Der Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit 3823383221, 9783823383222

Für rund ein Drittel der Kinder und Jugendlichen Deutschlands ist Deutsch nicht die Erstsprache bzw. nicht die alleinige

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German Pages 391 [395] Year 2021

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Der Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit
 3823383221, 9783823383222

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Dieses Studienbuch gibt zunächst einen Überblick über verschiedene Erwerbsszenarien und den Erwerbsprozess beeinflussende Faktoren. Es folgen differenzierte Einblicke in die deutsche Sprache aus der Perspektive der Lernenden, um potenzielle Schwierigkeiten sichtbar werden zu lassen und um didaktische Handlungsspielräume aufzuzeigen. Der umfassendste Teil des Lehrbuches präsentiert aktuelle sowie „klassische“ Erwerbsstudien für insgesamt sechs zentrale Sprachbereiche, dokumentiert dabei die methodische Breite der Erwerbsforschung und regt zum eigenen wissenschaftlichen Arbeiten an. Das Buch richtet sich an Studierende, Referendare, Lehrkräfte sowie Aus- und Fortbildende, die über sprachwissenschaftliche Grundkenntnisse verfügen und sich detaillierte Einblicke in den Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit wünschen, um ihr sprachdiagnostisches und sprachdidaktisches Handeln auf ein solides Fundament zu stellen.

ISBN 978-3-8233-8322-2

Bryant / Rinker  Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit

Für rund ein Drittel der Kinder und Jugendlichen Deutschlands ist Deutsch nicht die Erstsprache bzw. nicht die alleinige Erstsprache und der Bedarf, mehr über Erwerbsspezifika und Unterstützungsmöglichkeiten zu erfahren, wächst im schulischen und vorschulischen Bereich.

Doreen Bryant / Tanja Rinker

Der Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit

Mit zahlreichen Aufgaben

Prof. Dr. Doreen Bryant ist seit 2011 Inhaberin des Lehrstuhls für Germanistische Linguistik / Deutsch als Zweitsprache an der Universität Tübingen.

Prof. Dr. Tanja Rinker ist seit 2019 Inhaberin der Professur für Deutsch als Fremdsprache / Didaktik des Deutschen als Zweitsprache an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

narr studienbücher

Doreen Bryant / Tanja Rinker

Der Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2021 · Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 · D-72070 Tübingen Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Internet: www.narr.de eMail: [email protected] CPI books GmbH, Leck ISSN 0941-8105 ISBN 978-3-8233-8322-2 (Print) ISBN 978-3-8233-9322-1 (ePDF) ISBN 978-3-8233-0324-4 (ePub)

®

MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen

www.fsc.org

FSC® C083411

Inhalt

Dank

..................................................................

Zur Einführung in das Studienbuch 0

9

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10

Wege in die Mehrsprachigkeit: Ein erster Überblick

.........................

15

Teil I Deutsch aus der Lernendenperspektive: Schwierigkeiten verstehen und überwinden helfen Einleitung 1

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

..............................................................

26

...................................... Sprachrhythmus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wortakzent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Silbenstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lautsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Konsonanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Vokale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27 27 30 32 33 34 36

Prosodische und lautliche Aspekte

1.1 1.2 1.3 1.4

2

Wortschreibung

3

Wortbildung

4

Flexion

4.1 4.2

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

.......................................................

........................................................... Verbflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nominalflexion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Genus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Kasus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Numerus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56 57 62 68 74 84

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92

5

Wortstellung

6

Lokalisierungsausdrücke

6.1 6.2

46

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Lokale Verben: Bewegungs- und Positions-/Kontaktmodus . . . . . . . . . 101 Lokalisierungskonstruktionen: einstellig, zweistellig, pleonastisch . . 104

6

Inhalt

6.3 6.4 7

Lokale Basisrelationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Obligatorische Teilraumspezifizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108

Präposition-Artikel-Verschmelzung (PAV)

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

Teil II Studien zum Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit 8

122 124 125 135 138 142 143 146 149

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . 159 Wortschatz im Erstspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Wortschatz im bilingualen Erwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 Studie 1: Entwicklung von Nomen und Verben bei russisch-deutschen Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Studie 2: Der Einfluss des elterlichen Inputs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Studie 3: Inputdominanz und Entwicklung der Herkunftssprache Russisch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Studie 4: Lexikalische Entwicklung bei türkisch-deutschen Kindern . 185

Wortschatz

9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6 9.7 10

........................................................ Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . Phonologie im Erstspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Phonologie im bilingualen Erwerb / Zweitspracherwerb . . . . . . . . . . . Studie 1: Neurophysiologische Marker der Phonemverarbeitung . . . . Lautproduktion bei bilingualen Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.1 Studie 2: Erwerb von Phonemen bei türkisch-deutschen Kindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.2 Studie 3: Phonemerwerb türkisch-deutscher und russisch-deutscher Kinder im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5.3 Studie 4: Entwicklungsverläufe und Einflussfaktoren im Phonemerwerb bei türkisch-deutschen Kindern . . . . . . . . . . . .

Phonologie

8.1 8.2 8.3 8.4 8.5

9

. . . . 121

............................................................ 10.1 Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand . . . . . . . . . . . . . 10.2 Genus im Erstspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3 Genus im Zweitspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10.3.1 Ein kurzer Überblick ausgewählter Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . .

Genus

189 191 194 203 203

Inhalt

7

10.3.2 Studie 1: Nominalgruppeninterne und -externe Kongruenz bei Grundschulkindern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 10.3.3 Studie 2: Prädiktive Nutzung von Genuskongruenz bei Erwachsenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 10.4 Genus im Erst- und Zweitspracherwerb: Zusammenfassung . . . . . . . . 233 11

Plural

11.1 11.2 11.3 11.4 11.5 11.6

12

13

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand . . . . . . . . . . . . . 236 Plural im Erstspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Plural im Zweitspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Studie 1: Erwerb der Pluralflexion bei türkisch-deutschen Kindern . . 253 Studie 2: Strategien im Pluralerwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Studie 3: Pluralvariation im L1- und L2- Erwerb: soziale, dialektale und methodische Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263

....................................................... 12.1 Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand . . . . . . . . . . . . . 12.2 Wortstellung im Erstspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3 Wortstellung im Zweitspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3.1 Früher Zweitspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3.2 Studie 1: Erwerbsabfolge im ungesteuerten L2-Erwerb Erwachsener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3.3 Studie 2: Erwerbsabfolge im gesteuerten L2-Erwerb französischsprachiger SchülerInnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12.3.4 Studie 3: Zum Einfluss der L1 (Russisch/Türkisch) auf den Verbstellungserwerb bei Grundschulkindern . . . . . . . . . . . . . . . 12.3.5 Studie 4: Vergleich von Verbstellung und Subjekt-Verb-Kongruenz bei kindlichen und erwachsenen Deutschlernenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

272 274 276 283 284

Lokalisierungsausdrücke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.1 Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand . . . . . . . . . . . . . 13.2 Lokalisierung im Erstspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3 Lokalisierung im Zweitspracherwerb . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3.1 Studie 1: Zum Erwerb lokaler Relationen bei Kindern mit Türkisch und Russisch als L1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3.2 Studie 2: Zur Rolle sensomotorischer Repräsentationen bei erwachsenen Deutschlernenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3.3 Studie 3: Zur Versprachlichung räumlicher Bewegung bei erwachsenen Deutschlernenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

324 325 326 330

Wortstellung

286 297 310

317

332 342 351

8

Inhalt

14

Literatur

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360

ANHANG: Vokale und Konsonanten des Deutschen (Transkriptionszeichen, Artikulationsmerkmale) Index

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 388

Dank Ohne unsere Studierenden, die sich einen kompakten Überblick über die Erwerbsfor‐ schung zum Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit wünschten, gäbe es dieses Studienbuch nicht. Daher gilt ihnen unser erster Dank – auch für das Feedback beim Erproben einzelner Kapitel in Seminaren und Kolloquien. Ein Buch in Zeiten der Corona-Pandemie zu verfassen, war eine ganz besondere Herausforderung – gerade in der heißen Phase schlossen Bibliotheken, war der Zugang zum eigenen Büro erschwert, mussten Kinder zu Hause betreut und beschult werden. Dass wir dennoch (beinahe fristgerecht) dieses Buch fertigstellen konnten, erfüllt uns mit Freude (und auch ein bisschen Stolz). Ohne die große Unterstützung unserer Partner und Familien hätten wir das Projekt nicht so ohne Weiteres stemmen können. Daher möchten wir uns bei Jürgen sowie Loren, Lia und Aiden und natürlich auch den Großeltern ganz besonders bedanken. Ein herzlicher Dank geht auch an unsere MitarbeiterInnen, die das kritische Gegen‐ lesen des Manuskripts übernommen haben (in alphabetischer Reihenfolge aus den Standorten Tübingen und Eichstätt): Theresa Bloder, Nora Budde-Spengler, Amelie Eisinger, Beate Erhard, Slavica Stevanović, Anna Fiona Weiß. Ebenso danken wir den Hilfskräften für die Unterstützung bei Recherchen, Layout und Literaturverzeichnis sowie den Studierenden, die einzelne Kapitel „Studi-Checks“ unterzogen haben: Mi‐ chaela Bittl, Elisa Heinzmann, Aylin Özbey, Florian Siegmund, Sarah Unger, Diana Weskott. Danke an Birla Erhard für das Anfertigen zahlreicher Zeichnungen. Abschließend sei unserer Lektorin Kathrin Heyng ganz herzlich gedankt für all ihre Unterstützung bei der Umsetzung unserer Studienbuchidee. Wir wünschen unseren Lesenden eine anregende und vor allem auch ertragreiche Lektüre! Doreen Bryant & Tanja Rinker Tübingen, Eichstätt im Februar 2021

Zur Einführung in das Studienbuch Ziele und Verortung in der Studienliteratur des Themenfeldes Dieses Studienbuch verfolgt im Wesentlichen zwei Hauptziele – ein praxisorientiertes und ein forschungsorientiertes. Zum einen geht es um die Vermittlung von Grundlagen für eine linguistisch und ontogenetisch motivierte Sprachförderung. Eine wichtige Voraussetzung für ein wirkungsvolles sprachförderliches Handeln ist die Fähigkeit, die Lernersprache möglichst genau zu analysieren, um zur Initiierung der nächsten Entwicklungsschritte passgenaue didaktische Angebote machen zu können. Ergänzend zum Einsatz standardisierter Testverfahren bedarf es daher für den alltäglichen Umgang mit den Lernenden gut ausgebildeter sprachförderdiagnostischer Kompetenzen. Um diese ausbilden zu können, ist es erforderlich zunächst einmal den Lerngegenstand in seiner Vielschichtigkeit zu durchdringen und sich der spezifischen Erwerbsaufgaben und Herausforderungen bewusst zu werden. Erwerbsstudien liefern sprachphänomenbezo‐ gen weitere wichtige Details für die Sprachdiagnostik und Sprachförderung. So hilft beispielsweise die Kenntnis von typischen Progressionen in den untersuchten Sprach‐ bereichen einerseits dabei, zielsprachliche Abweichungen eines Lernenden adäquat zu interpretieren und andererseits dabei, die erwerbslogisch nächsten Schritte anzubahnen. Zum anderen soll das Studienbuch in die Erwerbsforschung zum Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit einführen. Anhand ausgewählter aktueller und „klas‐ sischer“ Erwerbsstudien, die die methodische Breite des Feldes dokumentieren, werden die Lesenden an Forschungsdiskurse herangeführt und zum eigenen wissenschaftli‐ chen Arbeiten angeregt. Dementsprechend richtet sich das Studienbuch an Studierende, Referendare, Lehr‐ kräfte sowie Aus- und Fortbildende, die sich für ihr sprachdiagnostisches und sprach‐ didaktisches Handeln differenzierte Einblicke in den Lerngegenstand und in verschie‐ dene Erwerbsszenarien des Deutschen wünschen sowie an alle aus den genannten Gruppen, die sich für zentrale Sprachbereiche des Deutschen einen Forschungsüber‐ blick verschaffen wollen und die sich anhand weiterführender Reflexions- und Lektü‐ reaufgaben in die Erwerbsforschung vertiefen möchten. Mit der Kombination aus linguistischer/sprachkontrastiver und spracherwerbsbezo‐ gener Annäherung an das Deutsche im Kontext von Mehrsprachigkeit, der Forschungs‐ orientierung und dem Anspruch aus den Theorie- und Erwerbserkenntnissen didaktische Implikationen abzuleiten, schließt dieses Buch eine Lücke in der Studienliteratur und ergänzt die bereits vorliegenden Einführungswerke und Handbücher zu Deutsch als Zweitsprache (u. a. Hoffmann et al. 2017; Jeuk 2021; Kniffka & Siebert-Ott 2021; Rösch 2011), zu Mehrsprachigkeit (u. a. Müller et al. 2011; Riehl 2014; Roche 2012) und Praxis‐ handbücher zur DaZ/DaF-Didaktik (u. a. Geist & Kraft 2019; Kalkavan-Aydin 2018).

