Der socialismus und seine Gönner: Nebst einem Sendschreiben an Gustav Schmoller [Reprint 2021 ed.] 9783112399224, 9783112399217


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Der socialismus und seine Gönner: Nebst einem Sendschreiben an Gustav Schmoller [Reprint 2021 ed.]
 9783112399224, 9783112399217

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Der

Socialismus und seine Gönuer. Nebst

einem Sendschreiben an Hustav SchmoLer. Von

Heinrich von Trettschke.

Berlin. Druck und Verlag von Georg Reimer.

1875.

Vorbemerkung Die

bereits

beiden ersten

der nachstehenden Abhandlungen sind

im vergangenen Jahre zweimal gedruckt worden:

in

den Preußischen Jahrbüchern und in der Sammlung „Zehn

Jahre Deutscher Kämpfe."

Inzwischen hat Gustav Schmoller

durch die Schrift „über einige Grundfragen des Rechts und der Volkswirthschaft" meine Ansicht zu bekämpfen gesucht und

mich genöthigt, in den Jahrbüchern das früher Gesagte durch

einen dritten Aüfsatz zu vertheidigen und

zu erläutern.

der Streit in manchen Kreisen Theilnahme

erregt,

Da

und die

Schmoller'sche Schrift als selbständiges Buch erschienen ist, so hat der Herr Verleger auf meinen Wunsch sich

entschlossen,

die drei Aufsätze durch den vorliegenden Abdruck auch solchen Lesern zugänglich zu machen, denen weder jene Sammlung noch

die Preußischen Jahrbücher erreichbar sind. Berlin 5. Juni 1875.

T.

I. Die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft. 20. Juli 1874. Die Engländer preisen, nicht ohne Verwunderung, an ihrem Robert

Peel, daß ein beständiger Drang des Zweifels und der Selbstprüfung, an active doubt, in ihm lebendig gewesen; sie bezeichnen damit eine

der höchsten und seltensten Tugenden des Politikers.

Auch dem begabten

Menschen fallt es schwer, gleichen Schritt zu halten mit dem Leben seines Volkes; immer von Neuem tritt an ihn die Pflicht heran sich ernstlich

zu fragen, ob er in Wahrheit noch ein Bürger sei der Welt, die ihn unt= giebt.

Zumal die alltäglichen- Erscheinungen des socialen Lebens, die

Berkehrsformen

und

Standesgewohnheiten,

darin

wir

ausgewachsen,

schmeicheln sich uns ein wie ein willkommener Zwang des Schicksals.

Wer

in diesem Zeitalter heißer Arbeit mit kräftigen Ellenbogenstößen, mit der

Gewissenlosigkeit des Handelnden sich Bahn bricht durch das Gedränge des Wettbewerbs, der wird kaum jemals auf den Zweifel verfallen:

ist

die Vertheilung der Güter, die Gliederung der Gesellschaft, der ich meine

sociale Macht danke, auch gerecht und den sittlichen Ideen des Jahrhun­ derts gemäß?

Anders der stille deutsche Gelehrte.

Lenkt er einmal seine Blicke

auf die schweren Gebrechen und Widersprüche unseres socialen Lebens, so kann ihm jener thätige Zweifel, der den Mann der Geschäfte selten be­

rührt, leicht zur gefährlichen Versuchung werden.

Seine philosophische

Bildung drängt ihn, die Grundbegriffe seiner Wissenschaft mit dem Pfluge

der Kritik täglich umzuackern;

sein reiches Wissen bietet ihm eine Fülle

entgegengesetzter Gesichtspunkte, unheimlicher historischer Parallelen, bis schließlich der Boden unter seinen Füßen schwankt und der vielgestaltige ». Treitschke, Der Socialismus und feine Gcnncr.

1

2

I.

Die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft.

Wunderbau der modernen Gesellschaft, das Werk der Arbeit reicher Jahr­ tausende, ihm nur als ein Zustand gräulicher Verwesung erscheint.

Der

leidenschaftliche Parteikampf, welcher heute die deutsche nationalökonomische

Wissenschaft bewegt, zeigt genugsam, führt.

wohin solche maßlose Zwcifelsucht

Besonnene Gelehrte wetteifern beharrlich neue „Fragen" aufzu-

werfen, die Niemand zu beantworten weiß.

