetzt – so schafft der Widerstand sich auch stets eine eigene Literatur und Poesie. In diesem Sinne ist häufig schon der Akt des vielfältigen gewaltlosen Widerstands – vom Sich-Entziehen, Verweigern und Nicht-Mitmachen bis hin zur überraschenden politischen Aktion – in seiner Natur poetisch, gegen den die verdinglichte Sprache der Macht des Bestehenden sich hilflos erweist. Das ganz und gar Unerwartete, Überraschende, ja geradezu Übertölpelnde eines politischen Widerstands, der aus dem »poetischen Widerspruch« erwächst, kann zuweilen Gesetzgeber oder Machthaber derart verunsichern, dass sie den Knüppel der Gewalt müde im Halfter lassen. Dies sind die Momente, in denen wirklich »etwas geschieht«. Weil die Gewalt des Bestehenden immer als eine gegen die Sprache beginnt, indem sie diese verdinglicht, bedürfen wir der »sich selbst sprechenden Worte«. Da sich in heutiger Zeit nur wenige Menschen auf das Gebet verstehen, bedarf es umso mehr der poetischen Worte. Oskar Pastior hat dieses Bedürfen so benannt: die Poesie solle Leser oder Hörer hellhörig machen für Differenzierungsmöglichkeiten, »damit jeder zu seiner eigenen Sprache finde, um nicht auf Hüte, die angeboten werden (von Ideologien und deren Medien) hereinzufallen«. 47 Wir dürfen das vielleicht Wichtigste in diesem Zitat nicht übergehen: jeder Text, nicht nur die Ideologien, sei notgedrungen ein solcher Hut, auch sein eigener … der Dichter fordert Widerspruch gegen sein eigenes, sein poetisches Wort. 47
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Oskar Pastior: Das Unding an sich, Edition Suhrkamp 1994, S. 43
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Der Sprache vertrauen setzt ein Misstrauen voraus – ein Misstrauen gegen das Gesprochene als Thema und Mitteilung, aus dem ein Vertrauen in das Sprechen je neu erwächst. Beginnen kann dieses Wechselspiel des Trauens nur in der trauten Gemeinschaft von Zweien – dies lernen wir von Rosenzweig. Anders gesagt: denken wir zurück an die Gleichzeitigkeit von Offenbarung, Angesprochensein, Entdeckung des Ich im Du und der Liebe. Ihrer bedürfen sowohl Synagoge wie Agora. Den weltlichen Bezug seines Werks schafft Franz Rosenzweig denn auch wiederholte Male selbst. Hören wir deswegen, wie das Kapitel zur Erlösung im »Stern« in einem nicht zu überbietenden Bekenntnis zur Diesseitigkeit der Liebe endet: »Aber frei gegen dieses stille, selbsttätige Wachstum der Schöpfung bleibt das Liebeswerk des Menschen auf der Erde; er wirke es, als ob es keinen Schöpfer gäbe, keine Schöpfung ihm entgegenwachse: Die Himmel sind des Ewigen Himmel, aber die Erde gab er den Menschenkindern. Den Menschenkindern – nicht der Gemeinde Israels; in der Geliebtheit und im Vertrauen weiß sie sich allein, in der Tat der Liebe weiß sie sich nur als Menschenkinder schlechtweg, kennt sie nur den Irgendjemand, den anderen schlechtweg – den Nächsten.« 48
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Während der Arbeit an diesem Buch bin ich immer wieder Menschen begegnet, in deren Bücherregal »immer noch« Rosenzweigs »Stern der Erlösung« steht. Das »immer noch« bezieht sich selbstredend auf die reuevoll zugegebene Nachlässigkeit, »ihn« noch nicht gelesen zu haben. Aber immerhin stünde der »Stern der Erlösung« doch ganz oben auf der Liste der noch zu lesenden Bücher. Rosenzweig ist also präsent, mehr als man vermuten darf. Das Zögern, den offen sich darbietenden Text des »Stern« in die Hand zu nehmen und sich auf ihn einzulassen, wird meist damit begründet, dass Rosenzweigs Text sperrig oder »dunkel« sei, sehr anspruchsvoll, auch mehr religiös als philosophisch und irgendwie »überholt«. Summa summarum also könnte man diese Einwände so zusammenfassen, dass Rosenzweigs Werk lebensfern sei. Nichts verfehlte mehr den Sinn dieses Werks – lesen wir nur die letzten Worte des Stern: »Wohinaus aber öffnen sich die Flügel des Tors? Du weißt es nicht? Ins Leben.« Das »Tor« trennt das »göttliche Heiligtum« vom »menschlichen Leben« – auch das Buch lebt auf der Schwelle zwischen beiden, und wird so auf seine Weise zum »Tor«, das den Leser ins Leben entlässt. Dazu sagt Rosenzweig im »Neuen Denken«: »Hier schließt das Buch. Denn was nun noch kommt, ist schon jenseits des Buchs, »Tor« aus ihm heraus ins Nichtmehrbuch … ein Aufhören, das zugleich ein Anfangen ist und eine Mitte: Hineintreten mitten in den Alltag des Lebens … das Buch ist kein erreichtes Ziel, auch kein vorläufiges. Es muss selber verantwortet werden … diese Verantwortung geschieht am Alltag des Lebens … Um ihn als Alltag zu erkennen und zu leben, musste der Lebenstag des All durchmessen werden«. 1