Verortung in Spracherwerbstheorie und Sprachdidaktik

Verortung in Spracherwerbstheorie und Sprachdidaktik Eine der entscheidenden Fragen in der Spracherwerbstheorie betrifft die Rolle des Inputs. Diesbezüglich gibt es zwei grundlegend verschiedene Auffassungen. Der nativistischen Annahme zufolge ist der Mensch für den Erwerb der Sprache prädis‐ poniert, d. h. ein erheblicher Teil der Sprachbeherrschung – auf der Theorieebene als Universalgrammatik (UG) beschrieben – ist angeboren und muss im Laufe der ersten Jahre aktiviert und sprachspezifisch moduliert werden. Dem Input kommt in diesem theoretischen Framework lediglich eine Triggerfunktion zu. So bewirken bestimmte Strukturen im Input des Kindes, dass von der UG bereitgestellte Parameter in zielsprachlicher Weise gesetzt werden (u. a. Chomsky 1981). Während Befürworter der nativistischen Theorie der Interaktion mit der Umwelt und dem konkreten Sprachangebot der Umgebung eine geringe Bedeutung beimessen, rücken gerade diese Aspekte in der gebrauchsbasierten (usage-based) Spracherwerbs‐ konzeption in den Vordergrund (u. a. Behrens 2009; Tomasello 2003).1 Input wird – auch wenn der Begriff dies suggeriert – nicht zwangsläufig zum Intake. Dies gilt gleichermaßen für den Erst- und Zweitspracherwerb. Im Erstsprach‐ erwerb wird die an das Kind gerichtete Sprache idealerweise an den kognitiven und sprachlichen Entwicklungsstand angepasst (u. a. Ritterfeld 2000). Sie liefert in den ersten Lebensjahren bei transparentem Situationsbezug insbesondere jene Strukturen in hoher Frequenz und kategorialer Salienz, die das semantisch-konzeptuelle und morphologisch-syntaktische Grundgerüst der Zielsprache ausmachen (Bryant 2012: 14). Der an Zweitspracherwerbende gerichtete Input ist für gewöhnlich weniger angepasst an den aktuellen Entwicklungsstand und in Qualität und Quantität oftmals nicht hinreichend strukturiert. Die Sprachförderung kann und sollte unter Berück‐ sichtigung erwerbslogischer Sequenzen bei der Inputoptimierung ansetzen. Es gibt verschiedene Möglichkeiten den Input erwerbsbegünstigend zu gestalten, auf die hier allerdings nicht im Detail eingegangen werden kann.2 Im Rahmen einer strukturfokus‐ sierten Inputanreicherung sollten die Zielstrukturen in bedeutungsvollen, typischen Gebrauchskontexten präsentiert werden, die Form-Funktionszusammenhänge wahr‐ nehmen lassen. So ließen sich beispielsweise dynamische Positionsverben (stellen, legen, hängen) und lokale Präpositionen (in, auf, an, unter, über, neben) mit Akkusativrektion im Kontext einer Aktion des Zimmereinrichtens vermitteln (Stell / leg X auf / in YAkk), 1

2

Der Begriff usage-based geht auf Langacker (1987) zurück – auf den Begründer der kognitiven Gram‐ matik. Ihm zufolge ist das Sprachsystem eines Sprachbenutzers „grounded in concrete usage events or utterances“ (Behrens 2009: 384). Es gäbe keine Grammatik unabhängig vom Sprachgebrauch. „(A)ll abstract grammatical rules were at some point induced from concrete and particular usage events“ (ebd. 385). Die Grammatik – in der nativistischen Spracherwerbskonzeption angeboren – muss in der gebrauchsbasierten Spracherwerbskonzeption erst konstruiert werden in der Interaktion mit der Umwelt und dem hierbei evozierten Sprachgebrauch (Bryant 2012: 16). Z.B. Input Flooding (u. a. Wong 2005), Structered Input Activities (u. a. Van Patten 1996), Input Enhancement (u. a. Sharwood Smith 1993), Chunking (u. a. Handwerker & Madlener 2009).

11

12

Zur Einführung in das Studienbuch

statische Positionsverben (stehen, liegen, hängen) und lokale Präpositionen (s. o.) mit Dativrektion im Kontext einer Zimmerbeschreibung (X steht / liegt auf / in YDat). Die Lernenden erfahren so implizit (oder mit zusätzlichen Erklärungen auch explizit), dass das Deutsche eine (konsequente) Positionsverbsprache ist und dass den Kasusformen unterschiedliche Funktionen im Raumausdruckssystem zukommen. Darüber hinaus lernen sie handlungs- oder bildgestützt an prototypischen Verwendungsweisen orien‐ tiert einige der Raumpräpositionen des Deutschen kennen. Will man ein bestimmtes Muster (z. B. das der dynamischen/direktionalen oder der statischen Lokalisierung) etablieren, ist es von Vorteil zunächst nur wenige und proto‐ typische Repräsentanten auszuwählen. Die sog. Typefrequenz, die sich auf die Vertreter eines zugrundeliegenden Musters bezieht, sollte also am Anfang eher niedrig gehalten werden. Die Tokenfrequenz, die sich auf die Vorkommenshäufigkeit eines konkreten Elements bezieht, sollte jedoch hoch sein. Durch eine hohe Tokenfrequenz wird eine stabile Ankerstruktur gelegt, während die Typefrequenz zur Analogiebildung und Mustererkennung anregt (u. a. Tomasello 2003). Auch in der (spontanen) mündlichen Interaktion mit den Lernenden ergeben sich für die Lehrkraft vielfache Möglichkeiten ihre Äußerungen so zu strukturieren, dass die Lernenden auf bestimmte Kontraste oder Ausdrucksvarianten aufmerksam werden.3 Allein auf der Basis von Inputverarbeitung wird die L2-Entwicklung allerdings noch nicht hinreichend vorangetrieben. Sprachverstehen ist möglich, auch ohne den Input bis ins letzte Detail analysiert zu haben. Sprachlernende sind nur dann, wenn sie selbst Output erzeugen, wirklich gezwungen, sich der Formseite der Sprache zu stellen und ihre eigenen Strukturen mit denen der Zielsprache zu vergleichen und dabei gegebenenfalls Differenzen zu bemerken (Swain 1985; Swain & Lapkin 1995). In diesem Buch werden daher beispielhaft und sprachphänomenbezogen Anre‐ gungen für eine strukturfokussierte Inputanreicherung und für eine systematische Outputelizitierung gegeben. Aufbau und Hinweise für die Nutzung des Studienbuches Kapitel 0 führt in verschiedene Erwerbsszenarien ein und sensibilisiert dabei für die lebensweltliche Variation innerhalb einzelner Erwerbstypen und für das komplexe Zusammenspiel zahlreicher den Erwerb beeinflussender Faktoren. Es wird ein Be‐ wusstsein dafür geschaffen, dass eine pauschale Zuordnung zu einem bestimmten Erwerbstyp den Blick für individuelle Erwerbsspezifika versperren kann. Teil I stellt insgesamt sieben Sprachbereiche aus der Lernendenperspektive vor und zeigt die jeweiligen Zielstrukturen betreffend verschiedene Unterstützungsmög‐ lichkeiten auf. Teil II knüpft an den linguistischen Ausführungen an und präsentiert für 3

Bischoff & Bryant (2020: 327 f) geben in Anlehnung an Dannenbauer (1994) einen Überblick über zehn verschiedene Modellierungstechniken, die Lehrkräfte in der mündlichen Interaktion mit Deutschlernenden nutzen können..

Aufbau und Hinweise für die Nutzung des Studienbuches

sechs Sprachbereiche eine Auswahl an Erwerbsstudien. Da der Erstspracherwerb für den Zweitspracherwerb üblicherweise als Vergleichsmatrix herangezogen wird, ist den Studien zum Zweitspracherwerb immer ein Überblick der Erstspracherwerbsbefunde zum jeweiligen Phänomenbereich vorgeschaltet.4 Teil I und Teil II bieten Inhalte und Aufgaben für mindestens zwei Lehrveranstal‐ tungen. Es ist möglich, sich Teil I zunächst in seiner Gesamtheit zu erarbeiten, um sich dann in einem Folgeseminar Teil II zuzuwenden. Alternativ wählt man nacheinander aus Teil I einen Sprachbereich (z. B. prosodische und lautliche Aspekte) und dann die dazu jeweils passenden Erwerbsstudien (z. B. zur Phonologie) aus Teil II. Es wurde darauf geachtet, dass die Kapitel beider Teile auch jeweils für sich stehen können, um damit einzelne Seminarsitzungen gestalten zu können. Es sei aber darauf hingewiesen, dass die Kapitel von Teil II, weil sie das Wissen von Teil I voraussetzen, in Bezug auf die Terminologie und die inhaltliche Dichte anspruchsvoller sind.

Jedes Kapitel beginnt mit einer Aktivierung, um auf das jeweilige Thema einzustimmen und bereits an vorhandenes Wissen anzuknüpfen.

Am Ende eines jeden (Unter-)Kapitels finden sich Aufgaben mit unterschied‐ lichem Anspruch und Schwierigkeitsgrad – zu erkennen an der Anzahl der Sterne.

* Reproduktion ** Anwendung *** Vertiefung

Aufgaben, die überprüfen, ob ausgewählte Inhalte des gelesenen Kapitels wiederge‐ geben werden können, sind mit einem Stern versehen. Aufgaben, die das Gelesene anwenden lassen oder zur Reflexion darüber anregen, sind mit zwei Sternen ausgewie‐ sen. (Für einen Teil der Aufgaben aus der Zwei-Sterne-Kategorie finden sich auf der Verlagshomepage unter dem Link www.meta.narr.de/9783823383222 Lösungsskizzen.) Die besonders anspruchsvollen, mit drei Sternen markierten Aufgaben beinhalten in 4

Selbstverständlich erheben wir keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Wir haben uns dazu ent‐ schlossen, lieber weniger Studien zu referieren, diese aber etwas detaillierter und somit für die Leserschaft nachvollziehbarer. Den Lesenden wird auffallen, dass die Kapitel sich im Stil ein wenig unterscheiden. Dies liegt daran, dass sie (die jeweiligen Forschungsinteressen berücksichtigend) aus unterschiedlicher Feder stammen: Kap. 1-7, 10, 12, 13 von Doreen Bryant, Kap. 0, 8, 9 und 11 von Tanja Rinker. Aufgrund des intensiven Austausches und gemeinsamer Überarbeitungen ist aus unserer Sicht aber dennoch ein gemeinsames Gesamtwerk entstanden – mit individuellen Nuancen und Gewichtungen.

13

14

Zur Einführung in das Studienbuch

aller Regel zusätzliche Lektürehinweise, um das zuvor Gelesene zu vertiefen und in einen größeren Forschungskontext einzubetten oder um komplexe Problemstellungen zu bearbeiten. Aufgrund der jedem Kapitel folgenden Aufgaben unterschiedlicher Niveaustufen eignet sich das Studienbuch auch gut für den Einsatz in heterogenen Seminargruppen (z. B. mit BA- und MA-Studierenden), aber auch zum Selbststudium oder zur Examensvorbereitung.

0 Wege in die Mehrsprachigkeit: Ein erster Überblick Aktivierung Versuchen Sie aus den Beschreibungen zu entnehmen, in welchen Kontexten die Kinder ihre Sprachen gebrauchen und wie sie ihre Fähigkeiten in diesen einschätzen. Worin sehen Sie Gemeinsamkeiten und worin Unterschiede in den mehrsprachigen Lebenswelten der drei Kinder? Kasten 1:

Drei mehrsprachige Mädchen beschreiben ihren Sprachgebrauch zu Hause und haben hierzu eine Sprachenfigur1 gestaltet.