Männer der Bkittelparteien

erproben ihren Scharfsinn durch schoiningsloses Berdammcn unserer socialen

Ordnung, reden über Alles was besteht mit einer ingrimmigen Bitterkeit,

die wir sonst nur aus dem Bkunde der Demagogen zu vernehmen pfleg­ ten.

Der Schopenhauersche Pessimismus — diese Modethorheit unserer

Tage, die ihre jämmerliche Willensschwäche durch maßlosen Dünkel zu verdecken sucht — brütet über willkürlichen Geschichtskonstrnktionen, stellt dem Bolke Kants und FichteS den Werdegang der Menschheit als eine

ewige Krankheit dar und verleitet die Nationalökonomen zu einer volkSwirthschaftlichen Erbsündenlehre, die um Nichts fruchtbarer tuib um BieleS

trostloser ist als die theologische.

Am letzte» Ende dieut dieses Heer von

Anklagen, daS sich gegen die bürgerliche Gesellschaft heranwälzt, doch nur als bequeme Flankendeckung für die Bestrebungen der Socialisten, der ge­

schworenen Feinde jeder edlen Gesittung. Eine grundtiefe Umwälzung, wie sie Deutschland erst einmal in den Tagen Luthers erlebte, ist über unser Volksleben hereingebrochen.

Wir

sind mit einem kühnen Sprunge aus der Dürftigkeit der Kleinstaaterei in

die großen Verhältnisse des nationalen Staates hinübergetreten; wir haben die ungeheuren wirthschaftlichen Kräfte dieser Nation zu freiem Wettbewerb

entfesselt, und während wir soeben zum ersten male ganz verstehen, was

Geldwirthschaft ist, überrascht uns bereits die Wirthschaftsform der Zukunft, die Creditwirthschaft, durch eine Fülle neuer Gebilde.

Diese plötzliche Er­

schütterung aller alten Ordnung und das entsetzliche Elend,

womit die

Völker stets den Uebergang zu neuen Wirthschaftsformeu erkaufen müssen, haben den modernen Socialismus aus seiner französischen Heimath auf unseren Boden hinübergelockt. kein wahrhaft neuer,

Noch ist der deutschen Socialdemokratie

fruchtbarer Gedanke entsprungen, Nichts was nicht

schon in Frankreich durch Wort und That seine Widerlegung gefunden

hätte.

Aber die Führer des Socialismus gebieten über eine prahlerische

Zuversicht, die in der Geschichte deutschen Parteilebens ihres Gtekchen nicht findet; sie erklären mit so hartnäckiger Frechheit Schwarz für Weiß und

Weiß für Schwarz, daß der harmlose Zuhörer sich unwillkürlich fragt, ob

er sich nicht vielleicht doch geirrt habe.

Sie kennen als erfahrene De­

magogen das Gemüth der Massen, das Verlangen des kleinen Mannes

I. Die Grundlagen der blirgerlichen Gesellschaft.

3

nach einer festen, sicheren, zweifellosen Autorität, die ihm imponirend ent­

gegentritt; sie wissen, daß man dem Bolke den Glauben an ein besseres

Jenseits nur dann zu rauben vermag, wenn man ihm ein feistes Diesseits in nahe Aussicht stellt, und schildern darum den baaren Unsinn, das faule

und satte Schlaraffenleben der Zllkunft in so bestimmten Umrissen, mit so brennenden Farben, als ob ein Zweifel gar nicht denkbar sei.

Der leitende Gedanke der ganzen Richtung ist unverkennbar die nackte Sinnlichkeit, die grundsätzliche Verleugnung Alles dessen, was den Men­ schen über das Thier emporhebt; ihr Glaubensbekenntniß — jenes classische

Wort, das kürzlich im „Volksstaat" zu lesen stand:

„Entweder es giebt

einen Gott, dann wären wir freilich geleimt: oder eS giebt keinen Gott, dann können wir an dem Bestehenden ändern so viel Während die unseligen

uns

beliebt".

also zu der niedrigsten Stufe

Menschen

des

Denkens, die ein vernünftiges Geschöpf erreichen kann, herabgesunken sind, verkündet Herr Hasenclever feierlich, er stehe auf der Höhe der Idee und die Waffen des Klassenstaats würden niemals zu

ihm hinauf reichen.

