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German Pages 284 [286] Year 2018
Gunda Trepp
DER LETZTE RABBINER Das unorthodoxe Leben des Leo Trepp
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg THEISS ist ein Imprint der wbg. © 2018 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Redaktion: Sophie Dahmen, Darmstadt Satz: Mario Moths, Marl Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-3818-1 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): ISBN 978-3-8062-3831-0 eBook (Epub): ISBN 978-3-8062-3832-7
Inhalt
Vorwort von Johannes Gerster 7 Einleitung 11 1. Kapitel: Die Liebe eines Vaters 21 Ach, du wunderschöner Rhein 21 Kaiser, Krieg und Vaterland 32 Leben in zwei Kulturen 47 Vom Glück des Lernens 57 2. Kapitel: Mittendrin und außenvor 73 Ein klimperkleines Dorf mit Juden 73 Die Grenze ist geschlossen – und das Glück grenzenlos 84 Abschied von der Kindheit 91 Das Gerücht über die Juden 95 3. Kapitel: Studium im Sauseschritt 107 Orthodox? Liberal? Einheit in der Vielfalt 107 Wer ist schon Albert Einstein? Außen Universität – Innen NSDAP 111 Ein Bruder in Nöten und ein SA-Mann mit Herz 120 Treueversprechen gegen die Nazis 126 Wer denkt denn da noch an Karriere? 132 4. Kapitel: Rabbinat in Zeiten der Angst 139 Mit den Augen der Anderen 139 Aufbauen, abwickeln und trösten – gleichzeitig 145 „Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck“ 157 Eine Schule für die Juden 164 5
Inhaltsverzeichnis
Hoffnung ist die Hoffnung ist die Hoffnung „Der Kapitän verlässt das Schiff zuletzt“ Das Ende
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5. Kapitel: Rückkehr 195 „Wo warst du in jener Zeit?“ 195 Gestohlene Heimat 203 Neu und verwirrt – ein Deutscher in Amerika 212 Weichen für die Zukunft stellen 228 6. Kapitel: So ist es Mühe und Arbeit gewesen 241 Zwei Frauen und ein emanzipierter Rabbiner 241 „Ohne den Älteren wäre der Jüngere nicht da“ 247 Der Gerechtigkeit sollst du nachjagen 259 Über das Abschiednehmen 271 Glossar 278 Bibliographie 282
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Vorwort von Johannes Gerster
Leo Trepp: Mainzer – Rabbiner – Wissenschaftler – Brückenbauer – Mensch
I
m Alter von über 90 Jahren saß Leo Trepp mit seiner zweiten Frau Gunda auf unserer Terrasse über den Dächern der Mainzer Innenstadt. „Seinen“ geliebten Mainzer Dom voll im Blick, ließ sich Leo den berühmten rheinhessischen Spargel schmecken, dazu ein oder auch mehrere Gläser guten Rotweins und nach den Speisen eine Zigarre oder einen Villiger Kiel. Es war Hochsommer und doch wollten angesichts des hohen Alters unseres Ehrengastes Herbstgefühle aufkommen. Nicht so bei Leo: Plötzlich erklärte der greise Rabbiner, der bereits auf einen Rollstuhl angewiesen war, mit funkelnden Augen und durch energische Handbewegungen unterstrichen, voller Energie und Leidenschaft, er wolle sich mit Gunda eine Eigentumswohnung in Mainz kaufen, möglichst mit Rheinblick, um die Semesterzeit in Mainz künftig dort zu verbringen und die Stadt häufiger besuchen zu können. Zeit zum Zweifel an diesen Plänen blieb nicht, wurden doch sogleich denkbare Alternativen besprochen, durchdacht, verworfen oder als Möglichkeit registriert. Meine Frau Regina und ich waren gerührt über die Anhänglichkeit dieses auf die hundert Jahre zugehenden Altmainzers, den seine Landsleute 1938 nach der Reichspogromnacht erst inhaftiert, dann aus dem Lande verjagt hatten. Über 50 Jahre erfolgreiches Berufsleben in Kalifornien hatten seine Liebe nicht überwuchert: Einmal Mainzer, immer Mainzer! Leo Trepp war Rabbiner, ein begnadeter Prediger und Lehrender mit einer unverbrüchlichen Bindung an das deutsche Judentum, dessen Zerstörung durch die Nationalsozialisten ihn leiden ließ. Er war über Jahr7
Vorwort
zehnte der einzige lebende deutsche Landesrabbiner aus der Zeit des NS-Terrors! Im Jahre 2000 lud ich diesen Weltbürger als Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Israel nach Jerusalem ein. Natürlich standen die jüdischen Stätten, Vorträge und Diskussionen in der Hebräischen Universität und im Konrad-Adenauer-Konferenzzentrum im Mittelpunkt. Aber Trepp wäre nicht Trepp, wenn er bei seinem Abschied nicht zwei Erlebnisse besonders erwähnt hätte: Er gestand mir, er habe die Gastfreundlichkeit der Araber im Ostjerusalemer Lokal Pasha besonders genossen. Es gebe eben nur einen Gott und der sei der Gott aller Menschen. Die Begegnung mit seinem ultraorthodoxen Bruder sei dagegen traurig gewesen. Dieser habe sich vor allem dafür interessiert, ob er auch immer koscher esse, und habe wenig Interesse am Schicksal seiner Familie gezeigt. Rabbiner Leo Trepp, ein Mann mit festen Grundsätzen, dachte nicht in Schablonen, wie Juden sind gut, Moslems schlecht, sondern bewertete, was er gerade als menschliche Realität erlebte. Der Wissenschaftler Leo Trepp begann nach erfolgreichen Berufsjahren als Rabbiner und Professor für Philosophie und Geisteswissenschaften in den USA 1983 an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz zu lehren. Der Fachbereich Evangelische Theologie, und insbesondere Universitätspräsident Josef Reiter, sicherten ihm einen Dauerlehrauftrag für die Sommersemester. Als Mitglied des Hochschulkuratoriums durfte ich seine Berufung als Honorarprofessor der Mainzer Universität unterstützen. Trepps Werke Die Juden und Das Vermächtnis der deutschen Juden wurden zur Basis einer lebendigen Auseinandersetzung mit der jüdischen Kultur an der Mainzer Universität. Ebenso eindrucksvoll waren die von Trepp erwünschten zahlreichen Begegnungen mit Schülern der Mainzer Gymnasien. Er verstand es wie kein anderer, die Einzigartigkeit des deutschen Judentums zu vermitteln. Und ohne anzuklagen, führte er bildlich vor Augen, was der Naziterror mit der Vernichtung der Juden an deutscher Kultur unwiederbringlich zerstört hatte. Leo Trepp war ein Brückenbauer. Bereits in den fünfziger Jahren organisierte er studentische Exkursionen in die Bundesrepublik Deutschland. Seine Verfolgung und Vertreibung durch den NS-Staat hatten bei ihm nicht Hass und Verbitterung gegen die Deutschen begründet, sondern einen unwiderstehlichen Drang zur Versöhnung und Aussöhnung ausgelöst. In den 8
Vorwort
folgenden Jahren hat er in Kirchen, Schulen, Vereinigungen und Universitäten gesprochen. Neben Mainz hielt er Vorlesungen und Seminare an zahlreichen Universitäten und Hochschulen, darunter Tübingen, Münster, Reutlingen, Wuppertal, Oldenburg und Hamburg. Man fragt sich, wo nahm dieser Mann seine Kraft her, in einem Alter, in welchem andere ihren Ruhestand genießen, mehr als mancher Berufstätige zu reisen, zu lehren, zu diskutieren, zu arbeiten? Mir fallen zwei Antworten ein: Er war getrieben, die Inhumanität der NS-Zeit durch die Humanität seiner Worte unwiederholbar zu machen. Und er liebte Deutschland und sein deutsches Judentum, für dessen Wiedererstehen er sich ruh- und rastlos einsetzte. Wenn man die Summe seiner vielfältigen Aktivitäten betrachtet, müsste Leo Trepp ein Macher, ein Gestalter, ein Kopfmensch gewesen sein. Das Gegenteil von einem in sich gekehrten asketischen Denker und Theoretiker. Beides war er nicht. Oder nicht nur. Leo Trepp war in erster Linie ein Mensch. Er liebte die Geselligkeit, gutes Essen und Trinken und anregende Gespräche, aber bitte mit Tiefgang. Dabei überraschte er seine Gesprächspartner immer wieder durch seinen tiefschürfenden, trockenen Humor. Er liebte die Menschen, er liebte das Leben. Leo Trepp verkörperte den jüdischen Bildungsbürger, der bis zur Schoah tief in der deutschen Bevölkerung verankert war. Er entstammte einer orthodoxen jüdischen Familie und verband feste Grundsätze mit dem Leben in der modernen Welt. Er war ein Versöhner und Aussöhner, für den der Mensch wichtiger war als das Beschwören inhaltsleerer Vorschriften. Er war ein großer und bedeutender Mann. Gut, dass Gunda Trepp sein Leben aufzeichnet und für unsere und folgende Generationen festhält. Leo Trepp kennen lernen, heißt, Gläubigkeit, Menschlichkeit, Weitblick und Toleranz zu erlernen. Für mich war Leo Trepp ein väterlicher Freund und ein Vorbild. Dr. h.c. Johannes Gerster Mainz, am 4. März 2018, am 105. Geburtstag von Leo Trepp
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Einleitung
Die Geschichte unseres Lebens beginnt lange vor unserer Geburt. Unsere Wurzeln reichen tief in unsere Vergangenheit. Von unseren Ahnen erhalten wir unsere geistigen und körperlichen Wesensformen, unsere Intelligenz und Körperkraft. Eltern und Verwandte geben uns unser Wesen durch Vorbild und Erziehung. Die Ströme der Vergangenheit verbinden sich in uns, aus ihnen schöpfend sind wir frei in der Wahl unseres Denkens und unserer Lebensgestaltung. Bestimmung und Freiheit gestalten unser Leben in einer Umwelt, die – sich ständig ändernd – uns zu immer neuen Antworten herausfordert. Auf drei Schauplätzen gestaltete sich die Vorgeschichte meines Lebens und die prägende Geschichte meiner Kindheits- und Jugendjahre. Fulda, Oberlauringen und Mainz. Das sind die Worte, mit denen Rabbiner Leo Trepp z’l seine Lebenserinnerungen begonnen hat. Allerdings wendete er sich dann zügig dem Erzählen zu und bemerkte: „Gute Einleitungen schreibt man am Schluss.“ Doch er selbst hat seine Autobiographie nicht mehr beendet. Am zweiten September 2010, dem 24. Tag im Monat Elul 5770 im jüdischen Kalender, ist mein Mann für immer eingeschlafen. Er hinterließ die fertig geschriebenen Seiten seiner Autobiographie, besprochene Tonträger und Hunderte von Aufzeichnungen, die er für Vorlesungen, Vorträge oder Bücher angefertigt hatte. Hinzu kommen mindestens ebenso viele Gespräche, viele von ihnen aufgenommen, in denen er aus seinem Leben erzählt, seine Philosophie erklärt und dem Hörer vor allem das Judentum in allen seinen Facetten und aller seiner Schönheit nahebringt. Wenn wir uns in den letzten Jahren unterhielten, habe ich Aussagen, die mir interessant erschienen, unmittelbar danach aufgeschrieben, und zwischendurch hat 11
Einleitung
er mir immer wieder Epsioden erzählt, entweder auf Band oder mit der Bitte, sie für ihn aufzuschreiben. Material gab es also ausreichend. Wie hätte es auch anders sein können in einem 97-jährigen Leben, das geprägt war vom Ersten Weltkrieg, den Hoffnungen der Weimarer Republik, von der Wirtschaftskrise und schließlich der Entrechtung, Vertreibung und Ermordung der europäischen Juden? Er berichtet von seiner Zeit als junger Landesrabbiner in Oldenburg, einem Landkreis, in dem die Bürger schon vor der Machtergreifung der Nazis eine nationalsozialistische Regierung wählten, und von seinen Versuchen, eine Gemeinschaft zu erhalten, die spätestens in der Nacht des 9. November 1938 die letzte Hoffnung verlor. Und er spricht von seiner Zeit im Konzentrationslager, von der er später sagen wird, „danach war alles Streben, alle Hoffnung dahin.“ Und doch wollte er nicht die Erinnerungen eines Überlebenden schreiben, oder besser: Er wollte nicht nur die Erinnerungen eines Überlebenden schreiben. Er erinnert sich an seine Familie, Freunde, Nachbarn, die, einer anderen Religion als die Mehrheit angehörend, vor allem Deutsche waren. Er erzählt von unterfränkischen Viehhändlern, die am Schabbat von der Synagoge aus ins Wirtshaus gingen, ihr Bier tranken, sich auf dem Marktplatz rangelten, um sich dann die Kleider abzustauben und zum Nachmittagsgebet zurück in die Synagoge zu gehen. Von tief frommen Männern in Mainz, die nach dem Gottesdienst in die Oper eilten oder ins Konzert. Er erzählt vom Gemeindemitglied Isidor Reiling, der in Mainz begraben ist, und dessen Tochter, Anna Seghers, eine bedeutende Rolle in der Exilliteratur spielen sollte, von dem Onkel von Henry Kissinger, mit dem er begann, die Tora zu lernen, als er sechs war. Und immer wieder erzählt er von seinem Vater, der die Wurzeln für viele seiner Überzeugungen legte und wohl den bedeutendsten Einfluss darauf hatte, dass mein Mann zu dem tief religiösen, liberalen und menschenliebenden Denker und Lehrer wurde, der er war. Als Philosoph, als Lehrer und als Autor hat sich Leo Trepp mit unterschiedlichsten Fragen auseinandergesetzt, die für das deutsche Judentum und die jüdische Religion von Bedeutung waren. Auf Papier und in Gesprächen reflektiert er, wie sich seine orthodoxe Haltung über die Jahre veränderte und was Orthodoxie im Vorkriegsdeutschland bedeutete. 12
Einleitung
Er spricht von Rabbinern und Freunden, die ihn inspiriert haben und die er inspiriert hat, obgleich und weil sie aus verschiedenen Richtungen kamen. Von dem orthodoxen und dem liberalen Rabbiner in Mainz, die sich respektierten und sich in ihrer Arbeit gegenseitig befruchteten. Von Abraham Heschel, der später viele Gedanken eines offenen, pluralistischen Judentums in die Vereinigten Staaten trug und dort ein enger Freund Martin Luther Kings wurde. Oder von Mordecai Kaplan, dem Begründer des Rekonstruktionismus, einer Strömung, die wie Leo Trepp das Judentum in einer ständigen Weiterentwicklung sieht. Er beschreibt eine Welt, deren intellektuelle Fülle und Freiheit heute kaum noch vorstellbar sind. Oft jedoch sind seine Aufzeichnungen geprägt von einer Grundtrauer, von einer Stimmung der Vergeblichkeit, in der Erinnerung an schöne Momente schon um das Ende wissend. Um den Tod der Menschen wissend, die er geliebt hat, und um den Untergang des reichen deutschen Judentums. Der Gedanke an die Auslöschung seiner Familie und so vieler anderer Juden hat ihn nie verlassen. Die hebräische Inschrift für seinen Grabstein hat er selbst geschrieben. Sie beginnt mit dem Satz: „Hier ruht unser Lehrer und Rabbiner Jehuda, Sohn von Maier und Zipora Trepp, ein gerettetes Holzscheit vom Feuer.“ Er kam mit „Klimpergeld in der Tasche“, wie er es nannte, in den Vereinigten Staaten an, begann, in Harvard noch einmal zu studieren und als Rabbiner und bald als Professor und Autor zu arbeiten und ein neues Leben aufzubauen in dem Land, dem er bis zuletzt tief dankbar war. Sein Glaube an Gott blieb unerschüttert. Wie er selbst erzählen wird, waren sein Vertrauen in Gott und die Unverbrüchlichkeit dieses Vertrauens eine Notwendigkeit für ihn. Daraus hat er die Kraft für sein Leben geschöpft. Und nach der Flucht bald die Kraft, nach Deutschland zurückzukehren, in „seine gestohlene Heimat“, wie er es nannte. Nicht, um anzuklagen, sondern um die junge Generation zu lehren, was sie dem Geschehenen und der Zukunft schulde. Die Schoah war für ihn die Kulmination eines stets vorhandenen Antisemitismus, der sich in Nuancen änderte, doch dessen Antrieb und Grundlage über die Jahrhunderte gleich blieben: ein irrationaler Judenhass, den zu beeinflussen die Juden selbst außerstande waren. Doch 13
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wenn er auch überzeugt war, dass die Schoah und deren Opfer nicht vergessen werden dürften, richtete sich diese Mahnung immer an die nichtjüdische Seite. Nie anklagend, sondern im Gegenteil darauf hinweisend, dass die nichtjüdischen Deutschen der neuen Generation den Worten der Tora nach keine Schuld trügen, doch sie verpflichtet seien, die Verantwortung für die Vergangenheit zu übernehmen und daraus Konsequenzen zu ziehen. Dazu gehörte für ihn auch, etwas über das Judentum zu lernen. Deutsche sollen wissen, wer die Juden sind und was ihre Religion und Kultur repräsentieren. Darum vor allem lehrte er in Deutschland, hielt dort Vorträge und schrieb Bücher zum Judentum auf deutsch. Wenn überhaupt, so konnte aus seiner Sicht nur Wissen vor neuen Vorurteilen schützen. Jüdische Hörer und Leser, so war er überzeugt, würden nie aufgefordert werden müssen, das Geschehene zu erinnern. „Kein Jude wird die Schoah je vergessen“, sagte er einmal in einem Vortrag. Im Gegenteil war er besorgt, dass manche das Judentum so stark mit der Ermordung der Juden verbanden, dass die Schoah zu einem tragenden Element für ihr Jüdischsein werden könnte. Für ihn dagegen war die einzig mögliche Reaktion der Juden auf die Verbrechen, die jüdische Gemeinschaft zu festigen und zu stärken. Die Verfolgung der Juden und die Erinnerung daran wurden so für ihn in erster Linie zur Mahnung, den lebenden Juden ihr Jüdischsein bewusster zu machen, sie zu unterrichten, sie zu lehren, durch das Judentum ein volleres und erfüllteres Leben zu gestalten, für sich und für andere. Wenngleich diese Gedanken seine tiefen religiösen Überzeugungen ausdrücken, haben sie ihm auch geholfen, das Geschehene zu verarbeiten, oder genauer: auszuhalten, es nicht verarbeiten zu können. Einmal habe ich ihn gefragt, ob er je um seine Mutter geweint habe, die, zusammen mit ihrer Schwester, im Ghetto Lublin ermordet wurde. „Ich kann es nicht“, antwortete er, „wenn ich einmal beginnen würde, könnte ich nicht mehr aufhören.“ Doch in den letzten Jahren bedrängten ihn die Erinnerungen an diese Zeit immer stärker. Was sollte ich tun mit diesem Material? Mit der Geschichte eines deutschen Juden? Eines Rabbiners, der unter den Nationalsozialisten amtiert? Eines Amerikaners, den der Verlust der Heimat bis zuletzt schmerzt? Ei14
Einleitung
nes Philosophen, der in seinen Schriften und Vorlesungen ausführt, dass Judentum jeden einzelnen Juden verpflichtet? Mir war schnell klar, dass ich nicht nur die Verantwortung, sondern die Verpflichtung trug, dieses Werk zu beenden. Kann ich wirklich sagen ,beenden’? Natürlich nicht, denn ich weiß nicht, welche Papiere mein Mann gewählt hätte, wie er seine Erzählungen angeordnet hätte. Es konnte keine Autobiographie mehr werden. Doch es konnte immer noch eine Biographie werden. Wie aber schreibt man über jemanden, der einem nahe ist – und ich sage ‚ist’, weil der Tod Liebe nicht auslöscht und die Nähe nicht – und der doch so viele Jahre seines Lebens ohne einen verbracht hat? Lebensjahre, die Reminiszenzen geworden waren, als wir uns trafen, Erinnerungen an Menschen, die für immer mit seinem Denken verbunden blieben, an Städte und Dörfer, die ihre alte Gestalt verloren hatten, an verbrannte Synagogen, an Schulen und Universitäten, aus deren Räumen das Bewusstsein für vergangenes Unrecht längst geschwunden war, wenn sich auch die Gesichter der Ermordeten oder Vertriebenen auf Fotos hier und da direkt an die Betrachter wandten. Und wie schreibt man über einen Menschen, mit dem man so viel Zeit verbracht hat, alle Wochen, alle Tage und fast alle Stunden, dass nicht nur die neuen Erlebnisse und Erfahrungen zu gemeinsamen Erinnerungen werden, sondern dass auch die Erinnerungen des anderen sich irgendwann transformieren zu etwas neu Gestaltetem in uns selbst? Wann fangen wir an, die Erinnerungen unserer Partner zu unseren zu machen? Bilder, Musik und Gerüche zu assoziieren mit Menschen, die wir nur von Fotos und aus Erzählungen kennen, und mit Orten, deren Straßen wir noch nie betreten haben? Ich weiß es nicht. Doch ich weiß, dass ich am Grab seines Vaters nicht nur meinen Mann vor mir sehe, wie er still sitzt, im Gebetbuch liest, das Kaddisch und das El Male Rachamim sagt. Ich sehe auch seinen Vater vor mir, dessen leicht geschwollene Hände, seinen Schnäuzer, sein verschmitztes Lächeln. Ich höre seine Baritonstimme. Wir sind geschaffen aus Erinnerungen, wir leben sie, wir definieren uns über sie. Sie schaffen Liebe oder Geringschätzung für uns selbst und für andere. Sie formen unsere Persönlichkeit. Sie bestimmen unseren Platz im Leben. Sie fließen ein in unser Hoffen auf Neues. Bis auch das 15
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Neue – eingeordnet und lebenserträglich interpretiert – sich in diesem Raum einfindet. Sind wir die Hüter nicht nur unserer eigenen Erinnerungen, sondern hüten wir auch die Erinnerungen der Menschen, die wir lieben und die uns verließen? Ich glaube das. Und aus dieser Haltung heraus habe ich geschrieben. Mir war klar, dass ich nicht schreiben konnte, wie er geschrieben hat, sondern dass ich schreiben musste, wie ich es seit jeher tue. Es würde ein anderes Buch werden als dasjenige, das er geschrieben hätte, und ich musste das akzeptieren. Genauso, wie ich verstehen musste, dass ich mich selbst nicht auslassen konnte. Denn wie anders sollte ich über ihn schreiben als aus meiner Perspektive? Aus der Sicht einer deutschen Nichtjüdin, die zur Jüdin wurde, weil sie diesem Mann begegnete? Einem Rabbiner, der ihr liebevoll klarmachte, dass auch eine Deutsche Jüdin werden kann, wenn sie es denn wirklich will, wenn sie es der jüdischen Religion und Kultur wegen will und wegen nichts sonst? Da unser Altersunterschied nicht zu übersehen war, würde dieser Elefant ohnehin im Raum stehen, also musste ich auch ihn thematisieren. Ich selbst hätte ja jede Freundin, die sich in einen doppelt so alten Mann verliebt, für verrückt erklärt. Obgleich Menschen, die uns kannten, das nie getan haben. Sie spürten wie wir selbst ein Band, das nicht zu erklären war. Andere, die uns nicht kannten, nie zusammen gesehen haben, mag die Differenz befremden. Unsere ungewöhnliche Liebesgeschichte spiegelt auch die offene und zugewandte Haltung meines Mannes wider. Wie sonst hätte er eine Beziehung mit einer Deutschen eingehen können, über deren Familie er nichts wusste? „Interessiert es dich denn nicht?“ fragte ich ihn. „Natürlich“, sagte er. „Aber du musst es mir schon von dir aus erzählen.“ Ich tat es irgendwann, und er sagte: „Selbst wenn sie sich alle schuldig gemacht hätten, wäre es nicht auf dich gefallen. Du stehst für dich selbst.“ So sah er nicht nur mich, sondern alle jüngeren Deutschen. Wenn ich an meinen Mann denke, fallen mir zunächst zwei Worte ein: Liebe und Disziplin. Beide Haltungen sind elementar in der jüdischen Lehre und waren es für ihn. Liebe hat seinen Umgang mit Menschen geprägt. Mit Wissen. Und mit Texten. Mit allem, was Leben ist. Und vor allem mit Gott. Und Disziplin hat ihn in allen Beziehungen getragen und 16
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ihn schwierige Situationen bestehen lassen. Sie hat ihm innere Freiheit verliehen und eine gelassene Haltung. Ein Thema, das ihn selbst nie losgelassen hat, ist die Notwendigkeit für Juden, sich in zwei Kulturen zu Hause zu fühlen, um ein gutes, erfülltes Leben zu führen. In seinem Fall hieß das: Im Sinne der Orthodoxie von Samson Raphael Hirsch vollkommen Jude zu sein – und vollkommen Deutscher. Nach dem Krieg bestärkte er muslimische Gelehrte in Deutschland, dem Modell zu folgen und nach Wegen für einen Islam in Deutschland zu suchen, und damit die Striktheit ihrer Lehren in den jeweiligen Heimatländern kritischer zu sehen und zu verändern. Bis zuletzt hat Leo Trepp seine Vorlesungen und Vorträge gehalten, hat Prüfungen abgenommen und Gespräche geführt. Ein großer Teil der Biographie widmet sich diesem Leben im Nachkriegsdeutschland, seinen Begegnungen mit Christen, Juden und Muslimen, mit geschichtsbewussten Aufklärern und mit Antisemiten. Die Deutschen, so machte er immer wieder klar, gedachten der Schoah nicht für die Juden. Sich zu erinnern war für sie selbst als Gemeinschaft unerlässlich, sofern sie in einer vitalen, einem ethischen Ziel zugewandten Gesellschaft leben wollten. Dass Nationalismus und Antisemitismus in seinen letzten Lebensjahren wieder zunahmen, ließ ihn, den immer Optimistischen, beinahe resignieren. Was bedeuteten Ehrungen und Auszeichnungen, wenn er befürchten musste, dass trotz seiner und der Bemühungen anderer Gutwilliger „vielleicht nichts erreicht“ worden sei, wie er einem Redakteur sagte? Ich wollte vor allem sein Werden verstehen und sein Denken. Wie lernt jemand die Liebe zum Lernen? Wie entscheidet sich jemand bewusst für die Liebe und gegen den Hass? Wie kann jemand das, was Judentum lehrt, nämlich, dass alle gerechten Menschen ein Anrecht auf den Himmel haben, egal, welcher Religion sie angehören, wie kann jemand diese Akzeptanz so in sein Leben integrieren, dass andere sie in jeder Begegnung spüren? Und wie bleibt jemand stets offen für Veränderungen? Fokussiert habe ich mich dabei auf sein Leben in Deutschland. Vor der Schoah, und danach. Unser gemeinsames Leben in den Staaten war, wie das vieler Menschen, vor allem der Arbeit und der Familie gewidmet. Mein Mann hat zwei seiner heute fünf Urenkel noch 17
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kennengelernt. Diese Kontinuität zu sehen, hat er als tiefes Glück empfunden. Wie er auch gute Freundschaften als Segen empfand. Einige enge Freunde, sowohl in Amerika wie in Deutschland, nannte er unsere „gewählte Familie“. Er hatte nur einen Teil seiner Autobiographie druckfertig beendet, das heißt, er hatte ihn geschrieben, ich hatte wie immer redigiert, und er meine Einwände und Korrekturen abgesegnet. Seinem geliebten unterfränkischen Dorf Oberlauringen, in dem er als Kind die Sommerferien verbrachte, hat er viele Seiten gewidmet, die ich nicht noch einmal wesentlich kürzen wollte. Ich hätte riskiert, dass seine Botschaft verloren geht. Es ist eine einfache und zugleich, wie alles, was mit der Auslöschung des jüdischen Lebens in Europa zu tun hat, komplexe Botschaft: Diese Landjuden waren da. Sie lebten überall in Deutschland. Andere Perioden oder Themen hatte er angefangen und liegen gelassen, um Unterlagen einzusehen, die er gerade nicht zur Hand hatte. Einige Passagen, die Leo Trepp schon geschrieben oder in denen er sich in anderen Werken zu einem in dieser Biographie relevanten Thema geäußert hat, habe ich gekürzt, aber vollständig, andere teilweise übernommen, wenn es sinnvoll schien. Die Seiten seines Manuskripts, die unredigiert waren und die ich benutzen wollte, habe ich vorsichtig bearbeitet. Zudem habe ich Passagen aus Büchern zitiert, die er geschrieben hat. Die von ihm geschriebenen Ausschnitte, die ich nicht in wörtliche Rede setze, sind kursiv gedruckt. Die Erklärungen sämtlicher hebräischer Begriffe finden sich im Glossar. Leo Trepp hat in einigen anderen Werken Begebenheiten aus seinem Leben erzählt. Auch davon habe ich einige teilweise übernommen und danke insbesondere den Verlegern Florian Isensee in Oldenburg und Michael Bonewitz in Bodenheim für ihre freundliche Zustimmung. Zu besonderem Dank bin ich auch Frau Dr. Hedwig Brüchert, Frau Rabbiner Bea Wyler, Herrn Prof. Michael Daxner, Herrn Prof. Josef Reiter und Herrn Dr. Ekkehard Seeber verpflichtet, die sicherstellten, dass meine Berichte über Zeiten, in denen ich selbst Leo Trepp noch nicht kannte, korrekt waren. Ebenfalls danke ich Herrn Dr. h.c. Johannes Gerster, der ohne zu zögern bereit war, ein Vorwort beizusteuern, sowie Herrn Hergen Wöbken fürs Gegenlesen des Textes. Nicht zuletzt danke ich meinen beiden Lektorinnen, Frau 18
Einleitung
Sophie Dahmen und Frau Susanne Fischer, die stets für mich da waren, wenn ich sie brauchte. Ich habe dieses Buch geschrieben in tiefer Liebe und Achtung vor dem Menschen, der mein Fühlen und Denken beeinflusst hat wie kein zweiter, und den in seinen letzten zehn Jahren begleitet haben zu dürfen, etwas ist, das ich als Glück bezeichnen möchte. Es ist dem Andenken seiner Eltern, Maier Trepp z’l und Selma Zipora Trepp z’l, gewidmet. Gunda Trepp
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ERSTES KAPITEL
Die Liebe eines Vaters
Ach, du wunderschöner Rhein
I
m Sommer 1954 reist Leo Trepp zum ersten Mal seit der Schoah wieder in seine Geburtsstadt. Seine Familienangehörigen sind ermordet worden. Nur sein Bruder, den er aus Deutschland hat retten können, und ein Cousin, der in das damalige Palästina flüchtete, haben überlebt. Trepp läuft durch die Straßen und erkennt die alten Wege seiner Kindheit nicht mehr. Mainz liegt immer noch in Trümmern. Die Vernichtung der orthodoxen Synagoge am Flachsmarkt, abgebrannt in der Pogromnacht 1938, und die Lücke, die sie hinterlassen hat, erschüttern ihn. Er geht weiter Richtung Hindenburgplatz. Vom amerikanischen Militärrabbiner hat er bereits erfahren, dass das Familienhaus nicht mehr steht, und er hat sich vorgestellt, dass auch viele der Nachbargebäude zerbombt sein würden. Dennoch, die einstmals prachtvolle Straße nun zu sehen, als habe man Teile ihres Randes herausgerissen, wühlt ihn auf. Auch, weil sich ein Gefühl einschleicht, das ihn schon nach wenigen Minuten belastet. Das Ausmaß der Zerstörungen stimmt ihn fast zufrieden. Er denkt: „Mit uns habt ihr angefangen, und nun habt ihr es selbst auch abbekommen.“ Leo Trepp hat diesen ersten Schritt der Wiederannäherung immer offen erzählt. Und warum auch nicht? „Aber das ist doch ganz natürlich“, rufe ich aus, als wir zum ersten Mal darüber sprechen. Sollte man nicht eher fragen, wie er überhaupt nach Deutschland zurückkommen konnte? Warum er nicht fühlte wie sein Bruder, der in Manchester und bald Jerusalem lebte und nie wieder in das Land der Täter gehen wollte? Nicht einmal als Gast? Wie also konnte er diesen Schritt tun? Und dann noch einen? Und noch einen? Bis er zum Versöhner wurde. Zum Rabbiner, der den jungen 21
1. Kapitel: Die Liebe eines Vaters
Deutschen klarmachte, dass sie keine Schuld, aber Verantwortung für die Zukunft trügen. Zum Autor des erfolgreichsten deutschsprachigen Buches über das Judentum, weil er überzeugt war, dass nur Wissen vor neuem Antisemitismus schützen werde. Zum Professor, der seinen Studenten, viele von ihnen zukünftige Pfarrer und Religionslehrer, sagte: „Ihr seid die wichtigsten Botschafter. Ihr müsst euer Wissen teilen in einer Weise, die zum Frieden zwischen den Konfessionen führt.“ Zu einem geachteten Humanisten, der seinen Glauben stolz vertrat und Angehörige anderer Religionen gern hatte und respektierte, die das gleiche taten. Hat das alles seinen Anfang genommen in jenem Moment, in dem er auf dem Hindenburgplatz in Mainz verharrt? In dem kurzen Augenblick, in dem er nach seinem ersten impulsiven Gefühl der Genugtuung denkt: „Nun muss alles neu aufgebaut werden, und auch die Menschen müssen sich wiederfinden, müssen sich erneuern, sie müssen neu zu denken lernen.“? Als er hofft, dass „nun die Deutschen vielleicht an einem Punkt angelangt sind, an dem sie offen sind für demokratische Gedanken, für Ideen des liberalen Miteinanders und für die Achtung aller Menschen als Geschöpfe Gottes“? Und sinniert, ob er dabei helfen kann? Ich denke, es muss viel früher begonnen haben. Es ist wohl unwahrscheinlich, dass eine solche Haltung, offen und aus einer tiefen Menschlichkeit heraus, einer Laune der Umstände zu verdanken ist. Erst heute, während ich mich mit den Gedanken meines Mannes auseinandersetze und ihn nicht mehr zu Einzelheiten befragen kann, sondern sorgfältig die Aufzeichnungen durchgehen muss, um Antworten zu finden, erst heute wird mir klar, dass er in diesem Augenblick auf dem Hindenburgplatz in Mainz an eine rote Linie anknüpft, die sich durch die Geschichte seiner Familie und durch die vieler deutscher Juden zieht. An einen Patriotismus, der so leidenschaftlich ist, dass er darauf drängt, seinem Land etwas zu geben. An eine Liebe zu Deutschland, die in ihm wachbleibt, auch wenn sie nun nur noch in der Erinnerung lebt. „Ich bin so traurig, dass dies nicht mehr meine Heimat sein kann“, sagt er einmal, als wir in einem Zug in Frankfurt sitzen und auf die Abfahrt nach Berlin warten. Er nimmt dabei meine Hand und seine Worte kommen nicht mit der autoritätsgebietenden, kräftigen Stimme, die jeden mucksmäuschenstill werden lässt. Dies ist die Stimme, in der er manchmal, ganz selten, 22
Ach, du wunderschöner Rhein
über Sachsenhausen spricht, und was die Wochen dort mit ihm gemacht haben. Nicht, was er dort erlebt hat, denn keiner, sagt er, keiner kann das verstehen oder nachempfinden. „Auch du nicht, mein Engel“, sagt er. Was er teilt, ist das Danach. Und ich kann verstehen, dass er danach weiterlebt, aber ganz anders. Dass danach „alles Hoffen, alles Streben“ nicht mehr wirklich eine Rolle spielen. Mit dieser Stimme beklagt er nun den Verlust seiner Heimat, und ich kann nur seine Hand streicheln, dann seine Wangen. Und ich weiß, dass ich damals gedacht habe: „Vielleicht schmerzt es ihn genauso sehr, dass sie den Deutschen Leo Trepp vertrieben haben, wie er darum trauert, dass sie den Juden loswerden wollten.“ Es ist der Jude und der Deutsche Leo Trepp, der in dem Augenblick des Sommers 1954 nicht anders kann, als zu hoffen, dass die Bürger seiner „gestohlenen Heimat“, wie er sein Geburtsland nun nennt, sich eines Besseren besinnen und dass eine gemeinsame Zukunft irgendwann möglich sein wird. Das war die Hoffnung der Familie für über ein halbes Jahrtausend. Ihre Heimatstadt ist Fulda, die prächtige Barockstadt im Herzen Deutschlands. Leo Trepp, selbst bereits in Mainz geboren, wohin sein Vater als junger Mann gezogen war, sah Fulda, eine Wiege des Christentums und bis zum Ende ein Bollwerk der jüdischen Neo-Orthodoxie, vor dem Zweiten Weltkrieg nur einmal, als er im Mai 1933 seinen Vater Maier Trepp dorthin begleitete. Die beiden waren mit dem Zug gekommen, Leo Trepp aus Berlin, wo er studierte, und sein Vater aus Mainz. Vom Bahnhof liefen wir die breite Straße zur Stadt hinunter, um zum jüdischen Friedhof zu gelangen. Etwa Mitte des 17. Jahrhunderts war er am Rand der Stadt errichtet worden, nun lag er im Zentrum. Fünf Jahre vor unserem Besuch hatten Vandalen Grabsteine umgeworfen und Gräber zerstört, in dieser Zeit war das nicht ungewöhnlich. Seit den zwanziger Jahren waren Dutzende jüdischer Friedhöfe geschändet worden. Von den Nazis wurde der Friedhof vollkommen vernichtet. Heute erinnert ein Gedenkstein an ihn. Durch ein schmales Tor in der Umfassungsmauer traten wir ein. Es war ein kleiner Flecken Land, mehr hatte man den Juden nicht gegeben. „Wie konnte man die Toten alle unterbringen?“, fragte ich meinen Vater. Sie mußten übereinander gelegt beerdigt werden. Aus mehr als einem Achtel des Friedhofs, 23
1. Kapitel: Die Liebe eines Vaters
in der linken hinteren Ecke gelegen, ragten Steine mit dem Namen Trepp empor, der ältesten und führenden jüdischen Familie Fuldas. Im fünfzehnten Jahrhundert hatte der Fürstabt Fuldas einen ihrer Vorfahren zu seinem Hofarzt berufen, ein Amt, das Mitglieder meiner Familie viele Generationen hindurch betreuten. Zugleich überließ ihnen der Fürstabt das ,,Haus uff der Treppen“ als Amtswohnung. Warum hieß das Haus so? War es ein Haus, zu dem, weil es auf einem Hügel mit einer steilen Steigung lag, Stufen führten, oder hatte es einst selbst eine große TreppenfIucht, wie mein Vater meinte, als er mir den Platz zeigte? So bekam die Familie ihren Namen, man sprach von ihnen als den „Juden uffer Treppen“. Die Hofärzte wurden bald auch zu den Hofjuden Fuldas, Vertreter und Fürsprecher der jüdischen Gemeinschaft. Sie durften geschäftlich tätig sein, mußten allerdings auch für die hohen Steuern, welche den Juden auferlegt waren, einstehen, wenn nötig aus eigenem Vermögen. Ich habe mich oft gefragt, wo meine Vorfahren ihre medizinische Ausbildung erhielten. Konnten sie in Universitäten wie Salerno oder Bologna studieren, welche Juden aufnahmen, oder erlernte der Sohn die Kunst vom Vater? Wir wissen es nicht. Ihre heilenden Künste, die sich bis nach Mainz herumgesprochen hatten und auf die die Kirchenherren nicht verzichten wollten, schützten die Familie, als Mitte des 16. Jahrhunderts beinahe alle Juden aus der Stadt vertrieben wurden. Doch als einige Jahre später Söldner, mit Hilfe der christlichen Nachbarn, die jüdischen Häuser plünderten, konnten auch die Trepps nur in sicherer Ferne abwarten, bis der Mob weitergezogen war. lm Jahre 1671 vertrieb der Fürstabt Gustav Bernhard die Juden aus der Stadt, diesmal durften nur sechs Familien bleiben, darunter die Familie Trepp. Diese paar Juden hatten nun allesamt in die schmale Gasse zu ziehen, in der das Urhaus der Familie bereits stand. An deren beiden Enden wurden anschließend große, schwere Eichentore gebaut, die man nachts abschloß, und die die Juden bezahlen mußten. Mit anderen Worten: Von da an lebten die Juden in einem von ihnen selbst finanzierten Ghetto. Vom Friedhof gingen wir in die Stadt hinein. Auf dem Weg kam uns ein Zug von Nazi Sturmtruppern mit Musik und Hakenkreuzfahne entgegen. Wir flüchteten in einen Hauseingang, um ihnen zu entgehen. Wieder mußten sich alteingesessene und verdiente Bürger aus Fulda, allein weil sie Juden waren, vor Rohlingen verbergen. 24
Ach, du wunderschöner Rhein
Die elegante Hauptstraße führte zum weiten Domplatz mit seinem prächtigen, die Reliquien des Heiligen Bonifatius bergenden Barockdom und dem fürstäbtlichen Barockschloß. Die Hauptstraße war von Kirchen eingerahmt und stand unter ihrem Schutz und Segen. Zur Linken, den Hügel hinauf, ergoß sich ein Gewirr schmaler, winkeliger Gäßchen. Das war das Judenviertel. Es stand nicht unter dem Schutz der Kirchen. Wir liefen in diese Richtung. Auf dem Weg erzählte mein Vater, wie er einst auf dem Weg zur Schule am Domplatz vorbeikam, gerade als die Menge der Pilger auf die Knie fiel. Nur er stand, und von allen Seiten kam der ärgerliche Ruf zu ihm: „Gehste runner, du Jud.“ Er tat es nicht und ging unbehelligt weiter. Einen gewissen Einfluß der christlichen Umgebung konnte man auch bei ihm bemerken. Am Eingang zum Domplatz steht das Denkmal des Bonifatius. Er hält das Kreuz hoch in die Luft, und auf dem Sockel steht die Inschrift: „Verbum Domini manet in Eternam“ – „Das Wort des Herrn bleibt ewig“. Es wurde zu einem Motto meines Vaters, das er oft auf lateinisch wiederholte. Ihm bedeutete es die Tora, und dennoch gab er mir ein Verständnis dafür, daß die Christen dem Worte Gottes folgten genau wie wir. Im Judenviertel zeigte mir mein Vater das elterliche Haus, wir besuchten die neurenovierte Synagoge, für deren Erneuerung er gespendet hatte. Ihr Inneres war im maurischen Stil errichtet. Von diesem Haus aus hatte zu seiner Jugendzeit Rabbiner Michael Cahn amtiert, man sollte wohl sagen „regiert“. Er vertrat die Neo-Orthodoxie. Seine Gottesdienste waren voller Würde und ästhetisch anziehend. Als Kronprinz Friedrich nach Fulda kam, erschien der Rabbiner zum Empfang im Talar. Gleichzeitig war Cahn jedoch unerbittlich orthodox und erzwang seine Verordnungen, wenn nötig, mit Hilfe der Stadt und Kirche. lm streng katholischen Fulda waren die Juden eben auch ,,katholisch“. Die Männer mußten täglich zur Synagoge kommen, und ihre Anwesenheit sowie die Zeit ihres Erscheinens wurden am Eingang registriert. Die Namen der Jungen, die ohne gültige Entschuldigung beim wochentäglichen Frühgottesdienst fehlten, wurden der Schulbehörde mitgeteilt, die sie dann bestrafte. Die jüdischen Lehrer des dem Rabbiner unterstellten Bezirkes mußten wöchentlich bei ihm erscheinen, um über ihre Amtsführung im einzelnen Rechenschaft abzulegen und dann mit ihm den Talmud zu studieren. In Paraphrase des Friedrich dem Großen zugeschriebenen Wortes erklärte Cahn: ,,Bei mir kann jeder nach meiner Façon selig werden.“ Und er meinte es ernst. 25
1. Kapitel: Die Liebe eines Vaters
In dieser Atmosphäre wuchs mein Vater, 1873 geboren, auf. Aus ihr entwickelte er eine tiefe Frömmigkeit. Wenn er betete, sprach er jedes Wort mit solcher Inbrunst aus, daß sein Gebet längst nicht zum Ende kam, wenn die Gemeinde es bereits beendet hatte. Er ging niemals zu Bett, ohne eine Zeitlang Tora und Talmud ,gelernt‘ zu haben. Zugleich aber formte ihn die Tradition der eigenen Familie, die weltlich hochkultiviert war, eine leidenschaftliche Liebe für die Musik besaß und zugleich, wie wir aus Dokumenten wissen, demokratisch und liberal war und neuen gesellschaftlichen Entwicklungen aufgeschlossen. Er besuchte das Realgymnasium, lernte Latein und Französisch und begann früh, nicht nur Tora und Talmud zu lesen, sondern weltliche Literatur. Er war sowohl in den deutschen Klassikern wie in den Werken Shakespeares zu Hause, liebte die bildende Kunst, besuchte Museen, selbst die Sternwarte in Straßburg, und erwarb sich ein von Liebe getragenes Wissen über Malerei und Skulptur. Er verehrte Michelangelo, Raphael Santi und Rembrandt, die Kunst des Biedermeier machte ihm Freude. Vor allem aber begeisterte ihn die Musik, besonders die Oper. Da Frauen in ihr sangen, hätte Rabbiner Cahn diese Leidenschaft keineswegs gebilligt. Aber hier kam die Tradition der Familie in Konflikt mit Cahns unerbittlicher Orthodoxie, und die Familie gewann. Auch mein Großvater, Judah Salomon, teilte die Leidenschaft für Kunst und Musik, zeigte für die Geschäfte der Familie aber kein sonderliches Interesse. Was sich für seinen Sohn, wie wir bald sehen werden, als tragisch erweisen sollte. Nachdem seit Beginn des 19. Jahrhunderts die wirtschaftlichen Beschränkungen für Juden nach und nach aufgehoben wurden, florierten die Geschäfte der Familie. Sie handelten vorwiegend mit Textilien und Leder und trugen maßgeblich zum allgemeinen Wohlstand der Stadt bei, die das ihrerseits in den gegebenen Grenzen anerkannte. Einigen Trepps war wahrscheinlich schon vor der Verleihung der Bürgerrechte an Juden im Jahr 1833 ein bürgerähnlicher Status gewährt worden, ein Mitglied der Familie wurde ins Stadtparlament gewählt. Mein Urgroßvater, Salomon Juda Trepp, war als Kaufmann zu einem wohlhabenden Mann mit respektablem Grundbesitz geworden. Sein Sohn, mein Großvater, besagter Judah Salomon, besuchte Oper und Symphonie, schrieb Poesie und war ein offener und gutherziger Mensch, dem nicht nur das Interesse, sondern jeglicher Sinn fürs Geschäftliche fehlte. Als ihn ein Freund in wirtschaftlichen Schwierigkeiten um Hilfe bat, bürgte 26
Ach, du wunderschöner Rhein
er für ihn mit seinem gesamten Vermögen – und verlor alles. Das einzige, was ihm in der Verarmung blieb, war ein Zuhause, denn das Haus gehörte seiner Mutter, und die Ehre, weiterhin als Vorsteher der jüdischen Gemeinde zu wirken, wie es sein Vater vor ihm getan hatte. Seine Ehefrau, Caroline Adler aus Urspringen, war jung gestorben, nachdem sie ihm dreizehn Kinder geboren hatte. Einige von ihnen lebten nur einige Monate. Judah Salomon selbst starb jung an Urämie. Mein Vater wurde in jeder Weise zum Haupt der Familie und zum Versorger. Er betreute seinen Vater bis zu dessen Tod und unterhielt eine Schwester, die aus dem Fenster gefallen und schwerst behindert war. Eine andere Schwester soll so schön gewesen sein, daß Künstler kamen, um sie zu malen. Sie ging mit einem Mann, den sie liebte, nach Rußland. Mein Vater wollte Rabbiner werden, doch an Studium oder Weiterbildung war unter diesen Umständen nicht zu denken. Er mußte Geld verdienen. Nach der mittleren Reife besorgte ihm Rabbiner Cahn eine Anstellung in dem kleinen Papiergeschäft und der Kartonagenfabrik seines Bruders Julius Cahn. Es standen nicht viele Arbeitsplätze zur Auswahl, denn das Unternehmen mußte bereit sein, auf seine orthodoxe Lebensweise Rücksicht zu nehmen. So fiel die Wahl auf das Papier- und Kartonagenwerk Cahn und damit auf Mainz, zusammen mit Worms und Speyer einstmals das Zentrum jüdischen Lebens in Deutschland. Die Stadt, in der ich zur Welt kam und in deren Dialekt ich noch Jahrzehnte später verfalle, ohne es zu merken, kaum daß ich deutschen Boden betrete. Es ist nicht nur die Sprache, die Trepp bis zu seinem Lebensende als Rheinländer ausweist. Wenn es stimmt, dass Landschaften die Menschen prägen – und dass es nicht von der Hand zu weisen ist, lassen Dichter und Philosophen erahnen, die über diesen Zusammenhang sinnieren, und darüber, wie stark ihr Denken von Aufenthalten an bestimmten Orten beeinflusst worden ist, an erster Stelle wohl Goethe, der ohne Italien ja ein anderer wäre – wenn es also wahr ist, dann sollte Mainz, ja, diese ganze Region, ein wenig genauer in den Blick genommen werden. Vor allem der Rhein. Leo Trepp hatte eine emotionale Bindung an ihn, die ich nie bis ins Letzte habe ergründen können. Noch in hohem Alter saßen wir an lauen Sommerabenden am Fluss und schwiegen einfach. Mein Mann paffte seine Zigarre, schaute den tiefgehenden Schleppern 27
1. Kapitel: Die Liebe eines Vaters
und den Vergnügungsdampfern hinterher: „Die Linie gab es schon, als ich noch ein Kind war“, sagte er dann oder: „Dahinten, man sieht es von hier nicht, lag die Badeanstalt, da hat mein Vater mir das Schwimmen beigebracht. Da war ich sieben oder acht. Du weißt doch, dass Eltern ihren Kindern das Schwimmen beibringen müssen, oder? So sagt es der Talmud.“ Oft schwieg er einfach. Oder erzählte. Von Spaziergängen. Von Ausflügen nach Wiesbaden. Und von Menschen, die seit jeher am Rhein gelebt hatten. Ich dachte damals und denke heute noch viel mehr, dass es vor allem diese Menschen waren, denen Leo sich seelenverwandt oder zumindest tief verbunden fühlte. Er liebte das heitere Element des Rheinländischen, die Leichtigkeit, die Herzlichkeit und den Wortwitz. Wir haben oft gescherzt, dass die größte Ehrung, die ihm zuteil wurde, der Mainzer Karnevalsorden gewesen sei, den er mit 92 Jahren verliehen bekam, nach einer Nacht, in der ich zwischenzeitlich eingenickt war, weil all dies Schunkeln und Trinken dann doch sehr anstrengend ist, wieder aufschrak und meinen Mann neben mir sitzen sah, strahlend, Arm in Arm mit seinem Nachbarn zur Rechten und mit irgendeiner Kappe mit Glöckchen auf dem Kopf. Dazu muss man schon als Rheinländer geboren sein. Und ob er über die Wichtigkeit der Ehrung nur im Scherz gesprochen hat, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Der Schalk saß ihm im Nacken. Einem Journalisten sagte er einmal: „Sie wissen doch, es gibt die Meenzer, und dann gibt es den Rest der Menschheit.“ Seit Jahrhunderten hatte es Juden gegeben, die Mainzer waren und Rheinländer in anderen Orten. Einige von ihnen, allen voran die Kölner Gemeinde, waren bereits mit den Römern ins Land gekommen. Trepp sprach oft von ihnen, und er schrieb darüber, dass nur ein Jude, Heinrich Heine – und für meinen Mann war er trotz der Konversion zum Christentum immer der Jude geblieben, der trauerte, dass ihm der Übertritt keineswegs den Eintritt in die Mehrheitsgesellschaft geebnet habe und dass nun nicht nur Christen, sondern auch die Juden auf ihn herunterschauten – , dass also nur dieser Jude die Loreley habe dichten können. In der sich ihrer selbst sicheren, blonden Jungfrau sah Trepp Deutschland und in dem kleinen, sehnsuchtsvollen Schiffer auf seinem Kahn den Juden. Und er muss daran gedacht haben, wie zerstörend es immer wieder en28
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dete, tödlich oft. Mitten in unser Schweigen hinein sagte er dann: „Während der Kreuzzüge war der Rhein rot von dem Blut der Juden.“ Über die Beziehung der Juden zum Rheinland und zur jüdischen Bedeutung der Stadt Mainz erzählt er selbst: Erinnere ich mich an meine Jahre in Mainz, sehe ich den Rhein vor mir. Mit ihm verbinden sich Kindheitserinnerungen, aber auch Erinnerungen, die auf Gedanken und Erzählungen beruhen, die mir überliefert worden sind. Ich fühle mich mit Mainz verbunden, weil ich den Rhein liebe, der die Stadt durchzieht und auf alles ausstrahlt. Er gibt der Stadt, zusammen mit den umgebenden Weinhängen, etwas Warmes und Beständiges und gleichzeitig Leichtes und prägt so die Atmosphäre und die Menschen. Und ich bin stolz, ein Mainzer Jude zu sein, denn die Stadt hat eine jüdische Geschichte, auf die man stolz sein kann. Die jüdische Gemeinde war reich an heiliger Tradition, an schöpferischen Gestalten und geistigen Werten. Nicht nur einmal wurde die Gemeinde zu ihren Blütezeiten zerstört. Es begann mit den Verfolgungen während der Kreuzzüge und der Pest und endete mit der Vernichtung durch die Nationalsozialisten. Wenn ich heute am Rhein sitze, denke ich an Spaziergänge mit meinem Vater und erste Schwimmversuche. Und ich denke an die Liebe der Juden zu dem Fluß. Sie siedelten im frühen Mittelalter überall entlang des Rheins, oft angeworben von den Fürsten, die ihre Handels- und Geschäftsfähigkeiten schätzten. Viele von ihnen bauten Wein an. Die Beziehungen zwischen ihnen und den Christen waren meist anständig, wenn es auch immer wieder Spannungen gab. Doch das veränderte sich mit dem ersten Kreuzzug. Vor ihm waren die Juden zwar gewarnt worden, doch hatten sie die alarmierenden Nachrichten ignoriert, die aus Frankreich zu ihnen kamen. Sie konnten nicht glauben, daß sie – einige seit Hunderten von Jahren Rheinländer – getötet werden würden, allein wegen ihrer Religion. Doch genau das passierte. „Unsere Freunde von gestern tun heute, als kennten sie uns nicht mehr und hätten uns nie gekannt“, beklagt einer der Kalonymus Brüder, die der hochangesehenen Gründerfamilie der Mainzer Gemeinde angehörten. Zu Tausenden metzelte die christliche Meute, unter ihnen Frauen und junge Menschen, die jüdischen Bürger hin, wenn sie die Taufe verweigerten. Viele Juden wählten den Freitod, um der Taufe zu entgehen, Väter und Mütter töteten ihre Kin29
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der, bevor sie selbst in den Tod gingen. In Mainz hatte der Bischof die Juden während des ersten Kreuzzuges im Frühsommer 1096 in seinem Palast zu schützen versucht, auch manche Geschäftsfreunde jüdischer Mainzer nahmen die Verfolgten auf und versteckten sie vor den sich nähernden Horden. Und andere Mainzer Bürger traten – zusammen mit den Soldaten des Bischofs und des Burggrafen – den Kampf gegen die Kreuzfahrer an. Doch die meisten Mainzer widerstanden der Versuchung nicht, die Juden zu töten und ihre Besitztümer zu plündern. In wenigen Tagen töteten die Vandalen über tausend Mainzer Juden. Es gibt eine Kina – einen Trauergesang – des Rabbi Kalonymus ben Judah für die Opfer des ersten Kreuzzuges in Mainz, Worms und Speyer. In ihr schildert Kalonymus das Schicksal der Juden in Worms, die sich zu Schawuot, dem Fest der Übergabe der Tora, zum Gottesdienst versammelt hatten, als die Kreuzfahrer in die Synagoge eindrangen. Die Juden hielten nicht inne und sangen das Hallel, den Lobgesang Gottes, während die Kreuzzügler einen nach dem anderen abschlachteten. Das einzige Vergehen der Juden war ihre Treue zu dem einen und einzigen Gott, für ihn starben sie den Märtyrertod. Die Juden weltweit gedenken auch dieser Massaker an Tischa b’Aw, einem Fasten- und Trauertag, an dem wir uns an die Zerstörung der beiden Tempel erinnern. Und egal, in welcher Synagoge ich an Tischa b’Aw bin, ich bitte stets darum, diese Kina lesen zu dürfen, und sie erschüttert mich jedes Mal auf ’s Neue. In den Jahren des ersten Kreuzzuges war Mainz, zusammen mit Speyer und Worms, ein Zentrum blühenden jüdischen Lebens. Hier lebten Gelehrte wie Rabbenu Gerschom, 960 geboren, der das „Licht der Diaspora“ genannt wurde und dessen Verordnungen im gesamten Judentum Anerkennung fanden. Er änderte die Religionsgesetze für die europäischen Juden, was einer Revolution gleichkam. „Nicht länger sollt ihr nach Babylonien schauen, wenn ihr Fragen habt oder eine religionsgesetzliche Entscheidung wollt“, trug er den Juden auf. „Wir haben unsere eigene Gemeinschaft hier. Kommt zu uns und fragt.“ Die Juden sollten nicht mehr maßgeblich von einer Gemeinschaft beeinflußt sein, die mit ihren Lebensumständen wenig zu tun hatte. Rabbenu Gerschom erließ Verordnungen für das nördliche Europa und die hier lebenden aschkenasischen Juden, die ihrer aufgeschlosseneren Kultur entsprach: Den Frauen sprach er mehr Rechte bei Scheidungen zu, er führte das Briefgeheimnis ein, und den Geschäftsleuten gab er eine Ethik an die Hand, die sie 30
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in der Wirtschaftswelt leben konnten. Rabbenu Gerschoms Denken und Haltung waren offen in einer Weise, die prägend für das deutsche Judentum werden sollte. In Mainz wirkte später sein Schüler, Rabbi Yaakov ben Yakar, der wiederum der Lehrer Raschis wurde, des größten Kommentators der Tora, ohne den es den Talmud, so wie er ist, nicht gäbe. Raschi kam aus Frankreich, um in Mainz und dann in Worms zu studieren, und man sagte über ihn: „Alles, was er geworden ist, verdankt er dem Einfluss seines Lehrers.“ Schon Gerschom hatte nicht nur gelehrt, sondern religiöse Poesie geschrieben, nach ihm kamen andere Poeten nach Mainz, deren liturgische Gesänge noch immer in der ganzen Welt im Gottesdienst vorgetragen werden. So ist hier das Gebet „Unetane tokef “ im Mittelalter in die poetische Form gebracht worden, in der es heute in jeder Synagoge auf der Welt zum Neujahrsfest gesprochen wird. In Mainz bildeten große Jeshivot – Talmudhochschulen – weltberühmte Rabbiner aus. Auf dem alten jüdischen Friedhof in der Stadt, dem „Judensand“, finden sich noch immer tausendjährige Grabsteine bedeutender Talmudlehrer. Als Leo Trepp am 4. März 1913 geboren wird, leben rund dreitausend Juden in Mainz, und allein die Zahl der Synagogen bezeugt das rege jüdische Leben, das in seiner Vitalität eine weit größere Gemeinschaft vermuten lässt. Das Buchgeschäft „Magenza“ verfügt über eine solide Auswahl an Literatur, und das jüdische Krankenhaus zieht auch Nichtjuden an. In ihm praktiziert ein Arzt, der Prostataoperationen nur in diesem Krankenhaus durchführt und der so gut ist, dass alle auf Terminen bei ihm bestehen. Der koschere Bäcker und Matzefabrikant Adler und die koschere Konditorei Steiermann zaubern Köstlichkeiten aus jeder Art von Teig. Es gibt ein koscheres Restaurant und zwei koschere Metzger, in deren Auslagen sich von Braten und Schwartenmagen bis hin zu Leberwürsten alles findet, was das Herz begehrt. Viele Juden hatten sich in der Mainzer Neustadt niedergelassen. Im Jahr 1912 weihte die liberale Hauptgemeinde in der Hindenburgstraße die mächtige, im Jugendstil erbaute Neue Synagoge ein, „ein Symbol der jüdischen Gleichberechtigung und des jüdischen Bürgerstolzes“, wie Trepp Jahrzehnte später schreiben wird. Sie hatte eine Orgel, was den orthodoxen Juden dem Religionsgesetz gemäß verbot, dort zu beten. 31
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An den Zentralbau waren ein Vortragssaal und Schul- , Konferenz- und Versammlungsräume sowie Gemeindebüros und das jüdische Museum angegliedert. Diese Einrichtungen nutzten sämtliche Mitglieder der Gemeinde, nicht nur die Liberalen. Bis auf einige Mauerteile brannte alles in der Pogromnacht nieder. Ein aus Resten der Eingangshalle bestehendes Denkmal hat lange an sie erinnert. An diesem Platz steht heute die neue Synagoge für die kleine Mainzer Nachkriegsgemeinde. An der Ecke Flachsmarktstraße und Margaretengasse stand die im maurischen Stil errichtete große Synagoge der „Israelitischen Religionsgesellschaft“, der traditionellen Juden, die keine Orgel hatte. Das ist die Synagoge, in die Leo Trepps Eltern gehen, und mit der er aufwachsen wird. Eine kleine Tafel erinnert heute an sie und ihre Zerstörung. lm Bezirk der Flachsmarktstraße und Schusterstraße, heute die Stadtmitte, lag einstmals das jüdische Ghetto. In der Gasse, die sich an die Synagoge anschließt, fanden sich zu Trepps Zeiten die jüdische Volksschule, nach dem Rabbiner Jonas Bondi im Volksmund ,Bondischule’ genannt, die kleine Synagoge der osteuropäischen Juden, die hauptsächlich aus Polen kamen und ihr eigenes religiöses Leben führten, und ein großer Bau, in dem die Synagoge der ,,Bretzenheimer Kippe“, einer Vereinigung von Juden aus der Vorstadt Bretzenheim, und die Wohnung des ,Sofer’, des Toraschreibers Zeitin, untergebracht waren. Im Keller des Gebäudes lag die Mikwe, das rituelle Reinigungsbad.
Kaiser, Krieg und Vaterland Leo Trepp wächst in der Hindenburgstraße in der Neustadt auf, nicht weit von der liberalen Synagoge entfernt. Die Eltern haben lange vergeblich auf ein Kind gehofft, 1907 hatte seine Mutter eine Fehlgeburt. Erst sechs Jahre später kommt Leo Trepp zur Welt. So ist sein Vater bei seiner Geburt bereits Ende dreißig, seine Mutter dreiunddreißig Jahre alt – in dieser Zeit gilt sie als Spätgebärende. Maier Trepp hat seine Frau, Selma Zipora Hirschberger, im Haus seines Arbeitgebers kennengelernt, sie ist eine entfernte Angehörige der Cahns. Aufgewachsen in Oberlauringen, in einem Milieu ländlicher Frömmigkeit, sind ihr die Weltläufig32
Kaiser, Krieg und Vaterland
Synagoge der neo-orthodoxen Gemeinschaft in Mainz 33
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keit und Offenheit fremd, in der ihr Mann groß geworden ist. Bei den Cahns führt sie den Haushalt der Familie, wahrscheinlich, wie ihr Sohn Leo später mutmaßen wird, „als besseres Dienstmädchen“. Maier Trepp sah im Dienstmädchen den Menschen. In den Ehejahren muss Maier Trepp weiterhin auf vieles verzichten, um für andere da zu sein. Eine seiner Schwestern hat ein uneheliches Kind zur Welt gebracht und stirbt bald darauf. Den Neffen, Otto Trepp, lässt er im Frankfurter Waisenhaus aufnehmen. Bei Familienfeiern ist Otto dabei, doch Leo Trepp wird sich später fragen, warum seine Eltern, die so lange keine eigenen Kinder bekommen konnten, den Neffen nicht adoptierten. Er wundert sich, dass seine Tante, obgleich bereits Mutter, immer noch ihren Mädchennamen trägt, merkt aber schnell, dass dies ein heikles Thema ist. Als er seine Mutter fragt: „Ottos Mutter hieß doch Trepp, ja, warum heißt der denn auch Trepp?“ antwortet die: „Na ja, das ist eben so.“ Das Konzept der Patchworkfamilie gab es noch nicht. Jahrzehnte später werden mein Mann und ich für seinen Cousin Kaddisch sagen, nachdem wir an einem brütendheißen Sommertag im Jahr 2008 den Fries des alten Jüdischen Friedhofs am Börneplatz in Frankfurt mit allen Namen der Frankfurter Opfer abgelaufen sind und schließlich auf die Inschrift ‚Otto Trepp’ stoßen. Eine weitere Schwester von Maier Trepp ist bei der Geburt des letzten Kindes gestorben, und Neffen und Nichten bekommen eine Stiefmutter, über die sie sich bei ihm ausweinen. Sein einziger Bruder, Abraham, besucht das Lehrerseminar in Hannover, und auch ihm bezahlt Maier Trepp die Ausbildung. Stets hinter ihm wachend stärkt ihm seine Frau den Rücken und tritt mit unbeugsamem Willen, von dem noch zu reden sein wird, für ihn und später ihre Kinder ein. Aufgewachsen mit Menschen, die körperlich schwer arbeiteten und für die das Erworbene oft gerade reichte, hat sie die Mühen des Daseins früh erfahren und besitzt den kämpferischen Geist, der Maier Trepp fehlt. Schon im kommenden Jahr wird das Paar, wie alle Familien im deutschen Reich, in die Pflicht genommen. Anfang August 1914 ruft Wilhelm der Zweite seine Soldaten gegen Frankreich und Russland zu den Waffen, und die Männer strotzen vor Kriegsbegeisterung. Jeder will dabei sein, will es dem Feind zeigen, besonders die Franzosen sollen sich nur 34
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vorsehen. Schon bald werden sie dem glorreichen deutschen Heer gegenüberstehen. Und in kürzester Zeit, so die Überzeugung, werden die Truppen siegreich ins Land zurückkehren. Maier Trepp wird sofort eingezogen. Sein Enthusiasmus ist gedämpft. Er ist über vierzig, sein Sohn gerade mal anderthalb Jahr alt. Nun soll er ihn fürs Schlachtfeld verlassen? Und obgleich er sich an seine Zeit als Einjähriger, also als Freiwilliger der preußischen Armee mit höherem Schulabschluss, immer noch als eine der schönsten seines Lebens erinnert, hat er erfahren, dass andere seine Hingabe und allen Einsatz nicht anerkennen. Dem Gesetz nach sind die Juden den Mitgliedern anderer Religionen endlich gleichgestellt. Die Wirklichkeit jedoch sieht anders aus, vor allem an Gerichten und Universitäten und besonders im Militär. Zwar verurteilen einige Offiziere den Antisemitismus, doch in den meisten Köpfen geistern die alten Ressentiments. Und die Gutwilligen beugten sich letztlich dem Diktat der Masse. Maier Trepp hatte als Kandidat für den Reserveoffizier gedient. Als seine zwölf Monate zu Ende gingen, rief sein Hauptmann ihn in sein Büro und sagte: „Herr Trepp, ich habe Ihnen einen Gefallen getan: Ich habe die Abschlussprüfung für die Offiziere an einem Ihrer Feiertage angesetzt.“ Maier Trepp entgegnete: „Was ist das denn für ein Gefallen?“ „Verstehen Sie mich doch recht“, sagte der Hauptmann, „wenn Sie die Prüfung machen, werden Sie natürlich bestehen. Und dann wird das Offizierskorps Sie als Juden ablehnen. Tun Sie sich und mir einen Gefallen, schreiben Sie einen Brief, dass Sie von der Prüfung befreit werden wollen, weil es ein Feiertag sei.“ So stand in seinem Militärpass: „Hat an der Offiziersprüfung nicht teilgenommen.“ Es traf ihn. Umso bemerkenswerter erscheint ihm nun die Entscheidung seines Hauptmanns, der Trepp eigentlich der Schwerartillerie zugeteilt hatte, die Schleswig-Holstein gegen einen Angriff der Dänen verteidigen soll. Doch statt ihn dann in der Truppe dienen zu lassen, beauftragt er ihn damit, jeden Samstagnachmittag eine patriotische Rede an die Soldaten zu halten, zu deren Vorbereitung er die Nachmittage in der Woche frei bekommt. Auf einem Holzfass stehend, spricht Trepp zu der versammelten Truppe. Dieser Dienst macht ihm Freude. Hauptmann und Kameraden erbauen sich offensichtlich an seinen kleinen Vorträgen, und mit deren 35
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Vorbereitung ist er immer so schnell fertig, dass er endlich dazu kommt, die Bücher zu lesen, für die er bis dahin keine Zeit hatte. Maiers Bruder hingegen brennt vor Eifer, in die Schlacht zu ziehen. Abraham Trepp, zwölf Jahre jünger und ungebunden, arbeitet mittlerweile an der jüdischen Schule in Quakenbrück. Und schon drei Tage nach der Mobilmachung hält er einen Abschiedsgottesdienst in der Synagoge, an der er neben seiner Lehrertätigkeit als Kantor fungiert. Seinen Gemeindemitgliedern schießen Tränen in die Augen, als er schließt mit den Worten: „Kämpfen wollen wir als Deutsche zum Ruhme des Vaterlandes und als Juden für die Ehre des Judentums.“ Auch Abraham hat es bitter enttäuscht, dass man seinen Patriotismus nicht schon während seiner einjährigen Dienstzeit anerkannt hat. War er nicht einer der gewandtesten Turner gewesen? Ein exzellenter Schütze? Und liebte er nicht seinen Kaiser? Dennoch, alle Kameraden waren beim Abgang zu Gefreiten, manche zu Unteroffizieren befördert worden. Er nicht. Nun wird er seine Hingabe erneut unter Beweis stellen können. Seine Schüler und beinahe die ganze Gemeinde begleiten den Achtundzwanzigjährigen zum Bahnhof, von wo die Soldaten an die Grenze zu Frankreich transportiert werden. Während der Zug anzuckelt, singen die Soldaten „Deutschland über alles.“ Die geübte Tenorstimme von Abraham Trepp ist nicht zu überhören. Ihr Ziel ist Paris. Schon nach einigen Marschtagen fällt seinem Hauptmann die Schneidigkeit und Gewandtheit des Hobbyathleten auf. „Warum sind Sie nicht befördert worden während Ihrer Dienstzeit?“, fragt er ihn. „Herr Hauptmann, ich bin Jude“, ist die schlichte Antwort. Sein Gegenüber, sichtlich betroffen, antwortet nicht. Als sie ihr erstes Quartier aufschlagen, treibt es Abraham Trepp am nächsten Morgen in die Synagoge, doch einige französische Juden erklären ihm, dass man keine öffentlichen Gottesdienste abhalte, solange der Feind ihr Städtchen besetzt halte. Nach mehreren Gefechten mit hohen Verlusten marschiert die Kompanie weiter Richtung Marne. Es ist brütend heiß, und weil sie Angst haben, die Franzosen könnten das Wasser vergiftet haben, trinken sie kaum. Trepps Begeisterung kann das nicht dämmen, er meldet sich für riskante Aufgaben und erträumt sich den baldigen Einzug in Paris. Umso größer ist seine Enttäuschung, als der Befehl zum Rückzug kommt. Die Marneschlacht ist verloren. Es fol36
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gen zahlreiche Kämpfe und lange Märsche. Mittlerweile haben sich seine Füße entzündet. Sein alter Hauptmann ist längst gefallen, der neue kommt auf ihn zu und fordert ihn auf, in einem der Transportautos mitzufahren. Trepp lehnt ab. Auf keinen Fall will er den Juden als Drückeberger erscheinen lassen. Er kämpft weiter. Als sich ein anderer Soldat beklagt, sagt der Kommandeur, auf Trepp zeigend: „Nehmen sie sich ein Beispiel an Ihrem Kameraden. Mit solchen Soldaten werden die Deutschen siegen.“ Am 17. September meldet sich Schütze Trepp freiwillig dafür, den vorderen Posten zu stärken und Nachrichten zu übermitteln. Immer wieder robbt er zurück mit neuen Meldungen. Seine beiden Kameraden liegen schon tot neben ihm, umso mehr sieht er sich in der Verantwortung. Am 19. September explodiert unmittelbar neben seinem Beobachtungsposten eine Granate. Sie verwundet ihn schwer an Kopf, Rücken und Beinen. Er verliert sein Gedächtnis und ist blind. Nach vier Wochen im Feldlazarett bessert sich sein Zustand etwas. Als er das Bewusstsein wiedererlangt, überreicht ihm der Leiter des Lazaretts im Namen des Kommandos das Eiserne Kreuz als Auszeichnung für tapferes Verhalten vor dem Feind. Drei Monate später kann er wieder sehen, nach weiteren vier Wochen entlassen ihn die Ärzte. Leo Trepp hat diese Geschichte – die der Verwundete übrigens nicht selbst aufgeschrieben, sondern die ein Soldat aus seiner Kompanie erzählt hat, und die im März 1915 unter der Überschrift „Ein jüdischer Lehrer als Kriegsheld“ im Israelitischen Familienblatt zu lesen war – manchmal in Diskussionen oder Vorträgen erzählt. Meist wenn Fragen kamen, die darauf schließen ließen, dass der Fragesteller die deutschen Juden als Gruppe definierte, denen vor der Schoah eine Art Gastrecht gewährt worden sei. Dass sie nicht dazugehörten. Trepp erwähnte dann seine Familie, die seit über fünfhundert Jahren in Deutschland gelebt hatte, als ihr Staat beschloss, sie zu töten. Und er erzählte von Abraham Trepp. Denn die Geschichte hat ein zweites Kapitel. Zwanzig Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, kurz vor der Pogromnacht 1938, wird Leo Trepp seinen Onkel zum letzten Mal besuchen. Dessen ältester Sohn, ebenfalls ein Leo, ist bereits 1934 nach Amsterdam geflohen, Abraham Trepp ist also keineswegs blind für das, 37
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was in Deutschland passiert. Doch als sein Neffe fragt: „Wollt Du und Tante Clara nicht auch gehen?“, antwortet er: „Nein. Ich kann bleiben. Was ich dem Vaterland gegeben habe, was würde man mir denn tun?“ Er vertraut seinem Land. Wie andere Juden, die im Krieg gekämpft haben, glaubt er, dass es ihn anerkennen wird. Als Bürger. Als Veteran. Als jemanden, der bereit war, sein Leben für dies Land einzusetzen. Hat er die Soldatenzählung vergessen, mit der das Kriegsminsterium auf Druck von Antisemiten schon 1916 nachweisen wollte, dass Juden Drückeberger waren? Und die dann nicht veröffentlicht wurde, als sich herausstellte, dass über hunderttausend jüdische Soldaten an der Front dienten und über zwölftausend gefallen waren? Liest man, was Leo Trepp über die angeordnete Zählung schreibt, spürt man eine Enttäuschung und Bitterkeit, die sein Onkel ebenfalls empfunden haben muss. Doch Abraham Trepp kann auf diese Gefühle nicht achten. Er hat keine Wahl. Er muss vertrauen. Das Schrappnell wandert in seinem Körper herum. Erst 1932 kann man es herausoperieren. Bis dahin hatte er eine offene Wunde, die täglich neu verbunden werden musste, und die ihm kaum erträgliche Schmerzen bereitete. Seine Beine sind völlig zerschossen, er ist teilweise gelähmt. Er muss glauben, dass seine Hingabe anerkannt wird. Wie hätte er diesen kaputten Körper, wie hätte er die Jahre nach dem Krieg, wie hätte er ein weiteres Leben in Deutschland sonst aushalten können? Er liebt, und er muss hoffen, dass er wiedergeliebt wird. Leo Trepp erzählt diese Geschichte im Nachkriegsdeutschland, weil sie ein kleiner Ausschnitt ist aus der Chronik der Liebe, die deutsche Juden mit ihrem Land verbindet. Und er erzählt sie, weil sich in ihr eines seiner Lebensthemen spiegelt. Warum hat sein Land ihn verraten? Warum kann er kein Deutscher mehr sein? Es ist auch seine eigene Verzweiflung über das Land, die sich in dieser Episode spiegelt. Die Liebe von Abraham Trepp bleibt unerwidert. Er und Clara Trepp werden in Auschwitz ermordet. Als Leo seinen Onkel im Dezember 1917 sieht, leidet der noch frisch unter den Folgen seiner Verwundungen. Die Familie ist zusammengekommen, um die Brit Mila von Gustav Israel zu feiern, die Beschneidung von Leos Bruder, der in der letzten Woche wie vom Himmel gefallen plötzlich dalag. Die Eltern hatten Leo zwar erzählt, 38
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Gustav Israel Trepp
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1. Kapitel: Die Liebe eines Vaters
Maier Trepp
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er könne einen Bruder oder eine Schwester erwarten, doch viel hatte er mit dieser Information nicht anfangen können. Eines Nachts aber hatte sein Vater ihn geweckt und ins Elternschlafzimmer getragen. „Du hast einen Bruder“, flüsterte er und hob seinen Ältesten über die Krippe. Im Körbchen sah Leo ein wenig rosa Stirn und winzige, geschlossene Augen. Nun läuft er, inzwischen vier Jahre alt, aufgeregt zwischen den Erwachsenen hin und her. Er lehnt sich an Onkel Abraham, den er sehr mag: die braunen Augen, die ihn durch eine Nickelbrille anfunkeln, das spitzbübische Lächeln, und trotz des starken Humpelns erscheint ihm der Onkel jungenhaft. Sein allerliebster Onkel aber wird Onkel Julius werden, ein Bruder seiner Mutter, der auch in der Runde sitzt und zu dem sich bald eine enge und vertrauensvolle Bindung entwickelt. Julius Hirschberger hat vier Jahre lang er an der Front gedient und danach ein Weingeschäft gegründet, das offiziell seinen Sitz in Mainz hat, nämlich in der Trepp’schen Wohnung. So besucht er die Familie regelmäßig und verbringt alle Feiertage mit ihr. Er selbst lebt in Leipzig und hat seine Kunden in Sachsen. Eine Binger Firma, Feist und Reinach, beliefert sie unter seinem Etikett mit Wein und Likör. Gelegentlich klagt er darüber, dass ihm der jüdische Name Hirschberger Kundenkreise verschließt, die er zu gewinnen hofft, wenn auch mit einem wissenden Schulterzucken. Jeder weiß, dass der Antisemitismus in Sachsen weit verbreitet ist. Da kann man nichts machen. Dennoch bleiben ihm alte Kunden treu. Seine Ware ist exzellent, und das Geschäft brummt. Onkel Abraham ist als Sandek, als Gevatter, der den Säugling bei der Beschneidung auf dem Schoß hält, aus Quakenbrück gekommen. Er arbeitet wieder als Volksschullehrer und betreut nun wegen des Lehrermangels nicht nur die jüdische, sondern auch die Gesamt-Volksschule. Für Leo ist die Zeremonie ein großes Ereignis und stolz fragt er seinen Vater: „Bin ich heute eine Hauptperson?“ Maier Trepp nimmt ihn auf seine Knie und sagt: „Du bist dabei, aber nicht ganz oben. Erst kommt das Kind, dann die Mutter, dann der Mohel, dann Onkel Abraham als Sandek, ich komme dann auch, und dann kommst du.“ „Bescheiden“, schreibt Trepp, „setzte er sich ans Ende, um mich dort nicht allein zu lassen.“ 41
1. Kapitel: Die Liebe eines Vaters
Auch wenn er sich an vieles aus seinen ersten Kindheitsjahren später nicht mehr genau erinnern wird, ist das Gefühl der Geborgenheit geblieben, das Maier Trepp ihm gab: Mein Vater war der wichtigste Einfluß auf mein Leben, und meine Liebe für ihn ist heute so stark wie damals. Sie erhält mich und gibt mir Kraft. Er war ein stattlicher Mann, mit warmen, dunkelbraunen Augen und Schnurrbart und stets elegant gekleidet. Er sprach in einem ruhigen Tonfall. Selbst wenn ich vorlaut war oder mich nicht benahm, verlor er seine Ruhe und Geduld nicht. Eines Abends bei Tisch reizte ich ihn wirklich, er wurde ungehalten. Ich reimte und sang: „Väterchen, sei doch nicht bös, das Bravsein macht mich so nervös“, und er begann zu lachen. Wenn wir Strafe verdienten, erklärte er mir, warum ich nun Klapse auf meine Hand bekomme und wie viele es sein würden. „Das und das hast du getan, dafür mußt du die Verantwortung übernehmen.“ Er schlug einige Male mit seiner Hand auf meine Finger, und dann war es vorbei. Er trug mir nie etwas nach, und ich ihm auch nicht. Es wurde nie wieder darüber gesprochen. Er konnte sich gleich mit mir hinsetzen und mir eine Geschichte erzählen. Es war vollkommen vergessen. Er war kritisch manchen Menschen und Entwicklungen gegenüber, doch nie hegte er Vorurteile, und er kannte keine Bitterkeit, nicht einmal verlor er seine Milde. Und ich kann mir nicht vorstellen, daß er jemals jemanden gehaßt hat. Er verzieh den Menschen schnell. Wenn er nach Hause kam, erzählte er meiner Mutter manchmal, daß dieser oder jener etwas zu ihm gesagt hatte, das er als ungerechtfertigt oder verletzend empfunden hatte. Nach solchen Angriffen war sein ganzer Rücken rot vor innerer Spannung. Doch zwei Wochen später erzählte er über denselben Mann: „Er hat mich um eine Gefälligkeit gebeten, die hab ich ihm auch gern getan.“ Und dann sagten wir: „Der hat dich doch erst vor zwei Wochen beleidigt!“ „Ach, das hab ich ganz vergessen!“ Und er hatte es wirklich vergessen. Etwas hob ihn über die Kleinlichkeiten und das Gezänk der Masse hinweg. Für mich trug er sein Leben lang den Geist der Aristokratie in sich, der mit der jahrhundertelangen Verantwortung – als Führer der Gemeinde in Fulda – in die Familie hineingekommen war, und dessen er sich selbst wohl nicht bewußt war. Eine meiner ersten Erinnerungen geht zurück in eine Bombennacht im Jahr 1917. Ich war vier Jahre alt, mein Vater trug mich auf seinen Armen die 42
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Selma Zipora Trepp
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1. Kapitel: Die Liebe eines Vaters
Treppen hinunter in den Keller, ein Fenster im Flur stand offen, und ich sah einen blutroten Himmel. Meine Hände umklammerten seinen Kragen, die Bomben regneten auf die Stadt, und Soldaten antworteten mit Gewehrschüssen, auf den Straßen heulten die Sirenen, doch ich spürte den Schutz meines Vaters und fühlte mich sicher. Dieses Gefühl, seine Arme um mich geschlungen, hat mich ein Leben lang begleitet. Er trug seine Uniform. Zu dieser Zeit war er bereits nach Mainz zurückversetzt worden – man hatte erkannt, daß er gut schrieb und sprach – und leistete seinen Dienst in der Kaserne auf der Großen Bleiche. Dorthin brachten wir ihm sein Essen, wenn er vierundzwanzig Stunden Dienst hatte. Ich besuchte ihn gern in seiner schmalen Stube direkt am Eingangstor, doch das Glück währte nie lange, denn Besuche waren verboten. Später kam er in ein Militärbüro in Kastel auf der anderen Seite des Rheins. Mit ihm arbeiteten mehrere andere Juden, und am Schabbatnachmittag holten wir die ganze Gesellschaft halbwegs auf der Ernst-Ludwig-Brücke ab. Trepps Mutter Selma Zipora ist schlank und hat ein hübsches Gesicht, doch in ihren Zügen spiegelt sich eine gewisse Härte, der „Gram des Schicksals“, wie Trepp schreibt. Nach der Volksschule ist sie für ein Jahr in die Schule der katholischen Schwestern geschickt worden, um den „letzten Schliff “ zu erhalten, und geht dann als Haushälterin einer streng orthodoxen Familie nach Paris, bevor sie bei den Cahns anfängt. So perfektioniert sie ihr Französisch. Die Stadt jedoch mit ihren Vergnügungen und Versuchungen nimmt sie als Gefahr wahr für ihre tief religiöse Lebensauffassung. So sieht sie wenig von Paris, bleibt zu Hause und stärkt sich durch die Lektüre von Bibelkommentaren und religiösen Büchern. Sie trägt einen Scheitel, eine Perücke, wie damals alle orthodoxen Frauen, und niemals wäre sie ohne ihn durch eine Tür mit einer Mesusa gegangen. Zwischen den Betten der Eltern steht an manchen Tagen eine Barriere aus Karton, damit sie sich nicht unabsichtlich berühren, wenn Selma Trepp ihre Periode hat. Einmal kommt sie aus der Mikwe und ist schon fast zu Hause, als sie etwas Schmutz unter einem ihrer Fingernägel sieht. Sie geht wieder zurück, reinigt sich und taucht erneut in der Mikwe unter. Der kleine Leo beobachtet das alles mit 44
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Interesse, er hat großen Respekt vor seiner Mutter und liebt sie, doch eine intensive Nähe wie zu seinem Vater entwickelt sich zwischen den beiden nicht. In den letzten beiden Kriegsjahren liegt Mainz unter heftigen Fliegerangriffen. Neben Gustav im Babykorb warten stets die Wohnungsschlüssel, eine Flasche Milch und eine Kerze. Sobald die Sirenen zu heulen beginnen, greifen die Erwachsenen Leo und den Korb und stürzen in den Keller, wo jede Familie ihre Stühle und Wolldecken hat. Die Gemeinde verteilt während dieser Jahre Gottesdienste zu den Hohen Feiertagen auf verschiedene Privathäuser, damit nicht mit einem Angriff eine ganze Synagogengemeinschaft getötet werden würde. Dann ist der Krieg aus. Ich erinnere mich an den Rückzug des deutschen Heeres durch die Kaiserstraße, wir alle strömten hin und standen versammelt, um den Soldaten Respekt zu zollen. Unser Nachbar, Herr Goldmann, ein Invalide mit einem Holzbein, humpelte über die Straße und fütterte die Pferde mit Würfelzucker. Damals gab es schon Nahrungsmittelmarken, er mußte den Zucker aus seinem kärglichen Vorrat gesammelt haben. Einige Tage nach dem Rückzug marschierte mit Trompetengeschmetter die französische Besatzungsarmee dieselbe Straße herunter. Wir blieben zu Hause. Noch vor Ende des Krieges, Leo ist fünfeinhalb Jahre alt, beginnt sein Vater den Hebräischunterricht und fängt an, mit ihm Tora und Mischna zu lernen. In der Woche geht Leo nachmittags zu Julius Kissinger, dessen Neffe später Außenminister der Vereinigten Staaten werden soll. Nach einem halben Jahr fängt er an, das erste Buch Moses zu übersetzen. Maier Trepp übernimmt den Toraunterricht, wann immer er zu Hause ist, und erzählt seinem Sohn, wie die Rabbiner im Talmud versuchen, dem Ganzen einen menschlichen Sinn zu geben. Meist sieht der Vater seinen Sohn nur am Wochenende. Er ist als Vertreter unterwegs, sein Kundenkreis erstreckt sich über das deutsche Reich bis in die Schweiz. Bald wurde mein Vater Prokurist, mit der Folge, daß er nun meist auch sonntags und an Kalenderfeiertagen für ein paar Stunden ins Büro mußte. 45
1. Kapitel: Die Liebe eines Vaters
Die Arbeit rieb ihn auf. Am Sonntagabend, oft schon am Sonntagmorgen, wenn es früh losging, packte meine Mutter die koschere Salami in den Koffer, vorher verstaute sie den kleinen Spirituskocher und Konserven. Denn nicht überall gab es koschere Restaurants. Am Montagmorgen, bevor mein Vater losfuhr, segnete er Gustav und mich. Wenn wir noch im Bett lagen, gab er uns den Segen im Schlaf. Um Selma Trepp bei der Versorgung von Leo und Gustav zu helfen und um ihr Gesellschaft zu leisten, ist ihre Schwester Babette aus Oberlauringen zu ihnen gezogen. Leo liebt seine Tante heiß und innig, die, wie er schreibt, „immer tröstete, beruhigte und liebend sorgte“. Hochgewachsen, mit einem ebenmäßigen Gesicht, schlug sie mehrere Heiratsanträge aus, um bei „ihren Kindern“ zu bleiben. An ihren letzten Verehrer erinnerte sich Leo Trepp noch. „Er kam zu Besuch aus Jerusalem in die Gemeinde, und ich mochte ihn.“ Doch er ist froh, dass Tante Babette sie nicht verlässt. Wann immer es ihm möglich ist, verbringt Maier Trepp Zeit mit seinen Söhnen. Gustav macht bald deutlich, dass er die Begeisterung des Vaters für Kunst und Kultur nicht teilt. Leos Interesse ist dafür umso größer. Der Vater liest ihm vor und erzählt ihm vom großen Rabbiner Rashi, er betrachtet Bildbände mit seinem Sprössling und erklärt die Unterschiede zwischen Barock und Renaissance, Romantik und Biedermeier, und warum er Richter und Spitzweg mag. Bald ermahnt er Leo nicht mehr, während des Essens die Ellbogen vom Tisch zu nehmen. Stattdessen sagt er „Sixtinische Madonna“, und Leo zieht die Arme zurück, denn er sieht die zwei Engel von Raffael vor sich. Zumindest einmal in seinem Leben müsse er die Madonna in Dresden besuchen, trägt Maier Trepp seinem Sohn auf, der das Versprechen 2008 einlöst. So lernt der kleine Leo Rembrandts Mann mit dem Goldhelm sowie Spitzwegs Landschaften kennen und stapft an der Hand seines Vaters in die Oper, während er gleichzeitig in die Volksschule geht. Die jüdische Bondischule macht ihm Spaß, wenn ihn auch der Unterrichtsstoff nicht besonders herausfordert. Allerdings hapert es in den ersten Jahren mit seiner Rechtschreibung. Dafür liest er nun fließend hebräisch:
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Leben in zwei Kulturen
Nach zwei Jahren hatte ich das erste Buch Moses beendet. Und meine Eltern richteten mir zur Feier des Sijums, des Abschlusses, mein erstes und einziges Kinderfest aus. Nun war ich wirklich einmal Hauptperson und genoß es. Herr Kissinger schenkte mir ein Buch mit Kindergeschichten von Heinrich Einstädter, die vorher im „Israelit“ abgedruckt worden waren. Einstädter hatte Verwandte in Oberlauringen, und bei seinen Besuchen hatte er meinem Bruder und mir versprochen, unsere Namen in seine Geschichten einzuweben, was er wirklich oft tat. Das Buch war also im doppelten Sinne mein Buch!