Mädchen 1

Mädchen 1: „Ich kann Kurdisch, Englisch und Türkisch. In der Familie spreche ich sehr oft Türkisch, nicht so oft Kurdisch. Ich kann die Sprache noch nicht sehr gut. Englisch sprech ich nur im Unterricht, meist oder eher gar nicht zu Hause. Mit meinem Bruder sprech ich zu Hause ganz oft nur Türkisch oder Deutsch. […] In der Schule sprech ich manchmal mit meiner Kusine Türkisch, wenn wir was zusammen sagen wollen. Mit meiner Mama sprech ich immer Türkisch, bisschen Deutsch. Mit meinem Papa soll ich, darf ich, oder was Ähnliches wie muss ich, Kurdisch sprechen, weil ich das noch nicht so gut kann. Ich bin Kurdin und muss diese Sprache können.“ Beschreibung der Sprachenfigur: „Hier oben in den Haaren oder eher im Kopf ist Deutsch, weil ich Deutsch ganz gut kann und irgendwie im Bauch ist Kurdisch, weil ich Kurdin bin. Im rechten Fuß ist Englisch, weil ich das zu Hause nicht mache, nicht extra lerne, sondern in der Schule und Türkisch im linken Fuß, weil ich das einfach nicht mag. Türkisch-Sprache. Und dann noch einen Mund gemalt aus der kurdischen Flagge.“

1

Kopiervorlage Sprachenfigur (www.oesz.at/sprachenportfolio/grundstufe.php?page=G2200, abge‐ rufen am 07.07.2019)

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0 Wege in die Mehrsprachigkeit: Ein erster Überblick

Mädchen 2: „Ich sprech Englisch und Deutsch. Zu Hause sprech ich mit meiner Mama nur Deutsch und mit meinem Papa nur Englisch. Mit meinem Bruder sprech ich manchmal Deutsch und manchmal Englisch. Mit meiner Oma und meinem Opa aus Deutschland sprech ich nur Deutsch, und mit meinen Tanten und meinen Onkeln in Amerika nur Englisch.“

Mädchen 2

Beschreibung der Sprachenfigur: „In den Kopf und in die Hose und in den Schuh hab ich Deutsch gemacht, weil ich in Deutsch‐ land geboren bin, weil ich Deutsch spreche und weil meine Mutter Deutsch spricht. Und ich hab in den Pullover die ameri‐ kanische Flagge gemalt, weil ich auch zu 50 % amerikanisch bin wegen meinem Vater, weil der ist in den USA geboren.“ Mädchen 3: „Zu Hause sprech ich nur Deutsch und Ukrainisch. Mit meiner Mutter red ich nur Ukrainisch, aber wenn ich was nicht versteh, dann sagt sie es mir auch auf Deutsch. Mit meinem Vater red ich nur Deutsch. Mit meiner Oma mit der red ich Ukrainisch, aber wenn ich was nicht versteh, dann hilft mir Mama.“

Mädchen 3

Beschreibung der Sprachenfigur: „Ich hab die deutsche Flagge in den Kopf gemalt, da ich die Sprache am besten kann. Und die ukrainische Flagge in die Hände, weil ich nicht so gut Ukrainisch spreche und ich daher auch viel mit den Händen erkläre. Und im Fuß ist die britische Flagge, weil die vom Kopf weit entfernt ist und ich halt noch viel dazu lernen kann bei der Sprache. Aber da bin ich halt auch froh drüber, weil neue Sprachen zu lernen macht Spaß.“ (Mündliche Produktionen, leicht redigiert)

***** Rund 40 % der Kinder unter fünf Jahren in Deutschland haben einen Migrationshin‐ tergrund (Stat. Bundesamt 2019)2. Ein großer Anteil dieser Kinder ist zu Hause mit

2

Unter Migrationshintergrund versteht man, dass eine Person selbst oder mindestens ein Elternteil aus dem Ausland zugewandert sind.

0 Wege in die Mehrsprachigkeit: Ein erster Überblick

mindestens einer weiteren Sprache in Kontakt. Wie intensiv beispielsweise Mutter oder Vater ihre Herkunftssprache(n) mit den Kindern nutzen, wie gut und gerne die Kinder diese Sprachen sprechen, welche Sprachen die Geschwister oder die Freunde sprechen, ist allerdings höchst unterschiedlich. Die drei Mädchen, die in Kasten 1 ihre Mehrsprachigkeit beschreiben, können nur einen kleinen Ausschnitt der Vielfalt der Szenarien abbilden, wie Kinder mit verschiedenen Sprachen aufwachsen. Viele Wege führen in die Mehrsprachigkeit: Jedes Elternteil spricht eine oder mehrere Sprachen, die Familiensprache unterscheidet sich von der Umgebungssprache, ein längerer Aufenthalt in einem anderen Land erfolgt, Sprachen werden in der Schule gelernt und so weiter. All diese Umstände und persönliche Entscheidungen können zu Mehrsprachigkeit bei Kindern (und Erwachsenen) führen und hierbei zu jeweils individuellen Erwerbsprofilen. Ungeachtet dessen sucht die Forschung nach interindividuellen Gemeinsamkeiten und Unterschieden, um auf der Basis gewisser Übereinstimmungen spezifische Er‐ werbs(typ)gruppen zu identifizieren. Der monolinguale Erstspracherwerb der Zielspra‐ che (in diesem Buch des Deutschen) dient hierbei in der Regel als Vergleichsbasis. Man betrachtet verschiedene sprachliche Phänomenbereiche (z. B. Phoneminventar, Nominalflexion, Wortstellung) des Deutschen und vergleicht den diesbezüglichen Erwerbsverlauf, die Erwerbsgeschwindigkeit und den erreichten Endzustand. Da Kinder im ungesteuerten3 Erwerb einer weiteren Sprache im Allgemeinen erfolg‐ reicher zu sein scheinen als Erwachsene und dieser Erwerbsvorteil nach Erklärungen verlangt (vgl. u. a. Pagonis 2009), lag und liegt ein besonderer Fokus der Spracherwerbs‐ forschung auf dem Alter zu Erwerbsbeginn. Nach der wohl bekanntesten Hypothese der Kritischen Periode (u. a. Lenneberg 1967) schließt sich im Alter von etwa zehn bis zwölf Jahren aufgrund neuronaler Reifungsprozesse das Zeitfenster, in dem die bei Geburt vorhandene Spracherwerbsfähigkeit zur Verfügung steht. Danach sei eine Sprache nicht mehr beiläufig im Kontakt mit Sprechern dieser Sprache zu erwerben, sondern müsse nun bewusst und mit gewissen Anstrengungen erlernt werden. Die Hypothese der Kritischen Periode erfreute sich zwar einer großen Anhängerschaft, konnte aber empirisch nie bestätigt werden. Eine deutlich differenziertere Sicht auf den Zweitspracherwerb bietet das (sich an der Idee der Kritischen Periode anlehnende) Konzept der sensiblen Phasen, demzufolge es für spezifische sprachliche Phänomen‐ bereiche bestimmte Zeitfenster gibt, in denen der L2-Erwerb dem L1-Erwerb (nahezu) gleicht (Meisel 2007). Nach dem Verstreichen des für ein bestimmtes grammatisches Phänomen (z. B. Wortstellung) anzunehmenden optimalen Zeitfensters lassen sich in der Lernersprache Merkmale beobachten, die in dieser Ausprägung im L1-Erwerb nicht vorkommen. So gleicht der Erwerb der Wortstellung (siehe Kapitel 12) im Erwerbsalter von 3-4 Jahren weitgehend dem Erwerb der Wortstellung monolingualer Kinder (Tracy 2007). Sind die Kinder bei L2-Kontakt jedoch schon 6-7 Jahre alt, dann 3

Als „ungesteuert“ bezeichnet man den Erwerb einer weiteren Sprache in der alltäglichen Kommu‐ nikation, der sich auf natürliche Weise vollzieht – „ohne systematische intentionale Versuche, diesen Prozess zu steuern“ (Klein 1992: 28).

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0 Wege in die Mehrsprachigkeit: Ein erster Überblick

treten im Satzbau zielsprachliche Abweichungen auf, die wir im monolingualen Erwerb deutschsprachiger Kinder so nicht beobachten können und die z.T. auf den Einfluss der Erstsprache zurückzuführen sind (Haberzettl 2005). Mit voranschreitendem Erwerbsalter – so die Annahme – wird die Lernersprache der von Erwachsenen im ungesteuerten Erwerb zunehmend ähnlicher (Meisel 2007). Auf diesem Weg scheinen einige Zeitfenster besonders relevant, die dann auch in der Erwerbsliteratur wiederkehrend zur Klassifizierung von Spracherwerbstypen herangezogen werden. Eine übliche Einteilung mehrsprachiger Kinder basiert somit auf der Chronologie des Erwerbs zweier oder mehrerer Sprachen: Als Erstsprache (= L1) wird die Sprache verstanden, die meist im familiären Kontext von Geburt an erworben wird. Beim simul‐ tanen oder doppelten Erstspracherwerb (2L1; manchmal auch bilingualer Erstspracher‐ werb) erwirbt ein Kind von Geburt an zwei Sprachen4. Vom simultanen Erwerb wird der sukzessive Erwerb abgegrenzt, bei dem der Erwerb einer zweiten (bzw. weiteren) Sprache erst dann einsetzt, wenn der Erwerb der ersten Sprache(n) „zumindest in den Grundzügen vollzogen ist“ (Rothweiler 2007: 106). Beim sukzessiven Erwerb unterscheidet man zwischen kindlichem Zweitspracherwerb und Zweitspracherwerb von Jugendlichen und Erwachsenen. Wie in Abb. 0.1 dargestellt, wird in Bezug auf die Kindheit noch eine weitere Differenzierung nach frühem (ab 3-4 Jahren) und spätem (ab 6-7 Jahren) Zweitspracherwerb vorgenommen (siehe u. a. Rothweiler 2007; Schulz & Grimm 2019). Der simultane Erwerb von zwei und mehr Sprachen wird nur allzu oft als Erfolgs‐ garant beschrieben. So heißt es beispielsweise in Meisel (2007: 97), dass bilingual aufwachsende Kinder „eine grammatische Kompetenz [erreichen], die sich qualitativ nicht von der vergleichbarer Monolingualer unterscheidet“ (Meisel 2007: 97). Hingegen seien bei einem zeitlich später einsetzenden Erwerb einer weiteren Sprache nicht alle Lernenden erfolgreich (Meisel 2007: 99).

Abb. 0.1: Spracherwerbstypen der Zwei-/Mehrsprachigkeit in chronologischer Abfolge (eigene Grafik, D.B.). Auf der Zeitachse, die das Erwerbsalter in Jahren darstellt, sind durchgehende und gestrichelte Linien zu sehen. Während in Bezug auf die mit durchgehender Linie markierten Intervalle in der Erwerbsliteratur weitgehende Einigkeit herrscht, wird der gestrichelt markierte Abschnitt entweder dem darüber angeordneten oder dem rechts davon stehenden Erwerbstyp zugeordnet.

4

Es wird allerdings diskutiert, wie groß das Zeitfenster sein darf, um noch von doppeltem Erstspracherwerb (2L1) zu sprechen: von Geburt bis ca. zwei Jahre (u. a. De Houwer 2009; Schulz & Grimm 2019) oder bis drei Jahre (u. a. Rothweiler & Kroffke 2006).