Widerspricht nun ein ehrlicher Mann, der ernsthaft an sich selber gearbeitet und darum mit Demuth seine eigene Kleinheit fühlt, mit Ehrfurcht die

Gebilde einer tausendjährigen Geschichte betrachtet, so donnern ihm die

Weltbeglücker barsch entgegen: Die träge Welt hat noch jede neue Wahr­

In tausend Formen wiederholen sie

heit zuerst als Narrheit belächelt!

die alte Gotteslästerung Beranger's, die einst Louis Blanc in der Lite­

ratur des Socialismus eiubürgerte:

De la croix que son sang inonde un fou qui meurt nous 16gue un Dieu!

Nicht Jedermann findet auf solche Prahlereien die trockene Antwort, daß die träge Welt nicht blos neue Wahrheiten, sondern auch alte Narrheiten,

die sich für neue Wahrheiten ausgeben, zu belächeln pflege, und daß es dem Propheten obliege Recht und Sinn seiner frohen Botschaft zu beweisen.

Auf das arglose Gemüth des Gelehrten macht die diktatorische Zu­ versicht der socialistischen Apostel doch einigen Eindruck.

Er sagt sich, daß

wir Gebildeten in diesem Zeitalter reflektirter Bildung von dem Gemüths­

leben der Massen leider sehr wenig wissen, er sieht in den tobenden Volks­

versammlungen

der

Socialisten

Macht er nicht zu berechnen weiß.

elementarische Kräfte entfesselt,

deren

Er nimmt die Prahlereien der De­

magogen für baare Münze und glaubt treuherzig, daß wirklich die „un­

gezählten Hungerbataillone des deutschen Reichs",

Mann, hinter diesen Schreiern stünden.

entschlossen wie ein

Aus den Reihen der Stände,

welche unter der wirthschaftlichen Krisis der Gegenwart

am schwersten 1*

4

I. Die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft.

leiden, der gebildeten Mittelklassen, dringen bittere und nur zu berechtigte Klagen an sein Ohr; so redet er sich ein, der Glaube an die Grundlagen aller bürgerlichen Ordnung sei in seinen Tiefen erschüttert.

Uni nur nicht

luigerecht zu werden gegen eine Richtung, deren bodenlose Gemeinheit er

im Stillen ahnt, kommt er den Gegnern Schritt für Schritt entgegen und verhandelt so lange mit ihren Borposten, bis die Führer, die über den harmlosen Mann sich in'S Fäustchen lachen, ihn mit ihren Truppen um­

stellt haben und er mitten im Lager der Feinde steht.

Dazu die Furcht

vor den gestaltlosen Schreckbildern einer ungehellren Zukunft.

Wenn

unsere besitzenden Klassen unleugbar oft durch ihre Gleichgiltigkeit gegen

das LooS der Arbeiter gefehlt haben, so stehen wir heute im Begriff, durch die Angst vor den Massen uns noch weit schwerer zu versündigen.

Ein sehr wohlmeinender und sehr frommer Gelehrter, E. Kuntze verkündet soeben in einer Schrift über die „sociale Frage" als ganz unzweifelhaft: die internationale Socialdemokratie müsse, die Grenzen aller Länder durch­

brechend, ringsum in Europa zur Herrschaft gelangen, und zuletzt werde

eine weltbürgerliche Tyrannis, ein modernes Eäsarenthum, die Besitzen­

den von der Herrschaft des Pöbels erlösen,

alle Europäer gleichmäßig

unter ihr eisernes Joch beugen. — Und dies in dem glorreichen Jahr­

hundert,

das

die

Einheit Deutschlands

und

Italiens

wieder

aufer­

stehen sah! Nein, wahrhaftig nicht mit dieser Seelcnangst strümpfestrickender Bet­

schwestern darf ein Volk, das soeben in drei Kriegen seine sittliche Kraft bewährt hat, in seine große Zukunft schallen.