Leben in zwei Kulturen Die Trepps leben das bildungsbürgerliche Leben vieler deutschen Juden in den Städten. Sie engagieren sich politisch, halten sich über Neues in Kunst, Kultur, Musik und Literatur auf dem Laufenden und unterstützen kulturelle Einrichtungen genau wie die religiösen. Während das religiöse Wissen der säkularen Juden dünn ist, erhalten die orthodoxen städtischen Juden neben ihrer geisteswissenschaftlichen Bildung eine umfassende jüdische Erziehung. Im Jahr 2015 hielt David Ellenson, früherer Präsident des amerikanischen Reform-Seminars „Hebrew Union College“ und anerkannter Experte für das deutsche Judentum, einen Vortrag an der Boston University zu Ehren von Leo Trepp. Das Thema lautete „Wie Deutschland das moderne Judentum schuf “. Ellenson sprach über die deutsche Reformbewegung, die dann in die Vereinigten Staaten kam. Über Menschen wie Leopold Zunz, Abraham Geiger, Samson Raphael Hirsch und Zacharias Frankel. In der anschließenden Diskussion wurde klar, wie wenige Zuhörer sich diese Persönlichkeiten heute noch vorstellen konnten. Juden, die vollkommen in zwei Kulturen zu Hause waren, die mühelos von einer in die andere wechselten und Mendelssohns Philosophie genauso bedachten wie Kants, die aus der einen Welt heraus Entwicklungen in der anderen bewerteten, Geschehnisse in Beziehung setzten und wechselseitige historische und philosophische Einflüsse sahen. Die in der einen Minute Shakespeare und Lessing verglichen und in der anderen die mittelalterlichen Lehrer Maimonides und Rashi. Vielleicht würde man solche Menschen in unseren Tagen spirituelle oder re47
1. Kapitel: Die Liebe eines Vaters
ligiös-intellektuelle Kosmopoliten nennen. Als die Rede auf Leo Trepp und damit auf die heutige Zeit kommt, sagt Ellenson: „Menschen wie Rabbiner Trepp werden nicht mehr gemacht.“ Dass dies überhaupt einmal möglich war – dass es auch für fromme Juden möglich war, sich mit weltlichen Herausforderungen und Ideen ebenso auseinanderzusetzen wie mit talmudischen Fragen – ist dem Rabbiner und Reformer Samson Raphael Hirsch zu verdanken. Seinen Einfluss auf das orthodoxe Judentum in Deutschland und auf Leo Trepp kann man nicht überschätzen. Für die meisten deutschen Juden bedeuteten die ersten Jahrzehnte des neunzehnten Jahrhunderts stetige Veränderungen. Die Besatzung durch die Truppen Napoleons hatte ihnen in weiten Teilen Westdeutschlands für einige Jahre Emanzipation und Bürgerrechte gebracht, bis sie nach dem Abzug der französischen Truppen 1814 flugs wieder zu Bürgern zweiter Klasse wurden. Dennoch hielt die innerjüdische Aufbruchstimmung an. Man begriff das Judentum nur noch als Religion, nicht mehr als etwas Nationales. Allein Deutschland sollte Heimat sein. Und das wollten die Juden nun auch zeigen, in Sprache und Kultur ebenso wie in der Gestaltung des Gottesdienstes. Einige Anhänger der Reformbewegung erstrebten nicht nur die politische Gleichstellung der Juden, sondern eine radikale Änderung der Gottesdienste. Sie schafften Gebete ab, führten die Orgel ein, überließen es den Einzelnen, bestimmte Gebote zu befolgen, und einige wollten so weit gehen, den Schabbatgottesdienst auf den Sonntag zu verlegen. Für Hirsch dagegen, der 1808 geboren wurde und 1888 starb, waren und blieben Tora und Halacha der Maßstab für das jüdische Volk. Gleichzeitig dachte er modern: Er begrüßte die Emanzipation der Juden als Geschenk, weil sie so Gott noch besser dienen können. Und wie die Vertreter der Reform auch, setzte er sich dafür ein, dass gläubige Juden und künftige Rabbiner studieren sollten, weil es die Berufschancen verbessern werde, etwas, das bis dahin bei den Orthodoxen nicht akzeptiert war und vielen Juden im Osten Europas unerhört schien. Zu derselben Zeit, als Hirsch seine Philosophie formulierte, schrieb sein orthodoxer Kollege in Breslau, Salomo Tiktin, wer immer die Hallen einer Universität betreten habe, sei es nicht wert, als Rabbiner zu dienen. Hirsch selbst besuchte kurzzeitig die Universät in Bonn, wo er mit seinem Kommili48
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tonen und dem späteren Führer der Ultra-Reform, Abraham Geiger, Freundschaft schloss. Hirsch sah den Platz der Juden in der Mitte der Gesellschaft. Sie müssen die jüdischen Religionsgesetze strikt befolgen, doch darin sah er keinen Widerspruch zum Deutschsein. Im Gegenteil. Die Tora gebiete den Juden, die Nichtjuden zu lieben, ihnen gegenüber gerecht zu handeln, jedes Leben zu achten. Die gesamte Erde zu schützen sei ihre Pflicht, einschließlich der Planzen und Tiere. Hirsch glaubt, dass Verantwortung und Pflicht der Juden darin liegen, den Mitmenschen durch die Einhaltung der Gebote das Potential einer menschlichen, von Gott geliebten Gesellschaft zu zeigen. „Der Wert des Judentums liegt darin, dass du durch das Judentum zum Menschen wirst.“ Juden sollen wahre Mitmenschen sein, mitfühlende Menschen, die den anderen mit aller Kraft beistehen. Der Jude soll – so schreibt es Hirsch in Die Neunzehn Briefe über Judenthum – „Hungrige speisen, Leidende trösten, Kranken helfen, Unversorgten Versorgung bringen, Unberatenen Rat, Unbelehrten Belehrung spenden, Entzweite vereinen, Segen werden, wie und wo Du kannst.“ Wenn die Juden alle Gebote einhielten und ihren nichtjüdischen Brüdern als bewusste Juden, als „Israel Mensch“ begegneten, würden diese den Wert und die Schönheit des Judentums erkennen. So sieht er in der gelebten Religiosität der Juden auch einen Weg, endlich als vollwertige Mitmenschen akzeptiert und geachtet zu werden. Zudem ruft der orthodoxe Reformer die Juden in seinen „Neunzehn Briefen“ auf, sich mit vollem Herzen der nichtjüdischen Kultur und Bildung zu öffnen und führt damit einen Aufruf des Propheten Jeremia sowie eine rabbinische Aufforderung im Talmud weiter. Seine Philosophie von „Tora im Derech Eretz“ – Tora in weltlicher Verbundenheit – bedeutet nicht nur, dass Juden alle staatlichen Gesetze zu beachten haben. Nein, sie sollen aktiv für das Wohl ihres Staates arbeiten und kämpfen: Gute Juden müssen gute Deutsche, müssen Patrioten sein. Als ich mich nach dem Tod meines Mannes mit der Lehre von Hirsch beschäftige und seine „Neunzehn Briefe“ lese, muss ich immer wieder an Leo denken. Jeden Morgen legt er Tefillin, und in seinen letzten Wochen bekennt er vor dem Einschlafen seine Sünden, wie es Sterbenden vorgeschrieben ist. Er weiß nicht, ob er am nächsten Tag aufwachen wird, und es wäre unvorstellbar für ihn, in den Tod zu gehen, ohne diesem Gebot 49
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gefolgt zu sein. „Warum sind dir die Tefillin im Morgengebet so wichtig“, frage ich ihn irgendwann. „Das kann ich dir sagen“, erwidert er. „Den ganzen Tag über bin ich aktiv. Ich bin dein Partner, ich bin der Vater meiner Tochter, ich bin der Gelehrte, ich denke und schreibe. Doch wie tue ich das alles? Wie sehe ich meine Aufgaben und Verpflichtungen? Als was gehe ich sie an? Das ist es, was ich jeden Morgen tue. Ich vergegenwärtige mir, als was ich in die Welt hineingehe und was ich bin. Ein Jude.“ Ich habe manchmal an diese Antwort gedacht, wenn ich im Krankenhaus sah, wie es ihn in seinen letzten Tagen anstrengte, sich die Gebetskapsel um den Kopf zu legen und die Riemen um seinen Arm festzuziehen. Es gab mir Ruhe zu wissen, dass er etwas tat, was für ihn unerlässlich war. Doch wie tief Hirsch meinen Mann geprägt hatte und wie viel von dessen ‚Tora im Derech Eretz’ in seiner Antwort lag, erkenne ich erst beim Schreiben dieses Manuskripts. Trepp wird die Schwächen der neo-orthodoxen Gedanken später harsch kritisieren, sieht aber den bahnbrechenden Einfluss von Hirsch auf das deutsche Judentum als zu wichtig an, um den Wert seiner Lehre nicht anzuerkennen, selbst wenn sie ihm nicht weit genug ging. Dass Hirsch die deutsche Orthodoxie für immer verändert hatte, musste anerkannt werden. Zum zweihundertsten Geburtstag des Reformers schreibt Leo Trepp für die „Zeit“ eine Hommage an ihn. Sein Leben lang wird er Hirsch zitieren und dessen in der eigenen Zeit revolutionäres Denken bewundern. Maier Trepp wird seinem Kind auch in dieser Hinsicht zum Vorbild: Mein Vater war dem Denken Hirschs mit ganzer Seele verhaftet. Er lebte in zwei Welten, die sich für ihn in idealer Weise verbanden: Tora und Talmud waren die Basis seines Daseins und ethischen Handelns, sie inspirierten ihn emotional und intellektuell, wie die Kultur des weltlichen Lebens ihn begeisterte und herausforderte. Er konnte aus beidem das Wesentliche herausziehen und es miteinander verbinden. Das eine vertiefte die Wahrnehmung des anderen. Er war, was Hirsch „Israel Mensch“ nannte, ein Mensch in der Fülle dieser Bedeutung. Und damit gab er mir das Ideal des deutschen Juden. In Mainz hat der Gemeinderat unter Führung des liberalen Rabbiners Joseph Aub Mitte des neunzehnten Jahrhunderts entschieden, eine Or50
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gel in den Gottesdienst einzuführen. Daraufhin berufen die Mitglieder, die sich der Orthodoxie verbunden fühlen, 1854 Marcus Lehmann als ihren Rabbiner. Der erweist sich als so hervorragender Prediger, dass die Gemeinschaft schnell wächst und Stadtbaumeister Eduard Kreyßig ihre kleine Synagoge nach einigen Jahren umbauen und erweitern muss. Die anfänglich rund fünfzehn Familien nennen ihre Gemeinschaft „Israelitische Religionsgemeinschaft“. Doch mit der herkömmlichen Orthodoxie, die weiterhin in Osteuropa praktiziert wird, hat die deutsche Variante nicht mehr viel gemeinsam. Anders als Hirsch selbst, der noch vertreten hatte, dass die Orthodoxen aus einer Gemeinde, denen auch liberale Juden angehören, austreten und eine eigene Gemeinde gründen müssen, bleiben beide Gruppen in Mainz unter dem Dach derselben Gemeinde und teilen sich deren sonstige Einrichtungen. Dieses Modell der Einheitsgemeinde wurde an fast allen Orten in Deutschland übernommen. Die Mehrheit der deutschen Juden würde man heute wohl als konservativ bezeichnen, wie Trepp später sagt. Beide Gruppen achteten einander, und in manchen Familien gehörten die Jüngeren der liberalen und die Eltern der orthodoxen Synagoge an. So kam Paul Simon, einer der führenden Rechtsanwälte in der Stadt, an den hohen Feiertagen stets für einige Stunden aus der liberalen Synagoge in unseren Gottesdienst, um mit seinem Vater, Eduard Simon, zu beten, der ein guter Freund meines Vaters war. Zwar teilten nicht alle Mitglieder der Israelitischen Religionsgemeinschaft die überschwengliche Begeisterung meines Vaters für Musik und Kunst. Doch Oper und Literatur waren ziemlich üblich. Vielleicht hatte der Alteisenhändler weniger Goethe gelesen als der Anwalt, doch Bildung erstrebten alle. Die meisten gingen zu den Vorträgen, die es in der Orgelsynagoge zu hören gab. Und zusammen mit den Liberalen gestaltete unsere Synagoge den alten Friedhof zum Denkmalfriedhof um. Verantwortlich dafür war der Rabbiner der Orgelsynagoge, Dr. Sali Levi, ein großer, stattlicher Mann mit einem langen rötlichen Bart und von imposanter Erscheinung. Persönlich stand er dem traditionellen Judentum nahe. Während des Krieges war er Armeerabbiner im Osten gewesen und hatte vielen der Juden des Ostens wertvolle Hilfe gebracht. Er war ein hervorragender Prediger, der mich beeinflußte, obwohl ich ihn nur bei Veranstaltungen und Beerdi51
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gungen hörte. Er veröffentlichte Studien in jüdischer Geschichte und engagierte sich im Kulturleben der Stadt, er war einer der Gründer der Mainzer Volkshochschule und ein würdiger Vertreter der Juden in der Öffentlichkeit. Als Kind imponierte er mir dadurch, daß er in Antwort auf meinen Gruß seinen Hut so tief herunterzog, als sei ich ein Würdenträger. Darin spiegelte sich seine Persönlichkeit, die sich in der Zeit der Verfolgung heroisch bewährte. Berufungen ins Ausland ablehnend, blieb er helfend bei seiner Gemeinde. Er diente allen. Erst im letzten Augenblick nahm er mit seiner Familie das Visum nach Amerika an, über Sibirien und China, denn der Krieg war bereits ausgebrochen und versperrte den direkten Weg. Am Tage vor der Abfahrt brach sein geschwächtes Herz, er erlag einem Herzinfarkt und wurde in Berlin begraben. Seine Familie entkam. 1996 besuchte ich sein Grab. Hirsch hat allen Juden die Tür zur Welt geöffnet. Selbst der Frommste unter ihnen kann sich nun mit weltlichen Belangen beschäftigen, ohne sein Judentum verlassen zu müssen, wie es seit Mendelssohn viele Juden getan haben – besonders die Säkularen unter ihnen ließen sich taufen – oder sein religiöses Leben in der Gesellschaft zu verleugnen oder herunterzuspielen. Enthusiastisch begrüßen die Orthodoxen ihre neue gesellschaftliche Freiheit, die mit der religiösen Hand in Hand geht. Schon der bereits erwähnte erste Rabbiner der neo-orthodoxen Mainzer Gemeinde, Marcus Lehmann, hatte nicht nur promoviert, sondern Romane über jüdisches Leben in der Vergangenheit geschrieben, die er mit spannenden Zutaten wie Versuchung und Verrat, Liebe und Betrug anreicherte, und die Leo Trepp als Junge verschlang. Darüber hinaus veröffentlichte Lehmann die Wochenzeitung ,,Der Israelit“, die für Jahre den Ton in der orthodoxen Gemeinschaft angab, und schrieb Talmudkommentare. Zur Erholung ritt er mit seinem Pferd auf der Großen Bleiche aus, seine Kippa auf dem Kopf, und im Sommer schwamm er gern eine Runde im Rhein. Er war eine Erscheinung, die in Mainz jeder kannte. Leo Trepp erinnert sich an seinen Nachfolger und die neo-orthodoxe Gemeinschaft der eigenen Kindheit: Nach Marcus Lehmann kam Dr. Jonas Bondi, der 39 Jahre lang bis zu seinem Tode die orthodoxe Gemeinde führte. Er war kein guter Prediger, vor allem, 52
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weil er eine sehr rauhe und heisere Stimme hatte. Aber er war uns ein lieber und besorgter Vater und einer meiner Lehrer, wir alle verehrten ihn. Wissenschaftlich war er als Herausgeber des Jahrbuchs der jüdisch-literarischen Gesellschaft tätig. Zum Gottesdienst trug er einen Talar, die Predigt hielt er auf deutsch. Die meisten Männer machten es wie mein Vater und trugen außerhalb des Hauses einen Hut, am Schabbat und zu Festtagen einen Cutaway und Zylinder. Später, als sie befürchten mußten, deswegen auf der Straße als Juden angepöbelt zu werden, deponierten sie ihre Zylinder in der Garderobe der Synagoge, wo Herr Schneider, der christliche Synagogendiener, sie ihnen vor dem Gottesdienst übergab. Die Frauen bedeckten ihre Haare mit einer Perücke und folgten somit der Tradition. Sie hatten allerdings ihren eigenen Kopf, wie mir Tante Babette schon als Kind zeigte. Meine Mutter ging jeden Tag in die Synagoge zum Nachmittagsgebet. Und eines Tages sagte Tante Babette, sie wolle mich mitnehmen. Als wir ankamen, ging sie aber nicht auf die Frauenempore, sondern gemessenen Schrittes in der Männersynagoge den Gang entlang an der Bima vorbei nach vorne hinauf zur heiligen Lade, in der die Torarollen aufbewahrt wurden, küßte den Vorhang und betete, und dann drehte sie sich um, sah uns alle an und ging mit derselben Ruhe zurück. Das war etwas Unerhörtes – und ich meine dies in der Bedeutung des Wortes, niemand hatte so etwas in Mainz je zuvor gesehen oder gehört. Die Männer schüttelten die Köpfe, doch niemand sagte ein Wort, und ich dachte: „Das ist mal eine ganz andere Tante, eine, die sich gleichstellt mit den Männern in ihrem Verhältnis zu Gott und zur Tora.“ Wie ich darüber gedacht habe, weiß ich nicht mehr, doch wahrscheinlich hat es mir gefallen. Immerhin bin ich ihrem emanzipatorischen Weg bald gefolgt. Einige Wochen später kam meine Mutter später als sonst von dem Schabbatgottesdienst nach Hause und erzählte strahlend: „Wir haben noch ein Frauenminjan gehabt.“ An diesem Morgen hatte sich ein Quorum von zehn Frauen versammelt, und eine von ihnen hatte das Dankesgebet dafür gesagt, aus einer Notlage gerettet worden zu sein. Und die anderen hatten ihr segnend geantwortet. Ich habe meine Mutter selten so erfüllt und zufrieden gesehen, dankbar dafür, etwas gehabt zu haben, was mein Vater jeden Tag hatte. Wenn ich an selbstbewußte Frauen in der Gemeinde denke, fällt mir die Frau von Rabbiner Bondi ein, die aus einer einflußreichen Familie kam und sich stets nach dem letzten Schick kleidete. Eines Morgens predigte Bondi ge53
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gen den Bubikopf, der besonders unter jungen Frauen sehr in Mode gekommen war. Die Predigt war nicht besonders gehaltvoll, hatte aber Folgen: Am nächsten Schabbat kam Frau Bondi mit einer knabenhaft kurz geschnittenen Perücke in die Synagoge. Ihr Mann konnte nichts dagegen sagen, denn nach wie vor folgte sie dem Gebot, ihre Haare in der Öffentlichkeit nicht zu zeigen, doch was sie von seiner Predigt gehalten hatte, war deutlich für alle zu sehen. In unserer Gemeinde gab es ein starkes Gefühl der Verantwortung füreinander und für die Gesellschaft. Die Wohlhabenden konnten mehr geben als die weniger Begüterten – und sie taten es. Von allen respektiert war Isidor Reiling, ein Kunst- und Antiquitätenhändler, der in einem repräsentativen Jugendstilhaus in der Kaiserstraße wohnte, das die Stadt nach dem Krieg leider nicht wiederhergestellt, sondern abgerissen hat. Sein Geschäft lag in unmittelbarer Nähe zur Synagoge. Zusammen mit seinem Bruder betrieb er einen großen Handel und war immer noch als „großherzoglicher Antiquitätenhändler“ und „Hoflieferant“ bekannt, weil er vor dem Krieg nicht nur den Großherzog, sondern auch den Zaren als Kunden gehabt hatte. Der rußische Herrscher soll stets bei ihm eingekauft haben, wenn er zu Besuchen in Darmstadt weilte. Reiling war ein großer, etwas stämmiger, im Wesen feiner Mensch, hochgebildet und freundlich zu allen. Seine Familie hatte schon zum Bau der Synagoge beigetragen. Seine Frau, Hedwig Reiling, stammte aus einer angesehenen Frankfurter Kaufmannsfamilie, war eine stattliche Erscheinung und heute würde man sagen, sie war emanzipiert. Es hieß, daß sie getrennte eigene Bibliotheken unterhielten und daß sich Frau Reiling mit der Philosophie Kierkegaards beschäftigte. Außerdem arbeitete sie in der Leitung des Jüdischen Frauenbundes. Beide waren fromm und kamen regelmäßig zu den Gottesdiensten. An ihre Tochter Netty erinnere ich mich kaum, weil sie Mainz schon während meiner Kindheitsjahre verließ, um zu studieren. Die meisten Kinder aus unserer Gemeinde gingen zur Universität, soweit die Eltern es sich leisten konnten, wie es bei den Reilings sicher der Fall war. Netty rebellierte bald und verließ die Jüdische Gemeinde. Sie sollte unter dem Künstlernamen „Anna Seghers“ eine bedeutende Schriftstellerin werden. Ihre jüdischen Wurzeln in Mainz hat sie immer anerkannt. Meines Wissens nach war sie als Mädchen mit Max Tschornicki befreundet, einem der Söhne unseres zweiten Kantors und Gemeindeschächters Jakob Tschornicki. Max studierte Jura, war politisch aktiv und wurde mit seiner Flucht aus dem Kon54
Leben in zwei Kulturen
zentrationslager Ostenhofen zum Vorbild für den Helden in Seghers Roman Das Siebte Kreuz. Als der Roman 1942 in Amerika erschien, lebten ihre Eltern schon nicht mehr. Isidor Reiling war 1940 gestorben, unmittelbar nachdem er seinen gesamten Besitz hatte zwangsverkaufen müssen. Frau Reiling wurde im Vernichtungslager ermordet, nachdem ihre Tochter vergeblich versucht hatte, sie aus Deutschland herauszubekommen. Isaac Fulda, nach dem eine Straße in Mainz benannt wurde, hatte die Garantiebank in Mainz gegründet, die natürlich arisiert wurde und heute zu einem europaweit agierenden Kreditunternehmen gehört. Seine Frau war eine Freudin meiner Mutter. Beide sind mit ihrer Familie ermordet worden. Das einzige Zeichen seines Wohlstands war ein Brillantring am kleinen linken Finger. Es faszinierte mich als Kind, wenn der Ring in den Sonnenstrahlen, die durch die Synagogenfenster fielen, funkelte. Fulda war ein äußerst zurückhaltender Mann, diskret, fast schüchtern, er hat niemals von sich reden gemacht. So daß die Leute gesagt haben: „Der soll doch so reich sein, warum spendet der denn nie was?“ Was nur einige von uns wußten: Wenn das Geschäftsjahr der Gemeinde vorüberging, glich er das Defizit aus – jedes Jahr, ohne je darüber zu reden. Und gleichzeitig hat er der Stadt Mainz hohe Anleihen gegeben, wenn sie die brauchte. Diese Verbindung mit dem Land, die Verantwortung für den Staat und für das Gemeinwohl, waren immer da. Und mit ihnen kam die Hoffnung der Juden, daß irgendeines Tages diese Verbundenheit, diese Deutschheit, dieses Deutschtum anerkannt würden. Daß die Deutschen sagen würden: „Das sind Juden – das sind Deutsche, die nur anders glauben.“ Und damit hat man auch versucht, logische Argumente und Handlungen gegen den Antisemitismus zu setzen. Doch der Antisemitismus war irrational – eine von vielen geschürte Emotion. Leo nimmt die schleichende Vergiftung der Bürger durch die völkische Bewegung in den frühen zwanziger Jahren nur indirekt wahr. Er hört, wenn die Eltern sich fragen, wer von den Nachbarn Antisemit ist, und wer nicht. Im Jugendstilhaus gegenüber den Trepps wohnt ein Landgerichtsrat, in dessen Kammer noch kein Jude einen Prozess gewonnen hat. Jeder weiß, dass die Pfarrer der Christuskirche, deren hohe Türme ihre Schatten auf das Wohnviertel werfen, Juden nicht leiden können. Und auch dem Neunjährigen entgehen die Worte nicht, die nun an man55
1. Kapitel: Die Liebe eines Vaters
chen Wänden prangen: „Schlagt ihn tot, den Rathenau, die verdammte Judensau.“ Er wird den Sommertag nicht vergessen, an dem sein Vater ihm erzählt, dass Walther Rathenau ermordet worden ist. Die sichtbare Erschütterung des Älteren, seine belegte Stimme und das bleiche Gesicht prägen sich ihm ein. Den ganzen Abend über hört Leo seine Eltern debattieren. Er ist zu jung, um das Ausmaß und die Folgen des Verbrechens zu überblicken. Erst später wird er die Verzweiflung des Vaters einordnen, wird verstehen, dass in diesen Jahren die Weichen gestellt wurden für die Ereignisse, die sein eigenes Leben bestimmen werden. Drei Mitglieder der Organisation Consul haben den jüdischen Reichsaußenminister regelrecht hingerichtet. Während des Krieges hat Rathenau den Rohstoffbedarf gesichert und in Verhandlungen nach dem Krieg die Position Deutschlands gestärkt. Dennoch beschuldigen die Rechten, einschließlich der konservativen Abgeordneten des Reichstags, ihn nach dem Krieg immer wieder der Illoyalität gegenüber Deutschland. Maier Trepp ist Mitglied der Demokratischen Partei, der Rathenau angehörte. Auch die Mutter hat die linksliberalen Demokraten gewählt, beide sind überzeugte Anhänger der Republik und gehen, wie später auch der zuständige Staatsgerichtshof, davon aus, dass die Attentäter den Juden Rathenau töten wollten. Allen ist nun klar, dass die Hass-Schmierereien nicht nur Worte waren. Nach dem Mord an dem Außenminister ziehen im ganzen Reich Hunderttausende durch die Straßen. Zum letzten Mal vor der Machtergreifung Hitlers protestieren die Deutschen in derart großer Zahl gegen die rechte Gefahr. Auch in Mainz demonstrieren Bürger, ein Jahr später werden sich einige von ihnen den Separatisten anschließen, die sich von der preußischen Herrschaft völlig befreien wollen; ein Unterfangen, das als recht kurzzeitiges Abenteuer enden sollte. Wenn sein Sohn fragt, erklärt ihm Maier Trepp die Politik, manchmal liest er mit ihm Berichte in der Frankfurter Zeitung. Bald weiß Leo, wie wichtig Stresemann ist und wie bedeutend Rathenau war. Irgendwann in dieser Zeit muss er die Verehrung des Vater für den ermordeten Politiker übernommen haben. Wenn er Rathenau später als das Ideal eines guten jüdischen Patrioten beschreiben wird, eines Israel Mensch, hört man aus seinen Worten auch die ratlose Ungläubigkeit heraus, dass dies alles bald nichts mehr bedeuten sollte. Dass die Juden tun konnten, was 56
Vom Glück des Lernens
sie wollten, ohne dass es einen positiven Eindruck bei den anderen hinterließ. Dass Hirschs Vision, eine Art von Verständnis oder sogar Liebe zu wecken, wenn der Jude seinen Geboten folgte und somit den anderen Menschen ein liebender Mitmensch war, auf Illusionen baute. Ernst Werner Techow, der das Täterauto gefahren hat, wird zu fünfzehn Jahren Haft verurteilt, von denen er nur die Hälfte absitzt. 1930 wird ihn Reichspräsident von Hindenburg amnestieren. Selbst im Zuchthaus bekunden Bürger dem verurteilten Attentäter immer wieder ihre Unterstützung und Solidarität. Der Virus, wie Leo Trepp den Antisemitismus Jahrzehnte später in einer Rede vor dem Mainzer Landtag nennen wird, breitet sich aus. Eingepflanzt haben ihn die Mächtigen schon vor Jahrhunderten, sagt Trepp vor den Abgeordneten, genährt und immer wieder aktiviert, dabei an die Emotionen des Volkes appellierend, nicht an das logische Denken. Herrscher und Kirchenväter, Dichter und Denker, Philosophen und Politiker – allen erschienen die Juden als Sündenböcke bestens geeignet, wenn sich Probleme offenbarten oder anbahnten, mit denen sie nicht zurechtkamen.
Vom Glück des Lernens In diesen Jahren hat der Virus in alle Kreise hinein zu wirken begonnen. Noch aber ist die Bedrohung nicht real. Noch geht es der Trepp Familie gut. Noch singt der kleine Leo auf der Hochzeit seines Onkels Julius, der endlich seine Braut gefunden hat, ,,Moschiach war da, und wir haben’s nicht gewusst“. Für den jungen Sänger scheinen die Zeiten so hell, als sei der Messias schon gekommen. Später wird er sagen: „Wie gut es uns tatsächlich gegangen war, wussten wir erst, als die Zeiten sich änderten und all das Unheil über uns hereinbrach. lm Laufe meines Lebens kam mir mein Lied immer wieder zum Bewusstsein.“ Er ist mittlerweile auf das Gymnasium gewechselt. Seine Tage folgen nun einem strikten Ablauf. Nach dem Morgengebet geht er von sieben Uhr fünfzig bis zwei Uhr nachmittags in die Schule. Dann isst er ein schnelles Mittagessen zu Hause und lernt von drei bis fünf täglich Tora, zweimal die Woche Talmud, beides über die Jahre mit wechselnden 57
1. Kapitel: Die Liebe eines Vaters
Abiturklasse von Leo Trepp (ganz links im Bild), auf der rechten Seite der Deutsch- und Englischlehrer der Klasse, Dr. Berghäuser
Lehrern. Um sechs sind die Hausaufgaben dran. Maier Trepp übt Latein mit seinem Sohn, Vokabeln und Rechtschreibung, und am Sonntag übersetzt er alle lateinischen Stücke der kommenden Woche ins Deutsche, und die deutschen Texte ins Lateinische, damit seine Frau Leos Hausaufgaben kontrollieren kann. Als die Klasse mit Bildbeschreibungen beginnt, hilft Maier Trepp dem Sohn, sein Auge für Kunst zu schärfen. Bald lernt Leo auch Französisch, für’s Üben zu Haus ist die Mutter zuständig. Sie muss gut sein, denn zu einer Zeit seines Lebens spricht Trepp Französisch ebenso fließend wie Deutsch. Nachdem die Familie zu Abend gegessen hat, setzt er sich noch einmal an die Arbeit. Über die Schule schreibt Trepp: Unser Klassenlehrer in den ersten Jahren, Dr. Keym, gab uns sieben Stunden Latein in der Woche. Machte ein Schüler Fehler, mußte er sich neben ihn stellen. Während Keym ihn neu prüfte, ließ er seinen Rohrstock auf dem Gesäß des Jungen spielen, was die richtigen Antworten beschleunigte. Keym hatte im Krieg ein Bein verloren und lief mühsam mit einem künstlichen herum. Ich trug ihm oft die Tasche nach Hause. Konnten wir ihn bewegen, von sei58
Vom Glück des Lernens
nen Kriegserlebnissen zu berichten, war die Stunde gewonnen. Er hörte nicht mehr auf. Für Chemie und Erdkunde war Dr. Mayer verantwortlich, mit einem Schmiß auf der Wange, der ihn als Corpsstudenten auszeichnete. Er war faul und hatte sich ein anderes Chemiebuch gekauft, aus dem er vorlas. Wir fanden den Titel, einige kauften das Buch, und von da an kamen die Worte von hinten, bevor er sie vorne aussprechen konnte. Dr. Seitz war ein genialer Biologielehrer, der von seinen Fahrten nach Norwegen erzählte und uns Diapositive zeigte. Ich vertraute ihm als Junge vollkommen und hörte mit Entsetzen, daß er sich als rabiater Nazi entpuppt hatte. Von unserem Englischlehrer, Dr. Berghäuser, ein kleines Männlein mit einem steifen Bein, lernte ich wenig, da er das Fach seit zwanzig Jahren nicht mehr unterrichtet hatte. Das half mir nach der Flucht, denn ich mußte nicht umlernen. Wir hatten ihn auch in Deutsch. Nachdem ich ihm einmal einen Vortrag über Lessing abnahm, weil er lieber Skifahren wollte, als sich vorzubereiten, und mir das Thema Spaß machte, brauchte ich mich bei ihm nicht mehr allzu sehr anzustrengen. Ich schätzte ihn um seiner Prinzipien willen. Er war Sozialdemokrat und vertrat Demokratie in der Schule und Klasse mit mutiger Überzeugung. Jeden Tag mußten wir zu Beginn der ersten Unterrichtsstunde gemeinsam beten. Es gab zwei Gebete, die von der Schulbehörde vorgesehen waren, das kurze und das lange. Beide baten Gott um Hilfe, gut zu sein und gut zu lernen, das lange Gebet führte diese Bitte in Einzelheiten aus. Die jeweiligen Lehrer bestimmten, was wir in ihrem Unterricht zu sagen hatten. Dr. Keym wollte ausschließlich das kurze Gebet, das wir beginnen mußten, wenn er durch den Türrahmen schritt, und beendet haben, sobald er auf dem Podium hinter seinem Pult saß. Ein anderer schlug jedes Mal mit der Faust auf den Tisch und schrie: „Das Kurze“, wenn wir das lange Gebet begannen. Unseren Mathematiklehrer interessierte nicht, ob wir das lange oder kurze Gebet sagten. Er drehte sich demonstrativ um und sah, seine Hände auf dem Rücken verschränkt, aus dem Fenster, bis wir fertig waren. Demgegenüber bestand unser Zeichenlehrer, Herr Groß, ein frommer Katholik, auf das große Gebet. Er rief zum Schweigen auf und zur Konzentration, und dann ließ er beginnen. Alles ging gut, bis einer meiner Mitschüler einmal während des Betens einen Hustenanfall bekam. Sofort klopfte Herr Groß ab, wartete auf absolute Ruhe und ließ erneut starten. Von da an fielen Bücher von den Tischen, 59
1. Kapitel: Die Liebe eines Vaters
Stühle brachen zusammen, die Schüler machten sich eine Gaudi daraus, und manchmal „beteten“ wir eine halbe Stunde, bis er zufrieden war. Das Ganze wurde mehr und mehr zur Farce. Die Erfahrung mit unserem Schulgebet ist einer der Gründe, daß ich für die Trennung zwischen Staat und Religion eintrete. Sie voneinander abhängig zu machen, bringt Konflikte und hindert die eigenverantwortliche Auseinandersetzung mit religiösen und religiös-philosophischen Fragen, anstatt sie zu fördern. Wie sich bald herausstellen sollte, bewahrte die aufgezwungene Frömmigkeit weder Lehrer noch Schüler davor, sich der nationalsozialistischen Bewegung anzuschließen. Wir haben viel und intensiv gelernt und galten beim Abitur als eine der besten Klassen, die je durch die Prüfung gegangen waren. Ich bin dafür dankbar, denn damit war ein Fundament für weiteres Lernen gelegt, das mir im Leben oft geholfen hat. Doch ich hätte mir die Vermittlung des Stoffes anders gewünscht. Es war ein konfrontaler Unterricht. Ein Monolog der Lehrer. Verbunden mit einem ungeheuren Leistungsdruck. Von Beginn an hatten wir neben Sprachen in den Naturwissenschaften Biologie, Physik und Chemie mit allen zu behandelnden Sparten und eine Ausbildung in Mathematik, die weit über das vorgeschriebene Maß hinausging, von Logarithmen über solide und sphärische Geometrie bis hin zu integraler Mathematik. Die Lehrer vergaben strenge Zensuren. Schon ein fehlendes Komma in Latein konnte die Eins verderben, und in einer Mathematikarbeit bekam ich einmal eine Zwei, obgleich ich alle Aufgaben richtig hatte, weil meine Lösung „nicht elegant genug“ war. Doch um Menschen zur Verantwortung zu erziehen, braucht man das Gefühl, dazu berufen zu sein, muß man sich den jungen Menschen verpflichtet fühlen, muß ihnen gegenüber Verantwortung spüren. Was hätte man in dieser Zeit als engagierter Lehrer alles vermitteln können! Unsere Schulzeit fiel ja in eine Periode gewaltiger schöpferischer Spannungen, von Naturwissenschaften zu Musik, von Literatur zu Architektur und in Philosophie und Psychologie. Es war die Zeit von Richard Strauss und – wesentlicher – Schönberg, von Einstein und Heisenberg, von Thomas Mann, Kafka, Rilke, Brecht und, gewiß für uns in Mainz, Zuckmayer. Es war die Schaffensperiode von Picasso und Gropius und Jaspers und Freud. Alle diese Menschen rangen um eine neue Selbsterkenntnis, und zwar auf der Grundlage einer epochalen Herausforderung der Zeit: dem Ruf zur Autonomie und Selbstbestimmung durch die Demokratie und in einer Demokratie, im Gegensatz zu dem auto60
Vom Glück des Lernens
ritären Paternalismus der Vergangenheit. Doch hier war die Kritik von Ernst Troeltsch berechtigt: Sei es aus Verbundenheit mit der alten Gesellschaftsordnung oder aus Angst vor dem Neuen: Die „gebildete Mittelklasse“ zog sich aus ihrer Verantwortung für die Demokratie zurück. Diese Haltung spiegelte sich auch in der Schule wider, sie versagte sich der Herausforderung und blieb autoritär, nicht nur an der Spitze. Beinahe alle Lehrer versuchten, sich auf diese Weise Respekt zu verschaffen. So blieb uns in der Schule versagt, die Kunst des Dialogs zu erlernen. Dialog bedeutet ja mehr als ein Zwiegespräch, er bedeutet ein gegenseitiges Standhalten der Gesprächspartner zueinander. Er bildet die Grundlage offener Kritikfähigkeit und Auseinandersetzung, denn keiner der Partner in einem Dialog weiß, was der andere antworten wird, doch beide sind bereit, sich dem gegenseitigen Ausspruch zu stellen. Dieses Aufeinander-Bezugnehmen lernten wir nicht, das System war monologisch ausgerichtet: Der Lehrer gab, der Schüler nahm. Das monologische Denken ist ein gefährliches Denken. Denn der Lehrende wird nicht zur dauernd erneuten kritischen Beurteilung seines Denkens herausgefordert. So kann er zum Faulenzer oder Propagandisten werden, zum Diener einer erstarrten Idee. Den Empfangenden, den Schüler, führt das monologische Denken zu einer unkritischen Aufnahme dessen, was ihm vorgetragen wird, oder zur völligen Ablehnung, zur Rebellion. Er weiß nicht, daß es Alternativen zu diesen beiden überzogenen Reaktionen gibt. Denn Alternativen werden ja nur im Dialog geschaffen – durch Bezugnahme, durch Reden und Redestehen, durch Sprechen und Antworten. Monologisches Denken führt zur Hoffnungslosigkeit, zu einem ungeprüften Leben, das, wie es Sokrates bereits sagte, ein lebensunwürdiges Leben ist. Ich kann mich kaum an einen Lehrer erinnern, der sich auf das heranwachsende Kind bezogen hätte; bei dem man erkennen konnte, daß es ihm Freude machte, mit jungen Menschen in Beziehung zu treten; aus dessen Gesicht eine Freude gesprochen hätte, in den Dialog einzutreten und kleine junge Menschen zu großen jungen Menschen bilden zu dürfen. Es gab nicht einmal eine Bezugnahme auf die eigene Stadt. Wir sind nie in ein Museum gegangen, niemand hat versucht, mit Beispielen aus Mainz, einer Stadt, die prädestiniert dafür gewesen wäre, für uns den Geschichtsunterricht lebendiger zu gestalten. Niemand kam auf die Idee, einmal Martin Buber, den ich später kennen und schätzen lernte, aus Frankfurt oder Heppenheim einzula61
1. Kapitel: Die Liebe eines Vaters
den. Dabei war sein Buch Ich und Du die große Neuerscheinung. Keiner hat Paul Tillich eingeladen, den bedeutenden Theologen, der damals ebenfalls in Frankfurt war. So überließ man die Ausbildung der Schüler-Persönlichkeiten der Umgebung außerhalb der Schule. Zu Hause ist Leo über die Woche mit seinem Bruder und den beiden Frauen allein. Selma Trepp ist streng mit ihrem Sohn. Vielleicht will sie die Abwesenheit ihres Mannes ausgleichen, vielleicht denkt sie, es sei für ihn das Beste. Ihr Ziel ist Perfektion. Als Leo einmal eine Drei in Mathematik nach Hause bringt, fährt sie ihn so an, dass er zu weinen beginnt und sich im Bad einschließt. Später erzählt sie es aufgebracht ihrem Mann, doch anstatt mit Leo schimpft der mit ihr. „Du bist zu hart, du darfst nicht so hart mit ihm sein“, hört Leo ihn im Wohnzimmer sagen, und sein Herz schlägt wieder höher. Leo Trepp beschreibt seine Schule als post-wilhelminisch, seine Mutter als rigide. Wenn er schreibt: „Jeder Augenblick in meinem Leben war gefüllt mit Lernen und Pflichten. So bereiteten uns meine Eltern auf die Zukunft vor“, zeigt das zwar ein Verständnis für die Notwendigkeit des Lernens und die Disziplin, die es erfordert. Doch ich muss an etwas denken, das David Ellenson während seines Vortrags 2015 in Boston sagt. Er zitiert ein Gebet, in dem es heißt: „Die Worte der Tora sind unser Leben und wir werden nicht müde werden, sie zu lernen, Tag und Nacht, und Gottes Liebe wird nicht von uns weichen.“ Im deutschen Judentum, sagt der Gelehrte, sei Bildung das Ethos gewesen, das unbedingt eingehalten werden musste. „Und Rabbiner Trepp verkörperte die Liebe für das jüdische Lernen.“ Ich habe in diesem Moment meinen Mann neben mir im Gottesdienst sitzen sehen, jedes Wort der Toralesung auswendig mitflüsternd und, wenn es sein musste, den Vorbeter korrigierend. Ich erinnerte mich an Augenblicke, in denen er Talmudverse zitierte, Franz Rosenzweig und Hermann Cohen, ohne auch nur einmal nachzusehen. Er hatte eine Leidenschaft für Wissen, etwas, das auf weit mehr beruhte als auf Pflichten und Disziplin. Wenn man Leo Trepp traf, spürte man, dass Lernen für ihn etwas Existenzielles war. Etwas, das ihm Lebensfreude bereitete. Schon über die Zeit des Torastudiums als Sechsjähriger schreibt er: 62
Vom Glück des Lernens
Herr Kissinger lehrte mich ein Lied, das sich auf einen Absatz im Morgengebet zu Schabbat bezog: „Moses freute sich mit seinem Anteil, denn einen treuen Diener hast Du ihn gerufen. Eine herrliche Krone hast Du ihm aufs Haupt gesetzt, als er vor Dir auf dem Berge Sinai stand, und zwei steinerne Tafeln brachte er in seiner Hand herab, auf ihnen stand die Beobachtung des Schabbat.“ Herr Kissinger sang den Haupttext, und ich antwortete mit dem Refrain. Es war ein Spiel zwischen uns beiden, und doch habe ich das Gebet und unser Lied und die Freude daran niemals vergessen. Ich singe es bis heute auswendig. Bis in seine letzten Wochen fand Leo Trepp Vergnügen daran zu fragen und zu wissen. Und weiterzufragen, um dann anders zu wissen. Und zu verstehen. Egal, ob es um neue Formen des Gottesdienstes ging, um unbekannte Philosophen, deren Ideen ihn reizten, oder um Gedichte einer radikalen Feministin – er wollte erforschen, warum. Warum taten Menschen, was sie taten? Warum dachten sie, was sie dachten? Warum waren Dinge, wie sie waren? Auch deshalb wohl reichten ihm die Erkenntnisse und Schlüsse von Hirsch bald nicht mehr. Er musste weitergehen, sich weiterentwickeln. Er musste weiterfragen. Und er hielt andere Menschen an, es ihm gleichzutun. Er respekierte Wissen und Bildung, er liebte beides und wollte es teilen. Knapp zwei Monate vor seinem Tod saßen wir mit der Vizepräsidentin der Mainzer Universität beim Abendessen am Rhein. Die beiden besprachen das Semester des kommenden Jahres. „Mikwe“, sagte mein Mann. „ich möchte mich gern einmal neu mit den Reinheitsgeboten beschäftigen.“ Er würde wie immer eintauchen in die Materie, neue Positionen sichten und alte auffrischen, um dann Erkenntnisse und Schlüsse so zu formulieren, dass seine jungen Studenten es verstehen würden. Den Dialog, den er in der Schule vermisste, hat er als Erwachsener stets geführt. „Wenn ich an deinen Mann denke, sehe ich ihn Freitagabends am Tisch sitzen, wenn ich bei euch zum Essen eingeladen war. ‚Hat jemand eine Frage’, sagte er nach dem Segen, und damit hat er uns alle reingenommen“, sagt ein nichtjüdischer Freund. „Er hat einem immer das Gefühl gegeben, dass es keine unwichtige oder dumme Frage gibt.“ Dieses Gefühl gab Leo Trepp Generationen von Studenten und Zuhörern. Nach seinem Tod schrieben mir Menschen, die ich nicht kannte, 63
1. Kapitel: Die Liebe eines Vaters
Leo Trepp liest aus der Tora
und die ihm vor zwanzig oder dreißig Jahren begegnet waren. Nicht nur über seine Bücher sprachen sie und wie sie durch sie beeinflusst worden seien. Sondern über ihn. „Professor Trepp hat mich so beeindruckt, dass ich beschloss, Lehrer zu werden“, schreibt einer. Andere danken ihm für ihre Liebe zu Mozart, zum Judentum oder zur westlichen Philosophie. Eine ehemalige Studentin sagt: „Ihm habe ich es zu verdanken, dass ich meine Liebe zum Lernen wiederentdeckt und doch noch einen Universitätsabschluss gemacht habe.“ Es drängt ihn, etwas weiterzugeben, das für ihn selbst relevant ist, und in dem er Schönheit findet. Und er tut es auf eine Weise, die den Anderen berührt, in ihm etwas auslöst. Während unseres ersten gemeinsamen Strandurlaubs trinken wir nachmittags auf der Terrasse Kaffee. Es weht ein starker Wind, schwimmen ist unmöglich. Wie gerne würde ich jetzt irgendetwas unternehmen, nicht nur sitzen. Als habe er meine Gedanken gelesen, pinselt er zwei verwinkelte Haken auf die Rechnung und schiebt sie rüber. „Das ist ein Aleph. Sag’ mal Aleph und versuche, es selbst zu schreiben.“ Das tue ich. Er kritzelt ein weiteres Zeichen und schiebt es mir zu. „Bet. Sag’ Bet und schreibe es.“ So lerne ich das hebräische Al64
Vom Glück des Lernens
phabet in einer Woche. Das ist die Basis. Doch um sicherzustellen, dass ich weiterlernen will, beginnt er Gespräche, die oft in eine Lehrstunde münden. Er erklärt mir nicht nur die jüdische Gottesdienstordnung und den Sinn der Feiertage, er tut es so, dass ich eigene Fragen formulieren und, erstaunlicherweise, manchmal Antworten geben kann. Er singt mir Segens- und Gebetstexte vor und lässt sie mich nachsingen. Immer findet er heraus, was ich bereits kann und weiß, und baut darauf auf. Ich bin mir sicher, dass mir vieles nicht mehr so gegenwärtig wäre, wenn ich mir mein Wissen nicht selbst erarbeitet hätte, behutsam von ihm gelenkt. Für ihn war es unmöglich zu lehren, ohne einen Bezug zum Gegenüber herzustellen. Wenn der junge Schüler Leo dem Lehrer Berghäuser einen Vortrag über Lessing abnimmt, tut er das, weil er den Dichter liebt und weil er seine Liebe und das Wissen teilen, weil er für andere relevant machen will, was für ihn selbst relevant ist. Disziplin, Frontalunterricht und die Strenge einer Mutter mögen notwendig sein, um die Informationsmengen zu verarbeiten. Wie aber lernt man, Wissen zu lieben? Lernen zu lieben? Ich weiß es nicht. Doch ich weiß, dass seine Haltung der Liebe zum Wissen gleicht, die ihm sein Vater vorgelebt und ihn gelehrt hat. Auch wenn er bis zur Bar Mitzwa wechselnde Privatlehrer haben wird, bleibt allein Maier Trepp wichtig: Mein Vater öffnete mir die Türen zu den beiden Welten, in denen er lebte, und machte sie zu meinen. Er war der Mensch, der mir jenes Wissen vermittelte, das mich emotional und intellektuell nie verlassen hat. Meine jüdische Erziehung durchzog das ganze Leben. Wenn ich meinen Vater zum Gottesdienst begleitete, lag ihm nichts daran, daß ich alle Gebete in hebräisch sagte. „Lies langsam und mit Verständnis“, sagte er mir, „und wenn du das Gebet nicht verstehst, lies die deutsche Übersetzung. Es ist wichtiger, daß du weißt, was du betest, als daß du alles sagst.“ Er hatte eine Antwort auf jede Frage und achtete darauf, daß ich sorgfältig las. Das hat mir mein Leben lang geholfen, Zusammenhänge zu erfassen und Texte schnell zu verstehen. Er bestand nicht darauf, daß ich täglich zum Gottesdienst ging, sondern hielt mich lediglich zu besonderen Gelegenheiten dazu an. Es gab keinen Zwang, so ging ich gern. In späteren Jahren lernte ich jeden Tag Talmud mit unserem Rabbiner, Moses Bamberger. Er war ein bedeutender Talmudist und unsere gemeinsame Zeit 65
1. Kapitel: Die Liebe eines Vaters
hat uns beiden Freude gemacht und mir solides Wissen gebracht. Doch am schönsten war das Lernen mit meinem Vater. Bei den Hausaufgaben ist Maier Trepp strikt wie seine Frau. Die Schule vermittelt Wissen, das Leo braucht, um im Leben zu bestehen, und dem er Respekt schuldet und ungeteilte Aufmerksamkeit. Selbst als die Franzosen den Besitz von Radios erlaubten, will sein Vater keines kaufen. Er sagt: „Wenn du Musik hören willst, gehe in ein Konzert. Doch wenn du arbeitest, dient das Plärren keinem Zweck. Du lernst weder die Musik, noch konzentrierst du dich auf die Arbeit.“ Gleichzeitig unterstützt er seinen Sohn darin, sich auch außerhalb des Schulbetriebs zu orientieren; neue Komponisten kennenzulernen, neue Autoren. Wann immer ich in die Oper oder in ein Schauspiel wollte, konnte ich gehen. Nicht auf die teuersten Plätze natürlich, doch mein Vater zahlte. Anfangs ging ich nicht gern allein in Konzerte, dafür aber so oft ins Theater, daß mich die Mitarbeiter als Stammgast ansahen und manchmal umsonst reinließen. Wenn es sich einrichten ließ, besuchten mein Vater und ich die Oper zusammen. Einmal, ich war schon älter, brachte mir ein Freund, der Sohn eines Theateragenten, an einem Abend im Winter eine Karte für Lohengrin in die Synagoge. Ich kannte die Oper nicht und die Aufführung begann eine halbe Stunde nach Ende des Gottesdienstes. So standen mein Vater und der Cousin meiner Mutter, Jakob Lonnerstädter, für zehn Minuten an meiner Seite. Der eine flüsterte mir die Handlung in ein Ohr, der andere die musikalischen Elemente ins andere. Mein Vater ermunterte mich, viel zu lesen und ging mit mir in die Stadtbibliothek, um mich dort einzuschreiben. Für jedes Buch benötigte man einen von einem Erwachsenen unterschriebenen Leihschein. Ich hatte ein Riesenbündel davon. Ich habe nie herausgefunden, ob meine Eltern kontrolliert haben, was ich las. Wahrscheinlich. Doch gesagt haben sie nur etwas, wenn Bücher offen herumlagen. Elias Auberbachs Wüste und Gelobtes Land über die Geschichte Israels interessierte mich, mein Vater sah es als zu bibelkritisch an. Er verbot mir nicht, es zu lesen, riet aber davon ab, da es aus seiner Sicht häretisch sei. Ich habe es nicht gelesen.
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Vom Glück des Lernens
Maier Trepp wurde über die Jahre ein Teil unseres Lebens. Immer noch, wenn ich Fidelio sehe oder eine Kritik darüber lese, denke ich: „Beethoven hat nur eine Oper geschrieben – aber es war Fidelio.” Das hat Maier Trepp seinem Sohn in den dreißiger Jahren gesagt. Es faszinierte mich, wie nahe Leo Trepp seinem Vater sechzig Jahre nach dessen Tod noch war. Manchmal, wenn er von ihm erzählte, habe ich mich gefragt, ob er ihn idealisiert. Ob es denn nichts gab, das er an ihm hätte kritisieren können. Und wenn ich ihn danach fragte, nannte er durchaus den einen oder anderen Punkt. Nach Leos Tod verstehe ich besser, wie es ihm mit seinem Vater ging. War ich immer einverstanden mit ihm? Nein. Ist er mir manchmal auf die Nerven gegangen? Sicher. Wenn sein Tabak sich auf die Wohnung verteilte. Wenn er ab Mittag bangte, ob wir unseren Flug am späten Abend erreichten. Wenn er Mitarbeitern in Ämtern klar seine Meinung sagte und damit den Bürokratiegaul noch langsamer werden ließ. Doch diese Kleinigkeiten fallen mir nur ein, wenn ich bewusst darüber nachdenke. In den meisten Momenten, wenn ich an ihn denke, sehe ich, was ich liebte: das Wissen, das er mich lehrte, die Lebenshaltung, die er vermittelte. Die Liebe, die er gab. Mir fällt ein, was wichtig war. Und was geblieben ist. Mir wird bewusst, wie viel ich übernommen habe. Ich erinnere das Wesen seines Seins. Um wie viel stärker muss es Leo Trepp mit seinem Vater so gegangen sein, der ihn in den wichtigsten Jahren geprägt hat. Von Beginn an lehrt Maier Trepp seinen Sohn, dass im Judentum Wissen, Glauben und Tun untrennbar zusammenhängen. In seinem Buch Die Juden denkt Leo Trepp über die Wichtigkeit des Tuns im Judentum im Zusammenhang mit der Erfüllung der Mitzwot nach. Er schreibt über das Volk Israel am Berg Sinai, das sagt: „Alles, was er geredet hat, wir tun’s, wir hören’s.“ Das Hören äußert sich, wie Trepp sagt, in der Tat. Über die Mitzwa schreibt Trepp, sie sei das Handeln, mit dem der Jude dem Anspruch Gottes folge. Dieses Tun aber müsse von Herzen kommen und als Dienst an Gott geleistet werden, eine rein formale Handlung sei genauso wertlos wie das alleinige Lippenbekenntnis des Glaubens. Wenn das Judentum davon ausgeht, dass der Mensch als Ebenbild Gottes geschaffen ist, dann sind alle Menschen gleich und alle haben das göttliche Potential. Und wenn Juden den Nächsten lieben sollen, schließt 67
1. Kapitel: Die Liebe eines Vaters
das auch, und gerade, den Fremdling ein, den Nichtjuden. So lernt es Leo Trepp im Tora- und Talmudunterricht. So lebt es ihm sein Vater vor. Ich erinnere mich an eine Begegnung mit einer elegant gekleideten Frau mittleren Alters in einem Park in Wiesbaden, in dem ich an einem Nachmittag mit meinem Vater spazierenging. Er ging zu ihr hinüber, und sie begrüßte ihn herzlich wie einen Bruder. Sie unterhielten sich lebhaft für eine Weile. Ich bewunderte seine sichere, noble Art und seine Herzlichkeit. Als er zurückkam, fragte ich ihn, wer das gewesen sei. „Eine Kundin“, antwortete er. Die Antwort überraschte mich. Ein andermal, als wir über das schnell wachsende Geschäft sprachen, fragte ich ihn: „Seid ihr billiger als andere?“ „Nein“, antwortete er, „im Gegenteil, manchmal sind wir sogar teurer als die Konkurrenz.“ „Sagst du das euren Kunden auch?“ „Aber natürlich sage ich meinen Kunden das“, antwortete er. Wieder war ich verblüfft. Später kauften wir ein Haus in unserer alten Straße, in dem wir eine der Wohnungen bewohnten und die anderen vermieteten. Der Mieter über uns war homosexuell. Man sprach nicht darüber, doch jeder wußte es, und ich sehe noch heute das bewegte Gesicht meines Vaters vor mir, als er uns sagte, er habe diesem Mann kündigen müssen, weil die anderen Mieter ihm mit Auszug und Skandal gedroht hatten. „Warum belastet ihn das so, er mußte es doch tun?“, staunte ich als Jugendlicher. Heute sehe ich seine Integrität, gewachsen aus der Ethik eines frommen Menschen und liberalen Bürgers. Leo Trepp lernt nachzuahmen, wie man Hören und Tun in Einklang bringt. Er versteht, was in der Religion wichtig ist und was weniger. Der Schabbat, das lernt er früh, ist wichtig. Sehr wichtig. Dieser Tag der Ruhe, den er in einer Rede als „größte Revolution in der Geschichte der Menschheit“ bezeichnet, wird für ihn so wichtig bleiben, dass er an dem Freitagabend im Krankenhaus, der sein letzter sein soll, darauf besteht, sich an den Tisch zu setzen, während ich die Kerzen anzünde. Er segnet mich, spricht den Segen über den Wein und kann dann von dem Brötchen, das wir in Ermangelung einer Challa erbeten haben, vor Schwäche nicht mehr essen. „Was der Schabbat bedeutet“, sagt er, „habe ich im Konzentrationslager gelernt, wo es ihn nicht gab.“ Wie die Sklaven in der Antike hätten die Häftlinge ein Leben ohne Hoffnung, ohne die 68
Vom Glück des Lernens
Erwartung auf einen Tag, ja nur eine Stunde, der Ruhe geführt. Erst dort habe er gemerkt, dass dieser Tag, den er als Grundlage für alle späteren Arbeiterrechte sieht, dass dieser Tag der Trennung des Heiligen vom Profanen, wie es die Tora sagt, der Tag der Freiheit vom Diktat des Alltäglichen, dass dieser Tag „das Menschentum des Menschen“ begründe. Schon als Kind sehnt er den Moment herbei, in dem Maier Trepp nach einer langen Woche wieder durch die Tür tritt. Der Schabbat war ein Moment, den man die ganze Woche erwartete und auf den man sich freute. Freitagnachmittags kam mein Vater nach Hause. Wenn er die Wohnung betrat, veränderte sich die Atmosphäre. Eine für mich als Kind heilige Gelassenheit und Ruhe breitete sich aus. Die Eltern besprachen die vergangene Woche und die kommende, und dann erzählte mir Vater Geschichten, die er sich selbst ausdachte. Wir schrieben alle zusammen die Briefe oder Postkarten an die Tanten und Onkel. Mein Vater ging in die Synagoge und warf die Post auf dem Weg dorthin in den Briefkasten. Meistens begleitete ich ihn in den Gottesdienst. Wenn wir nach Hause kamen, war der Tisch bereits gedeckt. Wir sangen Schalom Aleichem – Friede sei mit euch, ihr Engel Gottes. Euer Kommen, euer Segen sei zum Frieden – und marschierten dabei um den Tisch herum. Und dann segneten uns Vater und Mutter, mit ihren Händen auf unseren Köpfen, und wir bekamen einen Kuß auf die Wange. Danach kam das Schabbatessen mit dem Kiddusch und Gesprächen über alles Mögliche und hinterher den Dankgesängen. Meine Mutter ist gelegentlich darüber eingeschlafen, mein Vater, wenn er eine anstrengende Geschäftsreise gehabt hatte, auch. Meine Familie war für mich Betreuung, Schutz, Sicherheit, Liebe, Zuhause. Gesprochen wurde darüber nicht. Der Kuß auf die Backe war der Höhepunkt der Zärtlichkeiten unserer Eltern. Nur mein Vater zeigte manchmal weiche Seiten. Einmal saß ich mit ihm auf dem Sofa. Vor dem Fenster auf der Fensterbank brannten die Lichter des letzten Chanukka-Abends. „Komm her, mein Kind, es ist das letzte Mal in diesem Jahr“, sagte er und legte seinen Arm um meine Schulter. Und diese Worte, wobei er mich zu sich heranzog, waren emotionale Worte, die ich nicht vergessen kann. Meine Mutter war strikter. „Keine Küsserei! Wir sind nicht so küsserisch veranlagt“, mahnte sie mich, als meine Tante und Cousine zu Besuch kamen, die Körperkontakt 69
1. Kapitel: Die Liebe eines Vaters
nicht scheuten. Dennoch wußte ich, daß Mutter Gustav und mich liebte. Die Wärme lag in dem Miteinander und die Geborgenheit im Rhythmus der Woche, der sich Alles stets wiederholen ließ. Morgens gingen wir zum Gottesdienst. An Schabbat-Nachmittagen nahmen uns die Eltern auf Spaziergänge am Rhein mit. Dort traf man an sonnigen Tagen die halbe Gemeinde, man grüßte sich, unterhielt sich und genoß die Landschaft und frische Luft. Am allerliebsten aber hatte ich es, wenn es trübe war oder regnete, dann blieben die Leute daheim, meine Mutter, Tante und Bruder auch, mein Vater aber ging immer, und ich hatte ihn ganz für mich allein. Ich durfte meine Hand in seine Manteltasche stecken und konnte ihm jede Frage stellen, die mir in den Sinn kam, und über alles mit ihm reden. Einmal fragte ich ihn: „Vater, warum malen die Maler und schaffen die Bildhauer so viele nackte Menschen?“ Und er antwortete: „Weil der menschliche Körper das größte Wunder Gottes ist.“ Entweder beantwortete er Fragen oder sagte „Heb dir das mal für später auf, das verstehst du noch nicht“, und irgendwann fragte er dann tatsächlich: „Weißt du noch, daß du mich mal nach diesem oder jenem gefragt hast, hier kannst du ein Beispiel dafür sehen“. Und wenn er etwas nicht wußte, sagte er schlicht: „Ich weiß es nicht.“ Einmal fragte ich ihn: „Vater, hast du Angst vor dem Sterben?“ Ich war sechs und hatte Angst vor dem Tod, ich konnte mir weder vorstellen, einen geliebten Menschen zu verlieren, noch, selbst einmal von dieser Welt gehen zu müssen. Er war gerade dabei, sich die Schuhe zuzuschnüren und hatte einen Fuß auf dem Schemel. Er blickte auf und sagte: „Nein. Warum sollte ich Angst haben? Es gibt zwei Möglichkeiten. Wir verlieren mit dem Tod für immer alles Gefühl, Denken und Bewußtsein, so wie es uns einige Denker sagen. Oder es wird sein, wie die Rabbiner uns lehren. Unsere Seelen werden eines Tages in der künftigen Welt ankommen, und dort wird es uns gutgehen. Haben die Philosophen recht, wird mein lebloser Körper ohne Bewußtsein in der Erde ruhen. Und haben die Rabbiner recht, werde ich in eine Welt gehen, die herrlicher ist, als wir uns vorstellen können, meine Seele wird bei Gott sein. Was ich fürchte, sind große Schmerzen in der Krankheit oder mich selbst nicht versorgen zu können. Doch vor dem Tod mußt du keine Angst haben.“ Seine Worte haben meine Auffassung von Leben und Tod geprägt. Jahre später sprach ich mit meinem Bruder darüber, dem mein Vater die gleiche Lehre gegeben hatte. Wir beide fürchten den Tod nicht. 70
Vom Glück des Lernens
Ich sehe Vater und Sohn den Rhein entlanglaufen. Leo mit Nickelbrille und sein Vater mit Hut, elegant schlendernd, und auf den Kleinen neben ihm konzentriert. Und ich sehe zwei andere Jungen. Sie werden zwei Generationen später vor meinem Mann stehen und ihm Fragen stellen. Wissbegierig und am Beginn ihres lebenslangen Lernens. Einer, mein Neffe Simon, wird sich anderthalb Tage in sein Zimmer einschließen und nicht essen, als er von dem Tod meines Mannes hört, zu dem Zeitpunkt ist er zwölf Jahre alt. „Leo war mein Lieblingsonkel“, wird er sagen. „Er war immer da.“ Was merkwürdig ist, denn meist konnten wir die Familie nur einmal, vielleicht zweimal im Jahr sehen. Und der andere, der Sohn unserer Freunde, Shalev, wird erzählen: „Als ich acht war, habe ich Leo eine Frage gestellt. Ich habe vergessen, was ich gefragt habe, und auch, was er geantwortet hat, doch ich werde das Gefühl nie vergessen, das ich hatte. Er hat mich vollkommen ernst genommen, wie man einen Erwachsenen ernst nimmt.“ Auch das kann „da sein“ bedeuten.