0 Wege in die Mehrsprachigkeit: Ein erster Überblick

Die in Abb. 0.1 dargestellte Unterteilung in Spracherwerbstypen der Zwei-/Mehrspra‐ chigkeit, die auch vielen Erwerbsstudien zugrunde liegt, wird der Komplexität mehr‐ sprachiger Profile natürlich keineswegs gerecht. Folgt man einer chronologischen Be‐ trachtungsweise, wären die Kinder in Kasten 1 als simultan-bilingual bzw. -multilingual zu bezeichnen, da sie von Geburt an mit mehreren Sprachen aufgewachsen sind und die jeweiligen Sprachen (Ukrainisch, Kurdisch, Türkisch, Englisch, Deutsch) von einem Elternteil zu Hause gesprochen werden. Die lebensweltliche Mehrsprachigkeitsrealität entspricht allerdings nicht bei jedem der Kinder den zuvor skizzierten Erwartungen. Das heißt, auf der Basis einer chronologischen Nomenklatur wie „simultaner Erst‐ spracherwerb“ oder „früher Zweitspracherwerb“ können keine verlässlichen Aussagen über tatsächlich erreichte Kompetenzen getroffen werden. Genauso wie Kompetenz‐ unterschiede zwischen den Sprachen bei simultan-bilingual aufwachsenden Kindern erwartet werden können, führt auch ein Beginn des Zweitspracherwerbs bei Schul‐ eintritt oder später nicht notwendigerweise zu reduzierten Sprachkompetenzen in dieser Sprache. Während neurobiologische Veränderungen im Laufe von Kindheit und Jugend, die auch u. a. das Sprachlernen beeinflussen, unbestritten sind, zeigt sich in vielen Studien, dass das Erwerbsalter zwar ein Faktor sein kann, aber keinesfalls der einzige und möglicherweise auch nicht der entscheidende. Würde man die sprachlichen Hintergründe der oben vorgestellten mehrsprachigen Kinder systematisch untersuchen, ergäbe sich ein komplexes Geflecht von Faktoren, die sich verschiedentlich auf die sprachlichen Kompetenzen in den jeweiligen Sprachen auswirken. Auf einige der potenziellen Einflussfaktoren sei im Folgenden kurz eingegangen: Neben dem Zeitpunkt des Erstkontakts mit der L2 wird in den meisten Erwerbsstu‐ dien auch die Kontaktdauer mit der L2 angegeben. Seltener, weil auch schwerer zu ermitteln, wird jedoch die Intensität des Kontakts mit den jeweiligen Sprachen berücksichtigt: Während eine Kontaktdauer von beispielsweise sechs Jahren bei einem sechsjährigen Kind mit dem Erwerbsalter (= Geburt) gleichgesetzt werden könnte, erweist sich diese Angabe bei genauerer Betrachtung als zu grob. Der Umfang des Sprachkontakts kann innerhalb von Familien mit bilingualem Sprachangebot (Mutter Sprache 1, Vater Sprache 2), und sogar auch zwischen Geschwistern, erheblich vari‐ ieren. Abb. 0.2 illustriert die Bandbreite des Anteils der beiden Sprachen Italienisch und Deutsch, die in italienisch-deutschen Familien von fünf Kindern einer ersten Klasse seit Lebensbeginn mit ihnen gebraucht wurde (= Input) sowie ihre produktiven Wortschatzkompetenzen (Nomen) im Deutschen und im Italienischen.

19

20

0 Wege in die Mehrsprachigkeit: Ein erster Überblick

a)

I_01_04

Mutter Deutsch 19,57%

Vater Deutsch 0,00%

Mutter Italienisch 58,70%

Vater Italienisch 78,30%

I_04_01

75,00%

34,78%

25,00%

0,00%

I_09_04

75,00%

42,39%

25,00%

14,10%

I_10_04

42,39%

39,13%

14,10%

0,00%

I_10_06

25,00%

9,78%

75,00%

29,30%

b)

Abb. 0.2: Input der Eltern und Nomenproduktion bei fünf italienisch-deutschen Kindern. a) Anteil des Italienischen und des Deutschen von Geburt bis zur 1. Klasse seitens der Mutter und des Vaters. Dieser Anteil wurde kumulativ aus Angaben aus einem Elternfragebogen errechnet. In b) ist die Summe der produzierten Nomen im Italienischen (dunkelgrau) und im Deutschen (hellgrau) in einem Wortschatztest (CLT, Rinker & Gagarina 2014, siehe Kap. 9.3) abgetragen. Maximal zu erreichende Rohwerte: 32. (Ausschnitt eigener Daten, T.R.)

0 Wege in die Mehrsprachigkeit: Ein erster Überblick

Wie sich die sprachlichen Fähigkeiten der Kinder entwickeln, hängt maßgeblich von der Quantität und Qualität des Inputs ab. Der sozioökonomische Hintergrund der Familien ist diesbezüglich ein gewichtiger Einflussfaktor. Gut ausgebildete (und verdienende) Eltern, vor allem Mütter, beeinflussen den Erhalt von Herkunftssprachen günstig (Lauro, Core & Hoff 2020). Zudem haben bereits viele Studien aus ein- und mehrsprachigen Familien belegt, dass in Familien mit einem höheren sozioökonomi‐ schen Hintergrund mehr mit Kindern gesprochen wird und die Gespräche kognitiv anspruchsvoller sind. Dadurch erreichen diese Kinder in der Regel bessere sprachliche Kompetenzen (Hart & Risley 1995; Hoff & Place 2012). Die Möglichkeiten des Sprachkontakts hängen oftmals auch vom Prestige der Sprachen innerhalb einer Sprechergemeinschaft ab. Welche Sprache wird beispiels‐ weise an Schulen als Fremdsprache erworben (hohes Prestige), welche Sprache ist wirtschaftlich gesehen von größerer Bedeutung? In Deutschland hat das Englische ei‐ nen sehr hohen Stellenwert (meistgewählte Fremdsprache, höchste Anzahl bilingualer Einrichtungen5), wobei die Anzahl der HerkunftssprecherInnen des Englischen sehr gering ist6. Eine weitere wichtige Rolle in der Entwicklung mehrerer Sprachen spielt die Bildungsumgebung (siehe Abb. 0.3). Werden bestimmte Sprachen unterdrückt und sind an der Schule oder Kita unerwünscht, ist es für Kinder schwieriger, diese zu erhalten und weiter auszubauen. Gibt es herkunftssprachliche Angebote? Wie wird das Deutsche gefördert? Welche Sprachen sprechen die anderen Kinder? Auch die Ein‐ stellungen der Lehrkräfte zur Mehrsprachigkeit sowie ihre methodisch-didaktischen Kompetenzen im Umgang mit mehreren Sprachen sind relevant für die mehrsprachige Entwicklung. Hinzu kommen beim Erwerb mehrerer Sprachen zahlreiche in den Kindern liegende Faktoren wie nicht verbale kognitive Fähigkeiten oder phonologische Verarbeitungsfähigkeiten (Lauro et al. 2020). Kinder mit guten Fähigkeiten in diesen Bereichen haben eine größere Chance, mehrsprachig zu werden und zu bleiben. Gute phonologische Fähigkeiten, wie die Fähigkeit, sich eine kurze Sequenz von Silben zu merken oder Laute zu unterscheiden (siehe Díaz et al. 2016), sind Teil des sogenannten Sprachtalents oder der Sprachbegabung (Ameringer et al. 2018). Ebenso sind Persönlichkeitsmerkmale wie die Motivation, eine Sprache zu erwerben oder zu erhalten oder auch eigene Einstellungen gegenüber Sprachen und ihren Sprechern gegenüber, einflussreich.

5

6

Gemäß Daten des Vereins „Frühe Mehrsprachigkeit an Kitas und Schulen“ (FMKS) (2019) stehen 857 Grundschulen mit bilingualen Zweigen mit Englisch, 28 Grundschulen mit Italienisch und sieben Grundschulen mit Türkisch entgegen. Nur wenige Schulen in Deutschland haben ein konsequent mehrsprachiges Profil, das insbesondere auch die Herkunftssprachen von Schülerinnen und Schülern integriert (z. B. Staatliche Europa-Schule in Berlin). Englischsprachiger Hintergrund: ca. 350 000 Menschen; türkischer bzw. türkischsprachiger Hinter‐ grund: 2,8 Millionen Menschen (Stat. Bundesamt 2020).

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0 Wege in die Mehrsprachigkeit: Ein erster Überblick

Abb. 0.3: Einflussfaktoren auf den Erwerb mehrerer Sprachen nach Kersten (2020: 83) Da diese Grafik sich insbesondere auf den schulischen Erwerb von Fremdsprachen bezieht, fehlen Angaben wie Sprachkontaktdauer oder Erwerbsalter. Dennoch bildet diese Grafik die Komplexität der Einflussfaktoren und der Zusammenhänge gut ab.

Wie hier deutlich geworden sein sollte, ist jedes mehrsprachige Aufwachsen individuell und der einzelne Lernende und der Komplex der Einflussfaktoren auf den Erwerb der unterschiedlichen Sprachen einzigartig. In den Neurowissenschaften hat sich daher auch die Betrachtungsweise der neuro‐ nalen Grundlagen des Erwerbs mehrerer Sprachen deutlich verändert. In der vielfach zitierten Studie von Kim et al. (1997) wurden, noch unter Annahme eines stark wirken‐ den Altersfaktors, unterschiedliche Aktivierungsmuster bei erwachsenen Probanden, die zwei Sprachen von Geburt an erworben hatten und Probanden, die eine weitere Sprache erst mit rund 11 Jahren erworben hatten, beobachtet. Die Sprachkompetenzen wurden allerdings nicht berichtet. Hingegen konnten Perani et al. (1998) Effekte der Sprachkompetenz und nicht des Erwerbsalters nachweisen: Während bei niedriger Sprachkompetenz in der L2 andere Areale als in der L1 aktiviert werden, sind es bei hoher Sprachkompetenz identische Aktivierungsmuster für beide Sprachen.

0 Wege in die Mehrsprachigkeit: Ein erster Überblick

In einer neueren Studie, rund 20 Jahre später, zeigen De Luca, Rothman, Bialystok und Pliatsikas (2019) differenzierte Effekte der sog. „language experience factors“ (L2-Alter, Dauer des L2-Sprachkontakts, L2-Gebrauch in sozialen Settings, L2-Ge‐ brauch zu Hause) auf der neuronalen Ebene. Sowohl die Dauer als auch der Sprachge‐ brauch zeigen Veränderungen auf der strukturellen aber auch auf der funktionellen Ebene des Gehirns und belegen, wie sich das Gehirn optimal auf seine Umwelt einstellt. Vielversprechend sind auch Ansätze, die z. B. die individuelle Inputsituation bei der Analyse neuronaler Gruppendaten berücksichtigen (z. B. die individuelle Anzahl von Stunden im Kontakt mit einer Sprache und die Ausprägung einer neuronalen Reaktion auf einen Lautkontrast; García-Sierra et al. 2011, 2016). Dieses einleitende Kapitel sollte zunächst einmal sensibilisieren für die Komplexität und Vielschichtigkeit des Spracherwerbs im Kontext von Mehrsprachigkeit. Die nach‐ folgenden Aufgaben regen an, die eigene Mehrsprachigkeit zu reflektieren und gängige Einstellungen gegenüber der Mehrsprachigkeit kritisch zu hinterfragen.

Aufgaben 1.* 2.**

3.** 4.***

5.***

Nennen Sie drei zentrale Einflussfaktoren, die den Erwerb mehrerer Sprachen beeinflussen. Beschreiben Sie möglichst detailreich Ihre eigene Mehrsprachigkeit und gehen Sie auch darauf ein, wie sich diese über die Jahre verändert hat. Verwenden Sie in Ihrer Darstellung auch visualisierende Elemente (z. B. Sprachenfigur oder einen Zeitstrahl). Warum ist es hilfreich, sich als (angehende) Lehrkraft mit der eigenen Mehr‐ sprachigkeit auseinanderzusetzen? Bislang haben wir uns nur auf die sog. „äußere Mehrsprachigkeit“ konzentriert – auf das Beherrschen mehrerer Einzelsprachen (u. a. des Deutschen.). Das Deut‐ sche (wie jede andere Sprache auch) stellt allerdings ein Gesamtsprachsystem dar, das aus verschiedenen Varietäten besteht und zusammengehalten wird durch die Standardvarietät. Lesen Sie in Girnth (2007) nach, welche Dimensionen von Varietäten zu unterscheiden sind und ergänzen Sie Ihre Mehrsprachigkeits‐ darstellung von Aufgabe 2 um Ihre sog. „innere Mehrsprachigkeit“, d. h. um innerdeutsche Varietäten, die Sie (mehr oder weniger) beherrschen. Es kursieren eine Reihe von Mythen rund um Mehrsprachigkeit und so manches Vorurteil hat sich in vielen Köpfen festgesetzt. Lesen Sie von den sieben Mythen, die Rosemarie Tracy im Jahr 2006 auf einem Kongress zur frühen Mehrsprachigkeit dar- und widerlegte (https://www.sagmalwas-bw.de/upload s/tx_news/BWS_FrueheMehrsprachigkeit_2011.pdf, abgerufen am 06.03.2021). Welche der beschriebenen Mythen und Vorurteile begegnen Ihnen noch immer im Alltag und welche Möglichkeiten sehen Sie, diesen entgegenzutreten?