Leben und Lesen werden in diesen Worten Rosenzweigs fast zu einem Synonym – wie es die deutsche Sprache uns ja auch unmittelbar zu Franz Rosenzweig: Das neue Denken, in: Zweistromland, Philo Verlagsgesellschaft 2001, S. 232/233
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Gehör bringt. Vielleicht laufen in diesem Synonym sogar alle Stränge des Sprachdenkens oder Bahnen der Sprache, denen wir gefolgt sind, zusammen. Das Lesen des Buchs jedenfalls hat sich am und im Alltag des Lebens zu bewähren – der sich am Lebenstag des All erst erfüllt. Was bedeutet aber hier das mehrfache »All«? Was alle Tage geschieht, ist alltäglich – der Alltag also bedeutet die Routine des ewig gleichen Einerlei. Im Lebenstag des All durchdringen sich Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft und Ewigkeit, denn in ihm wird das All – Bahn der Sprache, Bahn von Schöpfung. Offenbarung, Erlösung – durchmessen. In dieser Durchdringung aller Zeitlichkeit mit der Zeitlosigkeit wäre der Lebenstag des All ein anderer Name für Zeitaufhebung oder Unterbrechung der chronologischen Zeit. Gelänge es, im Alltag den Lebenstag des All zu erleben, dann könnte das nicht-Alltägliche – die Zeitaufhebung – den Alltag auf eine Weise durchdringen, die noch aus dem Alltäglichen die Funken des Nicht-Alltäglichen schlägt. Rosenzweig geht es also nicht um theoretische Erkenntnis, sondern um praktisches Handeln und damit um ein anderes Leben im Alltag – ein Leben, welches sich der stumpfsinnigen Wiederholung und der Verdinglichung in den Beziehungen zwischen Mensch, Welt und Gott jeden Tag widersetzt. Zeitgewinn wäre das Geschenk dieses Alltags – wie jeder Einzelne dies für sich annimmt, wird sich immer auf vielfältige und je eigene Weise zeigen. Das Tun im Nicht-Tun, das Warten auf das Warten als Öffnung für die Möglichkeit eines ganz Anderen sind verschiedene Namen für das Geschenk der Zeit. Das sprechende Denken erweist sich dabei als Tor zum »Jenseits des Buchs«: Wenn Sprechen ein Öffnen auf das Unerwartete hin bedeutet, dann unterbricht es die Routine des schon Erwarteten oder eben das Alltägliche, indem es das Tor zum Lebenstag des All hin öffnet. Die Dinge sprechen lassen, als sprächen sie zum ersten Mal; den Mückentanz ihrer Möglichkeiten und die Erzählung ihres Gewordenseins immer neu sprechen lassen, statt die Dinge zu vereinnahmen – dann sind es niemals immer wieder dieselben schon bekannten Dinge, sondern die immer zum ersten Mal besprochenen und sprechenden, zu denen wir uns öffnend in Beziehung setzen. Wenn jedes Gespräch Offenbarung sein kann, dann bedeutet auch dieses eine »Unterbrechung der Ordnung«, einen augenblicklichen Bruch oder Riss in der »normalen« Zeitfolge. Für den gläubigen Menschen ereignet sich diese Unterbrechung des Alltags im Gebet. Darüber hiA
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naus aber ließe sich die Unterbrechung allgemein als ein »anderes Tun« verstehen – nicht als ein aktives Herbeiführen-Wollen von etwas Bestimmtem, nicht ein Getriebensein nach vorn, sondern als Innehalten, Verzögerung, Zeitaufschub oder Zeitaufhebung. Statt der Jagd nach Wissen und Erkenntnis, nach Einfluss und Besitz sowie Beherrschung der Zukunft heißt »Vertrauen in die Sprache«, dass wir lernen, wann wir schweigend und hörend warten, wann wir antwortend sprechen und wie wir die Worte fein wägen und nicht schänden. Wie und wann sprechen wir warum zu wem? Hierin wird die Frage nach Bewähren und Bezeugen gestellt – beides geht über faktisches Wissen und begriffliche Erkenntnis hinaus, und beides bedarf der Zeit und des Anderen. Zeugnis ablegen nicht für sich, sondern für den Anderen: sich dem Anderen geben, im Wort zu ihm übersetzen, das ihn freisetzen kann aus der Verdinglichung. Wer Zeugnis ablegt, bezeugt die Schwierigkeit, Unmöglichkeit und Notwendigkeit des Bezeugens – damit schreibt er die Bahn der Sprache fort, auf dass Andere auf ihr lesen und gelesen werden können. Dies gelingt zuvörderst in einem Sprechen, das jeden Augenblick neu anhebt und damit den Augenblick selbst – in der »allzeit erneuerten Geburt der Seele« – dem Alltäglichen entreißt und so im Alltag den Lebenstag des All bewährt. Zeitaufhebung im alltäglich-ewigen Augenblick wird so zum Zeitgewinn im Alltag.