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ZWEITES KAPITEL
Mittendrin und außenvor
Ein klimperkleines Dorf mit Juden Mehr als jede andere Art der Fortbewegung genoss es Leo Trepp, Zug zu fahren. Er war verliebt in Züge. Alten Lokomotiven schmachtete er hinterher, und ihre Geräusche imitierte er perfekt. Fuhr eine Bahn parallel zu uns, zählte er die Waggons. Seine Liebe begann früh. Spielzeug hatten wir nicht, und ich habe nicht viel vermißt. Das einzige, was ich mir wünschte, war eine Eisenbahn. „Dafür haben wir kein Geld“, sagten meine Eltern. Mein Vater war ja finanziell nicht nur für uns verantwortlich, mitsamt Tante Babette, sondern auch für meinen Cousin in Frankfurt. Und akribisch genau berechnete er jedes Jahr sein Einkommen, um sicherzustellen, den vollen Maaser, also zehn Prozent seiner Einkünfte, guten Zwecken zuzuführen. Es leuchtete also ein. Danach gefragt habe ich trotzdem immer wieder einmal. Manchmal räumt der kleine Leo das Fensterbrett im Wohnzimmer frei, schiebt Bauklötze und Holzstäbe, die ihm ein Bauwarenhändler geschenkt hat, hin und her, baut Häuser aus anderen, und in seinem Kopf ruckeln dann Holzzüge durch Dörfer und Städte. Nie kann er genug von Zügen kriegen. Erzählt sein Vater Geschichten, um ihn von dem verachteten Grießbrei mit Butter abzulenken, den Tante Babette ihm einlöffelt, weil das Kind doch so dünn ist, hört er am liebsten die von den zehn Bremsern im Zug und ihrer Arbeit. Und wenn ihn die Tante auf ihren Einkäufen mitnimmt, visiert Leo, egal, wohin es geht, die nächstbeste Brücke über den Eisenbahnschienen an, bleibt stehen und wartet ab, bis 73
2. Kapitel: Mittendrin und außenvor
Oberlauringen in den zwanziger Jahren 74
Ein klimperkleines Dorf mit Juden
die Bahn unter ihnen hindurchzischt. Die Lokomotiven stoßen dichten Rauch aus, und jedesmal versucht Tante Babette, ihn im letzten Moment wegzuziehen, „dein Anzug wird schmutzig“, ruft sie und springt selbst zur Seite. Leo aber verschwindet in einer grauen Wolke. Noch während unserer Zeit, achtzig Jahre später, sagt er, wann immer wir in dem Restaurant gegessen haben, das nahe der Bahnstrecke in Mainz liegt: „Lass uns warten, dahinten kommt ein Zug.“ In seinem Haus im kalifornischen Napa wird er sich ein Zimmer mit einer Märklin-Eisenbahn einrichten. An seinen freien Sonntagnachmittagen arrangiert Leo Trepp Züge oder liegt unter der Bahn, um Weichen, Stellwerke und Schienen umzustellen und zu reparieren. Aus den Lautsprecherboxen schallt von Humperdinck bis Wagner alles, was Oper zu bieten hat. Leo und ich haben mit dem Zug Italien erkundet, Tschechien, Österreich, die Niederlande und zahlreiche Städte in Deutschland. Wir schauten auf Hügellandschaften, die wie gemalt dalagen, auf nebelbehangene Weiden, hingestreckte Felder, Kirchtürme und Fachwerkhäuser und hingen unseren Gedanken nach. Und irgendwann knüpften wir an unser letztes Gespräch an oder begannen ein neues. Und dann sind da die Erinnerungen und Assoziationen, die uns auf solchen Fahrten kommen und die wir nie in ganzer Fülle mit anderen teilen können. Weil wir den formativen Einfluss dieser Erinnerungen selbst gar nicht überblicken. Ich glaube, dass die Leidenschaft meines Mannes für Züge und fürs Zugfahren mit seiner Leidenschaft für das einzige Ziel zu tun hat, an das ihn die Bahn in seiner Kindheit transportierte. Dass sie genährt wurde von seiner Begeisterung und Zuneigung für das „klimperkleine“, wie er sagte, Dorf Oberlauringen in Unterfranken. Jeden Sommer verbringt die Familie Trepp dort. Für Leo wird das Dorf zur zweiten Heimat und zum Abenteuerspielplatz. Zum Ort, an dem er sich einnisten kann in die Großfamilie, und vor allem, an dem er Tage und Wochen mit seinem Vater verbringen kann. Oberlauringen ist ein romantisch gelegenes kleines Dorf in Unterfranken mit etwa siebenhundert Einwohnern, von denen zur Geburt meiner Mutter mehr als ein Drittel Juden waren, die meisten von ihnen Händler und Kaufleute. Doch nahm deren Zahl im Laufe der Jahre kontinuierlich ab. Die Kinder, die 75
2. Kapitel: Mittendrin und außenvor
die höhere Schule im nahe gelegenen Schweinfurt besuchten, zogen es vor, ihre Zukunft in den Städten zu suchen, statt das mühselige Gewerbe der Eltern zu übernehmen. Es dauerte lange, überhaupt dorthin zu kommen. Von dem Zug in Mainz mußte man in Darmstadt oder Aschaffenburg umsteigen, bis Gemünden fahren, wo man den Zug nach Schweinfurt nahm. Dort stieg man um, in den Zug nach Meiningen, und nach ein paar Stationen noch einmal in Rottershausen. Eine Nebenbahn fuhr dann etwas über eine Stunde die fünfzehn Kilometer nach Stadtlauringen. Hier endete die Bahn. Als die Strecke Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts eingerichtet wurde, sollte sie bis Oberlauringen gehen, was vor allem für die jüdischen Viehändler wichtig gewesen wäre. Doch der Oberlauringer Hauptlehrer Geuter agitierte dagegen: „Die Juden brauchen keine Eisenbahn.“ Er fand Gehör in der Bevölkerung des Ortes, deren Proteste eine längere Linie vereitelten. Die jüdischen Viehhändler mußten ihr Vieh zur Verladestation treiben, was nicht nur mühselig war, sondern sie auch Zeit und Geld kostete. Ich will ein wenig über diese Menschen erzählen, über ihre Gewohnheiten und ihr Leben. Vor der Schoah gab es Hunderte von Dörfern, in denen Juden lebten. Sie arbeiteten hart, glaubten an ihren Gott und führten ein bescheidenes Leben. Ihr Fehlen wird mir schmerzlich bewußt, wenn ich heute auf dem Weg nach Oberlauringen bin und durch die Orte fahre, in denen Juden lebten. Man sieht nichts mehr von ihnen. Es ist, als habe es sie nie gegeben. Ein ausgelöschtes Stück Geschichte. Wenn ich an die jüdischen Bürger in Oberlauringen erinnere, so tue ich das auch, um zu sagen: Sie waren da! Spätestens seit dem fünfzehnten Jahrhundert hatte es in Deutschland Juden gegeben, die sich in kleineren Orten und in Dörfern niederließen. Meist waren sie aus Städten vertrieben worden, und einige kehrten dorthin zurück, wenn die Landesherren den Bann wieder aufhoben. Doch besonders im Rheinland und in Franken entwickelten sich über die Jahrhunderte aus versprengten kleineren Gruppen stabile Gemeinden, mit sämtlichen Einrichtungen, die ein frommes Leben erforderte. In einem lesenswerten, von Monika Richarz und Reinhard Rürup herausgegebenen Studiensammelband zum jüdischen Leben auf dem Land weist Steven M. Lowenstein darauf hin, dass die religiöse Orientierung von Landjuden, wenn sie auch tradionell stärker eingebunden in jüdische 76
Ein klimperkleines Dorf mit Juden
Praktiken waren als die oftmals liberalen und säkularen Juden in den Städten, oft nicht als orthodox im Sinne des rabbinischen Rechts bezeichnet werden konnte. Die Erinnerungen meines Mannes an Oberlauringen vermitteln den Eindruck, dass die jüdische Bildung vorhanden, aber begrenzt war. Die Juden aßen koscher und hielten die Gebote ein, auf der anderen Seite musste der pensionierte Lehrer, der als Vorbeter fungierte, Maier Trepp bitten, einzuspringen und die Tora zu lesen, wenn er Urlaub machen wollte. Sonst konnte es keiner. Das scheint Lowensteins These und Trepps Beobachtung zu bestätigen, dass manche Traditionen nicht auf tiefem jüdischem Wissen ruhten, sondern eher als Volkstum und familiärer Brauch angesehen wurden. Auf der anderen Seite gab es eine Chewra Kadischa in Oberlauringen, eine Beerdigungsbruderschaft, und die Juden in dem Dorf nutzten immer noch die vorgeschriebene Mikwe, deren Betrieb andere Orte aus hygienischen Gründen längst eingestellt hatten. Noch im Jahr 1937 baten sie den Verband der Jüdischen Gemeinden in Bayern um einen Zuschuss zu deren Instandsetzung. Sie verfügten über ein ausgezeichnetes soziales Wohlfahrtssystem und halfen und unterstützten einander. Als die Großmutter von Leo Trepp 1911 starb, hieß es in ihrer Todesanzeige, der Trauerredner habe den unersetzlichen Verlust bedauert, den ihr Tod für die Familie, die Gemeinde und für die Armen bedeute. Im 17. Jahrhundert hatte der Freiherr Truchseß von und zu Wetzhausen den Juden das Niederlassungsrecht in seinem Dörfchen gewährt und ihnen einen Wohnbezirk zugewiesen. Er lag unmittelbar am Eingang des Dorfes und hatte ungefähr die Form eines Quadrates. Die Untere Judengasse bog scharf von der Landstraße und dann nach einigen hundert Metern nochmals rechtwinklig ab und endete in einem kleinen Platz. Eine andere Straße lief senkrecht von der Landstraße weg, machte dann ebenfalls einen Bogen, um in demselben Platz wie die andere einzumünden. Die Landstraße selbst ging in einem S-förmigen Bogen diagonal durch das Zentrum des jüdischen Bezirks, um sich mit den zwei anderen Straßen an dem Platz zu treffen. Jenseits dieses Platzes wohnten keine Juden mehr. Dort standen Kirche, Schule und Rathaus und, etwas entfernt, lag das Landschloß des Freiherrn von Grunelius mit einem herrlichen Park, den nur der evangelische Hauptlehrer und der jüdische Lehrer Simon Goldstein betreten durften. 77
2. Kapitel: Mittendrin und außenvor
Dort, wo die Hauptstraße ihre erste Kurve machte, stand das Haus meiner Großeltern, jetzt von meinem Onkel, Hugo Hirschberger, mit seiner Familie bewohnt. Hier führte eine kurze Straße von der Hauptstraße zur Unteren Judengasse und dem Geschäft von Emmanuel Meyer hinunter, dem Kaufhaus des Ortes. Meyer war der Vorsteher der jüdischen Gemeinde. An der Hauptstraße, aber von dort nicht zu sehen, standen auf einem kleinen Hügel die Synagoge und das Haus des jüdischen Lehrers. Stieg man die schmale Zugangsstraße zwischen den Häusern hinauf, so erreichte man den Synagogenhof. Vor uns stand das solide, aus schweren Sandsteinen gebaute Gebäude. Als Synagoge wurde es durch seine Höhe und seine großen, von rotem Sandstein umrahmten Rundbogenfenster in ganzer Höhe des Gebäudes erkennbar. Zu unserer Linken, wenn wir vor ihr standen, lag das Eingangstor, daneben der Eingang zum angebauten Lehrerhaus, der auch zur Frauenempore führte. lm Inneren sah die Synagoge etwas nüchtern aus, quadratisch, in einem Ausmaß von etwa dreißig mal dreißig Metern. Der große und imposante Aron Hakodesch, der Toraschrein, der durch etwa sechs von schmiedeeisernen Geländern umrahmte Stufen von beiden Seiten erreicht wurde, dominierte den Raum. Den Schmuck für die Torarolle hatten meine Eltern gestiftet. Die größte Zierde der Synagoge waren sieben antike, von der Decke hängende sechsarmige Messingleuchter, deren Kerzen am Schabbat brannten. Um das Geld für die elektrische Beleuchtung aufzubringen, mußte die Gemeinde die meisten dieser Lampen später verkaufen. Die Frauen saßen auf der Empore. An jedem Platz fand sich ein an einem Querbalken mit Angeln angebrachtes, mit einem Netz versehenes Fenster. Wollte eine Frau in die Männersynagoge hinunterschauen, so konnte sie das Fenster nach vorne drücken. Die Synagoge war immer gepflegt und makellos sauber, jeden Donnerstag hatten die Frauen der Reihe nach die Aufgabe, sie gründlich zu putzen. In der Pogromnacht verwüsteten die örtliche Hitlerjugend und SA-Truppen das Innere der Synagoge, die Torarollen warfen sie auf einen Misthaufen. Die Frauen der Gemeinde säuberten sie und trugen sie wieder hinein. Von außen beschädigten die Täter das Gebäude nur gering. Es wurde nach dem Krieg an eine Bank verkauft. Einige Jahre später erfuhr eine Gruppe von Christen, daß die Synagoge zum Verkauf stand, und machte ein Kaufangebot. Ihr Plan war, das Gebäude zur Begegnungsstätte umzugestalten. Ihr Angebot kam zu spät. Die Bank hatte das Gebäude an einen Privatmann verkauft, der es zum 78
Ein klimperkleines Dorf mit Juden
Wohnhaus umbaute. Oberlauringen war die Vergangenheit los. Nur eine kleine Gedenktafel erinnert noch an die ursprüngliche, heilige Bestimmung dieses Hauses als Gotteshaus der Juden. Auf der Hauptstraße, gegenüber der Synagoge, lag ein kleiner Platz, der von drei Häusern umrahmt war. Eines gehörte meinem Onkel Hermann Hirschberger und seiner Familie, der einzigen jüdischen Familie in Stadtlauringen, die jeden Schabbat zu Fuß zur Synagoge in Oberlauringen kam. Von Stadtlauringen aus wäre die Entfernung am Schabbat dem Religionsgesetz gemäß zu groß gewesen. So hatte Onkel Hermann einen ,,Eruv“ errichtet, er hatte Brot in einen Baum zwischen den beiden Orten gelegt, so daß dieser Baum symbolisch zu einem Teil seiner Wohnung wurde und die Familie die ganze Strecke gehen durfte; der Baum wurde zum neuen Startpunkt. Bei schlechtem Wetter und an den Feiertagen wohnte sie in ihrem Haus in Oberlauringen. Nach dem Krieg erfuhr ich, daß BDM-Mädchen meinen Onkel schon 1935 auf seinem Weg in die Synagoge mit Dreck und Steinen beworfen und verhöhnt hatten. Hermann Hirschberger betrieb ein Textilgeschäft in Stadtlauringen. Nicht wenige Landjuden in Deutschland unterhielten Geschäfte, so klein sie auch sein mochten, andere arbeiteten als Lehrer, Metzger oder Bäcker. Später gab es unter ihnen Ärzte und Rechtsanwälte. Viele handelten mit allem, was die Landbevölkerung brauchte, Kleidung und Gebrauchsgegenstände, Brillen, Seifenprodukte und Papier. Als die Juden Land besitzen durften, wurden einige, wie Trepp schreibt, auch Bauern. Und meist waren es Juden, die das Schlachtvieh in die Städte verkauften. Einer Dokumentation des Dorflebens zufolge verließ sich ein Großviehhändler aus Berlin auf fünf Viehhändler in Oberlauringen, die für ihn die gewünschte Zahl an Rindern zusammenkaufte. So bestanden von Beginn an Kontakte und Verbindungen zur Stadt. Gegenüber dem Hirschberger Haus wohnte der jüdische Metzger Max Katz. Er betrieb seinen Laden im Wohnhaus, hinter dem auch das kleine Schlachthaus stand. Hier schächtete der Lehrer, Simon Goldstein, das Großvieh. Herr Katz war der einzige Metzger am Ort. Wollten die Christen Rindfleisch kaufen, mußten sie ebenfalls zu ihm gehen. Ihre Schweine 79
2. Kapitel: Mittendrin und außenvor
schlachteten sie im eigenen Stall. Im Hintergrund, zwischen den zwei anderen Häusern, stand die Bäckerei des Herrn Morgenroth, später von seinem Neffen Josef Grünfeld übernommen. Von außen sah man nicht, daß dies eine Bäckerei war. Durch die Haustür ging man durch einen kleinen Gang neben den Wohnzimmern zur Backstube im hinteren Teil des Gebäudes. Dort stand ein riesiger Backofen aus Steinen, der mit Holz befeuert wurde. Erst kam das Holz hinein und wenn der Ofen glühend heiß war, wurde es herausgenommen und der Teig hineingelegt. Herr Morgenroth backte herrliches Brot. Noch besser aber waren die ,,Datscher“, die Schabbatbrote, und die Kuchen und ,,Plätze“ für alle Familien. ,,Platz“ war der Name für ganz flache Kuchen, die auf einem großen, runden Blech aufgetragen wurden und dicht mit Äpfeln, Pflaumen oder Zwiebeln bedeckt waren. Man aß sie in riesigen Schnitten. Vor allem aber kochte Herr Morgenroth die ,,gesetzte Supp“, den ,,Schalet“ (Cholent vom französischen chaud) in seinem Ofen. Am Freitagnachmittag brachten ihm die Frauen ihre Töpfe mit Fleisch, Knochen, Grünkern oder Bohnen zum Schmoren und holten das fertige Gericht am Schabbat nach dem Gottesdienst für ihr Mittagsmahl ab. Es war eine göttliche Speise, von der Heinrich Heine zu Recht sagte, man solle Schillers Ode an die Freude die neuen Worte geben: „Schalet, schöner Götterfunke, Tochter aus Elysium.“ Die Hauptstraße weiter hinuntergehend, kam man zur jüdischen Schule und zum Gemeindehaus. Wie die Synagoge aus Steinblöcken gebaut, stand es mit seiner breiten Seite zur Straße. Die Eingangstür in der Mitte des Hauses führte in einen Gang, von dem zwei große, hell beleuchtete Schulzimmer abzweigten. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts war dies die Volksschule der jüdischen Kinder, danach gingen sie in die Ortsschule und kamen nur zum Religionsunterricht in die jüdische Schule. Vom hinteren Teil des Einganges führte eine Treppe zur Mikwe hinunter. Neben dem Haus stand ein Schuppen mit dem jüdischen Leichenwagen. Die Toten wurden auf dem jüdischen Friedhof beerdigt, der am Rande des Judenbezirks, etwa einen Kilometer vom Ort entfernt, auf einem Hügel liegt. Schon 1935 wurden die Platten auf den Steinen und einige Steine von Nazivandalen zerschmettert. Heute wird der Friedhof vom Ort betreut. Dort liegen meine Großeltern begraben und einige der Menschen, von denen ich erzählen werde. Das Gemeindehaus ging an nichtjüdische Besitzer über. Wie an vielen einstmals 80
Ein klimperkleines Dorf mit Juden
jüdischen Häusern konnte man bis in die neunziger Jahre an seinem Torpfosten die Narben der heruntergerissenen Mesusa sehen. Die Menschen in der Gemeinde sind mir heute noch so vertraut, wie es nur Menschen aus der Zeit sein können, in der im jungen Menschen alles neu entsteht, und jeder Mensch, der in sein Leben tritt, einen kleinen Teil zu dem Mosaik beiträgt, das wir dann Kindheit nennen. Herr Goldstein, ursprünglich als jüdischer Volksschullehrer berufen, war ein würdiger Mann und zu meiner Zeit zu einer Instanz in der Gemeinde geworden. Er war so etwas wie ihr geistlicher Führer und leitete die Gottesdienste. Er trug immer einen dunklen Anzug, einen harten Hut und ging mit seinem Regenschirm durch die Straßen. Inzwischen war er kränklich geworden und las nur noch die Tora, da eine Reihe von Gemeindemitgliedern den restlichen Gottesdienst leiten konnte. Ich hörte ihn nur einmal eine kurze Predigt halten. Doch ich sah ihn oft, wenn er das Geflügel schächtete. Seine Gestik ließ erkennen, daß er ein heiliges Amt ausübte. Langsamen Schrittes, eine weiße Schürze über seiner Weste, ein großes Käppchen auf dem Kopf, das Messer in der Hand, kam er in den Synagogenhof. Wiederholt prüfte er das Messer mit seinem Finger, daß darin keine Scharte war, manchmal schärfte er es mit seinem Stein nach. Die Frau, der das Huhn oder die Gans gehörte, mußte es unter den Arm nehmen und halten und dann die Haut am Hals ein wenig mit ihrem Finger einzwicken, daß sie straff wurde. Mit seiner Linken zwickte er die andere Seite des Halses ein wenig ein, sprach die vorgeschriebene Beracha, den Segen, und dann glitt das Messer geschwind durch die angespannte Haut des Vogels. Das Blut tropfte in eine Holzschachtel mit Sand. Herr Goldstein überprüfte das Messer erneut, fand er keine Scharte, so war die Schechita koscher. Danach verscharrte er mit dem Messerstiel das Blut im Sand der Schachtel, wie es bei Geflügel vorgeschrieben ist, und sprach die Beracha dazu. Nach Herrn Goldsteins Tod kamen zwei andere Religionslehrer nach Oberlauringen, derer ich mich kaum erinnere. Der letzte, Ferdinand Samuel, wurde deportiert und ermordet. Herr Wormser, dessen Haus vor der Synagoge stand und auf die Hauptstraße schaute, imponierte mir als Kind besonders. In seiner Stube gab es einen Verschlag, in dem sein Bett stand. Als ich einmal dort war, kam er heim, ging in den Verschlag, zog sich die Schuhe und die Jacke aus, legte sich ins Bett und schlief sofort ein. „Wie schön“, dachte ich, „nicht erst noch gebadet 81
2. Kapitel: Mittendrin und außenvor
werden, das Nachtgebet sprechen und das Nachthemd anziehen zu müssen, sondern gleich, wie man kommt, schlafen zu können.“ Es gab mehrere Familien Strauß. Einer der Straußens fungierte oft als Vorbeter. Ich höre ihn noch immer mit seiner rauhen Stimme am Freitagabend den ,,Lecho Dodi“ singen. ,,Le-che-cho—di-di, likras kaha-ha—lo, trallalla, trallalla, trallali trallalla, Penni Schabbos nekah-habloh.“ Am Eingang des Ortes, wo die Untere Judengasse begann, wohnte die Witwe Sterzelbach mit ihrer älteren Tochter, die sehr dick war und, wahrscheinlich durch Polio verursacht, zwei Schienen auf jedem Bein tragen mußte und die dennoch ihren Frohsinn nie verlor. Frau Sterzelbach geziemte sich würdig und ernst. Bei ihr hörte ich zum ersten Mal Radio. Es war Beethovens Neunte Symphonie, die ganz dünn durch den kleinen Kristallapparat kroch. ln Mainz, damals noch von den Franzosen besetzt, durften Deutsche keine Radioapparate haben. lm nächsten Haus wohnten Karoline Segen und ihr Bruder Max, beide bitterarm. Trat man ins Haus ein, so fand man auf der einen Seite das kleine Wohn- und Schlafzimmer, auf der anderen den Stall mit der einzigen Kuh, die sie besaßen. Der Geruch durchzog das ganze Haus. Die Kuh half den beiden, ihre paar Felder zu bewirtschaften, und gab ihnen Milch. Trotz seiner Armut, oder vielleicht gerade darum, kam Max Segen sofort nach der Machtübernahme ins Konzentrationslager, wurde nach einigen Monaten entlassen, um schließlich mit seiner Schwester im Vernichtungslager umgebracht zu werden. Auf dem hügeligen Verbindungsweg zwischen Hauptstraße und Judengasse wohnten die Geschwister Karoline und Salomon Friedenthal. Sie scheinen sich nie gewaschen noch das Haus geputzt zu haben. Es war mir daher strikt verboten, zu ihnen zu gehen, doch war der Reiz unwiderstehlich. Karoline hatte nämlich aus ihrem früheren Geschäft noch einige Federhalter oder Notizbücher und gab mir immer ein kleines Geschenk. Meine Besuche wurden zu Hause jedes Mal bemerkt, durch meinen Geruch und den Floh, den ich mitbrachte. Dann mußte ich sofort ins Bad. Karoline, eine winzige Person, soll in der Jugend sehr schön gewesen sein und hatte sogar einen christlichen Verehrer, der vor ihrem Hause Ständchen gesungen haben soll. Als sie starb, war Salomon Friedenthal ganz allein und wurde von der Gemeinde versorgt, die ihm das Essen brachte, aufräumte, putzte und sich sonst kümmerte. 82
Ein klimperkleines Dorf mit Juden
Doch ein Problem blieb: Er war völlig verdreckt, da er sich niemals wusch oder ein Bad nahm. Also rief der Gemeindevorstand eine Sondersitzung des Synagogenrats zusammen, in der mehrheitlich beschlossen wurde, der Friedenthal müsse zwangsgebadet werden. Daraufhin marschierte der gesamte Synagogenrat zu seinem Haus, zog den heftig widerstrebenden Salomon aus und steckte ihn in eine Badewanne, in der er tüchtig abgeschrubbt wurde. Er überlebte ohne sichtbare Folgen. Samuel Fink, der in einem kleinen, schönen Hause an der Grenze des jüdischen Bezirks wohnte, war ein wohlhabender, jetzt im Ruhestand lebender Junggeselle; seine Schwester führte das Haus. Er war ein hochgebildeter Mann. In seinem Wohnzimmer hatte er eine gut sortierte Bibliothek und ein Grammophon, mit dem er klassische Musik hörte. Er war im Jüdischen gut bewandert, sehr fromm, und mein Vater unterhielt sich gern mit ihm. Gegenüber, in einem großen Hause mit einem Türmchen, beinahe einer Villa, wohnte der ,,Goldonkel“, dessen wirklicher Name mir entfallen ist. In der Welt reich geworden, kehrte er in seinen Heimatort zurück, grob, protzig und ungebildet. In die Synagoge kam er nie. Im Erdgeschoß des Hauses machte er einen Laden auf, der Herrn Meyer und seinem kleinen Warenhaus Konkurrenz machen sollte. Er war bei Juden und Christen unbeliebt. In der Mitte der Unteren Judengasse stand ein winziges Häuschen, der koschere Kolonialwarenladen, von einer alten, krumm gewordenen Frau geführt. Dort konnte man Salzheringe aus dem großen Faß herausfischen und aus anderen Fässern Linsen, Erbsen und Zucker, die dann gewogen und vertütet wurden. Verpackte Waren gab es nicht. Ich ging mit meiner Mutter gern zu der alten Frau, die mir immer eine Süßigkeit schenkte. Herr und Frau Steinhäuser sind mir besonders aus einer Begegnung in Erinnerung. Sie wohnten zwei Häuser von meinem Onkel Hugo entfernt, in einem Häuschen mit einem kleinen Garten, der an die Hauptstraße angrenzte. Der alte Mann war gebrechlich, seine ebenso alte Frau voller Leben. Meine Mutter sprach gern mit ihr. An einem heißen Sommertag kamen wir am Garten vorbei. Sie jätete, und da es sehr heiß war, hatte sie ihren ,,Scheitel“, ihre Perücke, ganz auf den Hinterkopf zurückgeschoben. Es sah lustig aus, aber ohne Scheitel wollte sie – gläubig wie sie nun mal war – nicht aus dem Hause gehen.
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2. Kapitel: Mittendrin und außenvor
Die Grenze ist geschlossen – und das Glück grenzenlos Juden und Christen arbeiteten und feierten zusammen, wie auf den jährlichen Erntedankfesten, ohne sich wirklich nahezukommen. In Oberlauringen veranstalteten die Bürger sportliche Wettbewerbe, aus denen Trepps Onkel oft als Sieger hervorging. Anders als in vielen anderen Städten und Dörfern sind in Oberlauringen die jüdischen Vermissten und Gefallenen des Ersten Weltkrieges auch während der Nazidiktatur nicht aus der Erinnerungstafel des Kriegerdenkmals gestrichen worden. Auf der Straße begrüßte man jeden – Juden und Nichtjuden – mit „Grüß Gott“, und mein Vater sagte mir, man dürfe im Gruß den Gottesnamen erwähnen, denn so habe Boas seine Feldarbeiter begrüßt. Sonst hatten wir mit Christen, selbst denen, die im Judenbezirk lebten, wenig Kontakt. Die Juden waren ehrlich, und die Bauern handelten gerne mit ihnen, da sie ihnen im Geschäftlichen vertrauten. Doch im Hintergrund lauerte das Vorurteil. Herr Schad holte uns in Stadtlauringen immer mit Pferd und Wagen vom Bahnhof ab, um uns die drei Kilometer zu unserem endgültigen Ziel zu bringen, und brachte uns wieder zurück. Sonst sahen wir ihn nicht. Herr Michelmann, der im Haus neben meinem Onkel wohnte, wurde als „Rosche“ angesehen, als Antisemit. Später wurde er Bürgermeister. Herr Kammerer galt uns als typisch für das Denken der Bewohner. Ein Beamter im Ruhestand, wohnte er in einem ansehnlichen Haus in der christlichen Gegend, lief in steifem Kragen und dunklem Anzug durch die Straßen, und begrüßte die Juden mit den hebräischen Worten: ,,Zedek, zedek tirdof “ – „Gerechtigkeit, Gerechtigkeit sollt ihr nachjagen“. Wir wußten nie, ob er uns das sagte, um mit seiner Kenntnis des hebräischen Satzes seine Verbundenheit mit den Juden auszudrücken, oder ob er sie vorurteilsvoll ermahnen wollte: „Lernt mal, Juden, ehrlich und gerecht zu sein, das gebietet euch eure Schrift.“ Er war ein guter Amateurfotograf, und nach vielen Jahrzehnten fand ich eines der Fotos, die er aufgenommen hatte: eine junge Frau, froh und stolz ihr kleines Kind mit beiden Armen in die Luft hebend. Es war eine Aufnahme von meiner Mutter mit mir. Die meisten Juden in Unterfranken lebten bis zum Anfang des neunzehnten Jahrhunderts auf Dörfern, bis die Jungen begannen, in Städte 84
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abzuwandern, oftmals, um dort auf die höhere Schule zu gehen. Doch viele sahen die größeren beruflichen Chancen und kulturellen Angebote in den Städten und kehrten nicht mehr aufs Dorf zurück. Zur Zeit der Machtergreifung hatten etliche Juden Oberlauringen bereits verlassen. 1933 unterrichtete der neue jüdische Lehrer nur noch fünf Kinder in Religion. Weitere Bürger flohen nach den Novemberpogromen. Die siebzehn Juden, die 1942 noch in Oberlauringen lebten, wurden ermordet, genau wie diejenigen, die nach 1938 nicht emigriert waren, sondern in anderen Orten Unterschlupf gesucht hatten. Wie überall verfestigte sich der vorhandene latente Antisemitismus auch in der Dorfbevölkerung schleichend, bis er zur konkreten Bedrohung wurde. Ein Sommer ist mir in besonderer Erinnerung. Während der Besatzungszeit, nach dem Separatistenaufstand und dem deutschen Generalstreik, übernahmen die Franzosen zeitweilig die Eisenbahn im besetzten Gebiet. Ich erinnere mich an eine Fahrt nach Oberlauringen, während der wir in Griesheim, mitten auf dem Feld, aus dem Zug aussteigen mußten, um mit fliegendem Gepäck fünfzig Meter zum deutschen Zug zu rennen und dort wieder hinaufzuklettern. Doch selbst in dunklen Zeiten sehen Kinder die Welt mit optimistischen Augen. So fielen in diese Zeit der politischen und wirtschaftlichen Unsicherheit die längsten, schönsten und abenteuerreichsten Ferien in Oberlauringen. Es dürfte 1923 gewesen sein, eine Periode galoppierender Inflation. Als die vierwöchigen Sommerferien begannen, war die Grenze ins unbesetzte Deutschland von den Franzosen geschlossen worden. Nach zwei Wochen wurde sie wieder geöffnet, und die Eltern entschieden, daß wir nach Oberlauringen gingen. Zwei Tage nach unserer Ankunft in Oberlauringen wurde die Grenze wieder geschlossen und blieb für über sieben Wochen gesperrt. Wir konnten nicht zurück! Die Erwachsenen allerdings waren in diesem Jahr nicht so entspannt, wie selbst sie es in den Ferien sonst waren. Tante Sabine, die Schwester meiner Mutter, empfing uns nervös und ängstlich. Die Inflation brachte den Rechten immer mehr Anhänger. Eine antisemitische Organisation, eine Splittergruppe der aufgelösten Brigade Ehrhardt, war auch in Oberlauringen aktiv. Einer ihrer Haßredner hatte auf dem Platz vor der Kirche zum ganzen Dorf gesprochen. Die Juden seien an der ganzen Not des Volkes schuld. Sie beherrschten 85
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die gesamte Industrie und das Finanzwesen. Onkel Hugo, wie er uns erzählte, konnte dem Redner das nicht durchgehen lassen und schrie mit lauter Stimme durch die Menge: ,,Stinnes“. Hugo Stinnes, der bedeutendste, mächtigste und reichste Industrielle Deutschlands, zugleich Reichstagsabgeordneter, war kein Jude. Sofort lief der Amtsmann des Dorfes zu meinem Onkel hinüber: ,,Herr Hirschberger, wenn sie noch einmal den Mund aufmachen, verhafte ich sie.“ Es geschah nichts, das Dorf blieb ruhig, doch der antijüdische Charakter wurde von den Behörden gebilligt, und uns brachten diese Geschehnisse die unterschwellige Antipathie der Bevölkerung erneut ins Bewußtsein. Das Haus, in dem mein Onkel mit seiner Familie lebte, war etwas größer als manche anderen Judenhäuser, aber doch typisch. Stand man vor ihm, so lag auf der linken Seite das Wohnhaus mit einem verhältnismäßig großen Dach und dem Laden im Erdgeschoß. Über der Eingangstür in der Mitte des Hauses, die zum Textilgeschäft führte, stand in großen Buchstaben, die ganze Front des Hauses füllend, Israel Hirschberger. Das war der Name meines Urgroßvaters, der als ganz vermögend gegolten hatte. Seine beiden Söhne, Samuel und Hermann, heirateten zwei Schwestern. Samuel, mein Großvater, heiratete Ida Lonnerstädter, Hermann die Tante Claire. Hermann wohnte in Stadtlauringen, um dem Bruder keine Konkurrenz am Orte zu machen. Meine Großmutter starb mit nur 50 Jahren schon vor meiner Geburt an Krebs. Ihr Grabstein auf dem Oberlauringer Friedhof ist tief in die Erde gesunken. An meinen Großvater habe ich nur flüchtige Erinnerungen. Ich sehe ihn auf der Veranda stehen, die Pfeife im Mund. Ich erinnere mich an Hawdala am Ausgang eines Schabbats, wobei er anschließend die Zeigefinger seiner Hände in den ausgegossenen Wein tunkte und damit seine Augenlider befeuchtete, mit den hebräischen Worten: „Gottes Wort ist vollkommen, es erleuchtet die Augen.“ Dieser Brauch ist alt und in der Tradition begründet, aber in der Familie folgte ihm nur mein Großvater. Meist erschien er mir nicht sehr freundlich, eher unnahbar, und ich fühlte mich von ihm etwas eingeschüchtert. Onkel Hugo übernahm das elterliche Haus. Seine Frau Jennie schien mir nichtssagend und bedrückt. Betty, die älteste Tochter, war sehr klein, aber gescheit und lebensfroh. Hätte sie auf eine höhere Schule gehen können, hätte sie bestimmt eine gute Zukunft gehabt. Sie ging schließlich als Haushälterin zu einer jüdischen Familie in Wiesbaden, wo ich sie gelegentlich sprach. Flora, größer und zur Plumpheit neigend, war fröhlich, gutmütig und nicht sehr 86
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gescheit. Max wurde auf Rat meines Vaters, der auch die Kosten zu zahlen bereit war, aufs jüdische Lehrerseminar in Würzburg gesandt, er zeigte jedoch bald Zeichen schwerer Geistesstörungen und starb nach wenigen Jahren im jüdischen Sanatorium zu Lohr. Ida war voller Pranken, immer froh und zu Unsinn aufgelegt. Sah man sie, hatte man Freude an ihrer Lebensfreude. Herta kannte ich nur als kleines Mädel. Sie war die einzige der Familie, die sich in den Hitlerjahren durch Auswanderung retten konnte. Die Tür zum Laden meines Großvaters war schon längst für immer verschlossen, das Geschäft stand leer, stattdessen fuhr Onkel Hugo auf seinem Motorrad, und später in einem kleinen alten Auto, das mein Vater ihm geschenkt hatte, in die benachbarten Dörfer, um mit Seifenpulver zu hausieren. ,,Wir kauften ihm oftmals einen ganzen Sack ab, obwohl wir es gar nicht brauchten, nur um dem armen Kerl zu helfen“, sagte mir später der christliche Arzt Reinhold Heusinger aus Stadtlauringen, dessen Vater uns als Kinder behandelt hatte. Neben dem Elternhaus meiner Mutter öffnete sich die kleine Pforte, die zu einer von Laub umschatteten Veranda führte, auf der die Familie im Sommer lebte. Hier baute mein Onkel auch die Sukka fürs Laubhüttenfest auf. Es gab jedoch viele jüdische Häuser, die an ihr Dach eine giebelige Mansarde angebaut hatten, deren Ziegel sie am Fest des Sukkot abnahmen, um sie durch Laub zu ersetzen. An diesen Giebeln konnte man jüdische Häuser erkennen, selbst wenn sie nicht länger in jüdischem Besitz waren. In seinem kleinen Haus konnte Onkel Hugo uns nicht aufnehmen, wenn wir kamen. So mußte uns Tante Sabine immer eine Wohnung besorgen. Von Jahr zu Jahr lebten wir in einer neuen Herberge: Wir wohnten im Lehrerhaus, im Haus der Stadtlauringer Hirschberger, dessen Decken so niedrig waren, daß ich meinen Kopf am Balken stieß, der sich durch die Mitte des Zimmers zog. Wir wohnten in einem Haus, dessen Besitzer ich vergessen habe, in der Nähe der Mühle mit ihrem Wasserrad und dem inneren Getriebe und den Mühlsteinen, die der Müller mir zeigte und erklärte. Und wir wohnten im Hause des „Goldonkels“, das zu der Zeit gerade leer stand. In diesem Jahr hatten wir das Lehrerhaus neben der Synagoge. lm Kinderschlafzimmer im Obergeschoß war ein kleines Fenster, durch das man auf die Frauengalerie der Synagoge schauen konnte. Ich fand das sehr interessant. Das Problem meiner Eltern war der Unterricht für mich. Da ich im Rechtschreiben schwach war, erhielt ich zweimal die Woche beim Haupt87
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lehrer Lamprecht Nachhilfestunden. Er wohnte auf dem Hügel neben der Kirche, sein Vater, ein Lehrer im Ruhestand, lebte mit der Familie. Mit großer Freundlichkeit und in einem heiteren Unterricht brachten mir die beiden das Rechtschreiben so gut bei, daß ich von da an keine Schwierigkeiten mehr hatte. Für mein Latein hoffte mein Vater den ,,Benefiziat“ in Stadtlauringen zu gewinnen, dessen Namen ich vergessen habe, da ihn jeder den ,,Frühmesser“ nannte, weil er an jedem Tag die Frühmesse las. Daraus wurde nichts, da der Frühmesser uns erklärte, seine Aussprache des Lateinischen sei ganz anders, wahrscheinlich aber, weil er sich in der Grammatik nicht mehr sicher fühlte. So übernahm mein Vater die Aufgabe, was mir gar nicht angenehm war, denn ich mußte nun täglich am Tischchen in der Gartenlaube des Lehrergartens die Arbeiten schreiben und wurde dann vom Vater geprüft. Immer wieder schlich ich in den Garten und aß die süßen ,,Säupflaumen“ von den Bäumen, bis mir der Magen weh tat oder ich streng wieder zur Arbeit gerufen wurde. In den Sommerferien folgten wir Jahr für Jahr derselben Routine. Am Morgen, nach dem Morgengebet meines Vaters, marschierten wir mit Hängematte und einer Tasche mit Proviant durch den Ort zum Tieftal, einem Wald mit See. Unterwegs machten wir einen Abstecher ins Postbüro im Haus der Weißensees. In meiner frühen Kindheit hielt dort noch die gelbe Postkutsche, mit dem Postillion und seinem Horn. Sie nahm Passagiere auf, lieferte die Post und nahm Briefe, die auszuliefern waren, mit. Im Postbüro warteten wir vor einem verschlossenen Schalter, bis Frau Weißensee die Briefe und Karten sortiert hatte. Irgendwann ging der Schalter auf, wir erhielten unsere Post und die Frankfurter Zeitung, die mein Vater las, solange ich denken kann. Nun ging es die Landstraße hinunter, bis man Richtung Tieftal auf einen Feldweg abbog. Wir erreichten das Lauerbrünnlein, die Quelle des Flüßleins, das dem Ort seinen Namen gegeben hat. Endlich kamen wir in den Wald. Die Hängematte wurde zwischen zwei Bäume gebunden, aber noch nicht benutzt. Denn erst mußte ich vor meinem Vater das ganze Morgengebet laut rezitieren. Anschließend gab es Frühstück, mein Vater legte sich auf die Matte und las die Zeitung, wir durften spielen oder wurden geschickt, Walderdbeeren zu suchen, von denen mein Vater nie viele abbekam, da mein Bruder und ich uns die meisten selbst in den Mund schoben. Einmal hatte Vater welche gepflückt, und ich wollte ein paar. „Frage 88
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mich in hebräisch“, sagte er, und schnell, den Geschmack schon auf der Zunge, hatte ich eine Antwort. „Gib’ mir etwas von dem Roten“, bat ich ihn und zitierte damit die Worte Esaus, mit denen der seinen Bruder Jakob um das rote Linsengericht bittet. Manchmal schwammen wir im See, was allerdings kein großes Vergnügen war, denn das Wasser war voller Schlamm, der sich wie eine zweite Haut um die Körper legte. Selbst die Karpfen wurden in diesem Teich ungenießbar. Am Nachmittag liefen wir nach Hause zu Platz mit Kaffee oder einer anderen einfachen Mahlzeit. Dann mußte ich eine Zeitlang Tora lernen und Schulübungen machen. Wenn noch Zeit war, durften wir spielen, manchmal gingen wir alle spazieren, bis am Abend richtig gegessen wurde. Wenn es regnete, waren die Dorfstraßen völlig aufgeweicht. Dann durften wir zu Onkel Hugo gehen und mit den anderen Kindern drinnen spielen, was sonst von unseren Eltern nicht gern gesehen wurde, schließlich waren wir der guten Luft wegen in Oberlauringen, und im Haus war die Luft stickig. Der Fasttag des Tischa b’Aw, an dem der Zerstörung der beiden Tempel und verschiedener Massaker an den Juden gedacht wird, ist mir aus nicht besonders rühmlichen Gründen besonders in Erinnerung. Am Abend und am Morgen sang die Gemeinde, ohne Schuhe auf Schemeln sitzend, die Klagegesänge um den Fall des Tempels und die vielen Nöte der Juden in der Geschichte. Am selben Nachmittag lief ich auf die Landstraße, die von Obstbäumen flankiert war, erkletterte einige von ihnen und pflückte mir ein paar saftige Äpfel und Birnen. Sie schmeckten wunderbar, doch bald erwischte mich meine Mutter und schalt mich tüchtig aus: „Du stiehlst, und das noch am Tischa b’Aw.“ Bald war es vergessen, und wir saßen vereint auf Onkel Hugos Veranda, der seine Pfeife schmauchte. Tabak konnte er sich nicht leisten, er kreierte seine eigene Mischung aus getrockneten Lindenblüten, die furchtbar roch. Dann ging’s zum Nachmittags- und Abendgottesdienst, und wieder war ein Tag vorüber. Am Schabbat kam Onkel Hugo früher als sonst heim. Mit einem Bimsstein rieb er den Zelluloidkragen und sein Vorhemd ab, damit sie nicht so glänzten und mehr nach Stoff aussähen. Er zog seinen guten Anzug an, Jahr für Jahr denselben, und steckte die bereits gebundene Krawatte in seinen Kragen. Dann stellte er den Wein für den Kiddusch auf den Tisch. In Wirklichkeit waren es in Wasser gegorene Rosinen. Wein konnte er sich ebensowenig leisten wie ein Stoffoberhemd, und der Bezirksrabbiner von Burgpreppach, der für 89
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Oberlauringen zuständig war, hatte ihm erlaubt, den selbstgemachten Rosinenwein zum Kiddusch zu benutzen. Nach dem Freitagabendgottesdienst in der Synagoge versammelten wir uns um den gut gedeckten Tisch. Es ist eine Mitzwa, am Schabbat Fleisch zu essen, und in Oberlauringen mangelte es daran nicht. Es gab Suppe, Braten oder Geflügel, Kartoffeln, Salat, Torte und Kaffee. Satt und zufrieden fielen wir alle früh ins Bett. Der Morgengottesdienst fing um halb acht an und endete gegen zehn Uhr. Um sicherzustellen, daß bei der Toralesung jeder Mann der Reihe nach eine Alija erhielt, den Aufruf zur Tora, standen die Namen der Mitglieder in deutsch und hebräisch auf einer Tafel, und neben jedem Namen war ein Loch für einen kleinen Holzpfeil eingeschlitzt, der, wenn dieser Mann aus der Tora gelesen hatte, weitergesteckt wurde, so daß anschließend der nächste aufgerufen werden konnte. Onkel Hugo war sehr stolz, wenn er auf der Bima stand. Zugleich war er ein eifersüchtiger Ehemann. Alle paar Minuten schaute er nach oben zur Empore, um sicher zu sein, daß seine Frau nicht etwa den Schalter aufmachte und auf andere Männer schaute. Wurde er aber aufgerufen, ging sein Blick sofort nach oben, um sich zu vergewissern, daß seine Frau den Schalter öffnete und ihn bewunderte, so lange er las. Auf das schwere Essen folgten der Mittagsschlaf, die Gespräche vor der Synagoge, meistens Lästereien über andere, das Nachmittagsgebet, der Spaziergang oder ein Umtrunk. Die jungen Juden waren groß, muskulös, sportlich und impulsiv. So kam es an Schabbatnachmittagen zu Schlägereien auf der Straße. Es war keine richtige Feindschaft, sie sahen es wohl als Unterhaltung. Nach solchen Rangeleien gingen sie, miteinander versöhnt, ins Wirtshaus zum Schwarzen Adler zu einigen Runden Bier. Der Wirt gab Kredit bis zum Ende des Schabbat, wenn alle wieder mit Geld hantieren durften. Manchmal kamen sie nach einem Streit gar nicht mehr dazu, ins Wirtshaus zu gehen. Es war Zeit für den Abendgottesdienst. So standen sie auf, staubten sich die Kleider ab und gingen in die Synagoge. Nicht immer waren es die Jungen, die in Zorn übereinander gerieten: Josef Grünfeld war wild und leicht erregbar. Mein Onkel Hugo, ein ganz kleines Männlein, konnte ebenfalls schnell in Wut geraten. An einem Schabbat, als die Gemeinde die Synagoge verließ, beleidigte er Grünfeld und stob dann, als er die Wut in den Augen des anderen realisierte, davon. Grünfeld rannte ihm nach, im Laufen eine Latte mit Nägeln aus einem Gartenzaun reißend, um den armen Hirschberger damit zu ver90
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dreschen. Mein Vater rannte beiden hinterher, um Schlimmes zu verhüten. Doch Hugo erreichte ohnehin rechtzeitig sein Haus, wo er sich verschanzte. Beider Zorn kühlte sich ab, und am Abend waren sie wieder Freunde. Der Abendgottesdienst, mit dem der Schabbat sein Ende fand, wird durch den Gemeindegesang der Psalmen 144 und 67 eingeleitet. Die Oberlauringer Juden hatten ihre eigene Melodie und sangen, daß die Balken sich schüttelten. ,,Gelobt der Ewige, mein Fels, der meine Arme zum Kampf (des Lebens) einübt ... Meine Gnade, meine Feste, meine Burg, mein Erretter ... Befreie mich, errette mich aus der Hand der Fremden, deren Mund Falschheit spricht und deren Rechte eine Lügenrechte ist ... Unsere Söhne, mögen sie wachsen wie gute Sprößlinge, unsere Töchter, … wohlgeformt ..., unsere Speicher gefüllt ... unsere Rinder trächtig. Kein Einriß, kein Verlust, kein Klagegeschrei in unseren Straßen ... Gott sei uns gnädig, segne uns ... die Erde gebe ihren Ertrag.“ Diese Worte spiegelten ihren eigenen Lebenskampf wider, ihre Nöte, die Unsicherheit und ihr Gottvertrauen. Ihre Hingabe an den Gesang bezeugte, daß sie spürten, wovon die Psalmisten sprachen.
Abschied von der Kindheit Zwischen Rosch ha-Schana und Jom Kippur wurde die Grenze wieder geöffnet und wir fuhren heim. Am Bahnhof in Stadtlauringen gab es das übliche Getümmel, denn die Ankunft und Abfahrt des Zuges war stets ein Ereignis. Der Bahnhofsvorsteher lief, sich wichtig tuend, hin und her, dann ging er ins Bahnhofshaus und kam mit seiner roten Mütze auf dem Kopf und dem Signalstab in der Hand zurück. Jetzt wurde es ernst, wir mußten einsteigen und Abschied nehmen. Der Bahnhofsvorsteher hob seinen Signalstab hoch in die Luft und blies wild auf seiner Pfeife, die Lokomotive begann zu puffen, stieß Rauchwolken aus und setzte sich ganz langsam in Bewegung. In allen Wagen gab es nur die dritte Klasse, mit Holzbänken. Der Abschied von Oberlauringen fiel mir diesmal besonders schwer. Auf dem Hügel über Stadtlauringen stand und steht eine kleine Kapelle, die man bis Rothausen, der nächsten Bahnstation, sehen konnte. Ich sah ihr traurig nach und sang: „ln Rothausen, in Rothausen, da gibt’s ein Wiedersehen.“
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Als die Familie das Dorf das letzte Mal besucht, ist Leo schon erwachsen. Zumindest religiös gesehen. Denn nach einem Jahr Unterricht bei Kantor Oppenheimer ist er am 13. März 1926 Bar Mitzwa geworden. Nun trägt er Pflichten und Verantwortung. Über seinen großen Tag schreibt er: Als sich das Datum näherte, begannen Mutter und Tante Babette zu backen und zu kochen. Die ersten Geschenke kamen an, hauptsächlich Bücher, und zusammen mit den dazugehörigen Karten wurden sie auf einem großen Tisch ausgelegt, so daß jeder sie bewundern konnte. Von meinen Eltern hatte ich mir die zehnbändige Ausgabe von Goethes Werken gewünscht. Wie die meisten anderen Bücher wurden die Bände später von den Nazis gestohlen. An meinem großen Tag waren alle mit mir zufrieden, ich las ohne Fehler aus der Tora vor. Hinterher gab es einen Empfang zu Hause, zu dem auch der liberale Rabbiner kam, und dann das Festessen für die Familie, zu dem ich soviel Wein trinken durfte, wie ich wollte. Mein Vater ermahnte mich allerdings, daß ich zum Nachmittags- und Abendgottesdienst völlig nüchtern sein müsse. Ich fühlte mich erwachsen. Zu meinem Stolz paßte, daß ich den ersten neuen Anzug meines Lebens trug, dunkelblau und elegant. Bisher hatte unsere Schneiderin immer die Anzüge meines Vaters für mich gewendet und mir angepaßt. Lange hielt das Glück nicht, denn erst nach meiner Bar Mitzwa begann ich richtig zu wachsen, und nach einigen Monaten war mir das gute Stück zu klein. Auch den neuen Hut, den ich dazu bekommen hatte, trug ich nur einige Male in die Synagoge, dann lachten die anderen Kinder mich aus und ich ließ ihn daheim. Ich bekam vom Tag meiner Bar Mitzwa an nicht mehr einen einzigen Klaps auf die Hand, und von nun an zogen mich meine Eltern immer öfter hinzu, wenn Entscheidungen zu treffen waren. So beschlossen wir 1929 im Familienrat, ein neues Haus am Hindenburgplatz zu kaufen. Und in Oberlauringen begann der Auftakt zu meiner Predigttätigkeit. Als ich vierzehn war, bat mein Vater Herrn Goldstein, mich nach der Toralesung am Schabbat eine Predigt vom Almemor halten zu lassen und bereitete meine Ausführungen sorgfältig mit mir vor: ,,Sprich immer deutlich und vor allem immer langsam. Dann ist es viel leichter, nicht ins Stocken zu geraten, wenn dir gerade etwas nicht einfällt. Und wenn du den Faden verlierst, sprich nicht schneller, wie man das in der Aufregung leicht tut, sondern sprich noch langsamer, wiederhole vielleicht einen Gedanken, so daß du, ohne eine lange Pau92
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se machen zu müssen, den Anschluss wieder finden kannst.“ In all meinen Vorträgen und Vorlesungen bin ich seinem Rat gefolgt, und es hat sich bewährt. In den letzten Jahren vor meinem Abitur fuhren wir nicht mehr nach Oberlaurigen, die Haltung der Nichtjuden den Juden gegenüber war durch und durch antagonistisch geworden, mein Vater sah Gefahren für uns, die er in der Stadt noch nicht sah. Die Befürchtungen von Maier Trepp, dass in Oberlauringen ihr Leben oder ihre Gesundheit bedroht sein könnten, hatten durchaus Substanz, wie seinem Sohn Jahrzehnte später bestätigt werden wird. Ein alter Oberlauringer Bürger erzählt Leo Trepp während eines Besuchs, dass Nationalsozialisten in dem Dorf bereits vor der Machtergreifung ein Pogrom geplant hätten, zu dem Arbeiter aus der Kugellagerfabrik in Schweinfurt rekrutiert worden seien. Die Funktionäre befürchteten, dass, wenn sie Dorfbewohner einsetzten, diese am Ende noch Mitgefühl für die Nachbarn aufbringen würden. Der Erzählung von Trepps Gesprächspartner zufolge habe der die Juden gewarnt, daraufhin sei die Aktion abgebrochen worden. Trepp konnte diese Aussagen nicht mehr aufzeichnen, denn im nächsten Jahr, als er, wie abgemacht, mit einem Tonband nach Oberlauringen zurückkehrte, war der alte Mann gestorben. Solche Übergriffe waren in den zwanziger Jahren nicht ungewöhnlich. Militär, Wirtschaft und Bürger hatten den alten Antisemitismus bruchlos aus der Monarchie in die Weimarer Republik getragen. Von Beginn an bezeichneten viele Deutsche die nun demokratisch organisierte Zivilgesellschaft als „Judenrepublik“. Wie Robert Wistrich in seinem Jahrhunderte umspannenden Werk zum Antisemitismus A lethal Obsession anmerkt, waren die Juden in der Öffentlichkeit sichtbar genug, um einer solchen Haltung eine völlig „oberflächliche Plausibilität“ zu geben. Nachdem es die gesetzlich gewährte Gleichberechtigung für sie Jahrzehnte nur auf dem Papier gab, was der Rechtswissenschaftler Rudolf von Gneist die „Umkehrung der Verfassung durch die Verwaltung“ nannte, „standen ihnen nun viele Türen, die ihnen bisher verschlossen gewesen waren, offen, vor allem im Justizdienst und Öffentlichen Dienst, was sie begeistert nutzten und sich mit ihren vielfältigen Talenten zum Nutzen Deutschlands engagierten“, wie Jacob Borut in seiner Untersuchung zum gewalttätigen 93
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Antisemitismus in der Weimarer Republik schreibt. Gleichzeitig gab es mehr jüdische Ärzte, Anwälte, andere Akademiker, Kaufleute und kleine Firmengründer. Besonders Angehörige der Mittelschicht, unter denen ein „fanatischer Antisemitismus“ wucherte, wie Wistrich ausführt, hätten sich durch neue Konkurrenz bedroht gefühlt, vor allem, nachdem sie ihre Ersparnisse in der Inflation verloren hatten. Es ist fast traurig, wenn man sich bemüßigt fühlt zu erwähnen, dass natürlich auch deutsche Juden wie Maier Trepp ihr Vermögen verloren hatten und neu anfangen mussten, worüber sein Sohn öfter sprach. Vor allem in der Schule erfährt Leo Trepp, wie sich der Antisemitismus wandelt: von einer Haltung, die ihn in unangenehme Situationen manövriert und ihn belastet, zu einem Aktionsprogramm, das Juden aus der Gemeinschaft ausschließt. Die Lehrer behandelten Fritz Blumenthal und mich, die beiden Juden in der Klasse, lange Zeit fair. Nichtsdestotrotz war eine gewisse antijüdische Stimmung von Beginn an vorhanden und manchmal schwer auszuhalten. Schon im ersten Jahr auf dem Gymnasium sah unser Klassenlehrer, Dr. Keym, durch die Zeugnisse, blickte auf und sagte zur Klasse: „Der Trepp kann singen? Juden können doch nicht singen.“ Ich hatte eine Eins in Musik, und er schien ernsthaft überrascht. „Der singt wie eine Nachtigall“, anwortete ihm jemand. Da man ebenfalls der Ansicht war, Juden seien unsportlich, war mir die Fünf in Sport sicher, obgleich ich einer der besten Schwimmer war. Und eines Tages, ich war vielleicht zehn, kam ein neuer evangelischer Jugendpfarrer an die Schule. Er war jung, sah gut aus, es war ein großes Gemache um ihn, in der Pause stand er in einer Ecke auf dem Schulhof, und die Kinder strömten zu ihm. Auch ich stellte mich in den Kreis seiner Bewunderer, und er sah durch mich hindurch, mit einem Blick, den ich nicht vergessen habe. Ziemlich schnell nach meinem Wechsel aufs Gymnasium hatte ich Freundschaft mit zwei nichtjüdischen Mitschülern geschlossen, Peter Paul Etz und Werner Spanner, mit denen ich mich oft bei einem von uns zu Hause traf, um die Mathematikaufgaben zu lösen. Doch in der Freizeit sahen auch wir uns selten. Mit den anderen Kindern hatte ich kaum etwas zu tun. Sie sahen mich als anders an, was ich in gewisser Weise, zumindest rein äußerlich, ja auch war. Auf dem Hof trug ich eine Mütze oder Kappe, um den Kopf zu bedecken. 94
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Am Schabbat ging ich zwar zur Schule, durfte aber nicht schreiben. Bei Ausflügen übers Wochenende blieb ich zu Hause, weil der Schabbat dazwischen lag. Wanderungen an anderen Tagen konnte ich mitmachen, bei der Einkehr in ein Gasthaus allerdings nichts essen. Wenn wir irgendwo über Nacht blieben, legte ich morgens im Zimmer des Lehrers meine Tefillin.
Das Gerücht über die Juden Nachdem den Juden am Anfang der Weimarer Republik eine Hasswelle von lange nicht mehr dagewesenem Ausmaß entgegengeschlagen war, beruhigte sich die Stimmung etwas. In den Jahren zwischen 1924 und 1929, die Trepp als die „guten Jahre“ bezeichnet, gab es Jacob Borut zufolge weniger Vorfälle, doch ab 1927 stieg die Zahl der antisemitischen Angriffe auf Bürger und Synagogen, Geschäfte und besonders Friedhöfe wieder an und sollte von da an nicht wieder abebben. Wie Borut berichtet, schienen in der breiteren Öffentlichkeit vor allem die Pogrome im Berliner Scheunenviertel 1923 und am Kurfürstendamm zum jüdischen Neujahrsfest im November 1931 Aufmerksamkeit gefunden zu haben, obgleich Juden in allen Orten in Deutschland, besonders in Bayern und den östlichen Provinzen, angegriffen worden seien, und es dabei schwerwiegendere Vorfälle als die beiden Attacken in Berlin gegeben habe. Die Reaktion auf den Übergriff am Kurfürstendamm unterstreicht die Beobachtung von Leo Trepp, dass die Partei genau darauf achtete, was sie dem Volk zumuten könne: „Bei jedem Schritt loteten die Nazis aus, wie weit sie gehen konnten. Erschwerung und Erleichterung. Oder, wenn die Bürger es akzeptierten, nur Erschwerung.“ Während der Angriffe, gesteuert unter anderem von Joseph Goebbels und ausgeführt von kleineren SA Truppen, wurden einige Juden schwer verletzt. Selbst die national gesinnte Presse zeigte sich empört und die Täter wurden in Schnellverfahren zu, im Einzelnen hohen, Haftstrafen verurteilt. Bei Angriffen auf Juden setzten die Rechten zwar brutalste Gewalt ein, benutzten aber, anders als bei Attacken gegen Kommunisten, keine Waffen. Offensichtlich gingen die Verantwortlichen davon aus, dass die Bevölkerung bestimmte Gewaltexzesse nicht mitzutragen bereit war. 95
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In Mainz begnügt man sich zu dieser Zeit noch mit Äußerungen und nonverbaler Verachtung. Doch wie Leo Trepp erzählt, rotteten sich, als die jüdische Theatergruppe Habima zum Gastspiel in die Stadt kam, so viele Menschen zum Protest zusammen, dass die Polizei das gesamte Theater besetzen musste. Als die „guten Jahre“ zwischen 1924 und 1929 sich dem Ende näherten, enthüllte sich die Ideologie immer mehr. Der Nationalsozialismus machte sich auch im Unterricht selbst bemerkbar. „Da sieht man mal, die Juden haben schon die Ägypter ausgebeutet“, sagte jemand im Geschichtsunterricht. Das war absurd, ich habe den Zusammenhang vergessen. Ich spürte intuitiv, welche Schüler und Lehrer Antisemiten waren, und versuchte, mich von ihnen fernzuhalten, was irgendwann unmöglich wurde. Denn das Gift schlich von draußen in die Klassenräume hinein. Ging man in die Stadt, war man dem Einfluß der „Bewegung“ ausgesetzt. Las man die Zeitung, war die Bewegung das Thema. In den Straßen konnte man nicht verhindern, eine der Vertriebsstellen der Ludendorff Literatur zu passieren. Die Pamphlete lagen zahlreich aus. Der „Völkische Beoabachter“ und „Der Stürmer“ fanden reißenden Absatz. Buchhandlungen hatten ihre „völkischen“ Schaufenster. Hitlers Mein Kampf und Haushofers Geopolitik lagen dort, Grimms Roman, dessen Titel das Schlagwort der Nationalsozialisten werden sollte, Volk ohne Raum, Rosenbergs Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts und so weiter und so fort. Begriffe wie „Lebensraum“, „Deutschland erwache“, „Volk ohne Raum“, „der Jude“, „die jüdische Asphaltpresse, die den inneren Verfall anstrebt“ (Zeitungen wie die Frankfurter oder Vossische, die als „jüdisch verseucht“ angesehen wurden) flossen nun in die unkritisch bejahenden Schülergespräche und, sehr bald, als Quellenmaterial in die Referate. Die kommenden Jahre sollten zeigen, wie rasend schnell sich aus dem „Gerücht über die Juden“, wie Adorno den Antisemitismus nennt, ein Bild formt, das sich im Einzelnen zu einem Wissen verfestigt. Trepp hat den Antisemitismus stets als irrationales Gefühl angesehen, von den Herrschenden in Kirche und Gesellschaft immer wieder für eigene Zwecke ausgenutzt. Als Gefühl getragen aber wird er von den Bürgern 96
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selbst, die bald Adolf Hitler wählen, nicht trotz seiner judenfeindlichen Haltung, sondern genau deswegen. Der schleichende Wandel war für mich deutlich zu erkennen, vor allem, weil ich manchmal Gegenstand der Diskussionen war. Und ich sage Gegenstand, weil Lehrer und Schüler mich in manchen Momenten als nicht vorhanden ansahen. „Hat Bismarck moralisch gehandelt, als er die Emser Depesche so redigierte, daß sie die Franzosen zum Krieg veranlaßte?“ fragte unser Geschichtslehrer, Dr. Hartleb. Meine spontane Antwort: „Nein, es war unmoralisch.“ Er wurde außerordentlich ärgerlich, doch er ignorierte mich in seiner Antwort und sprach zur Klasse: „Natürlich hat er moralisch gehandelt, er hat ja nur ein paar Worte ausgelassen.“ Ich sah darin einen doppelten Tadel. Für ihn war ich mit meiner Antwort nicht einmal einer Diskussion würdig und gleichzeitig war ich der Außenseiter, dem wahrer Patriotismus fehlte. In Staatsbürgerkunde behandelten wir Werner Sombart mit seiner antijüdischen Ausrichtung, erwähnten aber nicht Max Weber, der die Grundlagen des wagemutigen Kapitalismus im Protestantismus sah. In Physik unterrichtete uns Dr. Stratemeyer, der immer wieder mal vom Stoff abwich und über den Versailler Vertrag oder andere Geschehnisse referierte, die aus seiner Sicht das deutsche Volk demütigten. Einmal sagte er: „Das Judentum muß ausgelöscht werden.“ Dann schaute er Fritz Blumenthal und mich an und fügte hinzu: „Gegen einzelne Juden habe ich nichts, man kann Ausnahmen machen, aber grundsätzlich gehören sie aus dem Volkskörper ausgemerzt.“ In einem Referat hieß es: „Abraham Lincoln war ein Jude, wie sein Name schon zeigt, und nur als Jude konnte er die Unterrasse der Neger den Weißen gleichstellen.“ Der Bürgerkrieg sei eine Verschwörung der Juden gegen die nordischen Amerikaner gewesen, um die Kraft Amerikas durch Rassenmischung zu schwächen. In einem anderen hörte man: „Juden kennen nichts als den Wucher.“ Der Zusammenbruch 1929 wurde in Referaten nicht als Weltwirtschaftskrise erklärt, sondern als Verschwörung der Anderen, die Deutschland in die Knie zwingen wollten. Wer „die Anderen“ waren, wurde nicht weiter erklärt. Konnte man argumentieren? In der ersten Zeit versuchte ich es, doch meine Worte stießen auf taube Ohren.
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Forscher finden ungezählte Ansätze, um nach Gründen für Antisemitismus zu suchen. Leo Trepp schienen diese Erklärungsversuche oft fruchtlos. Im Laufe seines Lebens wies er zu vielen Gelegenheiten darauf hin, dass es von allen gefundenen „Gründen“ stets Ausnahmen gab und dass Hass gegen Juden selbst dort gewuchert habe, wo sie, wie in England, Jahrhunderte lang gar nicht gelebt hatten. Und auch wenn er es selbst betonte, war sich Trepp der Implikationen sehr wohl bewusst, die darin lauerten, auf die hohen Verdienste der deutschen Juden für ihr Land hinzuweisen. Er tat es nichtsdestotrotz, weil er eine bittere Ironie darin sah, dass man in Deutschland die Menschen verfolgte, die sich der Pflichten, die ein Land seinen Bürgern auferlegt, mit besonderer Hingabe widmeten. Für ihn allerdings beruhte diese Hingabe auf einer Erziehung im Sinne der jüdischen Ethik, wie sie in Deutschland die religiösen und selbst die meisten säkularen Juden erhalten hatten, und auf den darauf gegründeten sozialen und humanistischen Sichtweisen, nicht auf der Tatsache an sich, dass jemand Jude war. Von fest zugeschriebenen Charakteristika oder anderen, auf Grund der Ethnie oder Religion zugeschriebenen Eigenschaften hielt er nichts. Es waren Vorurteile. Als ihn der Besucher eines Vortrags einmal fragte, warum die meisten Juden so wohlhabend seien, antwortete mein Mann, das wisse er nicht. „Aber ich schlage Ihnen etwas vor. Ich kann Nichtjuden konvertieren. Gehen Sie zwei Jahre in einen Vorbereitungskurs, dann kommen Sie wieder zu mir, und ich mache Sie zum Juden. Dann können Sie genauso reich werden wie die Anderen.“ Trepp wird es später, nachdem er wieder angefangen hat, in Deutschland zu veröffentlichen und zu sprechen, umso wichtiger sein zu betonen, dass jedem Staatsbürger das Recht auf Freiheit und Gleichbehandlung zustehe, unabhängig davon, wie er aussehe, wie er glaube, wie er denke; dass Gott den Menschen die Freiheit gegeben habe und sie darum von Niemandem willkürlich eingeschränkt werden könne. Unter Hinweis auf das erste Gebot „Ich bin der Herr, Dein Gott, der Dich ausführt aus dem Land Ägypten, aus dem Land der Sklaverei“, sagt er in seiner Rede zur Annahme der Oldenburger Ehrenbürgerschaft im Jahr 1990: „Gott ist der Autor der Freiheit.“ Und führt aus: „Der Minorität das Recht und die Grundrechte von Freiheit und Leben zu bewahren, ist die Aufgabe, 98
Das Gerücht über die Juden
die uns aus der Göttlichkeit der Freiheit zukommt.“ Trepps Erfahrung hat ihn allerdings gelehrt, dass dies nicht genügt, dass es nicht auf die Majorität und deren Gunst ankommen darf, die sie der Minderheit zuzugestehen bereit ist. Toleranz, das war seine Erkenntnis spätestens, nachdem er den berühmten Brief von George Washington an die jüdische Gemeinde in Newport gelesen hatte, konnte den Juden nichts bedeuten. In dem Brief schreibt der Präsident, „... von Toleranz soll nicht gesprochen werden, als hänge die Ausübung der von der Natur gegebenen angeborenen Rechte einer Gruppe von der Gnade einer anderen Gruppe ab ... die Regierung erwartet lediglich, dass diejenigen, die unter ihrem Schutz stehen, sich als gute Bürger verhalten und ihr Land, wann immer möglich, unterstützen.“ Wenn man sich die Lehre von Samson Raphael Hirsch vor Augen hält, nach der ein Jude beides, vollkommen Jude und vollkommen Bürger seines Landes, zu sein hat, versteht man, wie sehr die Menschen in Leo Trepps Umfeld dem Anspruch von Washington gerecht zu werden versuchten, ihr Land als Bürger zu unterstützen. Wie sie von ihrer Haltung her eine Lebensform anstrebten, die wir heute als Zivilgesellschaft bezeichnen. Wenn sie denn die Möglichkeit hatten. Doch die von der Umwelt kurzzeitig zugestandene Gleichberechtigung und Freiheit war nie sicher. Sie beruhte seit 1871 zwar auf gesamtdeutschem Staatsgesetz. Das wiederum allerdings beruhte nicht auf Überzeugung und innerer Haltung einer Bürgergesellschaft, die einem jeden Mitglied aufgrund seiner Menschenwürde ganz selbstverständlich gleiche Rechte zugestand, sondern war des Kaisers Untertanen verordnet worden. Auf deren Gunst war kein Verlass. Leo Trepp wird Washingtons Brief Jahre später lesen. Erst in den Vereinigten Staaten wird er sich mit dessen Konzept der Toleranz auseinandersetzen und es Jahrzehnte später deutschen Studenten zu vermitteln versuchen, christlichen und muslimischen Kollegen sowie Politikern. Doch geläufig ist es ihm schon jetzt. Denn Washingtons Auffassung von Toleranz spiegelt Trepp zufolge die jüdische Lehre, nach der die Toleranz, das Ertragen des anderen wie er ist, „auf dem heiligen Gebot und Gesetz“ beruht. In einer Rede 2009, ein Jahr vor seinem Tod, und das Jahr, in dem sich besonders zeigt, dass der Hass gegen Juden tiefsitzt, 99
2. Kapitel: Mittendrin und außenvor
sagt er: „Toleranz kann den Samen der Verachtung in sich tragen und ist immer unsicher. Gott aber schuf einen Menschen, damit niemand sagen kann, ‚ich bin besser als du, denn meine Vorfahren waren besser’. Damit alle gleich seien. Es heißt, ‚liebe deinen Nächsten’, doch die Juden haben es weitergehend formuliert. Wiederholt fordert uns die Tora auf, den Fremden zu lieben. Denjenigen, der uns fremd ist, der anders ist, das heißt, auch denjenigen, der uns persönlich intolerabel erscheinen mag. Das Gesetz gilt dem Einheimischen und dem Fremden.“ Trepps Augenmerk richtete sich immer wieder darauf, was die Welt und was Deutschland hätten gewinnen können, hätten die anderen die Juden als diejenigen gesehen, die sie waren: Menschen, von denen viele ihrem Land und ihren Mitbürgern etwas zu bieten hatten, und die ihre Talente, ihr Wissen, ihr Vermögen und die Erkenntnisse ihrer Religion der Allgemeinheit zur Verfügung stellen wollten. In einer Rede 1990 beschäftigt sich Trepp mit dem Bürger der Stadt, der vor ihm geehrt wurde, dem Philosophen Karl Jaspers, der, wie Jaspers selbst geschrieben hatte, in seinen Werken von 1928 bis 1931 so sehr von dem jüdischen Denken seiner Schwagers, Ernst Meyer, beeinflusst gewesen sei, dass er nicht mehr wisse, „wo mein Werk anfängt, und wo seines endet.“ Meyer habe Jaspers das hartnäckige Denken beigebracht, sagt Trepp. Es war und blieb das Wesen des Judentums, kritisch dafür zu sorgen, daß man nicht zu schnell, zu leichtfertig sich beruhige. Dieses Drängen und dieses hartnäckige Fragen in Politik und Kultur, in Literatur und in Leben und Gemeinschaft, das war im wesentlichen, so scheint es mir, der bedeutendste Beitrag des deutschen Judentums; nicht zu erlauben, daß man sich schnell beruhige, sondern ethische Fragen durchdenke und sie im Gewissen beantworte. Fragen zu stellen, kritische Fragen, die ans Herz der Dinge gingen. Hätte die deutsche Gesellschaft auch nur einen Funken der Erkenntnis von Jaspers gehabt, dann hätte sie dieses Wesen des Judentums erkannt. Doch an diesem Punkt war die Gesellschaft nie. In den Jahrhunderten zuvor hatten sich Ablehnung der Juden und der Hass gegen sie aus dem Antijudaismus gespeist, doch mit dem konnten die Herrscher, 100
Das Gerücht über die Juden
wie Adorno und Horkheimer ausführen, „keine Masse mehr in Bewegung setzen“. Statt der Jesusmörder hatten viele nun die Nichtarier, die Nicht-Volksangehörigen vor Augen, wenn es um die Juden ging. Dieses neu geschaffene Bild zerstörte jede Chance der jüdischen Staatsbürger, dass man ihre Verdienste für das Vaterland und ihre Sorgen darum anerkannte. Dass man sie überhaupt als Staatsbürger anerkannte. Denn nun war es die Rasse, die darüber entschied. Für die Juden war irrelevant, ob das Stereotyp – die in Verleugnung jeder Realität gezeichnete Karikatur von ihnen – auf „falscher Projektion“ beruht, wie Adorno und Horkheimer schreiben, oder auf Neid oder sonstigen niederen Charaktereigenschaften, wie es andere Autoren annehmen. Sie sind, obgleich sie formal frei sind wie nie zuvor, für viele ihrer Mitmenschen als Bürger außen vor. Das, was Leo Trepp ebenfalls in seiner Rede sagt, nämlich dass „jeder Bürger in Wirklichkeit auch ein Bürge für die Gemeinschaft, in der lebt, ist“, darf ausgerechnet auf die Juden, von denen überproportional viele sich dieser Verantwortung stellen wollen, nicht mehr zutreffen. So werden Frankfurter Zeitung und Berliner Tageblatt, die beide den Demokratisierungs- und Friedenskurs der Regierung unterstützen, als „Judenpresse“ angegriffen, Rathenau, der sich nach Aussagen seiner Kollegen aufrieb für das Wohl Deutschlands, ist ermordet worden, und jüdische Bürger wie Leo Trepp werden nicht einmal mehr eines Dialogs für würdig gehalten, wie seine Beschreibungen aus Schule und Universität zeigen. Die Mehrheit der deutschen Bürger wollen keine Bürgen für die Gesellschaft sein, sie wollen nicht mitarbeiten an einem Staatsgebilde, das zum ersten Mal Demokratie verspricht. Sie wollen sich nicht selbst engagieren, sondern für politische Fehler in der Vergangenheit und für alles, was in der Gegenwart nicht funktioniert, Schuldige finden. Sie wollen nicht Bürger, sie wollen Untertanen sein. Und die jüdischen Bürger werden sie in den kommenden Jahren Schritt für Schritt zu nicht vorhandenen Menschen erklären, zu Nichtmenschen. Schon Jahre vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten, wie Leo Trepp schreibt. Ganz schlimm wurde es, als 1929 ein neuer Schüler in die Klasse kam, Rudolf Zimmerling, sechs Jahre älter als wir. Er verseuchte beinahe die gesamte Klas101
2. Kapitel: Mittendrin und außenvor
se mit seinen rechten Ideen. Obwohl ich vorsichtig sein will, denn was weiß man schon über andere Menschen? Der Neue war populär, stets umringt von meinen Mitschülern, doch inwieweit die wirklich seinen Überzeugungen folgten oder einfach dort sein wollten, wo die Gruppe war, kann ich nicht sagen. Und ich muß berücksichtigen, daß sich niemand dem Einfluß der Umwelt entziehen konnte, auch ich nicht. Es dauerte eine Weile, bis ich nach meiner Auswanderung erkannte, daß der Kapitalismus, den wir in der Schule als „böse“ anzuprangern gelernt hatten, nicht so böse war, sondern im Gegenteil den Lebensstandard der Amerikaner verbessert hatte, und man allein seine Auswüchse kritisieren konnte und mußte. Ich wußte also nicht, was in den anderen vorging. Die Richtung schien klar. Doch ich konnte nicht fragen. Ich war in jeder Beziehung von der Gemeinschaft ausgeschlossen. Dieses Gefühl wiederum verstärkte meine Sensibilität, die sich noch einmal vertiefte, als bald persönliche Angriffe kamen. Öfter nun hörte ich Bemerkungen über „den dreckigen Juden“. In Französisch fragte mich der Lehrer: „Was heißt Kragen?“, ich sagte unkorrekt „faux cou“ statt „faux-col“. „Das ist richtig“, sagte jemand, „er hat einen dreckigen Hals“. Mein Mitschüler Hans Steyer hielt einen Vortrag über die Schlechtigkeit der Juden bereits zu biblischen Zeiten. Der gute Sozialdemokrat Dr. Berghäuser, der sofort nach der Machtergreifung in den Ruhestand versetzt wurde, versuchte dagegen zu argumentieren. Ohne Erfolg. Ich sprang ihm bei, doch die Klasse grölte und ließ mich nicht einmal enden. An einem anderen Tag brachte Dr. Berghäuser eine Broschüre mit Informationen über Universitäten in die Klasse. „Möchte jemand es haben?“ Niemand außer mir wollte es. Ich bekam es. Zimmerling fragte: „Darf ich einmal für ein paar Minuten hineinsehen?“ Klar. Ich gab es ihm und fragte ihn vor der letzten Stunde, ob ich das Heftchen nun zurück haben dürfe. „Einem Jud gibt man nichts zurück“, war die Antwort. Die Klasse schwieg. Er behielt es. Mit Ausnahme der beiden Freunde war ich vereinsamt. Nur Werner und Peter Paul hielten weiter zu mir, mit beiden arbeitete ich nach wie vor abends oft stundenlang an den Mathematikaufgaben. Dennoch verband mich auch mit den beiden nichts Substantielles. Es war, als gäbe es eine unsichtbare Schranke zwischen den anderen und mir. Manchmal sprachen wir über Kunst oder ein Buch, das wir zufällig alle gelesen hatten, doch das waren Bruchstücke meines Lebens. Oper oder klassische Musik und natür102
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lich jüdische Fragen konnte ich mit ihnen nicht diskutieren. Dasselbe galt für Fritz Blumenthal, der in einem weit weniger religiösen Elternhaus aufwuchs. An Sonntagnachmittagen ging ich manchmal allein spazieren, ab und zu über die Rheinbrücke bis nach Wiesbaden, um mir ein Kurkonzert anzuhören. In manchen Momenten fühlte ich mich so allein, daß ich meine Hand an den Häuserwänden rieb, um etwas zu berühren. Viele Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg sagte Peter Paul Etz zu mir: „Ich habe mir Gedanken gemacht. Wir saßen neun Jahre lang zusammen auf der Schulbank, und ich wußte nie etwas über deinen Glauben oder deine Lebensauffassungen.” Er hatte nie gefragt, und während mein Vater uns ganz selbstverständlich auch über den christlichen Glauben erzählte, schienen die Christen ihren Kindern nichts über das Judentum vermittelt zu haben. Als Erwachsene holten Peter Paul und ich die Gespräche nach. Wir blieben Freunde bis zu seinem Tod. Er hatte im Krieg eine Bestallung zum Offizier abgelehnt, weil er dann der Partei hätte beitreten müssen. Später wurde er Professor für Kunst und ein bekannter Maler. Zwei seiner Werke hängen in unserem Schlafzimmer. Auch mit Werner dauerte die Freundschaft an. Beide kamen aus streng katholischen Elternhäusern und später als Rabbiner unter den Nazis habe ich mehr als einmal erfahren müssen, daß die von ihrem Glauben überzeugten und ihn bewußt lebenden Christen am besten gegen den Nationalsozialismus immunisiert waren. Als die Franzosen 1930 endlich aus dem Rheinland und somit auch aus Mainz abzogen, feierte die ganze Stadt. Zu den offiziellen Feierlichkeiten kam der Reichspräsident nach Mainz. Mein Herz hüpfte, als er aus der Stadthalle kam und ich an seiner Seite den liberalen Rabbiner Levi sah, aufrecht und würdig, mit einem Davidstern auf der Brust, der Amtskette des Armeerabbiners. Doch dann mußten wir Schüler Spalier stehen, um die Menschenansammlung zurückzuhalten, und mein Stolz auf den Vertreter der Juden verflüchtigte sich in den Hintergrund meines Bewußtseins. „Wenn er kommt, haltet euch bei den Händen, damit die Menge nicht durchbricht“, hatte es geheißen. Als das Auto mit Hindenburg und dem Oberbürgermeister langsam vorbeifuhr, versuchte ich, die Hand meines Nachbarn Hans Steyer zu nehmen, doch er sträubte sich derart, daß ich aufgab. Im September desselben Jahres errangen die Nationalsozialisten bei der Wahl überraschend 107 statt bisher 14 Sitze. In der Klasse brach Jubel aus. Einer 103
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der Schüler schrieb das Ergebnis groß an die Tafel. Niemand wischte es weg. Von diesem Tag an begannen auch einige der Lehrer, meinen Gruß auf der Straße nicht mehr zu erwidern. Dr. Hartleb, der mir meine Bemerkung zur Emser Depesche wahrscheinlich ohnehin nie verziehen hatte, drehte nun demonstrativ den Kopf zur anderen Seite, wenn er mich kommen sah. Im Abgangszeugnis erhielt ich ein „ungenügend“ im Turnen, doch sonst spiegelten meine Noten meinen Wissensstand und waren fair. Zum Abschiedsessen und zur Abschlußfeier ging ich nicht. Ich fühlte, daß ich mit der Klasse nichts mehr zu tun hatte. Als ich vor einigen Jahren zum ersten Mal die Abiturszeitung las, in der jeder Schüler kurz beschrieben wurde, habe ich Gott für diese Entscheidung gedankt. Über mich heißt es: „Der Trepp kimmt mir vor wie e chemisch Element. Wenn mer’s ansteckt, ich glaab, daß es dann brennt. Er ist von allerlei Pflanzgerüche umschwängert, so daß er uns die Lust an der Schul nit verlängert.“ Und an anderer Stelle: „Anfang einer französischen Stunde. Eine schneidende Stimme: ‚Trepp, commencez à lire!‘ Darauf eine ölige Stimme: ‚Mon professeur, j’ai mal au col.‘ – Scheinbar kann der mit eine dreckische Krage nit lese! D. Red.“ Das war der Trepp für die anderen: der dreckige, stinkende Jude. Ich war froh, als die letzten Schuljahre vorbei waren. Sie waren eine Prüfung für mich, die mir, wie ich hoffe, ein tieferes Einfühlungsvermögen und eine größere Liebe für meine Mitmenschen gegeben hat. Meine Zuneigung heute erstreckt sich auf meine alte Schule und die neue Schülergeneration, zu der ich oft gesprochen habe. Diesen Schülern kann keine Schuld für die Vergangenheit zugesprochen werden. Doch sie müssen das Geschehene verstehen und sich dadurch verpflichtet fühlen, aktiv zu einer Welt beizutragen, in der es keinen Antisemitismus und Rassismus mehr gibt. Wir sind weit davon entfernt. Die Hoffnung dürfen wir dennoch nicht verlieren. Martin Buber sagte mir einmal: „Die Zukunft unserer Welt ruht auf der Jugend, die den Willen hat, sich für das Wahre, Schöne und Gute mit voller Kraft einzusetzen.“ Dem ist nichts hinzuzufügen. Heute gibt es vor dem Schlossgymnasium einen Leo-Trepp-Platz. Noch im letzten Jahr vor seinem Tod hat mein Mann, längst zum Ehrenschüler gekürt, dort Klassen besucht. Einige Gedanken über die Schule, die er für die Biographie aufgeschrieben hatte, wird er auf deren hundertfünf104
Das Gerücht über die Juden
zigstem Jubiläum mit den Schülern geteilt haben. Ihn erfreute die Offenheit und der Wissendurst der Jugendlichen; die wiederum entzückte seine jungenhafte Art und sein unprätentiöses Wesen. Doch Trepp muss sich in seinen späten Jahren auch mit der Tatsache auseinandersetzen, dass die Haltung nicht weniger Deutscher den Juden gegenüber erneut feindselig und ablehnend ist, dass sie, statt, wie er es von jedem Bürger fordert, „hartnäckige Fragen“ zu stellen, sich erneut auf Gerüchte, Bilder und darauf basierendes angenommenes Wissen zurückziehen. War der Patriot Fritz Bauer in seinen Bemühungen, im Interesse Deutschlands die Auschwitzverbrechen juristisch aufzuarbeiten, in den sechziger Jahren noch plump als „jüdischer Volksverräter“ beschimpft worden, schaffen sich Träger des irrationalen antagonistischen Gefühls den Juden gegenüber in späteren Jahrzehnten neue „logische“ und somit aus ihrer Sicht legitime Begründungen, warum die Vorstellungen, die sie über Juden im Kopf haben, die Realität spiegeln. Davon wird noch zu sprechen sein.
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DRIT TES KAPITEL
Studium im Sauseschritt
Orthodox? Liberal? Einheit in der Vielfalt
L
eo Trepps Erzählungen zeigen nicht nur eine andere Orthodoxie als die, die wir heute in Israel finden, sondern sie lassen ahnen, was deutsches Judentum ohne die Schoah heute hätte sein können. Bei Besuchen in Deutschland nach 1945 frustrierte ihn oft, wie weit sich neue Gemeinden in der Bundesrepublik von diesem Ideal entfernt hatten. Besonders die orthodoxen Juden und die, die sich so nannten, haben meinen Mann immer wieder gefragt, wie sich ein orthodox ordinierter Rabbiner liberaleren Stömungen so weit öffnen konnte. Manchmal klang es, als sei er abtrünnig geworden. Dabei entsprang sein Denken nicht nur einer Haltung, deren Fundament in einem religiösen Elternhaus gelegt worden war, sondern nach der Schoah einer Notwendigkeit, die er existentiell spürte. Das Judentum hatte zu viele Menschen verloren, um riskieren zu können, diejenigen zu vertreiben, die zwar nach Spiritualität suchten, politisch und gesellschaftlich aber zu liberal dachten, um die Enge der herkömmlichen Orthodoxie und vor allem die Ungleichbehandlung der Frauen zu akzeptieren. Soll man schreiben „faszinierenderweise“ oder „überraschenderweise“? Zumindest ist es ein orthodoxes Rabbinerseminar, an dem Trepp sein offenes und freies Denken weiterentwickelt, verfeinert und festigt. Ich wußte nicht genau, was ich werden sollte. Rabbiner? Professor? Reden und lehren wollte ich, soviel stand fest. Ich ging zunächst auf die höhere jüdische Akademie in Frankfurt, gleichzeitig schrieb ich mich an der Universität für Französisch und Philosophie ein. Für eine Weile spielte ich mit dem Gedan107
3. Kapitel: Studium im Sauseschritt
ken, über das Altfranzösisch der jüdischen Exegeten wie Raschi meine Doktorarbeit zu schreiben, entschied mich dann aber um. Warum Frankfurt? Ich fühlte mich wohl zu Hause. Immer noch war unser Familienleben eine Quelle der Geborgenheit, Liebe und Sicherheit für mich, und von Frankfurt aus konnte ich am Freitagnachmittag über Schabbat nach Mainz fahren. Doch nach einem Jahr hatte ich mich entschieden, meine Studien auszuweiten, und wechselte zu Beginn des Jahres 1932 auf das Rabbinerseminar in Berlin. Zugleich führte ich an der Friedrich-Wilhelm-Universität meine Studien weiter. Das Rabbinerseminar war orthodox, doch es war in jeder Hinsicht von den liberalen Gedanken der deutschen Umwelt beeinflußt, so daß es mit der engen Erziehung der meisten Rabbiner im Osten nicht zu vergleichen war. Selbstverständlich lernten wir Talmud und Halacha, aber auch Philosophie, Erziehung, Sozialkunde – wir bekamen eine auf ’s Leben ausgerichtete rabbinische Ausbildung. Daß wir damit in keiner Weise auf die Anforderungen, Belastungen und Bedrohungen vorbereitet waren, die uns unter der nationalsozialistischen Regierung erwarteten, konnte niemand ahnen. Während Samson Raphael Hirsch noch gesagt hatte, „religiös müßt ihr euch mit der Orthodoxie beschäftigen, mit den Nichtorthodoxen dagegen könnt ihr nichts zu tun haben, und eine Gemeinde, in der es beide Richtungen unter einem Dach gibt, müßt ihr meiden“, ermutigten uns unsere Lehrer am Seminar, die Vielfalt der Einheitsgemeinde in Berlin kennenzulernen. Zu dieser Zeit arbeiteten die verschiedenen Synagogen generell in einer Einheitsgemeinde zusammen. Das Judentum ist eine pluralistische Religion, und vor der Schoah sahen das die meisten deutschen Juden so. Die Gemeinde zog die Steuern von allen ein, und jeder Jude konnte beten, wie er wollte. Sie machten verschiedene Erfahrungen und näherten sich ihrer Religion auf verschiedenen Wegen und mit verschiedenen Geschwindigkeiten. Doch als Gemeinde sahen sie sich als eine Einheit, niemand blickte hinunter auf den anderen. Ich hoffe inständig, daß irgendwann auch die nach dem Krieg wiedergegründeten jüdischen Gemeinden dieses Modell annehmen werden. Immer noch gehen viele davon aus, daß die Liberalen keinen eigenen Gottesdienst brauchen, weil sie die orthodoxen besuchen können, während das andersherum nicht der Fall sei. Dies ist ein unhaltbarer Zustand, der sich nur langsam zu ändern beginnt und durch den sich wertvolle Menschen dem Judentum entfremden, um die wir kämpfen sollten. 108
Orthodox? Liberal? Einheit in der Vielfalt
Wir mußten gleich zu Beginn der Ausbildung predigen, und die Zusammenarbeit zwischen den Rabbinern in den orthodoxen Synagogen wie denen in der Pestalozzistraße, Münchener Straße, Passauer Straße, Grunewald oder Rykestraße und in den kleineren Gemeinden oder der großen in der Fasanenstraße, die liberal waren, funktionierte ohne Probleme. Unter ihnen waren große Lehrer und Vorbilder wie Leo Baeck, einer der jüdischen Führer nicht nur für Berlin, sondern Deutschland, und Alexander Altmann, der so brillant war, daß er einen Tag nach seiner Ordinierung zum Professor für Philosophie an unserem Seminar berufen wurde. Man muß sich ohnehin einmal ansehen, welche Rabbiner an diesem Seminar gelernt und wie sie sich entwickelt haben, um zu verstehen, daß diese Orthodoxie eine völlig andere war als die in Polen zum Beispiel oder später die in Israel. Und anders als diejenige, die heute manchmal in Deutschland vertreten wird, von Rabbinern oder Wortführern, deren Weltanschauung durch Verbundenheit mit der israelischen Rabbinatspolitik geprägt ist. Als säße in Israel ein jüdischer Vatikan. Einer der bedeutendsten Studenten unseres Seminars war Nehemia Nobel, der an der Synagoge am Börneplatz in der Frankfurter Einheitsgemeinde wirkte. Er blieb sein Leben lang orthodox, doch praktizierte er stets eine Religion für die Menschen, und wenn es deren Leben erleichterte, mußte man die Regeln eben ein bisschen strecken. Der zweite große Rabbiner, den unsere Hochschule hervorgebracht hatte, war Josef Carlebach. Neben dieser Ausbildung absolvierte er ein umfassendes naturwissenschaftliches Studium an der Universität, Max Planck war einer seiner Lehrer. Er wurde zunächst in Altona Rabbiner, das damals noch selbstständig war, und dann in Hamburg selbst. Seine klugen, mit wissenschaftlichen Erkenntnissen angereicherten Vorträge zogen Menschen weit über die Stadtgrenzen hinaus an. Und während Nobel den Religionsphilosophen Franz Rosenzweig förderte, indem er ihm die Leitung des Jüdischen Lehrhauses in Frankfurt übertrug, schuf Carlebach die Überschriften für Rosenzweigs Stern der Erlösung – ein Werk, das nichts mit Orthodoxie zu tun hat, sondern moderne Philosophie ist. Beide, Nobel und Carlebach, lebten, was sie predigten. Nobel, der seine Gemeindemitglieder stets ermahnte, die obligatorischen zehn Prozent ihres Einkommens zu spenden, wurde einmal von seinem jungen Freund Ernst Simon angehalten, der ihn mit einem riesigen Paket Aktien die Straße herunterlaufen sah. „Was machst du damit?“, fragte er ihn. „Das sind zehn 109
3. Kapitel: Studium im Sauseschritt
Prozent meiner Ersparnisse“, sagte Nobel, „wenn ich den Leuten sage, sie müßten zehn Prozent ihres Einkommens geben, sollte ich mit gutem Beispiel vorangehen. Und ich habe mir überlegt, daß Ersparnisse weggelegtes Einkommen sind. Also gebe ich diese Aktien jetzt her.“ Carlebach war so warmherzig, daß seine Frau zum Ende des Monats, wenn er sein Gehalt bekam, ins Büro kam, um es einzustecken. Es war mehr als einmal passiert, daß er, bis er zu Hause ankam, den Großteil davon den Armen auf der Straße gegeben hatte. Männer tiefster Religiosität, verbunden mit einem starken Sozialgefühl und moderner Philosophie – das waren unsere Vorbilder. Unser Seminar lag in der Artilleriestraße in Berlin, der heutigen Tucholskystraße. Nur einen kurzen Fußweg entfernt an derselben Straße lag das liberale Rabbinerseminar, die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. Einmal in der Woche hielten Professoren und Studenten beider Einrichtungen einen gemeinsamen Gottesdienst in einem Synagöglein in der Lessingstraße. Zwischen dem Talmudisten an der Hochschule, Chanoch Albeck, der ein hervorragender Mischna-Forscher war, und unserem Talmudisten und Rektor, Jechiel Jakob Weinberg, bestand eine innige Freundschaft. Oft sah man die beiden bei einer Tasse Kaffee miteinander debattieren. Weinberg selbst war ein Paradebeispiel dafür, wie sehr eine offene Haltung den Menschen verändern kann. Er war ein angesehener Talmudist in Polen und Litauen gewesen und hatte die aus seiner Sicht zu liberale Einstellung westlicher Rabbiner verachtet. Dann ging er nach Gießen, um den masoretischen Text, die frühe Bibelkritik, zu studieren, und wurde Assistent von Paul Kahle, dem die Bibelforschung bedeutende Fortschritte verdankt und der dann vor den Nazis flüchten mußte, weil seine Familie Juden geholfen hatte. Weinberg promovierte bei ihm. Und hier sah er, was das Ideal von Samson Raphael Hirsch – Tora und Kultur, Judentum und Mensch – wirklich bedeutete. Er sah, wie fromm und traditionsbewußt diese Juden waren, und wie aufgeklärt und deutsch. Und er muß offen für diese Gedanken gewesen sein, denn er wandelte sich um hundertachtzig Grad. Natürlich wurde er dafür von seinen Kollegen im Osten heftig kritisiert. An der Geschichte des Seminars selbst, das es seit 1873 gab, läßt sich übrigens auch die Entwicklung der Neo-Orthodoxie sehr schön ablesen. Denn noch der Seminargründer, Esriel Hildesheimer, lehnte eine aus seiner Sicht gefährliche Modernisierung des Judentums kategorisch ab und sah es, gemeinsam mit dem Mainzer Rabbiner Lehmann, als 110
Wer ist schon Albert Einstein? Außen Universität – Innen NSDAP
eines seiner wichtigsten Ziele an, das Reformjudentum zu bekämpfen. Das änderte sich unter späteren Rektoren. Und als ich studierte, hatte sich die moderne Orthodoxie in Deutschland schon so weit geöffnet, daß mein Freund Abraham Heschel sich sowohl an unserem wie auch am liberalen Seminar eingeschrieben hatte. Es war ohne Schwierigkeiten von beiden Seiten aus möglich. Und am Schabbatnachmittag spazierten wir nach den Gottesdiensten Unter den Linden entlang und diskutierten religiöse und ethische Fragen aus beiden Perspektiven. Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, wollte das orthodoxe Seminar nach Jerusalem umziehen, um sich vor dem Zugriff der Nazis zu schützen. Doch die ostjüdischen Rabbiner, allen voran der damalige Oberrabbiner im britisch besetzten Palästina, Abraham Isaak Kook, verboten es. Wörtlich sagte Kook: „Wir wollen keine Rabbanim hier haben“, „Rabbanim“ ist eigentlich die Mehrzahl von Rabbiner. Doch er trennte das Wort bewußt und sagte „Rah Banim“, und damit „böse Buben“ anstatt Rabbiner. Ich muß oft daran denken, wie anders die rabbinische Geschichte in Israel verlaufen wäre, hätte das palästinische Rabbinat die Umsiedlung gestattet. Die Nationalsozialisten schlossen unser Seminar im November 1938.