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Teil I Deutsch aus der Lernendenperspektive: Schwierigkeiten verstehen und überwinden helfen

Einleitung Wohl kaum etwas erscheint uns so selbstverständlich und natürlich wie die eigene(n) Erstsprache(n), in die wir mühelos hineingewachsen sind – ohne über Regelhaftigkei‐ ten, Ausnahmen oder (aus sprachvergleichender Sicht) ungewöhnliche Phänomene nachgedacht zu haben. Erst durch den Sprachvergleich wird der Blick für die Be‐ sonderheiten der eigenen Sprache geschärft und man beginnt zu erahnen, was die Lernenden in Abhängigkeit ihrer Herkunftssprache beim Erschließen der Zielsprache – in diesem Buch Deutsch – zu leisten haben und mit welchen Unwägbarkeiten sie dabei konfrontiert sind. Die Leserinnen und Leser dieses Buches, die Deutsch als Fremdsprache oder späte Zweitsprache erworben haben, wissen um die potenziellen Schwierigkeiten, denn sie haben sich im Zuge des Sprachlernens bewusst mit der Spra‐ che auseinandergesetzt. Den Lesenden, die mit Deutsch aufgewachsen sind (sei es als Erst- oder als frühe Zweitsprache), die die Sprache also ganz nebenbei erworben haben, sind deutschspezifische Eigenarten, an denen sich Deutschlernende abarbeiten müssen, oftmals gar nicht bewusst. Will man eine Sprache, die man selbst ohne Mühe erworben hat, vermitteln, tut man gut daran, sich vorab einmal auf die Lernendenperspektive einzulassen und mit kontrastiver Brille die Zielsprache mit den Herkunftssprachen zu vergleichen, um mögliche Schwierigkeiten für die Lernenden zu antizipieren. Natürlich gibt es sie nicht, wie es der Titel dieses Buchteils suggerieren mag: die eine Lernendenperspektive auf das Deutsche. Lernende gehen mit den unterschiedlichsten Voraussetzungen an den Start: Sie sind verschiedenen Alters beim ersten Sprachkontakt und waren mehr oder weniger intensiv in Kontakt mit der deutschen Sprache; sie haben verschiedene Herkunftssprachen und möglicherweise bereits eine oder mehrere Fremdsprachen gelernt; sie lernen Deutsch in alltäglichen Situationen der zielsprachlichen Umgebung und/oder im Sprachunterricht; auch gibt es große Unterschiede in Bezug auf die Sprachlernbegabung und die Motivation für das Deutschlernen. Nur wer ein hohes Maß an Zielsprachlichkeit anstrebt, muss sich auch auf jene sprachlichen Bereiche einlassen, die aus kommunikativer Sicht kaum einen beachtenswerten Nutzen bringen, dafür aber mit einem hohen Lernaufwand verbunden sind. Obgleich jeder Lernende aufgrund individueller Voraussetzungen und Lernbedingungen der deutschen Sprache auf eigene Weise begegnet, lassen sich doch für alle sprachlichen Ebenen Charakteristika des Deutschen aufzeigen, die überindividuell als besondere Herausforderungen empfunden werden. Der Fokus in diesem ersten Teil des Studienbuches liegt auf einigen ausgewählten sprachlichen Phänomenen, von denen bekannt ist, dass sie (in Abhängigkeit phänomen‐ spezifischer Konstellationen von Herkunfts- und Zielsprache) vielen Deutschlernenden Schwierigkeiten bereiten. Diese sprachlichen Bereiche werden (wo es sich anbietet aus kontrastiver Perspektive) so dargestellt, dass die potenziellen Schwierigkeiten nachvoll‐ ziehbar werden, um im Anschluss daran erste Anregungen zu geben, wie den Lernenden geholfen werden kann, diese zu überwinden bzw. sie gar nicht erst aufkommen zu lassen.

1 Prosodische und lautliche Aspekte Aktivierung Auch weit fortgeschrittene Deutschlernende zeigen mitunter einen „merklichen Ak‐ zent“ (Hirschfeld & Reinke 2018: 15). Die Aussprachefähigkeit lässt sich nicht ohne Weiteres linear an Sprachniveaustufen koppeln, wie es der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen (GeR) vorgibt, der beispielsweise dem B1-Niveau noch einen „fremden Akzent“ zugesteht, auf dem B2-Niveau aber bereits eine „natürliche Aussprache und Intonation“ erwartet (ebd. 15). 1. Versuchen Sie anhand der unter www.meta.narr.de/9783823383222 bereitgestell‐ ten drei verschiedenen Sprachproben herauszuhören, worin sich diese von der standardnahen Aussprache des Deutschen unterscheiden. Berücksichtigen Sie dabei insbesondere die Wortbetonung (welche Silbe(n) wer‐ den besonders betont?), die Artikulation von mehreren Konsonantenhäufungen (Konsonantencluster) am Silbenanfang oder am Silbenende, von Vokalen (lang / kurz) und von Konsonanten. 2. Tragen Sie Ihre Höreindrücke mit konkreten Beispielen von abweichenden Rea‐ lisierungen in die folgende Tabelle ein. Sprachprobe 1 L1: _________

Sprachprobe 2 L1: _________

Sprachprobe 3 L1: _________

Wortbetonung Konsonantencluster Vokale Konsonanten

3. Die drei Erstsprachen der Deutschlernenden sind Russisch, Italienisch und Tür‐ kisch. Ordnen Sie die Sprachproben den drei Erstsprachen (L1) zu. Woran haben Sie sich bei der Zuordnung orientiert? ***** 1.1 Sprachrhythmus Unter Sprachrhythmus versteht man die bestimmten Regularitäten folgende zeitliche Gliederung lautsprachlicher Äußerungen (Pompino-Marschall 2009: 248). Entschei‐ dend hierbei sind die prosodischen Grundeinheiten, von denen man annimmt, dass sie

28

1 Prosodische und lautliche Aspekte

tendenziell in gleichmäßigen Abständen aufeinander folgen (Isochronie-Hypothese). Bezüglich der zugrundeliegenden Einheiten lassen sich Sprachen dem akzentzählen‐ den, silbenzählenden oder morenzählenden1 Rhythmustyp zuordnen. Deutsch zählt zu den akzentzählenden Sprachen (wie auch Englisch, Niederländisch, Russisch). Bei diesem Rhythmustyp ist der Isochronie-Hypothese zufolge der Abstand zwischen den betonten Silben – also die Dauer eines Betonungsintervalls – annähernd gleich. Diese Einheit wird auch als Fuß bezeichnet. Ein Fuß umfasst immer eine betonte Silbe und die dazugehörigen unbetonten Silben bzw. die unbetonten Silben bis zur nächsten Akzentsilbe. Bei den silbenzählenden Sprachen (z. B. Französisch, Spanisch, Türkisch) sind im Kontrast zu den akzentzählenden Sprachen die Betonungsintervalle von unterschiedlicher Dauer, die Silben als prosodische Grundeinheiten hingegen von gleicher Länge. Abb. 1.1 veranschaulicht die beiden Rhythmustypen. Dargestellt sind mit Bezug zur Zeitachse die Silben (σ) mit Hervorhebung der Akzentsilbe und die akzenttragenden Intervalle, die prosodischen Füße (Σ). Durch die Visualisierung wird deutlich, dass bei den akzentzählenden Sprachen, deren Betonungsintervalle tendenziell gleich lang sind, bei mehrsilbigen Füßen ein gewisser Komprimierungs‐ druck auf den unbetonten Silben lastet. In Abb. 1.1 sind sie daher deutlich kürzer dargestellt als die Akzentsilben. Der Komprimierungsdruck verursacht Vokalreduktion oder Vokaltilgung und kann sogar zum Silbenausfall führen. So wird im Deutschen der Reduktionsvokal [ə] (der sog. Schwa-Laut) oft gar nicht realisiert (z. B. spricht man Vogel laut DUDEN-Aussprachewörterbuch [fo:.gl] und Garten als [gar.tn] aus und nicht etwa [fo:.gəl] und [gar.tən]. In einigen Kontexten wirkt der Schwa-Laut silbenbewahrend (z. B. sehen, rennen, einen). Wird er an diesen Stellen getilgt, kommt es zum Silbenausfall. Damit ist dann in der akustischen Wahrnehmung beispielsweise die Akkusativform des indefinten Artikels (einen [ʔaɪ.nən] → [ʔaɪ.nən] → [ʔaɪn]) kaum mehr zu unterscheiden von der einsilbigen Nominativform ein, was sich erschwerend auf den Erwerb des nominalen Flexionsparadigmas auswirkt. akzentzählend (z.B. Deutsch)

silbenzählend (z.B. Türkisch)

σ

σ Σ

σ

Σ σ

σ

Σ

σ Σ

σ

σ

σ

Σ σ

σ

σ

t

Σ

Abb. 1.1: Idealisierte Isochronie des akzentzählenden und silbenzählenden Rhythmustyps

1

Es handelt sich hierbei um einen sehr selten vorkommenden Rhythmustyp (z. B. im Japanischen). Die phonologische Einheit More entspricht einer kurzen Silbe, die aus einem kurzen Vokal und maximal einem Konsonanten besteht.

1.1 Sprachrhythmus

29

Auch wenn die Isochronie-Hypothese in ihrer strengen Form messphonetisch nicht aufrechterhalten werden kann, lassen sich in den Sprachen der unterschiedlichen Rhythmustypen verschiedene phonologische Merkmale beobachten, die als Auswir‐ kungen einer Isochronie-Tendenz verstanden werden können (Pompino-Marschall 1995: 236). Einige dieser Merkmale sind (neben der bereits erwähnten Vokalreduktion) in Tab. 1.1 dargestellt. Wir beschränken uns im Folgenden auf den akzentzählenden und den silbenzählenden Typ und vernachlässigen den eher selten vorkommenden morenzählenden Rhythmus (z. B. im Japanischen). silbenzählende Sprachen (z. B. Türkisch)

akzentzählende Sprachen (z. B. Deutsch)

einfache Silbenstruktur (präferiert KV)

verschiedene, teils komplexe Silbenstruktu‐ ren

klare Silbengrenzen

Ambisilbizität (Silbengelenk)2

keine Vokalreduktion

Vokalreduktion in unbetonten Silben

keine distinktive Vokalquantität

distinktive Vokalquantität

Vokalharmonie möglich

keine Vokalharmonie

fester Wortakzent

freier Wortakzent

3

Tab. 1.1: Merkmale silbenzählender und akzentzählender Sprachen (nach Auer & Uhmann 1988: 253; Bredel 2013: 378; Hirschfeld & Reinke 2018: 65); K = Konsonant, V = Vokal

Tab. 1.1 mit den verschiedenen rhythmusassoziierten Phänomenen gibt eine ungefähre Vorstellung von der Komplexität der Lernaufgabe und zeigt gleichzeitig auf, welche Aspekte zu berücksichtigen sind, will man Deutschlernende einer silbenzählenden Erstsprache an den deutschtypischen Sprachrhythmus heranführen. Von den kontras‐ tierten Phänomenen sind es insbesondere der Wortakzent, die Silbenstrukturen und die distinktive Vokalquantität, die bekanntlich Schwierigkeiten bereiten. Die folgenden Abschnitte widmen sich diesen drei Bereichen.

2

3

Als ambisilbisch oder als Silbengelenk wird ein Konsonant bezeichnet, der gleichzeitig zwei aufein‐ anderfolgenden Silben angehört. Beispielsweise bildet im Wort Mitte → [mɪtə] der Laut [t] den Silbenauslaut der ersten Silbe, aber auch den Silbenanlaut der zweiten Silbe. In der Schriftsprache wird ein solches Silbengelenk durch Verdopplung des Konsonantengraphems markiert, z. B. Mitte. Vokalharmonie ist ein phonologischer Prozess des Angleichens (der Assimilation) der Vokale innerhalb eines Wortes hinsichtlich des Artikulationsortes. So weist beispielsweise im Türkischen ein Wort bezogen auf die Richtung der Zungenhebung entweder nur vordere Vokale oder nur hintere Vokale auf (Hirschfeld & Reinke 2018: 127).

30

1 Prosodische und lautliche Aspekte

Aufgaben 1.*

2.**

Wie lassen sich im Rahmen der Isochronie-Hypothese die bei akzentzählenden Sprachen zu beobachtenden Komprimierungseffekte (Vokalreduktion bzw. Weg‐ fall unbetonter Silben) erklären? Welcher der drei Sätze entspricht (tendenziell) der isochronischen Beispielse‐ quenz? Begründen Sie Ihre Antwort. a. b. c.

3.***

Die Zeit wird umgestellt. Jürgen liebt Flohmärkte. Plötzlich erschien ein Geist.