Solche nervöse Furchtsam-

keit trägt die Hauptschuld an jener Berwirrlnig aller wissenschaftlichen und

sittlichen Begriffe, die wir heute auf dem Gebiete der BolkSwirthschaft

befremdet wahrnehmen.

Schon gilt es für unziemlich dein

Verbrechen mit sittlichem Ernst engegenzutreten.

offenbaren

Wenn der große Volks­

mann X. mit der üblichen rüpelhaften Betonung n«ir trellherzig erklärt,

er denke zur rechten Stunde unsere Paläste und Akademien mit Petroleum

anzllfeuchten — so darf ich ihm nicht ebenso treuherzig erwidern: „großer

Mann,

ich finde das niederträchtig imb werde mich nöthigeufalls zur

Wehre setzen".

9hir ein geistloser Mensch oder ein hartherziger Krämer

mag sich solche Antwort erlauben.

Ich bin vielmehr verpflichtet anzuer­

kennen, die unholde Schale jener Drohungen umschließe einen edlen Kern

»inergründlicher social-politischer Weisheit — nur schade, daß besagter

BolkSmann

diese

Weisheit

als

elende Bourgeois-Halbheit entschieden

verdammt.

Sollen wir fortfahren, durch ganze uud halbe Zugeständnisse die

5

I. Die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft.

Feinde aller idealistischen Bildung täglich ;u ermuthigen?

Eine Gesell­

schaft, welche nicht die Grlmdgedanken ihrer wirthschaftlichen Ordnung als

unantastbar ansieht, verliert zuletzt jede Kraft des Widerstandes gegen die Barbarei.

Hinter dem massiven common sense der Engländer, der die

socialdemokratischen Träume ohne viel Federlesens als Aberwitz abfertigt, verbirgt sich viel hartherzige Klassenselbstsucht, viel gedankenlose Beschränkt­

heit, aber auch der politische Takt eines kampfgewohnten freien Volkes.

Deßhalb allein ist die britische Arbeiterbewegung von den wüsten Orgien

dcS Chartismus auf erreichbare Ziele abgelenkt und jene menschenfreund­ liche Fabrikgesetzgebung des neuen Englands, die wir Alle in unserem

Baterlande frei nachzubilden hoffen, ermöglicht worden — weil die Be­ sitzenden dem erregten Haufen mit unbeirrter Ruhe zeigten, daß kein Stein

und kein Brett ans dem Baue der bestehenden Eigenthumsordnung her­ ausgebrochen werden dürfe.

Der tapfere Rechtssinn der höheren Stände

war allezeit der Felsen, daran der blinde Glaube mißleiteter Massen sich die Hörner abstieß.

Und kein Volk hat jemals fester Rechtsbegriffe so dringend bedurft wie heute das deutsche.

Wer unter un.s mag heute noch bezweifeln, was

die erste und höchste Aufgabe dieser blutig erkauften Friedensjahre sei?

Pie gewaltigen Umwälzungen der jüngsten Zeit haben Politik und Volks­ wirthschaft dermaßen in den Vordergrund unseres nationalen Lebens ge­ rückt, daß wir Gefahr laufen, das Eigenste unseres Wesens,

Adel deutscher Bildung zu verlieren.

den alten

Das feste Haus des deutschen

Staates steht aufgerichtet, stark genug jedes Kleinod edler Menschenbildung zu beherbergen; werden die prächtigen Gewölbe auch wirklich mit Schätzen sich füllen?

Die harte Arbeitslast dieser Zeit, das Uebergewicht unserer

Mittelklassen mit ihrer natürlichen Vorliebe für die Mittelmäßigkeit, der

wenig entwickelte Formensinn und die wenig durchgebildeten geselligen Sitten unseres Volkes,

das Alles droht uns amerikanischen Zuständen

entgegenzutreiben — oder vielmehr einer Culturbarbarei, die noch häß­ licher wäre als die Gesittung Amerikas, da der tief philosophisch angelegte Deutsche ohne reiche Bildung leicht verwildert.

Roch steht unsere Wissen­

schaft als ein starker Damm vor diesen heranwogenden Fluthen.

alle Bilduyg bedarf des Gefühles der Sicherheit.