Wer ist schon Albert Einstein? Außen Universität – Innen NSDAP Die oft pogromartige Stimmung gegen die Juden in den Anfangsjahren der Weimarer Republik sei auch deshalb so alarmierend gewesen, weil keine einzige Institution mehr frei gewesen sei vom Antisemitismus, schreibt Robert Wistrich. Das heißt, es gab keine Flucht. Selbst der Ort, den manche als Elfenbeinturm bezeichnen, als Ort, an den man sich zurück- und der Welt entzieht, um sich dem Geistigen, dem Wahren und dem Letzten zu widmen, selbst dieser Ort des intellektuellen Austausches und des philosophischen Aufeinanderzu- und Insichgehens hatte sich längst zu einem Marktplatz völkischer Ideen und offen propagierten Hasses entwickelt. Die Mehrheit der Professoren wie der Studenten war nationalistisch eingestellt. An der Friedrich-Wilhelms-Universität (später Humboldt Universität), die Trepp besucht, hatten Studenten 111
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schon 1880 ein Bündnis formiert, das in der Gründung eines Vereins deutscher Studenten mündete, der, obgleich er auch Juden aufnahm, einen strikten Antisemitismus vertrat. Zusammen mit Vereinen mehrerer anderer Universitäten schloss er sich ein Jahr später zum Kyffhäuser Verband der Vereine deutscher Studenten zusammen, der einen vehementen Antisemitismus vertrat und laut der Bibliothek der verbrannten Bücher, die einen Studenten zitiert, das „vaterlandslose Judentum“ als „nächste und drohendste Gefahr“ für das „Volkstum“ sah. Zu Leo Trepps Zeiten hatte sich die Situation erheblich verschlimmert. Der Nationalsozialistische Studentenbund, 1926 gegründet, erhielt bei den Wahlen zur Studentenschaft an 28 Universitäten bereits 1931 die absolute Mehrheit. Schon in den zwanziger Jahren war es gängig, jüdische und andere missliebige Studenten aus Vorlesungen zu vergraulen oder sie kurzerhand hinauszuwerfen, wie Trepp es mehrmals beobachtete. 1932 forderten die Studenten seiner Hochschule, den Juden müsse zumindest verboten werden, sich in der Eingangshalle aufzuhalten. Mit derselben Haltung gehen die Studenten jüdische Professoren an, bald von höchster Stelle unterstützt. Wistrich zitiert den Soziologen Max Weber, der 1920 in einem Brief beklagt, dass die akademische Atmosphäre „extrem reaktionär und dazu radikal antisemitisch“ geworden sei. Und über Albert Einstein schreibt Wistrich, dass der, fassunglos über das Ausmaß des Antisemitismus an den Universitäten, als er 1914 nach Berlin bzw. Deutschland zurückgekehrt sei, in einem Brief an Fritz Haber seine Freude darüber ausgedrückt habe, dass er bald an die Hebrew University in Jerusalem gehen könne, nachdem er beobachtet habe, wie „lieblos und tückisch man hier mit brillanten jungen Juden umgeht“ und versuche, sie um jede Möglichkeit einer Ausbildung zu bringen. Einstein wird sich in den zwanziger Jahren immer wieder zu der Situation der Juden in seinem Heimatland äußern. Bald hatte ihn der Antisemitismus zu einem überzeugten Zionisten werden lassen. Wistrich zitiert ihn mit den Worten, dass sein Herz blute, wenn er sehe, wie man würdige Juden „niederträchtig“ karikiere. Er habe gesehen, wie zahlreiche Kräfte der nichtjüdischen Mehrheit das „Selbstbewusstsein sogar der besten der Juden“ unterminierten. „Das kann so nicht weitergehen.“ 112
Wer ist schon Albert Einstein? Außen Universität – Innen NSDAP
Längst war auch Einstein selbst das Ziel völkischer Attacken. Kollegen und anerkannte Wissenschaftler wie Johannes Stark griffen seine Relativitätstheorie, für deren Entdeckung er 1922 den Nobelpreis bekommen hatte, als „Jüdische Physik“ an. Und schon vor der Machtergreifung Hitlers unterbrachen nationalistische Studenten seine Vorlesungen und bedrohten laut Wistrich mehrmals sein Leben. Auch Jacob Borut berichtet, dass es an Universitäten schon früh die Bereitschaft gegeben habe, körperliche Gewalt gegen Juden einzusetzen. So habe die Rheinische Zeitung bereits 1927 geschrieben, dass sich in einem Angriff von Nationalsozialisten auf ein Treffen der Friedensgesellschaft besonders die Studenten hervorgetan hätten, die die Redakteure als „Hitlerindianer“ bezeichnen. Borut schildert Übergriffe an mehreren Universitäten im Jahr 1931, bei denen nationalistische Studenten ihre jüdischen Kommilitonen attackiert und einige von ihnen verwundet hätten. Die meisten der studentischen Verbindungen und anderer Studentenvereine nahmen zu der Zeit schon lange keine Juden mehr auf. Nachdem im April 1933 ein Arierparagraph die Juden aus der „Deutschen Studentenschaft“ ausgeschlossen hat, sind sie vor dem Terror ihrer Kommilitonen und Hochschulmitarbeitern nirgends an der Universität mehr sicher, wie Leo Trepp am eigenen Leib zu spüren bekommen wird. Er verhält sich in diesen Jahren der zunehmenden Bedrohung wie die meisten Juden. Warum war er nicht alarmierter? Warum dachte er nicht schon damals über Emigration nach? Weil er, wie er sagt, einfach nicht glauben konnte, dass all dies andauern und ganz sicher nicht, dass es noch viel schlimmer werden würde. Man kann das naiv finden, oder mit Ernst Simon, mit dem Trepp sich später anfreundet, von der „Traumwelt eines Narrenparadieses“ sprechen, als die Simon das Nichtsehenwollen der bürgerlichen Juden angesichts der zunehmenden Bedrohung bereits in den späten zwanziger Jahren bezeichnet. Er selbst verlässt Deutschland früh, für das er einst so viel gegeben hat, dass er noch Jahrzehnte später einen Spaziergang mit Trepp durch Jerusalem abbrechen muss, weil ihn seine Wunden aus dem Ersten Weltkrieg zu sehr schmerzen. Doch wenn auch viele bereits etwas spüren, etwas ahnen, will man nicht darüber reden, man will die Hoffnung nicht verlieren oder sie anderen nehmen. Selbst nach der 113
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Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler im Januar 1933 sprechen sich deutsche jüdische Verbände gegen Boykottmaßnahmen des Auslands gegen Deutschland aus, die besonders die amerikanischen Juden anstreben. So protestiert der Präsident des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens beim American Jewish Committee gegen antideutsche Demonstrationen und Rundfunkbeiträge. Er will die Nationalsozialisten nicht noch zusätzlich herausfordern und hofft, sie so zu besänftigen. Wenn einer der Dozenten am Rabbinerseminar die Studenten auffordert, doch auch einmal Blödsinn zu machen und mehr Spaß zu haben, wie seine Generation ihn gehabt habe, liest man das angesichts der Bedrohung mit Befremden. Allerdings nur, wenn man Geschichte aus heutiger Sicht betrachtet. Die deutschen Juden aber kannten die Zukunft nicht, sie sahen die Gegenwart mit ihrer Erfahrung aus vorherigen Zeiten. Für die europäischen Juden hatte es über die Jahrhunderte immer wieder Phasen der Not gegeben. Irgendwann waren sie mehr oder minder schlecht überstanden. Und immerhin waren die Juden, anders als aus Frankreich, England und Spanien, im Mittelalter nie als Gemeinschaft aus Deutschland vertrieben worden. Und nun, in der Weimarer Republik, gab es die robuste Verfassung einer Demokratie, wie Leo Trepp seinem Freund sagt. Was sollten diese Rechten da schon tun können? An der Universität studierte ich bei namhaften Professoren und lernte viel. In Philosophie belegte ich Seminare bei Nicolai Hartmann, der damals als bedeutender Vertreter des kritischen Realismus galt, und in Romanik bei Eduard Wechssler, einem aufgeschlossenen und zugänglichen Lehrer, der uns in die moderne französische Literatur einführte. Ich habe viele Seminararbeiten geschrieben und oft Tag und Nacht gearbeitet. Denn es war ja ein wirkliches Doppelstudium: Von acht bis zehn ging ich ins Seminar, dann rannte ich die paar Straßen hinauf zur Universität, hatte dort von halb elf bis nachmittags Vorlesungen, und nachts habe ich weitergemacht. Entweder habe ich gearbeitet, oft traf ich mich auch mit anderen Rabbinatsstudenten, und wir diskutierten die Nächte durch. Es ging nicht immer um religiöse Fragen. Oft debattierten wir den politischen Zustand in Deutschland und vor allem den Zionismus, den als religiöse Juden viele von uns ablehnten. Ich auch. Doch im 114
Wer ist schon Albert Einstein? Außen Universität – Innen NSDAP
Laufe der Zeit am Seminar wandelte sich mein Denken. Ich verließ die Hochschule als überzeugter Zionist. Meist hielt ich mich mit Kaffee wach, ein Luxus, den ich mir leistete, der einzige übrigens, denn ich hatte kaum Geld, von den Wochen abgesehen, in denen Onkel Julius mich besuchte und meine Börse füllte. Er kam regelmäßig aus Leipzig in die Stadt, führte mich zum Essen aus und fragte mich, wie es um meine Finanzen stehe. Sehr schnell lernte ich zu sagen, daß ich ein wenig Geld durchaus gebrauchen könne. Denn als ich das erste Mal, als er mich fragte, bescheiden nein gesagt hatte, in der Hoffnung, er stecke mir in jedem Fall etwas zu, gab es nichts. „Sei immer ehrlich, wenn du etwas von anderen möchtest“, sagte er beim nächsten Mal. Selbstredend hielt ich mich an diese Aufforderung. Normalerweise lebte ich von eingeschweißten koscheren Würsten, die meine Mutter mir schickte, und kaufte mir Brot dazu. Einmal wärmte ich sie statt in heißem Wasser in Brennspiritus, den ich versehentlich in den Topf geschüttet hatte. Ich wusch sie ab und aß sie trotzdem. Sie schmeckten scheußlich. Zeit für Vergnügungen hatte ich nicht. Selbst zum kostenlosen Bummeln fehlte die Zeit, der Druck mit zwei Studien war ohnehin schon extrem, und ich mußte Erfolge vorweisen, vor allem in der Universität, für die mein Vater ja bezahlte. Dazu kam der Druck durch die politische Situation. Beinahe täglich sah man, wie Juden drangsaliert wurden. Man hatte Angst, der nächste zu sein, und wollte vor allem eines: so schnell wie möglich fertig werden. Eines aber gönnte ich mir: die Oper. Sie war ein Luxus, auf den ich nicht hätte verzichten wollen. Das war mit dem Geld von Onkel Julius auch nicht nötig, zudem hatte die Staatsoper nummerierte Karten für Stehplätze, die selbst für Studenten erschwinglich waren, und die entsprechend begehrt waren. Sonntagmorgens um zehn öffnete die Kasse, doch es war ratsam, vorher da zu sein, sonst konnte man leer ausgehen. Also stellte ich mich um vier Uhr an und wartete in Reih und Glied, bis die Kasse öffnete. Oft nahm ich etwas zu lesen mit, doch meist unterhielten Gaukler und Artisten die Menschenschlange mit ihren kleinen Vorführungen und erleichterten das Herumstehen. Die Opern in Berlin waren Weltklasse. Mir ist in einer Maskenball-Aufführung der Mund offen stehen geblieben, als ich sah, was sie hier mit diesem Stück im Vergleich zu Mainz machten. Das war, glaube ich, 1932. Im selben Jahr habe ich Die Hugenotten von Giacomo Meyerbeer gesehen, ein Stück, das selten 115
3. Kapitel: Studium im Sauseschritt
gespielt wird, weil es ein großes Ensemble verlangt und weil es schwierig ist. Es überwältigte mich in seiner Schönheit. An der Charlottenburger Oper dirigierte für eine Zeit Paul Breisach, der vorher Generalmusikdirektor in Mainz gewesen war, doch der Jude Breisach wurde von den Nazis, die das Haus zu ihrer Repräsentationsbühne machen wollten, bald vertrieben. Ich erinnere mich an eine herrliche Aufführung von Figaros Hochzeit unter Bruno Walter an dieser Oper, an eine andere Mozart-Aufführung, die Kleiber dirigierte, und an einen Egmont unter Furtwängler. Und nie vergessen werde ich eine Rigoletto-Aufführung mit Erna Berger als Gilda und Heinrich Schlusnus in der Titelrolle und eine Meistersinger-Inszenierung 1932, die ich mit praktisch derselben Besetzung 1940 in New York noch einmal gesehen habe – die Sänger waren fast alle geflohen. Am Schabbat habe ich gepredigt, und an Wochentagen kamen manchmal noch Beerdigungen dazu. Nur an Schabbatnachmittagen blieb ab und an ein wenig Luft für den Spaziergang mit Freunden, meist mit Abraham Heschel, der wie ich auf der Suche war nach einem Weg, mehr Juden zu ermöglichen, Göttlichkeit, die Gotteserfahrung und Gottesverbundenheit in ihr tägliches Leben zu integrieren. Einmal hat der Sohn des Gründers, Rabbiner Hildesheimer, das Seminar besucht. Er sagte zu uns Studenten: „Hören Sie, es gefällt mir gut, wie Sie sich machen, doch als ich hier im Seminar war, da war alles ganz anders. Wir haben Ulk getrieben. Ihr habt ja gar kein Vergnügen. Ich erinnere mich an eine Nacht, da sind wir so um drei oder vier nach Hause gekommen und haben einen von uns auf den Rücken genommen, und der hat alle Straßenlaternen ausgemacht. Ich sag’ euch den Namen nicht, doch er ist ein sehr berühmter Rabbiner geworden. Ihr müßt mehr Spaß haben!“ Doch wir konnten nicht, wir haben gebüffelt und gebüffelt. Neben all der Arbeit fehlte mir meine Familie. Ich lebte in einem kleinen Zimmer bei einer Witwe in der Kirchstraße in Tiergarten. Sonntags ging ich manchmal an den Anhalter Bahnhof, um den Zügen Richtung Mainz nachzuschauen. Besonders meinen Vater vermißte ich als Gesprächspartner. Habe ich die politische Entwicklung verfolgt? Sicherlich. Doch es war eine merkwürdige Stimmung, in die mich Berichte über die stärker werdende nationalsozialistische Partei versetzten. Einerseits befürchtete ich mehr Schikanen gegen Juden und andere, die den Nationalsozialisten nicht paßten, auf der anderen Seite war ich zu sehr Deutscher, um mein Vertrauen in Deutsch116
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land und seine Institutionen zu verlieren. Heute erscheint es naiv, doch noch am Abend des 30. Januar 1933, des Tages, an dem Hindenburg Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt hatte, hielt ich an diesem Vertrauen fest. Mein Freund Saul Weingart und ich besuchten an dem Abend den Vortrag eines hervorragenden Germanisten, Max hieß er, glaube ich, er war Jude (Es ist wohl der Germanist und Theaterwissenschaftler Max Herrmann gewesen, der schon kurze Zeit darauf seinen Lehrstuhl verlassen musste, Anm. der Autorin). In der Pause hörten wir Musik von draußen. Wir stellten uns an ein Fenster im Hauptgebäude der Universität, von wo aus man alles sah, was Unter den Linden passierte, und beobachteten, wie die SA in einem Fackelzug vorbeimarschierte. Es müssen Tausende in ihren Uniformen gewesen sein, der Zug füllte die gesamte Straßenbreite aus, und es war, als wolle er nicht enden. „Wir Juden werden sicherlich Nachteile haben“, sagte ich zu Saul, „doch die Verfassung können sie ja nicht ändern.“ Er sah mich an und antwortete: „Hör zu, du bist Deutscher, und ich verstehe dich, doch ich habe es anders erfahren. Ich komme aus Polen, und wir haben erlebt, daß sie die Verfassung mehr als einmal geändert haben, je nachdem, wie es den Machthabern gerade paßte.“ Natürlich sollte er recht behalten. Bald mußte man keine Zeitungen mehr lesen, um zu wissen, wer im Staat den Ton angab. Die Straßen waren gesäumt mit Hakenkreuzfahnen. Und Aufmärsche waren nun eher die Regel als die Ausnahme. Beinahe täglich hörten wir nun, daß jüdische Geschäftsleute überfallen und beraubt, Richter verprügelt oder Synagogen angegriffen wurden. Dann, in der Nacht vom 27. auf den 28. Februar, brannte der Reichstag. Am nächsten Morgen fuhr ich wie immer mit der S-Bahn von Bellevue nach Friedrichstraße, kam also unmittelbar am Gebäude vorbei und sah in nicht allzu weiter Ferne das eingefallene Dach. Mein erster Gedanke war: „Was werden sie nun mit den Juden machen?“ Keine Sekunde habe ich geglaubt, daß dieser armselige Holländer das Feuer gelegt hatte. Sie hatten offensichtlich einen Sündenbock gesucht und gefunden. Die Reaktionen der Partei ließen nicht lange auf sich warten. Noch am selben Tag verabschiedete das Kabinett eine Notverordnung, die angeblich Volk und Staat schützen sollte und die alle Grundrechte außer Kraft setzte. Von nun an konnte jeder ohne Angabe von Gründen und ohne das Recht auf einen Anwalt festgenommen werden. Wir sagten dem Rechtsstaat ade. 117
3. Kapitel: Studium im Sauseschritt
Vollkommen kapitulierte das alte Deutschland am 24. März, als Hitler sein Ermächtigungsgesetz im Reichstag durchbrachte. Kämpfen mußte er dafür nicht, seit der Wahl Anfang des Monats hatte er, zusammen mit den Deutschnationalen, die Mehrheit, und die anderen Parteien, aus Angst, Einschüchterung oder Überzeugung heraus, folgten ihm. Allein die Sozialdemokraten, von denen einige schon verhaftet worden waren, zeigten moralische Stärke und lehnten das Gesetz ab. Die kommunistischen Abgeordneten saßen zu dieser Zeit schon alle im Gefängnis oder waren geflohen. Für uns Juden wurde es noch enger. Ich versuchte, meine Studien so unauffällig wie möglich weiter zu betreiben. Nun war der Antisemitismus nicht nur salonfähig, sondern von der Regierung gedeckt und forciert. Seit Beginn meiner Zeit in Berlin hatte es immer wieder Schlägereien zwischen Mitgliedern des nationalsozialistischen Studentenbundes auf der einen und kommunistischen oder anderen linken Studenten auf der anderen Seite gegeben, unter ihnen am Anfang oft Juden. Wir Studenten wurden ohne Anlaß beleidigt oder angerempelt. Doch in diesen Jahren hielt man sich zurück und ließ Pöbeleien unwidersprochen über sich ergehen. Es schien mir, als hätten wir uns in eine Art Warteposition zurückgezogen. Man war froh, wenn man einen Tag unbehelligt überstanden hatte. Schwerer als wir Studenten hatten es die jüdischen Professoren, die offen beleidigt und angegriffen und deren Vorlesungen gestört wurden. Die Universitätsleitung unternahm nichts dagegen. Etwas später gingen Studenten dazu über, Kommilitonen zu bedrohen, wenn sie die Vorlesung eines Juden besuchen wollten. Kurz darauf mußten die ersten jüdischen Professoren gehen. An der altehrwürdigen Institution, die schon Heinrich Heine und Kurt Tucholsky besucht hatten, herrschte der akademische Pöbel. Wie schon meine Mitschüler auf dem Gymnasium in Mainz brauchten auch die Studenten keine Ermutigung der Regierung, um andere zu tyrannisieren. Die Bedrohungen und Attacken kamen von ihnen und wurden durch die Machtergreifung der Nazis nur erleichtert. Erst später habe ich erfahren, daß schon mehr als zehn Jahre vor meiner Studienzeit die Friedrich-Wilhelms-Universität auf Druck ihrer Studenten die Trauerveranstaltung für den ermordeten Walther Rathenau abgesagt hatte. Es erstaunte mich nicht. Nachdem Hitler sämtliche jüdischen Künstler aus den Theatern und Opernhäusern hinausgeworfen hatte, gingen Saul und ich öfter zu Konzerten und Theaterstücken des Kulturbundes der deutschen Juden. Manchmal 118
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fanden sie in Wilmersdorf statt, in der wunderbaren, erst vor einigen Jahren gebauten Synagoge in der Prinzregentenstraße, in der Leo Baeck amtierte, der sich neben vielen anderen Verpflichtungen auch um den Kulturbund kümmerte, in den man kostenpflichtig eintreten mußte, um an seinen Veranstaltungen teilzunehmen. Bei aller Geldknappheit erschien Saul und mir das selbstverständlich. Das Orchester spielte klassische Musik, die Theaterstücke befaßten sich oft mit Stoffen jüdischer oder ausländischer Autoren. Von Regierungsseite war es nicht erwünscht, daß „besonders deutsche“ Autoren ins Repertoire aufgenommen wurden. Das Publikum kümmerte das nicht. Die Menschen strömten in die Aufführungen, die immer überfüllt waren. Erstens waren Orchester und Vorstellungen exzellent. Und zweitens zeigten wir den Künstlern unsere Solidarität. Vielleicht kamen manche sogar, weil sie sich mit jüdischen Themen auseinandersetzen wollten, nachdem an öffentlichen Häusern Stücke mittlerweile manchmal uminterpetiert oder schlicht nicht mehr aufgeführt wurden, wenn sie als zu kritisch oder freiheitsliebend galten. So wurden selbst Werke von Schiller kaum noch beachtet oder erwähnt. Von der nächtlichen Bücherverbrennung habe ich nichts gesehen, obgleich sie direkt vor dem Universitätsgebäude stattfand. Erst im Gespräch mit Saul und anderen in den nächsten Tagen wurde uns das Ausmaß der Zerstörung und das Ziel klar. Heute ist es einfach zu sagen: Das war ein Zeichen, daß es kein Zurück mehr geben würde. Wir wissen, was Heine in seinem Almansor gesagt hat: „Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen.“ Es kam mir damals nicht in den Sinn. Immer noch siegte die Hoffnung auf Besserung und Einsicht der Menschen. Ich wollte nicht glauben, was ich mit eigenen Augen sah, zumindest wollte ich die Richtung nicht wahrhaben, in die das Ganze ging. Lange Zeit war ich selbst lediglich Beobachter des Wütens der Studenten gegen andere und wurde in Ruhe gelassen, bis ich eines Tages im Lesesaal der Universität saß, der auf der anderen Seite vom Hauptgebäude Unter den Linden untergebracht war. Plötzlich kam einer der Bibliotheksmitarbeiter zu mir und fragte mich, was ich hier mache. Es war offensichtlich, ich weiß nicht, ob ich überhaupt geantwortet habe. Dann sagte er: „Bleiben Sie hier. Ich melde Sie meinem Vorgesetzten.“ Anschließend kam er wieder und brüllte: „Raus hier.“ Ich riß meine Sachen zusammen und verschwand aus dem Saal so schnell ich konnte. Das war mein Abschied von der Friedrich-Wilhelms-Universität. 119
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Ein Bruder in Nöten und ein SA-Mann mit Herz Seit Jahrhunderten diskutieren Philosophen, Psychologen, Biologen und neuerdings Genetiker die Natur des Menschen. Was prägt uns? Was macht uns im Kern aus? Es hat mich immer wieder frappiert, die beiden Brüder Leo und Gustav in späteren Jahren zu beobachten, weil sie – trotz geteilter Kindheit – so unterschiedlich in ihrem Denken und Handeln waren. Leo Trepp liebte das Leben. Wenn er an seinem Schreibtisch saß, die Pfeife im Mund, und ohne Unterbrechung auf die Tasten schlug, weil er eine neue Idee unbedingt festhalten musste; wenn er in der Symphonie das Orchester mitdirigierte; wenn er während Opernaufführungen meine Hand so fest drückte, dass es fast wehtat; wenn er sich nach dem Verzehr von zwei Heringen vorbeugte, um sich noch eine Pellkartoffel zu nehmen und kundzutun, dass es ein „wunderbares Essen“ sei; wenn er mit seinen Studenten debattierte; wenn er mit voller Stimme den Seder leitete: In all diesen Momenten wusste ich, dass ihn das, was er gerade tat, ganz und gar erfüllte. Dass er es genoss. Dann aber gab es das Schattenleben, das ihn in den letzten Jahren belastete. Träume, die ihn aufschrecken ließen. Menschen, die er vermisste. Und Erinnerungen, die er mit keinem teilte. Gustav Trepp lebte in Jerusalem, streng orthodox. In Tora und Talmud gebildet wie sein Bruder. Und von seinem Sohn weiß ich, dass auch sein Leben sich oft verdunkelte. Dass er litt und dass es Momente gab, die er, wie er seinem Sohn sagte, nur mit seinem Bruder teilen konnte. Über beider Leben lag der Schatten der Schoah. Ein Schatten, der mit den Jahren länger wurde. Sie konnten ihn nicht abschütteln. Doch Gustav, der längst nur bei seinem hebräischen Namen, Israel, gerufen wurde, hatte andere Schlüsse gezogen. Leo Trepp erinnerte sich an die Weite, in der sie aufgewachsen und erzogen worden waren und konnte die unerbittliche Rigidität, mit der sein Bruder die jüdische Religion interpretierte und lebte, kaum verstehen. Und Gustav wiederum akzeptierte nur zögernd, dass Leo sein Judentum weitergedacht hatte, dass er nun öffentlich die Meinung vertrat, das Judentum müsse sich weiterentwickeln, um für die Juden relevant zu bleiben. Dass er immer noch deutsch schrieb, immer noch deutsch sprach. Es hat mich nicht erstaunt zu hören, dass es Gustav gewesen war, der zum 120
Ein Bruder in Nöten und ein SA-Mann mit Herz
Leo Trepp mit seinem Bruder Gustav Israel
Vertrauten seiner Mutter wurde, während die Jungen aufwuchsen. Dass er sie als Vorbild sah und dass er schon in jungen Jahren kompromisslos reagierte, wenn es um seine Religion ging. Beide Haltungen sind weder gut noch schlecht. Es ist, wie es ist. Doch wenn ich verstehen möchte, warum diese beiden Brüder so unterschiedlich waren, dann kann ich nicht anders, als an die enge Verbundenheit des einen zur Mutter und des anderen zum Vater zu denken. Dennoch gab es eine Liebe zwischen ihnen, die mich rührte. Wenn sie als Kinder auch unterschiedliche Interessen gehabt hatten, so erzählt Leo Trepp doch immer wieder von Gustav. Alltagsgeschichten. Kleinigkeiten. Und wichtigere Erinnerungen, wie die, dass Gustav an seiner Bar Mitzwa krank war und Leo die Idee hatte, den Gottesdienst doch einfach zu Hause abzuhalten. Über ihre wichtigste gemeinsame Erfahrung dagegen sprechen beide nur nach einer großen Krise. Es ging dabei um Religion, um Gebote, um die Mitzwot, um Übertritte. Mein Mann und ich verlassen nach diesem Gespräch das Haus des Bruders erzürnt und ärgerlich. Doch der Streit belastet meinen Mann. Wochenlang schläft er schlecht. Dann kommt der Brief, eine Entschuldigung von Gustav, sei121
3. Kapitel: Studium im Sauseschritt
tenlang. Er erzählt von der Verehrung, die der kleine Bruder dem Älteren gegenüber stets empfunden, der Vorbildrolle, die Leo ausgefüllt habe. Von den Eltern spricht dieser Brief. Und vom Überleben. „Nicht nur bist du mein einziger Bruder, den ich liebe. Du hast mein Leben gerettet. Bitte verzeihe mir.“ Nach den Pogromen im November 1938 hatte die Gestapo Gustav Trepp in Buchenwald inhaftiert. Verzweifelt suchte seine Mutter in den nächsten Monaten nach Wegen, ihn aus dem Konzentrationslager herauszubekommen. Schließlich fand sie jemanden, der ihr die notwendigen Papiere fälschte, einen Nachweis, dass ihr Sohn innerhalb von vierzehn Tagen nach der Entlassung emigrieren werde. Längst hatte sie ihren Sohn Leo alarmiert, der mittlerweile in England war. Selma Trepp wusste, dass, auch wenn ein gefälschtes Schreiben für Buchenwald ausreichen könnte, es vor den Augen der Ausreisebehörden niemals Bestand haben würde. Gustav benötigte jemanden im Ausland, der für ihn garantierte. Leo Trepp sprach den Fabrikanten Smith in Manchester an, der schon etliche deutsche Kinder ins Land gerettet hatte. „Ich gebe Ihnen das Geld“, sagte der. „Es ist so viel, ich weiß nicht, ob ich es Ihnen jemals wiedergeben kann“, entgegnete Trepp, „außerdem bräuchte mein Bruder Arbeit.“ Der ältere Mann antwortete ruhig: „Machen Sie sich keine Gedanken, das regeln wir. Ich stelle ihn an. Hier ist Ihr Scheck. Bitteschön.“ Die Brüder haben dem Unternehmer sein Geld zurückgezahlt. Einer von Hunderten oft Namenlosen in England, die in dieser Zeit ohne viele Worte Leben retteten. Nachdem er den Brief seines Bruders gelesen hat, ist mein Mann wie verwandelt. Das Leben ist wieder gut. Die Männer freuen sich aufs Wiedersehen im nächsten Sommer. Doch dazu wird es nicht mehr kommen. Im folgenden Jahr müssen wir unsere Reise nach Israel absagen, dann stirbt mein Mann. Nach seinem Tod veränderte sich Gustav Trepp, wie sein Sohn mir erzählte. Er wurde ruhiger, entfernte sich von den täglichen Dingen und sprach öfter von seinem Bruder als sonst. „Es dreht sich nur noch um Onkel Leo“, sagt sein Sohn, „du weißt nicht, wie wichtig er für Vater war.“ Als ich Gustav im kommenden Sommer allein besuche, will er nur wenig sprechen. Er sitzt vor einem aufgeschlagenen Talmudband. An der Wand hängt das Foto eines ultraorthodoxen Rabbiners. Einer von 122
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denen, mit denen mein Mann sich gerne stritt und denen er, noch lieber, die aus seiner Sicht religionsgesetzliche Unhaltbarkeit ihrer Ansichten vorführte. Doch das alles war letztendlich unwichtig. Ich glaube, dass Leo Trepp für seinen Bruder in den letzten Jahren noch wichtiger wurde, weil er der Einzige gewesen war, mit dem er das Leben teilen konnte, das glücklich gewesen war und ganz. Und weil er der Einzige gewesen war, der wortlos mit ihm darum trauerte, dass der Bruch, der dann kam, nicht zu heilen, dass eine Welt untergegangen, oder, wie Leo es sagte, das deutsche Judentum gefällt worden war. Schon in der Jugend ist Leo Trepp da, wenn ihn sein Bruder braucht. Um dem Jüngeren zu helfen, wechselt er 1934 den Studienort und geht für die Promotion nach Würzburg. In der Zwischenzeit hatten sich die Dinge auch zu Hause zugespitzt. Meinem Bruder ging es am Gymnasium mittlerweile so schlecht, daß er es nicht mehr aushalten konnte. Besonders mein Französischlehrer, den ich gern gehabt hatte und der mit meinen Eltern befreundet gewesen war, hatte sich zu einem rabiaten Nazi entwickelt. Auf diese Weise hoffte er, Oberstudienrat zu werden, was ihm auch gelang. Er malträtierte meinen Bruder, indem er ihm nicht einmal Gehör schenkte, er ignorierte ihn vollkommen. Der Direktor war lange fair und anständig geblieben. Doch als Hitler an die Macht kam, fiel er um. Er „weiche der Gewalt“, sagte er. Dennoch galt er den neuen Machthabern nicht als zuverlässig genug, sie pensionierten ihn bald. Auch die anderen Schüler schlossen Gustav aus, der in seinem ganzen Auftreten weitaus kompromißloser war, als ich es gewesen war. Wenn ihm der Turnlehrer zum Beispiel sagte: „Nimm die Mütze runter, wenn Du läufst“, antwortete er: „Nee, meine Religion gebietet mir, sie aufzusetzen.“ Am Ende wurde es so schlimm für ihn, daß mein Vater sagte: „Der muß raus da“. Mein Vater fuhr also nach Würzburg, um den Rektor des jüdischen Lehrerseminars zu fragen, ob er Gustav aufnehmen und, wenn ja, in welche Klasse er kommen könne. Und der Direktor antwortete: „Wir nehmen ihn in die fortgeschrittene Klasse, doch wenn er es bis Herbst oder Weihnachten nicht geschafft hat, den Stoff aufzuarbeiten, muß er eine Klasse zurück.“ Daraufhin bat mein Vater mich, mir in Berlin Urlaub geben zu lassen, um meinem Bruder in Würzburg zu helfen, das heißt, ihn durch Nachhilfestun123
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den möglichst schnell auf das geforderte Niveau zu bringen. Ich willigte ein unter der Bedingung, daß ich dort gleichzeitig meine eigenen Studien beenden und promovieren konnte. Dann schickte ich meine Unterlagen zu meiner Tante Sabine, die in Würzburg bei einem Schneider arbeitete. Nicht scheu, nahm sie meine Studienbücher und Scheine und ging direkt zu dem Romanisten der Universität, Adalbert Hämel. Er lud mich ein, ihn zu besuchen. Unsere erste Begegnung war freundlich, Hämel muß damals um die fünfzig gewesen sein, in einem Alter, in dem für viele die Karriere an allererster Stelle steht. Ich wunderte mich, daß er zu dieser Zeit noch einen Juden zur Promotion nehmen wollte, was ihm sicherlich keinerlei Vorteile einbringen würde. „Ich habe ein Thema, das ich gern behandelt haben möchte“, sagte Hämel. „Und was ist das?“ Er antwortete: „Taine“. Das fand ich interessant. Taine war ein moderner Denker, mit dem ich mich gern näher auseinandersetzen wollte. Hämel freute sich und fügte dann hinzu: „Ich muß Ihnen sagen, daß ich der SA angehöre. Ich bin ihr beigetreten, um meine jüdischen Studenten zu schützen.“ Und er versprach mir, mich in meiner Promotion nach allen Kräften zu unterstützen. Ich wunderte mich noch mehr. Doch sein Wesen war sympathisch und warm, warum sollte ich ihm nicht glauben? Und was blieb mir übrig? So hatte ich mich zu der Zeit, als man mich in Berlin aus dem Lesesaal der Universität verwies, bereits entschieden, bei einem SA- und, wie ich später erfahren sollte, SS-Mitglied in Würzburg zu promovieren, und hatte die Zusage dafür in der Tasche. Was sich im Nachhinein als eine der besten Entscheidungen meines Lebens herausstellen sollte. Denn zu der Zeit, als ich in Würzburg begann, wurden die jüdischen Studenten in Berlin aus ihrer Alma Mater herausgeworfen. Und Hämel sollte seinem Versprechen, den Juden zu schützen und ihm zu helfen, treu bleiben. Ich mußte mich in Würzburg mit der gelben Judenkarte einschreiben, denn seit Frühjahr 1933 gab es das Gesetz „gegen die Überfüllung der deutschen Schulen und Hochschulen“, das es Juden erschweren sollte, sich zu immatrikulieren. Viele Universitäten nahmen sie gar nicht mehr auf, weil ihr „Kontingent” ausgeschöpft war, doch Würzburg hatte die Quote noch nicht erreicht, auch deshalb, weil viele Studenten, besonders der Medizin, schon mit ihren Familien emigriert waren. Hämel und ich einigten uns bald auf das Thema: „Richeome, Montaigne, Taine und ihre Auffassungen von Religion 124
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und Kirche – ein Beitrag zur französischen Wesenskunde“. Richeome war ein Erzieher von Ludwig XIV. und ganz der Kirche verbunden, und im Gegensatz zu Taine war Montaigne der volkstümliche Franzose. Dennoch waren alle drei französische Denker, deren Philosophie auf Aristoteles ruhte, während das Denken Deutschlands platonisch war. Ich hatte vor, diesen Gegensatz erkennbar, wenn auch vorsichtig, darzustellen, denn Platos Denken in der Negative war Hitlers Herrschaft. Das platonische Denken ist ein Suchen nach dem Absoluten: unerreichbar, aber gemäß Plato erstrebenswert. Hinzu kommt sein Kastendenken. Ganz unten stehen die Bürger, die für den Staat arbeiten und ihm gehorchen müssen. Über ihnen steht das ausgewählte Heer, zur Verteidigung und um innere Ordnung zu schaffen. Ganz oben wirken die Weisen, so gelehrt und so besonders, daß ihnen kein Fehler unterlaufen kann, sie walten jenseits jeder Kritik. Das waren Hitler und der Nazistaat. Nun brauchte ich noch Prüfer in den Nebenfächern, entweder Deutsch, Philosophie oder Psychologie. In Deutsch hörte ich eine Vorlesung bei einem Professor Woerner, der erklärte, literarisch gesehen sei Hitlers Mein Kampf wertvoller als alles, was Goethe je geschrieben habe. Dieser Mann war offensichtlich nichts für mich. In Philosophie besuchte ich die Veranstaltungen von Hans Meyer. Er las meist über die antike und mittelalterliche Philosophie, in dieser Zeit ein unverfängliches Thema. Doch wenn er den Saal betrat, nahm er seinen Hut ab und hielt ihn in der Hand, während er den Hitlergruß abgab, dann erst hing er ihn auf. Er schien dem Wind zu folgen, war also für mich auch nicht geeignet. So blieb nur Karl Marbe, der sowohl Philosophie wie auch Psychologie lehrte und mich in zwei Nebenfächern prüfen konnte. An der Universität hatte er eine unbedeutende Stellung, nicht viele Studenten gingen zu ihm, und man sagte mir, er sei ein Schwätzer. In Wirklichkeit war er ein weltbekannter Wissenschaftler, wie ich erst später herausfand. Er galt als der wohl bedeutendste Vertreter der Denkpsychologie, deren Anhänger zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts das Denken und den Willen in Experimenten untersuchten. Er war ein persönlicher Schüler des großen französischen Psychologen Binet gewesen. Heute ist sein Wissen Binsenweisheit, damals war es neu. In Kürze: Jeder Mensch ist durch seine Umwelt und sein Verhältnis zu ihr konditioniert, und auf Grund dieser Bedingungen trifft er seine Entscheidungen. Es gibt keine objektive Entscheidung, alles ist von Erfahrungen abhängig, seien wir uns ihrer bewußt oder nicht. Natürlich gefiel 125
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die empirische Analyse psychologischer Vorgänge den Nazis ganz und gar nicht. Sie hatten Marbe aufs Abstellgleis geschoben. Er nahm mich an, und das sollte sich als weiterer Glücksfall herausstellen. Mit anderen Studenten hatte ich mit einer Ausnahme keine Kontakte. In Meyers Vorlesungen saß ein junger katholischer Mönch neben mir. Wir unterhielten uns oft. Bis er eines Abends zu einem der Konzerte im Schloßgarten kam, die ich immer besuchte. Er hatte seine Kutte ausgezogen und sagte, er sei NSDAP-Mitglied geworden. Die Partei gehe in eine gute Richtung und sei das richtige für diese Zeit. Wir sprachen nie mehr miteinander.
Treueversprechen gegen die Nazis Während dieses Sommer sollte ich einem anderen Menschen in Würzburg begegnen, den ich nie vergessen werde. Ich traf ihn in der jüdischen Gemeinde, deren Rabbiner, Siegfried Hanover, mich freundlich willkommen geheißen hatte und in dessen Gottesdienste ich gern ging. Manchmal trug Hanover eine Kette mit einem großen Davidstern über seinem Talar, die ihm als Armeerabbiner vom Staat geschenkt worden war. Eine Predigt werde ich nicht vergessen. Er sprach über die Zeiten, in denen wir nun zu leben hatten. „Wir haben Angst“, schloß er. „Sei uns doch gnädig, Gott, hilf uns doch. Laß uns doch zum Guten leben.“ Die Worte rührten mich in ihrer Innigkeit. Einige Wochen später ging ich zu Tischa b’Aw, dem Trauertag im jüdischen Kalender, in die Synagoge. Und wie schon im Jahr davor war es nicht mehr nur ein Tag des trauernden Zurückblickens. Seit der Machtergreifung der Nazis hatte er eine Dringlichkeit und Aktualität bekommen. Wir alle waren uns bewußt, daß es für die Juden noch dunkler werden könnte, wenn wir auch nicht voraussehen konnten, daß uns eine schwarze Nacht erwartete, daß die Zerstörung in ihrer Bedeutung dem Fall des Tempels gleichstehen und ihn an Grausamkeit bei weitem überbieten würde. Es war Mitte Juli, die Sonne schien. Wir hielten den Gottesdienst im großen Klassenraum der Jüdischen Schule im zweiten Stock und saßen auf niedrigen Bänken, die an die Wand gelehnt waren. Ich saß den Tafeln gegenüber, neben mir ein offenes Fenster. Als die versammelten Männer begannen, im Wechsel die Kinot – die Klagegesänge – zu sagen, wurde ich gewahr, wer am 126
Treueversprechen gegen die Nazis
anderen Ende des Raums saß: Es war der Baron Ernst von Manstein, der nun an der Reihe war. Als ich ihn hörte, packte es mich. Mit ruhiger, sonorer Stimme rezitierte er das Gedicht, das den Auszug aus Ägypten vergleicht mit der Vertreibung aus Jerusalem. Hier saß ein Mitglied einer der bedeutendsten preußischen Adelsfamilien, ein konvertierter Jude, auf einem schmalen Schemel, wie wir alle nur mit Socken an seinen Füßen, und sprach in absoluter Identifikation mit seiner Religion die Worte: „Ich verließ Ägypten. Ich wurde aus Zion vertrieben“, und dann am Ende, mit der Freude der Gewißheit in der Stimme: „ ... wenn ich nach Jerusalem zurückkehren werde“. Er sagte das „ich“ ohne Pathos, es war ihm wohl nicht einmal mehr bewußt. Es war das „ich“, das die völlige Zugehörigkeit zum Judentum, zum jüdischen Erbe und zur jüdischen Geschichte ausdrückte. Und er bestätigte diese Zugehörigkeit in einem Moment tiefster Bedrohung, die er nicht hatte voraussehen können. Unser Volk war sein Volk, unsere Väter und Mütter waren seine Väter und Mütter, unser Schicksal war sein Schicksal. Wahrscheinlich haben die anderen, die ihn seit Jahrzehnten kannten, es nicht einmal mehr realisiert. Mich rührte es über alle Maßen. Es wurde ein Eindruck, der mich mein Leben nicht mehr losließ, eine Botschaft, die ihre Macht nie verloren hat. Ich war einem außergewöhnlichen Juden begegnet. An diesem Tischa b’Aw wurde Baron von Manstein mein Lehrer. Die Begegnung mit ihm half mir zu verstehen, warum Konvertiten „unsere Väter und Mütter“ sagen; warum das Buch Ruth stolz schließt mit dem Hinweis, daß diese selbstbewußte Konvertitin die Urgroßmutter von König David war. Ohne sie hätten wir ihn, den wir so verehren, nicht gehabt. Ich sollte verstehen, warum der Talmud die Abstammung vieler großer Lehrer auf nichtjüdische Wurzeln zurückführt und warum wir in der Amida für den loyalen Proselyten beten, bevor wir die geborenen Juden ins Gebet einschließen. Er lehrte mich, was es bedeutet, ein Jude zu sein, unserer heiligen Tradition vollkommen verpflichtet. Er lehrte mich, die Kraft des Judentums noch höher zu schätzen, die innere Stärke zu erkennen, die es denen gibt, die es annehmen und sich ihm hingeben. Von diesem Tag an begann ich, Konvertiten mit anderen Augen zu sehen. Heute bin ich der festen Überzeugung, daß wir Menschen, die übertreten wollen, mit offenen Armen willkommen heißen müssen. Wir müssen ihnen helfen und den Weg erleichtern und sie in jeder Hinsicht als jüdische Brüder und Schwestern aufnehmen und einbeziehen. Wir müs127
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sen ihnen danken dafür, daß sie uns Vorbild sind. Danken dafür, daß sie uns helfen zu verstehen, daß alle Juden ihr Judentum immer wieder neu wählen, mit neuen Augen sehen und neue Kraft aus ihm schöpfen müssen, wenn es für künftige Generationen Bedeutung behalten soll. Doch Baron von Manstein lehrte mich noch etwas. Er war eine lebende Zurückweisung der Rassenideologie der Nazis. Mit seinem ganzen Dasein und Wesen verkündete er, daß wir keine Rasse sind, sondern daß wir einen Bund untereinander geschlossen haben, vereint unter dem ewigen Bund mit Gott. So sah es von Manstein sein ganzes Leben, seitdem er als junger Mann zum Judentum übergetreten war. Er hatte eine jüdische Frau geheiratet, die ebenfalls konvertiert war, lehrte Kunst am Jüdischen Lehrerseminar und war Beter in der orthodoxen Synagoge. Doch unter den Nationalsozialisten bekam sein Verhalten eine neue Bedeutung. Denn nicht nur entstammte er einem alten deutschen Adelsgeschlecht – er war zudem der Onkel des berühmten Generalfeldmarschalls Erich von Manstein, einem der wichtigsten Offiziere in Hitlers Generalstab, der trotz späterer Unstimmigkeiten mit Hitler die Rassenidee der Nazis verinnerlicht hatte und unter dessen Kommando Tausende von Juden in Russland ermordet wurden. Wieder und wieder versuchten die Nazis, dem jüdischen Baron klarzumachen, daß er kein wirklicher Jude, sondern Arier sei. Seine wiederholten Anträge, nach Palästina auswandern zu dürfen, wurden abgelehnt. 1942 zog er zusammen mit anderen Würzburger Juden in ein Judenhaus. Ende 1942 trat er aus der jüdischen Gemeinde aus. Man nimmt an, daß er dem Druck und den Drohungen der Gestapo nachgab. Mit 73 Jahren war er damals kein junger Mann mehr. Er starb zwei Jahre später. Sein Neffe ließ den Leichnam mit nationalsozialistischen Ehren auf dem christlichen Friedhof bestatten. Angeblich eskortierte die SA den Sarg, auf dem eine Hakenkreuzfahne lag. Nach gerichtlichen Auseinandersetzungen mit den Angehörigen setzte es die jüdische Gemeinde in den siebziger Jahren durch, von Manstein umbetten zu dürfen. Er liegt heute neben seiner Frau auf dem jüdischen Friedhof, im Tod vereint mit seinem Volk. Ein großer Jude, nach dem ich von nun an in Gottesdiensten Ausschau hielt. In diesem Jahr waren die Tage noch länger als sonst. Nachdem Hanover von meiner Rabbinerausbildung erfahren hatte, setzte er mich als Religionslehrer an Schulen ein, was mir recht war, denn es brachte ein wenig Einkom128
Treueversprechen gegen die Nazis
men. Ich bereitete also den Unterricht vor, traf mich zum Lernen mit Gustav, und natürlich schrieb ich fieberhaft an der Dissertation. Hämel drängte mich fertigzuwerden. Im Frühling 1935 ging ich zu ihm, um die Arbeit noch einmal zu besprechen. „Ich muß ein paar Fehler finden“, sagte er, „ich kann Ihnen kein ‚summa cum laude‘ geben, das bringt uns beiden Schwierigkeiten.“ Ich erwiderte, ein ‚magna‘ sei mir recht. Nachdem wir diesen Teil hinter uns gebracht hatten, erzählte ich ihm, daß ich das Rigorosum nach den Sommerferien nehmen wolle. „Ausgeschlossen“, sagte er, „Sie müssen es sofort nehmen, und sie müssen sofort eine Druckerei finden, die uns die hundertfünfzig Exemplare druckt und so schnell wie möglich schickt. Sie müssen das Ganze in diesem Semester abschließen.“ Er half mir, eine Typistin zu finden, um die Dissertation druckreif zu machen. In diesen letzten Tagen konnte ich wortwörtlich Tag und Nacht zu ihm kommen. Am Ostersonntag gingen wir bei ihm zu Hause ein letztes Mal über das druckfertige Manuskript. Nun sollte das Rigorosum folgen. Ich lernte wie besessen. Am Sonntag vor dem Examen allerdings stand ich vor einer schwierigen Wahl: Im Hofgarten gab es ein Konzert mit wunderbaren Mozart-Stücken und mit Tänzerinnen! Hingehen oder nicht? Ich entschied mich dafür, und es war herrlich. Die mündliche Prüfung bei Hämel verlief freundlich, doch er war intellektuell rigoros. Ich war froh, daß ich am Tag zuvor ins Konzert gegangen war, mehr Büffelei hätte mir auch nicht geholfen, und durch die Entspannung war ich nicht allzu nervös. Und zum Glück hatte ich dem Pedell zehn Mark zugesteckt, was ihn dazu bewegte, zu gegebener Zeit den Raum zu betreten und dem Professor zu verkünden, die Zeit sei abgelaufen. Sonst hätte ich was weiß ich wie lange weitergeschmort. Marbe begann während der Prüfung ein wunderbares Gespräch mit mir. Er war ein ruhiger, großer Mann, fast im Pensionsalter. Die Nazis zwangen ihn dann auch zu gehen, obgleich er noch gern weitergearbeitet hätte. Es war ein warmer Sommertag. Er wollte mich bei sich zu Hause, einer am Stadtrand gelegenen Villa, prüfen. Meine Tante hatte mir von ihrem Arbeitgeber einen Anzug – schwarze Jacke, gestreifte Hose – nähen lassen, den ich stolz trug – und in dem ich schwitzte. Das erste, was Marbe sagte, als er mir die Tür öffnete, war: „Sie hätten sich doch nicht so formal anziehen müssen. Bitte ziehen Sie die Jacke aus.“ Wir saßen einander gegenüber, und er fragte: „Haben Sie mein Buch Die Gleichförmigkeit der Welt wirklich gelesen, oder haben Sie 129
3. Kapitel: Studium im Sauseschritt
es nur zitiert?“ Ich hätte es gelesen, antwortete ich. „Das werden wir gleich sehen.“ Schon nach wenigen Minuten ging die Prüfung in meinen drei Fächern – Pädagogik, Philosophie und Psychologie – in einen spannenden Dialog über, am Ende sprachen wir über Rainer Maria Rilke. Zum Abschied gab mir Marbe liebe Worte mit auf den Weg, die mich bis heute freuen. „Sie wissen nicht alles“, sagte er, „aber Sie wissen sehr viel.“ Guten Mutes lief ich nach Hause. Am Nachmittag rief mich seine Sekretärin an und lud mich zu einem Essen in einem Gartenrestaurant ein, Marbe wolle mit allen seinen Studenten gemeinsam feiern. Ich sagte: „Ich befürchte, meine Anwesenheit kann ihm Schwierigkeiten machen, ich möchte lieber nicht kommen.“ Unmittelbar darauf kam ein Anruf von ihm selbst. „Was ist das Problem? Wenn Sie keinen Schinken essen, laß ich Ihnen Eier machen.“ Ich nannte ihm meinen Grund, und er wurde laut, schrie beinahe. „Was ist das für ein Unsinn. Das interessiert mich doch gar nicht, was die denken. Sie kommen.“ Ich ging und hatte einen frohen Abend. Es war seine Abschiedsfeier. Von der Universität konnte er keine erwarten. Nach den mündlichen Prüfungen mußte mein Doktordiplom unterschrieben werden. Professor Fischer, der Rektor der Universität, erklärte: „Einem Jud unterschreibe ich kein Diplom.“ Also unterschrieb es der Vizerektor irgendwann. Doch für mich war nur bedeutend, daß ich die Promotion hatte. Ohne sie wäre mein weiteres Leben anders verlaufen. Ich hätte manche Stellen nicht bekommen, und vor allem hätte ich wohl nicht lehren können. Hämel muß gewußt oder zumindest geahnt haben, was die Nationalsozialisten in ihren Rassegesetzen auf dem Nürnberger Parteitag 1935 beschließen würden. Die Gesetze verboten die Promotion zwar noch nicht – das kam erst zwei Jahre später –, doch wurde der Druck auf Studenten und Professoren nach dem Parteitag so groß, daß sich die wenigsten noch irgendetwas trauten. Meines Wissens bin ich der letzte Jude, der in Würzburg promoviert worden ist. Schon in diesem Jahr und trotz seiner Anbindung an die Partei geriet Hämel wegen meiner Dissertation in Schwierigkeiten. Fischer warf ihm im Kollegium vor, kein Nationalsozialist zu sein, sondern „ein katholischer, kohlschwarzer Pfaffenbruder“, der es noch wage, Juden zu promovieren, und der so schnell wie möglich von der Universität verschwinden müsse. Er strebte ein Disziplinarverfahren gegen Hämel an. Kurz darauf allerdings wurde er selbst verhaftet, weil er sich an einer minderjährigen Laborantin vergangen hatte – und der „schwarze Pfaffenbruder“ war vergessen. Gegen Ende des 130
Treueversprechen gegen die Nazis
Krieges wurde Hämel nochmals angezeigt, diesmal vom Bayerischen Ministerium bei den Behörden in Berlin, weil er „die Studenten im anti-nationalsozialistischen Geist“ erziehe. Doch ehe es zum Verfahren kommen konnte, hatte Deutschland den Krieg verloren. Das erfuhr ich erst nach dem Krieg. Mit meinen beiden Professoren nahm ich 1952 wieder Kontakt auf. Ich wollte sie beide gern wiedersehen. Marbe, schon fast 83 Jahre alt, freute sich, von mir zu hören, antwortete herzlich und schickte mir einige seiner letzten Schriften, um die ich ihn gebeten hatte. Er ließ mich aber auch wissen, daß er ein wenig gebrechlich geworden sei und nicht mehr veröffentliche. Hämel war gerade Rektor der Universität Erlangen geworden, nachdem er nach dem Krieg wegen seiner vermeintlichen Nähe zu den Nazis aus seinem Amt in Würzburg entlassen worden war. Allerdings hatten ihn die Aussagen früherer Studenten bald rehabilitiert. Ganz sicher wäre auch ich mit voller Überzeugung für ihn eingetreten, hätte ich von seinen Schwierigkeiten geahnt. Hämels Reaktion auf meinen Brief zeigte mir noch einmal, mit was für einem Menschen ich es hier zu tun hatte. Er begann seine handgeschriebene Erwiderung mit den Worten: „Sie glauben nicht, welche große Freude Sie mir mit Ihren Zeilen bereitet haben. Ich habe jahrelang um Sie gebangt, und war so glücklich, vor einigen Jahren von unserem gemeinsamen Freund, Dr. Lehrmann, zu hören, daß Sie leben. Ich bange noch heute um meinen lieben Schüler, Dr. Sänger, von dem ich nichts weiß.“ Wir drei waren seine letzten jüdischen Doktoranden, die er mit schützender Hand begleitet hatte. Auf meine Nachricht, daß Sänger nach Australien habe fliehen können, reagierte er wiederum auf rührende Weise glücklich und endete mit den Worten: „Möge der Gott Ihrer Väter, der auch mein Gott ist, Sie immer schützen.“ Wie mir später erzählt wurde, hatte er bis zu ihrem Abtransport 1942 verschiedene Juden finanziell unterstützt. Wir begannen einen Briefwechsel, in dem wir uns über seine und meine Arbeiten austauschten, über Voltaire und Diderot und deren Haltung zu Juden, und über persönliche Befindlichkeiten. Leider starb Hämel schon im nächsten Jahr. Im darauffolgenden Jahr besuchte ich seine Witwe. Sie war untröstlich, daß ihr Mann plötzlich und somit ohne Sterbesakramente gestorben sei. Ich sagte ihr: „Wenn Sie dem Wort und Urteil eines Juden vertrauen, kann ich Ihnen sagen, er ist jetzt bei Gott.“
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3. Kapitel: Studium im Sauseschritt
Wie richtig mein Mann mit der Einschätzung seiner beiden Prüfer lag, hat sich erst vor Kurzem erneut bestätigt. Noch während ich an der Biographie arbeitete, erzählte mir ein Professor der Geschichte der Psychologie in Würzburg, dass man den Nachlass von Karl Marbe wiederaufgefunden habe. Zu seiner großen Überraschung habe sich darin ein bislang unveröffentlichtes und anonym verfasstes Manuskript Marbes befunden, in dem er die Verführungsmechanismen der Nationalsozialisten analysiere und dabei vor allem auf seine Erkenntnisse aus der Massenpsychologie zurückgreife. Marbe müsse das Manuskript in den letzten Kriegsjahren geschrieben haben und habe nachweislich versucht, es noch zu seinen Lebzeiten zu veröffentlichen. 2016 ist das Buch unter dem Titel: Zeitgemäße populäre Betrachtungen für die kultivierte Welt – Aus dem Nachlass eines deutschen Gelehrten erschienen. Einige Monate vor seinem Tod ernennt die Universität Würzburg Leo Trepp anlässlich des 75-jährigen Jahrestages seiner Promotion zum Ehrenmitglied. Trepp hält einen Vortrag über die Stadt, ihre Universität und ihre Juden. Er spricht im überfüllten Toskanasaal der Residenz und blickt zurück, deutlich, aber ohne jede Bitterkeit. Wie immer macht er den Menschen klar, dass gute Worte allein nie ausreichen, dass sie besonders in Deutschland nicht ausreichen. Und wie immer geht er selbst voran. Im Hotel hat er mit dem emeritierten Bischof, Paul-Werner Scheele, Kaffee getrunken. Und ein neues Projekt ausgeheckt. Künftig soll es gemeinsame Vorlesungen über Juden und Kirche geben, mit anschließenden Diskussionen.
Wer denkt denn da noch an Karriere? Zurück in Berlin kann Leo Trepp die Konflikte oft hautnah beobachten, die sich nach der Machtergreifung zwischen den beiden großen jüdischen Gruppen aufgetan haben, den Assimilierten und den Integrierten, denjenigen, die allen im Reich und besonders der neuen Regierung beweisen wollen, dass sie deutsch, deutsch und nochmal deutsch sind, und denjenigen, die sagen: „Ja, natürlich sind wir deutsch, aber wir sind auch jüdisch, und wir werden unser Judentum stolz verteidigen.“ Im ganzen 132
Wer denkt denn da noch an Karriere?
Land streiten sich die verschiedenen jüdischen Verbände über die richtige Reaktion auf das Regime. Und die Auseinandersetzung darüber, wie die Juden mit den Nationalsozialisten umgehen sollen, reicht tief in die einzelnen Gemeinden hinein. Nur die zionistischen Organisationen scheinen die Gefahr klarer zu sehen oder zumindest zu benennen. Der Reichsbund jüdischer Frontsoldaten dagegen, der sich lange von den Ostjuden und Zionisten distanziert, um Hitler ausschließlich mit seinen patriotischen Leistungen zu imponieren, und damit die innerjüdischen Konflikte noch einmal verschärft, und dessen Mitglieder auf jede Maßnahme, die Juden einen Schritt weiter ausschließt, verletzt und mit Protesten reagieren, dieser Bund der deutschesten der deutschen Juden also wird erst Ende 1936 einsehen, dass Vaterlandsliebe nichts wert ist, wenn sie in einem jüdischen Herzen schlägt. Nicht nur schließt die Regierung die Juden von der Wehrpflicht aus, sie will auch nichts wissen von der Bereitschaft des Reichsbundes, die Juden auf einfache Landberufe umzuschulen und verbietet im August 1936 das öffentliche Benutzen des Namens. „Jüdische Frontsoldaten“ kann es nicht mehr geben. Zuerst allerdings wurde bezeichnenderweise der ultrarechte Verband nationaldeutscher Juden verboten, mit rund dreitausendfünfhundert Mitgliedern unbedeutend, und wegen seiner Hetze gegen die Ostjuden und seiner antidemokratischen Haltung von anderen Juden verachtet – Leo Trepp und seine Freunde pflegten zu scherzen: „Diese Narren sagen zueinander: ‚Wir sind unser Unglück‘“. Für die Nationalsozialisten aber waren nationalistische Juden, die ausschließlich Deutsche sein wollten, wie unbedeutend auch immer, untragbar. Vor allem konterkarierten sie den einen großen Plan. Deutschland wollte die Juden loswerden. Schon 1935 hatte Heinrich Himmler einen Erlass herausgegeben, nach dem mit allen Mitteln verhindert werden müsse, dass deutsch-jüdische Organisationen versuchten, Juden zu überreden, in Deutschland zu bleiben. Kann man den Druck ignorieren? Über die nächsten Jahre sind deutsche Juden wie Leo Trepp hin und her geworfen. Koffer packen oder bleiben? Die meisten versuchen, zu beobachten und sich auf alle Eventualitäten vorzubereiten, doch sie hoffen, dass es alles bald vorbeigehe. Immerhin sind sie in Deutschland. Was soll da ein Hitler, dieser banale, ungebildete Rüpel schon ausrichten können? So beschreibt mein Mann 133
3. Kapitel: Studium im Sauseschritt
sein eigenes Denken und das der meisten Menschen in seiner Umgebung später. Und ihr Denken spiegelt sich in den Verbänden, die sie vertreten. Zwar sind nicht alle Organisationen bereit, sich zu demütigen wie die Frontsoldaten, doch bis auf die Zionisten wollen sich am Anfang die meisten irgendwie mit den neuen Machthabern arrangieren. Wenn auch nur, um durch ungewollte Provokationen die Situation für die Juden nicht zu verschlimmern. Die Reichsvertretung der Juden in Deutschland, die 1933 als „Reichsvertretung der deutschen Juden“ gegründete Vereinigung – die sich nach den Nürnberger Rassegesetzen umbenennen musste, weil es deutsche Juden unter den neuen Machthabern nicht mehr geben kann – hat sich als einer der ersten Verbände den neuen Verhältnissen angepasst und fährt nun zweigleisig: Ihren Protest gegen den Boykott 1933 schließt sie noch mit einem Bekenntnis zum Deutschtum ab. Doch zugleich will sie das Selbstwertgefühl der Juden stärken und strebt nach einer besseren jüdischen Erziehung. Zudem hat sie längst begonnen, bei Ausreisen zu helfen und sie zu organisieren. Wirken und Leben in den Gemeinden und an den Hochschulen spiegeln beides wider, die Unsicherheit und die Hoffnung. Selbst in den Jahren 1936 und 1937, in denen Trepp das Seminar bereits verlassen und sich die politische Situation noch einmal verschlimmert hat, berichtet der Rektor des Rabbinerseminars im Jahresreport stolz, dass die Zahl der Hörer gewachsen sei. Wenn nun auch mehrere Absolventen als Rabbiner oder Lehrer nach Palästina gehen oder ins benachbarte Ausland wie Frankreich, bleibt doch eine maßgebende Zahl in Deutschland und übernimmt hier neue Gemeinden. Irgendwie muss und wird es weitergehen. Gute Rabbiner können sich ihre Stellen manchmal sogar aussuchen. Und immer noch gibt es ausreichend großzügige Spender, die dem Seminar helfen, das Ganze finanziell auf den Beinen zu halten: die Reichsvertretung der Juden genauso wie wohlhabende Mitglieder in Berlin oder Emigranten, die nun aus Nachbarländern Geld schicken. Im Spätsommer 1935 ging ich nach Berlin zurück, um am Seminar das Nötige aufzuarbeiten. Mit Anfang des neuen Semesters führte mich Rektor Weinberg in neue Kreise in der Stadt ein. Ich lernte Isaak Nußbaum kennen, ei134
Wer denkt denn da noch an Karriere?
nen wohlhabenden Förderer unseres Seminars, dessen Sympathie für mich bald von Bedeutung sein würde. Er lud Weinberg und mich zum Kiddusch am Freitagabend ein. Manches habe ich vergessen, doch ich erinnere mich an den Überfluß an Silber auf dem Tisch. Die Halter für die Schabbatkerzen, die Bestecke, die Wasserkrüge, Platten – alles funkelte. Hinter jeder zweiten oder dritten Person am Tisch stand ein Diener, der lautlos servierte, einschenkte, half. „Wie hat Ihnen das Ganze gefallen?“ fragte Weinberg mich auf dem Rückweg. „Gar nicht“, sagte ich, „es ist viel zu viel von allem, es ist übertrieben.“ Weinberg entgegnete lapidar: „Sie werden sich dran gewöhnen.“ Nun setzte mich die Gemeinde regelmäßig für Gottesdienste in den verschiedenen Synagogen ein, meist in der Münchenerstraße, in der Rykestraße und im Grunewald. Da ich am Schabbat nicht S-Bahn fuhr, lief ich, was Gunda, wenn wir die Strecken heute fahren, in Erstaunen versetzt. In der Münchenerstraße war ich in einer Dreiviertelstunde, doch von Tiergarten in die Rykestraße war ich weit über eine Stunde unterwegs, und nach Grunewald dauerte es beinahe anderthalb Stunden. Immerhin hatte ich viel Zeit nachzudenken. Schon damals genoß ich es zu predigen. Und offensichtlich lag es mir. Während meiner Zeit in Würzburg hatte ich zu den Hohen Feiertagen, die Gustav und ich zu Hause verbrachten, in Frankfurt gepredigt und war von der Gemeinde dafür gelobt und wieder eingeladen worden. Auch die Berliner Gemeinde schien mich zu schätzen, und ich erwiderte die Zuneigung. So fühlte ich mich geehrt, doch war nicht übermäßig überrascht, als Weinberg mir sagte, Isaak Nußbaum sei mit der Bitte an ihn herangetreten, mich über meine Gefühle zu einer möglichen Anstellung in Berlin zu befragen. Gleichzeitig könne ich beginnen, am Seminar zu unterrichten. Ich war glücklich. Die intellektuelle Atmosphäre und Offenheit der Gemeinde zogen mich an, obwohl sich ihre Gesamtsituation zu dieser Zeit, es war Anfang 1936, dramatisch verschlechtert hatte. Viele Mitglieder hatten ihre Arbeit verloren, sie waren entweder von ihren Posten vertrieben worden oder wurden, sofern sie selbstständig waren, zunehmend boykottiert. Für die Gemeinde hieß das: weniger Steuereinnahmen und auf der anderen Seite steigende Ausgaben, weil immer mehr Juden wirtschaftliche Hilfe brauchten. Die Hilfe von Menschen wie Nußbaum oder der Familie des KaDeWe-Gründers Adolf Jandorf, der selbst bereits verstorben war, wurde für die Gemeinschaft im135
3. Kapitel: Studium im Sauseschritt
mer wichtiger. Nußbaum vergab zudem regelmäßige Stipendien an die Hörer unseres Seminars, dem die wirtschaftliche Not ebenfalls zu schaffen machte. Um zu sparen, boten unsere Hochschule und die liberale Lehranstalt nun gemeinsame Veranstaltungen für Studenten an. Vorlesungen in allgemein-wissenschaftlichen Fächern wie Philosophie, Geschichte oder Soziologie wurden zusammen gehört. Rabbiner und Gemeindevorsitzende bemühten sich, ihre Gemeinden zu koordinieren. Die Reichsvertretung der Juden in Deutschland vertrat die gesamte jüdische Gemeinschaft. Auch wenn Leo Baeck, ihr bewundernswerter Vorsitzender, wieder und wieder bei den Nazi-Behörden vorsprach, um gegen die Benachteiligung der Juden in Deutschland zu protestieren, sah sich die Organisation zunehmend in der Pflicht, Menschen auf die Auswanderung vorzubereiten. In seiner Eröffnungsrede für das Sommersemester 1936 betonte Weinberg ebenfalls, wie wichtig es sei, Eretz Israel stärker in den Mittelpunkt auch der rabbinischen Arbeit zu stellen und die angehenden Rabbiner künftig besser auf Fragen ihrer Gemeindemitglieder nach Auswanderung und einem Leben in dem damaligen Palästina vorzubereiten. In meiner späteren Arbeit hatte ich allen Grund, an seine Worte zu denken. Meine Anstellung in Berlin schob sich hinaus. Geplant war, daß ich gemeinsam mit meinem verehrten Lehrer Alexander Altmann die Münchenerstraße und die Passauerstraße betreuen würde. Praktisch handhabten wir das bereits so. Die Lösung gefiel mir. Altmann hatte ein warmes und herzliches Wesen, ich bewunderte seinen Intellekt – er veröffentlichte in den siebziger Jahren eine der besten Mendelssohn-Biographien und war ein glänzender Rhetoriker – und ich verstand mich gut mit ihm. Doch die Mitglieder des Gemeindevorstands konnten sich nicht einig werden. Manche hatten Zweifel, ob die Gemeinde sich einen weiteren Rabbiner leisten konnte – oder wollte, das habe ich nie herausgefunden. Auf jeden Fall wurde ich des ganzen Hin und Hers ein wenig müde. Bereits kurz nach meiner Rückkehr nach Berlin hatte Julius Galliner, Rabbiner der liberalen Fasanenstraße, mir gesagt, daß die Gemeinde in Oldenburg einen Rabbiner suche. Galliner, damals schon fast blind, war nicht nur der für Einstellungen verantwortliche Gemeinderat in Berlin, sondern wirkte, ebenfalls in leitender Funktion, im Preußischen Landesverband Jüdischer Gemeinden und war auch dort für Berufungen zuständig. 136
Wer denkt denn da noch an Karriere?
In Oldenburg würde ich als Gesandter des Landesverbands arbeiten. Ich hätte die Verantwortung für fünfzehn Gemeinden im Oldenburger Land und wäre mein eigener Herr. Es war eine Herausforderung, die Stelle interessierte mich auf Anhieb. Und die Gemeinde stand unter einem immensen Druck und wartete dringend auf einen neuen Rabbiner. Diesen Menschen zu helfen schien mir notwendig, und ich wollte es gerne tun. Doch obgleich Galliner mich selbst auf die Stelle aufmerksam gemacht hatte, hatte er sich im letzten Jahr letztendlich für einen anderen Kandidaten entschieden. Nun sprach er mich wieder auf Oldenburg an und bat mich, es noch einmal anzuschauen. Den anderen Rabbiner hatte man nicht berufen können, weil er keine deutsche Staatsangehörigkeit hatte, was dem Gesetz zufolge Voraussetzung für die Anstellung war. Kurze Zeit später bot mir Galliner die Oldenburger Stelle offiziell an. Ich akzeptierte. „Packen Sie Ihre Koffer und gehen Sie so schnell wie möglich“, sagte er. Ich fuhr kurz darauf und kam bei der Witwe meines Vorgängers unter. Doch bis zum Spätsommer hatte Adolf Schoyer, der stellvertretende Gemeindevorsitzende, der neben Nußbaum mein stärkster Fürsprecher war, eine Kompromißlösung mit der Mehrheit des Berliner Gemeinderats ausgehandelt und trat nun an Galliner mit der Bitte heran, man möge mich zunächst für ein halbes Jahr in Berlin anstellen. Er, Alexander Altmann, und die beiden betroffenen Gemeinden baten mich inständig, dieser Lösung zuzustimmen. Ich war hin- und hergerissen. Die Beter der beiden Synagogen und ich mochten uns, besonders mit der Münchenerstraße fühlte ich mich verbunden. Und das Angebot, gleichzeitig an der Hochschule zu lehren, reizte mich außerordentlich, es war wissenschaftlich interessant, und beide Tätigkeiten zusammen konnten ein gutes Sprungbrett für eine erfolgreiche Karriere sein. Geistig und emotional hatte ich mich nun allerdings auf Oldenburg eingestellt. Seit dem 1. August 1936 war ich offiziell der neue Landesrabbiner. Ich fühlte mich für die Gemeinde verantwortlich und bat Galliner um Rat. Er plädierte für meinen Verbleib. Dessen ungeachtet, vielleicht seiner Durchsetzungskraft gegen die Berliner Mehrheit nicht vertrauend, hatte er mich für die Hohen Feiertage im September bereits in der Münchenerstraße eingeteilt. Doch ich amtierte an den Feiertagen in Oldenburg und war von der Arbeit in der Gemeinde dort absorbiert, als mich im Oktober noch einmal Post aus 137
3. Kapitel: Studium im Sauseschritt
Berlin erreichte, diesmal mit der Versicherung, Altmann, Schoyer und die Mehrheit der Gemeinde stünden nach wie vor hinter mir, nun müsse man nur noch Galliner umstimmen. Ich solle bitte kommen, alles werde sich regeln. Letztendlich mußte ich in diesem ganzen Durcheinander die Entscheidung fällen, und sie fiel mir nicht mehr schwer: Die Oldenburger Gemeinde lag am Boden. Die Berliner konnten mit einem Rabbiner weniger auskommen, hier brauchte man mich. Ich blieb.