In akzentzählenden Sprachen wird der Akzent „in vielfältigerer Weise gramma‐ tisch genutzt“ als in silbenzählenden Sprachen (Auer & Uhmann 1988: 250). Man denke beispielsweise an die Minimalpaare trennbarer und untrennbarer Verbformen ('umstellen vs. um'stellen, 'wiederholen vs. wieder'holen). Welche weiteren Bereiche, bei denen die Akzentsetzung Unterschiede bewirkt, fallen Ihnen für das Deutsche ein? Lesen Sie vergleichend bzw. ergänzend zu Ihren Überlegungen sowie zu weiteren Akzentphänomenen die Seiten 250-252 in Auer & Uhmann (1988).

1.2 Wortakzent Die überwiegende Mehrzahl deutscher Wörter ist in der Grundform oder in flektierter Form zweisilbig und entspricht dem trochäischen Betonungsmuster (betont – unbe‐ tont). Für morphologisch komplexe Wörter gilt die Stammbetonung, vgl. (1) und (2). Das bedeutet, der Wortakzent ist nicht festgelegt auf eine bestimmte Silbenposition. Er wird daher auch als freier Wortakzent bezeichnet. (1)

'lauf 'lau.fen ver.'lauf ver.'lau.fen ver.'lau.fen.de

(2)

'Haus 'häus.lich 'Häus.lich.keit 'Häus.lich.keit.en

1.2 Wortakzent

31

Einen festen Wortakzent weisen zum Beispiel Tschechisch (Erstsilbenakzent), Polnisch (Akzent auf vorletzter Silbe) und Französisch (Letztsilbenakzent) auf (Roelcke 2011: 36). Auch im Türkischen liegt der Wortakzent – wie in (3) zu sehen – auf der letzten Silbe. (3)

'ev ev – 'ler ev – ler – 'im ev – ler – im – 'de

Haus Häuser meine Häuser in meinen Häusern

Der sprachtypische Rhythmus und die sprachspezifischen Betonungsmuster prägen den Erstspracherwerb von Anfang an. Sie helfen den Kindern zunächst, den Lautstrom ihrer Umgebungssprache zu segmentieren, und etwas später auch dabei, sich die Wortstruktur zu erschließen. So nutzen deutsche Kinder die Betonung als Hinweis auf den Wortanfang, türkische Kinder hingegen auf das Wortende (Bredel 2013: 379). Während deutsche Kinder Betontheit mit lexikalischem und Unbetontheit mit grammatischem Material assoziieren, nutzen türkische Kinder hierfür Unterschiede im Vokalismus: Vokalische Stabilität dient ihnen als Indikator für lexikalisches Material und vokalische Varianz (durch die den Regeln der Vokalharmonie folgende Assimila‐ tion der Suffixe, vgl. evim 'mein Haus' vs. grubum 'meine Gruppe'), als Indikator für grammatisches Material (ebd. 379). Darüber hinaus bewirkt die finale Akzentposition, dass im Türkischen (anders als im Deutschen) an den Stamm angefügte grammatische Morpheme betont werden. Sie sind damit der Wahrnehmung stärker zugänglich. Gewöhnt an diese prosodischen Markierungen ist der Erwerb des Deutschen, dessen grammatische Morpheme meist unbetont (und oftmals phonologischen Reduktions‐ prozessen ausgesetzt) sind, kein leichtes Unterfangen. Das Schriftsystem kann hier aber ausgleichend wirken und sollte im Lernprozess von Beginn an gezielt genutzt werden, um Flexive und Derivationsaffixe leichter wahrnehmbar zu machen (s. Kap. 3). Einen weiteren Grund, das Medium Schrift konsequent zum Lernen der zielsprachlichen Betonungsmuster einzubeziehen, liefern Forschungsbefunde, denen zufolge Sprecher einer Sprache mit festem Wortakzent zum Teil Schwierigkeiten damit haben, den freien Wortakzent überhaupt wahrzunehmen (ebd. 379). Für eine entsprechende Sensibilisie‐ rung ist zu empfehlen, bei morphologisch komplexen Wörtern die Stammbetonung zu visualisieren (z. B. wohn- → 'woh.nen, ge.'wohnt, 'wohn.lich, 'Woh.nung, Be.'woh.ner).

Aufgaben 1.* 2.**

Erklären Sie, wann und warum man beim Deutschen von einem freien Wortak‐ zent sprechen kann. Wählen Sie aus einem DaZ/DaF-Lehrwerk (A1-A2) einen kurzen Text aus und überlegen Sie, durch welche Markierungen / Hervorhebungen Sie den Lernenden zu einer zielsprachlichen Betonung verhelfen könnten.

32

1 Prosodische und lautliche Aspekte

1.3 Silbenstruktur Eine Silbe besteht aus Anlaut (Onset), Kern (Nukleus) und Auslaut (Koda). Silbenkern und Silbenkoda bilden zusammen den Reim, vgl. Abb. 1.2. Die deutsche Sprache zeichnet sich durch eine variationsreiche Silbenstruktur aus. Im Onset deutscher Silben können bis zu drei Konsonanten (Saal, Stahl, Strahl) stehen. Die Silbenkoda kann unbesetzt bleiben (La.ma) und bis zu vier Konsonanten (hat, hast, holst, hilfst) aufweisen. In Abb. 1.2 ist das einsilbige Wort strolchst dargestellt, das mit maximaler Belegung von Onset und Koda zeigt, wie komplex deutsche Silben sein können.

Abb. 1.2: Hierarchische Silbenstruktur mit maximaler Belegung von Onset und Koda4

Deutschlernenden, in deren Herkunftssprache einfache Silben vom Typ KV (Kon‐ sonant-Vokal) oder KVK dominieren, bereiten Konsonantencluster artikulatorische Schwierigkeiten. Oftmals wird ein sog. Sprossvokal zwischen die Konsonanten ge‐ schoben (z. B. [fəragə]) oder es werden Phoneme ausgelassen (z. B. [svai] oder [vai] statt [tsvai] 'zwei'). Um die Lernenden langsam an die Komplexität deutscher Silben heranzuführen, bietet es sich an, zunächst Wörter auszuwählen, die eine Affrikate enthalten. Affrikaten sind enge Verbindungen von einem Plosiv und einem Frikativ, die beide am gleichen Ort gebildet werden, zum Beispiel [ts] wie in Zeit und Platz oder [pf] wie in Pferd und Kopf. Auch Verbindungen wie beispielsweise [bl] für den Anlaut (Blume) und [st] für die Koda (Gast), deren Konsonanten im Artikulationsort dicht beieinanderliegen, bieten sich für den Einstieg an.

4

In eckigen Klammern wird die phonetische Umschrift nach dem International Phonetic Alphabet (IPA) angegeben. Im Anhang befindet sich eine Liste der für das Deutsche relevanten IPA-Zeichen.

1.4 Lautsystem

Aufgaben 1.* 2.**

Was macht die Silbenstruktur des Deutschen für viele Lernende so schwierig? Unterstreichen Sie in den folgenden einsilbigen Wörtern alle Konsonantenclus‐ ter im Anlaut und/oder im Auslaut. Heben Sie Konsonantencluster mit drei Konsonanten besonders hervor. Brot, Sport, Klang, Zopf, Schnitt, Klee, Klotz, Stuhl, Korb, Sturz, weiß, Strom, Schrank, Wand, Glas

3.***

Im Rahmen von Einschulungsuntersuchungen kommen auch diagnostische Verfahren zur Einschätzung des Sprachstands zum Einsatz. Dabei sind zur Überprüfung des phonologischen Gedächtnisses längere Kunstwörter nachzu‐ sprechen. Informieren Sie sich im Kurzartikel von Grimm (2016), warum Kunst‐ wörter an ein- und mehrsprachige Kinder ungleiche Anforderungen stellen und diskutieren Sie die Implikationen.

1.4 Lautsystem Wie bereits in der Einleitung angemerkt, wirkt sich das Alter zu Erwerbsbeginn in den einzelnen sprachlichen Domänen sehr unterschiedlich aus. Der lautliche Bereich gilt in dieser Hinsicht als besonders sensibel, da sich die Wahrnehmung bereits am Ende des ersten Lebensjahres auf die in der Erstsprache relevanten Laute einstellt. Diese wirken dann beim Erwerb der Zweitsprache wie ein Filter, sodass Laute der Zweitsprache, die den Lauten der Erstsprache ähneln, der Lautkategorie der Erstsprache zugeordnet wer‐ den, ohne sie weiter zu distinguieren. Dies kann sich dann in der Sprachproduktion in einer fremd klingenden Aussprache der zweiten Sprache bemerkbar machen. Auch fällt es Zweitsprachlernenden schwer, auf lautliche Distinktionen zu achten, wenn diese in der Erstsprache keine Bedeutungsunterscheidung bewirken: z. B. bei Konsonanten die Distinktion stimmlos vs. stimmhaft, vgl. [li:tɐ] vs. [li:dɐ], oder bei Vokalen die Distinktion gespannt (d. h. mit mehr Muskelanspannung artikuliert) vs. ungespannt, vgl. [mi:tə] vs. [mɪtə]. Aber nicht nur die Wahrnehmung hat sich auf das erstsprachliche Lautinventar eingestellt, sondern auch die Artikulation. Für bislang unbekannte Laute müssen neue Positionen und Bewegungsabläufe der an der Lautproduktion beteiligten Organe (z. B. Zungenspitze, Zungenrücken, Lippen) eingeübt werden. Bevor jedoch an der Aussprache der Laute gearbeitet wird, gilt es zunächst die Wahrnehmung zu schulen, wobei unbedingt die Schrift einzubeziehen ist, denn unvertraute Laute und Lautdistinktionen lassen sich leichter erhören, wenn man parallel zum akustischen Eindruck auf graphematische Unterschiede aufmerksam wird.

33

34

1 Prosodische und lautliche Aspekte

Es muss auch in diesem Abschnitt eine Auswahl potenzieller Schwierigkeiten getroffen werden. Obgleich auf das Konsonanten- und das Vokalsystem einzugehen sein wird, soll der Fokus auf Letztgenanntem liegen, da neben dem Wortakzent (s. Kap. 1.2) die korrekte Aussprache akzenttragender Vokale als besonders wichtig für die Verständlichkeit gilt (vgl. Hirschfeld & Reinke 2018). Ein weiteres Argument liefert der Lautumfang: Im Sprachvergleich verfügt Deutsch über eine durchschnittliche Anzahl von Konsonanten, aber über weit mehr Vokale als die meisten Sprachen, was aus den oben genannten Gründen für fast alle Deutschlernende erhebliche Schwierigkeiten mit sich bringt. Doch bevor wir uns dem Vokalsystem etwas ausführlicher zuwenden, zunächst ein Blick auf die Konsonanten des Deutschen. 1.4.1 Konsonanten

Das deutsche Konsonantensystem umfasst 21 Konsonantenphoneme – im Vergleich dazu: Arabisch: 52, Chinesisch: 17, Englisch: 24, Russisch: 33, Spanisch: 19, Türkisch: 20 (vgl. Hirschfeld & Reinke 2018). Konsonanten werden im Unterschied zu Vokalen durch eine Enge (Frikative) oder durch einen Verschluss (Plosive, Nasale) gebildet. Bei den Nasalen [m, n, ŋ] kann die Ausatemluft durch die Nase entweichen, bei Plosiven wird der Verschluss abrupt gelöst. Wird bei den stimmlosen Plosiven [p, t, k] der Verschluss „unter hohem Innendruck geöffnet, so wird die ausströmende Luft als Aspiration (Behauchung) hörbar“ (DUDEN 2005: 56) – insbesondere am Wortanfang vor einem Vokal (Ramers 2002: 82), wie z. B. Paar [pha:ɐ]; Tal [tha:l]; kahl [kha:l]. Diese Aspiration fällt vielen Deutschlernenden (z. B. mit Russisch, Französisch, Spanisch oder Türkisch als Ausgangssprache) schwer, lässt sich aber leicht üben, indem man ein Blatt vor den Mund hält, das sich beim Behauchen des stimmlosen Plosivs am Wortanfang bewegen sollte (Hirschfeld & Reinke 2018: 224). Die (Nicht-)Realisierung der Aspiration, vgl. [pa:ɐ] vs. [pha:ɐ], bewirkt (im Unterschied zur Distinktion stimmlos vs. stimmhaft, vgl. [pa:ɐ] vs. [ba:ɐ]) keinen Bedeutungsunterschied, sie trägt aber zu einem zielsprachlichen Klangbild bei. Eine für viele Lernende unerwartete (und auch aus dem Schriftbild nicht herleitbare) Besonderheit des Deutschen ist, dass am Wortanlaut von den beiden s-Lauten nur der stimmhafte Laut (Transkriptionszeichen: [z]) vorkommt, vgl. Sonne [zɔnə], süß [zy:s], sechs [zɛks]. Darauf sollten die Lernenden frühzeitig aufmerksam gemacht werden. Als besonders schwierig empfunden wird von vielen Deutschlernenden (z. B. mit Englisch, Italienisch, Portugiesisch, Türkisch als L1) die Realisierung von Ich- und Ach-Laut ([ç] und [x]). Russische Deutschlernende, die den Ach-Laut aus ihrer L1 kennen, artikulieren diesen dann häufig auch in Kontexten, in denen im Deutschen der Ich-Laut erforderlich wäre. Schwierigkeiten bereitet zudem der Frikativ [h] wie in [ho:f], und zwar nicht nur den russischen sondern auch (u. a.) den französischen, italienischen, spanischen und portugiesischen Deutschlernenden. Auch die sogenannte Auslautverhärtung (vgl. loben [lo:bən] vs. Lob [lo:p]) ist für Deutschlernende (z. B. mit Englisch, Arabisch, Chinesisch oder Italienisch als Aus‐