Danksagung Auch das vorliegende Buch ist in einem Geschehen der Zeitaufhebung entstanden – aus der all-täglichen Bewährung des Zeugnis gebenden Zwiegesprächs. Damit geht es über das Buchsein im wissenschaftlichen und philosophischen Sinn hinaus. Wäre es nicht auch seltsam, wenn ein Buch, das unter dem Namen Sprachdenken sich dem Hören, Antworten und Zwiegespräch widmet, seine Entstehung der einsamen Abgeschiedenheit monologischen Denkens verdankte? Und so sind in den Text die Pfade eines über Jahre fortdauernden Gesprächs eingeschrieben, das täglich am frühen Morgen auf dem Gang zur Arbeit sich ereignete und täglich unterbrochen wurde (Bruch und Aufhebung der Zeit) – ein Gespräch mit meinem damaligen Kollegen und heutigen Freund Dr. Burkhard Talebitari, der – selbst Autor und Leser – mich zuerst auf die Spur von Rosenzweigs Sprachdenken geleitet hat. Einer 282
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solchen »Leitung« bedurfte es, nachdem ich selbst die ersten Schritte unternommen hatte, den Denk-Käfig geschlossener Systeme zu verlassen. Die Suche und das Fragen in der Welt außerhalb des Käfigs nahmen kein Ende – und sie nehmen es dank des eingeschlagenen Wegs bis heute nicht. Burkhard hat durch geduldiges Fragen und Antworten zur Entstehung dieses Buchs maßgeblich beigetragen, wenngleich ich ihm keine Zeile bisher zu lesen gab, denn ihm wollte ich, in Kenntnis seiner liebevollen Hingabe an Sprache, die Mühsal schier endlosen Redigierens ersparen und dem Buch Gelegenheit geben, bei aller Unfertigkeit »fertig« zu werden. Gelesen haben – in verschiedenen Phasen des Werdens – Andere, jede und jeder auf ihre Art: Dr. Roberta Pasquare akkurat, Dr. Gabriele Gehlen streng, Bettina Klix ehrfürchtig, Katrin Funke einfühlsam sowie Dr. Reinhard Hildebrandt herzhaft ermunternd – Ihnen allen sei dafür ausdrücklich gedankt. Schließlich danke ich Dr. Patrick Grete, der – als »fachfremder« Naturwissenschaftler – in bewundernswerter Arbeit jedes Kapitel kritisch und Satz für Satz gelesen und Fragen über Fragen aufgeworfen hat, mich vor manchen sprachlichen oder denkerischen Kapriolen gewarnt hat, vieles zum Lachen und manches sogar zum Loben fand. Zwei Wissenschaftler von Rang haben mich ferner ermutigt und angeregt: zum einen der Berliner Philosoph Prof. Dr. Volker Gerhardt, dem es aus der Fülle seiner Kenntnisse einer auch über die Antike und Europa hinausweisenden philosophischen Tradition heraus immer ein Anliegen war, die Beiträge jüdischer Denker mehr als bisher zu würdigen. Er hat mir zu Beginn meiner Arbeit wertvolle methodische Hinweise gegeben und mir durch sein Vertrauen in meine Möglichkeiten einen Teil des »langen Atems« gegeben, um manche Durststrecke auf dem Weg des Schreibens zu überwinden. Zum anderen schließlich Prof. Eveline Goodman-Thau: sie, die 1934 in Wien geboren wurde und 1938 mit einem Teil der Familie nach Holland floh, ist selbst Zeugin der Vernichtung des europäischen Judentums. Aus dieser Zeugenschaft heraus gilt ihr seit Jahren unermüdliches Bestreben einer Erneuerung jüdischen Denkens in Europa. So gibt sie Zeugnis von Untergang und Überleben, vom Bruch und Exil – und vom Über-setzen über den Bruch in den alten und den modernen Texten der jüdischen Tradition. Dabei setzt sie selbst stets neu über – von Israel nach Europa und von Europa nach Israel, auf der »Wanderschaft« zwischen Tradition und Moderne, nicht zu vergessender Vergangenheit und täglich zu bewirkender Zukunft. Sie hat mir nicht nur A
Der Sprache vertrauen – der Totalität entsagen
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Jenseits des Buches und Danksagung
viele wertvolle Einsichten in das jüdische Denken gegeben, sondern auf zahllosen von ihr ausgerichteten Tagungen habe ich erlebt, wie sie mit Herzensbildung und der Kunst des Erzählens Menschen begeistert und so scheinbar Verlorenes lebendig werden lässt. Auf diese Weise wurden mir Rosenzweig, Cohen und andere jüdische Denker selbst zu »lebendigen« Menschen, als wären sie gute Freunde. Natürlich ließe sich die Reihe der Danksagungen fortsetzen – aber vielleicht hilft denen, die nicht erwähnt wurden, eine Einsicht des Sprachdenkens, wonach das im Text nicht Gesagte ihn genauso erfüllt wie das Gesagte.