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VIERTES KAPITEL
Rabbinat in Zeiten der Angst
Mit den Augen der Anderen
W
ie Leo Trepp später an seinen Freund und Mentor Mordecai Kaplan schreiben wird, hat er Oldenburg zeit seines Lebens als einen Spiegel gesehen, der nicht nur das Leben der deutschen jüdischen Gemeinschaft reflektierte, sondern auch deren Untergang. Die Methoden und Instrumente, derer die Nationalsozialisten sich bedienten, um Menschen zu zerstören, waren in dem ehemaligen Großherzogtum wie unter einem Brennglas zu beobachten. Nach Kriegsende und Thronverzicht des Großherzogs war nach einigen Unsicherheiten der Freistaat Oldenburg ausgerufen worden, Teil der Weimarer Republik, eine parlamentarische Demokratie mit Landtag und Ministerpräsident. Und wenn die Entwicklungen, die dann folgten, auch die gleichen waren wie überall in Deutschland, fielen sie in diesem Flecken im Norden deutlicher aus. Das hat zum einen mit der Überschaubarkeit in einer mittelgroßen Stadt zu tun und zum anderen mit der Tatsache, dass die Rechten eher Fuß fassen konnten als anderswo. Wie überall in der Republik, grassiert auch hier der Antisemitismus. Doch es sind die Oldenburger, die schon bei den Wahlen zum Landtag im Mai 1931 mehrheitlich die Nationalsozialistische Partei Deutschlands wählen. Das erste Land in der Republik. Die Wähler entscheiden sich, noch bevor der spätere Diktator in Berlin die Macht erlangt. Ein Jahr danach übernimmt die Hitler-Partei mit absoluter Mehrheit die Oldenburger Regierung. Diese Entwicklung war in den Jahren nach der Emanzipation nicht abzusehen. Wie Leo Trepp in seinem Buch über die Oldenburger Juden schreibt, trieb das Großherzogtum die Gleichberechtigung der Juden 139
4. Kapitel: Rabbinat in Zeiten der Angst
durchaus voran. Anfang 1891 verfügte die Regierung, dass nichtdeutsche Juden in den Gemeinden wählen durften, es also auf den Wohnsitz und nicht auf die Staatsbürgerschaft ankam. Das kam einer rechtlichen Anerkennung der Juden aus dem Osten gleich, meist aus Polen, die sich in der Hoffnung niedergelassen hatten, hier die ersehnte Freiheit und wirtschaftliche Aufstiegsmöglichkeiten zu finden. Und es zeigte, dass der Staat erkannt hatte, dass sie sich dauerhaft als Bürger niederlassen wollten und dass er einverstanden war. Auch die Verbundenheit mit dem Herrscherhaus war gut, vielleicht besser, als die Juden selbst zu hoffen wagten. Als 1905 die neue Synagoge geweiht wurde, ließ sich der Großherzog entschuldigen. Er konnte einen anderen, lang geplanten Termin nicht mehr absagen, weil die Jüdische Gemeinde ihn in letzter Minute eingeladen hatte. Vielleicht habe man nur die Form wahren wollen, mutmaßt Trepp, und nicht wirklich damit gerechnet, dass der Herzog erscheinen werde. Doch der bedauerte in einem sehr persönlichen Brief an das Ministerium sein Fernbleiben, wies darauf hin, dass seine Eltern bei der Einweihung der alten Synagoge anwesend gewesen seien, und forderte das Ministerium auf, jemand solle gehen. So ganz falsch lagen die Juden in ihrer Unsicherheit allerdings nicht. Viele ihrer Rechte beruhten immer noch auf Willkür. Und wenn auch das Herzogshaus die Lauterkeit des Judentums allein damit anerkannte, dass man in ihm, wie Trepp schreibt, „wie in allen anderen Religionen eine Stütze des Throns sah“, blieben die unsichtbaren Schranken, wie im gesamten deutschen Reich, meist unangetastet. So weist Dieter Goertz in einem Buch über die Geschichte der Oldenburger Juden darauf hin, dass es in der Garnisonsstadt Oldenburg, in der auch die Juden militärpflichtig gewesen seien, nie einen jüdischen Offizier gegeben habe. Und selbst unter den Augen des den Juden wohlgesonnenen Herrschers hat sich an manchen Orten schon früh ein virulenter Antisemitismus entwickelt. Trepp berichtet von einer Sitzung des Landesgemeinderats bereits im Jahr 1908, in der der Vorsitzende der Gemeinde Brake, die zum Landesrabbinat gehört, anfragt, welche Schritte man gegen die Absicht der Oldenburger Nordseeinsel Wangerooge zu unternehmen gedenke, ein judenreines Bad zu werden. Der großherzogliche Bademeister hatte einem jüdischen Gast mitgeteilt, er könne nicht auf die Insel kommen, „da 140
Mit den Augen der Anderen
die dortigen Kurgäste Juden nicht zu sehen“ wünschten und der „Charakter ihres Seebades antisemitisch“ sei. 1937 setzten die Nationalsozialisten die Idee, jüdische Kurgäste von anderen zu trennen, konsequent um. Den Vorgang auf der Insel sieht Leo Trepp als exemplarisch dafür an, dass in diesem idyllischen Landstrich die Gefahr „von unten“ kam, wie er sagt. „Während die Regierung Akten anlegte, schlug der Antisemitismus immer höhere Wellen, erfasste weitere Kreise, und schließlich wurden Regierung und Recht von dieser Flut hinweggeschwemmt. In Wangerooge sehen wir den Beginn einer aus dem ‚Volksbewusstsein‘ stammenden Entwicklung.“ Auch um dieser Belastung zu entgehen, traten in diesen Jahren der Kaiserzeit vermehrt Mitglieder aus der Gemeinde aus. Und wie überall in Deutschland waren es die Gutverdienenden und Gebildeten, die mit Religion ohnehin nicht mehr viel zu tun hatten, die zuerst gingen. In Oldenburg verließen zumindest einige der Besserverdienenden die Gemeinschaft, nachdem sich ihre Gemeindesteuern unverhältnismäßig stark erhöht hatten. Die Mehrheit der Juden verdiente wenig, auch die Neuankömmlinge aus dem Osten waren arm und konnten nur wenig beitragen, doch aus Gründen, die mit staatlichen Erfordernissen und nicht mit der jüdischen Gemeinschaft zu tun hatten, musste die Gemeinde stets einen festgelegten hohen Betrag aufbringen. Und: Wie überall in Deutschland fühlten sich die Alteingesessenen mit den Zuzüglern unwohl. Obgleich im ganzen Reich nicht einmal hunderttausend Juden aus östlichen Ländern lebten, bestimmten sie das Bild, oder man sollte besser sagen, das Klischee, das viele Christen in Deutschland von den Juden im Kopf hatten. Einige Jahre später werden entmenschlichte Karikaturen von ihnen die Titelseiten des Stürmers einnehmen. Die deutschen Juden spüren und wissen natürlich, was da passiert, und entsprechend ausgeprägt sind die Wünsche, sich entweder zu distanzieren oder die Neuen so schnell wie möglich zu „echten deutschen“ Juden zu machen. In Oldenburg gibt es einige Familien aus Polen. Trepp kritisiert eine gewisse Arroganz den Ostjuden gegenüber, betont aber, dass Gemeinden reichsweit immer wieder auch Rabbiner aus dem Osten berufen hätten, um die Integration zu erleichtern. Er selbst ist seit dem Seminar stark von dem Denken Hermann Cohens geprägt, 141
4. Kapitel: Rabbinat in Zeiten der Angst
der diese Juden mit ihrer stärkeren spirituellen Verwurzelung als eine Bereicherung für das deutsche jüdische Leben ansieht. Trepp versucht von Beginn an, die Ostjuden enger an die Gemeinde zu binden, schon aus eigenem Interesse, wie er später schreibt. „Jüdisch gesehen wussten sie sehr viel, und aus ihnen konnten hervorragende Laienmitarbeiter werden.“ Dennoch sieht er auch die Angst der seit Langem heimischen Gemeindemitglieder. „Die deutschen Juden hofften auf Gnade von Seiten ihrer Gegner“, schreibt er über die nationalsozialistische Zeit, „wenn sie sich von den Ostjuden distanzierten. Es war nicht mutig, mag aber vielleicht menschlich zu verstehen und zu verzeihen sein.“ Die Ablehnung dieser Juden schon Jahrzehnte zuvor dagegen, als der Druck von außen noch nicht derart stark auf dem Einzelnen lastete, beurteilt er sehr viel kritischer, und die damaligen Taufen aus dem Wunsch heraus, sich mit ihnen nicht gemein zu machen, als lächerlich. Die Alteingesessenen, wie er schreibt, schämten sich für die Ostjuden, die ihnen rückständig vorkamen: Die Taufe bewirkte die völlige Loslösung für diejenigen, denen Religion überhaupt wenig bedeutete, und das Judentum noch weniger; Austritt aus der Gemeinde führte zur Entlastung: Nicht länger wurde man mit den kleinen, altmodischen Ostjuden in einen Topf geworfen – so dachte man. Nicht länger war man mit hohen Steuern belastet. Gleichzeitig konnte man erklären, freisinnig-liberal geworden zu sein und den Dogmen und Gesetzen alter Zeiten nicht länger anzuhängen. Man erklärte sich zum Weltbürger. Als Leo Trepp nach Oldenburg kommt, ist das bereits Geschichte. Doch immer noch sehen sich selbst manche Gemeindemitglieder, besonders die in der Stadt selbst, zwar als religiös an, können aber mit ihrer Religion wenig anfangen. Man sieht sie vielleicht zu den Feiertagen in der Synagoge. Das war es. Doch bald werden sich alle Juden, auch die nichtreligiösen, mit ihren Problemen an den Rabbiner wenden. Den belastet eine Sorge drängender als alle anderen: Die Nationalsozialisten haben aus den Vorgaben der Regierung, die noch aus der großherzoglichen Zeit stammen, dass nämlich die Religionsgemeinschaft für sich selbst aufkommen und mit einem kleinen Zuschuss zufrieden sein muss, ein Instrument entwickelt, das die Gemeinde zugrunde richtet, sie verhungern 142
Mit den Augen der Anderen
und absterben lässt. Alles im gesetzlichen Rahmen. Schon unter seinem Vorgänger, Rabbiner Phillip de Haas, und bevor die zentralen Behörden in Berlin nationalsozialistisch besetzt werden, tüftelten Oldenburger Beamte legale – wenn man, weil sich etwas im Rahmen bestehender Gesetze abspielt, es schlichtweg als legal bezeichnen will – Wege aus, die Juden auszubluten. Der Staat schrieb den Juden vor, einen Rabbiner und Religionslehrer zu beschäftigen, während der Religionsunterricht der Kirchen an Schulen erteilt und von Steuergeldern bezahlt wurde, zu denen die Juden beitrugen. Stattdessen bekamen die Juden seit 1910 einen jährlichen Zuschuss von viertausend Reichsmark, der immer noch nur einen Bruchteil dessen ausmachte, was sie in die staatliche Gemeinschaftskasse einzahlten. Doch 1932 sollte sich selbst das ändern. Zu Beginn tauchte der Posten für den Zuschuss der Gemeinde im Haushalt noch auf, doch dann wählten die Oldenburger die NSDAP in die Regierung und alles änderte sich. Trepp sieht in der Vorgehensweise ein Beispiel par excellence, wie Beamte ohne menschliche Skrupel ihren Mantel nach dem Wind hingen, um in jeder Situation gut dazustehen. Noch war nicht vollkommen klar, ob die Nationalsozialisten Berlin übernehmen würden und wie dann mit den Juden zu verfahren sei. Also sicherte sich die Beamtenschaft in Oldenburg nach allen Seiten ab. Von ein paar Wohlmeinenden abgesehen, denen zufolge die Juden nicht nur ihren alljährlichen Zuschuss erhalten sollten, sondern man diesen eigentlich erhöhen müsse, da die Gemeinde sich in einer nicht selbst verschuldeten Notlage befinde, übertrafen sich die meisten darin, durch Wortklaubereien und juristische Spitzfindigkeiten Möglichkeiten zu finden, den Zuschuss beinahe völlig zu streichen, ohne dies so zu benennen. Am Ende blieb die Summe von hundertsiebzig Reichsmark, für die Juden „noch viel zu viel “, wie ein behördeninterner Vermerk besagt. „Das Gewissen wurde zur Ruhe gelegt“, schreibt Trepp, „es kam nur darauf an, dass man sein Pöstchen unter allen Umständen behalten würde.“ Für ihn gaben die Vorgänge in Oldenburg nicht nur einen Einblick in den Charakter einer Gesellschaft, sondern auch in Mechanismen, wie sie bald reichsweit ablaufen würden. „Das Volk legte Verbrechern die Führung von Staat und Gesellschaft in die Hände, und sie mussten nie fürchten, dass die Verwaltung zusammenbrechen würde, denn selbst Beamte, 143
4. Kapitel: Rabbinat in Zeiten der Angst
die das Unrecht sahen, waren gehorsam.“ Die neuen Machthaber, so sagt Trepp, setzten alle Staatsgesetze außer Kraft, die den Juden günstig waren. „Was die Herzöge unter Mitarbeit der Juden aufgebaut hatten, rissen sie jetzt nieder. Stück für Stück. Die Juden wurden erneut dem Gebot der Toleranz unterworfen. Ihr Schicksal hing nun von dem Willen der Mehrheit ab. Von der Bevölkerung kam kein Widerspruch.“ So hatte Oldenburg 1932 bereits erreicht, wozu die Nationalsozialisten an anderen Orten in Deutschland noch Jahre brauchten: Die jüdische Gemeinde lag am Boden und konnte allein nicht mehr überleben. Phillip de Haas reduzierte sein Gehalt und beantragte die Aufnahme seiner Landesgemeinde in den Preußischen Landesverband Jüdischer Gemeinden. Man muss sich diesen Verband als Solidargemeinschaft vorstellen, in der die mehr oder minder zahlungskräftigen großen Gemeinden die verarmten über Wasser hielten. Oldenburg wird bald beinahe ausschließlich vom Landesverband finanziert, denn auch die Oldenburger Bürger scheinen ihre Loyalität zum neuen System betonen zu wollen, indem sie sich mit Garstigkeiten gegen die jüdischen Nachbarn übertreffen. Für die meisten Juden bedeutet das materielle Einbußen. Besonders hart trifft das die Geschäftsleute unter ihnen. Die überwältigende Mehrheit der jüdischen Bürger in Oldenburg betreibt ein Gewerbe, und die arischen Nachbarn befolgen Boykottaufrufe aus Berlin eifriger als anderswo im Reich. Auf den offiziellen, von Goebbels ausgerufenen Boykott am 1. April 1933 gegen jüdische Geschäfte, Anwälte und Ärzte bereiten sich die christlichen Bürger sorgfältig vor. „Am 31.3.“, so teilen die Oldenburger Nachrichten ihren Lesern mit, „erfolgt eine Generalprobe des Boykotts der jüdischen Firmen. Der eigentliche Boykott beginnt Sonnabend-Vormittag um 10 Uhr.“ Beides, Probe und Aufführung, wird ein Erfolg. Bis auf unfreundliche Bemerkungen einiger Passanten, deren Personalien in der Polizeiwache festgehalten worden seien, sei „alles einwandfrei vonstatten gegangen“, heißt es in einem anderen Zeitungsbericht, den Trepp zitiert. Schon 1933 geben die ersten jüdischen Kaufleute auf. Für Summen, die mit dem realen Wert eines Objekts wenig zu tun haben, wechselt Geschäft nach Geschäft den Inhaber. 1936 muss auch das erfolgreichste jüdische Unternehmen aufgeben, die Großwäscherei Rheingold mit zweihundert Annahmestellen 144
Aufbauen, abwickeln und trösten – gleichzeitig
im Land. Und weil alle Juden immer weniger Geld verdienen, können sie bald nur noch minimale Beiträge an die Gemeinde zahlen. Ohne den Landesverband müsste sie sich auflösen. Bis 1940 werden über sechzig Kaufleute und Handwerker ihre Geschäfte und damit ihre Existenzgrundlage verlieren. Genauso hart trifft es die Juden in den bäuerlich geprägten Ortschaften. Unter der relativ liberalen Regierung des Großherzogs hatten sie bereits früh eigenen Grund und Boden besessen und unterhalten nun an einigen Orten landwirtschaftliche Betriebe oder Schlachtereien, und wie in ländlich geprägten Regionen andernorts in Deutschland auch handeln viele von ihnen mit Nutztieren. Noch Anfang der dreißiger Jahre betreiben Juden achtzig bis neunzig Prozent des Viehhandels in der Gegend. Doch ihre christlichen Konkurrenten stehen schon in den Startlöchern, als im Mai 1933 der Verein, in dem die meisten jüdischen Viehhändler lokal organisiert sind, verboten und ein neuer gegründet wird, der Nichtarier nicht mehr zulässt. Menschen, mit denen Juden noch ein paar Jahre zuvor gearbeitet, geerntet und gefeiert haben, wenden sich nun ab, wenn sie auf sie zugehen. Einige Märkte in der Region unterscheiden zwischen „arischen Kühen“ und „Judenkühen“. Zwei Jahre später, im August 1935, wird den Juden offiziell verboten, am Viehmarkt in Oldenburg teilzunehmen. Es ist das erste Verbot dieser Art im Reich.
Aufbauen, abwickeln und trösten – gleichzeitig Als Leo Trepp am 1. August 1936 in der Stadt ankommt, kann er die Not greifen, die seine neue Gemeinde bedrängt, und er nimmt sich kaum Zeit, seine Habseligkeiten auszupacken, bevor er sich in diese für ihn fremde Welt stürzt. Untergekommen ist er bei der Witwe seines Vorgängers, Anny de Haas, einer resoluten Frau, die unterstützt wird von der christlichen Haushälterin Selma Jung, die seit Jahrzehnten für die Rabbinerfamilie arbeitet, deren Kinder hat aufwachsen sehen, und die Leo Trepp sofort ins Herz schließt. Der neue Rabbiner benutzt das Arbeitszimmer von Phillip de Haas, der im Jahr zuvor mit nur 51 Jahren plötzlich gestorben ist, ebenso dessen Literatur. Er stellt seine eigenen 145
4. Kapitel: Rabbinat in Zeiten der Angst
Bücher daneben und macht sich an die Arbeit. Sein Bezirk umfasst acht Gemeinden mit Gotteshäusern und sieben weitere Gemeinden, in denen immer noch Juden leben, es aber keine Synagoge mehr gibt. Das jüdische Oldenburg hat eine durchaus interessante Geschichte und einige prominente Rabbiner vorzuweisen, die dort amtiert haben, unter anderen Nathan Adler, der dann Oberrabbiner in England wurde, und niemand anderen als den von Trepp verehrten Samson Raphael Hirsch, der sich mit seinen, sowohl aus Sicht der Juden wie auch des Herrscherhauses zu orthodoxen Ansichten allerdings nicht lange halten konnte. Für all das hat der neue Rabbiner zu dieser Zeit nicht einen einzigen Blick. Erst Jahrzehnte später wird er während eines Sabbaticals von seiner amerikanischen Universität die Geschichte der Gemeinde aufarbeiten, deren Schicksal seines werden soll. Er ist 23 Jahre alt und auf seinen Schultern ruht die Verantwortung für Hunderte von Menschen. Bald hat er gelernt, dass er, um ihr gerecht zu werden, nicht nur mit Behörden und einzelnen Geschäftsleuten sowie dem jüdischen Dachverband verhandeln, sondern dass er vor allem an jedem Ort erst einmal die allergrößte Not lindern muss. In einem Band über die Landesgemeinde der Juden in Oldenburg schreibt er: Für mich bedeutete das Leben in Oldenburg ein neues und ein altes Erlebnis. Neu war mir die Landschaft und der Menschenschlag, an die ich mich als Rheinländer gewöhnen mußte, neu ebenfalls die Kleingemeinde ... Bald aber empfand ich die Weite des Landes und das Idyll ihrer grünen Fläche, auf der die Kühe grasten, und die Erdgebundenheit seiner Bewohner, die sich in rührendem Verständnis für das Wohl der Freunde, einschließlich des Rabbiners, ausdrückte, als wertvoll und erhebend. Andererseits war mir die Not und das Gefühl, in einer belagerten Festung zu sein, nicht neu ... Ich erinnerte mich des Druckes dieser Besatzung, der Ausschreitungen während der Frühperiode, der Kämpfe in der Separatistenzeit, des passiven Widerstandes, der Inflation. Nach dem Abzug der Besatzung waren es dann nur wenige Jahre bis zur Hitlerzeit, Jahre, in denen sich der Druck auf die Juden immer mehr verstärkte und die Unsicherheit – die wir bisher mit der Gesamtbevölkerung getragen hatten – sich nun auf uns allein herniederließ. Neu allerdings war die Notwendigkeit, mit dem Werk des Seel146
Aufbauen, abwickeln und trösten – gleichzeitig
Leo Trepp als junger Landesrabbiner in Oldenburg
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4. Kapitel: Rabbinat in Zeiten der Angst
sorgers ein weitgehendes Hilfswerk zu verbinden. Die Gemeinden befanden sich in großer Not, vielen Einzelnen gebrach es am Nötigsten. Er nimmt die Herausforderung an, oder vielleicht sollte man sagen, er spürt die Verantwortung und stellt sich ihr vom ersten Tag an. Denn wenn er noch Jahrzehnte später sagen wird: „Die Oldenburger Juden brauchten mich“ und damit seinen Verzicht auf die Großstadtgemeinde Berlin begründet, zeigt er zu dieser Zeit, wie ernst es ihm damit ist. Als er Mitte September den Dienst für die hohen Feiertage verrichtet, hat er bereits alle Gemeinden in seinem Landesrabbinat besucht. Und gleich zu Beginn erkennt er, dass er hier in völlig anderer Form als Rabbiner gebraucht wird, als er es am Seminar gelernt hat, dass sein akademisches Wissen zwar geschätzt werden mag, doch dass die Menschen sich zuallererst nach Halt sehnen. Dass er beraten und unterstützen und oft einfach zuhören und trösten muss. Er sagt: Das Amt wurde vor ganz neue Aufgaben gestellt: Als Rabbiner war es nun meine Aufgabe zu bauen und zu festigen und zugleich aufzulösen und zu liquidieren, das jüdische Leben zu erhalten und zu fördern und gleichzeitig Hilfe zur Auswanderung zu geben und oftmals den Hunger von der Tür zu scheuchen. Ich mußte Rat und Hilfe bringen und zur gleichen Zeit die bisherigen Amtsgeschäfte leiten. Ich mußte die Trauernden trösten, den Familien, deren Vater vielleicht im Konzentrationslager war, Hoffnung zusprechen. Gleichzeitig mußte ich mich um die Schulung der Kinder bemühen und die Erwachsenen bilden. Schon auf dem ersten seiner Besuche trifft er auf Viehhändler, deren Existenz längst vernichtet wäre, wenn sich nicht trotz strengster Mahnungen und Drohungen des Bauernführers einige Christen immer noch lieber auf die Juden als Partner verließen als auf deren arische Widersacher, die das Geschäft übernommen hatten: Mein erster Gemeindebesuch war in Varel bereits am 2. August. Die Menschen waren dankbar, ihr Herz ausschütten zu können. Man war geächtet und wurde verhöhnt, man bangte um die Lebenserhaltung. Es gab noch Bauern, die 148
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„ihren Viehjuden“ treu geblieben waren. Man kam bei Nacht und Nebel, um von jüdischen Händlern zu kaufen. Trotz aller Verleumdung der Juden durch die Nazis wußten die Bauern, daß sie hier ehrlich bedient wurden. Aber wie lange konnten sie dem Druck widerstehen? Das Leben der Juden wurde täglich unerträglicher. In allen Gemeinden hörte ich die gleichen Worte: „Helfen Sie uns, wir müssen auswandern, aber wohin? – Wovon sollen wir leben? Unsere Ersparnisse sind am Ende.“ Mein Mann muss schon damals auf eine Eigenschaft gesetzt haben, die er nie verloren hat. Wann immer er in unserer Zeit ein neues Projekt in Angriff nahm, ein Buchmanuskript, eine Vorlesung, eine Rede, setzte er sich hin und tat genau das: Er nahm es in Angriff. Er begann ganz einfach. „Setz dich hin und fang an zu schreiben. Irgendwas kommt immer raus, und während du schreibst, weißt du plötzlich, was du schreiben musst“, sagte er, wenn ich über Blockaden oder andere Schwierigkeiten lamentierte, die mich von der Arbeit abhielten. Es ist wohl diesem Pragmatismus und seiner Disziplin zu verdanken, dass er angesichts der Herausforderungen, die ihn überwältigt haben müssen, nicht resigniert, sondern ganz einfach anfängt. Verstand und Demut sagen ihm noch etwas: Er kann unmöglich alles allein machen. Um sich bei den Verwaltungsaufgaben zu entlasten, teilt er sich den Vorsitz des Landesausschusses mit dem Rechtsanwalt Ernst Löwenstein, der diesen Posten in der Übergangszeit ohnehin schon besetzte. Nicht nur können damit zwei Personen für die Juden im Oldenburger Land sprechen, bald wird sich herausstellen, dass es in Verhandlungen mit den Machthabern ratsam und praktisch ist, einen Rechtsanwalt neben sich zu haben. Am meisten aber macht Trepp die finanzielle Not zu schaffen. Die Mittel reichen hinten und vorne nicht. Sein eigenes Gehalt ist minimal. 1936 müssen dringend neue Lampen für die Synagoge in Oldenburg gekauft werden, das Geld für einen Anstrich jedoch, der ebenfalls unbedingt notwendig wäre, ist nicht mehr da. Also verhängen Trepp und einige Mitglieder die Wand, von der der Putz am stärksten abbröckelt, mit weißen Laken. Auf den neuen Ofen kann hingegen nicht verzichtet werden. Der alte ist zerbrochen, die Winter in Norddeutschland sind kalt, und während man früher noch Gottesdienste im Gemeindehaus halten 149
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Innenraum der Oldenburger Synagoge
und, wenn notwendig, zusätzliche Räume für Veranstaltungen in der Stadt mieten konnte, findet sich nun niemand mehr, der den Juden etwas überlassen würde. Die „schöne, kuppelüberspannte Synagoge in Jever“, wie Trepp sie beschreibt, wird wieder und wieder von christlichen Bürgern angegriffen. Sie zertrümmern die großen Fenster, sobald die Juden neue einsetzen. Irgendwann geben die auf und vernageln die leeren Löcher mit Holzlatten. Den Gottesdienst halten sie danach im Gemeindehaus. In Vechta hat die Gemeinde die Synagoge bereits vor Trepps Ankunft zu einer Wohnung umgebaut, in die ein armer Mann mit seiner Familie zieht, den kein Christ mehr aufnehmen will, nachdem ihm sein Vermieter wegen seiner jüdischen Religion gekündigt hat. Nur eine Fläche von rund sechs Quadratmetern behalten die wenigen Mitglieder, die es in dem Ort noch gibt, als Gottesraum, in dessen eine Ecke sie den Toraschrein stellen. Weil einige Familien bereits ausgewandert sind, bringen sie kein Minjan mehr zusammen. Doch, tiefreligiös, beten sie weiter als Gemeinschaft. Außerdem grübelt der neue Rabbiner, wie man die Auswanderungen bezahlen kann. Die wenigsten Familien haben in diesen Jahren noch aus150
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reichende eigene Reserven. Er zapft alle Stellen an, die nur irgendwie infrage kommen. In Wildeshausen ist die Not unter den wenigen verbliebenen Mitgliedern so groß, dass die Synagoge, die Samson Raphael Hirsch einst als besonders würdig bezeichnet hatte, verkauft werden muss, um den Menschen unter die Arme zu greifen und denjenigen, die ein Visum bekommen, die Emigration zu ermöglichen. Lakonisch schreibt Trepp: „In feierlichem Gottesdienst nahmen wir von diesem Gotteshaus für immer Abschied.“ Am Ende wird diese Synagoge neben der in Vechta die einzige sein, die der Mob in der Pogromnacht nicht in Flammen setzt. Wie alle Gemeinden verfügte Oldenburg stets über ein vorbildliches Netzwerk an Hilfseinrichtungen für bedürftige Mitglieder. Theoretisch gesehen gibt es die Organisationen noch, ihr Vermögen ist allerdings in den meisten Fällen aufgebraucht. Trepp ist es längst egal, zu welchem Zweck Stiftungen einst gegründet worden sind. Was immer da ist, muss helfen und wird genutzt. Eine Weile kann sich die Gemeinde unter anderem auf den B’nai B’rith verlassen, den im neunzehnten Jahrhundert als Bollwerk gegen Hass gegründeten Orden, der sich für die Aufklärung über das Judentum und für jüdische Erziehung einsetzt, und der Oldenburg, da die Juden dort keine eigene Loge haben, von Bremen aus bei Auswanderungen hilft. Anfang 1938 wird die Vereinigung von den Nationalsozialisten verboten. Auch auf die von der Vareler Familie Schwabe gegründete und einstmals reich ausgestattete Waisenstiftung kann Trepp nicht auf Dauer setzen. Im Juni 1938 bestimmt ein Erlass in Oldenburg, dass „jeder Versuch einer böswilligen Verminderung oder Verschleuderung des Stiftungskapitals nach Möglichkeit unterbunden“ werden solle. „Böswillig“ qua Nazidefinition ist die Verwendung des Geldes für jüdische Notlagen, wie Trepp in einem Bericht darüber anmerkt. In diesen Jahren muss sich der Rabbiner immer stärker auf die Reichsvertretung der Juden stützen. Die praktische Arbeit vor Ort erledigt Leo Trepp gemeinsam mit dem Preußischen Landesverband. Wie andere Organisationen auch hat der Landesverband sich der Reichsvertretung angeschlossen, die so, vertreten von ihrem Vorsitzenden Leo Baeck, mit einer Stimme für die deutschen Juden reden kann. Einmal im Monat kommt die Sozialarbeiterin, Fräulein Arnheim, wie es in diesen Jahren noch heißt, von Hamburg in 151
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die Stadt. Trepp hat zuvor für sie die wichtigsten Fälle aufgearbeitet und vorbereitet. Immer wieder erschüttern ihn absolute Vereinsamung und Armut. Juden, die fernab von Synagoge und Gemeinschaft leben, erfahren, dass die Nähe der Menschen in einem Dorf oder einer Kleinstadt zueinander, die früher Vertrautheit schuf, nun sicherstellt, dass wirklich keiner sich um sie kümmert. Jeder sieht alles, und jeder beobachtet jeden mit Argusaugen. Mit einer alten Frau, die auf sich allein gestellt am Rande eines Moors wohnt und dem Verhungern nahe ist, sitzt Trepp einfach nur zusammen und lässt sie reden, nachdem er ihr Lebensmittel gebracht hat. Von nun an gehört sie zu denen, die er und Fräulein Arnheim regelmäßig versorgen. Seelsorgerliche Hilfe wird an allen Ecken und Enden gebraucht. Und nie wird Leo Trepp dabei einen Unterschied machen zwischen seinen Mitgliedern und denen, die schon lange aus der Gemeinde ausgetreten sind. Sie sind alle Juden. Und sie brauchen ihn, sie brauchen den Rabbiner. Nach seinem ersten Gottesdienst in Oldenburg kommt ein junger Mann zu Trepp. Er hockt im Wohnzimmer auf einem Stuhl neben der Tür, den Kopf auf die Knie gedrückt, zusammengekrampft wie ein Fötus und schaukelt hin und her, die Arme umschlingen seinen Körper. Er bringt keinen Ton heraus. Nach fünf Minuten steht er auf und geht. Es ist Ivan Lazarus, das erste Opfer eines Konzentrationslagers, dem Trepp begegnet. Er wird, solange er noch in Deutschland ist, niemals über seine Zeit dort sprechen, auch nicht mit seinem Rabbiner, der ihm helfen will. Man habe ihn „sechs Wochen lang erzogen“, merkt Trepp bitter an. Drei Monate später, im Dezember 1936, beklagen die Juden ihr erstes Todesopfer. Ende September 1936 nimmt die Gestapo Franz Reyersbach fest, der ein Fahrradgeschäft besitzt, Mitglied der Demokratischen Partei ist und den Machthabern immer wieder durch unliebsame Kritik auffällt. Der Kaufmann hat die Gemeinde schon vor längerer Zeit verlassen, Trepp besucht ihn mehrere Male im Gefängnis. Er mag Reyersbach und schreibt über ihn: „Er war ein Mann von höchstem Intellekt. Freisinnig und selbstbewusst. Atheist, aber stolzer Kämpfer für Menschenrechte, der nie schweigen konnte, wenn er Unrecht sah.“ Kurz nach seinem letzten Besuch im Gefängnis sieht Trepp ihn die Straße entlanggehen: 152
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Ich lief auf ihn zu, freudig überrascht, ihn zu treffen. „Herr Reyersbach, Sie sind ja frei“, rief ich. Dann sah ich den Gestapomann an seiner Seite. Und erst jetzt fiel mir auf, daß er in der Hand ein winziges Päckchen hielt, so groß wie zwei Zigarettenschachteln. Und daß er ohne Mantel lief, es war zwar ein schöner sonniger Tag, doch es war schon Spätherbst und kühl. Sie waren auf dem Weg zum Bahnhof, um ihn ins Konzentrationslager zu bringen. „Sie können mit ihm sprechen“, sagte der Gestapomann, und ich segnete Herrn Reyersbach. Einige Wochen später bekam seine Familie ein Schreiben aus Oranienburg, für einen Betrag von zwanzig Mark könnten sie seine Asche haben. Er war an den Folgen der Folter gestorben. Ich bin dieses Bild nie losgeworden. Ohne Mantel, mit einem so schmalen Päckchen, daß höchstens ein Stück Seife und eine Zahnbürste drin sein konnten, machte Reyersbach den Eindruck eines gebrochenen Menschen. Reyersbach blieb nicht der einzige Jude, den Trepp im Gefängnis besuchen musste. Im folgenden Jahr häufen sich die Rassenschandeprozesse. Besonderes Aufsehen erregt der Fall des Kaufmanns Bruno Wallheimer, der in der Stadt ein Geschäft für Damenbekleidung führt und einer alten Oldenburger Familie entstammt. Der 38-Jährige lebt seit Jahren unverheiratet mit einer christlichen Partnerin. Nun sitzt er wegen Rassenschande im Gefängnis. Sein Geschäft muss er in dieser Zeit der Not an einen arischen Konkurrenten verkaufen. Trepp sieht ihn mehrmals im Zuchthaus und kommt, um ihn moralisch zu unterstützen, auch zum Gerichtsprozess. Wallheimers Freundin steht mit ganzem Herzen für ihn ein. Der Kaufmann habe sie niemals berührt, sagt sie vor den Richtern aus, es sei eine rein platonische Freundschaft gewesen. Die Kammer spricht Wallheimer frei. Vor dem Gerichtsgebäude wartet bereits ein Auto, das die beiden über die Grenze nach Holland bringen soll, bevor die Gestapo ihn unter neuem Vorwand wieder in die Hände bekommt. Trepp ist schon vorher von den Verteidigern geraten worden, nicht mehr in die letzte Verhandlung zu kommen, da im Falle eines Freispruchs mit Krawallen der Nationalsozialisten zu rechnen sei. Wallheimer heiratet seine Partnerin in Holland. Dort wird er gefangengenommen und 1942 im Konzentrationslager Mauthausen ermordet. Andere Juden, deren Prozesse Trepp verfolgt, werden zu Zuchthausstrafen verurteilt und spä153
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ter umgebracht. Wochenlang wird ihm der junge Mann im Kopf bleiben, der zu achtzehn Monaten Zuchthaus verurteilt wird, weil er mit einer Christin geschlafen hat. Trepp besucht ihn. „Das Gericht wollte meine Untersuchungshaft anrechnen“, sagt der Junge, „hat es aber nicht getan. Bitte helfen Sie mir, das durchzusetzen.“ Nach seinen Erfahrungen weiß Trepp nun, dass die Gestapo bei der Entlassung auf den Mann warten und ihn sofort ins Konzentrationslager bringen wird. Das nicht angerechnete halbe Jahr Haft bedeutet weitere sechs Monate Leben für seinen Schützling. Das kann er ihm natürlich nicht sagen. Stattdessen sagt er: „Tut mir leid, wenn die Richter so entschieden haben, kann ich nichts für Sie tun.“ Enttäuschung und Verletztheit stehen im Gesicht des Mannes, als Trepp sich verabschiedet. „Er hat gedacht, ‚jetzt hat selbst mein Rabbiner mich verlassen‘“, erzählte mein Mann. „Es schmerzte mich, und doch musste ich so handeln. Als er entlassen wurde, kam es genauso, wie ich gedacht hatte. Er starb kurz darauf im Lager.“ Eine junge Frau aus der Gemeinde, schwanger von einem Christen, kann Trepp nach Holland rüberbringen, bevor die Gestapo eine Abtreibung an ihr vornehmen und sie sterilisieren lässt, wie er es gerade in einem anderen Fall gesehen hat, in dem die Beamten die Frau nach dieser Tortur spurlos verschwinden lassen. Das Belastendste ist wohl die Willkür. Bei nichts können sich die Juden sicher sein, selbst hinsichtlich der Diskriminierung gegen sie nicht. Sie wissen nicht, ob es nicht schon wieder ein neues Dekret gibt, eine neue Verordnung, die ihnen ein weiteres Stück Freiheit und Leben abschneidet. Tatsächlich gibt es schon seit 1935 ein Gesetz, das die Bestrafung von Taten zulässt, auch wenn diese sich nicht im Strafgesetzbuch finden, und zwar dann, wenn sie „nach dem Grundgedanken eines Strafgesetzes und nach gesundem Volksempfinden Strafe verdienen“. Wie schon im Studium sieht Trepp die Situation als ein Austarieren an, mit dem die Nationalsozialisten sehen wollen, wie weit sie gehen können. Damit, dass die Juden systematisch aus der Gesellschaft verdrängt und ausgestoßen werden, haben die anderen Bürger keine Probleme. Berlin kann den nächsten Schritt gehen. Es gibt kaum einen Ort, an dem die Juden nicht beobachtet werden. Wenn Trepp sich mit anderen in der Wohnung unterhält, legt er ein Kissen über das Telefon. Es könnte ein Mikrofon eingebaut sein. Immerhin, sagt er, habe er noch ein Telefon ge154
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habt, viele hatten bereits keines mehr. Trepp beschreibt die Atmosphäre des schonungslosen und brutalen Agierens, indem er sagt, eigentlich sei eben dieses Beschreiben unmöglich. Die Schwierigkeiten in einer Berichterstattung über diese Zeit liegen darin, daß der Gesamteffekt gar nicht zu schildern ist. Ein Jude wußte niemals, ob selbst seine unschuldigste Handlung vielleicht nicht schon durch Geheimgesetz strafbar war. Er wußte nicht, was der Morgen bringen, er wußte nicht einmal, ob ihn während der Nacht die Gestapo nicht vielleicht abholen würde. Jedes Wort mußte gewogen, selbst Gedanken unterdrückt werden, damit sie nicht doch vielleicht zum Durchbruch kämen. Auf der Straße war jeder Gruß an den Christen versagt, nicht nur, weil sich der frühere Freund gewandelt haben mochte, sondern gerade, weil man den wirklichen Freund nicht durch einen Gruß in Schwierigkeiten bringen wollte. Nur die mutigsten Ärzte behandelten noch Juden. Keiner von ihnen kann mehr ins Theater gehen, in ein Schwimmbad, in eine Gastwirtschaft. Das zentrale Café am Platz hat den Juden, die es als Dauergäste oft und gern besuchten, im vorauseilenden Gehorsam schon Hausverbot erteilt, als es offiziell noch gar nicht angeordnet war. Nicht einmal auf einen Spaziergang traut man sich. Parks sind ohnehin tabu. Und die Behörden stellen sicher, dass Juden es sogar nicht mehr wagen, sich in der freien Natur aufzuhalten. „Hunde und Juden haben keinen Zutritt“ prangt in großen Buchstaben auf dem Transparent, das am Eingang des Bloher Forstes weht, einem beliebten Wald- und Ausflugsgebiet. Den wachsamen Blicken der Oldenburger entgeht nichts. Einmal geht Trepp ins Theater, es ist noch nicht offiziell verboten, – das heißt, weil niemand mehr den Überblick hat, was Juden gerade dürfen, ist er sich auch darüber nicht einmal sicher. Doch jemand sagt ihm: „Ich habe Sie gesehen, kommen Sie nicht mehr, Sie bringen nur alle in Gefahr“, und er hält sich daran. Einige Male geht er noch an einer versteckten Stelle in der Hunte schwimmen und einmal durch das Waldgebiet Eversten Holz, dann will er auch das nicht mehr riskieren. „Die Atmosphäre wurde erdrückend. Das ganze Leben war Furcht, Angst und stetige Erwartung einer Aktion in der Nacht“, schreibt er. Zu dem Zahnarzt, der 155
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ihn noch behandelt, geht er nur, wenn es dunkel ist. Jede unbedachte Handlung konnte Gefängnis bedeuten oder Konzentrationslager. Selbst einer Flagge zu begegnen, war nun gefährlich. „Kam eine Fahne die Straße herunter, so musste der Jude fliehen, denn als Jude durfte er sie nicht grüßen, und der Nichtgruß war strafbar.“ In Trepps Gottesdiensten sitzt die Gestapo. Die Fremden kommen stets zu zweit, um einen Zeugen zu haben, sitzen ohne Kippa in der letzten Reihe und kritzeln in ihre Notizbücher, wenn sie denken, dass Trepp etwas Falsches, etwas Kritisches sagt. Also predigt er in Bildern, von denen er weiß, dass seine Gemeinde sie versteht und die Nazis sie im Zweifelsfall nicht erschließen können. Wenn er seinen Zuhörern etwas mitteilen will, spricht er über irrelevante Geschehnisse in der Vergangenheit, die nur Bedeutung bekommen, wenn man sie in die Gegenwart transferiert. Er hat sich an diese Technik bald gewöhnt, und sie funktioniert. In seiner ersten Predigt in Wilhelmshaven aber ergreift ihn die Panik. Denn die Gestapomänner hören nicht auf zu schreiben. Wort für Wort halten sie fest. Irgendetwas muss vollkommen aus dem Ruder laufen. Wo ist sein Fehler? Was sagt er, das ihnen so aufstößt? Was soll er tun? Er kann nicht aufhören zu sprechen, das würde ihn noch verdächtiger machen. Nach dem Gottesdienst erzählen ihm Gemeindemitglieder, dass die zwei Dauergäste in Wilhelmshaven grundsätzlich alles aufschreiben. Oft sehnt sich Leo Trepp nach etwas wie Entspannung. Und wenn es auch nie mehr Zeiten gibt, in denen er sich fühlt, wie er es als Kind und Jugendlicher oft getan hat – geborgen und sicher –, so findet er selbst in diesen Monaten, in denen die Bedrohung täglich wächst, ein paar Momente, in denen er sich gehen lässt, in denen er wieder zum Leo Trepp wird, der in Oberlauringen Kirschen klaute, der sich Geschichten für seinen Bruder ausdachte, wenn der mit Halsschmerzen im Bett lag, und der sich mitten aufs Parkett stellte, um eine ganze Hochzeitsgesellschaft zu unterhalten. Manchmal geht er zu Selma in die Küche und beglückt sie mit dem ironischen, trockenen Humor, mit dem er schon seinen Vater zum Lachen brachte. Am meisten begeistern die Haushälterin seine Trauerreden. Sie kann nicht genug davon bekommen, und der junge Rabbiner bietet ihr verschiedene Variationen. Trepp setzt sich auf die Kante des Küchentisches und beklagt ihren Tod, während sie am Herd steht, 156
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die Arme unter ihrer Schürze verschränkt und ihn erwartungsvoll anstrahlt. „Wir trauern heute um Selma Jung“, sagt er, „die uns viel zu früh verlassen hat. Sie war ein wunderbarer Mensch und eine phantastische Köchin.“ Es folgt eine Auflistung ihrer kulinarischen Fertigkeiten, „nicht vergessen werden sollen ihre Knödel, die ein Gedicht waren, und ihr Huhn, das auf der Zunge zerging, so zart war das Fleisch“, daneben ihre Erfolge in der jüdischen Erziehung der Kinder. „Ihr entging es nicht, wenn der Sohn ihres Arbeitgebers seinen religiösen Pflichten nicht nachkam. Sofort erstattete sie dem Rabbiner Bericht: ‚Dr. de Haas, der Joe hat schon wieder seine Tefillin nicht gelegt.’ Wir mögen uns nicht ausdenken, wo Joe heute ohne Selma wäre.“ Die Liebe ist beidseitig. Nie wird die streng katholische Selma Jung nur eine Minute zweifeln, wo ihre Loyalität liegt. Als die Familie in der Pogromnacht abgeholt wird, will sie partout mit in die Haft marschieren. Natürlich will die SA sie nicht mitnehmen. Um den Verantwortlichen in der Truppe, der gleichzeitig einer der führenden Nazis der Stadt ist, umzustimmen, will sie ihm mit einem Titel schmeicheln und öffnet den Mund, um zu sagen, „Bitte erlauben Sie es doch, Herr Obergauleiter.“ Heraus rutscht: „Bitte, Herr Obergauner.“ Trepp macht ihr klar, dass sie zu Hause mehr ausrichten kann. Beruhigt hat sie sich bei der Verabschiedung dennoch nicht. Nach dem Krieg ist sie einer der ersten Menschen, denen er bei seiner Rückkehr nach Oldenburg seine Tochter vorstellt. Die beiden nehmen sich auf Anhieb in den Arm, ohne dass die eine die Sprache der anderen beherrscht.
„Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck“ Seine Gemeinde braucht zu dem Terror ein Gegengewicht. Trepp beginnt, kulturelle Veranstaltungen zu organisieren. Über den jüdischen Kulturbund, der mittlerweile ein Netzwerk über das ganze Reich aufgebaut hat, in dem so viele arbeitslose jüdische Künstler beschäftigt werden wie möglich, lädt er Sänger ein, Orchester und andere Kulturschaffende. Er organisiert Filmabende, Vorträge und Lesungen. In seiner 157
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rabbinischen Arbeit konzentriert er sich darauf, „das Wesen und Wissen des Judentums zu stärken“, wie er schreibt. „Kurse für Erwachsene in Bibel, Talmud und jüdischer Geschichte, Literatur und Gesetz wurden regelmäßig abgehalten. Die Predigt diente dem Zwecke, Belehrung mit Ermutigung zu verbinden.“ Was konnte es zu der Zeit noch bedeuten, Tora zu lernen? Gottes Wort zu hören? Wie entscheidend konnte religiöser Zuspruch sein? Allesentscheidend, sagt Trepp. Seine Gemeindemitglieder sollen nicht nur lernen um des Lernens und Wissens willen. Das Wissen, das Bewusstsein ihrer jüdischen Lehre und Kultur sollen ihnen helfen, Selbstachtung und Selbstliebe zu erhalten und zu stärken. Trepp lässt der Abschied von Franz Reyersbach auch deshalb nicht los, weil der mit dem Austritt aus der Gemeinde etwas abgelehnt und weggestoßen hat, das ihm aus Sicht des Rabbiners in einer Situation des Elends Kraft hätte geben können. Seine Gedanken über den Ermordeten beendet er mit der Bemerkung: Wäre er nicht Jude gewesen, hätte er trotz seines Verhaltens vielleicht überlebt. Die Tragik des Geschehens lag darin, daß er als Jude starb, ohne sich erlaubt zu haben, aus den Quellen jüdischen Seins und jüdischer Lehre die Kraft und den Stolz zum Martyrium zu schöpfen. Man kann das für anmaßend halten oder aber für etwas, das man von einem Rabbiner nun einmal erwarten muss. Und doch zeigen seine Worte über Franz Reyersbach Traurigkeit, wenn nicht Trauer. Nun, in den Jahren der Verfolgung und Bedrohung, zeigt sich für Trepp, dass die Vision von Hirsch nur ein Traum war. Dass es keine Sympathie oder gar Gegenliebe erzeugt hat, wenn neo-orthodoxe Juden wie er und sein Vater als „Israelmensch“, als sich zu ihrer Religion bekennende und deren Ethik lebende Juden auf die anderen zugegangen sind, sich für aller Wohlergehen und das Gedeihen des Landes eingesetzt haben. Er sieht aber auch, dass die ausschließliche Fokussierung vieler Juden auf die Heimat, ihr alleiniges Bekenntnis zum Deutschsein, auf der nichtjüdischen Seite genauso wenig bewirkt hat. Diese Juden haben jetzt nichts mehr. Nicht länger sollen sie, dem Regime und den Mitbürgern zufolge, Deutsche 158
„Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck“
sein dürfen, und vom Jüdischen haben sie sich selbst verabschiedet. Für diese Menschen fühlt er. So drücken seine Worte über Reyersbach vor allem das aus, was Gershom Scholem „Ahavath Israel“ nannte, die Liebe für das jüdische Volk. Scholem schrieb in den sechziger Jahren darüber in einem Brief an Hannah Arendt, der er vorwarf, dass sie, wie so viele Intellektuelle aus Deutschland, keine Spur dieser Liebe in sich trage. Für Arendt symbolisierte eine prioritäre Loyalität zu den Juden einen Fokus auf das Nationale, auf eine religiöse Verbundenheit, die eine Verbindung aus einem gemeinsam angestrebten Kampf für das Gute ausschloss. Für Scholem ist es, besonders nach der Schoah, eine Frage der Solidarität. Leo Trepp ist durch und durch geprägt von dieser Solidarität zu den jüdischen Menschen und von einem tiefen Verständnis für die jüdische Lehre und für die Geschichte des Volkes, auf dem seine Liebe für das Judentum und für die Juden gründet. Als er Jahrzehnte später sein Buch über die Oldenburger Juden schreibt, spricht er mit Wehmut von den Austritten in der Kaiserzeit und selbst in der Weimarer Republik. Nicht nur, weil er als Rabbiner ein natürliches Interesse an einer gesunden und überlebensfähigen Gemeinde hat, sondern vor allem, weil, als eben diese Gemeinde nicht mehr überlebensfähig scheint und die Menschen zu zweifeln beginnen, ob denn ihnen selbst das Leben erhalten bleiben wird, die Juden, die ausgetreten und nun ohne geistliche Heimat sind, ihn dauern. Er fühlt für sie, weil sie in seinen Augen nicht nur ihre Heimat im Sinne von Gemeinschaft verlassen, sondern weil sie ihre Identität für etwas aufgegeben und weggegeben haben, das es nicht wert ist. Doch obgleich er die Austritte am Ende bedauert, versucht er sie zu verstehen und zu erklären: Äußerer Druck der Gesellschaft kann zu einer inneren Vereinigung der bedrückten Gruppe führen; sehr oft bewirkt er jedoch das Gegenteil, vor allem dann, wenn ein Ausweg für die Bedrückten gegeben ist. Die minderbewertete Gruppe nimmt dann das Urteil der Außenwelt an und sieht sich selbst gemäß der Bewertung ihrer Gegner. Hirsch hatte das erkannt und hatte gehofft, der Druck werde weichen: „Man wird dich ehren, nicht obgleich du Jude bist, sondern weil du es bist, wenn du deiner Aufgabe lebst, Menschheitspriester zu sein.“ Nun war es einmal zuviel verlangt, von den Juden zu erwarten, daß 159
4. Kapitel: Rabbinat in Zeiten der Angst
sie ihr ganzes Sein solchem Priestertum widmeten. Sie waren Durchschnittsmenschen und wollten nichts als solche sein. Die Jahrzehnte hatten kaum eine gesellschaftlich höhere Bewertung des Judentums gebracht. Für viele Juden wurde das Urteil der Umwelt zum Maßstab ihres Lebens, wobei hinzuzufügen ist, daß sie nach Ämtern und gesellschaftlichen Positionen strebten, die ihnen verschlossen waren, solange sie in ihrem Glauben verharrten. Das von Trepp angesprochene Problem war alt und ihm wohlbekannt, wenn es sich auch stets verstärkte, sobald sich der Antisemitismus verschlimmerte. Seit Moses Mendelssohn hatten Juden begonnen, sich selbst und ihre Kultur mit den Augen der anderen zu sehen. Für viele jüdische Denker, die Mendelssohn folgten, war das eine gefährliche und unhaltbare Position. Nicht zuletzt Hirsch greift sie vehement an. Wie wir in seinem späteren Leben sehen werden, sieht Trepp die Hürden für ein besseres, ein positives Verständnis nicht nur auf Seiten der jüdischen Gemeinschaft, der Laien, unter denen ja viele nach einer Ethik und Lebensphilosophie suchen, nach einer Grundlage für ein erfülltes Leben, und in der viele es dann im Buddhismus finden oder in der Welt des Intellekts. Nein, das Versagen, das Nichtvermögen, wird er später sagen, liegt auch bei uns, bei den Rabbinern, den Gelehrten, die es nicht verstehen, den Juden die Schönheit und Tiefe ihrer eigenen Religion, ihrer eigenen Ethik, ihrer eigenen Werte nahezubringen. Und obgleich es ihn schmerzt zu sehen, dass sich Juden vom Judentum abwenden oder schon lange abgewandt haben, wird er rund zehn Jahre später, in einem seiner ersten Aufsätze in den USA um Verständnis für die deutschen Juden werben, die von den amerikanischen Juden manchmal beinahe verachtet werden, auf die runtergeschaut wird, weil sie deutscher gewesen seien als jüdisch, und weil sie selbst unter den Nationalsozialisten noch lange auf ihr Deutschsein gepocht hätten. Kurz, weil sie schlechte Juden gewesen seien. Mit Zuneigung und Empathie versucht Trepp zu erklären, warum es sich gerade in Deutschland so entwickelt habe. Die Juden hätten, anders als im Osten, als Nachbarn der Christen gelebt, und seien dennoch immer wieder umgeben gewesen von Antisemitismus auf jeder Ebene, in jedem Bereich; sich ihrer selbst unsicher und doch, erzogen im liberalen Geist Lessings, stets darauf hof160
„Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck“
fend, „am Ende vollkommen gleichberechtigt zu sein. Und in der Zwischenzeit wollten sie den Verleumdern nicht auch nur einen Grund geben, den diese für ihre Argumentation gegen sie benutzen könnten“. Mit Klarsicht beschreibt Trepp die anhaltende Liebe der Juden, selbst noch in den Anfangsjahren der nationalsozialistischen Regierung, für ein Land, das es so vielleicht nie gegeben habe. „Sie malten für sich das idealisierte Bild eines liberalen Deutschlands, mit dem sie sich identifizierten.“ Was auch immer in dieses verklärte Bild nicht hineingepasst habe, sei von ihnen als ‚undeutsch‘ oder nicht wirklich deutsch deklariert worden. Doch obwohl sich die deutschen Juden vollständig integriert hätten und ihre zwei Kulturen, die jüdische und die deutsche, „sich ergänzten und befruchteten“, sei die Mehrheit nicht assimiliert gewesen, sondern habe ihre eigene Identität bewahrt. Die Gesamtheit der deutschen Juden nach dem Verhalten der Assimilierten zu beurteilen, die zwar lautstark aufgetreten, aber nicht repräsentativ gewesen seien, tue der Gemeinschaft unrecht, schreibt Trepp. Und dennoch waren es am Anfang der dreißiger Jahre nur Vereinzelte, die sich wirklich auf ihr Jüdischsein zurückzogen und aus ihm Stärke zu gewinnen suchten. Einer der wenigen, die schnell diesen Weg einschlugen und dazu aufriefen, sich zum Judentum und dessen Größe und Werten zu bekennen, war der Chefredakteur der Jüdischen Rundschau in Berlin, Robert Weltsch, der als Reaktion auf den Boykott im April 1933 seinen berühmten Leitartikel schrieb, in dem er die Juden, damals noch im übertragenen Sinne, aufforderte: „Tragt ihn mit Stolz, den gelben Fleck.“ Mittlerweile aber ist das die Haltung vieler Juden. Von den Assimilierten werden später manche sagen, die Nationalsozialisten hätten sie zu Juden gemacht. Andere betonen nun lediglich die eine Seite ihrer Identität stärker als die andere. Zumindest sind die Synagogen gefüllt, die Veranstaltungen des Kulturbundes begehrt. Selbst in einer Zeit, in der sie noch in öffentliche Häuser hätten gehen können, bevorzugen viele Juden dessen Theaterstücke oder Vorträge, die sich oft mit jüdischen Themen auseinandersetzen und die laut den Machthabern von „Ariern“ nicht besucht werden dürfen. Und auch die Reichtsvertretung setzt darauf, den jüdischen Teil der deutsch-jüdischen Identität zu stärken, obwohl, wie Leo Baeck 1933 sagt, die Juden immer noch hoffen, „dass wir in Ruhe 161
4. Kapitel: Rabbinat in Zeiten der Angst
auch unser Verhältnis zu den neuen Herren in Deutschland aufrichtig werden gestalten können.“ Für den jungen Rabbiner Leo Trepp gibt es nur einen Weg für die Juden, sich ihre innere Freiheit und Würde zu bewahren: Sie müssen sich stolz zu ihrem Judentum bekennen. „Sch’ma Israel, Adonai elohenu, adonai echat“, „Höre Israel, der Ewige ist Gott, der Ewige ist einzig.“ Das Gebet am Abend und am Morgen muss viel mehr werden als ihr Bekenntnis zu ihrem Gott. Es muss ihnen jedes Mal, wenn sie es sagen, bewusst machen, dass sie, dass die Juden der Menschheit den Monotheismus geschenkt haben, eine Ethik, auf der alles gründet. Eine Moral, die andere nun zurückstoßen mögen, auf deren Fundament sie aber dennoch ihre eigene Kultur des Christentums aufgebaut haben. Ihnen soll bewusst sein, dass, als der Jude Jesus zur Nächstenliebe aufrief, sein Volk dieses Gebot schon seit Tausenden von Jahren befolgte. Seine Gemeindemitglieder sollen verinnerlichen, dass, wenn die Nazis brüllen: „Kauft nicht bei Juden“, wenn sie als „Saujuden“ ausgestoßen und gedemütigt werden, niemand das Versprechen antasten kann, das Gott ihnen am Berg Sinai gab. Dass dieser Gott, ihr Gott, sie nicht nur aus der Sklaverei in Ägypten befreit, sondern dass er ihnen durch Struktur und Gebote und die Verpflichtung auf den einen Gott ein Gerüst nicht nur der äußeren, sondern vor allem der inneren Freiheit gegeben hat, das ihnen niemand nehmen kann. Trepp kann sich nur für diesen Weg entscheiden, er muss sich für ihn entscheiden. Nicht nur, weil seine Erziehung und vor allem sein Vater ihn geprägt haben. Oder weil er seine tiefe Liebe zum Judentum als Rabbiner teilen will und sollte. Er tut es, weil er spürt, dass er, als Rabbiner und als Jude, der dazu in der Lage ist, es seiner Gemeinde schuldet. Denn wenn er auch manchmal mit Gott hadern wird, verliert er nie das Wissen um die Stärke, die von ihm ausgeht, und von dem Bewusstsein der Gegenwart Gottes. Er weiß um die Sicherheit, die es dem Menschen gibt, wenn der ganz einfach davon ausgehen kann, dass dieser Gott ist, dass der jüdische Gott ist und dass der ihm ergebene Mensch in jeder Situation tun wird, was jüdische Gesetze und Werte gebieten, dass er einen inneren Kompass hat, der ihm das Rückgrat stärkt und den Geist. Er muss dieses Wissen weitergeben, es drängt ihn, seiner Gemeinde diesen Halt, diese 162
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Kraft zu vermitteln, die ihn selbst hält. Wenn wir uns später darüber unterhalten, erinnert mein Mann daran, dass dieses Bewusstsein in der Zeit der Verfolgung Hunderttausende gestärkt habe. Er erinnert daran, dass die Juden selbst in den Lagern noch Gottesdienste hielten, provisorisch und geheim, und sogar B’nai Mitzwa. Er erinnert an Onkel Abraham, der, als die Gestapo ihn in Holland abführt, nach Tallit und Tefillin greift und sagt: „Ihr könnt mir alles nehmen, dies aber nicht“, und der in Theresienstadt bis zu seinem Abtransport nach Auschwitz die Kinder in Tora unterrichtet. Und er erzählt von Leo Baeck, den er in seiner Zeit in Berlin kennengelernt, mit dem er zusammengearbeitet hat, den er bewundert und der im Lager ein Werk über das Judentum zu denken und zu schreiben beginnt, der in Theresienstadt Vorträge hält und bis zuletzt lehrt. Und damit tröstet. Trepps Gemeinde nimmt seine Angebote an. Gottesdienste wie auch Veranstaltungen des Kulturbundes sind stets gut besucht. Natürlich kommen die Juden, wie überall im Reich, auch deshalb, weil sie sich sehen, weil sie mit anderen reden, weil sie Gemeinschaft haben wollen, sie kommen, weil sie ebenso hungrig sind nach intellektueller Stimulation wie nach menschlichem Zusammensein. Doch ebenso fühlen sich die Oldenburger Juden von den stets klaren Worten ihres Rabbiners und seiner warmen, direkten Art angesprochen. Als er 1938 nach der Entlassung aus dem Konzentrationslager emigrieren muss, schreibt ihm der Landesausschuss nicht nur ein Zeugnis. Es ist eine Liebeserklärung an einen Mann, dem es durch sein Talent, für das er „weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt ist“, gelungen sei, „das religiöse Leben trotz der ungünstigen Verhältnisse nicht nur zu erhalten, sondern wesentlich zu vertiefen und zu erweitern.“ Und der in seiner Tätigkeit durch seelsorgerliches Einfühlungsvermögen und organisatorisches Geschick „die immer größer werdende Not der Einzelnen und der Gemeinden so eindämmte, das noch eine Lebensmöglichkeit bestand.“ Selbst Jahrzehnte danach haben die Menschen das nicht vergessen. Es ist Simchat Tora in unserer Synagoge in San Francisco, wir haben eine Tora ausgerollt und halten sie, Hunderte von uns, in den Händen. Mein Mann sitzt vorne und spricht in wenigen Worten über die Bedeutung dieses Festes, an dem man die Tora zu Ende liest und gleich wieder von vorne anfängt. Kaum hat er ge163
4. Kapitel: Rabbinat in Zeiten der Angst
endet, kommt ein schlanker, weißhaariger, ungefähr fünfundsiebzigjähriger Mann auf uns zu: „Diese Stimme hat mich schon als Kind fasziniert und getröstet“, sagt er. Es ist ein Junge aus Oldenburg. Andere Menschen drängen sich um meinen Mann. Der Fremde muss gehen. Seine Kinder warten auf ihn. Er hat keine Karte, ich gebe ihm unsere, und er verspricht zu schreiben. Wir warten tagelang. Doch es bleibt eine kurze Reminiszenz. Der Oldenburger meldet sich nie mehr. Und mein Mann weiß beim besten Willen nicht, wer er war.
Eine Schule für die Juden Der Besucher, der leider nicht wieder auftauchte, hätte sicher einiges erzählen können. Denn in Trepps Oldenburger Jahren, so belastend sie für die Erwachsenen sein mögen, sind es die Kinder in seiner Gemeinde, die am meisten leiden. Sie verstehen noch nicht. Sie verstehen nicht, warum ihre Freunde nicht mehr mit ihnen spielen, sie verstehen nicht, warum die anderen in der Schule sie plötzlich hänseln, demütigen und quälen; Schüler wie Lehrer. Im Unterricht lernen sie über „die Laster und Rassenverdorbenheit der Juden“. Schon 1935 verbietet ihnen die Oldenburger Regierung während einer Schönwetterphase das Baden. An einer Feier des Muttertages müssen sie teilnehmen, dürfen aber nicht mitsingen, weil, wie Dieter Goertz zitiert, sie laut einer Lehrerin zwar eine Mutter hätten, nur sei die nun einmal „eine jüdische Mutter.“ Die frühere jüdische Schülerin Margot Rozema, damals noch Tahl, erzählt Jahre später dem Oldenburger Farschid Zahedi davon, der mit bewundernswerter Hartnäckigkeit die Arisierungen in der Stadt aufgearbeitet hat – gegen oft erbitterten Widerstand mancher Einrichtungen und Privatmenschen. „Wir mussten mal einen Aufsatz machen, der hieß ‚Was der Schmarotzer in der Pflanzenwelt ist, das ist der Jude unter den Menschen’. Das war der Titel ... Ich konnte gut Aufsätze machen. Das lag mir, mochte ich gern. Das habe ich getan. Ich habe ja damals noch nicht gewusst, warum ich das nicht hätte tun sollen. Da habe ich eine gute Note bekommen. Dann ist dieser Ernst, der hatte selbst eine schlechte Note, da ist er aufgestanden und hat den Lehrer vorne 164
Eine Schule für die Juden
angesprochen. ‚Warum kriegt Margot Tahl eine Eins und ich nur eine Drei?‘ Der Herr Rektor, das war einer, der Angst hatte, der hat meine Note dann verändert.“ Das sind Vorstufen zu dem, was Leo Trepp nach seinen Erfahrungen im Konzentrationslager als gezieltes Vorhaben bezeichnen wird: „Bevor sie uns töteten, wollten sie den Juden ihr Menschsein nehmen.“ Trepp hört Dutzende solcher Geschichten und weiß nur eines: Die Kinder müssen raus aus diesen Schulen. Ironischerweise hat er das Recht auf seiner Seite. Denn schon seit den Nürnberger Rassegesetzen vom September 1935 hat Berlin gesonderte Schulen für die Juden vorgesehen. Noch kann es sich der Staat dem Ausland gegenüber nicht leisten, die jüdischen Kinder gar nicht mehr zu unterrichten und ihre Schulpflicht aufzuheben, worauf es aus Trepps Sicht bereits zu dieser Zeit hinausläuft. Hitler will die Fassade aufrechterhalten. Die Welt soll glauben, dass er die Juden zwar aus der deutschen Volksgemeinschaft ausschließen, ihnen aber selbstverständlich ihr eigenes Kultur- und Erziehungssystem belassen wolle. Schon zwei Tage nach Erlass der Rassegesetze plant die Oldenburger Regierung „im Geheimen bereits die Errichung jüdischer Rasseschulen“, wie Trepp später herausfindet. Der Plan wird nicht verwirklicht. Stattdessen bemühen sich die Beamten zunächst, von nun an möglichst wenige jüdische Schüler in den einzelnen Klassen zu haben, wie es im November 1935 die Oldenburger Nachrichten verkünden. Der „rassenfremde jüdische Schüler“ bilde in der Klassengemeinschaft einen Fremdkörper, dessen Dasein „die notwendige, in der Rasse begründete Übereinstimmung zwischen Lehrer, Lehrstoff und Schüler unmöglich“ mache. Noch vor Trepps Ankunft in der Stadt verkündet Oldenburg dann, dass Ostern 1936 „Judenschulen“ eingerichtet würden. Doch auch dazu kommt es nicht. Erst 1937 ergeht ein offizieller Erlass an die Schulträger, eine „gesonderte Beschulung“ einzuführen. Zu dieser Zeit wird an Trepps Schule bereits unterrichtet. Der ahnt weder von dem Geheimerlass, noch weiß er, dass die Regierung die jüdischen Kinder bereits durchgezählt und in Volljuden, Halbjuden und Vierteljuden eingeteilt hat. Er weiß nur, dass die Kleinen in eine Umgebung gehören, in der sie wieder frei atmen können. Die Schule sei, wie er schreibt, „ein unumgängliches Lebensgebot“, denn die jetzige Si165
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tuation werde zur „seelischen Verkrüppelung der Kinder“ führen. Ganz schlimm ist es in den kleinen Landgemeinden, in denen sie, weil sie nur wenige sind, völlig vereinsamen. Die Schule muss also in Oldenburg stehen. Dem Rabbiner gelingt es ziemlich schnell, den Landesverband zu überzeugen, der ihm das Mandat, mit der Politik zu verhandeln, gibt, und das Versprechen, die Kosten zu übernehmen. Schwieriger werden die Gespräche mit den Eltern. Trepp schreibt: Die Juden wollten mit aller Kraft die Verbindung zur Gesamtwelt aufrechterhalten. Ihre Kinder in der Volksschule waren für viele das einzige noch bestehende Band zur Umwelt. Sie wollten es nicht zerreißen. Es gelang, die Eltern schließlich zu überzeugen, daß sie keine Wahl mehr hatten und daß das Wohl der Kinder auf dem Spiel stand. Trepp sieht ein, dass eine weitere Befürchtung der Eltern auf dem Land durchaus berechtigt ist. Wie sollen ihre Kinder die Zugfahrten sicher überstehen? Ihm gelingt es, Oldenburger Familien zu finden, die die Kinder während der Woche aufnehmen. Ein weiteres Opfer für deren Eltern, denen ihre Kinder „die einzige Lebensstütze und der einzige Trost in schwerer Zeit sind“, wie Trepp sagt. Ende Januar 1937 dann beauftragt ihn der Landesgemeinderat, das Gesuch bei der Regierung einzureichen, „die Errichtung einer jüdischen Bezirksvolksschule durch die Stadt Oldenburg zu veranlassen“. Um auf Nummer sicher zu gehen, läuft er zum Ministerium und übergibt den Brief persönlich. Ihm ist vor allem wichtig, die Regierung dazu zu bringen, eine Konfessionsschule, keine Rassenschule einzuführen. „Als Jude konnte man das Rassenprinzip der Nationalsozialisten in keiner Weise anerkennen.“ Sein Antrag stützt sich auf ein Gesetz noch aus der Kaiserzeit, nach dem bei mehr als 25 Schülern eine konfessionelle Minderheitenschule einzurichten sei, wenn dadurch eine Verbesserung des Schulwesens erzielt werde. „Dabei dachten wir allerdings an eine Verbesserung für die jüdischen Kinder und der Minister für die arischen Kinder“, merkt Trepp trocken an. Jüdische Volksschulen, in denen die Kinder neben den anderen Fächern auch Hebräisch und Judentum lernten, hatte es immer gegeben. Trepp hatte ja selbst die Bondischule in Mainz besucht und hat später, 166
Eine Schule für die Juden
in den Vereinigten Staaten, die ausgezeichnete jüdische Bildung vieler Juden in Deutschland, egal, ob orthodox oder reformiert, auf dieses Bildungssystem mit speziell dafür ausgebildeten Lehrern zurückgeführt. Und wie „exzellent“, so wird er schreiben, das Curriculum des Würzburger Lehrerseminars war, an dem die Lehrkräfte studierten, hatte er in seinen Nachhilfestunden mit Gustav gesehen. Doch wie kann er jetzt noch mit dem Wert einer guten jüdischen Erziehung argumentieren? Vor Nationalsozialisten? Er versucht es. Und überraschenderweise kommen die Sperrklötze nicht aus der Hauptstadt, von wo er sie erwartete. Ein immer noch gültiger Erlass aus Berlin zu dieser Zeit besagt, dass es keine Bedenken gegen die Errichtung jüdischer Schulen durch politische Gemeinden gebe. Der Widerstand kommt von der Stadt Oldenburg, die sich vehement dagegen ausspricht. In monatelangem Hin und Her zwischen ihr, der jüdischen Gemeinde und der Staatsregierung segnet diese das Projekt letztendlich ab. Maßgeblich zu verdanken ist das dem Schuldezernenten der Regierung, einem Ministerialdirektor Heering, der sich nicht nur damit einverstanden erklärt und dafür einsetzt, dass der Schule ihre Ausgaben für den Lehrer und die Hilfsmittel bezahlt werden, sondern darüber hinaus zustimmt, der Gemeinde Miete für die Räume zu überweisen, da die „Schule ja als öffentliche Schule ins Leben tritt, an die unsere Gemeinde ihre Räume vermietet“, wie es Trepp ihm gegenüber formuliert. Er und Rechtsanwalt Löwenstein können kaum glauben, dass Heering sich darauf einlässt, anstatt ihnen zu sagen, dass „ja den Juden an der Schule gelegen sei, und nicht dem Staat“, schreibt Trepp. Aus dem Gesamtgespräch wie auch aus den folgenden Berichten und Anordnungen ergab sich, daß Heering bestrebt war, zu helfen und das schwere Schicksal der Juden zu mildern, soweit es in seiner Kraft stand. Selbst meiner zum Schluß schüchtern geäußerten Bitte entsprach er. Ich sagte: „Die Zahl der Kinder wird über das Doppelte der gesetzlichen Mindestzahl von fünfundzwanzig sein. Kann der Staat auch den zweiten Lehrer bezahlen?“ So kam es. Allerdings erhielten beide Lehrer nur das Grundgehalt und bedurften jüdischer Zuschüsse.
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Es ist Heering ebenfalls zu verdanken, dass die Schule nicht einen geborenen Juden als Lehrer einstellen muss, der sich von seiner Religion abgewandt und jeden Kontakt zu Juden abgebrochen hat, sich nun aber als Christ für den Erziehungsposten bewirbt, weil er in der öffentlichen Schule zwangspensioniert worden ist. Ein Ding der Unmöglichkeit, sagt Trepp dem Dezernenten. „Die Kinder brauchen Geborgenheit und eine jüdische Umgebung.“ Man wolle ihnen durch ihre Tradition Kraft vermitteln. Wie solle das gehen, mit einem Lehrer, der einen starken Antagonismus gegen diese Tradition und gegen Juden in sich trage? Er schlägt Heering vor, dem Bewerber klarzumachen, dass er sich mit einer Anstellung an einer jüdischen Schule vollkommen dem nichtarischen Lager zuschlagen werde. Heering ist einverstanden. Und wir bekamen Herrn Katzenberg, einen guten Juden, als ersten Lehrer, und die zweite Stelle, die wir bezahlten, übernahm Lehrer Freund aus Delmenhorst, der nun in die obere Etage des Schulgebäudes zog. Und die Frau des Schammes, des Synagogenbeamten, wurde Lehrerin für Kochen und Nähen und andere Handarbeit. Die Leitung übernahm ich. Wir hatten eine Mittelschule. Es war Aufbau im Zusammenbruch. Und jede Woche kam der christliche Schulinspektor in Naziuniform, um sich die Schule anzugucken. Und er war unglaublich gut: Tafeln, Sitze und Bänke und was weiß ich. Alles hat er angeschafft – ein Mann, mit dem man reden konnte, aber er sah aus wie ein richtiger Nazi, und ich nehme mal an, das war er auch. So dankbar Trepp dem Ministerialdirektor am Ende auch ist, erkennt er doch das System der Tyrannei. „Heering war ein hilfsbereiter Mann. Und dennoch sieht man, wie sehr man vom Wohlwollen Einzelner abhing. Der Rechtsstaat war tot, die Willkür der Machthaber allein bestimmte – vom Führer bis zum niedrigsten Amt. In diesem Fall brachte der gute Wille eines Menschen den Juden Hilfe, in den meisten Fällen war es umgekehrt.“ Ohne dass es irgendwelche Folgen für den Betreffenden hätte, konnte Freundlichkeit jederzeit in hassvolle Aktion umschlagen. Diese Willkür zermürbte die Juden. Und selbst den wenigen Gesten der 168
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Freundlichkeit ihnen gegenüber waren Angst und Einschüchterung vorausgegangen, denn sie wussten nie, womit sie rechnen konnten. Und doch ist dies immer noch die Zeit, in der Einzelne sich entscheiden können. Für freundschaftliche Gesten, und für solche, die anderen das Leben verbittern. Trepp wird in den kommenden Monaten beobachten, dass die meisten Bürger sich fürs Mitlaufen, für die Brutalität, für die Unmenschlichkeit entscheiden. Doch manchmal äußern sich Mut und Solidarität in kleinen Gesten, die in diesen Jahren große sind. Während meiner Amtszeit starb in Vechta die alte, blinde Frau Bloch. Die Bürger liebten sie wegen ihrer Wärme und Fürsorglichkeit. Während des Krieges hatte ihr der Großherzog für ihren Einsatz im Roten Kreuz einen Orden verliehen. Natürlich wußten die Nazis um ihre Beliebtheit und warnten die Bürger. Kein Arier dürfe an dieser Beerdigung teilnehmen. Man werde die Namen derjenigen, die dieses Verbot übertreten sollten, festhalten, ihnen drohten schwere Konsequenzen. Als ich in Vechta ankam, erwartete ich ein kleines Häuflein Juden. Stattdessen war die Straße vor dem Trauerhaus schwarz mit Menschen. Die ganze Stadt war erschienen, die Männer in Zylinder und bestem Anzug. Nach dem Beerdigungsgottesdienst im Haus setzte sich der Zug in Bewegung zum Friedhof. Alle folgten, vorbei am Rathaus, an dessen Fenstern und Eingang Parteimitglieder sämtliche Teilnehmer des Trauerzuges mit Kameras filmten. Zum Abschluß des Gottesdienstes segnete ich diese guten und mutigen Christen. Das katholische Vechta stand unter der geistlichen Führung des angesehenen und treu zu seinem Glauben stehenden Bischofs von Galen in Münster. Man darf vermuten, daß sein Geist des Widerstandes und Miteinanders auch die Menschen beeinflußte. Ganz anders einige Wochen später in Jever. Dort war Joseph David Josephs gestorben, mit über hundert Jahren der älteste Bürger der Stadt, ein lebendes Stück Geschichte. Er war nicht nur Mitglied des jüdischen Landesgemeinderats gewesen, sondern jahrelang stellvertretender Stadtratsvorsitzender. Alle schätzten und liebten ihn. Und doch erschien zu seiner Beerdigung nicht ein einziger christlicher Mitbürger. Eine andere Geisteshaltung. Eine völlig andere Reaktion.
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Hoffnung ist die Hoffnung ist die Hoffnung Im Herbst 1937 wird die Schule eingeweiht. Am Abend zuvor hält Trepp einen feierlichen Gottesdienst, zu dem auch der Kulturdezernent des Preußischen Landesverbandes erscheint. Damit will Trepp noch einmal unterstreichen, dass es um eine jüdisch-religiöse Einrichtung geht und nicht darum, welcher Rasse die Kinder angehören. Mittlerweile gibt es ein reichsweites Curriculum für jüdische Schulen. Die Reichsvertretung der Juden in Deutschland erließ die folgenden Regeln für jüdische Schulen, die von der Regierung verordnet worden waren: Das Ziel war „ein sich selbst begreifender jüdischer Geist, Willensstärke, jüdische Charaktere, Auswanderungsvorbereitung, Berufsumschichtung“. Im einzelnen wurde gefordert: Religion und Hebräisch, Bibel, jüdische Geschichte, Toragesetz, Psalmen und Propheten waren zu studieren, wenn möglich im Urtext. Allgemeine und jüdische Geschichte waren einzubauen. Deutsch war aus jüdischen Texten zu lehren, Heimatkunde bedeutete jüdisches Gemeinschaftsleben, Erdkunde sollte sich mit Palästina beschäftigen, Musik mit Liturgie und jüdischen Kompositionen, Zeichnen mit jüdischen Stoffen. Der Landesrabbiner mußte nun den Lehrstoff den Oldenburger Gegebenheiten, vor allem den Schülern und ihrer Vorbildung wie auch den Lehrern, anpassen und überwachen. Darüber berichtete er regelmäßig der Schulabteilung des Preußischen Landesverbandes, die seine Berichte an die Reichsvertretung weiterleitete, von wo aus sie der Regierung jederzeit zur Bezeugung jüdischen Gehorsams auf Verlangen zur Einsicht vorgelegt werden konnten. Diese Beschreibung Trepps zeigt, wie wichtig die Reichsvertretung mittlerweile für die Juden ist. Wenn auch der Verband wie auch der Vorsitzende Leo Baeck und sein Alleinvertretungsanspruch in den ersten Jahren besonders von großen Gemeinden wie der in Berlin noch eifersüchtig beäugt wurden, unterstützen nun alle deren Arbeit, nur die Ultraorthodoxen und die nationaldeutschen Juden halten sich weiterhin fern. Die Reichsvertretung ist zum Sprachrohr für die Gemeinschaft geworden, zur lebensnotwendigen Verbindung zum Regime. Effizient organisiert sie Leben und Auswanderung und konzentriert sich auf das momentan 170
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Leo Trepp mit seiner Klasse der jüdischen Schule in Oldenburg
Notwendigste. Seit den Rassegesetzen gehören Bildung und Erziehung beständig dazu. Mit Vermögen aus Erbschaften und vor allem Spenden aus dem Ausland kann sie in diesen Jahren noch das Geld aufbringen, um die vielen Gemeinden zu unterstützen, die mittlerweile darauf angewiesen sind. Trepp ist für die finanzielle Hilfe dankbar. Und auch mit dem Emigrationsland Israel kann er sich nun identifizieren, nachdem er während seiner Studentenzeit zum Zionisten geworden ist und sich damit radikal von seinem bisherigen Denken abgewendet hat. Samson Raphael Hirsch hatte auf die Frage, warum er, wenn er doch so deutsch sei, für Jerusalem beten könne, dem Symbol des Heiligen Landes und der Rückkehr der Juden dorthin, noch geantwortet: „Wir dürfen für Jerusalem beten, aber nichts dafür tun. Denn wenn das Gebet erhört wird, kommt der Messias und restauriert nicht nur Jerusalem, sondern die ganze Welt. Wenn wir also für Jerusalem beten, beten wir auch für das deutsche Vaterland.“ Aus demselben Grund stand auch Maier Trepp dem Zionismus fern und hatte seinen Sohn gelehrt, dass er für den jüdischen Staat „beten, beten, beten“ müsse. „Auf irgendeine Weise daran 171
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arbeiten darfst du nicht.“ Doch in Berlin hatte Trepp zu zweifeln begonnen. Alexander Altmann hatte ihm seinen Weg zum Zionismus erklärt. Trepp liest über die Kibbuzim. Er und seine Kommilitonen am Rabbinerseminar debattieren das Für und Wider des Zionismus. Mit gewaltigen Argumenten. Lautstark. Und manchmal zornig. Immerhin sitzen hier Orthodoxe, die überlegen, ob man die von ihnen stets heilig gehaltene Theorie, dass man für die Wiederkehr ins Heilige Land auf die Ankunft des Messias’ warten müsse, antasten, ja, ob man sie sogar umstoßen kann. Manche lehnen das erbittert ab, mit der gleichen Vehemenz wehren sie sich gegen den Gedanken, gemeinschaftlich mit den säkularen Juden für eine Idee zu kämpfen. Trepp dagegen und einige andere wenden sich „nach nächtelangen Diskussionen“, wie er sagt, dem Zionismus zu. Einer der Absolventen des Seminars, Josef Burg, soll später verschiedene Ministerposten und Parteiämter in Israel besetzen und einer der bedeutendsten Politiker des Landes werden. Leo Trepp gehört zunächst den religiösen Zionisten an, die glauben, dass es ein religiöses Gebot sei, nach Israel zurückzukehren, um dort ein Leben gemäss der Tora und Halacha zu führen. Der geistliche Protagonist dieser Bewegung, Rabbiner Isaac Kook, der später der aschkenasische Oberrabbiner in Palästina wird, geht, um selbst die säkularen Zionisten in dieses Denken einzubeziehen, soweit zu behaupten, dass diese Juden, die in Wirklichkeit eine in vielen Teilen sozialistische Gesellschaft anstreben, eigentlich eine religiöse, von Gott angefachte jüdische Flamme in ihrer Seele trügen, mit der sie, ohne sich dessen bewusst zu sein, zum göttlichen Plan beitrügen und eine große Mitzwa erfüllten. Trepp jedenfalls, als frischgebackener Zionist, ist mit der im Curriculum implizit vorhandenen Vorbereitung für eine Auswanderung nach Palästina völlig einverstanden. Ebenso unterstützt er natürlich, da es ja ohnehin sein eigenes Denken spiegelt, dass sich die Reichsvertretung im Lehrplan auf die jüdische Erziehung fokussiert. Seine Gemeindemitglieder aber zögern. Er muss sich mit Menschen auseinandersetzen, die sich beiden Gedanken verweigern, sowohl der Auswanderung als auch der Betonung des Jüdischen in ihrem Leben. Mag er sich auch noch so bemüht haben, ihr jüdisches Bewusstsein zu stärken und ihren Stolz auf das Judentum, für sie ist die Verbindung zur Heimat wichtiger. Sie sehen 172
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sich vorrangig als Deutsche, und – besonders dieser Gedanke bildet den Antrieb für ihr Handeln – sie denken, dass die anderen sie auch wieder so sähen, wenn sie denen doch ihre Loyalität nur besser beweisen könnten. Eine ganze Reihe von jüdischen Eltern richteten Eingaben an das Ministerium, die im Nachlesen tragisch wirken: Man wolle sein Kind vom Besuch der jüdischen Schule befreit sehen, denn die Eltern hätten ja schon lange als gute Bürger in Oldenburg gelebt und seien immer patriotisch oder sogar Frontsoldaten gewesen. Oder das Kind sei schwächlich oder nervös und so weiter. Die Eltern wußten gar nicht, worum es ging, daß Patriotismus keine Ausnahme bereitete und die Nervosität ihres Kindes gerade auf dem Besuch der Ortsschule beruhte. Zum Teil beurteilten die Juden die Schule aus nichtjüdischer Sicht und fanden es entwürdigend für ihre Kinder, zur „Judenschule“ gehen zu müssen. Den Eltern fehlte noch immer die völlige Einsicht in die Lage, in der sich die Juden befanden. Ende 1937 haben laut Statistiken der Reichsvertretung über ein Drittel der deutschen Juden ihrer Heimat den Rücken gekehrt. An einigen Orten sind es sogar mehr. Gerade aus Dörfern und Kleinstädten, in denen wegen der stärkeren sozialen Kontrolle die Lage der jüdischen Bürger noch belastender ist als in den Großstädten mit ihren liberaleren oder einfach gleichgültigeren Bürgern, sind mittlerweile so viele Juden weggegangen, dass sich manche kleinen Gemeinden nicht länger halten können. Besonders in den ersten zwei Jahren nach der Machtergreifung sind viele Juden geflohen, mehr als hunderttausend insgesamt, bis die verbliebenen jüdischen Bürger angesichts des etwas nachlassenden Druckes neue Hoffnung schöpften und sich entschieden, erst einmal zu warten. Nun stellt sich heraus, dass es die Ruhe vor dem Sturm war, dass die Nationalsozialisten in ihren Schikanen gegen die Juden nur deshalb etwas nachgelassen hatten, weil sie im Jahr der Olympiade dem Ausland ein besseres Bild liefern wollen. In Oldenburg aber zögern immer noch viele zu emigrieren. Nicht einmal ein Viertel von ihnen hat Deutschland verlassen. Ausgerechnet hier, wo doch das Bewusstsein vieler nichtjüdischer Bürger von einer strikten Loyalität Hitler gegenüber geprägt ist und die Juden noch mehr leiden 173
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als an vielen anderen Orten. Schon Mitte 1938 wird es, wie Werner Vahlenkamp schreibt, bis auf zwei Altwarenläden kein einziges jüdisches Geschäft mehr geben, obgleich das Verbot offiziell erst ein halbes Jahr später kommt. In Städten vergleichbarer Größe haben bis dahin ungefähr die Hälfte der jüdischen Kaufleute aufgegeben, in Großstädten rund ein Viertel bis zu einem Drittel. Dass die Bereitschaft auszuwandern in Oldenburg dennoch geringer ist, führt Vahlenkamp auf die größere Bodenständigkeit der Gemeinschaft zurück. Der Rabbiner bittet die Regierung, ihn über sämtliche Eingaben zum Schulbesuch zu informieren, was die auch tut. In den meisten Fällen gelingt es ihm, die Eltern umzustimmen. Nicht einmal ein Jahr später werden ihm selbst diejenigen Abbitte leisten, die jetzt noch eine Befreiung erreichen. 1938 müssen auf Grund eines Erlasses alle jüdischen Kinder die öffentlichen Schulen verlassen und nun sind sie „dankbar, dass es überhaupt eine Erziehung in Oldenburg gab“, wie Trepp schreibt. Er ringt um Menschen, die den Gedanken, dass ihre neue Realität von Dauer sein könnte, nicht zulassen, geschweige denn, sich mit ihm auseinandersetzen. Und auch wenn er durch seine größere Nähe zu den Vorgängen in Berlin selbst besser weiß als andere, dass sich die Schlinge zuzieht, dass die Nationalsozialisten und mit ihnen die Mehrheit der Bürger die Juden loswerden wollen, dass es also gar keine Alternative zur Auswanderung gibt, sieht Leo Trepp seine eigene Ambivalenz in der Haltung der Oldenburger gespiegelt: Diese Juden hielten in zäher Hoffnung an dem Glauben fest, daß die Zeiten sich ändern würden und die Heimat ihnen gewährt würde. Ein tiefer Zwiespalt ging durch ihr Denken. Die Vernunft riet ihnen, eine Auswanderung mit Nachdruck vorzubereiten, das Gefühl hielt sie zurück. Das wurde ja zum Verhängnis der ganzen deutschen Judenheit. Sie konnten und wollten es nicht fassen, daß man sie nach anderthalb Jahrtausenden vertreiben würde; sie fühlten sich zu Hause, und es war ihnen unmöglich, Deutschland als einen Staat ohne Recht zu sehen. Diese Anschauung teilte ich. Trepp ist in diesem Zwiespalt gefangen. Intellektuell erkennt er eine Situation, die er emotional unwillig oder unfähig ist zu verarbeiten, und sie 174
Hoffnung ist die Hoffnung ist die Hoffnung
deshalb nicht erkennen will. Die Stiefschwester von Anne Frank, damals noch in Frankfurt, später nach Holland geflohen, beschrieb das in einem Vortrag in unserer Synagoge im Jahr 2017 einmal so: „Natürlich sahen wir, was passierte. Aber wir wollten es nicht sehen. Erst nach dem 9. November hatten wir keine Wahl mehr. Wir wussten, dass wir raus mussten.“ Doch Leo Trepp trägt nun auch Verantwortung für einen anderen Menschen. Miriam de Haas, die Tochter des Hauses, ist nach ihrer Ausbildung zur Kindergärtnerin in der Schweiz nach Haus zurückgekehrt. Sie ist vier Jahre jünger als er, wortgewandt, emanzipiert und schön. Es dauert nicht lange, bis die zwei sich finden und im Sommer 1937 verloben. Seine Eltern kommen, die Haushälterin Selma wendet sämtliche Künste auf, ein angemessenes Essen zu zaubern, auch wenn das Fleisch fehlt. Koscheres Schlachten ist schon seit vier Jahren nicht mehr erlaubt, das Verbot stand auf der Liste der Nationalsozialisten ganz oben. Selmas Fisch ist gut, selbst Leos Mutter lächelt und sieht zufrieden aus. Ein kleiner glücklicher Tag. Dann landen sie wieder in der Realität. Miriam bestärkt ihn, nicht nur seinen Gemeindemitgliedern bei der Ausreise zu helfen, sondern zu sehen, ob sie selbst nicht auch einen Weg finden können. Sie hat zwei Tanten in den Vereinigten Staaten, deren Eltern durch den frühen Kauf von Eastman Kodak-Aktien zu Geld gekommen sind, und die für sie beide die Garantiesumme aufbringen würden. Im Herbst fährt Trepp ins amerikanische Konsulat nach Hamburg, füllt einen Fragebogen aus und bekommt irgendwann den Brief mit der Quotennummer, der mitteilt, dass er und Miriam, sofern sie Bürgen hätten, einreisen können. Er legt den Brief in den Schreibtisch. Er wird sich noch darum kümmern. Vielleicht. Doch jetzt nicht. Später. Einige Zeit danach schreibt die Synagogengemeinde Köln eine Rabbinerstelle für die konservative Synagoge in der Glockengasse aus. Leo Trepp bewirbt sich, als einer von sechsunddreißig Rabbinern, und denkt, dass er ohnehin keine Chancen habe, weil er zu jung sei. Er kommt in die engere Wahl. Zum Jahresende fährt er zur Probepredigt an den Rhein, dann noch einmal im Frühling 1938. Neben einer Predigt spricht er mit dem Gemeinderat und den Jugendvertretern, hält zwei Vorträge. Sein Intellekt und seine Herzlichkeit gefallen den Menschen. Man mag sich. „Sie sind Rheinländer, sie verstehen uns“, sagt der Ge175
4. Kapitel: Rabbinat in Zeiten der Angst
meindevorsitzende. Leo Trepp bekommt die Stelle. Am 1. Januar 1939 soll er anfangen. „Warum?“, frage ich ihn Jahrzehnte später. Warum bewirbt sich ein Rabbiner nicht einmal ein Jahr vor der Pogromnacht noch für eine neue Synagoge? Und natürlich kann ich mir schon damals die Frage selbst beantworten. Weil er ahnte, aber nicht wusste. Weil er hoffte. Weil schon damals im Ansatz stimmte, was Miriam nach dem Krieg über ihn, oft als Vorwurf gemeint, sagen wird: „Sie können zwar den Juden aus Deutschland vertreiben, aber nicht den Deutschen aus dem Juden.“ Leo Trepp ist Rabbiner geworden, weil er deutscher Rabbiner sein will, weil er das deutsche Judentum beeinflussen, es mitprägen, ihm eine Richtung mitvorgeben will. Er will schreiben, er will neu denken, er will verändern. In Deutschland. Köln ist eine unglaubliche Chance für ihn. Er weiß, dass er seine Arbeit beherrscht. Gerade hat ihm ein Vertreter des Landesverbandes gesagt, dass er einer der „aktivsten und fähigsten jüngeren Rabbiner Deutschlands“ sei. Sein Vertrag in Oldenburg läuft Ende 1938 aus. Er ist vierundzwanzig Jahre alt und wird eine der wichtigsten Synagogen des Landes übernehmen. Und er wird mit Menschen arbeiten, deren Naturell er versteht, deren Weltsicht und deren Lebensweise er teilt. Im Herbst 1937 ist 1939 noch weit hin. Bis dahin hat der Spuk sich hoffentlich erledigt. Trepp steht mit seinem Denken nicht allein. Wenn er das geschrumpfte Oldenburger Leitungsgremium über seinen Weggang informieren würde, fände die Gemeinde sehr schnell einen neuen Rabbiner. In Berlin bilden die Seminare weiterhin aus. Und Synagogen stellen ein, und sei es manchmal allein deshalb, weil die alten Amtsinhaber emigrieren.