Aber

Was könnte uns in

solcher Lage grausamer treffen, als ein socialer Kampf — wenn die Be­

gehrlichkeit des Pöbels, aufgestachelt dnrch unser scheues Zurückweichen, von dem frechen Worte zur frechen That schritte und dann die gemeine Angst

um Haut und Beutel die letzten Trümmer des deutschen Idealismus auf dem Altar des goldenen Kalbes opferte?

6

I. Die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft.

Nichts hat die geistige Kraft der Franzosen so tief und nachhaltig geschädigt, wie jenes phantastische Buhlen mit dem CommuniSmuS, das zur Zeit des Julikönigthums für geistreich galt.

Man schwärmte für die

ekelhaften Erfindungen der socialistischen Muse Eugen Sue'S, weil die

Opposition zum guten Tone gehörte; man bewunderte den großen Chourineur, der freilich einige Dutzend seiner Mitmenschen gemetzelt hatte, doch ein Mann des Volkes und folglich fromm, engelrein und edel war.

Als aber in jener gräßlichen Junischlacht die wirklichen ChourineurS auf

die Barrikaden stiegen und gefangene Soldaten bei lebendigem Leibe in

Stücke sägten, da scholl der Angstruf der besitzenden Klassen gellend über Frankreich hin, und das Feuer der Idee verlosch für viele Jahre.

Es

folgte die blutige Rache, dann die Knechtschaft und der Sinnenrausch des

zweiten Kaiserreichs, dann nochmals die Raserei der Commune und jene teuflisch kalte Grausamkeit der geretteten Gesellschaft, welche heute in Caledonien zum Entsetzen der Welt ihre Opfer foltert. schen aus doktrinärer

Shstemsucht

Dürfen wir Deut­

und Begriffsspalterei in denselben

Fehler verfallen, zu dem einst Widerspruchsgeist und Phantasterei die Fran­ zosen verleitete?

Nein, soll der schwere sociale Kampf der Gegenwart

nicht, wie einst, der Streit der Kirchen, zu einem Zeitalter der Bürger­

kriegeführen, sondern in der unscheinbaren Arbeit gewissenhafter Reformen seine friedliche Lösung finden, so muß wer ein Herz hat für deutsche Bil­

dung ohne Vorbehalt Eintreten für die wirthschaftliche Ordnung, welche diese Bildung stützt und trägt. Wir können den begründeten Forderungen

der Masse — und cs sind ihrer nur allzu viele — dann allein gerecht

werden, wenn wir genau wissen und furchtlos aussprechen, waS wir ihr

nicht gewähren wollen. — Beide Parteien der heutigen nationalökonomischen Wissenschaft, Ka­ thedersocialisten und Manchestermänner — wie die gehässigen KriegSuamen

lauten — haben bisher die Spalten dieser Jahrbücher jederzeit offen ge­

funden.

Wir hielten für wünschenswerth, daß die Gährung der Meinungen

in ruhiger Debatte sich kläre.

Wenn die Redaktion heute unternimmt ihre

eigene Ansicht über die „sociale Frage" darzustellen — dieser marktschreierische Ausdruck neu-napoleonischer Erfindung ist nun einmal leider in unsere an­

spruchslose Sprache ausgenommen — so muß ich weit ausholen und die Leser um

geduldige Nachsicht bitten.

Es wird nicht abgehen ohne die

Wiederholung uralter Wahrheiten, da die ruhelose Kritik unserer Tage

grade die Grundbegriffe der socialen Wissenschaft benagt und untergraben hat — und vielleicht auch nicht ohne einige Langeweile.

Denn wer die

Geschichte nimmt, wie sie ist, der bemerkt freilich nur selten das milde.

I.

7

Die Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft.

kaum durch ein leichtes Gewölk getrübte Sonnenlicht, das in Ranke's Er­

zählungen einen zierlichen Kreis vornehmer und satter Menschen bestrahlt;

er soll auch dem mißhandelten geringen Manne in die kummerblassen

Züge schauen,

er darf den Blick nicht schell abwenden von jener Welt

viehischer Leidenschaft, frecher Sünde, herzbrechenden Elends, welche seit

den Sklavenkriegen des AlterthuniS bis zu den Raubzügen gallischer Bagauden, seit den Jacquerien deS Mittelalters bis zu dem Mordbrande der Commune die Gebrechlichkeit unseres Geschlechtes stets von Neuem bekun­

det hat.