1.4 Lautsystem

gangssprache), die mit diesem phonologischen Prozess nicht vertraut sind, zunächst ein ungewöhnliches Phänomen. Bei der Auslautverhärtung wird in wort- und silbenfinaler Position der Kontrast stimmlos vs. stimmhaft zugunsten der unmarkierten stimmlosen Variante aufgegeben (Hall 2000: 97). Die stimmhaften Plosive und Frikative gelten als markierter, da sie mit mehr artikulatorischem Aufwand (Vibration der Stimmbänder) produziert werden. Sie kommen im Vergleich zu ihren stimmlosen Pendants auch seltener in den Sprachen der Welt vor (ebd. 88).5 Da es sich bei der Auslautverhärtung um einen Neutralisierungsprozess zugunsten des unmarkierten Merkmals handelt, gelingt es den Lernenden – der Markiertheitshypothese (Eckmann 1977: 321) zufolge6 –, die anfänglichen Schwierigkeiten relativ schnell zu überwinden. Einen letzten im Bereich der Konsonanten zu besprechenden Lernschwerpunkt stellen die R-Laute dar. Lernende, deren Herkunftssprache (z. B. Japanisch und Chinesisch) nur über einen Liquid (R-oder L-Laut) verfügt und nicht etwa wie die deutsche Sprache (sowie ca. 75 % der Sprachen) über zwei Liquide (Hall 2000: 84), benötigen Unterstützung in der phonematischen Wahrnehmung der R- und L-Laute, die ausgetauscht im Deutschen eine Bedeutungsveränderung bewirken. Hier bietet es sich an, mit Minimalpaaren zu arbeiten. Das sind Wortpaare, die sich in nur einem Phonem unterscheiden: Reise – leise, Rektor – Lektor, Waren – Wahlen (Hirschfeld & Reinke 2018: 222). Die im Weiteren skizzierten Schwierigkeiten betreffen deutlich mehr Deutschler‐ nende und haben zu tun mit sprachspezifischen Artikulationsweisen sowie mit den R-Varianten des Deutschen. In Abhängigkeit der Position und Lautkombinatorik wird ein konsonantischer R-Laut (als velarer Frikativ bzw. als uvularer Vibrant) oder aber ein vokalischer R-Laut realisiert. Um Lernende, in deren Herkunftssprache ein Zungenspitzen-R gesprochen wird (z. B. Türkisch, Spanisch, Russisch), an den frikativen, velar gebildeten R-Laut heran‐ zuführen, schlagen Hirschfeld & Reinke (2018) vor, vom fast an gleicher Stelle zu artikulierenden Ach-Laut auszugehen und Wörter bzw. Wortgruppen nachsprechen zu

5

6

In allen sprachlichen Bereichen (Phonologie, Morphologie oder Syntax ) sind strukturelle Optionen zu finden, die sich in eine Rangfolge bringen lassen, von der häufigsten, einfachsten und unmarkier‐ testen Form/Struktur bis zur seltensten, komplexesten, markiertesten Form/Struktur. In Bezug auf eine solche Rangfolge gelten dann implikative unidirektionale Beziehungen: Weist eine Sprache ein markiertes Element auf, dann hat sie auch ein unmarkiertes Element, aber niemals umgekehrt. Konkretisiert am Beispiel der Plosive: Alle Sprachen haben mindestens einen Plosiv. Es gibt Sprachen mit stimmlosen Plosiven /p, t, k/ und es gibt Sprachen mit stimmlosen und stimmhaften Plosiven /p, b, t, d, k, g/, aber keine Sprachen mit nur stimmhaften Plosiven /b, d, g/. Man kann nun also sagen: Die Existenz der stimmlosen Plosive impliziert die Existenz von stimmhaften Plosiven. Stimmhafte Plosive sind die markierten, stimmlose die unmarkierten Laute (Hall 2000: 87 f). Nach der Markiertheitshypothese (Eckmann 1977: 321) lassen sich auf der Basis eines Vergleichs der Erstsprache und der Zielsprache unter Berücksichtung universaler Markiertheitsrelationen Lerner-Schwierigkeiten vorhersagen: Als schwierig gelten jene Bereiche, in denen sich Zielsprache und Erstsprache unterscheiden und zudem die zielsprachlichen Strukturen markierter sind. Keine Schwierigkeiten sind hingegen zu erwarten, wenn die zielsprachlichen Strukturen sich zwar unter‐ scheiden von der Erstsprache – aber NICHT stärker markiert sind als die Strukturen der Erstsprache.

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1 Prosodische und lautliche Aspekte

lassen, „in denen an Silbengrenzen Ach- und R-Laut aufeinandertreffen: nach.rufen, auch_rot“ (ebd. 223). Neben konsonantischen Varianten gibt es im Standarddeutschen wie oben bereits erwähnt auch eine vokalische Variante des R-Phonems. Das sogenannte vokalisierte R [ɐ] wird nach langen Vokalen gesprochen wie in Ohr [ʔo:ɐ], Tier [ti:ɐ], lehrt [le:ɐt], lehrst [le:ɐst] und in unbetonten Silben, die im Schriftsystem mit zer-/ver-/her-/er-/-er kodiert werden (ebd. 73), z. B. verlaufen, erzählen, Mutter. Da das vokalisierte R einem ent‐ spannt artikulierten A-Laut ähnelt, schreiben Kinder im (lautbasierten) Schrifterwerb häufig *Muta statt Mutter. Das gleichzeitige Anbieten von Schriftbild und Klangbild hilft sowohl Kindern beim Orthografieerwerb als auch älteren Deutschlernenden im Erkennen, wann ein konsonantisches und wann ein vokalisches R zu artikulieren ist. Mit der vokalischen Variante des deutschen R-Phonems ist der Bogen geschlagen vom Konsonantensytem zum Vokalsystem, dem wir uns nun im Folgenden zuwenden. 1.4.2 Vokale

Während es im Deutschen 16 Vokale gibt, hat beispielsweise Türkisch 8 Vokale, Italienisch 7 und Persisch 6. Russisch, Griechisch und Spanisch verfügen jeweils über nur 5 Vokale (Hirschfeld & Reinke 2018). Das deutsche Vokalsystem stellt daher eine besondere Herausforderung für die Lernenden dar. Zum einen müssen sie sich in der Wahrnehmung ungewohnter lautlicher Kontraste üben und zum anderen müssen unter Berücksichtigung des Mundöffnungsgrades, der Zungenstellung und der Lippenform neue Artikulationsmuster trainiert werden. Während die fünf Vokale i, e, u, o, a in den Sprachen der Welt relativ häufig vorkommen, sind ü und ö eher selten. Diese Laute sind aber leicht anzubahnen, denn Mundöffnung und Zungenstellung entsprechen den (meist) vertrauten Vokalen i und e. Vorausgesetzt also, die Lernenden können i und e bereits aussprechen, lässt man sie diese artikulieren und bittet sie, dabei zusätzlich ihre Lippen zu runden. So entsteht aus einem i wie in liegen ein ü wie in lügen und aus einem e wie in lesen ein ö wie in lösen. Weitaus schwieriger ist es, die Lernenden dafür zu sensibilisieren, dass das Deutsche bei betonbaren Vokalen zwischen gespannten (d. h. mit mehr Muskelanspannung arti‐ kulierten) und ungespannten Vokalen unterscheidet. Bevor wir auf diesen Unterschied zu sprechen kommen, werfen wir zunächst einen Blick auf das so genannte Vokaltrapez, das den Mundraum mit den verschiedenen Zungenlagen in horizontaler (vorn, zentral, hinten) und vertikaler (hoch, mittel, tief) Dimension darstellt (s. Abb. 1.3). Eingezeich‐ net sind alle 16 Vokale des Deutschen mit ihren lautschriftlichen Symbolen, und zwar jeweils an der Stelle, wo sich die Zunge (der höchste Zungenpunkt) bei der Artikulation befindet. Um Deutschlernende für die verschiedenen Zungenlagen zu sensibilisieren, stellen die drei artikulatorischen Extreme [i], [u], [a] günstige Ausgangspunkte dar. Ausgehend von diesen äußeren Punkten, lassen sich dann Zwischenpositionen und feinere Unterschiede erarbeiten.

1.4 Lautsystem

Neben den Parametern Zungenposition und Lippenrundung sind im deutschen Vokalsystem zwei weitere Eigenschaften relevant, die jedoch weitgehend korrelieren: Vokallänge und +/- Gespanntheit. Für die Artikulation der im Vokaltrapez außerhalb der Ellipse befindlichen Vokale muss, da die Zunge eine größere Distanz von der entspannten Neutrallage des Mundmittelaums (hier wird der Zentralvokal [ə] gebildet) zurückzulegen hat, mehr Muskelanspannung aufgebracht werden (Ramers 2002: 79). Diese gespannten Vokale werden in betonter Silbe lang gesprochen, die ungespannten Vokale hingegen kurz – mit Ausnahme des ungespannten Vokals [ɛ], der in Akzentsil‐ ben auch lang (z. B. in Käse) vorkommen kann (ebd. 79).

Abb. 1.3: Vokale des Deutschen (nach Ramers 2002: 78)

Die Distinktion gespannt vs. ungespannt bzw. lang vs. kurz ist im Deutschen bedeu‐ tungsunterscheidend und muss daher unbedingt gelernt werden. Aber gerade diese Unterscheidung fällt vielen Deutschlernenden besonders schwer. In erster Linie betrifft dies Lernende, die aus Sprachen kommen, in denen die Vokalquantität nicht distinktiv ist (u. a. Türkisch, Spanisch, Russisch). Oftmals werden die Vokale so artikuliert, dass sie in Bezug auf die Länge zwischen dem kurzen und dem langen Vokal der Zielsprache liegen. Die Arbeit mit kontrastierenden Vokalpaaren (gespannt/lang vs. ungespannt/kurz) ist daher besonders wichtig. Mit Hilfe sogenannter Minimalpaare (vgl. Tab. 1.2) rücken die relevanten Distinktionen ins Bewusstsein. Gegenüberstel‐ lungen von Wörtern wie [mi:tə] vs. [mɪtə], die sich nur hinsichtlich des Merkmals Gespanntheit/Länge unterscheiden, aber eine ganz andere Bedeutung haben, verdeut‐ lichen, dass es leicht zu Missverständnissen kommen kann, wenn die Kontraste nicht hinreichend artikuliert werden. Dadurch wächst die Bereitschaft, sich auf diesen Lerngegenstand einzulassen. Wahrnehmungsübungen sollten immer vom Schriftbild begleitet werden, denn die Orthografie fungiert – wie es Röber (2012: 34) ausdrückt – „als Lehrmeisterin“. Wie die Schreibungen in Tab. 1.2 erkennen lassen, gibt die Schrift Hinweise darauf, ob der Vokal kurz oder lang ausgesprochen wird, und kann somit auch die akustische Wahrnehmung der Merkmalsausprägung lang vs. kurz unterstützen (s. Kap. 2). Einfache Wahrnehmungsübungen könnten daher so gestaltet werden, dass die

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1 Prosodische und lautliche Aspekte

Lernenden, nachdem die Bedeutung der Wörter geklärt ist, vor sich die Minimalpaare sehen und sich auf die Anweisungen der Lehrkraft „Zeigt auf [mi:tə], zeigt auf [mɪtə], zeigt auf [mɪtə], zeigt auf [mi:tə], …“ konzentrieren und Klangbild und Schriftbild miteinander verbinden. Später würden dann weitere die Lautdistinktion betreffende Minimalpaare hinzukommen ([bi:tə] vs. [bɪtə], [ʔim] vs. [ʔɪm]) und schließlich würde man mit Listen (wie in Tab. 1.2) arbeiten, die mehrere Vokaldistinktionen aufweisen. Auch mit Kunstwörtern (bliem vs. blim) oder Nachnamen (Bohl vs. Boll, Schmiedt vs. Schmidt) lässt sich gut an der Wahrnehmung des Kontrasts lang vs. kurz arbeiten. Die gleichen Materialien können dann im Anschluss an die Wahrnehmungsübungen, an das Sich-Einhören in die Lautkonstraste von den Lernenden zum Vorlesen verwendet werden.