„Der Kapitän verlässt das Schiff zuletzt“ Doch schon einige Wochen nach seiner Bewerbung, er ist gerade von der Probepredigt in Köln zurück, erschüttert ihn eine neue Not. Auf Druck der Regierung will die örtliche Sparkasse die Synagoge versteigern. Es geht um einen lächerlichen Betrag, die Restschuld von dem Darlehen, das beim Bau von Synagoge und Schule aufgenommen wurde, zuzüglich fünf Prozent Zinsen. Es könne gut sein, schreibt Trepp, dass die Zinszah176
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lungen für diese Forderung Ende 1937 fällig gewesen seien. Allerdings wartet die Sparkasse gar nicht ab, ob das Geld kommt, sondern fordert es am 27. Dezember ein, in der Ferienzeit, in der Trepp den Preußischen Landesverband mit seiner Bitte, ihm den Betrag zu leihen, nicht erreichen kann. „Mit dem Glockenschlag des ersten Januar“, wie Trepp schreibt, ist die Frist abgelaufen. Einige Tage später kommt der Beschluss des Amtsgerichts. Der gesamte Gebäudekomplex ist zwangsversteigerungsreif, die Synagoge mitsamt Gemeindehaus, der neuen Schule also. „Man hatte den Plan, die Juden geistlich und geistig abzuwürgen“, schreibt Trepp. Die Stadt hätte ihr Ziel erreicht, die nie gewollte und ungeliebte Schule verschwinden zu lassen. Doch es kommt nicht zum Verkauf. Er wird nie erfahren, ob es den Verantwortlichen reichte, den Juden gezeigt zu haben, was passieren kann, oder ob die Sparkasse die Vollstreckung aus Mitleid immer wieder verschiebt. Trepp tippt auf Letzteres, weiß nun aber auch, dass der Einfluss der Nationalsozialisten selbst in die Banken reicht. Von jetzt an hebt er nach und nach Geldbeträge für die Gemeinde ab und bewahrt sie in seinem Schreibtisch auf. Dort, so denkt er, liegen die Scheine sicherer. Der Gemeinderat und er beschließen, den Mitgliedern nichts von der angedrohten Versteigerung zu erzählen, „was die Not nur nutzlos vertieft hätte. Das Wasser stand bis zum Hals, es war genug, dass es die Führer wussten.“ Die Situation der Gemeindemitglieder wird ohnehin von Tag zu Tag belastender. Sie spüren, dass die moralischen Barrieren der anderen sinken. „Die Kinder in der Schule waren verhetzt“, schreibt Trepp über diese ersten Monate im Jahr 1938, „die Eltern durch Pomp der Paraden und Versprechungen künftiger deutscher Machtherrschaft mitgerissen. Hitler hatte eine satanische Verführungskraft und den Instinkt für Massenpsychologie. Er zog das Volk an sich und verband damit immer schrillere Judenhetze.“ Zunehmend wollen die Menschen das Land nun verlassen, doch es wird immer schwieriger, das notwendige Geld zusammenzubringen. Denn wenn auch die Regierung durch ständig neue Schikanen und wirtschaftliche Einschränkungen alles tut, um den Auswanderungsdruck zu erhöhen, schnürt sie den Juden auf der anderen Seite finanziell die Luft ab. Sie müssen hohe Abgaben bezahlen, wenn sie emigrieren wollen. Die Reichsfluchtsteuer, mit der die Politiker der Weimarer Repu177
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blik 1931 verhindern wollten, dass zu viel deutsches Kapital ins Ausland gelangte, schreiben die Nationalsozialisten bis zur Unkenntlichkeit um und machen sie so zu einem Instrument, die Juden beim Verlassen des Landes fast vollständig zu enteignen. Ab April 1938 werden jüdische Vermögen dann, unabhängig von der Ausreise, zunehmend beschlagnahmt. Ab Juni dürfen Emigranten nur noch zehn Reichsmark als Bargeld mitnehmen. Das Vorgehen hat Methode. In Regierungsschreiben debattieren die Verantwortlichen, wie man den Antisemitismus in anderen Ländern am besten schüren kann. Wie? Indem man möglichst viele Juden ohne Geld auf möglichst viele Länder verstreut. Sie sollen den Staaten zur Last fallen und sie sollen so wenige sein, dass sie sich nicht als Gemeinschaft integrieren können. Den Politikern ist klar, dass mit dieser Politik den jüdischen Hilfsorganisationen sehr bald das Geld ausgehen wird und immer weniger Länder bereit sein werden, die Juden überhaupt noch aufzunehmen, diese kaum noch in der Lage sein werden auszureisen und damit Hilfsfälle für den deutschen Staat sein werden. Was sie mit dieser Erkenntnis machen wollen, lassen ihre Schreiben nicht erkennen. Schon im Januar 1938 hatte die Reichsvertretung an die Regierung appelliert, den Juden nicht weiterhin die Luft zum Atmen zu nehmen. „Ein beträchtlicher Teil der Judenheit in Deutschland, die überwiegend aus älteren Menschen besteht, ist nicht imstande zu emigrieren und wird seine Tage in Deutschland beenden. Wenn er dem staatlichen Wohlfahrtswesen nicht zur Last fallen soll, darf er nicht vollkommen von allen Erwerbsmöglichkeiten ausgeschlossen werden.“ Noch kann die Reichsvertretung finanziell helfen. Und die Oldenburger sind längst bereit, selbst in die exotischsten Länder auszuwandern. In den kommenden Monaten hat Trepp das Gefühl, gleichzeitig an allen Orten seiner weitverstreuten Gemeinden zu sein und mit allen gleichzeitig reden zu müssen. Hier beim Ausfüllen von Formularen helfen und dort mit der Reichsvertretung verhandeln zu müssen. Und dann ist da seine normale Gemeindearbeit. Kinder werden Bar Mitzwa, es gibt Beerdigungen und sogar Trauungen. Die Auswanderungspapiere und der unterschriebene Kölner Arbeitsvertrag liegen im Schreibtisch. Hatte er beides vergessen? Nein, sagt er, aber keine Zeit, darüber nachzudenken. Über nichts anderes kann er nachdenken 178
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Verlobung von Leo Trepp und Miriam de Haas. Vor Leo Trepp sitzen seine Eltern, auf der Seite von Miriam sieht man deren Mutter, Anny de Haas, und ihre früh verstorbene Schwester Susanna.
als darüber, was anliegt, es abzuarbeiten und vor allem dafür zu sorgen, dass die Menschen, die fliehen wollen, das auch können. In manchen Augenblicken wird ihm bewusst, dass er nun eine Partnerin hat, die mit ihm das Leben, die guten und die schlechten Zeiten, teilen und tragen wird. Und da sind die Momente, in denen er davon träumt, mit ihr ins Theater zu gehen, in die Oper. Sie auszuführen. Mit ihr über einen See zu rudern, am Strand zu liegen und die Sonne auf sein Gesicht scheinen zu lassen. Im April 1938 heiraten sie. „Nun kommt der Scheitel auf den Kopf “, sagt der Rabbiner. „Nie und nimmer“, sagt das Brautpaar wie aus einem Mund. Trepps Schwager Josef ist bereits in Südafrika, bald wird er nach Rhodesien gehen, das heutige Simbabwe. Leo Trepp weiß, dass auch Miriam nichts lieber wäre, als Deutschland so schnell wie möglich zu verlassen. Er selbst schwankt immer noch. „Selbsterhaltungstrieb riet zur Auswanderung, Pflicht zum Verharren“, schreibt er. Dann kommt die Konferenz von Evian. Anfang Juli treffen sich die Vertreter von zweiunddreißig Staaten in dem Kurort am Genfer See, um zu beraten, wie das Flüchtlingspro179
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blem gelöst werden könne, westliche Länder und Überseestaaten. Alle sind berührt vom Schicksal der Juden. Aufnehmen will sie keiner. Nicht einmal die Vereinigten Staaten, die diese Konferenz nach der offiziellen Annexion Österreichs durch das Hitler-Regime einberufen hatten, um den Juden zu helfen, sind bereit, ihre Quote zu erhöhen. 27.370 deutsche und österreichische Einwanderer jährlich. Dabei bleibt es. Obgleich den meisten das Wort „Jude“ kaum über die Lippen kommt, ist allen klar, dass es ausschließlich um sie geht. Immerhin sind der Form halber auch beinahe dreißig jüdische Hilfsorganisationen eingeladen. Und genauso sind allen die Gründe für die strikte Haltung der Länder klar, manche Delegierte sagen es unverblümt: Sie wollen die Juden nicht haben. Es mag blanker Antisemitismus sein, der in Evian regiert, und bei einigen Gutmeinenden die Angst, ihn in ihren Ländern anzufachen und zu verschlimmern. Selbst das Land, das die Juden als ihre Heimstatt ansehen, in dem Juden durchgehend gelebt und seit Jahrzehnten Ländereien gekauft haben und in das seit 1933 über vierzigtausend von ihnen emigriert sind, zieht die Grenzen nun enger. Israel als Staat ist noch nicht geboren. Die Briten, die Palästina kontrollieren, wollen Unruhen und Proteste der Araber nicht noch stärker anfachen und sie noch näher an die Politiker in Berlin binden, mit denen der Großmufti in Jerusalem ohnehin schon ein exzellentes Verhältnis hat, das in den nächsten Jahren weiter gefestigt werden soll. Und in Berlin ist man von seinem einstigen Plan, die Etablierung eines jüdischen Staates zu unterstützen und die Auswanderung der Juden dorthin aktiv zu fördern, weit abgerückt und überlegt nun, den Arabern im Kampf gegen die Juden mit Waffen zu helfen. Trepp beantragt zumindest die notwendigen Führungszeugnisse für eine Ausreise und ein Zeugnis des Preußischen Landesverbandes. Doch es wird dauern, ehe alle Papiere eintrudeln werden. Und selbst wenn Leo und Miriam Trepp irgendwann ein Visum für die Staaten bekommen sollten, wird auch das mit all den strikten Voraussetzungen Zeit kosten, und es kann zu spät sein. „Worauf wartest du noch?“, fragt Miriam ihren Mann. Sie hat als Kindergärtnerin in Celerina in der Schweiz gearbeitet und weiß, dass der Chefrabbiner des Britischen Reiches, Joseph Herman Hertz, die Sommerferien stets in St. Moritz verbringt. Vielleicht kann er etwas für sie tun? Können sie nicht jedenfalls ausloten, ob er sie mitneh180
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men kann nach England? Sie würden mit dem Zug in die Schweiz fahren, mit ihren Studentenpässen. Reisepässe dürfen Juden seit dem letzten Jahr nicht mehr ausgestellt werden. Trepp stimmt ohne lange Bedenkzeit zu. Auch ihm scheint die Lage zunehmend hoffnungslos, und er sehnt sich danach, Rat von jemandem zu bekommen. Und ist bereit zu akzeptieren, was immer der ältere und weitaus erfahrenere Kollege ihm sagen wird. „Hätte er uns geraten, nicht nach Deutschland zurückzukehren, so wären wir ohne Mittel und ohne eine zweite Garnitur von Kleidern geblieben.“ Sie treffen Hertz in seinem Hotel an. Der bald siebzigjährige Rabbiner empfängt sie warm und freundlich. Und er ist bestimmt in seinem Rat. Nein, er wird sie nicht mitnehmen, und, nein, er wird auch nichts für sie tun, außer jüdische Bücher zum Studium und zur Erbauung der Gemeinde nach Oldenburg zu schicken. „Sie sind der Kapitän des Schiffes“, sagt er zu Trepp, „und Sie müssen der Letzte sein, der es verlässt.“ Trepp ist dankbar „für die seelische Hilfe“, für die Klarheit, wie er schreibt. Nun gibt es keine Zweifel mehr. Nach einer Woche sind die beiden wieder in Oldenburg. Doch davor verbringen sie anderthalb Tage mit Trepps Eltern in Mainz. Für einen Moment ist alles wie früher. Nur, dass es völlig anders ist. Sein Vater macht einen melancholischen Eindruck. Beim Abschied segnet Maier Trepp die beiden, bleibt in der Wohnungstür stehen und schaut ihnen hinterher. „Er sah uns an mit einem Blick tiefster Traurigkeit. Dieses Bild wird mich nie verlassen. Es war das letzte Mal, dass wir uns sahen“, sagt mein Mann. Gustav arbeitet als Lehrer in Hanau und sieht seine Eltern regelmäßig. Das beruhigt Trepp. Doch es ist seine Mutter, die schon lange die Verantwortung übernommen hat. Selma Trepp hat früh gesehen, dass Juden in Deutschland keine Chance mehr haben. Sie spürt, dass die Gesetze, die ihnen immer weniger Rechte geben, nur ein Auftakt, ein Menetekel sind zu etwas anderem, das sie nicht erfassen kann. Und sie weiß von Angehörigen, die versuchen, das Land zu verlassen, dass Juden selbst mit Hilfe der Reichsvertretung kaum noch Möglichkeiten finden. Zahlreiche ihrer Cousins suchen nach einem Weg. Doch auch wenn ihnen jeder Zufluchtsort recht ist, engt sich der Spielraum ein. Einigen gelingt es, ins benachbarte westliche Ausland zu fliehen, meist Frankreich, Holland oder Belgien. Niemand ahnt, dass sie 181
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auch dort bald in der Todesfalle sitzen werden. Dann hört Selma Trepp, dass ihr Cousin Leo Thalheimer ein Visum für die Vereinigten Staaten bekommen hat, für sich und seine Frau. Er erzählt ihr, dass ein anderer Cousin von ihnen, Herbert Lehman, bereits zahlreichen Angehörigen in Deutschland geholfen hat zu entkommen. Herbert Lehmans Familie ist, wie viele bayerische Juden, schon vor einigen Generationen nach Amerika ausgewandert und nutzt die Möglichkeiten, die das Land Emigranten bietet. Sie beginnen ihr neues Leben mit fast nichts, arbeiten hart, damit ihre Kinder es einmal besser haben, und manchmal werden aus bescheidenen Anfängen große Erfolge. Einige Mitglieder der sich schnell verzweigenden Familie gründen Banken, Warenhäuser und andere Unternehmen. Auch Lehmans Familie gehört ein Bankhaus. Er selbst ist in die Politik gegangen und mittlerweile demokratischer Gouverneur von New York. Mit Hilfe einer Familienstiftung versucht er nun, so viele seiner Angehörigen aus der Hölle herauszubringen wie möglich. Nachdem Thalheimer ihr das erzählt hat, beginnt Selma Trepp mit dem Durchsetzungsvermögen, das Leo schon als Kind an seiner Mutter beobachtet hat, daran zu arbeiten, ihre Söhne aus Deutschland herauszubekommen. Sie informiert sich, was für Lehman von Interesse ist, und am 4. August 1938 schreibt sie einen Brief an ihn, in dem sie ihr verwandschaftliches Verhältnis – ihre Großmutter, eine geborene Lehman, war die Cousine seines Vaters – und die Qualitäten von Leo und Gustav schildert. Rabbiner, Doktortitel, erstklassige Empfehlungen, selbst von christlichen Professoren, und der zweite bereits mit unter zwanzig ausgebildeter Lehrer und Kantor, in Sport ebenso gut wie in Religion. Doch Lehman lehnt ab. Er hat anderen geholfen, die ähnlich entfernt mit ihm verwandt sind, schließlich ist es Jahrzehnte her, dass sich die Familien getrennt haben, doch er hat ein anderes wichtiges Kriterium: Seine Schützlinge müssen in der Lage sein, für sich selbst zu sorgen. „Diese Frau schreibt selbst, dass die Verwandschaft nur entfernt sei“, schreibt Lehman an seine Sekretärin, „außerdem arbeiten beide Söhne in Berufen, die schon völlig überfüllt sind und kaum gefragt. Bitte antworten Sie entsprechend.“ Leo Trepp hat davon nie erfahren. Erst nach seinem Tod kontaktieren mich Wissenschaftler, die in New York an einer Ausstellung über Leh182
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mans Aktion arbeiten. „Sie müssen das verstehen, die Familien waren groß. Es gab unendlich viele Cousins und Cousinen,“ sagt eine Mitarbeiterin. „Und alle wollten raus aus Deutschland. Die Möglichkeiten waren aber beschränkt.“ Einige Tage nach diesem Gespräch sehe ich zufällig ein großes Porträt von Herbert Lehman. Es hängt im Gebäude der Vereinten Nationen am East River. Lehman schaut die Betrachterin an, mit den dunkelbraunen Augen, die so viele in der Familie haben. Ein Jude aus Franken. Trug er die Angst, die viele der Vorfahren hatten, dieses Gefühl, stets vorsichtig sein zu müssen, um Verachtung und Hass nicht zu schüren, immer noch in sich? Auch in den Staaten grassierte in diesen Jahren der Antisemitismus. Agressiv und offen. In den Südstaaten verbieten Einrichtungen den Zugang für Schwarze und Juden. Lehman erinnert mich an meinen Mann. Wahrscheinlich hätte er Leo gerne geholfen. Wahrscheinlich hätte er allen gerne geholfen. Doch er agierte im Rahmen des rechtlich Möglichen. Und dafür tat er viel, holte Dutzende seiner Leute rüber. Andere Juden machten aus Angst, selbst zur Zielscheibe zu werden, den Mund erst gar nicht auf. Berichte über die Konzentrationslager verschwanden in der New York Times mit jüdischen Besitzern ins Innere des Blattes. Nur nicht auffallen. Nur nicht die Aufmerksamkeit wecken. Er sei jüdisch, sagt der damalige Herausgeber, Arthur Sulzberger, später, aber das sei nun mal nur eine Religion, keine Nation. Er sehe keine besondere Verantwortung anderen Juden gegenüber. Auf der anderen Seite versuchen jüdische Organisationen weltweit, Juden aus Deutschland herauszubekommen und demonstrieren, als man von ihrer Existenz erfährt, lautstark gegen die Konzentrationslager und dafür, Juden aus ihnen zu befreien. Unter ihnen sind zahlreiche jüdische Hilfsorganisationen in Amerika. Doch selbst einige von ihnen werden vorsichtiger und agieren eher hinter den Kulissen, nachdem Amerika in den Krieg eingetreten ist. Man soll ihnen nicht nachsagen können, dass sie nur so vehement gegen Hitler und für den Krieg gegen den Nationalsozialismus eintreten, um ihren Schwestern und Brüdern zu helfen, und nicht aus Patriotismus. Mit der Liebe, die mein Mann für Menschen hatte, mit seinem Verständnis für die Schwächen des Menschen, hätte er Lehman wohl so gesehen. Als guten Juden, der tat, was er konnte, mehr als andere alle183
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mal. Er hat Lehman und dessen ausgeprägtes soziales Engagement als Politiker zumindest immer bewundert, der Ältere antwortet liebevoll auf einen Brief, den Trepp ihm später schreibt, bestätigt die Verbindung und erzählt, dass er einige enge Angehörige von Leos Mutter in die Staaten gebracht habe. Beide sind sich offensichtlich des Schreibens von Selma Trepp nicht bewusst. Als Lehman später Senator in Washington wird, besucht ihn der Jüngere und verbringt einen Nachmittag mit ihm. Mein Mann wusste ebenfalls nicht, dass derselbe Herbert Lehman seinem Onkel Julius einige Jahre später half. In der Pogromnacht ist Julius Hirschberger nach Belgien geflohen und sitzt dort fest, mit nichts als den Sachen, die er trägt. Sein Brief sei der „erschütterndste von allen, die ich gelesen habe“, schreibt der Vorsitzende der Stiftung. In jedem Satz ist zu spüren, wie schwer es Julius Hirschberger fällt, andere um etwas zu bitten. „Nie hätte ich gedacht, dass ich jemals in diese Situation komme, an der mich keine Schuld trifft. Ich war eine respektierte und ehrenwerte Persönlichkeit. Immer habe ich großzügig und wohltätig gehandelt.“ Er bittet, ihm zu helfen rauszukommen, schreibt von einer Waffenentdeckung, die er gemacht habe und die Amerika nützen könne, und bittet, ihm etwas Geld zu schicken, „nur soviel, dass ich nicht hungern muss. Und ich habe keine Sachen zum Wechseln, allein den Anzug, den ich trage, und keine weitere Unterwäsche. Etwas alte Kleidung wäre nützlich. Als ich geflohen bin, trug ich einen Mantel, den brauche ich also nicht.“ Ich lese den Brief von Onkel Julius und frage mich, ob es meinem Mann Frieden gegeben hätte, diese Zeilen zu lesen, die Formulierungen eines „ganz offensichtlich gebildeten und kultivierten Mannes“, wie man in New York vermerkt? Die verzweifelten Worte seines Onkels, auf dessen Hochzeit er sein kleines Lied vom Glück sang? Dessen Schicksal ihn immer dauerte, weil seine junge Frau nach der Geburt von Zwillingen starb, und die beiden Töchter nach einigen Wochen auch? Mit dem er sich während zahlreicher Besuche über Gott und die Welt unterhalten hatte, und der ihm von allen Angehörigen am nächsten stand? Meinen Mann hat es gequält, dass er nicht wusste, was mit Onkel Julius passiert war. In Auschwitz ermordet. Ja. Aber wie war er dorthin gekommen? In Oldenburg hatte er nach seiner Entlassung aus Sachsenhausen noch eine 184
Das Ende
Karte von ihm bekommen, mit der Bitte, ihm Geld zu schicken. Aber wohin denn? Ein weiteres Schreiben kam nicht mehr. Ist die Unsicherheit über das Schicksal eines geliebten Menschen dem Wissen über die Grausamkeit vorzuziehen, die er erleiden musste? Herbert Lehman schickt Onkel Julius monatlich Geld. Im Frühsommer 1940 marschieren die Deutschen in Belgien ein. Die Falle schließt sich bald.
Das Ende Trepp ist seit geraumer Zeit klar, dass seine und die Gefühle so vieler deutscher Juden sie getäuscht haben. Dies wird nicht vorübergehen. Deutschland ist schon lange kein Rechtsstaat mehr – es ist ein System ohne jedes Recht. Die Juden, die noch im Land sind, können jederzeit getötet werden. Willkürlich und ohne Verfahren. Und aus dem geringsten Anlass. Trepp rechnet damit, dass Hitler seinen letzten Rest an Rücksicht fallen lassen wird, sobald es zum Krieg kommt. Noch zeigt sich Berlin bemüht, dem Ausland gegenüber eine Fassade aufrechtzuerhalten. ‚Ja, wir sind strikt und rigoros mit den Juden‘, lautet Hitlers Botschaft, ‚aber letztendlich tun wir nur, was der Volksgeist will. Wir weisen die Nichtarier in ihre Schranken.‘ Im Falle eines Krieges aber werde es den Diktator nicht mehr interessieren, wie andere Länder sein Handeln beurteilen, glaubt Trepp. Seine Angst nimmt zu, als Deutschland nach dem „Anschluss“ Österreichs im März 1938 im Herbst des Jahres Ansprüche auf das Sudentenland geltend macht. Er schreibt: Mit Furcht verfolgten wir die Entwicklung, die immer größer werdende Spannung unter den Völkern der Welt, als Hitler im Jahr 1938 Österreich und die Tschechoslowakei verschlang. Dann kam im September das Übereinkommen der Mächte in München, für uns eine Gnadenfrist, denn ein Krieg hätte uns ja sofort den Tod gebracht. Wir wußten, daß wir nun eiligst heraus mußten. Ohne dass er es weiß, wird der kommende Jom Kippur, der in diesem Jahr auf den 5. Oktober fällt, sein letzter in Deutschland sein. Er wird auch ohne konkretes Wissen, was kommen wird, dunkel und bitter. Vorbei 185
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sind die Zeiten für Leo Trepp, in denen er sich diesem Tag in Demut hingab, die Würde und Schönheit aufsog und verinnerlichte. Ich kann mir nicht denken, dass er an diesen letzten hohen Feiertagen in Oldenburg nicht daran gedacht hat, wie es einmal war. Dass er nicht darüber nachsann, was die Juden innerhalb weniger Jahre Schritt für Schritt verloren hatten. Und wie sich für ihn selbst eine Welt herumgedreht, wie sich sein Leben auf den Kopf gestellt, wie sich dieser heilige Tag verändert hatte, über den er schrieb: Einer der Gottesdienste, an die ich noch häufig denke, war der zu Jom Kippur, dem Versöhnungstag. Mein Vater trug seinen Kittel, sein weißes Sterbegewand, wie viele der Männer und Frauen, um zu dokumentieren, daß auch das neue Jahr stets eine Balance zwischen Leben und Tod ist, deren Ausgang nicht in unserer Hand liegt. Und um symbolisch zu zeigen, daß sie sich von ihren Sünden reinigen möchten, daß sie „weiß wie der Schnee“ werden sollen, wie es der Prophet Jesaja sagt. Alles war weiß, die Bima, die Decken der Kanzel, vor der Toralade hing ein weißer Vorhang. Und gegen Abend, wenn die Sonne begann unterzugehen, wurde Neilah gesagt, das Schlußgebet. Der Toraschrein stand offen, und die Gemeinde flehte Gott an, ihre Gebete zu erhören, bevor der Tag vorbeiging. Mein Vater neben mir betete mit einer Inbrunst, die mich packte. Von unseren Sitzen aus blickte ich direkt auf die Torarollen, auf die durch die bunten Westfenster die Lichter der Abendsonne fielen und auf den weißen Mänteln spielten, während der Silberschmuck funkelte und die Strahlen reflektierte, die, nun gebrochen, für mich als Kind wie ein mystisches Licht göttlicher Nähe schienen. Es war ein Moment größter Hingabe und Innigkeit, und er trug etwas Magisches in sich. Die Melodien an diesem Tag wurden bittend und zugleich jubelnd gesungen, bittend in dem Wissen, daß wir arme Sünder sind und auf Verzeihung angewiesen, und jubelnd in dem Wissen, daß unser Gott ein guter, ein gnädiger Gott ist und uns verzeihen wird. Nun geht es nicht mehr nur darum, ob Gott dem schuldig gewordenen Menschen vergibt. Jetzt muss er ihn erst einmal leben lassen. Leo Trepps Predigt zur Seelenfeier gegen Ende des Jom Kippur ist direkt, klar und bitter. Er spricht über das Kaddisch, das Gebet, dass die Juden für ihre Verstorbenen sagen. Seine Ansprache ist eine vorweggenommene Trau186
Das Ende
er um den Untergang einer großen Kultur. Und es ist die Konfrontation mit dem möglichen eigenen Tod. Es sind nicht einmal mehr fünf Wochen bis zu den Novemberpogromen, und zum ersten Mal spricht Trepp aus, was alle wissen, aber keiner wissen will. Die Juden werden wahrscheinlich sterben. Wenn es denn so kommt, sagt Trepp, sollen sie in Würde gehen. Als stolze Bekenner zu dem einen einzigen Gott. Als seine Zeugen. Unter anderem sagt Trepp: Das Kaddisch ist das Gebet, das wir im Angedenken der Verstorbenen sprechen, doch erwähnt es den Tod überhaupt nicht. Es ist eine Heiligung Gottes: „Erhöht und geheiligt werde Sein großer Name, in der Welt, die Er nach seinem Willen geschaffen hat. Sein Reich komme …“ In bitterer Not preist der Jude Gott, erkennt Ihn als Herren an, fügt sich Seinem Willen und ermuntert seine Freunde in der Gemeinde, sich dieser Heiligung anzuschließen, indem sie es sagen: „Amen, Sein großer Name sei gesegnet für alle Ewigkeit.“ Wie die Ahnen Gott heiligten, so verpflichten wir uns im Angesicht der Sorge und des Todes, Ihn ebenfalls zu verkünden. Wir müssen Kaddisch sagen für das deutsche Judentum und dürften berufen sein, in der Stunde seines Todes Gottes Gerechtigkeit, Heiligkeit und Liebe durch’s eigene Opfer zu bezeugen. Ende Oktober 1938 werden rund siebzehntausend polnischstämmige Juden aus Deutschland in Züge gesteckt und an die polnische Grenze verschleppt. Polen soll sie aufnehmen, macht die Grenzen aber bald zu. So irren Tausende Juden heimatlos im deutsch-polnischen Grenzgebiet herum. Irgendwann werden mindestens achttausend von ihnen interniert, die hygienischen Zustände beschreiben Überlebende später als grausam und unerträglich. Unter den Zwangsdeportierten befinden sich die Eltern des siebzehnjährigen Herschel Grynspan, der daraufhin in Paris auf den deutschen Botschaftssekretär Ernst Eduard vom Rath ein Attentat verübt. Der Diplomat stirbt. Das nehmen die Nationalsozialisten zum Anlass, den Parteibüros und der SA zu signalisieren, landesweit Synagogen und jüdische Geschäfte zu zerstören, tatsächlich werden sich dann auch Polizei und Feuerwehr sowie ungezählte Privatbürger eifrig beteiligen. In der Nacht vom 9. auf den 10. November brennen in Deutschland und Österreich die Synagogen. Der Mob zerstört über tausendvierhundert 187
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Gebethäuser und siebentausend Geschäfte oder beschädigt sie so stark, dass sie ruiniert daliegen. Mehr als eintausendreihundert Juden sterben durch die Angriffe. Rund dreißigtausend werden festgenommen und auf Konzentrationslager verteilt. Goebbels spricht von der „verständlichen Empörung des deutschen Volkes“. Leo Trepp hat in einem zweitägigen Interview auch über diese Nacht berichtet: Wir hatten einige Familien aus Polen in der Gemeinde. Wir konnten nichts für sie tun, außer ihnen Decken und Lebensmittel an den Bahnhof zu bringen und ihnen zu versprechen, ihre Kinder, die sie zurücklassen mußten, weil Polen sie auf keinen Fall nehmen würde, gut zu betreuen. Und ich habe den Leuten gesagt, daß sie mich Tag und Nacht auf unsere Kosten anrufen können, um zu erfahren, wie es den Kindern geht. Von nun an blieb immer jemand im Haus, in der Nähe des Rabbinatstelefons. So begann mein Arbeitstag am 9. November mit der Anmeldung eines Gesprächs aus Polen, das irgendwann im Laufe des Tages oder der Nacht zustande kommen würde. Gegen Nachmittag ging ich in die Synagoge und bereitete einen Lichtbildervortrag für den Abend vor, mit interessanten Aufnahmen aus der Schweiz, um die Leute ein bißchen abzulenken und aufzumuntern. Am späten Abend war ich wieder zu Hause, da klingelte das Telefon, ich dachte, es sei Polen, und bin hingeeilt, doch alles was ich hörte, war ein tiefes Atmen. Ich bekam keine Antwort, die Person hatte aufgelegt. Eine Minute später rief Rechtsanwalt Löwenstein an, der Gemeindevorsteher, und sagte: „Die Synagoge brennt.“ Ich habe natürlich gedacht, es sei ein Unglücksfall, und gerufen: „Ich werde sofort hingehen. Vielleicht kann ich jedenfalls die Torarollen retten.“ Da sagte er: „Nein, das will ich nicht, auf keinen Fall, ich verbiete es Ihnen hiermit offiziell, denn sonst wird man Sie beschuldigen, sie in Brand gesetzt zu haben.“ Das Gemeindehaus mit der Schule stand ebenfalls in Flammen und damit die Amtswohnung von Lehrer Freund. Es klingelte, und wir nahmen an, es sei der Lehrer. Miriam öffnete die Tür im Morgenmantel. Vor ihr standen sechs SS-Männer und sagten: „Sie brauchen sich nicht anzuziehen, für Sie ist alles vorbei. Wir nehmen Sie mit.“ Wir haben uns angezogen. In der Zwischenzeit haben sie überall herumgestöbert und die paar tausend Mark in meiner Schreibtischschublade gefunden, die ich im Laufe der letzten Monate für die Gemeinde von der Bank abgehoben 188
Das Ende
hatte. Die Konten für Juden konnten ja jederzeit gesperrt werden. Doch meinen Gemeindeleuten konnte ich damit nicht mehr helfen, sie steckten das Geld ein. Meinen gesamten Band der Talmudübersetzung nahmen sie ebenfalls mit. Wir gingen runter und liefen an der Straßenseite, das Auto neben uns, auf dem Beifahrersitz saß ein Mann, der seine Pistole gezogen hatte, falls wir weglaufen sollten, es ging bis zur Kaserne am Pferdemarkt. Und während der Nacht kamen dann die Männer, Frauen, Kinder, Greise und Säuglinge auf den Armen ihrer Mütter aus allen Gemeinden des Landes an, einige setzten sich vor Müdigkeit auf den dreckigen Boden. Und jetzt wußten wir, es war nicht etwas, das nur in der Stadt Oldenburg passiert war. Alle Synagogen, alle Gemeinden waren zerstört. In der Frühe wurden Frauen und Kinder nach Hause geschickt. Miriam sandte dem Oberrabiner von England ein Telegramm mit den Worten: „Das Schiff ist gesunken.“ Wir Männer wurden im Laufe des Tages in Reih und Glied aufgestellt, von SA-Schergen als Bewachung eskortiert und im Siegeszug durch die Stadt geführt. Wir liefen an der Synagoge vorbei. Das Dach fehlte, der hintere Teil lag offen, wo die Torarollen gestanden hatten, klaffte ein Loch, der ganze Platz war ein Trümmerhaufen. Und die Leute haben davor gestanden, sich unterhalten und Pfeife rauchend die ganze Geschichte angeguckt. Die SA führte uns durch die Mitte der Stadt, es sollte ein möglichst langer Gang werden, damit alle uns sahen. Wir wurden fotografiert. Die Leute am Straßenrand lachten und grinsten und riefen uns Unflätigkeiten zu. Doch die Juden des Landes Oldenburg gingen ihrem Schicksal hoch erhobenen Hauptes mit Stolz und Würde entgegen. Der Marsch endete im Gefängnis. Erst als ich allein in einer Einzelzelle eingesperrt stand, brach die Verzweiflung in mir los, ich schlug mit meinen Fäusten an die Wand und rief: „Was hab’ ich denn getan? Was hab’ ich denn getan?“ Bald aber brachten die Wachen einige Gemeindemitglieder herein, und ich mußte wieder der Rabbiner sein, der den anderen tröstend und helfend beistand. Am nächsten Morgen ganz früh mußten wir zum Güterbahnhof laufen und wurden in einen Sonderzug nach Sachsenhausen gesetzt. Ziel war das Konzentrationslager. 2009 produziert ein Fernsehteam einen Dokumentarfilm über meinen Mann. Der Film sollte die verschiedenen Stationen seines Lebens zeigen. „Wir gehen natürlich auch nach Sachsenhausen“, sagt der verant189
4. Kapitel: Rabbinat in Zeiten der Angst
Oldenburger Juden auf ihrem Gang durch die Stadt ins Gefängnis. Im rechten Hintergrund mit hellem Hut Rabbiner Trepp.
wortliche Redakteur. „Es wäre sehr gut, wenn wir Ihren Mann vor Ort filmen könnten.“ Leo lehnt ab. Wie er alle anderen Anfragen ebenfalls ablehnt. Er kann nicht gehen. „Es würde mich zerstören“, sagt er. Das Team macht die Aufnahmen ohne ihn. In diesem Sommer fahre ich allein hin. Mein Mann hat Verpflichtungen in Mainz, ich bin einige Tage in Berlin. Das ist meine Gelegenheit. Ich will verstehen, durch was er gegangen ist. Ich will endlich adäquat mit ihm darüber sprechen können. Die Anlagen liegen beinahe steril da. Die Inschrift „Arbeit macht frei“ auf dem Eingangstor erscheint mir zynisch, natürlich. Doch was sie denen bedeutete, die in jedem Augenblick der meist sinnlosen Arbeit totgeschlagen, totgetreten, erschossen, von Karren und Wagen zerquetscht werden konnten, ohne dass auch nur einer sich darum gekümmert hätte, wie kann ich das ermessen? Wie kann ich nachempfinden, wie die drei Latrinen, die neutrale Reihen bilden, für Hunderte Häftlinge gestunken haben müssen? Wie mein Mann sich fühlte, wenn er sich nicht waschen konnte, weil andere die Juden wegstießen von dem Gemeinschaftsbecken, das aussieht wie ein Brunnen? Juden standen in der Hierarchie ganz 190
Das Ende
unten. In der Ausstellungsbaracke blicke ich auf sein Foto. Er im Talar neben seiner Schwiegermutter. Ich schaue ihn lange an. Eine Zukunft zerstört, ein Potential zerstört. Und dann noch dies. Ich kann es nicht nachempfinden. Vielleicht intellektuell verstehen, und das wäre schon viel. „Was hat du heute gemacht, mein Herz?“ fragt er, als er abends anruft. Mein Bruder liegt im Krankenhaus. Ich erzähle meinem Mann, dass ich dort war. Ein Jahr später beginnt er, in manchen Nächten im Schlaf zu schreien. „Ich musste alle verbrannten Synagogen zählen, und dann habe ich die Liste verloren“, sagt er, ein andermal lassen ihn die Träume herumwandern und nach Lampenschirmen suchen, die er beerdigen muss. Ich kann das nur dokumentieren. Dorthin folgen konnte ich ihm nicht. Letztendlich war er, wie es wohl alle Überlebenden sind, in seiner Erinnerung allein. Ich weiß das seit meinem Besuch in Sachsenhausen und höre auf, nach dem Warum zu fragen, sobald er mich darum bittet. „Halte mich einfach.“ Das tue ich. Sachsenhausen also. Das Konzentrationslager, gerade mal eine halbe Autostunde von Berlin entfernt, wird 1936 von Häftlingen gebaut. In den ersten Jahren kerkern die Nationalsozialisten hier hauptsächlich politische Gefangene ein. Nach dem Novemberpogrom erreichen rund sechstausend Juden das Lager. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges verschleppen die Nazis Gefangene aus allen Ländern hierher. In den Jahren zwischen 1936 und 1945 werden mehr als zweihunderttausend Häftlinge aus vierzig Nationen inhaftiert und Zehntausende von ihnen ermordet. Erst willkürlich durch spontane Erschießungen oder Exekutionen zur Bestrafung. Später werden sie gezielt vernichtet. Es gab einige Geschichten, die mein Mann erzählte. Erlebnisse, von denen er sich emotional distanziert zu haben schien. Die er fast sachlich mitteilte, wie er Menschen, wenn sie fragten, mitteilte, dass seine Mutter ermordet worden sei, und wie sie die meisten anderen Mitglieder seiner Familie. Zeitlebens trennte er den Chronisten Leo Trepp, dessen Zeugnis er den Nachkommen auf beiden Seiten, Opfer und Täter, nicht vorenthalten wollte, von seinen Gefühlen und von seiner Trauer. Am Abend hielt der Zug mitten auf einer dunklen Wiese. Wir mußten rausspringen, hinter uns bellten die Hunde, und die SS-Männer schrien: „Raus! 191
4. Kapitel: Rabbinat in Zeiten der Angst
Raus!“ Wir mußten in Fünfergruppen laufen. Einige von uns, die schwächer waren, konnten unter ihren Hieben nicht rennen und fielen immer wieder hin. Vorne liefen die Leute aufeinander auf, wenn alle abrupt stehenbleiben mußten. Dann lagen sie auf dem Boden, und die Wachen traten sie und schlugen sie mit Gewehren, damit sie wieder aufstanden. Wir hakten uns ein, damit die Starken die anderen mitziehen konnten. Das war mein Glück. Denn ich stürzte über einen Markstein und verstauchte mir den Knöchel. Und wäre wahrscheinlich nicht mehr weitergegangen, wenn die anderen mich nicht hochgehoben hätten. Und dann trieben sie uns hinein ins Lager. „Rasch! Stehenbleiben! Rasch! Stehenbleiben!“ Für den Rest der Nacht mußten wir in Reih und Glied vor Gräben ausharren, stehend. Einige der älteren Männer brachen zusammen. Einer davon direkt vor mir. Plötzlich knickte er weg. Der SS-Mann sagte: „Judde-Doktor, gucke mal!“ Dann kam ein Arzt aus unseren Reihen, legte sein Ohr auf die Brust des anderen und sagte: „Der Mann hat einen schweren Herzanfall, der muß sofort ins Lazarett.“ Daraufhin verhöhnte der Schutzstaffler ihn: „Krankenhaus? Für’n Jud? Der ist ja tot.“ Er verpaßte ihm ein paar Tritte, und noch ein paar Tritte, offensichtlich wollte er ihn tottreten, und der Mann zuckte, und dann rief der SS-Offizier einen der Häftlinge mit einem Karren und rief: „Hier, schmeiß den weg. Der ist tot.“ Er war aber nicht tot. Lebendigen Leibes warf man diesen Mann auf den Holzwagen und schob ihn in die Totenkammer. Eine Latrine gab es nicht. Man mußte sich am Rand einer Grube entleeren. Kaum hatte der Häftling angefangen, schrie eine Wache: „Zwick es ab.“ Beschmutzt und dennoch ohne Erleichterung mußte er in die Reihe zurücktreten. Am nächsten Morgen wurden wir untersucht, um uns zu beschämen vollkommen nackt. Einer der SS-Leute fragte mich nach meinem Beruf. „Rabbiner.“ Darauf schlug er mir rechts und links ins Gesicht, immer wieder, bis meine Brille runterfiel. Wir füllten die Karten für die Registratur aus – sie hatte zwei Vermerke, „entlassen am“ und „gestorben am“ –, bekamen unsere Kleidung, einen dünnen Pyjama, und dann wurden uns die Köpfe geschoren. Nachdem wir in die Baracken eingewiesen worden waren, bekamen wir zum ersten Mal etwas zu essen, eine wäßrige Kartoffelsuppe, in der kleine Streifen Walfischfleisch schwammen. Die ganz Frommen wollten sie nicht essen, weil Wal nicht koscher ist. Ich sagte ihnen: „Ihr müßt es essen. Nach den jüdischen Gesetzen ist es eure Pflicht, euer Leben zu erhalten, soweit ihr 192
Das Ende
es könnt.“ Das Lager war von einer Mauer mit Wachtürmen und einem elektrischen Zaun umgeben. Jeder Tag war gleich. Am Morgen, so gegen vier oder fünf Uhr, mußten wir auf dem Paradeplatz stehen, um gezählt zu werden, und gezählt und gezählt, Stunden. Über uns kreisten die Scheinwerfer des Flutlichts, wir waren wie eingekesselt, alle Maschinengewehre auf den Wachtürmen auf uns gerichtet. Jeden Abend dasselbe. Im Laufe des Tages ließ man uns alle mögliche nutzlose Arbeit verrichten. Hinsetzen, in die Knie gehen, immer wieder. Oder wir mußten auf den Lagerstraßen winzige Abfälle wegräumen und Gräser ausrupfen. Übersah man auch nur das kleinste bißchen, wurde der einzelne oder die Gruppe scharf bestraft. Doch meistens mußten wir Sandsäcke einen Hügel hinauf- und wieder hinunterschleppen, hinauf und runter, den ganzen Tag. Die älteren Gefangenen warnten uns vor den „Scherzen“ im Lager. Manchmal riefen die Wachleute Gefangene zu sich, standen dabei aber schon jenseits der unmarkierten Grenze, die wir nicht übertreten durften. Die Männer, die dem Befehl folgten, wurden zum Vergnügen der anwesenden Wachen „auf der Flucht“ erschossen. Dann kam eine Nacht, in der wir uns gegen vier Uhr morgens zum Appell einfinden mußten, der Regen rieselte, der Kommandant kam auf seinen Balkon und schrie: „Ihr seid der Abschaum der Menschheit. Ihr seid das Gift der Menschheit. Verbrecher. Was immer meine Männer mit euch tun, sie haben das Recht dazu. Sie können jeden einzelnen von euch erschießen, ohne daß ihnen etwas geschieht.“ Alle Scheinwerfer richteten sich auf uns, und ich war mir sicher, daß er den Befehl geben würde zu schießen. Dies war das Ende. Und in dem Augenblick hatte ich plözlich ein gewissermaßen sichtbares Bewußtsein der Gegenwart Gottes. Ich sprach mein Glaubensbekenntnis, und dann sagte ich „Lieber Gott. Wenn es Dein Wille ist, daß ich jetzt für Dich sterbe: Ich bin bereit.“ Diese unmittelbare Nähe zu Gott habe ich so nie wieder im Leben gefühlt. Aber es bezeugt die göttliche Gegenwart in einer persönlichen Erfahrung an einem Ort, wo man sie am wenigsten erwartet. Der Kommandant gibt den Schießbefehl nicht. Einige Tage später wird Leo Trepp entlassen. Rabbiner Hertz hat sich sofort nach dem Erhalt von Miriams Telegramm um ein Visum für die beiden bemüht. Immer noch will das Regime die Juden hauptsächlich zur Ausreise zwingen. Können sie Visen nachweisen, lässt man sie gehen, und sie müssen das 193
4. Kapitel: Rabbinat in Zeiten der Angst
Land innerhalb einer Zweiwochenfrist verlassen. Mit Leo Trepp verlässt Heinrich Hirschberg das Konzentrationslager. Sie bekommen ihre Anzüge wieder und unterschreiben Papiere, in denen sie bestätigen, dass sie stets mit Rücksichtnahme und Menschlichkeit behandelt worden seien. Kleingedruckt teilt das Formular mit, es gebe auch die Möglichkeit zur Beschwerde. „Habe ich aber keinen Gebrauch von gemacht“, sagt mein Mann lapidar. Auf dem Weg nach draußen verflucht sie der diensthabende SS-Mann am Tor, hörbar ein Österreicher, und ruft ihnen Gemeinheiten hinterher. Die beiden müssen den Personenzug nach Berlin nehmen und dann umsteigen. Sie setzen sich schweigend in ein Dritte-Klasse-Abteil. Vor Berlin brüllt sie ein Mann plötzlich an: „Steht auf, ihr Juden, die Sitze sind für Deutsche.“ Sie springen auf und stellen sich am Ende des Wagens an die Wand. In dem anderen Zug finden sie ein leeres Abteil und kauern sich auf zwei Sitze, bis sie in Oldenburg angekommen sind.
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FÜNF TES KAPITEL
Rückkehr
„Wo warst du in jener Zeit?“
F
ünfzig Jahre danach wird Leo Trepp den Gang von der früheren Polizeikaserne am Pferdemarkt durch die Stadt bis zum Gerichtsgefängnis noch einmal gehen. Er führt einen Zug von mehreren Tausend Oldenburgern an, an seiner Seite der Oberbürgermeister. Längst weiß er im Detail, was nach dem 9. November geschehen ist. Er hat gelesen, dass die verbrannten Reste seiner Synagoge als Bauschutt von Pferden weggekarrt wurden, und ein besorgter Oldenburger daraufhin eine Anfrage im Rathaus machte. Wegen der Pferde, die man mit dem Schleppen der schweren Steine schinde. Trepp hat erfahren, dass nicht einmal eine Woche nach dem Brand jemand das Synagogengrundstück kaufen wollte. Dass nach der Pogromnacht Enteignungen der Juden die Regel waren, hatte er noch selbst erlebt. Er weiß, dass die Versteigerungen von Möbeln, Teppichen und Gegenständen aus jüdischen Haushalten von da an in Zeitungenannoncen angekündigt und jüdische Häuser ohne bürokratischen Aufwand versteigert oder gleich an hohe NS-Funktionäre übereignet wurden. Ein jeder weiß, dass die Parteizeitung des Landes Goebbels’ Worte aufnahm und das Verbrechen als Volkswut bezeichnete und schrieb, dass die Synagoge in der allgemeinen Empörung in Flammen aufgegangen und die Juden in Schutzhaft genommen worden seien. Und Trepp ist vollkommen klar, dass niemand dieser Darstellung widersprochen hat. Schon 1973 hat er ein umfangreiches Buch über die Oldenburger Juden geschrieben und ist die alten Dokumente durchgegangen. Als die beiden Lehrer der abgebrannten jüdischen Volksschule ins KZ kommen, schreibt das Schulamt dem zuständigen Minister, die 195
5. Kapitel: Rückkehr
Lehrer hätten „ihre Tätigkeit an der jüdischen Volksschule am 10. November 1938 aufgegeben. Es kann nicht damit gerechnet werden, dass sie in der nächsten Zeit in den Schuldienst zurückkehren.“ Trepp ist sich klar über das „vollkommene Unberührtsein der Menschen am Leiden der Juden“, wie er sagt. Nun marschiert er mit den Kindern dieser Menschen die Straßen hinunter und hat dafür den Flug aus Kalifornien nach Norddeutschland in Kauf genommen, in die Kälte, die er in diesen Jahren schon in den Knochen spürt. Doch was ist der norddeutsche Wind, wenn er dieses Zeichen setzen kann? Und ein Zeichen will er setzen. Der Fünfundsiebzigjährige ist noch lange nicht fertig. Von der Universität in Kalifornien ist er gerade emeritiert worden und kann nun häufiger nach Deutschland kommen. Nicht nur als „Sprecher der Ermordeten“, wie er sich in Reden manchmal bezeichnet, sondern als „Rufer für Freiheit und Gerechtigkeit“. Jemand, der es als seine Aufgabe sieht, wie er zwei Jahre später in seiner Rede als Ehrenbürger sagen wird, „von der Zukunft und den Verpflichtungen für die Zukunft“ zu sprechen. Die zweite und dritte Generation wird ihm zumindest zuhören, glaubt er. Und die Täter und Mitläufer? Schon 1944 sagte er in einem Vortrag in den Vereinigten Staaten, er befürchte, dass die politische Intelligenz der Deutschen und deren Fähigkeit, gemeinsam für das Wohl aller zu arbeiten, in den Hitlerjahren so gelitten hätten, dass es schwer sein werde, das Denken derjenigen zu ändern, die mit dieser Doktrin aufgewachsen seien, mit dem Bewusstsein, dass sie, dass der deutsche Mensch, der deutsche Geist, die Welt beherrschen werde. „Die militärische Niederlage wird dieses Denken nicht ändern“, sagte er, „es kann sie nur für eine Weile schockieren, und dann werden sie ihre alten Träume weiterverfolgen. Es bedarf einer Armee nicht nur von Soldaten, sondern von Lehrern, Predigern und Wissenschaftlern, um diese deutsche Vorstellung aus den Köpfen herauszubekommen. Und sie werden Jahre brauchen.“ Diese Armee hat es nie gegeben. Und dennoch ist er 1954 auch nach Oldenburg zurückgekommen. In die „Hochburg des völkischen Denkens“, wie es Ekkehard Seeber, der spätere Kulturdezernent, sagen wird. Als der Schaffner ihn im Zug von Mainz in den Norden nach seiner Karte fragte, zuckt Trepp zusammen. Jahrelang werden ihn deutsche Unifor196
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men einschüchtern. Und der Generation dieses Schaffners, diesen Menschen, die alt genug sind, schon unter Hitler gearbeitet, seinen Reden gelauscht, ihm gedient zu haben, kann er nur mühsam vertrauen. Bei jeder Begegnung wird er sich fragen: „Wo warst du? Was hast du getan?“ Bei seinem ersten Besuch hat Trepp mit den Bürgern, bis auf die paar Juden, die überlebt haben, kaum zu tun. Er besucht seine geliebte Selma und fährt ab. Doch er kommt erneut, und in den sechziger Jahren streckt er auch offiziellen Vertretern die Hand aus. Heinz Rathert ergreift sie mit Freude. Der Oberstadtdirektor und Leo Trepp freunden sich an. Er vertraut diesem parteilosen Politiker und sieht sich bestätigt, als er bei einem Besuch des örtlichen Museums ein Gemälde entdeckt, auf dem auch Rathert zu sehen ist. Der damals junge Assessor sitzt in einer Runde von Stadtvertretern. Nach dem Krieg hat man die Parteiabzeichen der Nationalsozialisten unter ihnen dezent übermalt. Zurück blieb bei allen ein Fleck auf der Jacke. Nur Ratherts Anzug ist fleckenlos. In diesen Jahren beobachtet Trepp ein festes Muster. Menschen wie der Oberstadtdirektor, die dem Hitlerregime kritisch gegenüberstanden, aber nichts taten, handelten nun in einem „Gefühl des bedrückenden Wissens um die Schuld“, schreibt er, während „die aktiven Unterstützer in den meisten Fällen erklärten, nichts gewusst zu haben und keinerlei Schuld zu tragen“. 1965 besucht er die Stadt, hauptsächlich, um ein Buch über die jüdische Landesgemeinde vorzustellen, und um mit der jüdischen Gemeinschaft zu beratschlagen, ob und wie es weitergehen kann. Die Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit bittet ihn während seines Aufenthalts, einen Spruch für den Gedenkstein vorzuschlagen, den sie an dem Ort aufstellen möchte, an dem die zerstörte Synagoge stand. Auch Karl Jaspers wird angefragt, der Sohn der Stadt, der seit zwei Jahren auch deren Ehrenbürger ist. Schon zu dieser Zeremonie ist Jaspers nicht erschienen. Er misstraut der neuen bundesrepublikanischen Wirklichkeit und will nicht nach Deutschland kommen, das er 1948 für die Schweiz verlassen hat. Überlebt haben er und seine jüdische Frau in der inneren Emigration in Heidelberg, seines Lehrstuhls an der Universität beraubt, stets von Deportation bedroht. Zu viel, sagt er, hat man Menschen in der Nazidiktatur angetan, und zu wenige radikale Schritte ist man nach dem Krieg gegangen. Immerhin hat der Philosoph 197
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die Ehrung angenommen, andere Anerkennungen lehnt er ab. Für den Gedenkstein wählt er nun das Glaubensbekenntnis der Juden und Worte, die an die Synagoge erinnern, die „auf Befehl der Nationalsozialisten und unter Duldung der ortsansässigen Polizei“ zerstört worden sei. Der Verwaltungsrat der Stadt lehnt mehrheitlich ab. Leo Trepp schlägt ein Zitat des Propheten Malachi vor, auf deutsch und hebräisch: „Haben wir nicht alle einen Vater? Hat uns nicht ein Gott geschaffen? Warum verachten wir einander?“ Zwei Jahre später wird das Mahnmal mit dieser Inschrift eingeweiht. Es ist 1967. Nichts ist aufgearbeitet. Nichts wird erinnert. Man verdrängt. Daran hatte selbst der Eichmann-Prozess in Jerusalem vor sechs Jahren nichts geändert. Kurt Georg Kiesinger ist Bundeskanzler, NSDAP-Mitglied von Anfang an, als Mitarbeiter im Auswärtigen Amt aktiv in der nationalsozialistischen Politik tätig. Erst langsam beginnen die jungen Menschen, ihre Eltern zu fragen, wo sie waren. Warum sie nichts getan haben. Es wird Jahre dauern, ehe ich selbst, in Oldenburg geboren und nun in einer Kleinstadt aufwachsend, verstehe, dass alle älteren Menschen um mich herum Nazis waren. Meine Großmutter hatte ihre Kinder zum Konfirmandenunterricht der Bekennenden Kirche geschickt und ihnen die Teilnahme an den Jugendorganisationen der Partei verboten. „Es war demütigend“, sagt meine Mutter, „jeden Montag mussten wir in der Schule über unser Treffen im BDM berichten, ich war die Einzige, die das nicht konnte. Die anderen lachten mich aus, und der Lehrer war ärgerlich mit mir.“ Ich verstand das nicht. „Aber der Lehrer war doch kein Nazi, oder?“ Wie konnte eine Respektsperson gleichzeitig Verbrechern dienen? „Doch, natürlich war er ein Nazi. Fast alle waren Nazis“, sagt sie. Ich gehe Namen aus unserer Stadt durch, und sie nickt und nickt. Als mir später das Ausmaß der Verbrechen, die Schwere der Schuld klar werden, will ich eigentlich nur noch eines: weg. Und er kommt zurück? Und wählt diese versöhnliche Inschrift? Wieder frage ich ihn: „Warum?“ Ich verstehe Karl Jaspers so viel besser als ihn. Und seine Miriam. 1999 stehen wir zu dritt vor dem Mahnmal. Die erste Frau von Leo Trepp kommt nur ungern nach Deutschland. Auch diesmal ist sie hauptsächlich hier, um ihren Bruder zu treffen, der mittlerweile in England lebt. Direkt und klar sagt sie, was sie denkt. Auch mir. 198
„Wo warst du in jener Zeit?“
Ich habe die beiden bei einem offiziellen Mittagessen getroffen, immer noch habe ich den Tod meines ersten Mannes nicht verwunden, und anscheinend ist es mir anzusehen. Sie beugt sich zu mir herüber: „Sie sehen traurig aus. Was ist los mit Ihnen?“ Wir mögen uns auf Anhieb, werden danach jede Woche telefonieren, manchmal für Stunden. Miriam ist strikt mit den Deutschen. „Sie sind jung genug“, sagt sie an diesem Nachmittag. Eine frühere Mitschülerin von ihr ist es nicht. „Wenn du mich gern hattest und so traurig bist über mein Schicksal, warum hast du dann seit 1933 nicht mehr mit mir gesprochen?“, erwidert sie auf deren Annäherungsversuch. Sie ist froh, dass sie bald wieder in die Vereingten Staaten fliegt. Als sie krank wird, besuche ich sie, und als sie kurz darauf im Krankenhaus stirbt, fliege ich zur Beerdigung wieder hin. Beide Male wohne ich bei den Trepps. Die Abende verbringen Leo und ich damit zu reden. Meine Generation kennt Menschen wie ihn kaum noch. Zum ersten Mal verstehe ich, dass hier jemand tatsächlich lebt, was er schreibt und lehrt. Dass er fest daran glaubt, dass alle Menschen als Ebenbild Gottes geschaffen und darum geliebt und der Liebe würdig sind, auch die Nachkommen derer, die unsagbare Schuld auf sich geladen haben. Dass, wenn er Studenten und Schulklassen sagt, „ihr tragt keine Schuld, aber die große Verantwortung, immer wieder zu erinnern, und gegen Antisemitismus und jede Form von Rassismus und Diskriminierung zu kämpfen, und daran zu arbeiten, dass sich etwas Ähnliches nie mehr wiederholt“, dass diese Aufforderung also die kürzeste Formel ist für eine Haltung, die seine Religion ihm vermittelt und die er verinnerlicht hat. Vor Jahren habe ich sein Buch Die Juden gelesen. Und nun verstehe ich, dass, wenn er dort den Talmud zitiert, nach dem der Mensch die Tora zur „Richtschnur seines Lebens“ machen soll, er damit nicht nur seine Leser ermahnt, ein verantwortliches und um die Gemeinschaft besorgtes Leben zu führen, sondern auch sich selbst. Und wenn er seiner Verantwortung in Deutschland gerecht werden will, wenn er helfen will, „mitzubauen an der neuen Demokratie“, wie er es damals bei seinem ersten Besuch in Mainz gedacht hat, dann braucht er die Gutwilligen auf seiner Seite. Das Mahnmal soll sie nicht abstoßen, es soll sie zum Nachdenken bringen. Es soll sie öffnen für den Dialog. 199
5. Kapitel: Rückkehr
Er will die willigen Menschen ansprechen, besonders die jungen Leute wie den späteren Chef des Kulturamtes, Ekkehard Seeber, der ein enger Freund werden soll und einer der wichtigsten Mitstreiter, für ihn und für die neue jüdische Gemeinde, die es in Oldenburg geben wird. Und der sagt: „Mit dem Gedenkstein hat Leo Trepp auf die Gemeinschaftlichkeit des Menschseins gesetzt.“ Trepp weiß, dass die Kinder der Täter gebraucht werden, dass die Mitarbeit der jungen Generation notwendig ist, wenn etwas Neues entstehen soll, genauso wie die Hilfe derjenigen Älteren, die sich nach der Schoah verantwortlich fühlen, die mit ihrer Schuld und Verantwortung ringen, obgleich sie selbst im Rahmen ihrer Möglichkeiten widerstanden haben. Bürger wie Oberstadtdirektor Rathert, der lieber auf Karriere verzichtete, als der Partei beizutreten, oder der Pfarrer der Bekennenden Kirche in Jade, Walter Spitta, der schon früh gegen den Hass predigte und die letzten Juden im Oldenburger Land mit Lebensmitteln versorgte, mit Hilfe einiger Kaufleute, die auf ihn warteten und wortlos Konserven und Gemüse in den offen gehaltenen Sack schoben. Er fällt an der Ostfront. „In der kleinen Zahl derer, die ein Gewissen hatten“, sagt Trepp, „liegt die Zukunft Deutschlands, falls die Jugend von ihrem Beispiel lernt.“ Schon 1967 formuliert er, was er später eingehender in Schriften und Vorträgen erörtern wird. Weder die Juden noch die Christen noch die Muslime können auf sich allein gestellt, isoliert von anderen Gemeinschaften, friedlich leben. Wenn Deutschland eine freie, eine liberale und menschenfreundliche Zukunft haben soll, dann müssen sie alle sich auf dieses Ziel verständigen. In seinem Grußwort für die Enthüllung des Gedenksteins im Herbst 1967 sagt er: Das Denkmal steht hier in der Form einer Mauer. Mauern haben eine doppelte Funktion. Sie können trennen wie die Mauer in Berlin. Mauern können aber ebenfalls zu den Stützen eines Baus werden, der viele Menschen in sich einschließt. Die Mauern eines Gotteshauses sind solche Stützen, und zwar nicht nur für diejenigen, die der Religion angehören, denen das Gotteshaus im engeren Sinn geweiht ist, sondern für alle. Wir haben ja alle einen Vater, und ein Gott hat uns alle geschaffen, so daß daher jedes Gotteshaus mit seinen Mauern symbolisch zum Bau einer besseren, Gott gegebenen und Gott 200
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Erinnerungsgang der Stadt Oldenburg 1988. Rechts im Bild, mit Kranz, Ekkehard Seeber, vierter von rechts ist Leo Trepp.
gewidmeten Gemeinschaft beiträgt. Nicht eine Antwort bietet diese Mauer, sondern eine Frage. Diese Frage, die den einzelnen dazu hinführen soll, sie immer wieder neu aus seiner eigenen Situation und Notwendigkeit und der Notwendigkeit der Gesellschaft zu beantworten, diese Frage ist in gewissem Sinne ein Vermächtnis der Juden. Doch es gehe nicht um die Juden, sagt er, es gehe um alle Menschen. Jeder, der an dem Mahnmal vorbeilaufe, solle sich die drei Fragen stellen: Haben wir nicht alle einen Vater? Hat uns nicht ein Gott geschaffen? Warum verachten wir dann einander? Und wie antworten die Adressaten? Wie überall in Deutschland fühlt sich die Mehrheit nicht angesprochen. Doch eine wachsende Minderheit im Oldenburger Land wendet sich in den kommenden Jahren ihrer Vergangenheit zu. Diese Bürger wollen nicht vergessen, sie wollen aus den Verbrechen lernen. 1981 beginnen ein paar von ihnen eine eigene, ganz auf die Stadt zugeschnittene Form des Nichtvergessenwollens, den Erinnerungsgang. Natürlich schätzt Trepp diesen Beitrag und ehrt ihn, indem er 1988 mitläuft. 201
5. Kapitel: Rückkehr
Und er macht den Beteiligten klar, dass dies nicht das Ende sein kann, dass nur aktives Erinnern, das immer wieder neu mit Sinn gefüllt wird, zu einer neuen Zukunft führen kann. Doch schon längst sind Stimmen laut geworden, die nach einem Ende rufen. Trepp antwortet: Der Judengang in diesem Jahre, wie die gesamten Veranstaltungen im Gedenken an die Pogromnacht des 9. November 1938, darf nicht als Schlußstrich der Vergangenheit gelten, sondern muß Gelöbnis für die Zukunft sein. Darum muß dieser Judengang zu einer dauernden Einrichtung werden, als Mahnung und Ansporn, aus einer schrecklichen Vergangenheit eine bessere Zukunft zu gestalten. Ich machte den ersten Judengang als Gefangener mit. Wir gingen mit erhobenem Haupt. Was zu unserer Beschämung gedacht war, erfüllte uns mit Stolz. In einer verruchten Welt waren wir Zeugen der Menschenwürde, entrechtet erhoben wir unser Haupt als Verkünder des Rechts und der Gerechtigkeit in einer rechtlosen Welt, als Kinder Gottes im Bunde mit Gott stehend gaben wir Kunde von unserem Glauben an Gott in einer Welt, die Gott geächtet hatte. Die Zukunft Deutschlands als ein Land ethischer Menschen ruht weitgehend auf der Lehre, die aus dem Vermächtnis der deutschen Juden spricht. Darum darf dieses Vermächtnis, wie auch das Verbrechen, das an den Juden begangen wurde, niemals vergessen werden. Aus der Erinnerung kann dann Erneuerung kommen, und aus Erneuerung Sühne. Auch wenn er den Deutschen seine Hand ausstreckt, bleiben die Juden und das Verbrechen an ihnen präsent. Sein Ansporn kommt von ihnen, kommt aus dem Bedürfnis, diese Menschen, ihre Leistungen, ihre Ethik, ihre Lehren, ihr Leben nicht zu vergessen. Und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Für die Juden. Und für die Nichtjuden. Verzeihen kann er nicht. Das, sagt er, können nur die, die es nun nicht mehr können, und in deren Namen zu vergeben den Überlebenden nicht zusteht. Und auch vergessen kann er nicht. Zumindest sein Unterbewusstsein kann es nicht. Bis zuletzt wird er unruhig, wenn das Telefon klingelt oder jemand vor der Tür steht, der seinen Besuch nicht angemeldet hat.