Aber er sieht auch nicht, nach der Weise der SensationSromane

socialistischer Tendenzhistoriker,

beständig einen schwarzen,

von grellen

Blitzen durchzuckten Gewitterhimmel über der historischen Welt.

Er kann

den holden Aberglauben an die natürliche Harmonie der Interessen nicht theilen, sondern bescheidet sich, in dem natürlichen Kampfe der Interessen

daS Walten sittlicher Gesetze aufzusuchen.

Ich gehe aus von der Abhandlung meines Freundes Schmoller über „die sociale Frage und den preußischen Staat", die wir im Apritheft

mittheilten.

Dieser beredte Aufsatz ist mit lautem Lobe im „Neuen Social-

Demokraten" nachgedruckt worden; nur der beste Theil der Arbeit, die Schilderung der Socialpolitik des preußischen Königthums ward, wie be­ greiflich, theils weggelassen, theils verhöhnt.

Viele liberale Blätter an­

dererseits schalten den Verfasser als einen Tempelschänder im socialen

Reiche, ja — so gehässiger Ingrimm heftet sich an Alles, was die Klaffen­ kämpfe der Gegenwart berührt — einzelne Stimmen schienen sehr ge­ neigt, den Aufsatz dem Vaterauge der Staatsanwaltschaft zu empfehlen.

Ich brauche nicht zu sagen, daß weder jenes Lob noch dieser Tadel mein Urtheil bestimmt; es geschieht ja zuweilen, daß gute Gedanken rascher von den Phantasten gewürdigt werden, als von besonnenen Männern.

Ich

würde fürchten Schmoller zu beleidigen, wollte ich erst versichern, daß man von ihm immer lernt auch wo man nicht beistimmt.

Aber ich glaube,

und ich hoffe zu beweisen, daß die leitenden Gedanken seiner Arbeit un­

haltbar sind.

Die Socialisten pflegen ihre Zukunftsträume nicht aus der Natur

des einzelnen Menschen, sondern ans dem Wesen der Gesellschaft abzu­ leiten; sie sehen in der Volkswirthschaft das Gebiet der gesellschaftlichen Zusammenhänge, wie Lassalle in seiner schwerfällig doktrinären Sprache sagt, und hierin liegt ihr bestes wissenschaftliches Verdienst. Auch Schmoller

versucht seine düstere Ansicht der socialen Geschichte auf die Natur der menschlichen Gemeinschaft zu begründen.

Er spricht kurzweg auS: „die

wirthschaftliche Klassenbildung entspringt auS Unrecht und Gewalt", er

8

I.

Die Grundlage» der bürgerlichen Gesellschaft.

sieht in diesem ursprünglichen Unrecht eine „gleichsam tragische Schuld",

die sich vererbt voit Geschlecht zu Geschlecht und erst nach Jahrtausenden

in dem langsam erwachendeli Rechtsgefühle der höheren Klassen eine nie­ mals genügende Sühne findet.

Angenommen, jene Behauptung sei wahr,

so würde sie doch gar nichts erklären; sie läßt das Warum des Warum

im Dunkeln.

Ich frage: woher kommt denn „Unrecht und Gewalt"?

wie ist es denn möglich, daß ein Stamm von Menschen den andern unter­

werfen kann?

Antwort: weil die Menschen ungleich sind von Natur, weil

mit dem Dasein der Menschheit die Ungleichheit gegeben ist, weil selbst in den halbthierischen Lebensformen roher Pfahlbauer eine Mehrheit von

Menschen sich ilicht denken läßt ohne die Ungleichheit der Gestaltung der Erdrinde, von der sie leben, ohne die Ungleichheit des Alters, des Ge­

schlechts, der Kräfte des Leibes und der Seele, der Kinderzahl und der per­ sönlichen Perbindungen, des Besitzes und deS Glückes — mit einem Worte: ohne die Ungleichheit der Macht.