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ALBER PHILOSOPHIE
Frank Hahn
https://doi.org/10.5771/9783495998526 .
Personenregister
Adelmann, Dieter 30 f., 61 Adorno, Theodor 12 f., 68, 91, 110, 133, 209 f., 276 Arendt, Hannah 14, 98 f., 105 f., 110, 143, 241, 261 Benjamin, Walter 8, 17 Benyoetz, Elazar 55, 70, 276 Blanchot, Maurice 272 f., 275 Bloch, Ernst 8, 10 Blumenberg, Hans 106, 195 Buber, Martin 21, 50, 112, 115, 147, 254 Casper, Bernhard 21, 146 f., 258 Cassirer, Ernst 8–10 Cusanus, Nicolaus 65, 67 Derrida, Jacques 72, 129, 133, 185, 205 Ebner, Ferdinand 21, 115, 147 Ehrenberg, Hans 21, 75, 115 Ehrenberg, Rudolf 21, 75, 115 Fichte, Johann Gottlieb 7, 16, 39 f., 50, 90, 166, 171, 202 Feuerbach, Ludwig 50, 115 Gerhardt, Volker 24 f., 149 f., 283 Goodman-Thau, Eveline 111 f., 203, 205, 283 Hamann, Johann Georg 19, 59, 102, 117 f., 147, 171 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 7–11, 15 f., 24, 29, 32, 61, 67, 75, 78 f., 81 f., 89–94, 102, 107, 166 f., 210
Heraklit 117, 119 Heschel, Abraham 21, 138, 259–261, 264, 269 Humboldt, Wilhelm von 50, 101, 118 f., 122, 131 f., 147, 150, 159, 171, 201, 252–254, 256 Jabes, Edmond 70, 203 f., 226 Jacobi, Friedrich 50 Kafka, Franz 194, 196 f., 199 Kant, Immanuel 8 f., 11, 16, 18 f., 23– 25, 30, 39, 47, 64, 75, 82, 84, 90, 92, 94–97, 100–102, 145–152, 157, 161– 163, 166 f., 249 Kierkegaard, Sören 79 Leibniz, Gottfried Wilhelm 23, 65, 153 Levinas, Emmanuel 21, 24–27, 50, 58, 72, 74, 129, 150, 182, 191, 197, 208 f., 217, 226–236, 264–266, 269–272, 274–276 Liebrucks, Bruno 135 f. Lippe, Rudolf zur 263 f. Lyotard, Jean-Francois 205 Mendelssohn, Moses 32, 34, 53, 101 Nietzsche, Friedrich 29, 80–82 Parmenides 66, 79, 89 f. Pastior, Oskar 278 Platon 31, 36 f., 52, 61, 64, 66 f., 80, 270
A
Der Sprache vertrauen – der Totalität entsagen
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Personenregister Rosenstock-Huessy, Eugen 10, 16–18, 21, 29, 50, 75, 115–118, 143, 145, 168–173, 179, 182, 231, 242 Schopenhauer, Artur 29, 79 f., 82 Schulz, Bruno 126 f. Sholem, Gershom 7 f., 60 f., 127
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Sokrates 19, 36, 77, 217, 259 Wassermann, Jakob 214, 216 Weinreb, Friedrich 128–131 Weizsäcker, Viktor von 10, 115, 150, 196 Wiehl, Rainer 141, 143, 245 f.
ALBER PHILOSOPHIE
Frank Hahn
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