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Gestohlene Heimat
Gestohlene Heimat Unmittelbar nach seiner Rückkehr aus Sachsenhausen, nach dieser Fahrt, die ihm endlos schien, verkriecht er sich in der Garderobe. Wenn Telefon oder Türglocke läuten, beginnt sein Körper zu zittern. Er kann es nicht kontrollieren. Doch er hat keine Zeit, nachzudenken oder zu fühlen, was diese drei Wochen mit ihm, mit seinem Denken, seiner Haltung gemacht haben. Es hätte anders enden können, das ist ihm klar. Noch als Dreiundachtzigjähriger schreibt er in seiner Geschichte der deutschen Juden: „Zu dieser Zeit sollten die Konzentrationslager vor allem als Druckmittel für die beschleunigte Auswanderung der Juden dienen. Allerdings überlebten viele sie nicht, und ich frage mich heute immer wieder, ob ich, wäre ich in meinem jetzigen Alter dort gefangengehalten worden, die Pein überlebt hätte und gedenke schmerzlich der Männer, welche die Torturen ertragen mussten, die selbst für uns junge unerträglich schienen.” Um diese Zeit entwirft er die Inschrift für seinen Grabstein und bezeichnet sich als „gerettetes Holzscheit vom Feuer“. Später kommen Schuldgefühle. Warum hat er überlebt? Warum die anderen nicht? Er mag Irrationalität nicht, fast stößt sie ihn ab, und doch kann er sich gegen diese Gedanken in seinen letzten Jahren nicht wehren. In den Wochen vor der Emigration stürzt er sich in die Arbeit. Da ist nichts mehr aufzubauen. Nun müssen die Leute nur noch raus aus dem Land. England hat nach der Pogromnacht angeboten, zehntausend deutsche Kinder aufzunehmen. An organisierte Ausreisen ist immer weniger zu denken. Neben den Vereinigten Staaten und Südamerika stehen den Juden offiziell nur noch wenige Länder offen. Entsprechend viele Eltern versuchen, ihre Kinder für die Fahrt in die Sicherheit zu registrieren. Der Oldenburger Gemeinde gelingt es, jedenfalls ein paar Kinder außer Landes zu bringen, unter ihnen Hans und Ursula Landsberg, deren Eltern Trepp später ebenfalls nach England holen kann. Ein weiteres Mal mit Hilfe des Fabrikanten Smith, der bereits für Leos Bruder Gustav und für Hans und Ursula die Garantiesumme bezahlt hat und im August 1939 auch für deren Eltern bürgt. Für alle Eltern ist es eine Tortur, ihre Kinder allein gehen lassen zu müssen. „Wir konnten den Schmerz auf beiden Seiten greifen“, sagt Trepp, „und doch mussten wir ihnen klarmachen, 203
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dass so jedenfalls ihre Kinder in Sicherheit sein würden.“ Sein Leben lang quälen ihn die Gedanken an das Ehepaar, dessen Kinder bereits registriert waren. Im letzten Moment aber bringen Vater und Mutter es trotz seiner guten Zureden nicht übers Herz, sie in den Zug zu setzen. Alle vier werden ermordet. Noch einmal hat der Rabbiner zum Rapport auf dem Hauptquartier der Gestapo zu erscheinen. Und wieder muss er erkennen, wie willkürlich Entscheidungen getroffen werden, und wie absolut persönlich sie geleitet sein können. Auf der Gestapo sagte der Polizist zu mir: „Wissen Sie, während des Ersten Weltkrieges war ich ein kleines Kind in der Volksschule. Und wir mußten einen neuen Lehrer finden, weil die meisten Lehrer eingezogen waren, und für unsere Klasse kam dann ein schwerverletzter Soldat, der hieß Abraham Trepp. Er war so ein guter und lieber Lehrer und Mensch, und ich hatte ihn sehr gern, so daß ich, als ich Ihren Namen in der Liste sah, an ihn denken mußte, und mich fragte, ob Sie vielleicht sein Sohn sind, den wir so schnell wie möglich hier rausbringen müssen.“ Ich weiß nicht, ob dieser Gestapomann wirklich in der Lage gewesen ist, mich eher aus dem Konzentrationslager herauszuholen, das hing ja allein vom Visum ab, das vor der Entlassung nachgewiesen werden mußte, oder ob er den Visavorgang für uns beschleunigen konnte. Allerdings habe ich tatsächlich das Land ja erst einige Tage nach den zwei Wochen verlassen, die ich eigentlich bis zur Emigration hatte. Wie auch immer es war, er mußte Sympathie für mich haben. Und da habe ich, als ich in dem großen Schrank in seinem Büro meine Talmudbände sah, gedacht, ich kann ja nichts verlieren, mal sehen, was passiert, wenn ich frage. Den Talmud hatte mein Vater schon in den zwanziger Jahren gekauft und mir geschenkt, als ich in Oldenburg anfing. So beiläufig wie möglich, als hätten sie keinerlei Bedeutung, sagte ich also: „Sagen Sie mal, da oben steht ein Band, der mir gehört. Können Sie mir den wiedergeben?“ Er schaute kurz ins Regal. „Sicher. Nehmen Sie es mit.“ Viel mehr haben wir auch nicht eingepackt, ein paar Kisten mit Büchern und ein paar Chanukka-Leuchter. Das Schiff, das Leo und Miriam Trepp nach England bringen soll, fährt in Holland ab. In Bentheim, an der holländischen Grenze, inspizieren die 204
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deutschen Beamten ihre zwei Taschen eingehend und verstreuen den Inhalt auf dem Bahnsteig. Erst als der Zug anfährt, können sie endlich aufspringen, einige Holländer werfen ihre paar Habseligkeiten und die Taschen hinein. Die Türen schließen sich. In London beziehen sie ein kleines Zimmer in einem Heim, in dem das rabbinische Hilfskomittee Flüchtlinge aus den Kindertransporten untergebracht hat. Die Zahl der Anträge von Gemeinden hat das Kontingent überschritten. So lässt sich der eigentliche Plan, alle Jungen und Mädchen in Pflegefamilien unterzubringen, nicht einhalten. Viertausend von ihnen, aus Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei und Polen, werden vorübergehend in Heimen untergebracht. Als Gegenleistung für das Zimmer helfen Leo und Miriam, die Kinder zu unterrichten und zu betreuen. Rabbiner Solomon Schonfeld, streng orthodox und später als Retter von Tausenden Kindern geehrt, freundet sich mit den manchmal nicht ganz orthodoxen Methoden seines Kollegen schnell an. Die beiden Trepps seien „extrem fähig“ gewesen, die Kinder in die richtige Richtung zu leiten, wird er ihnen zum Abschied bescheinigen, „sie haben beides geschafft: die Disziplin aufrechtzuerhalten und ihre Schutzbefohlenen glücklich zu machen“. Leo Trepp lernt noch einmal Englisch, anders als auf seinem Gymnasium, das richtige, wie die Engländer sagen, das Oxford Englisch, und büffelt Vokabeln und Aussprache. Seit Miriam und er mit der Fähre übergesetzt und in England gelandet sind, haben sie kein Wort Deutsch mehr gesprochen. Erst Jahre später werden sie sich wieder Worte in ihrer Muttersprache zuwerfen, dann, wenn es Unstimmigkeiten gibt und ihre Tochter es nicht verstehen soll. „In vielfacher Weise waren die ersten Jahre heimatlos“, schreibt er über diese Monate in London. „Wir waren arme Teufel, die von der jüdischen Gemeinschaft in England unterstützt werden mussten. Wir hatten unsere Sprache verloren. Es war so unglaublich, dass alles, woran ich geglaubt hatte, verschwunden war und nur noch Sorge übrigblieb. Mich befiel eine Leere, in der ich nirgendwo war.“ Zu seinem sechsundzwanzigsten Geburtstag im März 1939 schenkt ihm Miriam einen Besuch in einem öffentlichen Badehaus, in dem er das heiße Wasser in der Wanne so lange auskostet, bis sich seine Haut 205
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wellt. Einmal geht er ins Britische Museum. Und trifft dort ausgerechnet auf Leo Baeck, der einen Kindertransport nach London begleitet hat und einige Stunden Enspannung sucht. Der Rabbiner, der vor zwei Jahren seine Frau verloren hat und mittlerweile weit über sechzig ist, sieht mitgenommen aus. Trepp ist schon nach einigen Minuten des Gesprächs klar, dass der andere dennoch nach Deutschland zurückgehen wird. „Ich habe Aufgaben dort. Es sind noch viele Juden im Land“, sagt Baeck. Er lehrt weiterhin am liberalen Seminar. Und steht natürlich der Reichsvertretung vor, die nun ‚Reichsvereinigung der Juden in Deutschland‘ heißt und in diesem Sommer ihre Selbstständigkeit verlieren und dem Reichssicherheitsamt unterstellt werden wird, ein Konflikt, unter dem Baeck schwer leidet. Im Frühjahr 1939 aber versuchen er und seine Mitstreiter immer noch, so viele Juden aus dem Land zu schaffen wie möglich. Er ist froh, dass seine Tochter und ihre Familie in London in Sicherheit sind, doch er selbst kann nicht bleiben. Nach dem Krieg schreibt ihm Trepp, wie glücklich er gewesen sei zu hören, dass der andere überlebt habe, und dankt ihm noch einmal für die Arbeit der Reichsvertretung. Er sei sehr dankbar, dass Trepp sich habe retten und Arbeit finden können, antwortet Baeck. Beide schreiben auf Englisch. Ein anderer Rabbiner aus Berlin, Trepps Mentor Alexander Altmann, wirkt mittlerweile in Manchester. Er bittet den jungen Kollegen im Sommer 1939, dort sein zweiter Mann zu werden: „Ich bin mir sicher, wir können hier etwas sehr Erfolgreiches aufbauen.“ Trepp ist sich trotz des Drängens unsicher. Er liebt und verehrt Altmann, doch will er in diesem Land bleiben? Will er nach Manchester? Andererseits: Warum nicht? Gustav, den er aus Deutschland herausbekommen hat, lebt mittlerweile ebenfalls in dieser Industriestadt im Nordwesten Englands, wenn auch, philosophisch gesehen, Kontinente von seinem Bruder Leo entfernt, dessen fortschrittliches Denken er für unorthodox hält. Altmanns Plan kommentiert Gustav mit den Worten: „Um Himmels willen, da wären ja die zwei Richtigen zusammen.“ Leo Trepp überlegt hin und her. Dann kommt der Krieg und nimmt ihm die Entscheidung ab. Als Deutsche sind Miriam und er nun „feindliche Ausländer“, zudem haben sie nur auf ein halbes Jahr befristete Aufenthaltsgenehmigungen für England. Man könnte noch einmal versuchen, sie zu verlängern, wie sie es schon im 206
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Juni gemacht haben. Doch wie wahrscheinlich wäre der Erfolg in einer Kriegssituation? Als ihn Anfang Dezember das amerikanische Visum erreicht, sagt er Altmann endgültig ab. Greenfield, Massachussetts ist eine idyllisch gelegene Stadt an der Ostküste der Vereinigten Staaten mit nicht einmal zwanzigtausend Einwohnern, etwa hundertfünfzig Kilometer von Boston entfernt. Viele Häuser, im Kolonialstil gebaut, sehen immer noch so aus, als fehle auf den mit weißen Balustraden abgesteckten Veranden nur der Schaukelstuhl mit Pfeifenraucher. „Hier“, sagt mein Mann, als wir die Stadt 2003 besuchen, „habe ich amerikanische Demokratie gelernt.“ Seine Gemeinde ist orthodox, was die Mitglieder allerdings nicht hindert, an seinem ersten Jom-Kippur-Gottesdienst 1940 während der Predigt zu Dutzenden den Gebetsraum zu verlassen, um sich ein wichtiges Baseballspiel der Weltmeisterschaft im Radio anzuhören. Anscheinend hat das richtige Team gewonnen, denn später kommt die Truppe mit gutgelaunten Gesichtern zurück, um weiter zu büßen. Zum ersten Mal erlebt Trepp, was politisch ‚liberal‘ bedeuten kann. Über vieles entscheiden die Bürger per Volksabstimmung, und wichtige Themen diskutieren alle Interessierten öffentlich in der Stadthalle. Nicht nur die Juden empfangen den Rabbiner mit offenen Armen. Innerhalb weniger Wochen ist er Mitglied des Geistlichenklubs, und schon einige Monate nach seiner Ankunft hält er eine Predigt vor Hunderten von Juden und Christen. Mindestens einmal im Jahr gibt es diese interreligiösen Gottesdienste, und Leo Trepp unterstützt sie von Beginn an nach Kräften und sorgt dafür, dass die Feier in diesem Jahr zum ersten Mal in der Synagoge stattfindet. Bald wird er auch in Kirchen sprechen. Als einem neuen Geistlichen, einem schwarzen Protestanten, nahegelegt wird, sich ein Haus außerhalb des Stadtkerns zu suchen, annoncieren alle zusammen – katholische und protestantische Priester und Pfarrer sowie der Rabbiner – eine ganzseitige Zeitungsanzeige. „Wie wir alle hat er das Recht, dort zu wohnen, wo er wohnen möchte.“ Sie haben Erfolg. Seine Gemeinde liebt Trepps Predigten, auch die Christen hören ihn gern reden, bald bekommt er im regionalen Radiosender ein eigenes Programm und fühlt sich, zum ersten Mal nach langer Zeit, geliebt und integriert. Nur das Gehalt stimmt nicht. Seine Gemeinde muss sparen, 207
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Abraham Trepp mit seinen Söhnen Leo und Martin
und statt der üblichen zweitausendfünfhundert zahlt sie ihm tausendfünfhundert Dollar im Jahr. Er und Miriam knappsen, wo es nur geht, und sind dankbar, dass Schulen manchmal Konzerte oder Theaterstücke aufführen, die gut sind und kein Geld kosten. Und ständig muss er an seine Eltern denken, um die ihn „eine fürchterliche Angst“ quält. Er macht mehrere Anläufe, sie aus Deutschland herauszubekommen, seine Gemeindemitglieder bieten ihm praktische Unterstützung an – ein Doppelbett für die beiden, kostenlose Arztbesuche, Lebensmittellieferungen – doch sein Gehalt ist nicht annähernd hoch genug. Und Miriams Tanten können, nachdem die Garantiesumme für die beiden Trepps schon eine Million Dollar beträgt, nicht noch für zwei weitere Leute bürgen. Mittlerweile sind auch Onkel Abraham und seine Frau mit dem jüngeren Sohn Martin nach Amsterdam geflohen. Der Älteste, Leo, lebt schon seit 1934 dort, studiert am Rabbinerseminar und arbeitet als Jugendleiter für eine jüdische Organisation. Abraham Trepp, der schwer depressiv aus Buchenwald entlassen worden ist, wird für einige Wochen in der Psychatrie einer Amsterdamer Klinik behandelt. Nach seiner Entlassung etwas gefasster und zum ersten 208
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Mal den Realitäten ins Auge blickend, versucht er, seinen Sohn Leo an einem Rabbinerseminar außerhalb Europas unterzubringen. „Mein Vetter war hochbegabt im wahrsten Sinne des Wortes“, sagt mein Mann. „Wissen flog ihm zu. Und schon als Kind wollte er Rabbiner werden.“ Er will etwas für ihn tun. Vielleicht kann das Rabbinerseminar ihm zumindest erst einmal helfen, in die Staaten zu kommen. „Ich setzte mich bei dem Präsidenten des konservativen Jüdisch-Theologischen Seminars in New York, Louis Finkelstein, für ein Stipendium für meinen Cousin ein“, notiert Trepp später. „Da kann ja jeder kommen‘, sagte Finkelstein, ‚der soll mal schön an einem Rabbinerseminar in Holland studieren.‘ Ich habe das nie vergessen können.“ Als die Deutschen 1942 auch in Holland beginnen, Juden zu deportieren, suchen sich Leo und Martin ein Versteck. Ihr Vater weigert sich mitzukommen. Einige Monate später werden er und seine Frau nach Theresienstadt deportiert. Martin, der die beiden gerade besucht, kann sich im Schrank verstecken und muss hilflos zuhören. Ein Jahr später fällt der Siebzehnjährige den Verbrechern selbst in die Hände. Sein Bruder erfährt von der Verhaftung während des Morgengottesdienstes in der Synagoge. Als er am 25. Juli 1943 eine Postkarte seiner Eltern aus Theresienstadt bekommt, Badhausgasse 2, in der die beiden ihren Söhnen wie immer versichern müssen, dass es ihnen gut gehe, und in der sie von Bekannten aus der alten Heimat erzählen, die auch im Lager seien, ihrer Freude Ausdruck geben, dass die Söhne gesund sind und die beiden zum Schluss ihrer Liebe versichern, ist Martin schon zwei Monate tot. Vergast in Sobibor. Sein Bruder überlebt, findet seine Liebe wieder, die er während einer Jugendfreizeit in Holland kennengelernt hatte, und wandert mit ihr nach Palästina aus. Rabbiner will er nicht mehr werden, er kann es nicht mehr werden. Er habe seinen Glauben verloren, erzählt er Leo Trepp, als dieser ihn in Israel wiedersieht. Mein Vetter Leo wurde in Haifa Lehrer und Schuldirektor. Er war so zerstört von dem, was er erlebt hatte, daß er nur noch seinen hebräischen Namen benutzte, Arje oder Ariel, und den Nachnamen in Dargan änderte, was im hebräischen die gleichen Wurzeln hat wie Treppenstufe, um den deutschen Klang loszuwerden. Als Miriam und ich ihn in den sechziger Jahren ihn Israel 209
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besuchten, war er immer noch zu erschüttert, um mit uns in die Gedenkstätte Yad Vashem zu gehen. Am Abend sagte er zu mir: „Erst bei der Feier, mit der meine Söhne zu Offizieren in der israelischen Armee ernannt wurden, fand ich meine Menschenwürde wieder.“ Im Juli 1941 erleidet Maier Trepp einen schweren Herzanfall. Er ist schon jahrelang auf Medikamente angewiesen. Doch seit längerer Zeit kann seine Frau die Pillen nicht mehr auftreiben, die ihn bisher auf den Beinen gehalten haben. Kein arischer Arzt oder Apotheker ist bereit, den beiden zu helfen und die jüdischen Ärzt haben keine Handhabe mehr, Rezepte auszustellen oder Medizin über andere Kanäle zu besorgen. Maier Trepp stirbt am 4. August 1941. Selma Trepp kümmert sich in den nächsten Wochen vor allem um einen Grabstein. Juden dürfen sich kaum noch bewegen, Telefone gibt es für sie nicht mehr, und einkaufen dürfen sie nur noch eine Stunde am Nachmittag. Es kann gut sein, dass die Machthaber ihnen bald auch diese Möglichkeit nehmen, diese letzte Geste, den Toten zu ehren. Sie treibt einen bescheidenen Stein auf, der Rabbiner entwirft die Inschrift. Mitte Oktober verhängt Heinrich Himmler ein Ausreiseverbot für die rund 163.000 Juden, die noch in Deutschland sind. Die Regierung hat 1940 begonnen, Juden zu deportieren; auf der Wannseekonferenz im Januar 1942 beschließen die Anwesenden deren Auslöschung. Selma Trepp und ihre Schwester Sabine, die seit Tante Babettes Tod im Jahr 1936 bei der Familie lebt, müssen sich ihre Wohnung schon länger mit einer anderen Familie teilen, das gesamte Gebäude der Familie Trepp ist zu einem Judenhaus umfunktioniert worden, mit siebenundzwanzig Bewohnern. Im März deportieren die Nationalsozialisten über tausend Juden aus der Provinz Hessen ins Getto Piaski, zwischen Lublin und Chelm im besetzten Polen, unter ihnen Leo Trepps Mutter und ihre Schwester Sabine. Leo erfuhr das alles erst 1945. Seit die Vereinigten Staaten Ende Dezember 1941 in den Krieg eingetreten sind, war jeder Kontakt unmöglich, er hörte nichts mehr aus Deutschland. Als der Krieg vorüber war, schrieb ich einen Brief an den jüdischen Militärgeistlichen in Worms, Harold Saperstein, und stellte ihm drei Fragen: Lebt meine Mutter? Ist das Grab meines Vaters unzerstört? Und: Steht unser Haus 210
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noch? Ich schrieb ihm, daß ich eine kleine Öffnung für die Mesusa im Türrahmen ausgeschabt und sie mit Mörtel überstrichen hätte. Daran könne er das Haus leicht erkennen. Vier Wochen später schrieb er zurück, er müsse mir leider mitteilen, daß meine Mutter mit dem Ziel Piaski deportiert worden sei, einem grausamen Getto. Auch von denjenigen, die anfangs noch Karten nach Hause geschrieben hatten, habe man schon nach zwei Monaten nichts mehr gehört. Meine Mutter und Tante Sabine sind dann wohl im Vernichtungslager Lublin ermordet worden, das meist Majdanek genannt wird, doch sicher weiß ich das nicht. Das Grab meines Vaters sei wie der gesamte neue Friedhof unversehrt. Doch habe die Hitlerjugend den neueren Teil des alten Friedhofs immens zerstört, nur die Außenseite mit den historischen Grabsteinen sei unbeschädigt. ‚Offensichtlich waren die Steine zu alt und zu verwittert, um das Interesse und die Zerstörungswut der Hitlerjungen herauszufordern‘, schrieb er. Der Stein auf dem Grab sei schlicht, aber würdevoll. Saperstein hatte sogar die hebräische Inschrift abgeschrieben und beigefügt. Er habe ein El Mole Rachamim in meinem Namen gesagt. Unser Haus am Hindenburgplatz sei vollkommen ausgebombt, schrieb er. Nur ein Teil der Vorderfront stehe noch. Und die Mesusa, von der ich geschrieben hätte, sei unversehrt gewesen, eingebettet in dem Türpfosten. Er habe sie mit seinem Taschenmesser herausgekratzt und werde sie mit der nächsten Post schicken. Seit ich an der Biographie arbeite, habe ich die Mesusa einige Male in der Hand gehalten. Ich wollte sie ansehen, sie fühlen, eine Verbindung herstellen. Ich wollte wissen, wie es für meinen Mann gewesen sein muss, dieses Päckchen zu bekommen. An der Mesusa klebt immer noch Mörtel. Sie sieht aus wie ein Mini-Zwiebelturm, schlicht, aus Holz gemacht, „ein Zeichen der Tradition und der Liebe zu Gott, und ein Memento aus einer oft guten und ereignisreichen und nun verlorenen Zeit meines Lebens“, wie Leo schrieb. Er hat sie mir einmal gezeigt, sie dann vorsichtig wieder in das geknüllte Papier im Päckchen gewickelt, den Deckel draufgelegt und sie nach hinten in die Schreibtischschublade gelegt. Ich lege sie zurück. Wenn man jemandem nahe ist, lebt man irgendwann auch mit dem Schattenleben des anderen, aber Teil davon kann man nicht werden. Als mein Mann zum ersten Mal nach Mainz zurück211
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ging, gab ihm eine frühere Nachbarin das silberne Schabbatmesser, das seine Mutter ihr vor der Deportation zur Aufbewahrung gegeben hatte. Und sie erzählte ihm, dass, als Selma Trepp und Sabine Hirschberger mit den anderen Juden zusammen die Straße hinuntergetrieben wurden, seine Mutter einen ihrer Schuhe verlor. Sie wollte ihn aufheben, doch ein SS-Offizier stieß sie mit seinem Gewehr weg. Sie musste mit einem Schuh weiterlaufen. Es sei der Mensch, der die Fähigkeit habe, zu sündigen und Böses zu tun, und die Freiheit, sich dafür oder dagegen zu entscheiden, schreibt Leo Trepp in seinem Buch Die Juden. Für ihn ist es Blasphemie, die Schoah theologisch erklären zu wollen. Er sieht deren Opfer in einer Reihe mit den Tausenden und Abertausenden von Juden, die ihr Leben über die Jahrhunderte geben mussten, weil sie Juden waren. Gottes Existenz steht für Leo Trepp nie in Frage. „Das Bewusstsein des Daseins Gottes entsteht im Juden durch die Vermittlung der Tora”, schreibt er in Die Juden und erzählt von dem großen Denker Emmanuel Levinas, der die letzten Stunden eines polnischen Juden schildert, der bereits seine ganze Familie verloren hat und im Warschauer Ghetto erkennt, dass, auch wenn Gott sich verbirgt, seine Tora weiterhin da ist und dass sie weiterleben muss, um der Welt willen. Sein eigenes Verhältnis zu Gott ist sein Leben lang geprägt von der Nacht in Sachsenhausen, in der er seinen Tod erwartete und die Gegenwart Gottes erfuhr. Seit diesem Tag werde ich Gott niemals verleugnen oder vom Tod Gottes sprechen können. Ich wußte, daß Gott genau dort war. Er selbst war in dem Lager, ertrug freiwillig Gefangenschaft und Folter. Er war dort. Er lebt. Gott ist für mich die ultimative Grundlage meines Lebens und Quelle meiner Werte.
Neu und verwirrt – ein Deutscher in Amerika Dringender als das Hinterfragen, wer denn dieser Gott sei – eine Frage, die jüdische Denker seit Jahrhunderten mit immer neuen Ergebnissen erörtern – und was er den Juden nach der Schoah noch sein könne, ist für Leo Trepp die Frage, was die Juden diesem Gott noch sein können. 212
Neu und verwirrt – ein Deutscher in Amerika
Gott kann für die Juden begrifflich nicht erfasst werden, was für Trepp unwesentlich ist. Juden folgten dem lebendigen Gott durch die Einhaltung der Mitzwot. Von den insgesamt sechshundertdreizehn rufen zweihundertachtundvierzig zum aktiven Handeln auf, diese Zahl entspreche den Teilen des menschlichen Körpers, was die Wichtigkeit des aktiven Einsatzes unterstreicht. Es seien die Mitzwot als Grundlage des sozial gerechten Handelns, die den Juden zu Gott führen. Das Judentum sei weniger Glaubensbekenntnis als Leben vor Gott, sagt Trepp. Doch wenn es auch stimme, dass für die Rabbiner das richtige, das ethische Handeln so wichtig ist, dass sie Gott im Talmud die Worte in den Mund legten, „Stünden sie vor der Wahl, mich zu vergessen, um meine Mitzwot einzuhalten, so sollen sie lieber mich vergessen, um meine Mitzwot zu befolgen“, so sei es eben doch keine Werkgerechtigkeit, schreibt er 1969, denn Gott bleibe der Grund aller Gebote der Tora. Die meisten Juden aber, die er vor allem in seinen ersten Jahren in Amerika trifft, verfügen über so wenig jüdisches Wissen, dass sie, selbst wenn sie an Gott zweifelten, sich nicht einmal damit auseinandersetzen könnten. Wie müsste eine jüdische Erziehung aussehen, fragt sich Leo Trepp, durch die Juden ihr Leben auf Gott zurückführen? Die ihnen eine Basis schafft, ihre Philanthropie zum Beispiel als jüdischen Akt zu betrachten? „Aber wozu Gott? Ich bin nun mal nicht religiös. Reicht es nicht, wenn ich helfe?“, fragt ihn unsere Freundin während eines Schabbatessens, eine der liberalen jüdischen Stimmen in San Francisco, die gegen den Frauenhandel und für bessere Bedingungen für Menschen kämpfen, die nicht so privilegiert sind wie sie, und dafür eine Menge Zeit und Geld opfern. Und obgleich Leo unserer Freundin an diesem Abend natürlich sagt, dass sie eine wunderbare Jüdin ist und jedes Recht hat, das stolz von sich zu behaupten, kann er als Rabbiner nicht anders als die essentielle Verbindung zwischen Mitzwa und Tora zu bekräftigen, deren Erlernen selbst eine Mitzwa ist, die letztendlich zu Gott führt. „Gott und Mitzwot sind so unauflöslich verbunden wie Ruf und Antwort. Wer antwortet, wird des Rufers bewusst. Wer sein Dasein auf Gottes Mitzwot gründet, dem wird Gottes lebendiges Dasein offenbar“, schreibt er. Nicht nur fehlt ohne diese Verbindung die Grundlage für die Mitzwot – sie werden damit 213
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auch unverbindlich. Daneben sorgt ihn die beobachtete Indifferenz, weil er fürchtet, dass Juden mit einer gering ausgeprägten jüdischen Identität das Judentum über kurz oder lang verlassen könnten. Nach der Schoah wäre dies, wenn es in hoher Zahl geschähe, eine neue Katastrophe. Es gab einen beispiellosen Notfall. Die Ressourcen des jüdischen Lebens in Europa wurden in diesen Jahren von den Nazis vernichtet. Effizient und engagiert brachte das amerikanische Judentum Juden nach Amerika, doch nahm es sich dann nicht der Aufgabe an, die jüdischen Amerikaner zum Judentum zu bringen. Dabei gab es auch einen „spirituellen Notfall“. Die Zeit lief ab, die junge Generation – wahrscheinlich ebenso verwirrt wie der Immigrant, doch ohne sein jüdisches Wissen – drohte verlorenzugehen. Doch dafür, wie man die jungen Juden erziehen sollte, sodass sie ihr Judesein als integralen Teil ihres gesamten Lebens ansehen, gibt es in den Staaten keine Antwort, und auch erzieherische Bemühungen kann Trepp kaum erkennen. „Das Judentum war eine Form des Gottesdienstes, eines Brauchs oder von Ritualen, aber kein Wertesystem. Wenige Juden stellten sich die grundsätzlichen Fragen des Leben aus einer jüdischen Überzeugung. Fragen, wie diejenigen, die Kant als Grundlage aller Philosophie und Weltanschauung dienten: Wer bin ich? Was sollte ich nun tun? Was ist mein Schicksal?“, schreibt er über diese Zeit. Das Streben, dem Juden einen Weg zu zeigen, wie er in der modernen Welt als Jude leben und handeln kann und sollte, wird Leo Trepp in seiner Arbeit antreiben. Es wird seine rabbinischen Entscheidungen beeinflussen und ihn in seinen Bemühungen leiten, neue jüdische Gemeinden zu etablieren, wie es auch in Dialogen mit Geistlichen anderer Religionen und Politikern sein roter Faden werden wird. Der Begründer der Logopädie, Viktor Frankl, hat über seine Zeit im Konzentrationslager gesagt, wer wisse, warum er lebe, könne beinahe jedes „Wie“ ertragen. Die Gefangenen, die sich aufgaben, die keinen Sinn mehr sahen, seien zuerst gestorben, schreibt er. In Sachsenhausen, sagt Leo Trepp, haben sich die Oldenburger Männer gegenseitig gestärkt. Sie beteten zusammen, passten aufeinander auf und dachten für den Anderen mit. Ich glaube sicher, dass mein Mann die Kraft, auch danach weiterzuleben und mit seinen Toten und Verlus214
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ten durchs Leben zu gehen – anderen Menschen zugewandt, fokussiert auf seine Arbeit und interessiert an allem, das schön ist oder neu oder beides –, dass er diese Kraft auch entwickelte, weil er die dringende und ihn drängende Notwendigkeit spürte, den lebenden Juden die Schönheit ihrer Religion und ihrer Kultur zu vermitteln. Und den Nichtjuden zu vermitteln, wer denn diese winzige Minderheit der Juden eigentlich ist; weil er fühlt und weiß, dass er einen, wenn vielleicht bescheidenen, Beitrag leisten kann, Judentum lebendig zu halten. 1968 schildert er in einem Vortrag einige Eindrücke seiner ersten Zeit in den Staaten, in der sich diese Gedanken immer stärker herauskristallisieren. Die amerikanisch-jüdische Gesellschaft bot ein Bild, das für mich verwirrend und beunruhigend war. Wo war die Einheit? In lebensrettender Philanthropie vereint, taten sich aus religiöser Sicht tiefe Gräben zwischen den Juden auf, und die einzelnen Richtungen lieferten sich einen heftigen Wettbewerb. Ich war es gewohnt gewesen, daß mein Judentum der Maßstab meines Tuns war, es reichte in jede Facette des privaten und gemeinschaftlichen Lebens hinein. Die amerikanische Realität sah anders aus. Was ich erlebte und hier beschreiben werde, mag generalisierend wirken, doch dies ist, was der Neuling auf seiner Suche vorfand: Die Orthodoxie erschien in der Zeit vor Mendelssohn. Ihr Gottesdienst war ästhetisch unbefriedigend und ihre Ausübung der Mitzwot eine aus Gewohnheit. Entstanden in den Jahren in Osteuropa als ein Verteidigungsmechanismus gegen die psychologischen Auswirkungen der Verfolgung, war es schwierig, ihre Bedeutung in diesem Umfeld zu sehen. Ihr Wertesystem reichte nicht bis ins Leben des Juden und in seinen täglichen Kontakt mit dem amerikanischen Leben. Das führte zu einer Spaltung, jemand war jüdisch im Judentum und amerikanisch in allem anderen. Orthodoxie war eine legalistische Religion, die von der nostalgischen Romantik der älteren Generation am Leben gehalten wurde, die aber nicht an die neue Generation weitergegeben werden konnte. Daher schien sie nicht in der Lage, sich in die Zukunft zu katapultieren Die Reform repräsentierte das andere Ende des Spektrums. Sie war noch in der Hand des universellen Humanismus. Dieser wurde von den extremen deutschen Reformrabbinern in dieses Land gebracht, die im neunzehnten 215
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Jahrhundert nach Amerika kamen, da ihre Ideen in Deutschland als zu radikal und entleert betrachtet wurden, hier aber auf fruchtbaren Nährboden fielen. Diese Reform begegnete den Herausforderungen Amerikas mit Ernsthaftigkeit, vernachlässigte aber die Ansprüche einer lebendigen Religion, so vertrat sie das Minimum des Judentums, das von der sozialen Elite praktiziert wurde. Mitzwot hatten kaum Bedeutung, zumindest wenn es um die jüdische Identifikation ging. In ihrer Ausrichtung war die Reform von einem legalistischen zum vorexilischen, prophetischen Judentum gewechselt und verleugnete damit die Kreativität, mit der die Diaspora sich über zwei Jahrtausende entwickelt hatte. In dem Bemühen, sich mit diesem Zugeständnis in die Gesellschaft zu integrieren, bestätigte sie so ironischerweise die verzerrte Wahrnehmung der Christen – denn sie verleugnete ihre eigene lebendige Entwicklung in der vor- und nachchristlichen Zeit. Das konservative Judentum beruhte auf dem romantischen Konzept des „Volksgeistes“: Das jüdische Volk entwickelt seine Institutionen beständig weiter. Es wird jedoch übersehen, daß das Judentum kontinuierlich durch Führung verändert wird, die oftmals im Gegensatz zu dem Pragmatismus des „Volksgeistes“ steht. Gleichzeitig schaffte die Dichotomie zwischen der Philosophie und den Lebenswirklichkeiten einer christlichen Umwelt nicht nur Spannungen innerhalb der Gemeinden, da Meinungen und Ideologien aufeinanderprallten, sondern auch Spannungen zwischen den Gemeinden und der Fakultät des konservativen Seminars, bestehend aus Männern, deren Führungspflichten der Orthodoxie entsprachen, die aber dem Druck der konstituierenden Gemeinden stattgeben mußten. Sie waren gezwungen, Weiterentwicklungen zu akzeptieren, wenn sie auch wegen der Einwilligung von Schuldgefühlen geplagt wurden. Die Weiterentwicklung war kein organischer Prozess. Es gibt keine wirkliche jüdische Gemeinschaft. Trepp sieht spirituelle und intellektuelle Ressourcen und Materialien verschwendet und vergleicht die Situation mit der in Deutschland, wo die beiden Rabbinerseminare, so unterschiedlich sie ideologisch waren, in praktischen Dingen zusammenarbeiteten. Und in der Berliner Gemeinde entwarf das zuständige Gremium die Gottesdienstpläne für alle Synagogen zusammen, egal, ob liberal oder orthodox, und wichtige Einrichtungen teilte man sich. Ganz anders in den Staaten, wie Leo Trepp aus seiner ersten Zeit berichtet. 216
Neu und verwirrt – ein Deutscher in Amerika
Vielleicht hätte die Breite der Richtungen der Entwicklung des Judentums nicht einmal geschadet, wenn sie untereinander hätten kooperieren können. Doch sie waren gefangen in einem Konkurrenzdenken. War es unmöglich, eine Philosophie des jüdischen Lebens zu entwickeln, die Religion und westliche Kultur zusammenbrachte, wie es das deutsche Judentum getan hatte? Gleichzeitig würde man damit die Pflöcke des Judentums stärken und sein Dach so erweitern, daß es auch der neuen Generation Schutz geben konnte, die unter anderen Umständen aufgewachsen war. Zurückblickend versuchte der Immigrant, den Ansatz des deutschen Judentums zu untersuchen und die Leitlinien, die es bieten könne. Gleichzeitig in die Gegenwart und Zukunft schauend entdeckte er den Rekonstruktionismus, eine Schule, die sich der Probleme und Gefahren bewußt war und die bereit war, mit einer stringent durchdachten und ständig überarbeiteten Philosophie und einem Aktionsprogramm Lösungen anzubieten. Leo Trepp setzt sich früh mit dieser neuen Philosophie und den Ideen ihres Begründers, Rabbiner Mordecai Kaplan, auseinander, der seine Lehre als eine „Schule der Gedanken“ bezeichnet. In Kaplans Werken, die sowohl die Reformbewegung wie auch die konservative jüdische Gemeinschaft maßgeblich beeinflussen sollen, sieht Trepp die Dringlichkeit, die ihn selbst antreibt. Er findet Substanz, mit der er sich auseinandersetzen und die er hinterfragen kann. Und genau das tut er. Bald schreibt er Kaplan den ersten Brief, und er scheint ihm all die richtigen Fragen zu stellen, denn der Ältere – Kaplan wurde 1881 geboren – antwortet sofort und ausführlich. Und fragt Trepp, ob er einen Essay für „The Reconstructionist“ schreiben möchte. Ich kann mir nur vorstellen, wie begeistert Leo gewesen sein muss, als Kaplan ihm nach diesem ersten Beitrag 1943 anbietet, Mitglied der Redaktion zu werden. In diesen Jahren gilt „The Reconstructionist“, 1935 von Kaplan gegründet, als das nationale Magazin für jüdische Intellektuelle und Experten, die zentrale, oft ideologische Fragen des jüdischen Lebens auf hohem Niveau diskutieren wollen. Trepp ist bei Weitem nicht mit allen Lösungsvorschlägen einverstanden, die Kaplan für die Situation der Juden bietet, doch er bewundert dessen Mut, Fragen anzusprechen, die andere religiöse Führer ignorieren, weil sie damit beschäftigt sind, 217
5. Kapitel: Rückkehr
den Status Quo aufrechtzuerhalten. Kaplan wird der geistige Vater der zahlreichen jüdischen Gemeindezentren werden, in denen Juden aller Richtungen und heute auch viele Nichtjuden zum Studieren, Diskutieren, zum Sport und zum Krafttraining zusammenkommen, und er ist einer der Begründer der Chawurot, der kleinen Gruppen von Juden, die sich für Schabbat und zum Lernen treffen. Kaplan, dessen Forschen und Antworten Leo Trepp neben der Neo-Orthodoxie von Samson Raphael Hirsch religionsphilosophisch am stärksten prägen sollen, wurde am konservativen Jewish Theological Seminary ordiniert und übernahm dann als Rabbiner eine Gemeinde, die im Sinne Hirschs neo-orthodox war. Doch schon nach kurzer Zeit kam es zum Bruch. Er habe mit der Ideologie von Hirsch brechen müssen, schreibt Kaplan später an Trepp. Hirsch ist aus beider Sicht nicht weit genug gegangen und nicht konsequent gewesen. Denn auch wenn er die Notwendigkeit für die Juden erkannt habe, in zwei Zivilisationen leben zu müssen, sei ihm das Wesentliche dabei entgangen. Die grundsätzliche Voraussetzung für ein solches Leben sei „in der Aneignung einer gemeinsamen Orientierung verankert” schreibt Kaplan. Er schreibt den Brief an Trepp Anfang 1968. Zu dieser Zeit korrespondieren die beiden regelmäßig. Längst sieht Trepp wie Kaplan, dass Hirsch nicht weit genug gegangen ist, dass die Werte des Judentums ewig sind, dass aber das jüdische Volk, das immer wieder neuen Lebensbedingungen ausgesetzt ist, sich stetig erneuern muss, stets neue Lebensformen und religiöse Formen schaffen muss, um sein eigenes Weiterleben und damit das Weiterleben der ewigen Werte zu sichern. In ihren Briefen diskutieren sie Einzelheiten, wie die Frage der Auserwähltheit des jüdischen Volkes. Was ist das? Was kann es sein? Wie kann man welche Antwort philosophisch begründen? Wenn Trepp die Diskussion auch für zwingend notwendig hält, die Kaplan angestoßen hat, argumentiert er oft gegen dessen Antworten, emphatisch und leidenschaftlich. „Danke, dass Sie so liebenswürdig auf meine Kritik geantwortet haben”, schreibt er, „manchmal sind meine Worte scharf, verzeihen Sie mir.” Und bedankt sich in einem anderen Brief für die fruchtbare Kritik Kaplans, der gerade einen Essay von ihm auseinandergepflückt hat, nicht ohne sich zu entschuldigen allerdings: „Mei218
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Mordecai Kaplan
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5. Kapitel: Rückkehr
ne brutale Offenheit ist allein meiner großen Zuneigung zu Ihnen geschuldet”. Es mag ihr Weg von der Neo-Orthodoxie hin zu etwas Neuem, sich Entwickelndem sein, der beide verbindet. Vielleicht mögen sie sich auch einfach. „Bitte erlauben Sie mir, dass ich in Ihnen einen Vater sehe”, schreibt Trepp. „Ich bin der Ihre mit aller Zuneigung” antwortet Kaplan. Es rührt, die Achtung zu spüren, die beide der Tora und dem Judentum und dem Ringen um eine sinnvolle zeitgemäße Interpretation entgegenbringen, eine Aufgabe, die ihnen heilig zu sein scheint, und ihre Achtung füreinander zu registrieren. Es schmerzt Leo Trepp, dass er 1968 das Angebot des Freundes ablehnen muss, als Professor an das neu eröffnete Rabbinerseminar für Rekonstruktionismus nach Philadelphia zu gehen. Seit 1951 lehrt er Geisteswissenschaften, Philosophie und vergleichende Religion am Napa College in Kalifornien. Es war ein steiniger Weg dorthin, und nun will er bleiben. Seine Stelle in Greenfield hatte er nach wenigen Jahren gekündigt, musste er kündigen, wie er sagt. Sein Gehalt reichte hinten und vorne nicht. Es war nicht einmal genug, ihm und Miriam ein einigermaßen sorgenfreies Leben zu geben, oft sind sie hungrig ins Bett gegangen, von der Möglichkeit, Kinder, die er sich wünscht, mit diesem Gehalt großzuziehen, ganz zu schweigen. Er übernimmt eine Gemeinde in Newport News in Virginia, die mehr Geld hat und gut zahlt, dennoch verlassen er und Miriam die Großstadt im Nordosten der Südstaaten nach nur sechs Monaten, weil sie die Rassentrennung nicht ertragen. Trepp, der auch in Newport News zunächst regelmäßig Beiträge fürs Radio verfasst, wird gefeuert, nachdem er einige Male darauf hinweist, dass Judentum ein ethisches Leben vorsehe und keine Unterschiede zwischen Menschen mache, egal auf welcher Basis. Ein Vortrag, in dem er 1944 seine Angst vor und Verachtung für die Nationalsozialisten beschreibt, wird in der Tageszeitung kontrovers diskutiert, weil er anfügt, dass die Vereinigten Staaten, die von vielen in Europa als Bastion der Freiheit angesehen würden, ihr eigenes Haus in Ordnung bringen und das Versprechen der Verfassung, das sich auf Bibel und Rechte gründete, endlich für alle Menschen einlösen müssten. Als eines Tages dann einige Fahrgäste Miriam in einem Bus zwingen wollen, entweder aufzustehen oder die alte schwarze 220
Neu und verwirrt – ein Deutscher in Amerika
Frau neben ihr aufstehen zu lassen, weil dies entweder ein „schwarzer“ oder „weißer Sitz“ sein müsse, reicht es. Sie steigt an der nächsten Station aus, läuft nach Haus und sagt zu ihrem Mann: „Ich will hier weg.“ Der kann nur zustimmen. Ihm machen besonders Juden in seiner Gemeinde zu schaffen, die sich dem System der Diskriminierung nicht widersetzen. „Es waren nicht viele unter ihnen“, sagt er, „doch es waren mehr, als mir lieb waren, so sagte mir ein Kaufmann, ‚wenn ich einen Schwarzen einen Hut aufprobieren lasse, kann ich ihn an einen Weißen nicht mehr verkaufen.‘ Natürlich sah ich ihre schwierige Situation. Man hat ja auch sie verachtet. Vor einigen Gebäuden standen Schilder, die sagten, ‚Nicht für Juden, Neger und Hunde‘. Akzeptieren konnte ich es trotzdem nicht.“ Er wechselt nach Somerville, eine Vorstadt von Boston, und studiert zwei Jahre lang Philosophie an der Harvard Universität, die nur zehn Minuten entfernt liegt, schreibt für die jüdische Enzyklopädie sowie verschiedene Magazine und wird Mitglied der Rabbinerorganisation. Vor allem aber will er seine Gemeinde reformieren, will aus Juden, die regelmäßig zum Gottesdienst gehen, Juden machen, die ihr Leben als Juden leben. Doch er stößt auf Widerstand. „Die Witwen der wohlhabenden Gründungsmitglieder wollten jeden Tag ihren Gottesdienst, ansonsten sollte man möglichst den Mund halten“, sagt er. Erst als er Joshua Liebman kennenlernt, kann er eine Zukunft in Boston sehen. Liebman, mit einem fotografischen Gedächtnis ausgestattet, hat sein Studium mit neunzehn Jahren abgeschlossen. Unkonventionell in jeder Hinsicht, konzentriert er sich darauf, jüdisches Lernen mit Praxis und mit psychologischem Wissen zu verbinden. Er mag Leo und seine Ideen und will ihn unterstützen. „Leider ist es nicht wichtig, was Sie können, sondern wen Sie kennen“, sagt Liebman, nicht nur Rabbiner einer großen Reformsynagoge, sondern einflussreicher Autor, dessen Buch Peace of Mind schon seit einem Jahr auf der New York Times-Bestsellerliste steht. Er vermittelt dem jüngeren Kollegen eine Lehrposition an der Universität Boston und schlägt ihm vor, Ableger seiner Synagoge in den Vororten von Boston aufzubauen. Dann erkrankt er schwer und stirbt mit erst einundvierzig Jahren. Die Pläne zerschlagen sich. Trepp, der sich bereits für Tacoma verpflichtet hatte, als Liebmans Angebot kommt und nach Ablauf seines einjährigen Vertrages nach Bos221
5. Kapitel: Rückkehr
Leo Trepp mit seiner Tochter Susan
ton zurückkehren wollte, bleibt an der Westküste. In Tacoma kommt im Oktober 1947 seine Tochter Susan zur Welt. Es sei der „glücklichste Tag meines Lebens“ gewesen, sagt er. Es wird weitergehen mit der Familie Trepp, nach all den Verlusten gibt es neues Leben, und er hat seinen ersten Teil dazu beigetragen. Sie geben ihr den hebräischen Namen seiner Mutter, Zipora. Dann entwickelt die junge Mutter eine schwere Depression und muss mehrere Monate in einer Klinik behandelt werden. Ihr Mann lernt Windeln zu wechseln und Säuglingsnahrung zuzubereiten. Miriam will danach keine Kinder mehr haben. Sein Traum von einer großen Familie zerplatzt. Er verpflichtet sich fürs kalifornische Berkeley, leitet dort den Bau der neuen Synagoge, lehrt an der Universität und bekommt das Angebot aus Napa. Es verspricht akademische Freiheit und finanzielle Sicherheit. Leo greift zu. Als Kaplans Angebot kommt, zögert er seine Antwort hinaus. Doch er entscheidet nicht allein. Miriam liebt ihre Arbeit als Volksschullehrerin und will sie nicht aufgeben. Susan studiert bereits und ist ausgezo222
Neu und verwirrt – ein Deutscher in Amerika
Leo Trepp vor dem Toraschrein des Veteranenheims in Napa
gen, legt aber ebenfalls ihr Veto ein. Und Trepp selbst, so sehr ihn die Arbeit an der neuen Hochschule reizt, während der er gleichzeitig am Seminar für die Reformrabbiner unterrichten würde, liebt die hügelige Landschaft mit dem warmen Klima und die Nähe zur Oper und zur San Francisco Symphony. Er hat sich ein Haus nach eigenen Plänen bauen lassen, mit großen Glasflächen und offenen Räumen, so modern, dass die Lokalzeitung einen ganzseitigen Artikel darüber schreibt, „Dr. Trepp traut sich was“. Und wenn ihm auch klar sein muss, dass er für eine Professur an seinem College „in absurdem Ausmaß überqualifiziert” war, wie es ein früherer Student mir Jahrzehnte später sagen wird, hat er nach Jahren der Unsicherheit und wirtschaftlicher Not endlich Sicherheit gefunden. Seine Arbeit wird geschätzt, die Studenten verehren ihn, er ist etabliert, sitzt im Planungsgremium der Stadt, und sein Rat wird von Juden und Nichtjuden gesucht. Die Hochschule hat ihn angeworben, „nicht obgleich“, sondern „weil er Rabbiner ist“, wie ihm der Präsident sagt. Die rabbinische Sicht auf Probleme ist gewünscht und gewollt. Zu223
5. Kapitel: Rückkehr
sammen mit drei Kollegen entwirft Trepp neue Kurse zu Religion und Spiritualität, die so erfolgreich laufen, dass sie von anderen Universitäten übernommen werden. Nebenher arbeitet er als Rabbiner in drei neuen Gemeinden in Nordkalifornien und konzentriert sich besonders auf die Gemeinde in Eureka, die er wie die anderen mit aufgebaut hat und die sich so gut entwickelt, dass sie 1967 eine Synagoge bauen kann. Bald wird er zusätzlich die Stelle des jüdischen Geistlichen im größten Veteranenheim des Landes übernehmen, das am Rand von Napa liegt, und dessen Synagoge, für die er jahrelang gekämpft hatte, nach ihm benannt ist. Bei seinem Arbeitspensum muss sich zu seiner Disziplin eine ordentliche Portion Energie gesellt haben. Vor allem geistige Energie. Bis ins hohe Alter schreibt Leo seine Gedanken und Ideen mit rasanter Geschwindigkeit nieder. 2004 entscheiden wir uns, zusammen etwas zum Thema „Übertritte“ zu verfassen. Er ist für den historischen Teil zuständig, und die religiösen Erklärungen, ich werde die heutige Situation darstellen. „Na, wie weit bist du?“, fragt er mich lange vor unserem Abgabetermin. Er ist natürlich fertig. „Naja, die Interviews sind alle gemacht, jetzt muss ich sie nur noch aufschreiben.“ Beunruhigt fragt er: „Aber was hast du denn die ganze Zeit gemacht?“ Er hat die Gabe, sich hinzusetzen und vollkommen zu konzentrieren. Solange die Pfeife in seinem Mund steckt und er genügend Tabak nachstopfen kann, braucht er weder Mittagessen noch Pausen. Er lebt in seinem Text. Einmal entleere ich in aller Eile den übervollen Aschenbecher in den Papierkorb und sause raus, um etwas aus dem Keller zu holen, der in einem Nachbarbau liegt. Als ich zurückkomme, schrillt in unserem Gebäude der Feueralarm. Besorgt laufe ich in sein Arbeitszimmer, seine kräftigen, nun etwas krumm gewordenen Finger hämmern weiterhin auf die Tastatur. Er sitzt in einer schwarzgrauen Wolke. „Leo“, rufe ich. Er hört mich nicht, kein Wunder bei dem Lärm. Ich gehe näher ran und sehe jetzt auch die Ursache des Alarms. Sein Papierkorb schmort weg. „Leo“, rufe ich erneut, nun direkt neben ihm. Er blickt mich erstaunt an. „Was ist denn los?“ So kann sich wohl nur jemand konzentrieren, der es sein Leben lang trainiert hat. Die Woche über lehrt er am College, nebenher betreut er für Jahre die örtliche Gemeinde und fährt mehrmals die Woche die hundert Kilome224
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In die Arbeit vertieft – am Schreibtisch in Napa
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5. Kapitel: Rückkehr
Leo und Miriam Trepp auf Urlaub in Italien 226
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ter nach Santa Rosa, um sich um die andere Gemeinde zu kümmern, die er jahrelang mit aufbaut, und am Freitagnachmittag oder zu den Hohen Feiertagen steigt er häufig in eine kleine Maschine, die ihn die paar Hundert Kilometer für Gottesdienste nach Eureka fliegt. Zu Hause sitzt er bis spätnachts am Schreibtisch, um morgens um halb sechs wieder neu zu beginnen. Oft liegen neben seinen auch noch Papiere von Miriam, die ihn bei Unterrichtsvorbereitungen um Rat fragt. „Und ab und an stand ich mit meinen Aufsätzen oder Aufgaben auch noch da“, sagt Susan. Selten kommt er dazu, an seiner Eisenbahn zu basteln und Opernarien mitzuschmettern oder in Schuberts und Mahlers Gefühlswelten einzutauchen. Kein Wunder, dass er in den Ferien drei Wochen lang nur eines will: in der Sonne liegen, an nichts denken und schwimmen. Und weiterschwimmen. „Die Bademeister wollten manchmal schon Boote hinterherschicken“, erzählt er. „Doch Miriam hat ihnen dann gesagt: ‚Der ist eigentlich ein Fisch‘.“ Jeden Urlaub verbringt die Familie in Santa Barbara am Pazifischen Ozean. Er liest nicht und denkt nicht. „Aber das geht doch gar nicht“, sage ich. „Doch“, entgegnet er. „Ich habe abgeschaltet, mein Gehirn war leer. Und wie durch ein Wunder sprudelten plötzlich neue Gedanken und Ideen.“ Weitere dreiundzwanzig Jahre wird er die Gemeinschaft in Eureka gemeinsam mit anderen betreuen, bis er 2004 noch einmal zurückkehrt, um die erste vollamtliche Rabbinerin einzuführen. Von Beginn an hat er die Weichen aufs Lernen und auf jüdische Verbindlichkeit gestellt und sieht sich nun bestätigt. Selbst dann, wenn Mitglieder einen nichtjüdischen Partner gefunden haben, verliert die Gemeinde sie selten. Trepps Ziel war stets, das Judentum so attraktiv zu vermitteln, dass der Jude es nicht verlassen und der Nichtjude gerne ein Teil davon werden möchte. Meist gelingt es. Die Gemeinde blüht heute noch, und ihre Gottesdienste ähneln denen in Mainz, nur in moderner Form. „In all den Gemeinden, die ich begleiten durfte, habe ich stets große Teile des deutschen Ritus in die Liturgie eingeführt“, schreibt Leo, „natürlich auf die heutigen Verhältnisse abgestimmt und vollkommen gleichberechtigt.“ Nach der Amtseinführung schläft er auf der Fahrt von Eureka nach Hause ein. Ich schaue ihn von der Seite an und sehe die Synagoge vor mir, einen flachen Bau, cremeweiß mit hellblauen Balken. Schlicht und zweckmäßig. Und ich frage mich, wie oft er an 227
5. Kapitel: Rückkehr
seine Jugend denkt, an seine Kindheitssynagoge in Mainz, deren Schönheit er für einen historischen Band so poetisch und lebendig beschrieben hat, dass es einer Liebeserklärung gleicht. Einmal, als ich ihn fragte nach seinen Träumen und Wünschen als Kind, erzählte er mir, dass er an einem Schabbatnachmittag, als er mit seinem Vater am Rhein lief, sagte: „Vater, ich werde Rabbiner werden oder Professor, und ich werde ein gutes Leben haben.“ Sein Vater antwortete: „Ja, mein Kind, das wünsche ich dir, doch es gibt kein Leben ohne Rückschläge und Enttäuschungen.“ Daran habe er oft in seinem Leben denken müssen, sagte mein Mann. Er wacht auf, und wir beginnen ein Gespräch. Alles ist, wie es ist. In seiner knapp bemessenen freien Zeit schreibt er Essays und Bücher. Gleich das erste Werk für den englischsprachigen Markt, A History of the Jewish Experience, das Leo Trepp 1962 – noch unter einem anderen Titel – schreibt, wird ein Erfolg: „Ein Buch, das Fragen nicht nur der Juden, sondern aller Glaubensrichtungen beantwortet“, schreibt ein Kritiker. Weitere Titel folgen, in mehreren Auflagen und einer Übersetzung ins Spanische, darunter Klassiker, denen sich Juden und solche, die an ihnen interessiert sind, auch heute noch zuwenden, wie Judaism, Development and Life, über das ein Kritiker urteilt: „Dieses Buch hat alles.“ Irgendwann im Jahr 2017 fahre ich mit dem Rabbiner meiner Synagoge in San Francisco gemeinsam zu einem Essen. „Weißt du eigentlich, dass ich für meine Übertrittskandidaten immer noch A History of the Jewish Experience benutze“, fragt er. „Nein“, erwidere ich, „das freut mich.“ Er schweigt für einen Moment. „Ich wünschte, ich hätte Leo kennengelernt. Es ist schon selten heutzutage, etwas weitergeben zu können, das ein Gelehrter vor Jahrzehnten geschrieben hat und das immer noch relevant ist.“
Weichen für die Zukunft stellen Seit 1956 bringt Trepp alle zwei Jahre seine amerikanischen Studenten nach Europa. Sie sollen die Nachkriegseuropäer kennenlernen, und umgekehrt, und hoffentlich ein Verständnis für sie entwickeln. Und Mittelalter sehen sie in ihrem Land nicht. Hier kann man es noch anfassen. Trepp will die jungen Amerikaner lehren, was die europäische Kultur 228
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war und was sie ist und sein kann. Jüdische Kultur in diesen Jahren ist all das, was war. Schon 1946 hat er in einem amerikanischen Essay konstatiert: „Das deutsche Judentum ist tot.“ In Frankreich lassen sich, als die Kolonisierung Nordafrikas sich dem Ende zuneigt, in den Fünfzigern und Sechzigern zahlreiche sephardische Juden nieder. Die versprengte Gemeinschaft in ganz Westdeutschland aber zählt nicht einmal 30.000 Mitglieder. Davon leben die meisten in den großen Städten Westberlin, Frankfurt und München. Als Trepp 1965 mit seinen Studierenden nach Oldenburg kommt, treffen sie dort zum ersten Mal während ihres Aufenthalts in der Bundesrepublik auf Juden. Eine kleine Gruppe versucht trotz aller Widrigkeiten, die Gemeinde am Leben zu erhalten. Schon 1954, während des ersten Besuchs von Trepp, waren die Mitglieder, obgleich beinahe alle Überlebenden, selbst die aus dem Umland waren gekommen, so wenige gewesen, dass sie keinen Minjan für ihren Gottesdienst hatten. Sie haben ihn trotzdem gehalten, in einem kleinen Raum hinter der Schlosswache, den die Stadt ihnen vorübergehend zur Verfügung gestellt hat. Trepp hat Schwierigkeiten zu sprechen. An diesem Abend rührt ihn alles. Vor allem der kleine Junge, der während des Gottesdienstes staunend um ihn herumläuft. Er hat noch nie einen Rabbiner gesehen. In der darauffolgenden Nacht spricht Trepp mit dem Achtjährigen und seinen Eltern über das Judentum. Am folgenden Morgen läuft er alte Wege ab und steht schließlich auf dem Synagogenplatz. Immer noch liegt Schutt herum. Er gräbt ein kleines verrauchtes Ziegelstück der alten Synagoge aus und nimmt es mit, „zur ewigen Erinnerung“, wie er sagt. Der Vorsitzende Julius de Beer bittet ihn, eine Liste des ehemaligen Gemeindebesitzes aufzustellen, was Trepp tut. Als de Beer ihn bei seinem nächsten Besuch 1960 fragt, ob sie mit dem Wiedergutmachungsgeld ein Haus kaufen sollten, um ein Altenheim einzurichten und einen Betraum, oder stattdessen ein Mahnmal errichten zur Erinnerung an ihre ermordeten Freunde und Familienmitglieder, rät der Rabbiner zum Hauskauf. Doch Gottesdienste in dem kleinen Betraum finden immer seltener statt. Ende der sechziger Jahre dann, die Zeit, in der die Stadt ihr Mahnmal für die entrechteten und ermordeten Juden errichtet, muss die übriggebliebene Handvoll von Juden realisieren, dass alle Bemühungen keinen Sinn machen. 229
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Die Gemeinde löst sich auf. Leo Trepp ist sich bewusst, dass die meisten, wenn nicht alle seiner Hörer Nichtjuden sein werden, als er 1971 eingeladen wird, jüdische Wissenschaften an der Universität Hamburg zu lehren und Vorträge in Oldenburg zu halten. Ira Eisenstein, der Schwiegersohn von Mordecai Kaplan, muss ihn dennoch nicht lange bitten, die deutschen Studenten auch ein wenig mit dem Rekonstruktionismus vertraut zu machen. „Das versteht sich wohl von selbst”, antwortet Trepp. Er ist Kaplan trotz seiner Absage für die Professur weiterhin eng verbunden und korrespondiert mit ihm, und obgleich in Einzelfragen immer stärkere Differenzen auftauchen, unterstützt er das Grundanliegen des Rekonstruktionismus. Und wenn es dieser neuen Republik in Deutschland wirklich ernst ist mit dem Neuanfang, so glaubt Trepp, ist es unerlässlich, dass auch die Nichtjuden etwas über die von Hirsch begründete und von Mordecai Kaplan in völlig neue Richtungen geführte Philosophie des Lebens in zwei Kulturen lernen, und genauso viel über das, wofür sie steht, nämlich ein lebendiges, sich stets veränderndes Judentum. Nur wenn sich auch die Nichtjuden damit auseinandersetzen und das Judentum kennenlernen, werden sie vielleicht, nur vielleicht, keinen neuen Antisemitismus entwickeln und den alten verurteilen. In den Köpfen der Umwelt hatte sich über die Jahrhunderte das Bild der Juden als „die Anderen“ eingenistet. Es war einfacher, den Hass gegen sie immer wieder neu zu speisen, wenn man sie als Fremdkörper wahrnahm. Ein Bild, das sich über Jahrhunderte gehalten hatte und bei vielen auch nach 1945 halten soll. Selbst in meinen Jahren mit Leo wählten Tageszeitungen und Magazine Fotos von Ultraorthodoxen, um jüdisches Leben zu illustrieren, oder den israelisch-palästinensischen Konflikt. Wussten die Redakteure nicht, dass die Ultraorthodoxen selbst in Israel eine Minderheit waren, wenn ihre Zahl auch anstieg? Oder war es einfach bequem? Im ersten gemeinsamen Jahr mit Leo arbeite ich vollzeit in einer Zeitungsredaktion. Juden? Ahnung hat keiner, doch gerne kommentieren die meist atheistischen Kollegen gewalttätige Situationen mit den Worten „Auge um Auge, Zahn um Zahn führt nie weit“ oder erzählen vom „Rachegott“ des Alten Testaments. „Vielleicht wählt man 230
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diese Bilder bewusst “, sage ich also zu meinem Mann. Doch der, immer Idealist, winkt ab. Wenn sie es nicht wissen, müssen die Deutschen eben lernen, dass die Rabbiner mit der Formel „Auge um Auge“ das Rechtssystem schon in frühen Zeiten revolutionär weiterentwickelten, indem sie festlegten, dass von nun an Geschädigte mit Tätern nicht mehr tun konnten, was sie wollten, sondern dass es einen angemessenen Schadensersatz geben musste. Und deutsche Nichtjuden müssen lernen, dass Juden in der Interpretation der Tora von jeher das Wohl der Menschen im Blick hatten, und dass dies alle Juden eint, denn die nichtorthodoxen Richtungen sind ja ohnehin jung. Doch genauso sollen nichtjüdische Deutsche verstehen, dass mittlerweile weltweit viele Juden denken, dass man mit der Interpretation weitergehen muss, als es die orthodoxen unter ihnen zulassen. Kurz, Trepp will, dass Deutschland alle Facetten des Judentums kennenlernt. Er stellt sich dem Schmerz der Vergangenheit, indem er in die Zukunft schaut. Vor Hass gegen die Deutschen hat er sich ein Leben lang zu schützen versucht. Wem helfe es denn, wenn man Hass trage von einer Generation in die andere, fragt er in einem Essay für das amerikanisch-jüdische Magazin Sh’ma, den er 1973 schreibt. „Sind wir romantisch emotional, hat Gefühl das letzte Wort, wenn wir unsere Meinungen abwägen und unsere Handlungen dirigieren? Wenn Leo Baeck Recht hat, und das Judentum anti-romantisch ist, dann widerspricht ein romantischer Emotionalismus unserer Pflicht als Juden“, schreibt er in Antwort an die amerikanische Autorin Cynthia Ozick, die sich geweigert hat, ein paar Worte für den Klappentext von A Beautiful Day zu schreiben, die englische Version von Dieter Wellershoffs Buch Ein schöner Tag, worum der Verlag sie gebeten hatte. Sie hatte ihre Ablehnung mit der Ermordung der europäischen Juden begründet, die für sie stets präsent sei. „Ich schreibe mit zwei Mündern, einer gehört den Toten, und keiner der Münder ist bereit, etwas über Dieter Wellershoff zu sagen, der die Ostfront überlebte, um einer Jüdin in New York seine Arbeit zu schicken.“ Leo Trepp fragt: „Können wir, unter dem Wort Gottes stehend, alle Deutschen und ihre Kinder und Kindeskinder ablehnen? Können wir so etwas tun, ohne uns selbst in Hass zu vernich231
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ten? Ist unsere Beziehung zu den Deutschen eine Art Hiob-Prüfung für sie und für uns? Ich weiß keine Antwort.“ Doch für sich hat er entschieden. Er kann und will nicht hassen. „Hass zerstört gänzlich, Liebe heilt gänzlich“, schreibt er und wählt die Liebe. 1969 ist sein Buch Judaism – Development and Life auf Deutsch erschienen, mit dem er „Leser, denen der Stoff wenig vertraut ist“ erreichen möchte, die, wie er hofft, „die jüdische Religion als einen lebendigen Glauben verstehen lernen“ und „die bleibenden Errungenschaften, die sie der Menschheit brachte“, erkennen. Präzise und knapp räumt er in seinen Beschreibungen mit oft christlich geprägten Vorurteilen auf. Er erzählt seinen Lesern, dass es ein Pharisäer war, ein Mitglied der verkannten und verleumdeten jüdischen Gruppe, so tief verleumdet, dass man im Online-Duden heute noch als Synonyme für ‚pharisäerhaft‘ ‚heuchlerisch‘, ‚scheinheilig‘ und ‚unehrlich‘ findet, dass es also einer dieser bedeutenden, den Talmud prägenden Gelehrten war, der das Prinzip der Nächstenliebe als oberste Priorität festlegte, wichtiger als jedes andere Gebot – der berühmte Rabbiner Hillel. Dass die Tora immer wieder nicht nur die Liebe zum Nächsten sondern zum Fremden betont, dass sie soziale Gerechtigkeit für alle Menschen fordert und die Menschen ermahnt, die Umwelt zu schützen, Pflanzen und Tiere. Und dass die Rabbiner die Gebote im Talmud menschenfreundlich interpretieren, und der Jude überhaupt seine ganze Tora im „Lichte des Talmuds“ liest, wie Leo es an anderer Stelle formuliert. Dass also die Hebräische Bibel, die die Christen das „Alte Testament“ nennen, so alt nicht ist, sondern sich zu brennenden Fragen der Gesellschaft äußert. Dass sie einen liebenden Gott vermittelt. Das Judentum, unter dem Titel Die Juden fortgeführt, verkauft sich hervorragend, und Trepp erhält diverse Einladungen, von denen er so viele annimmt wie möglich, einige davon werden Freundschaften mit deutschen Familien begründen, die bis zu seinem Tod anhalten. Einige Pfarrer bitten ihn, in ihren Kirchen zu sprechen. Bald wird er nicht nur Vorlesungen und Vorträge halten, sondern in christlichen Gottesdiensten predigen und in konfessionsgebundenen Journalen schreiben. Die Kirchen, die während der nationalsozialistischen Zeit moralisch versagt hatten und auf deren Religionsinterpretation das seit Jahrhun232
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derten verzerrte Bild der Juden in der Gesellschaft maßgeblich beruht, tragen nun besondere Verantwortung, sagt Leo Trepp. Der interreligiöse Dialog, für den er sich von Beginn an engagiert, setzt aus seiner Sicht auf christlicher Seite ein wahres Umdenken voraus. Es müsse in Zukunft darum gehen, ein Verständnis zwischen zwei gleichgestellten Religionen herzustellen. Er erinnert einen Abend mit Christen und Juden im neuerworbenen Haus der Oldenburger Gemeinde im August 1965. Er hatte einen Vortrag zum Verhältnis zwischen den beiden Religionen gehalten, und nach der anschließenden Diskussion sagte ein älterer evangelischer Geistlicher zu ihm: „Mit den Juden östlicher Herkunft kann ich beten, mit modernen Juden kann ich es nicht.“ Genau das, beklagt Trepp, sei das Problem, das jüdische Reformdenker schon im neunzehnten Jahrhundert erkannt hätten. Ein altes, fossiliertes Judentum, das selbst Hirsch schon als „Mumie“ bezeichnet hatte, konnten Nichtjuden weitaus besser akzeptieren, als ein Judentum, das sich modernisierte, deshalb stets relevant blieb und auch ihnen noch etwas zu sagen hatte. Leo hatte die beiden anderen großen Religionen zumindest so weit studiert, dass er sich fundiert zu deren Grundlehren und ihrem Verhältnis zum Judentum äußern konnte. Noch heute stehen in unserer Bibliothek die Werke von Hermann Cohen und Leo Baeck, Franz Rosenzweig und Emmanuel Levinas Rücken an Rücken mit amerikanischer Geschichte, Robert Musil und Nelly Sachs, genauso wie mit Werken über John Locke, Ausgaben des Koran, Auseinandersetzungen mit der muslimischen Religion und zahlreichen Büchern über das Christentum, von Karl Barth und Karl Lehmann bis hin zu Hans Küng, der in die Widmung schreibt: „Auf’s gemeinsame Leben!“. Nun sieht Trepp die Christen in der Pflicht. Es ist ein langer Weg, den die Kirchen gehen müssen. Immerhin hatte selbst der Bruderrat der Bekennenden Kirche, Vorläufer der Evangelischen Kirche in Deutschland, in seinem Freiburger Rundbrief noch 1948 zwar mit „Scham und Trauer“ das Versagen der Kirche unter der nationalsozialistischen Herrschaft beklagt, gleichzeitig aber betont, dass Israel den Messias gekreuzigt habe und der Anspruch, das erwählte Volk Gottes zu sein, durch Jesus auf die Christen übergegangen sei. Er hat233
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te also den rassisch begründeten Antisemitismus abgelehnt, um sich zu dessen Vorläufer, dem Antijudaimus, zu bekennen. Anfang der siebziger Jahre treten zumindest die Kirchenleitungen den Juden und der jüdischen Religion offener gegenüber, was Trepp in erster Linie dem Zweiten Vatikanischen Konzil zuerkennt, doch müssten dessen Einsichten so gelehrt werden, schreibt er, dass sie kirchliches Allgemeingut würden. „Die Worte von Papst Pius XII. – ‚das Judentum ist unsere Mutter‘ –, das Willkommen von Papst Johannes XXIII. für eine jüdische Delegation – ‚ich bin Joseph, euer Bruder‘ – und in erster Linie die ‚Nostra Aetate‘ und die nachfolgenden Verkündungen der katholischen Kirche sowie der protestantischen Kirchen können uns einen neuen Weg weisen, wenn sie die Gläubigen wirklich in der Tiefe erreichen.“ Dazu müssten die Geistlichen zum Beispiel mit mehr Verständnis lernen, aus den hebräischen Schriften, dem „Alten Testament“ zu predigen, den Christen müsse bewusst werden, dass „der Gott der Juden“ des „Alten Testaments“, das man aus Trepps Sicht kirchenoffiziell „hebräische Bibel“ nennen sollte, mitfühlend ist und gnädig und die Erlösung bringt, und verstehen lernen, dass Juden die Mitzwot nicht als Last begreifen, sondern als ein Geschenk. Abgesehen von der historischen Verantwortung, ist Gleichberechtigung zwischen den Religionen für ihn auch deshalb notwendig, weil nur dann die Kirche vom Judentum lernen könne – wie auch andersherum. Und vielleicht könnten in diesem Prozess Antworten gefunden werden, die „die allgemeine Erziehung fördern und gleichzeitig Studentenunruhen vorbeugen“ könnten, schreibt er 1970 in einem Essay, von dem er sagt, „falls der Titel dieses Beitrags schockiert, so ist das seine Absicht“. Die Überschrift im Magazin Emuna lautet: „Ein Vorschlag zur Verjudung der Kirche“. Wen es schockiere, sagt er, der trage immer noch die alten Vorurteile in sich. Die Kirche sei bereits in vieler Weise zum Gesetz zurückgekehrt und müsse sich dazu bekennen und damit anerkennen, dass sie sich wieder der jüdischen Tradition zugewandt hat. Dieser Schritt verbessere die Grundlage für einen wirklichen Dialog. Sich stärker auf das Gesetz, oder aus seiner Sicht besser, die Lehre der Tora, zu besinnen, ist für Trepp deshalb so wichtig, weil in der Tora eine Gesellschaftsordnung vorgesehen ist, deren Gesetze auf Gott und Gottes Willen beruhen. 234
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Ich lese den Text zweimal, er interessiert mich als Jüdin und als Juristin. So habe ich vor Jahrzehnten Grundrechte gelernt. Nur, dass hier Gottes Wille sozusagen die Verfassung darstellt, an der sich alles orientieren muss, auch die Weiterentwicklung und Anpassung der Gesetze an neue Lebensumstände, die ohne Weiteres möglich ist, da Gott bildlos ist und daher in dynamischer Form verstanden wird. Der Willkür sind damit absolute Grenzen gesetzt. Somit beruhten die Gesetze zwar auf Gott, damit gleichzeitig auf ethischer Wahrheit und könnten deshalb selbst weltlich orientierte Menschen ansprechen und leiten. „Unsere Welt ist säkular“, schreibt Leo. Deshalb sei es so wichtig, dass ein auf Gott beruhendes und der Willkür der Menschen entzogenes Gesetz selbst zum moralischen Erzieher werde, das „den Geist und Willen, den Charakter und den Willen des Einzelnen und der Gesamheit erbaut“. Trepp ist in diesen Jahren unsicher, wohin sich diese junge Bundesrepublik bewegen wird. Er beobachtet die Entwicklung interessiert, doch stets auch verhalten und furchtsam. Zu Hause hat er die Ziele der Studentenbewegung diskutiert, mit den Studierenden und vor allem mit seiner Tochter, die mit Freundinnen ihre Freiheit entdeckt, in Minirock und Shorts rumläuft und gemeinsam mit Miriam ihren ersten Joint raucht. Als registrierter und überzeugter Demokrat unterstützt er viele politische Ziele der jungen Menschen, beobachtet in der Bundesrepublik aber Auswüchse, die er rational nicht nachvollziehen kann. Anfang der Siebziger sieht er die ersten Anzeichen eines „neuen deutschen Idealismus“, wie er 1973 schreibt, der „ständig schwankt von einem Extrem ins andere“. Er beobachte, wie in einem „Prozess der Selbstranszendenz der deutsche Geist der Absolutheit“ junge Menschen diesmal in die linke Richtung führe, schreibt er an Kaplan. Während seines letzten Aufenthalts hat er sich mit einem deutschen Parlamentarier unterhalten, der ihm sagte, die neue Universität in Bremen solle deshalb einen marxistischen Charakter bekommen, weil die neutrale Universität nur ein Traum Max Webers gewesen sei, von der Realität widerlegt und von Hitler vernichtet. Trepp ängstigt diese „deutsche Romantik“, der man eine Stimme der Vernunft entgegensetzen müsse. In Deutschland gebe es kaum noch Juden, „doch ich habe Angst um Israel.“ Der Marxismus war nie freundlich zu den Juden, und die Linken positionierten sich 235
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gegen den jüdischen Staat. Und nun bildeten diese und andere Universitäten neue Lehrkräfte aus, um deutsche Kinder zu unterrichten. „Damit wird eine neue Generation indoktriniert.“ Seine Furcht vor einem neuen deutschen Extremismus erweist sich als berechtigt. Drei Jahre, nachdem er diese Zeilen geschrieben hatte, im Juni 1976, entführten palästinensische Terroristen zusammen mit den beiden Gründungsmitgliedern der deutschen „Revolutionären Zellen“, einer linksextremistischen Gruppe, Wilfried Böse und Brigitte Kuhlmann, einen Air France Flug von Tel Aviv nach Paris, um die Freilassung von über fünfzig Inhaftierten zu erreichen, und ließen das Flugzeug im ugandischen Entebbe landen. Dort, in der Transithalle, „selektierten“ die zwei Deutschen die Juden, und die, die sie dafür hielten, von den Nichtjuden und ließen die nichtjüdischen Geiseln frei. Er sei Idealist, kein Nazi, entgegnete Böse, als ihm ein Überlebender der Schoah wortlos seine Auschwitz-Häftlingsnummer zeigte. Schon in dieser Zeit drängt Trepp deutsche Universitäten, jüdische Studien einzuführen. Als er Anfang der achtziger Jahre die Chance bekommt, seine Idee in die Praxis umzusetzen und regelmäßig zu lehren, zögert er keine Minute, sie zu ergreifen. 1981 lädt ihn das Schlossgymnasium ein, die Festrede zur hundertfünfzigsten Jahrfeier seiner alten Schule zu halten. „Auf dem Fest fiel mir Jockel Fuchs um den Hals und sagte, ‚wir müssen Sie nach Mainz bekommen‘, und nicht lange danach bekam ich tatsächlich eine Einladung der Universität Mainz zu lehren.“ Nicht nur der legendäre Oberbürgermeister, auch der stellvertretende Kuratoriumsvorsitzende der Universität, der Bundestagsabgeordnete Johannes Gerster, setzt sich für die Berufung von Leo Trepp ein. 1983 beginnt er als Gastprofessor. 1988 bestellt ihn die Hochschule zum Honorarprofessor. Er wird Mitglied der Evangelischen Fakultät, der die Judaistik angegliedert ist. Seine Studierenden sind zukünftige Pfarrer und Religionslehrer sowie Studenten mit anderen Aspirationen, bald aber haben sich seine Vorlesungen und Seminare herumgesprochen, und es tauchen außeruniversitäre Gäste auf – Lehrer, Beamte, Hausfrauen, Professoren. Deutsche, die Judentum von einem Juden erklärt verstehen wollen. Solange der Raum reicht, sind sie alle willkommen, Trepp ist die Vielfalt im 236
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Vorlesung in Mainz 237
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Gegenteil nur recht. Ihm geht es nicht allein um akademisches Wissen, für das er, besonders in Seminaren, hohe Ansprüche setzt, sondern er hofft, dass konkretes Wissen zudem helfen wird, „das Zerrbild des Juden zu korrigieren“. Die oft scharfe Auseinandersetzung zwischen meist nichtjüdischen Judaisten, was denn Judaistik nach der Schoah sein, wer sie unterrichten solle und welche Qualifikationen Hörer haben müssten, hat ihn, anders als in den Staaten, in diesem Land nicht interessiert. „Die Errichtung von Lehrstühlen für Judaistik in Deutschland ist heute, nach dem Krieg, nicht so sehr eine Notwendigkeit für die Juden, sie ist eine Notwendigkeit für das Prestige und die geistige Gestaltung der Deutschen“, sagt er in seiner Rede für die Honorarprofessur. Im selben Jahr reflektiert er an der Universität Oldenburg die Aufgabe von Bildungsstätten. Nur wenn ein Volk bereit sei, sich zu hinterfragen, könne es bestehen, sagt er dort, dieses Ausbildungsziel und diese Lebensauffassung müsse eine Hochschule vermitteln. „In Wirklichkeit verlangt unser Studium, dass wir uns mit der eigenen Kultur, in diesem Fall die deutsche, vertraut machen, sie dann aber der Kritik von innen wie von außen, das heißt, durch andere Kulturen und Traditionen, rückhaltlos aussetzen und nicht davor zurückschrecken, im Lichte dieser Kritik die eigenen Fehler und Mängel zu erkennen und anzuerkennen. Hier muss dann der Weg zur Erneuerung seinen Anfang nehmen.“ Die Deutschen, die deutsche Universität und die gesamte Gemeinschaft hatten diese Möglichkeit, durch Menschen, „die vollkommen deutsch waren“, führt er aus, aber gleichzeitig kulturellen Einflüssen ausgesetzt, die in ihrer eigenen Tradition ruhten. Ihr Leben in zwei Kulturen habe Juden das „kritische Auge für die Errungenschaften wie die Mängel der deutschen Kultur- und Gemeinschaftsformen gegeben“, was der deutschen Kultur wiederum die ideale Möglichkeit gab, „sich an einer anderen, hohen Kultur in ihrer eigenen Mitte zu messen, sich ihr kritisch zu stellen und von ihr beeinflusst zu werden. Das ist nicht geschehen.“ In Mainz sieht er sich nun in der Lage, seinen Hörern nicht nur die Lehren des Judentums nahebringen zu können, wie er sagt, sondern auch die Volksgemeinschaft, die es einmal repräsentierte. Mit jungen Deutschen, die über die Juden meist nur wissen, dass sie in der Schoah ermordet wurden, beginnt Leo Trepp beim Nullpunkt. Wenn er eine neue 238
Weichen für die Zukunft stellen
Vorlesung startet, lautet seine erste Frage oft: „Wer hat schon mal einen leibhaftigen Juden vor sich gesehen?“ Keine Hand geht hoch. „Gut. Dann nutzen sie ihre Chance. Nachgewiesenermaßen bin ich ein echter Jecke, wie sie mich in Israel nennen würden.“
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SECHSTES KAPITEL
So ist es Mühe und Arbeit gewesen
Zwei Frauen und ein emanzipierter Rabbiner
S
o beginnt Leo Trepp im Jahr 1988, dem Jahr des Erinnerungsganges in Oldenburg, zugleich eine neue Phase in Mainz und streckt den Menschen in den zwei Städten seine Hand aus. Und ein wenig wird er an beiden Orten wieder zu dem, der er einst dort war. Hier der Meenzer, der mit einem Glas Wein am Rhein sitzt und seine Zigarre schmaucht und gleichzeitig einer der letzten Vertreter einer großen Tradition ist, einer Gemeinschaft, die eine so bedeutende Kultur schuf, dass Mainz im Mittelalter zusammen mit Speyer und Worms Architektur, Rechtsprechung und Religion der jüdischen Diaspora weit über die Grenzen des deutschen Reichs hinaus beeinflusste, sodass die drei als die sogenannten Schum-Städte weltweit bekannt bleiben. Und in Oldenburg wird er wieder zum Gemeinderabbiner, ein bisschen jedenfalls, und mit vorsichtiger Hoffnung auf die Zukunft. Anfang der Achtziger hat sich eine kleine jüdische Gruppe gebildet, in der bald Sara-Ruth Schumann den Ton angibt, eine zierliche Mitarbeiterin des Kulturamtes, Tochter eines Überlebenden, die zu ihrer Religion zurückgefunden hat und in den nächsten Jahrzehnten zusammen mit anderen eine Gemeinschaft aufbauen wird, die Leo Trepp bis zuletzt mit einer Art väterlichem Stolz als „Mustergemeinde in Deutschland“ bezeichnet. 1992 unterschreiben sechzehn Mitglieder das Gründungsprotokoll. Wissen ist spärlich. Sie lernen. Und lernen. Jahrelang unterrichtet sie der niedersächsische Landesrabbiner Henry Brandt, einmal im Monat gibt es diese Intensivkurse, die restliche Zeit studieren sie allein weiter. Die frischgebackenen Gemeindemitglieder treffen sich in Schumanns kleiner 241
6. Kapitel: So ist es Mühe und Arbeit gewesen
Das Bet Din für die ersten Übertritte in der neu gegründeten Jüdischen Gemeinde mit dem Kulturdezernenten der Stadt vor der Synagoge in Oldenburg. V. l. n. r.: Rabbiner Andrew Sachs aus Jerusalem, Rabbiner Leo Trepp, Ekkehard Seeber, Rabbiner Bea Wyler und Rabbiner Ervin Birnbaum aus Netanya.
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Zwei Frauen und ein emanzipierter Rabbiner
Kunstgalerie und wagen die ersten Freitagabendgottesdienste, „learning by doing“, wie Schumann später sagt. Trepp will sich nicht aufdrängen, ist aber da und unterstützt die kleine Truppe vor allem in der schwierigen Gratwanderung, sich von den Orthodoxen zu distanzieren und einen Platz im jüdischen Leben in Deutschland zu finden, nie bevormundend, sondern pragmatisch, wie das Gründungsmitglied und der damalige Präsident der Carl von Ossietzky Universität, Michael Daxner, später erzählt: „Warum macht ihr das nicht so und so‘, hat er dann gefragt und uns ein bisschen geschubst. Es ist sicherlich auf seinen Einfluss zurückzuführen, dass wir in Oldenburg ein konservativ-liberales Judentum haben.“ Anfang der neunziger Jahre steht die frühere Baptistenkirche nach langjähriger anderweitiger Nutzung wieder leer. Der Kulturdezernent sieht das Potential sofort. Dies könnte das Zuhause für die junge Gemeinde werden. Beide Rabbiner, Trepp und Brandt, nicken ab. Das Gebäude liegt unweit des Platzes, an dem die alte Synagoge und Schule standen. Die politischen Spitzen der Stadt einigen sich schnell darauf, das Projekt zu unterstützen, Ekkehard Seeber treibt die für Oldenburger Verhältnisse hohe Geldsumme für das Vorhaben auf, und als weiterhin ein großer Betrag fehlt, schreibt Trepp einen Brief an ein einflussreiches Mitglied der Stiftung Niedersachsen. Die Oldenburger bekommen ihr Geld zusammen. Die Umbaukosten übernimmt die Stadt. Über das Eingangsportal platzieren die Maurer während der Sanierung den Schmuckstein der erweiterten Synagoge von 1855, der den Brand überstanden hat. Nach dem Pogrom muss ihn jemand weggeschleppt haben, zumindest findet ihn ein Gärtner nach dem Krieg auf dem Nachbargrundstück. Bet Elohim steht darauf. Das Haus Gottes. Nicht jeder will das haben. Der Nachbar jedenfalls nicht, der sich von möglichen Anschlägen auf die Juden bedroht fühlt. Die Stadt muss zwei Prozesse mit ihm führen. Als Leo Trepp im März 1995 zur Einweihung der Synagoge nach Oldenburg kam, traf ich ihn zum ersten Mal. Bei einem Empfang am Tag davor hatten ihn Dutzende Menschen umringt, unter ihnen mein erster Mann, dem es gelang, sich mit dem Rabbiner für den nächsten Morgen zum Frühstück im gemeinsamen Hotel zu verabreden. Ich weiß nicht mehr, worüber wir sprachen, doch ich erinnere mich, wie krank Leo an diesem kalten, nassen Frühlingstag aussah, mit rotem Schal um den Hals 243
6. Kapitel: So ist es Mühe und Arbeit gewesen
und leiser Stimme, und ich dachte: „Der gehört ins Bett.“ Ich kannte ihn eben noch nicht. Zwei Stunden später hielt er seine Festrede, kraftvoll und energisch, sprach über das Menschenbild der Juden, in dem Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen den Religionen zu respektieren seien. Und dann, unter gegenseitiger Anerkennung, sagte er, könnten Juden und Christen zum Segen aller zusammenarbeiten. Auch in den Vereinigten Staaten fordert er Juden und Christen auf, gemeinsam zu kämpfen, um „Menschen von ihren Fesseln zu lösen, Verfolgte zu befreien und ihr Joch zu brechen, Brot mit den Hungernden zu teilen, Obdachlosen ein Dach zu geben, die Nackten zu kleiden und niemals wegzuschauen“, wie es der Talmud sagt. Wie muss es gewesen sein für ihn, wieder zu Oldenburger Juden zu sprechen? Sie zu inspirieren? Wie mag er sich gefühlt haben, als er später am Tag den kleinen, hellen Bau segnete, der in direkter Nachfolge stand zu dem verschwelenden Trümmerrest, an dem er am Morgen des 10. November 1938 vorbeilaufen musste? Und wieviel muss es ihm bedeutet haben, dass die Oldenburger Nachkriegsgemeinde eine Rabbinerin beruft, die erste in Deutschland nach der Schoah? Und dass diese energische Schweizerin, ausgebildet am konservativen Seminar in New York, von den russischen Mitgliedern, die jahrzehntelang keine Juden sein durften und nichts wissen, die aber in der Oldenburger Nachkriegsgemeinde wie überall in Deutschland die absolute Mehrheit stellen, dass sie von diesen neuen Juden nicht nur erwartet zu lernen, sondern Juden in Deutschland zu sein, die, „wenn sie Zeitung lesen, verstehen sollen, was politische Entwicklungen für sie als Juden bedeuten“, wie es diese kluge Frau, Rabbiner Bea Wyler, später sagen wird? Gottesdienstsprache ist Hebräisch, die deutsche Predigt wird auf Russisch übersetzt. Gebetsbücher gibt es mit deutscher oder russischer Übersetzung, Seitenzahlen werden in beiden Sprachen angesagt. Wyler büffelt Russisch, um besser mit den neuen Mitgliedern kommunizieren zu können, lernt Tora und Talmud mit den Neuen und versucht, vor allem die Kinder früh in den Unterricht zu bekommen. Bald sind die es, die ihre Eltern den Freitagabendsegen lehren. Leo Trepp beobachtet und hört das alles mit Stolz, „zwei Frauen zeigen den Männern in Deutschland, wie man jüdisches Leben baut“, sagt er dann, setzt sich jedes Mal, wenn er in Oldenburg ist, mit der Kol244
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legin zusammen und gibt Ratschläge, die ihr „sehr wichtig“ sind, wie sie sagen wird, mischt sich aber nicht ein. Und wenn, dann sanft und vorsichtig, wie bei den ersten Übertritten, sorgfältigst vorbereitet von der Rabbinerin, die den zehn Kandidaten immer noch ein bisschen mehr beibringen will, bis der ältere Kollege sagt: „Jetzt können wir aber mal“, und fünf Kinder und fünf Erwachsene in Ermangelung einer gebauten Mikwe im nahegelegenen See untertauchen und als Juden wieder herauskommen. „Von Oldenburg geht die Tora aus“, sagt Leo in einem Gottesdienst einmal, und es liegt Freude in seiner Stimme und Hoffnung. Seine „alt-neue Gemeinde“, wie er sie bei der Einweihung der neuen Mikwe 2002 nennt, verwirklicht vieles, wofür er als Rabbiner und als überlebender deutscher Jude steht. Das Lernen, um nicht nur Feiertagsjuden zu haben, deren Kinder die Religion dann ganz beiseitelegen, sondern jüdische Menschen, die nicht von „der“ sondern von „ihrer Tora“ sprechen und sie in ihren Alltag hineinnehmen. Die vorsichtige Erweiterung – Synagoge, Gemeindehaus, Mikwe – an der alle mitwirken. Die strikte Ablehnung jeder Gefälligkeit, seien es bezahlte Übertritte oder eine Bat Mitzwa von Familien aus anderen Gemeinden, in denen Mädchen nicht zur Tora aufgerufen werden können, ohne propere Vorbereitung, weil jede Konzession der erste Schritt zur Korruption und Verwässerung ist. Die Gleichberechtigung der Frauen, für die Leo sich selbst in Israel mit Rabbinern streitet, bis denen die Argumente ausgehen und sie „klein mit Hut“ werden, wie sein Begleiter damals sagt. Die offene Haltung den nichtjüdischen Ehepartnern gegenüber, die jederzeit in der Gemeinde willkommen sind und an den Programmen teilnehmen können. Wie vehement mein Mann für all das schon in seinen frühen Jahren in den Staaten gefochten hat, und wieviel es ihm bedeutet haben muss, es in Oldenburg wachsen zu sehen, weiß ich erst, nachdem ich in seine Vergangenheit und Texte eingetaucht bin, seine Bücher, Essays und Briefe gelesen habe. Vielleicht hätte ich in den frühen Jahren unserer Beziehung manches auch noch gar nicht richtig verstanden. Ich war ja selbst neu im Judentum. Als wir in Oldenburg zum ersten Mal als – jüdisches – Paar auftreten, zuckt die wunderbare Sara-Ruth, mit der ich schon, bevor ich Leo 245
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kannte, gemeinsam im Vorstand der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit arbeitete und die in der Zeit eine gute Freundin geworden ist, mit keiner Wimper und ruft mich zur Tora auf. „Man sah doch einfach, dass ihr glücklich wart“, sagt sie, als ich nach Leos Tod die Gemeinde besuche und bei ihr übernachte. Sie agiert meist „mit goldener Hand“, wie Wyler sagt, aber stets auch strikt, und ihre Sprache ist klar und direkt. „Sie haben uns immer ein bisschen an der Hand gehalten, bis wir laufen konnten“, sagt Sara-Ruth irgendwann in seinen letzten Jahren zu Leo. Und fügt hinzu: „Jetzt können wir laufen.“ Leo drückt meine Hand noch kräftiger. Es ist merkwürdig, wie viele Dinge selbst unter Menschen ungefragt und ungesagt bleiben, die sich so nahe fühlten wie wir. Warum habe ich ihn nie intensiver zu Oldenburg befragt? Und es verblüfft mich, dass ich manches auf später verschoben habe. Oder ihn nicht gedrängt habe, seine Autobiographie zu Ende zu schreiben. Habe ich wirklich gedacht, das kann er mal machen, wenn er Zeit und Ruhe hat? Als wir uns nach Miriams Tod ineinander verlieben, existiert das Alter nicht. Es ist, als hätten wir aufeinander gewartet. Was wir einander waren, konnte Zeit nicht bedrohen. Einmal, in Leos letzten Jahren, fragt ihn ein Journalist, wo denn heute seine Heimat sei. „Heimat ist, wo meine Frau ist“, antwortet er, und ich kann es nicht besser sagen. Mit ihm war Heimat. Nach ihm ist lange Schwanken und Unsicherheit. Natürlich reden wir über die Jahre, die uns trennen, und die wir uns wegwünschen. „Ich gäbe dir zwanzig Jahre meines Lebens, wenn ich dich dann so viel länger hätte“, sage ich und meine es. Er schenkt mir die Liebesgedichte von Bertolt Brecht und, weil wir anfangs nicht heiraten wollen, einen Ring vom Juwelier in Mainz, bei dessen Vater er schon Miriams Verlobungsring gekauft hat, wir sagen die hebräische Trauformel, und er schreibt sie zweimal auf. Klimperklein, wie er sagt, dass wir sie immer dabei haben können. Ich finde seine nach seinem Tod in der Brieftasche hinter seinem Pass, den er wie seinen Augapfel hütete. Meine liegt im Portemonnaie und wird gestohlen, als mir nach seinem Tod in Berlin jemand meine Handtasche entreißt, Leos letztes Chanukkageschenk.