Und die Macht entscheidet in den Da­

seinskämpfen ursprünglicher Menschheit. Hier enthüllt sich denn sofort der Grundirrthum aller Socialisten und auch mancher gelehrten Nationalökonome», welche so gern auf den Ratio­

nalismus des achtzehnten Jahrhunderts mitleidig herabsehen.

Alis allen

ihren Gedanken redet der leibhaftige Jean Jacques Rousseau; sie fußen

sammt und sonders, die Meisten ohne es selber zu wissen, auf dem Wahn­

gebilde der natürlichen Gleichheit der Menschen.

Wer einmal durch dies

gefärbte Glas geblickt, ist nicht mehr im Stande die historischen Dinge

unbefangen zu betrachten.

Wer aber die Geschichte nicht meistern, sondern

bescheiden von ihr lernen will, der beginne mit der Erkenntniß, daß die

Natur alle ihre höheren Geschöpfe ungleich bildet.

Er versuche einen

^Gedanken bis in seine Tiefen zu verfolgen, der, scheinbar einfach und ge­ ringfügig, dem ernsten Sinne eine Welt neuer Anschauungen erschließt

und das harte Absprechen über die Anfänge der menschlichen Gesellschaft von vornherein verbietet — den Gedanken nämlich, daß jeder Mensch sich selber ungleich ist im Verlaufe' seines Lebens.

Der Tod macht Alle

gleich, sagt das sichere Gefühl des Volkes, und der fromme Glaube ge­ tröstet sich unserer Gleichheit vor Gott, denn alles irdische Leben ist Un­

gleichheit.

Gewiß ist der Wilde dem Wilden weniger ungleich als wir

Culturmenschen uns von einander unterscheiden,

da Jener erst wenige

Kräfte seines Wesens entwickelt hat; doch die vorhandene Ungleichheit wirkt in einfachen Zuständen unmittelbar, bedingend und gestaltend, auf die Ge­ meinschaft.

Die Kraft ringt mit der Kraft; wo der Kleine dem Großen

im Wege steht, da wird er gebändigt.

An diesen nothwendigen Kämpfen

I.

9

Die Grundlage» der bürgerliche» Gesellschaft.

haftet nicht mehr Unrecht, nicht inehr tragische Schuld als an jeder That Daß der Starke den Schwachen bezwingt,

linseres sündhaften Geschlechts.

ist die Vernunft jenes frühen Lebensalters der Menschheit, wie es die Vernunft des Kindes ist 311 spielen und um den kommenden Tag nicht 51t

sorgen.

Jene Hnngerkriege, die wir noch heute unter den Negerstämmeii

erleben, sind innerhalb der wirthschaftlichen Zustände Jnner-Afrika's ebenso nothwendig, ebenso berechtigt, wie der heilige Krieg, den ein edles Cultur­

volk zur Rettung der höchsten Güter seiner nationalen Gesittung führt. Hier wie dort wird um das Dasein gekämpft, hier um das sittliche, dort um daS natürliche Vebcn; und der gesittete Mensch ist ebenso wenig be­

rechtigt über das „Unrecht" jener Sieger zu schelten, wie der Mann befugt

ist die Vernunft der Kindheit anzuklagen.

Wer da beklagt was ist und

nicht anders sein kann, und sich erdenkt was nicht ist und nicht sein kann,

der fällt in das Veete und Eitle. Die bürgerliche Gesellschaft ist der Inbegriff der Verhältnisse gegen­ seitiger Abhängigkeit,

welche

mit

der

natürlichen Ungleichheit

der

Menschen, mit der Bertheilung von Besitz und Bildung gegeben sind und durch den Verkehr in einem unendlichen Werden sich täglich neu gestalten. Sicherlich empfängt die sociale Gemeinschaft ihre ersten Formen zunächst

durch den rohen sinnlichen Trieb der Selbsterhaltnng; aber steht eS denn nicht ebenso mit

allen Anfängen unserer Gesittung?

Von

jedem der

großen ursprünglichen Vermögen der Menschheit gilt was Aristoteles vom

Staate sagt:

yivofteiy fser tov Cijv fvexev, ovoa

d