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„Ohne den Älteren wäre der Jüngere nicht da“
„Ohne den Älteren wäre der Jüngere nicht da“ Ein Jahr nachdem Leo Trepp die Festrede zur Einweihung der Oldenburger Synagoge gehalten hat, wird er auch in Mainz eine Synagoge ihrer neuen Bestimmung übergeben. Das zweihundertfünfzig Jahre alte Bauwerk wurde von den Juden des Stadtteils Weisenau genutzt, der damals noch eigenständig war, und überstand die Pogromnacht, weil die SA wegen der engen Bebauung befürchtete, das Feuer könne auf Nachbarhäuser übergreifen. Also beließen es die Nazischergen und ihre eifrigen Helfer dabei, das Gebäude vollständig auszuplündern. 1939 musste die jüdische Gemeinde das Gebäude unter Druck zu dem vom Oberbürgermeister festgesetzten Preis in Höhe von dreihundertfünfzig Reichsmark verkaufen. Nach dem Krieg passiert jahrzehntelang nichts. Die alte Synagoge wird als Hühnerstall und Lagerraum genutzt, bis der Kulturdezernent, Anton Maria Keim, 1978 die Ausstellung „Juden in Mainz“ initiiert, in der auch an die Weisenauer Synagoge erinnert wird. 1987 erwirbt die Stadt das mittlerweile unter Denkmalschutz gestellte Gebäude. Die Restaurierung schleppt sich dahin, bis Ende der achtziger Jahre eine Gruppe von Mainzer Bürgern beschließt, die Synagoge wieder zu dem zu machen, was sie eigentlich war – ein Gottes- und Lehrhaus – und 1993 einen Förderverein gründet. Sein Vorsitzender, Heinrich Schreiner, über viele Jahre Finanzstaatssekretär und anschließend Landeszentralbankchef, lässt sämtliche Kontakte spielen, fährt mit der Bitte um Spenden von einem Freund zum anderen, steckt persönlich eine beträchtliche Summe in das Projekt, und langsam nimmt, was anfangs selbst mit freundlichem Blick gerade mal aussah wie ein heruntergekommener Speicherschuppen, wieder Form und Format eines Sakralbaus an. Am Pfingstmontag des Jahres 1996 segnet Leo Trepp das Gotteshaus und nimmt an der Eingangstür eine Torarolle in Empfang, ein Geschenk der Mainzer jüdischen Gemeinde. Mit der feierlichen Weihe haben Mainz und die Juden wieder eine Synagoge. Neunhundert Jahre zuvor war die Mainzer Gemeinde in den Kreuzzügen ausgelöscht worden, Heinrich Schreiner, belesen und für sein Leben erschüttert von einzelnen Schicksalen der nationalsozialistischen Judenverfolgung, die er in Kindheit und 247
6. Kapitel: So ist es Mühe und Arbeit gewesen
Heinrich Schreiner und Leo Trepp
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Jugend beobachtete, wollte genau diese Verbindung herstellen und hat auf dem Datum für die Einweihung bestanden. Der Domchor singt. Unter den Gästen sitzen Karl Kardinal Lehmann und evangelische Geistliche. Trepp legt in seiner Predigt das Wohl und die richtige Nutzung des Baus, der nie „allein weltlichen Veranstaltungen dienen“ dürfe, dem Förderverein in die Hände, dessen Vorstandsmitglieder, allesamt Christen, „verantwortungsvolle, fromme Menschen“ seien. Tatsächlich werden die Mitglieder des Vereins in den nächsten Jahren nicht nur den Betrieb der Synagoge gewährleisten, Besucher führen sowie Vorträge und Musikabende arrangieren, sondern gärtnern, instandsetzen und putzen. Allen voran Heinrich Schreiner, mittlerweile ein enger Freund von Trepp, und seine Frau, die, wenn sie Heinrich und Leo debattieren sieht, ihre Köpfe eng beieinander, fragt: „Was hecken sie jetzt schon wieder aus?“ 2003 bekommt die Synagoge überraschend eine zweite Tora. In der Pogromnacht 1938 hatten Unbekannte eine Torarolle vor das Bischöfliche Priesterseminar in Mainz gelegt. Die Priester holten sie rein, versteckten sie in der Schatzkammer der Martinus Bibliothek und vergaßen oder übersahen sie – über zwei Generationen hinweg. Bis sie dem neuen Direktor der Bibliothek auffällt, und der zum Bischof geht, ihm von dem Fund erzählt und fragt, was sie denn nun tun sollen. „Wir geben sie zurück“, sagt Karl Lehmann, „und zwar mache ich das selbst.“ An einem Dezembertag sitzen Juden und Nichtjuden zusammen in feierlicher Erwartung in der überfüllten Weisenauer Synagoge. Als sich die alte Doppeltür ein wenig quietschend öffnet und der Kardinal hereinkommt, die Tora in ihrem weißen Mantel auf dem Arm, schießen nicht nur einigen Katholiken die Tränen in die Augen. Mimi Sheffer, Freundin und Kantorin in Berlin, singt „so wunderbar wie nie“, wie Leo ihr später sagt, es gibt Ansprachen und einen Gottesdienst. Als mein Mann für seine Predigt auf die Bima gehen will, stolpert er beinahe über seinen langen Talar. Lehmann springt auf, fängt ihn ab und stützt ihn dann. „Da sehen Sie mal“, sagt mein Mann, „jetzt kann der ältere Bruder schon nicht einmal mehr ohne den jüngeren laufen.“ Der Bischof lächelt. „Ohne den älteren Bruder“, sagt er, „wäre der jüngere ja gar nicht da.“ Vielleicht ist es diese selbstverständliche Akzeptanz und die Leichtigkeit im Umgang, die Lehmann und Trepp aneinander mögen und schät249
6. Kapitel: So ist es Mühe und Arbeit gewesen
Karl Kardinal Lehmann überreicht Rabbiner Trepp eine vor den Nationalsozialisten gerettete Torarolle.
zen. „Es war wohl als Rheinländer für ihn leichter, in einer liberalen katholischen Umgebung zu leben“, sagt Michael Daxner einmal, als ich ihn frage, warum Leo Trepp selten an der Oldenburger Universität gelehrt hat, obgleich die Einführung der Jüdischen Studien maßgeblich ihm zu verdanken ist. Ich weiß nicht, ob Daxners Einschätzung stimmt. Doch ich weiß, dass Leos engste Freunde in Mainz „gute Katholiken“ waren, wie er sie nannte. Fest in ihrem Glauben und voller Respekt vor seinem. Karl Lehmann hat Leos Werke nicht nur gelesen, sondern arbeitet mit ihnen und konsultiert sie, wenn es ums Judentum geht. Trepps Jüdischer Gottesdienst habe eine rege Beschäftigung von katholischen Theologen, besonders Liturgiewissenschaftlern, mit diesem Thema angestoßen, sagt er. Im Frühling 2003, zu Trepps neunzigstem Geburtstag, hält er die Laudatio im Mainzer Rathaussaal. Zwei Jahre zuvor hat Trepp den jüdischen Beitrag für die Festschrift zu Lehmanns fünfundsechzigstem Geburtstag 250
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Ökumenischer Gottesdienst in Oberlauringen. V. l n. r. : Pfarrerin Christa Riemer, Pfarrer Hans Betz, Leo Trepp, Crafft Freiherr Truchseß von und zu Wetzhausen
geschrieben. Mehrere Male spricht der Rabbiner im Dom. Und sie sind offen miteinander. Als Leo bei einem Mittagessen eine Veröffentlichung des Vatikans kritisiert, die mit den Juden zusammenhängt, stimmt der „jüngere Bruder“ zu: „Sie haben vollkommen recht. Ich werde das bei meinem nächsten Besuch ansprechen.“ Leo wiederum nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn der Kardinal ihn zu Vorgängen im jüdischen Leben in Deutschland befragt. Mainz wird das Zentrum seines Lebens in Deutschland. Zu Beginn des Sommersemesters bezieht Leo Trepp seine kleine Wohnung im Gastprofessorenhaus, in der während seines Aufenthalts zumindest der Schreibtisch bald genauso aussieht wie der zu Hause. Ein Ort, an dem er als Einziger die Übersicht hat und an dem Papiere sich auf Büchern türmen und umgekehrt, zwischen Tastatur und Computerbildschirm einer von mindestens zwei Aschenbechern steht, in denen er seine Pfeifen zwischenlagert, weil sie nass werden und man wechseln muss, wie ich 251
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bald lernen soll, und ein Plätzchen immer noch frei ist für den Rest der Zigarre, an der er ab und an zieht. Der Tabakbeutel verschwindet manchmal zwischen den Stapeln und leert sich beim Herausziehen gern, was kein Problem ist, denn irgendwann erwischt mein Mann auch den letzten Krümel und stopft ihn in den Pfeifenkopf, selbstverständlich, denn Verschwendung ist ihm ein Gräuel. Von hier bricht er auf, um Vorlesungen und Vorträge an anderen Universitäten und Veranstaltungsorten zu halten, vom nordischen Greifswald geht es mit dem Zug bis hinunter nach Innsbruck. Er besucht Freunde, predigt in Synagogen und Kirchen und schreibt neue Bücher auf Deutsch. Nach einigen Besuchen in Oberlauringen, die ihn froh und melancholisch zugleich stimmen, nimmt er dort 1991 an einem katholisch-protestantisch-jüdischen Gottesdienst in der Dorfkirche teil und schreibt darüber: „Als ich in meiner Predigt erklärte, dass es für mich siebzig Jahre gedauert habe, um die Distanz zwischen der Synagoge, die einst im Dorf stand, und der Kirche, die hoch oben auf dem Berg lag, zu überwinden, begann der Baron, dessen Vorfahren die Ansiedlung der Juden erlaubt hatten, zu weinen.“ Seit 1991 hält er jedes Jahr zwei Vorträge an der Jüdischen Volkshochschule in Berlin. Und natürlich fährt er nach Oldenburg, feiert Gottesdienste mit „seinen“ Gemeindemitgliedern, trifft sich mit dem Oberbürgermeister und hält diverse Vorträge. Und spricht zu Oberstufenschülern, die der Kulturdezernent jedes Jahr für ihn zusammentrommelt. Er tritt vor den jungen Frauen und Männern nicht nur als Zeitzeuge auf, sondern als Mahner, als jemand, der gesehen hat, was passiert, wenn die Mehrheit ethisch falsche gesellschaftliche Entscheidungen und Gegebenheiten schweigend hinnimmt oder gar unterstützt. Er mahnt, das Richtige zu tun. Natürlich mahnt er als Vertreter der Opfer. Damit aber gleichzeitig als vertriebener Deutscher, dessen Familie ermordet wurde, weil die anderen Bürger nicht das Richtige getan haben. Zurückzuschauen, um es in Zukunft anders zu machen, liegt nicht allein im Interesse der Überlebenden, sagt er diesen Schülern, wie er es in vielen Ausführungen sagt, die sich auf Wunsch der Veranstalter mit vergangenen Erlebnissen beschäftigen, in denen Trepp aber stets auch nach vorne schaut. In erster Linie liege es im Interesse der Deutschen. Alles, was sie tun, um sich an 252
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Selbst im hohen Alter besucht Leo Trepp noch Schulklassen
die Jahre der Verbrechen zu erinnern und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen, sollen sie vor allem für sich, vor allem für ihr Land tun. Er kann allenfalls als Katalysator dienen. Wenn er die Schüler aufruft, selbst zu denken, Verantwortung nicht bei anderen, sondern bei sich zu suchen, gegen Antisemitismus und Vorurteile zu kämpfen, ist das auch Ausdruck seiner Hoffnung, dass sie jung genug sind, offen zu sein, und alt genug, Vorgänge in ihrem Land mit eigenen Ideen zu beurteilen. Wie an seinem alten Gymnasium in Mainz und anderen Schulen, die er besucht, hören ihm die Schüler, in Oldenburg sind es immerhin um die neunhundert, mucksmäuschenstill zu. „Er hatte eine unglaubliche Begabung, mit Menschen in Kontakt zu kommen“, sagt Ekkehard Seeber später, „das war beeindruckend.“ Mir fallen andere Momente ein, Augenblicke, in denen etwas passierte zwischen ihm und seinen Zuhörern, in denen, und wenn es noch so abgenutzt klingt, etwas übersprang. Die ungezählten Male, die Vorbeter oder Rabbiner ihn in einem Gottesdienst baten zu sprechen, und er sie verblüffte, „wie er sich einfach so hinsetzt 253
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und eine gehaltvolle Dewar Tora hält“, wie es eine von ihnen, Bea Wyler, nach seinem Tod sagt, oder Dutzende von Veranstaltungen, in denen er sein vorbereitetes Manuskript wahlweise aufrollte oder liegen ließ und ignorierte, um frei zu sprechen, was meinen Magen revoltieren ließ, bis ich irgendwann merkte, dass es für ihn nur so ging. Er brauchte den Kontakt mit seinen Hörern, und auch ohne Vorlage, oft mit Stichwortzettel, den er nebst Text stets dabei hatte, hielt er die Spannung, zitierte, wich ab, kam zurück, endete elegant und ließ das Publikum angetan und angeregt zurück. Und er selbst? Nach jeder Rede nimmt er meine Hand und flüstert: „War es in Ordnung?” Anfangs halte ich das für Eitelkeit. Was denkt er, warum Menschen dreißig Minuten, eine Stunde, regungslos zuhören? Irgendwann frage ich ihn: „Fischst du eigentlich nach Komplimenten oder warum fragst du mich, wenn du doch weißt, dass du ziemlich großartig warst?“ „Du irrst“, antwortet er, und sein Gesicht ist ernst, „ich bin mir nie sicher. Ich zweifle ständig.“ Dreißig Jahre nach Erscheinen seines ersten Buches schreibt Leo Trepp: „In all meinen Lehrtätigkeiten, meinen Schriften und Publikationen – sowohl im Englischen wie im Deutschen – war es immer mein primäres Anliegen, Studierenden und ,Durchschnittsmenschen‘ das Judentum nahezubringen, damit es ihnen in ihrem Leben dient. Forschung im Sinne eines Aufbrechens zu Neuland und der Entdeckung neuer talmudischer Interpretationen war eher von nachgestelltem Interesse in meinem Schaffen. Selbst als Wissenschaftler bin ich bewusst ein Rabbiner, ein ,Lehrer‘ geblieben.” Er schreibt das in einem Kontext, in dem es fast ein wenig rechtfertigend klingt. Entschuldigend. Vielleicht kann man nur als bewusster Lehrer und stets zweifelnder Geist die Fähigkeit entwickeln, mit der er Menschen sein Leben lang anziehen wird, und über die der ehemalige Präsident der Universität Mainz, Josef Reiter, nach Leos Tod sagt: „Wie er komplexe und schwierige Sachverhalte für alle verständlich machen konnte, war einzigartig. Ich hatte noch nie jemanden erlebt, der seine Zuhörer so schnell einfing, und habe es auch nachher nicht mehr gesehen. Doch es war kein passives Gefangensein, es war ein Gefangensein im Sinne von Mitdenken. Er führte einen Dialog mit dir, obgleich er der alleinige Vortragende war. 254
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Er hat mich fasziniert, er hat uns alle fasziniert. Er war ein großartiger Wissenschaftler, weit über die Grenzen des Judentums hinweg. Nicht umsonst kamen die verschiedensten Religionen und Nationen zu seinen Veranstaltungen.“ Ich glaube, dass seine Anziehungskraft nicht nur mit seiner Dialogfähigkeit zu tun hat, die er bereits als Kind lernte, sondern auch damit, dass Leo Trepp in einer Welt, in der Menschen sich ihrer selbst entfremden und Ratgeber befragen, wie sie authentisch sein oder zumindest so wirken können, dass er in dieser Welt weiß, wer er ist und kompromisslos dazu steht. Leo Trepp ist Jude. Und er lebt und argumentiert als Jude. „Er wollte nie gefällig sein“, sagt die Tochter einer Freundin und fügt, selbst völlig unreligiös, hinzu: „Zu einem solchen Rabbiner würde ich sofort gehen, wenn ich ein Problem hätte.“ So sehr er Lessing und dessen Nathan liebt, so sehr kritisiert er, dass dieses Stück in vielen Juden den Eindruck erweckt habe, auch für sie persönlich müsse das Judentum nicht unbedingt die richtige Religion sein. Natürlich, schreibt er 1944 in einer Auseinandersetzung damit, seien alle Religionen zu akzeptieren, wie es die Rabbiner bereits im frühen Mittelalter sagten und wie Lessings Lehrstück verdeutliche, das „eine der schönsten Parabeln der Literatur“ sei, die „Toleranz, Gleichheit und gegenseitiges Verständnis“ predige und zeige, dass „keine Religion das Recht haben soll, einer Gruppe ihre eigene Brandmarke aufzuzwingen oder die zu verachten, die Gott auf andere Weise ehren“, wie er schreibt. Doch er fügt hinzu: „Der Trugschluss in Lessings Parabel wird deutlich, wenn wir sie mit dem jüdischen Grundsatz vergleichen, den die Rabbiner einst formulierten. Die Rabbiner sagen: „Tzadike ummot haolam yesh lahem helek leolam haba” – Die Gerechten aller (Nationen und Religionen) werden Erlösung finden. Somit ist unmissverständlich klar, dass die Erlösung nicht von der Validität einer spezifischen Religion abhängt, sondern vom impliziten Glauben des Gläubigen, welche Religion auch immer die seine ist. Psychologisch gesehen kann und muss es nur eine wahre Religion für den Gläubigen geben, nämlich seine Religion. Lessings Ring-Parabel wird zum religiösen Selbstmord. Denn wenn selbst die Gläubigen zweifeln, ob ihre Religion die richtige ist, dann wird Religion selbst irrelevant und nutzlos.“ 255
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Leos Haltung begründet seine Freundschaft mit Kardinal Lehmann, der seinerseits ganz und gar Katholik ist. Und sie leitet ihn im Gespräch mit anderen Christen ebenso wie mit Muslimen. Als ich ihn eines Mittags von seiner Vorlesung in Frankfurt abhole, sitzen er und die Kollegin, mit der er die Veranstaltung anbietet, zusammen mit einer muslimischen Studentin, die sie offensichtlich beruhigen müssen. „Was war denn los?“, frage ich ihn anschließend. „Ach“, sagt er, „aus unserer Sicht nichts. Wir waren uns nur in einer Sache absolut nicht einig.“ Verstehe ich nicht, erwidere ich, „in eurem Kurs geht es doch gerade darum, zwei verschiedene Sichten darzustellen.“ Sie seien vielleicht ein bisschen zu engagiert gewesen, meint Leo, „und dann hat das Mädel angefangen zu weinen, weil sie Angst hatte, dass sich ihre zwei Lieblingsprofessoren zerstreiten.“ Die leichte Freude in seiner Stimme, dass sie zwei Juden so betitelt, ist nicht zu überhören. Ihn interessieren seine muslimischen Studenten, die auch in Mainz oft zu denen gehören, die ihn nach der Vorlesung noch mit Fragen belagern. Schon in Napa hat er vor Exiliranern gelesen, „hoch intelligent und belesen, wir dürfen einfach nicht vergessen, welche Geschichte die Perser haben“, sagt er. Und erzählt von seiner Lieblingsstudentin, die mit ihren Eltern nach dem Putsch gegen den Schah floh, dann aber trotz des Khomenei-Regimes in ihr Heimatland zurück wollte. „Tue das nicht. Ich habe Angst um dich“, bittet er sie. „Keine Sorge, ich schreibe Ihnen regelmäßig, sobald ich da bin“, entgegnet sie. Er hört nie wieder von ihr. Jetzt kommen die Muslime vorwiegend aus dem Nahen Osten. Anders als in Napa sitzen die meisten jungen Frauen mit Kopftuch vor ihm. Er thematisiert das nie. Einmal diskutiert er mit seiner Kollegin in Frankfurt darüber. Sie hält ihm entgegen, auch sie habe in Israel eine Zeitlang ihr Haar bedeckt. Doch das ist nicht sein Punkt. Frauen können machen, was sie wollen, sagt er, doch sie müssen so frei sein, dass es immer ihre Entscheidung ist. Ist es das? Er hat nicht umsonst schon 1977 in einem flammenden Essay seine eigene Religion kritisiert und nachgewiesen, dass selbst im Rahmen, in dem die Halacha den Frauen gleiche Rechte gebe, Männer sie ihnen nicht zugestanden hätten, aus eigenen Interessen. Doch wenn die Männer glaubten, Frauen ausschließen und selbst in der Synagoge hinter 256
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Trenngittern verstecken zu müssen, um den männlichen Trieb zu bewältigen, „zeugt das nicht eher gegen den Mann?“, fragt Trepp. „Die völlige Gleichstellung der Frau, an die der Verfasser glaubt“, schreibt er, „bedarf neuer Überlegungen aus dem Geist des Judentums heraus.“ Jüdische Ethik gebiete diesen Schritt. Jahrhundertelang haben die jüdischen Frauen ihre Köpfe bedeckt. Miriam trug in der Ehe, obgleich zu Beginn strikt orthodox, weder Tuch noch Scheitel. Religionen müssen sich erneuern. Immer wieder. Auch für Frauenrechte, schreibt Trepp, werde sich im Judentum „das Wort des Rav Kook bewähren: ‚Das Alte sei erneuert, das Neue sei geheiligt‘.“ Und jede Religion muss einmal anfangen. Schon als er 1971 an der Universität in Hamburg dem Vorsitzenden des Ökumenischen Rats eine christlich-islamisch-jüdische Diskussionsrunde vorschlägt, erhofft er sich gegenseitige Anregung. Ein solches Podium hat es noch nicht gegeben, und der Fachbereich ist enthusiastisch. Doch ein Professor der Universität weigert sich teilzunehmen, das Projekt platzt. „Der muslimische Vertreter erklärte, dass er sich nicht an einen Tisch setzen könne mit einem Juden, nicht einmal in einem akademischen Umfeld“, schreibt Trepp. Er habe diese Erklärung „skandalös“ gefunden. Auf der anderen Seite offenbaren die Schwierigkeiten des Dialogs für ihn nur seine Notwendigkeit. Wenn auch die Muslime nur eine kleine Minderheit sind, mit in Westdeutschland gerade mal einer halben Million Gläubige, und die jüdische Gemeinschaft winzig ist, können sie vielleicht dennoch voneinander lernen. In den Staaten versucht man solche Gespräche bereits, die Trepp auch im Hinblick auf den Nahen Osten wichtig findet, wo beide Religionen aufeinandergeworfen und auf Verständnis füreinander angewiesen seien. Bei allen politischen Differenzen sieht er auch Gemeinsamkeiten, auf die man sich beziehen kann. Immerhin sei Ismael Isaaks Bruder, den die Rabbiner im Talmud einen „Zadik“ nennen, einen Gerechten. Als er 1979 mit einem verlängerten Lehrauftrag nach Hamburg zurückkehrt, schlägt der Direktor des Fachbereichs vor, das Experiment zu wiederholen. Und Leo Trepp ist verblüfft über die Reaktion. Auf die Einladung erfolgte prompt die begeisterte Antwort der muslimischen Wissenschaftler. Die Situation hatte sich geändert. Die religiösen Autoritäten 257
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des Islam hatten beschlossen, daß der Dialog zwischen Muslimen und Juden, Christen außerhalb der Islamischen Sphäre erlaubt sei. Diese Männer waren sich sehr wohl bewußt, daß das islamische Recht modernisiert werden muß, um dem Standard unserer Zeit zu entsprechen, besonders im Hinblick auf das Rechtssystem und die Rechte von Frauen. Ihre Sorge hatte nicht nur ethische Motive. Sie befürchteten, daß früher oder später das moderne Denken auch die Menschen in den islamischen Ländern erreichen und für sich gewinnen könnte. Eine solche Welle könnte auch für den Islam die ernste Gefahr des Kommunismus mit sich bringen. Die muslimischen Vertreter kamen als Verteidiger des Islam und als Lernende. Manche waren mutig – zumindest während der privaten Zeit unseres Treffens –, andere, wie beispielsweise der Imam der lokalen Moschee, waren liebenswürdig, aber zurückhaltend. Mit einem iranischen Kollegen unterhält sich Trepp privat näher. Der andere will mehr über das jüdische Denken erfahren. Wie haben es die Juden geschafft, selbst in Israel, mit dem strikten Rabbinat, die Gesellschaft so offen zu gestalten? Durch den Einfluss der Diaspora, antwortet Trepp, die immer den Einflüssen anderer Kulturen ausgesetzt war und sich ihnen aussetzen wollte. Für den Islam, sagt er dem Anderen, könne die muslimische Diaspora, die in Europa gerade entstehe, diese modernisierende Rolle ausfüllen und ein Gegengewicht zur strikten Lehre der Geistlichen in den Heimatländern bilden. Trepp ist klar, dass es dazu auf der westlichen Seite der islamischen Welt so etwas wie „Koran im Derech Eretz“ geben muss, eine Öffnung des Koran und eine Verbindung mit der weltlichen Kultur der Länder, in der die europäischen Muslime leben. Und dann muss diese Diaspora, drängt er den Kollegen, ihren Einfluss geltend machen. „Darauf erhielt ich zwei Antworten“, erinnert sich Trepp später und schreibt Teile der Konversation auf: Selbst zensiert werde eine muslimische Meinung, die aus der Diaspora komme, nicht ernst genommen, entgegnet der Kollege dem Rabbiner. Und zweitens seien Muslime in der Diaspora befangen oder fürchteten sich davor zusammenzukommen, um gemeinsame Debatten, Diskussionen oder Resolutionen zu bestreiten. Trepp schreibt: „Vor einiger Zeit, so erzählte er mir, hatten die muslimischen Professoren Leiter und Vertreter des Islam in Deutschland aufgerufen, sich an unserer Konferenz in Ham258
Der Gerechtigkeit sollst du nachjagen
burg zu beteiligen.“ Doch bis auf den Ortsimam war niemand erschienen – „niemand hatte es gewagt zu kommen.“ Schon 1979 sind die muslimischen Repräsentanten, die auf dem Podium sitzen, tief besorgt über die geschlossene Welt, die ihre Religion darstellt. Sie wissen, dass sie nicht verschlossen bleiben kann. „Wenn die moderne Welt über sie hinwegfegt, wohin werden dann die Massen strömen? Wird es genug Zeit geben, unter Druck große Veränderungen vorzunehmen?“ fragt Trepp. Fünfundzwanzig Jahre später stellt er ähnliche Fragen an seinen hochgewachsenen ägyptischen Studenten in Mainz, der nach den Vorlesungen oft bleibt, um zu reden. Als er in seine Heimat zurückgeht, umarmt er seinen Professor. Bei aller Kritik habe ich meinen Mann nicht einmal etwas Abwertendes gegen den Islam als solchen sagen hören. Wie jedem Gesprächspartner begegnet er Muslimen auf Augenhöhe. Auch diese Religion ist für Trepp das, was die Gläubigen daraus machen. Und bis jetzt, so ist er überzeugt, haben sie bei Weitem nicht genug daraus gemacht, um in der modernen Welt bestehen zu können.
Der Gerechtigkeit sollst du nachjagen Mainz wird auch der Ort, an dem Leo und ich die glücklichsten Stunden unseres gemeinsamen Lebens in Deutschland verbringen sollen. Er ist zufrieden, weil er sich zu Hause fühlt, weil er in einem Alter, in dem andere ihre Rente genießen, die produktivste Phase seiner Zeit in Nachkriegsdeutschland erreicht hat, und ich bin glücklich, weil er glücklich ist. Wir sitzen Rücken an Rücken, er an seinem Schreibtisch, ich am runden Esstisch, während unser Hund gelangweilt an seinem Knochen nagt und wartet, dass es endlich an den Rhein oder zu unseren Freunden in den Garten geht. Leo schreibt an Manuskripten für alles Mögliche, ich komme manchmal dazu, noch einen Essay für meine alte Zeitung zu verfassen, meist lesen wir die Texte des anderen gegen, seine Sprache mag dadurch ein bisschen moderner werden, meine vielleicht reflektierter. Als wir zusammen an unserem Buch zu Übertritten arbeiten, halten wir uns zum ersten Mal nicht daran. Zu meiner großen Reue, denn meinen gesamten Text hindurch reproduziere ich die falsche Schreibweise eines 259
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Leo Trepp bläst das Schofar
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Wortes, und mein Mann, nicht gerade begeistert, als er es sieht, entscheidet sich dann wunderbarerweise dennoch, mich zu trösten, anstatt mit mir böse zu sein. Seit geraumer Zeit schon arbeitet er daran, die alten liturgischen Melodien seiner Mainzer Gemeinde zu reproduzieren. Der berühmte Mainzer Rabbiner Jakob ben Moses Halevi Moellin, abgekürzt Maharil, hatte einst verordnet, dass sie nie verändert werden dürften, damit Mitglieder im Falle einer Vertreibung oder eines Pogroms zumindest durch die Gesänge mit ihren Ahnen zu Hause verbunden bleiben. Von Generation zu Generation gaben die Mainzer Juden diese Gesänge mündlich weiter. Mein Mann hatte sie als Kind gehört, gesungen, eingeübt. Nun ist er wohl der Einzige, der sie noch im Kopf hat. Das Projekt, in Zusammenarbeit mit dem musikwissenschaftlichen Institut und einem Musikprofessor aus Frankfurt sowie mit Unterstützung der Stadt und von Mäzenen, zieht sich über Jahre hin. Leo singt ein Stück, ein Pianst spielt es nach, Leo nickt oder singt es noch einmal. Schritt für Schritt werden so dreiundsechzig liturgische Gesänge, die Mainzer Juden jahrhundertelang tradierten, bis es kein Weiter mehr gab, wieder zum Leben erweckt. Irgendwann nehmen Leo Trepp, ein Kantor und ein Männerquartett das Ganze im Tonstudio auf, Leo bläst das Schofar, moderiert und spricht die Einführung. Der Schott Verlag bringt das Werk heraus. Leo widmet es seiner Mutter. Es ist ein Vermächtnis nicht nur für die Juden. Als die Nigune Magenza im September 2004 in Mainz vorgestellt werden, ist der Saal proppenvoll, beim Polnischen Kaddisch summen die Zuschauer mit. „Ich glaube, dass diese lebendige Erinnerung zu den größten Leistungen von Leo Trepp zählt“, wird Kardinal Lehmann sagen. Als Leo unter praller Sonne im Lichthof des Frankfurter Hofs Bücher mitsamt CD signiert, sind die Stapel um ihn herum bald ausverkauft. Wahrscheinlich sind die Mainzer Jahre vor allem wegen der Menschen so unbeschwert und oft glücklich. Unsere Freunde tun, was die Amerikaner „walk the talk“ nennen, sie reden nicht über Verantwortung und soziale Gerechtigkeit, um sich dann mit einem Glas Rotwein zurückzulehnen und anderen die Arbeit zu überlassen. Sie machen die Arbeit selbst. Wenn gläubige Juden eine Schuld erkennen, für sich persönlich annehmen, sich bewusst abwenden von diesem Verhalten und sich verändern, 261
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nennen sie das Teschuwa – Umkehr. Dann, sagen die Rabbiner, kann Gott die Bitte um Vergebung als Reue akzeptieren und verzeihen. Vielleicht liegt es daran, dass Leo von „all dieser Liebe“, wie er einmal sagt, umgeben ist, von Menschen wie Karl Lehmann oder Heinrich Schreiner, die er „wandelnde Beispiele“ für Teschuwa nennt, vielleicht also liegt es an diesen vorbildlichen Menschen, dass er die einsetzende Geschichtsvergessenheit vieler Deutscher zunächst nicht wirklich wahrhaben will. Denn wenn er selbst zu Hause in den Staaten neben der Times und dem Time Magazine und New Yorker den deutschen Spiegel liest, weil es ihn interesiert und seine Vorlesungen zeitgerecht sein sollen, kennt er auch außerhalb von Mainz in seinem persönlichen Umfeld nur das gute und offizielle Deutschland des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Fortschrittlich. Geschichte akzeptierend. 2004 wählen die Sachsen die NPD in den Landtag, und er sagt: „Vielleicht leben wir in einer Blase.“ Als er einige Monate danach, im Januar 2005 zum sechzigsten Jahrestag der Auschwitzbefreiung im Landtag von Rheinland-Pfalz spricht, verurteilt er das Treiben der Rechtsradikalen im Osten Deutschlands. Vielleicht sollte ich besser schreiben, er verdammt es, denn er nennt nicht nur die Rechten selbst, sondern spricht von der Bedrohung, die über ganz Deutschland liege, wenn deren Treiben weiterhin schweigend geduldet werde, wie es an vielen Orten der Fall ist. Das sei eine Gefahr, sagt er, und: „Es ist eine Gefahr, wenn in Sachsen die Rechten fast so viele Stimmen bekommen wie die Sozialdemokratische Partei, die als einzige gegen das Ermächtigungsgesetz von Hitler gestimmt hat. Es ist eine Gefahr, wenn der Nationalsozialismus als Reaktion auf soziale Misstände erklärt wird. Es ist ein Skandal, wenn Neonazis demonstrativ das Parlament verlassen, während der Naziopfer gedacht wird.“ Und es sei eine Schande, „dass Menschen wegsehen, wenn Juden verprügelt werden, die ein Käppchen tragen. Dann müsste das Volk in Entrüstung ausbrechen. Ist denn der Antisemitismus wieder gesellschaftsfähig geworden?“ Etwas scheint sich zu drehen in der Gesellschaft. Und für ihn hat das zu tun mit der unverarbeiteten Geschichte. In der Politik, sagt er an diesem Tag im Landtag, sprächen viele von einem „neuen deutschen Selbstbewusstsein“. „Das schafft man aber nicht, indem man das Geschehene 262
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Der ehemalige Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Kurt Beck, begrüßt Leo Trepp
unter den Teppich kehrt, dabei entstehen nur Neurosen.“ Tage wie der 27. Januar, der Auschwitzgedenktag, könnten tatsächlich genutzt werden, um „ein wachsendes deutsches Selbstbewusstsein“ zu gestalten, dann, „wenn sich schuldlose, aber mutige Menschen der Vergangenheit stellen, um eine immer bessere Zukunft zu bauen.“ Menschen wie auch Gemeinschaften, die sich nicht über ein moralisch begründetes Ziel verständigten, was für ihn idealerweise das Streben nach „immer höherem Leben in Gerechtigkeit“ ist, lebten nicht wirklich, „sie reihen ihre Tage aneinander“. Ich habe ihn so noch nicht sprechen hören. Obgleich ich den Text gelesen habe, scheint er mir neu und fremd. Mein Mann spricht wie immer frei, die Worte kommen aus seinem tiefsten Herzen, er mahnt, er fragt, er schüttelt uns. Und überzieht seine Zeit maßlos. „Lass es laufen, 263
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wir schieben nach hinten“, raunt der Redakteur hinter mir dem Kameramann zu. „Ich hoffe, dass wir dies als eine ernsthafte Auseinandersetzung begreifen, der wir uns stellen müssen“, sagt Ministerpräsident Kurt Beck zu Leo. Im Frühling desselben Jahres schildert der Berliner Tagesspiegel Übergriffe auf Juden so: „Auf dem Kurfürstendamm wird ein junger Amerikaner, an Kleidung und Schläfenlocken als Jude zu erkennen, von orientalisch aussehenden Männern geschlagen. Arabische Jugendliche misshandeln in einem U-Bahnhof einen weiteren Amerikaner – auch er trägt Schläfenlocken und orthodox-jüdische Kleidung. In einem Bus treten junge Ausländer einem 56-jährigen Mann ins Gesicht, um seinen Hals hängt eine Kette mit Davidstern. Türkische Mädchen in einem anderen Bus attackieren eine 14-Jährige – sie trägt ebenfalls Halsschmuck mit einem Davidstern. Außerdem werden mehrere jüdische Mahnmale geschändet. So geht es weiter, Monat für Monat. In Berlin, in Deutschland, in Europa.“ Offensichtlich sind sich manche Muslime, die von ihnen ebenso bedroht werden wie Juden, in diesem Punkt mit Rechtsradikalen einig. Der Virus des Antisemitismus komme heute auch aus dem Nahen Osten, sagt Leo Trepp, hingenommen von vielen, weil eine einseitige Kritik des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern ein Weg sei, den eigenen subtilen Antisemitismus zum Ausdruck zu bringen. Doch Judenhass ist immer nur der Anfang. „Antisemitismus ist das Barometer dafür, was einer Gesellschaft zustoßen kann, wenn sie ihre moralische Verpflichtung verliert“, mahnt er die Abgeordneten in Mainz. Als auf der Geburtstagsfeier unseres Freundes, eines Musikprofessors, eine uns bis dahin unbekannte Ärztin an unserem Tisch offen über die Juden wettert, die erneut die Medien kontrollierten, gehen wir. Andere Vorkommnisse in den kommenden Jahren nimmt Leo anfangs eher beiläufig wahr. Bis sie sich mehren. „Ich habe nichts gegen Juden, aber ich finde es nicht gut, dass sie immer erwarten, dass wir uns schuldig fühlen“, sagt eine Nachbarin in Berlin. Andere erzählen von ihren Angehörigen und deren Leiden in den Bombennächten, sobald sie mitbekommen, das Leo jüdischer Emigrant ist. „Unsere Eltern hatten es auch nicht leicht“, wie es eine Frau bündig zusammenfasst. „Kommen sie mir bloß 264
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nicht damit“, sagt die Mitarbeiterin einer Firma, die Ausnahmegenehmigungen fürs Parken auf dem Unigelände erteilt, als ich ihr sage, mein Mann sei kein Deutscher mehr, weil er habe fliehen müssen. „Das ist lange her und damit habe ich gar nichts zu tun.“ Schon früh hatte Leo Trepp gegen die Sehnsucht der Deutschen argumentiert, einen Schlussstrich zu ziehen. In ihrem eigenen Interesse. Denn nicht nur für die Juden, auch für die Deutschen werde es schwerwiegende Folgen haben, wenn sie das Bewusstsein der Verantwortung verlören. Ein geschichtsvergessenes Volk ist schwach, sagt er, weil Geschichte auch den Maßstab für künftiges Verhalten präge. Ohne ihn aber schreibt ein Volk keine Geschichte mehr, sondern schaue irgendwann auf eine Chronik von Ereignissen zurück. Mich schmerzt die Resignation, die er nun manchmal zeigt. Es liegt ein gewisser Zynismus im öffentlichen Verhalten. Obwohl es gerade deutsche Medien und Institutionen sind, die ihn als Opfer einladen, ehren, wahrnehmen – wobei er sich allenfalls als Sprecher der Opfer bezeichnet und sich selbst als Wissenschaftler und Lehrer sieht, und als jemand, der den Dialog mit Deutschen sucht – sind es nun ausgerechnet einige von ihnen, die nicht einmal mehr seine Erinnerung und seine Trauer respektieren. Man kann nicht anders, als an Theodor Adornos Worte zu denken, die Anfang der sechziger Jahre beschreiben, was sie auch in den ersten zehn Jahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts hätten erzählen können. Man wolle einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen, sagt Adorno. „Der Gestus, es solle alles vergessen und vergeben sein, der demjenigen anstünde, dem Unrecht widerfuhr, wird von den Parteigängern derer praktiziert, die es begingen.“ Und er zitiert sich selbst und sagt: „Im Hause des Henkers soll man nicht vom Strick reden; sonst hat man Ressentiment.“ Für Leo Trepp ist der 9. November der Prüfstein, wie er in seiner Rede zur Annahme der Oldenburger Ehrenbürgerschaft 1990 sagt. Wird er eine Siegesfeier sein, wird er den Ruhm eines neuen Deutschlands der Welt verkünden und den Deutschen ein Hochgefühl der Überlegenheit geben? Oder wird er sagen: An diesem 9. November wurden die Synagogen zerstört. An diesem 9. November begann jenes Unglück, daß im Gefolge auch 265
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Millionen von Deutschen hinter Mauern brachte. Und nun hat Gott in seiner Gnade uns erlaubt, ohne die Mauer der Trennung zu leben, um uns zu prüfen, ob wir das, was zur Mauer führte, nämlich Haß und Verfolgung, auch ohne das sichtbare Symbol der Mauer überwinden. Wenn dieser 9. November zum Siegestag wird, dann fürchte ich, wenn er zum Tag der Buße wird, dann hoffe ich, für sowohl das westliche wie das östliche Deutschland und ein vereintes Deutschland im Geiste der Freiheit, im Geiste Gottes, im Geiste der Menschenliebe und im Geiste menschlicher Verbundenheit. Häufiger teilen ihm Besucher seiner Vorträge jetzt mit, wie stark sie mit den Palästinensern fühlten. Natürlich sagt niemand direkt, was dies mit seinen Ausführungen zur Ethik des Judentums oder zur Philosophie von Rosenzweig zu tun hat. Bis auf den Vorsitzenden eines Vereins, der im süd-westlichen Rheinland-Pfalz vorbildliche Erinnerungsarbeit leistet. Dieser freundliche Herr scheut Direktheit nicht und sagt unter Umgehung jeglicher Diplomatie: „Für mich ist es eine Verpflichtung aus der Geschichte unseres Landes, den Israelis den Spiegel vorzuhalten. Man muss sich schon fragen, wie aus Opfern Täter werden können.“ Liege es nicht gerade im Interesse dieser Erinnerungsarbeit, in dem Konflikt beide Seiten neutral zu sehen, fragt Leo Trepp. Die oft hasserfüllte Kritik vieler Deutscher stößt ihn als selbstgerecht und historisch ignorant ab. Er unterstützt die Zweistaaten-Lösung und sieht, bei aller Liebe zum Land, politische Entscheidungen durchaus kritisch. „Wir können die Fehler, die Israel und die Regierung gemacht haben, nicht schönreden“, hat er schon 1992 geschrieben. Doch die anderen urteilten das kleine Land mit „einer Art von Triumph“ ab, der auf Macht basiere, anstatt „mitfühlend und verständnisvoll“ zu kritisieren. Selbst die Kirchen hätten während des Jom-Kippur-Krieges, der mit dem Angriff arabischer Staaten auf Israel am höchsten Feiertag des Landes begann, keine eindeutige Position bezogen. „Kein Christ kann die Ängste und Sorgen und Unsicherheiten fühlen, die seit dem Holocaust die Seele der Juden durchziehen, die bei jedem Ausdruck des Hasses gegen wen auch immer zutage treten“, schreibt er. 2006 wird er selbst spüren, wie wenig Verständnis viele Deutsche für die Ängste der Juden in Israel haben. Nach dem Semester sind wir stets 266
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einige Wochen in Berlin, wo ich noch eine Wohnung unterhalte und Mitglied der jüdischen Gemeinde bin. Im Sommer 2006 kämpft die israelische Armee im Libanonkrieg gegen die militante Hisbollah. Tausende gehen in Berlin gegen Israel auf die Straße. Als einige Beter der Synagogengemeinschaft in der Oranienburger Straße uns an einem Schabbat Anfang August erzählen, dass sie am folgenden Sonntag an einer pro-israelischen Demonstration teilnehmen, sagt Leo: „Da laufen wir mit.“ Am nächsten Tag regnet es. Für lange Strecken benutzt mein Mann zu dieser Zeit schon den Rollstuhl. „Lass uns hierbleiben“, sage ich, „es ist zu ungemütlich draußen.“ Er besteht darauf zu gehen. Am Hackeschen Markt angekommen, haben sich ein paar Hundert Menschen zusammengefunden, die mit Transparenten und Fahnen losmarschieren. Leo hält eine israelische Flagge in der Hand, ich versuche, den Rollstuhl in Bewegung zu halten und gleichzeitig einen Schirm über uns auszubreiten. Es kann sein, dass wir dadurch angreifbar wirken. Verwundbar. Unter den Linden steht eine dünne Frau um die fünfzig mit anderen am Straßenrand und schreit etwas. Als sie Leo und mich am Rand des Zuges wahrnimmt, stellt sie sich vor den Rollstuhl, und nun verstehen wir, was sie ruft: „Kindermörder.“ Leo sagt etwas. Es kann nicht sein, denke ich, dass er mit dieser Frau diskutieren will. Ich habe Angst, dass sie ihn anspuckt. Uns gelingt es weiterzugehen. „Willst du nach Hause?“, flüstere ich Leo ins Ohr. „Absolut nicht“, antwortet er. Drei Jahre später, an einem Juninachmittag des Jahres 2009, sitzt Leo im Wohnzimmer eines kleinen Hauses im Kibbutz Yagur am Rande von Haifa. Uri Dargan, Enkelsohn von Onkel Abraham und wie die meisten Kibbutzniks säkular, sitzt neben ihm. 1922 siedelten die ersten Juden hier, für wenig Geld, der Landstrich bestand größtenteils aus Sümpfen, Malaria war ein großes Problem, und es dauerte Jahre, bis die jungen Männer und Frauen das Land trockengelegt hatten. Heute ist Yagur einer der zwei größten Kibbutzim im Land, der alles Mögliche verkauft, von Eiern über Äpfel und Rosen bis hin zu Möbeln und Kleidungsstücken. Es ist heiß, die Klimaanlage surrt, draußen zirpen die Grillen. Die beiden schauen die wenigen Fotos an, die es von Abraham Trepp gibt, und eine Kopie eines Briefes aus Theresienstadt. Leo sieht hoch zu mir und schüttelt den Kopf. Ein leerer Blick. Ich frage ihn hinterher nicht, was er gedacht hat. 267
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Am Tag vorher haben wir Shloime getroffen, einen Sohn von Gustav, in schwarzer Tracht, mit schwarzem Hut, seine Frau mit Perücke, und auf der Rückfahrt von Yagur sagt Leo: „Schau dir die beiden Trepps an, der eine super-orthodox, und der andere vollkommen unreligiös.“ Es wird unser letzter Besuch in Israel sein. Wieder in Mainz, erzählt er unseren Freunden von den zwei Männern, die so unterschiedlich sind. Mit unverhohlenem Stolz in der Stimme. Der gleichzeitig auch der Stolz auf das kleine Land ist, das sich in seiner Unabhängigkeitserklärung der „Freiheit, Gerechtigkeit und dem Frieden im Sinne der Visionen der Propheten Israels“ verpflichtet und verspricht, „all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht, soziale und politische Gleichberechtigung“ zu verbürgen, das „selbst inmitten mörderischer Angriffe, denen wir seit Monaten ausgesetzt sind, die in Israel lebenden Araber“ aufruft, „den Frieden zu wahren und sich aufgrund voller bürgerlicher Gleichberechtigung und entsprechender Vertretung in allen provisorischen und permanenten Organen des Staates an seinem Aufbau zu beteiligen.“ Nicht einmal zwanzig Stunden, nachdem David Ben-Gurion dies am 14. Mai 1948 vor der ersten Knesset verlesen hat, greifen die umliegenden arabischen Staaten den neuen Staat an. Und wenn in diesem Staat auch Zehntausende von Überlebenden wie Uris Vater ihre neue Heimat gefunden haben, gründet sich Israel nicht auf der Schoah. Die allerdings habe den Juden „erneut gezeigt, wie wichtig die Wiedererrichtung eines Jüdischen Staates ist“, der den Juden endlich „Gleichberechtigung in der Familie der Nationen“ gebe, wie Ben-Gurion sagt. In seinen letzten Jahren konzentriert Leo Trepp sich darauf, religionswissenschaftlich darzustellen, welche Bedeutung dieses Land für die Juden hat, in dem sich ihr Volk gründete, in dem stets Juden lebten, wie überhaupt in der ganzen Region, bis die arabischen Staaten sie nach Jahren der Verfolgung endgültig vertrieben, das Land, zu dem die Diasporajuden ihre Beziehung über die Jahrtausende nie verloren, weil sie tägliche Gebete, Studium und Liturgie, Gesetz und Brauchtum, Feiertage und die wichtigen Stationen ihres persönlichen Lebens, weil sie alles mit diesem Flecken Erde, mit Eretz Israel, verbinden, dem „Zentrum jüdischen Lebens“, wie Trepp sagt. Er erzählt von dem Massaker 268
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Gunda und Leo Trepp
in Hebron 1929, bei dem Araber mindestens siebenundsechzig jüdische Bewohner getötet und Hunderte von ihnen schwer verletzt hatten, die Rabbiner in der Diaspora verfügten einen Trauertag des Fastens für alle Juden. „Ich war sechzehn, und ich habe gefastet“, sagt Leo Trepp. „Die Juden des Landes mögen damals gelernt haben, nicht nur zu beten, sondern sich auch zu verteidigen.“ Im Jahr 2010 widmet er dem Thema Israel das ganze Semester, und seine beiden Vorträge in der Synagoge Mainz behandeln es ebenfalls. Er war schwach. Schon im Jahr zuvor hatte er in den Staaten einen Schlaganfall gehabt. Im November 2009 waren wir auf dem Weg nach Boston, wo er an der Universität sprechen sollte, dann ging es weiter an die Universität von New Hampshire. Wir machten Zwischenstation in New York. Die Metropolitan Opera führte La Damnation de Faust von Berlioz auf, eine selten gespielte Oper, die er „einmal im Leben sehen muss“. Am 269
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nächsten Samstag weckte ich ihn früh und fragte ihn, ob er in die Synagoge wolle. Seine Antwort tröpfelte wie klebrige Schlieren aus seinem Mund. Wir hatten Glück. Die Ambulanz war nach wenigen Minuten da, das Krankenhaus lag um die Ecke von unserem Hotel. Die Ärztin leitete sofort die richtigen Schritte ein, und einige Tage später fragte er sie bereits, ob sie seinen Vortrag für Boston hören wolle. Sie war Jüdin und sagte: „Ich kann nicht glauben, dass ich Leo Trepp behandle.“ Aus ihrer Synagoge kamen täglich Päckchen, Blumen und Kuchen. Als ich Leo nach einigen Wochen zu Hause fragte, ob er nächstes Jahr lehren möchte, sagte er: „Na, was denn sonst?“ Doch nun, im Sommer 2010, scheint er am Ende seiner Kraft. „Ich muss heute Abend ablesen“, sagt er, als er nach einer Bluttransfusion dennoch in Weisenau sprechen will. Als ich an diesem letzten Abend seines Lebens, an dem er öffentlich reden wird, neben ihm sitze, um umzublättern, merke ich allerdings bald, dass seine Augen zu müde sind, die Buchstaben zu sehen. Er spricht frei und besteht darauf zu bleiben, als er sieht, wie viele Menschen noch um ihn herum stehen, beantwortet Fragen und signiert Bücher. Am nächsten Abend bespricht er mit der Vizepräsidentin der Universität das Sommersemester 2011. Zwei Wochen später feiern wir in Berlin unser Jubiläum. Obgleich wir erst 2008 offiziell geheiratet haben, umringt von unserer amerikanischen Familie, meinen Brüdern und unseren engsten Freunden aus beiden Ländern, an einem Tag „angefüllt mit Liebe zwischen allen“, wie es meine Freundin Barbro sagt, bleibt für uns nur der Tag in Mainz wichtig, an dem wir uns versprochen haben, zueinander zu gehören. Das ist nun zehn Jahre her. Unser Fest ist lange geplant. Aus allen Ecken Deutschlands reisen die Freunde an, Susan und einige Freunde sind den langen Weg aus den Staaten gekommen. Leo, obwohl erschöpft, genießt den Abend. Bald werden wir nach Hause fliegen, und er wird sich erst einmal ausruhen. Fünf Wochen danach, in der Nacht zum 3. September 2010, stirbt er in San Francisco. „Dieser Abend war sein Abschied von uns allen“, sagt ein Freund, „und ich glaube, er hat das gewusst.“
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Über das Abschiednehmen
Über das Abschiednehmen Auch wenn ich bis zuletzt nicht akzeptieren wollte, dass mein Mann im Sterben liegt, wusste ich natürlich, dass er viele Jahre vor mir gehen würde. Bei unserem großen Altersunterschied lag es nahe, über den Tod zu sprechen. Zu meinem fünfzigsten Geburtstag hat er mir das Grab geschenkt, das gegenüber seinem lag, und das ich mir gewünscht hatte. Ich wusste, wo seine Sterbekleider hingen, an demselben Bügel baumelte ein Säckchen, darin eine Dose mit Sand aus Israel, der im Sarg über den Toten gestreut wird, sodass er in Eretz Israel ruht. Daneben das kleine angebrannte Ziegelstück seiner zerstörten Synagoge, das er vor fast fünfzig Jahren in Oldenburg ausgegraben hatte. Er möchte es mit in sein Grab nehmen. Leo hatte mir genau erklärt, was nach seinem Tod passieren, wen ich sofort anrufen muss. Und natürlich wusste ich über die Chewra Kadischa Bescheid, an die er selbst von seinem Vater herangeführt worden und die immens wichtig für ihn war. Trotz seiner Hingabe an die Synagoge hat mein Vater nie Gemeindeämter angestrebt, die Politik und Auseinandersetzungen lenkten aus seiner Sicht vom Eigentlichen ab und waren Zeitverschwendung. Anders war es nur mit der Chewra Kadischa, der „Heiligen Gemeinschaft“, eine Jahrhunderte alte Institution, deren Aufgabe es ist, die Sterbenden in den Tod zu begleiten. Ich hatte meine Eltern von frühester Kindheit beobachtet, wie sie zu jeder Tagesoder Nachtzeit gerufen wurden und sich dann mit den anderen Mitgliedern der Chewra abwechselten, um am Bett der Sterbenden zu sitzen und im Moment des Hinübergehens das Sch’ma Israel mit ihnen oder für sie zu sagen, das Bekenntnis der Juden zu dem einen, einzigen Gott. Ich fragte meinen Vater: „Warum ist es denn eine Ehre für dich dabei zu sein?“ Und er erklärte mir: „Wir ehren die Sterbenden und die Toten, wir lassen sie nicht allein und zeigen ihnen dadurch, wie wichtig der einzelne für uns und für die Gemeinschaft ist. Und diese Person kann uns dafür nicht danken, nicht einmal mit einem simplen Dankeschön, damit können wir eine vollkommene Mitzwa erbringen, die uns nichts erwarten läßt, und für diese Gnade und Ehre müssen wir dankbar sein.“ Die Mitglieder der Gemeinschaft zahlten hohe Mitgliedsbeiträge, um auch den Juden, die arm waren, ein würdiges Begräbnis geben zu können. 271
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Aus Respekt vor den Sterbenden nahm er mich nie zu ihnen mit. Doch ich durfte ihn schon ab acht oder neun in den Keller der Kapelle begleiten, wo die Männer die schlichten Särge aus unbehandeltem Holz zusammensetzten. In diesen Jahren lernte ich, wie Gemeinschaft tröstet und wie Rituale den Trauernden helfen können, Frieden in ihrem Schmerz zu finden. Am stärksten beeindruckte mich als Kind die Reinigung der Körper, bei der ich zum ersten Mal als Vierzehnjähriger dabei sein durfte. Hier standen Männer um den Waschtisch herum, die sich im Geschäftsleben bewährten und die man in der Stadt kannte, Kaufleute, Rechtsanwälte, Bankiers. Mit der allergrößten Zartheit hoben sie Arme und Beine des Toten, der mit einem Tuch bedeckt war, leicht an und wuschen sie, bevor die eigentliche Tahara, die Reinigung des Körpers und der Seele, begann. Aus Kannen schütteten sie Wasser über den Körper mit den Worten: „Ich sprenge reines Wasser über Dich und reinige Dich von allen Deinen Sünden und Verfehlungen. Vor Gott sollst Du rein sein.“ Den Mund hielten sie zu, damit kein Wasser hinein kam. Dann trockneten sie den Körper und schnitten ihm die Nägel, die sie in den Sarg legten, kämmten ihm die Haare und zogen ihm die leinenen Sterbekleider an, Hose, Tunika, ein langes Obergewand und die weiße Mütze, die groß genug war, den ganzen Kopf zu verhüllen. Unter sein Kinn legten sie einen kleinen Stein und auf seine Augen Tonscherben. Im Sarg lag das große Leichentuch, darüber der Tallit, von dessen Tzitzit eine angerissen wurde, denn der Verstorbene brauchte keinen koscheren Tallit mehr. Nun legten die Männer den Gürtel in den Sarg und hoben dann vorsichtig den Körper hinein, Kopfkissen war der Beutel, in dem die Sterbegewänder aufbewahrt gewesen waren, er wurde mit Sand gefüllt. Dann verhüllte man Haupt und Körper mit dem Tallit und schließlich mit dem Leichentuch. Symbolisch sprenkelten die Männer ein wenig Sand des heiligen Landes darüber, damit der Tote in der Erde der Stammväter ruhen würde. Sie befestigten den Deckel, von nun an war der Tote allen Blicken entzogen. Und wenn sie ihre Pflichten verrichtet hatten, versammelten sich die Männer an dem Fußende des Sarges und baten den Toten, ihnen jede unbeabsichtigte Unachtsamkeit während der Tahara zu verzeihen. Meine Mutter habe ich natürlich nicht begleitet, doch von einigen Abläufen abgesehen gab es bei den Frauen das gleiche Ritual. Sie bekamen noch eine Schürze und einen viereckigen Überwurf, der wohl den Tallit ersetzen sollte. 272
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Mich rührte diese Erzählung, und doch machte mir die Ausschließlichkeit der Chewra Kadischa Angst. Wie konnte ich meinen Mann fremden Männern in San Francisco übergeben und selbst nichts für ihn tun? „Gibt es denn wirklich gar nichts?”, fragte ich Leo. Er hatte eine Idee. Da die Söhne in Mainz dem Verstorbenen die Füße waschen und ihnen die leinenen Socken überziehen konnten, wenn sie es wollten, musste im einundzwanzigsten Jahrhundert auch mir als Ehefrau etwas zustehen. „Wenn du die Kraft hast, kannst du die Füße waschen“, sagte er. Ich habe es getan. Die Männer der Chewra waren überrascht, willigten aber ein, und einer dankte mir hinterher. Mir hat das Ritual, bei dem ich meinen Mann zum letzten Mal berühren und ihm Liebe bezeugen konnte, große Ruhe gegeben. Im Jahr nach seinem Tod fahre ich nach Mainz und verbringe eine Woche bei der Witwe von Heinrich Schreiner, den Leo in seiner Beerdigungsrede 2009 „meinen geliebten Bruder“ genannt hatte. An einem Abends sitzen wir in alter Runde zusammen. Es sind Menschen, die auf die eine oder andere Weise mit der Vergangenheit verbunden sind und die geschichtliche Bürde angenommen haben, die mit sich im Reinen sind und ihr Leben reich und unbeschwert leben. Natürlich sprechen wir über meinen Mann. Jeder hat eine Geschichte beizutragen. Johannes Gerster erzählt, wie Leo und ich ihn und seine Frau in Jerusalem besucht haben, wo Gerster der Konrad-Adenauer-Stiftung vorstand. „Der Leo hat einen Riesensaal gefüllt“, sagt er im breitesten Meenzerisch. „Es sind sogar Busse mit Jeckes aus Tel Aviv gekommen.“ Dann kommt er zu seiner Lieblingsgeschichte. „Wir sitzen also abends beim Wein, und da frage ich den Leo: ‚Wie ist denn das jetzt bei euch? Wollt ihr noch Kinder haben?‘ Und der Leo antwortet: ‚Ich guck mir das jetzt noch eine Weile an mit der Gunda, und wenn da nicht irgendwann was kommt, such ich mir eine Jüngere.‘“ Alle lachen. Und ich sehe Leo vor mir, wie er mir schelmisch zuzwinkern und sich noch eine der guten Meenzer Marktstäbscher anzünden würde, seine geliebten Zigarillos. Am nächsten Tag gehe ich zu seinem Vater, um Steine aufs Grab zu legen, einen von mir und einen von seinem Sohn, und zwei für seine Mutter. Wir waren im vergangenen Jahr häufiger hier als sonst, und Leo betete jedesmal lange und innig. Ich sehe ihn dort sitzen, mit gesenktem 273
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Kopf, Worte murmelnd, sein zerschlissenes Gebetbuch in den Händen, und er ist mir so nahe, dass es wehtut. Ich laufe hinüber zu Tante Babette, hebe ein paar Äste auf, lege unsere Steine hin, sage ein Gebet und denke daran, dass er vor beinahe sechzig Jahren durch diese Grabreihen gelaufen ist. Als jemand, der nach Haus kam und doch nicht mehr nach Hause kommen konnte. Als ich 1954 zum ersten Mal wieder nach Mainz kam, ging ich als erstes auf den neuen Friedhof, der wirklich unbeschädigt war. Ich lief die herrliche Kastanienallee hoch, an vielen Grabsteinen vorbei mit Namen, die mir vertraut waren, und auf dem runden Kopfsteinpflaster, auf dem ich schon an meines Vaters Hand als Junge gelaufen war. Der Grabstein meines Vaters war klein, mehr konnte sie 1941 nicht aufbringen, hatte mir meine Mutter geschrieben, doch es stimmte mich zufrieden, daß Rabbiner und Gemeinde seinen Namen mit dem Ehrentitel „Chaver“ versehen und damit seine Freundlichkeit, Wohltätigkeit und Bildung anerkannt hatten. Zudem sagt die Inschrift, daß er fromm gewesen sei und seinen Söhnen den Weg zur Tora gewiesen habe. Die Buchstaben waren blaß geworden. Ich ließ sie vergolden und den Namen meiner Mutter hinzufügen. Die Liebe, die mich an diesem Nachmittag für meinen Vater durchflutete, kann ich nicht in Worte fassen, genausowenig, wie ich ihm selbst je durch Beschreibungen gerecht werden kann. Für mich wird er leben, bis ich selbst irgendwann einmal ins Grab gehen werde. Und ich dachte daran, daß die letzte Nachricht von mir, die er vor seinem Tod erhalten hatte, eine gute war. Zum ersten Mal hatte ich in Greenfield im Geiste der Gleichberechtigung Mädchen konfirmiert. Ein Freund erzählte das meinem Vater und schrieb mir danach, er habe sich außerordentlich darüber gefreut, sein ganzes Gesicht habe gestrahlt. Das zu wissen, gibt mir Trost. Nachdem ich die Gebete für meine Eltern gesagt hatte, ging ich hinüber zum Grab meiner geliebten Tante Babette. So viele Erinnerungen kamen zurück. Ich sah sie im Zug nach Oberlauringen neben mir sitzen, und mit beherzten Schritten auf den Toraschrein zugehen. Einige Reihen vor meinem Vater lag Isidor Reiling, ich schaute mich um, da lagen auch Rabbiner Bondi und der Kantor Oppenheimer, neben dessen Grab war das des Schammasch, des Synagogenbeamten Krieger, der ein derber, aber herzlicher Mann gewesen war. An allen Wochentagen ging er bei der Wiederholung der Gebete mit einer sil274
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bernen Armenbüchse durch die Synagoge, in die man Geld werfen konnte, doch in seiner linken Hand hielt er eine Dose mit Schnupftabak, aus der sich seine Freunde – und alle, die Tabak schnupften, sahen sich als seine Freunde – eine Prise herausholten und rasch in die Nase steckten. In manchen Sommern stellte sich Herr Krieger auf die Bima und warnte: „Die Kirschen haben Würmer“, damit man sie genau ansah, bevor man sie aß, ehe man einen nicht koscheren Wurm in den Mund steckte. Nicht weit von meinem Vater, dort, wo die Kastanienallee endete und der Weg sich in zwei Richtungen gabelt, lag das Familiengrab der Schönbergers. Ihnen hatte die Schönberger Cabinett Sektkellerei gehört, die berühmt war für ihren ausgezeichneten Rieslingsekt, der als „der deutsche Sekt“ gemeinhin bekannt war. Ein Teil der Familie wohnte in der Hindenburgstraße, nicht weit von uns, ein anderer um die Ecke in der Kaiserstraße, und manchmal verbrachten wir die Freitagabende zusammen. Ich erinnere mich an den alten Schönberger, der als fünfundsechzig jähriger Witwer eine ganz junge Frau geheiratet hatte, vierundzwanzig war sie wohl und ihrem Mann vollkommen hingegeben. Sie sind zusammen in den Tod gegangen. Ein Bruder, Eugen Schönberger, arbeitete als Geschäftsführer in der Kellerei. Er konnte nach Kalifornien emigrieren und fand Anstellung in der gleichen Position in einem Weinbaubetrieb im berühmten Napa Valley, wo auch ich für über fünfzig Jahre gelebt habe. Als er mit beinahe hundert Jahren mit dem Tod rang, rief die Familie mich, und ich sagte die Sterbegebete mit ihm. Eine sonderbare und segensreiche Fügung des Schicksals. Er wurde zur Beisetzung nach Deutschland transportiert und ruht im Familiengrab. Bei den Schönbergers kam ich oft mit seinem Neffen zusammen, Hanns Kornblum – Hänschen –, der an der berühmten Geisenheimer Weinschule Oenologie studierte und schon in der Firma seines Onkels angefangen hatte zu arbeiten. Ich sah ihn als Freund, wenn er auch zwei Jahre älter als ich war – und in der Jugend ist das eine Zeitspanne. Wir waren zusammen auf ’s Gymnasium gegangen und verstanden uns immer noch gut. Er wurde später nach Dachau verschleppt und nur unter der Bedingung freigelassen, Deutschland innerhalb von achtundvierzig Stunden zu verlassen. Seine bildschöne Schwester, die manchmal auch in der Runde saß, wurde ermordet. Jahre später traf ich Hänschen wieder, er hatte seinen Namen in „Kornell“ umgeändert und im Napa Valley das Champagner-Verfahren eingeführt, 275
6. Kapitel: So ist es Mühe und Arbeit gewesen
was in Amerika revolutionär war. Bis dahin pflegten die Amerikaner den Sekt in Fässern reifen zu lassen statt in den Flaschen, wie es in Europa üblich war, und die Einführung der neuen Methode war ein großer Erfolg. Obwohl unser Kontakt weniger wurde, haben wir uns nie aus den Augen verloren, und zur Bar Mitzwa Feier meines Enkels kam der Champagner von Hänschen. Er hatte eine katholische Frau geheiratet. So habe ich ihn 1994 gemeinsam mit einem Priester beerdigt. Ich stand vor dem Schönberger Grab und sah die ganze Familie vor mir, und viele andere waren da, und die ganze Geschichte wurde lebendig. Es war eine traurige Heimkehr, denn sie waren alle nah, und doch waren sie nicht mehr da. Und das Leben, das wir alle führten, war nicht mehr da. Es gab keine Fortsetzung. Und ich konnte nur noch dankbar sein, daß zumindest diese Lieben dort begraben werden konnten, wo sie begraben wurden. Der Gedanke daran, daß meine Verwandten und Freunde, und vor allem meine Mutter, keine Gräber haben, verläßt mich nicht. Ich habe nie um meine Mutter geweint, ich konnte es nicht. Ich habe mit ihrem Tod und dem so vieler Menschen, die ich geliebt habe und die Teil meines Selbst sind, nie abschließen können. Sie im Nichts verloren zu haben, nicht zu wissen, wann sie gestorben sind, wo sie gestorben sind, wie sie gestorben sind, belastet mich. Vielleicht sollte ich mir sagen, sie sind in meinem Bewusstsein unsterblich, ihr Segen ist unsterblich. Aber Trost liegt darin nicht, im Gegenteil. Es gibt keinen Ort, an dem ich sie mir zumindest vorstellen kann, es gibt keine Yahrzeit für sie, keinen Tag, an dem ich sie ehren und ihrer gedenken kann. Alles bleibt offen. Wenn ich nicht fest daran glauben würde, daß sie zur Heiligung des göttlichen Namens gestorben, daß sie als Märtyrer für unseren Glauben und mit diesem Bewußtsein in den Tod gegangen sind, wenn ich denken müßte, daß man sie einfach sinnlos umgebracht hat, würde ich verrückt werden.
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Glossar
Amida – wörtlich: das Stehen, Bezeichnung für das Achtzehnbittengebet, das im Stehen während des Morgengebets, Nachmittaggebets und Abendgebets rezitiert wird. Aschkenasim – die aschkenasischen Juden kommen ursprünglich aus Nord-, Mittel- und Osteuropa. Sie stellen heute die Mehrheit der Juden – siehe auch Sephardim. Bar Mitzwa / Bat Mitzwa – Sohn (Bar) oder Tochter (Bat) der Gebote. Plural B’nai Mitzwa. Ab dem Zeitpunkt der Bar (mit 13 Jahren) oder Bat (mit 12 Jahren) Mitzwa sind die Kinder völlig selbst verantwortlich, wenn es um die Religion geht. Diesen Schritt des Erwachsenwerdens feiert man in der Synagoge (zum ersten Mal wird das junge Gemeindemitglied zur Tora aufgerufen) und zu Hause. Bet Din – religiöser Gerichtshof, der beispielsweise für Übertritte zuständig ist. Bima – auch Almemor – Podium vor der heiligen Lade, von dem aus der Gottesdienst
geleitet wird. Meist wird von dort aus die Tora gelesen. In manchen Synagogen liegt die Bima mittig, so auch in der neo-orthodoxen Mainzer Kindheitssynagoge von Leo Trepp.
Boas – Grundbesitzer in der hebräischen Bibel, der Ruth heiratet, eine Konvertitin. Sie
werden zu Urgroßeltern von König David.
Bondischule – Jüdische Volksschule in Mainz vor der Schoah. Brit Mila – Beschneidung des Jungen, die am achten Tag nach der Geburt zu erfolgen
hat, und mit der Gottes Bund (Brit) mit den Juden anerkannt wird, sowie die daraus folgende Verpflichtung, nach seinen Geboten zu leben.
Challa – Plural Challot. Brot für den Schabbat und die Festtage. Chanukka – Weihefest, feiert den Sieg der Makkabäer über die Syrer und die Wie-
derinbesitznahme des entweihten Tempels. Wird im Winter acht Tage lang gefeiert.
Chawura – Gruppe von Familien oder Freunden, die auf freiwilliger Basis zu gemein-
samem Lernen und Feiern zusammenkommen, und die sich gegenseitig Hilfe leisten.
Chewra Kadischa – Heilige Bruderschaft. Beerdigungsgesellschaft, deren ehrenamt-
lichen Mitglieder die Sterbenden begleiten und sich bis zur Bestattung um die Betreuung der Toten kümmern. Eine Gemeinschaft von Frauen verrichtet diesen Liebesdienst für die weiblichen Verstorbenen. Dewar Tora – Ansprache, die sich mit dem Tora-Abschnitt der Woche beschäftigt.
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Glossar El Male Rachamim – „Gott, voller Erbarmen”, aschkenasische Juden wie Leo Trepp sprechen das “a” oft als “o”, also Mole. Mit den Worten beginnt das Gebet, das während einer Beerdigung, an Gräbern oder an Todestagen gesagt wird. Ebenfalls erfolgt dann die Nennung der Namen Verstorbener durch den Vorbeter. Eruv – ein durch einen Zaun oder meist durch eine sonstige Vorrichtung eingegrenztes
Gebiet, innerhalb dessen orthodoxe Juden am Schabbat bestimmte Tätigkeiten ausüben dürfen, die ihnen sonst außerhalb ihres Hauses verboten sind, wie beispielsweise das Tragen. Die neue Grenze erweitert gedanklich den Radius des eigenen Heims.
Halacha – Der Weg. Das Religionsgesetz und seine alle Lebenssituationen umfassenden Verordnungen. Hallel – Lob. Im Morgengebet eingefügte Gruppe von Psalmen. Es bezeichnet auch
die verschiedenen Psalmen, die am Schabbat und an Feiertagen gebetet werden.
Hawdala – Ritual, mit dem das Ende des Schabbat und der Beginn der neuen Woche
begangen wird.
Hillel – einer der wichtigsten pharisäischen Rabbiner vor der Zerstörung des zweiten Tempels und einer der bedeutendsten jüdischen Gelehrten. Seine Auslegung der Texte hat viele Gedanken im Judentum geprägt. Jom Kippur – Versöhnungstag. Der höchste jüdische Feiertag, an dem fastend und
mit ernstlicher Reue die Vergebung der individuellen und kollektiven Schuld und die Versöhnung mit Gott erbeten werden.
Kaddisch – Hymne von Vorbeter und Gemeinde zum Preise Gottes am Anfang und
Ende der Hauptgebete im Gottesdienst. Von den Trauernden wird das Kaddisch während der Trauerzeit und zur Yahrzeit des Verstorbenen gesagt, womit sie Gott in einer Zeit des Schmerzes loben und anerkennen.
Kiddusch – Heiligung. Bezeichnet den Segen, den man am Schabbat und an Festen
über den Wein spricht.
Kina – Klagelied. Plural Kinot. Klagegedichte, die am 9. Aw (Tischa b’Aw, siehe dort)
fastend in der Synagoge rezitiert werden.
Kol Nidre – Eröffnungsgebet am Jom Kippur Koscher – rein, tauglich. Als koscher wird bezeichnet, was dem Religionsgesetz entspricht. Vor allem wird davon bei den Speisegesetzen (Kaschrut) gesprochen. Lecha Dodi – Komme, meine Freundin (Geliebte). Lied, mit dem am Freitagabend der
Schabbat begrüßt wird.
Matza – ungesäuertes Brot aus Wasser und Weizen ohne jegliche Zutaten, dass un-
mittelbar nach dem Kneten gebacken wird, sodass der Teig nicht aufgehen kann. Es erinnert an die Flucht der Juden aus Ägypten, vor der sie keine Zeit mehr fanden, den Teig gehen zu lassen. Matza (auch Matze oder Matzo, Plural Matzot) wird während der gesamten Dauer des Pessachfestes statt des herkömmlichen Brotes gegessen (siehe Pessach). Mesusa – Kleine Pergament-Schriftrolle in einer Kapsel am Türpfosten jüdischer Wohnungen oder Häuser. Beruht auf einer Aufforderung in der Tora, bekennt die Einheit Gottes und betont seine beschützende Liebe.
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Glossar Midrasch – homiletische Auslegung der Bibel mit Betonung der ethischen Pflichten. Es gibt mehrere Midrasch-Sammlungen. Mikwe – rituelles Tauchbad gemäß dem jüdischen Gesetz. Unter anderem muss das Wasser der Mikwe „lebendiges Wasser“ sein, also Wasser natürlichen Ursprungs. Minjan – Zahl. Bezeichnet die Gruppe von zehn Erwachsenen, die für die Durchführung eines öffentlichen Gottesdienstes erforderlich sind. Mischna – Wiederholung. Übermittlung der mündlich gegebenen Lehre. Die Mischna ist der erste Teil des Talmuds und wurde ungefähr im Jahr 200 unserer Zeitrechnung in Palästina geschrieben und herausgegeben, um sie vor dem Vergessen zu bewahren. In ihr werden die Ordnungen, Traktate und Abschnitte niedergelegt. Auch die einzelnen Abschnitte werden jeweils Mischna genannt. Mitzwa – Das Gebot. Plural Mitzwot. Religionsgesetzliche Gebote und gute Taten, zu denen die Juden verpflichtet sind. Mohel – Der Beschneider. Person, die in einem von Gebeten und Segen begleiteten
Ritual die vorgeschriebene Beschneidung des männlichen Juden ausführt. Heute fast immer ein Arzt.
Pessach – Fest des Auszugs aus Ägypten. Ihn zu feiern beruht auf der Anordnung in
Exodus, das Fest des „ungesäuerten Brotes“ zu begehen. In Israel dauert es sieben, in der Diaspora acht Tage.
Proselyt – Konvertit zum Judentum. Rabbiner – ordinierter Geistlicher, Lehrer und Prediger in der Gemeinde. In religiösen Fragen trifft er die Entscheidungen. Rosch ha-Schana – Kopf (Anfang) des Jahres. Neujahrsfest. Schabbat – der in den zehn Geboten vorgeschriebene siebente Wochentag der Ruhe,
an dem nicht gearbeitet werden darf. Mit der Einhaltung des Schabbats erneuern die Juden nicht nur ihre Kraft, sondern erkennen die Schöpferkraft Gottes an. Plural: Schabbatot
Schalom Aleichem – „Friede sei mit dir“, Gruß unter Juden. Am Freitagabend wird mit dem Lied „Schalom Aleichem“ in der Synagoge wie auch zu Hause der Schabbat begrüßt. Schechita – das rituelle Schlachten (Schächten) bestimmter Tiere. Sch’ma Israel – „Höre Israel“ – das Bekenntnis der Juden zu dem einen, einzigen Gott,
das sie mehrmals am Tag sagen.
Schofar – Widderhorn, das am Rosch ha-Schana, dem jüdischen Neujahrsfest, gebla-
sen wird.
Schum-Städte – Mainz, Worms und Speyer. Im Mittelalter bekamen Interpretationen
und Verordnungen, die von diesen, als Verbund miteinander kooperierenden, Gemeinden erlassen wurden, Bedeutung für die Juden in ganz Europa. Der Name setzt sich aus den hebräischen Anfangsbuchstaben der mittelalterlichen Namen der drei Orte zusammen.
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Glossar Seder – Ordnung. Die Familienfeier am ersten und in der Diaspora auch zweiten Tag des Pessachfestes. An diesem Abend hat das Mahl liturgische Bedeutung. Die Tischgemeinschaft liest die Haggada, die Geschichte der Befreiung der Juden aus ägyptischer Versklavung. Symbolische Speisen wie bittere Kräuter oder Matza unterstreichen die Erinnerung an die Geschichte. Gesänge rahmen die Mahlzeit ein. Sephardim – die ursprünglich in Portugal und Spanien ansässigen Juden. Sijum – Abschluss. Fest, wenn jemand die Tora oder einen Talmudtraktat vollständig gelesen hat. Simchat Tora – letzter Tag des Laubhüttenfestes, der die Beendigung des jährlichen Torazyklus’ und dessen unmittelbaren Neubeginn feiert. Sukka – Hütte aus einem Dach mit Zweigen und Laub, in der die Juden während des
Laubhüttenfestes (Sukkot – eines der Pilgerfeste) ihre Mahlzeiten einnehmen.
Tahara – die rituelle Waschung eines Leichnams. Das Adjektiv tahor heißt „rein“. Tallit – Gebetsmantel oder Gebetsschal, beruht auf einer Vorschrift der Tora. Talmud – die gesamte schriftlich niedergelegte Lehre, die auf der Weiterentwicklung
der mündlichen und der erstmals schriftlich fixierten Lehre beruht. Der Talmud wurde sowohl in Palästina wie auch in Babylonien (hier ungefähr im Jahr 500 unserer Zeitrechnung) verfasst.
Tefillin – Gebetsriemen und Gebetskapseln (diese enthalten winzige Schriftrollen aus
Pergament mit Texten aus der Tora, unter ihnen das Sch’ma Israel, siehe dort).
Teschuwa – Umkehr. Rückkehr des Menschen auf den von Gott gewiesenen Weg.
Dieser aus eigenem Willen und eigener Kraft begangene Akt der Reue ist der Grund für das Erbarmen und die Vergebung Gottes. Tischa b’Aw – der neunte Tag des Monats Aw, ein Fastentag, an dem die Zerstörung der beiden Tempel und Jerusalems betrauert werden. Heute gedenken die Beter an diesem Tag auch anderer Katastrophen in der Geschichte des jüdischen Volkes wie der Massaker der Kreuzritter im Jahr 1099 und der Vertreibung der Juden aus Spanien 1492. Tora – Weisung. Die hebräische Bibel. Im engeren Sinn die Schriftrolle, aus der die Wochenabschnitte gelesen werden. Tzitzit – Schaufäden. Bezeichnung für die an den vier Ecken des Tallit befestigten Fä-
den, die in der Tora vorgeschrieben sind. Sie sollen den Juden an die Befolgung der 613 Mitzwot erinnern. Die orthodoxen Juden tragen deshalb täglich einen Tallit Katan, einen kleinen Überwurf, an dem die Tzitzit befestigt sind.
Unetane Tokef – Gebet, das aschkenasische Juden weltweit am Rosch ha-Schana und Jom Kippur beten. Der Sänger Leonard Cohen machte es mit seinem vom Unetane Tokef inspirierten Who by Fire auch unter Nichtjuden bekannt. Yahrzeit – Wiederkehr des Todestages, an dem man für den Verstorbenen Kaddisch
sagt.
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Abbildungsnachweis
AG Recherche: S. 208 Klaus Benz, Pressebild: S. 263 Dr. Regine Czagany: S. 251 dpa – Bildarchiv: S. 250 Jüdische Gemeinde Oldenburg: S. 242 Löcknitz-Grundschule Berlin-Schöneberg: S. 253 Privatbesitz: S. 39, 40, 58, 64, 74, 121, 179, 201, 219, 222, 223, 225, 226, 237, 248, 260, 269 Privatbesitz, Foto Leo Trepp: S. 33, 43, 150, 171 Stadtmuseum Oldenburg: S. 147, 190 Trotz sorgfältiger Recherche ist es nicht immer möglich, die Inhaber von Urheberrechten zu ermitteln. Berechtigte Ansprüche werden selbstverständlich im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgeglichen.
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Über den Inhalt In seinen Erinnerungen zeichnet Rabbi¬ner Leo Trepp (1913 - 2010) das untergegangene jüdische Leben in Deutschland nach, blickt aber auch mit wachen Augen auf neues jüdisches Leben sowie die Befindlichkeiten von Christen und Musli¬men und sorgt sich um den erstarkenden Antisemitismus. Ein wichtiger Beitrag zum Verständnis des Miteinanders in Deutschland!
Über die Autorin Gunda Trepp hat nach Jurastudium und Ausbildung an der Henri-Nannen- Journalistenschule als Anwältin und als Journalistin für Zeitungen wie den Spiegel, die FAZ und die Berliner Zeitung gearbeitet. Sie lebt heute als Autorin in San Francisco und Berlin.