Tab. 1.2: Minimalpaare zur Veranschaulichung der Distinktion gespannt vs. ungespannt

Aufgaben 1.* 2.**

Welche Aspekte im deutschen Konsonantensystem und im deutschen Vokalsys‐ tem könnten für einige Deutschlernende Schwierigkeiten bereiten? Ergänzen Sie die Minimalpaarliste in Tab. 1.2 um jeweils ein weiteres Paar für jede Vokalopposition.

Gruppenaufgaben

3.***

Hirschfeld & Reinke (2018) kontrastieren in ihrem Lehrwerk Phonetik im Fach Deutsch als Fremd- und Zweitsprache: Unter Berücksichtigung des Verhältnisses von Orthografie und Phonetik die Zielsprache Deutsch mit insgesamt neun möglichen Herkunftssprachen, und zwar mit Arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Italienisch, Portugiesisch, Russisch, Spanisch, Türkisch. Teilen Sie sich in Kleingruppen auf und wählen Sie jeweils eine der neun Ausgangssprachen. Erarbeiten Sie in der Kleingruppe die potenziellen Schwie‐

1.4 Lautsystem

rigkeiten, mit denen Deutschlernende Ihrer gewählten Herkunftssprache in Bezug auf Betonungsmuster, Silbenstruktur und Lautsystem konfrontiert sind. Präsentieren Sie entweder als Kleingruppe vor der Großgruppe Ihre Ergebnisse oder treffen Sie sich mit Abgesandten der anderen Kleingruppen, um jeweils als Experte von der untersuchten Sprachkonstellation zu berichten.

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2 Wortschreibung Aktivierung Im Fokus der Schriftvermittlung steht nur allzu oft die Perspektive des Schreibenden. Mancherorts sind die Kinder in den ersten Schuljahren angehalten nach Gehör zu schreiben, ohne dass diese Schreibprodukte korrigiert werden – ein ungünstiger Einstieg ins deutsche Schriftsystem, das in erster Linie leserorientiert ist. Die meisten der orthografischen Regeln dienen der leichteren Erkennung von Silben, Wörtern, Phrasen oder Sätzen im Leseprozess und sind aus der Perspektive des Lesenden daher relativ einfach zu erschließen. 1. Welche orthografischen Regeln kennen Sie? 2. Welche dieser Regeln werden in dem Schüleraufsatz (Abb. 2.1) verletzt? 3. Bei Wortfehlschreibungen ist zu unterscheiden, ob es sich um Regelverletzungen handelt oder um falschgeschriebene Merkwörter. Finden Sie für beide Typen Belege im Text.

Abb. 2.1: Aufsatz eines rechtschreibschwachen Fünftklässlers

Abb. 2.2: Bildimpuls „Der Fahrraddieb“ (© Bryant/Erhard)

*****

2 Wortschreibung

Im vorhergehenden Kapitel 1 wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass zur besseren akustischen Wahrnehmung ungewohnter lautlicher Kontraste, Silbenstrukturen und Akzentmuster parallel immer auch das Schriftbild als visuelles Stützsystem einzube‐ ziehen ist. Viele Deutschlernende sind bereits vertraut mit der einen oder anderen Alphabet‐ schrift. Bei einer Alphabetschrift besteht eine enge Beziehung zwischen den Einheiten des Lautsystems, den Phonemen, und den Einheiten des Schriftsystems, den Graphe‐ men. Im Idealfall lassen sich Phoneme und Grapheme eindeutig aufeinander abbilden. Im türkischen Schriftsystem ist dies tatsächlich so. Das deutsche Schriftsystem ist von einem solchen lautgetreuen Abbild jedoch weit entfernt, sonst würden wir *lebm schreiben statt leben, *Nagl statt Nagel, *Lop statt Lob, *knalt statt knallt, *Hende statt Hände. Deutschlernende sollten also nicht der Illusion ausgesetzt werden, dass Gra‐ phem-Phonem-Korrespondenzen (GPK) zu einer zielsprachlichen Schreibung führen würden. Natürlich gibt es auch im deutschen Schriftsystem GPK-Regeln. Diese sind zum einen aber nicht ausreichend. Man denke beispielsweise an das Vokalsystem: Für 16 Vokale stehen nur 9 Vokalgrapheme zur Verfügung (Bredel 2013: 375). Zum anderen werden die GPK-Regeln partiell überschrieben von prosodischen und morphologischen Regelhaftigkeiten. Von zentraler Bedeutung für das deutsche Schriftsystem ist der Trochäus – das für das Deutsche mit Abstand wichtigste Akzentmuster mit der Folge betonte Silbe, unbe‐ tonte Silbe (Eisenberg 2013: 31). Die meisten Wörter des Kernwortschatzes entsprechen in ihrer Stammform und/oder in flektierter Form diesem Fußtyp. Generell lässt sich sagen, dass Systematiken innerhalb des Schriftsystems vor allem dem Lesenden dienen. Sie sollen den Worterkennungs- und Leseprozess erleichtern. Abb. 2.3 veranschaulicht, wie dies bei der Visualisierung trochäischer Strukturen gelingt: Zunächst einmal signalisiert ein Vokalgraphem dem Auge eine zu lesende Silbe. Auch die unbetonte Silbe, in der lautsprachlich oft gar kein Vokal realisiert wird, enthält im geschriebenen Wort ein Vokalgraphem, und zwar immer . Dieses Graphem wird nicht etwa [e] gesprochen. Es fungiert als verlässliche Markierung für die Reduktionssilbe. Damit ist die prosodische Struktur (betont – unbetont) im Schriftbild sofort erkennbar.

41

42

2 Wortschreibung

Abb. 2.3: Der Trochäus in Laut- und Schriftsprache

Wie bereits angesprochen, ist das Grapheminventar der Vokale unterspezifiziert. Woher weiß man, ob die Vokalgrapheme , , , , … im zu lesenden Wort dem kurzen oder dem langen Vokal entsprechen? (Nur das Digraphem steht verlässlich für [i:].) Ob der Vokal in der betonten Silbe ungespannt/kurz oder gespannt/lang gelesen wird, hängt maßgeblich von der Silbenstruktur ab. Ist die Koda nicht belegt, (vgl. Abb. 2.4a), hat der Vokal – figurativ gesprochen – Raum sich auszudehnen. Der Vokal wird dementsprechend lang artikuliert. Ist die Koda besetzt und die Silbe damit geschlossen, vgl. (Abb. 2.4b), ist meist ein kurzer Vokal zu lesen. Eine visuelle Markierung zwischen Haupt- und Reduktionssilbe (Hü.te vs. Hüf.te, ha.ben vs. hal.ten, He.fe vs. Hef.te, Bo.gen vs. bor.gen, bö.se vs. Bör.se) kann Deutschlernenden am Anfang helfen, die Silbenstruktur schnell zu erfassen, denn von ihr hängt schließlich die Aussprache des Vokals ab.

Abb. 2.4: Drei trochäische Typen in Laut- und Schriftsprache

2 Wortschreibung

Das in (c) von Abb. 2.4 dargestellte trochäische Muster weist ein Silbengelenk auf: Der Konsonant besetzt sowohl die Koda der ersten Silbe als auch den Onset der zweiten Silbe. Auch hier muss – wie in (b) – der Vokal wieder kurz gesprochen werden. Die Schriftsprache markiert ein Silbengelenk durch Verdopplung (Fachbegriff: Gemination) des Konsonantengraphems (Hütte, Pappe, sollen, kommen). Diese Regel gilt allerdings nur für einfache Grapheme. Grapheme, die sich aus mehreren Buchstaben zusammensetzen, werden nicht verdoppelt: z. B. machen, waschen, Zange). Die Schreibung der Doppelkonsonanz ist also in der Silbenstruktur begründet. Auch die folgende orthografische Markierung weist darauf hin, dass im deutschen Schrift‐ system die Erfassung der Silbenstruktur von zentraler Bedeutung ist. Das sogenannte silbentrennende wird regelhaft dort eingesetzt, wo ansonsten zwei Vokalgrapheme zweier Silben direkt nebeneinander stehen würden: drohen statt droen, nähen statt näen, gehen statt geen. Dieses wird nicht gesprochen. Es ist eine Art Lesehilfe, denn die Silbengrenze wird so leichter erkannt. (Das sogenannte silbenschließende oder auch Dehnungs-h wie in Boh.ne, Leh.rer, Höh.le. wird nur dann verwendet, wenn die zweite Silbe mit einem Sonoranten (m, n, l, r) beginnt – allerdings nur in jedem zweiten aller möglichen Fälle (Eisenberg 2013: 303), weswegen auf diese Schreibung hier nicht weiter eingegangen werden soll.) Neben den GPK-Regeln und den in der Silbenstruktur begründeten Regularitäten gilt im deutschen Schriftsystem das strenge Prinzip der Stammkonstanz. Durch eine gleichbleibende Schreibweise wird die Wortverwandschaft sichtbar und der Zugriff auf das mentale Lexikon erleichtert. So verknüpfen wir mit der Lautform [hɛlt] in Abhängigkeit ihrer Schreibung (hält, Held, hellt) unterschiedliche Bedeutungen (Noack 2010: 162). Dank der Stammkonstanz bringen wir hält und halten zusammen, denn einem Vokalwechsel wird im Geschriebenen mit dem zugehörigen Umlautgraphem (Hand – Hände, Fuß – Füße, Floh – Flöhe) entsprochen (Eisenberg 2013: 314). Das Prinzip der Stammkonstanz greift auch bei der Doppelkonsonanz und dem silbentrennenden . Diese im Trochäus motivierten Schreibungen müssen auch dann bei verwandten Wortformen realisiert werden, wenn es in diesen keinen silben‐ basierten Grund für die spezielle Markierung gibt. So liegt in knallt kein Silbengelenk vor und in geht treffen keine zwei Vokalgrapheme aufeinander, die einer optischen Trennung bedürfen. Der Trochäus bestimmt auch darüber, welches Plosivgraphem in wort- bzw. sil‐ benfinaler Position geschrieben wird (Held wegen Helden, Lob wegen loben). Die Auslautverhärtung wird nicht verschriftlicht.1

1

Auslautverhärtung: Stimmhafte Konsonanten werden am Wort- und Silbenende stimmlos ausge‐ sprochen (siehe auch 1.4.1).

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2 Wortschreibung

Trochäus als Basis für die Schreibung

Schreibung aufgrund des Stammkonstanzprinzips

Gemination bei Silbengelenk

wollen können

will, gewollt kann, könnte

silbentrennendes

drohen sehen

droht, bedrohlich seht, Sehtest

wort- und silbenfinale Plosivgrapheme

legen Kinder

leg, belegbar Kind, kindlich

Tab. 2.1: Im Trochäus determinierte Schreibungen und Anwendung der Stammkonstanz

Aufgaben 1.*

2.**

3.**

Nehmen Sie Stellung zu der Aussage, das deutsche Schriftsystem sei ein Abbild der Lautsprache. (Möglicher Ausgangspunkt: Wenn dem so wäre, müssten sich alle Schreibweisen auf Graphem-Phonem-Korrespondenzen zurückführen lassen.) Schauen Sie sich noch einmal den Schülertext in Abb. 2.1 an. Markieren Sie alle Fehlschreibungen, die auf Verletzungen der in Tab. 2.1 dargestellten Regularitäten zurückzuführen sind. Versuchen Sie einem Deutschlernenden folgende Schreibweisen zu erklären: hoffen, (er) hofft, fliehen, (er) flieht, Wand, Wände

4.***

Die satzinterne Großschreibung ist eine Besonderheit der deutschen Orthografie und gilt bekanntlich als eine der Hauptfehlerquellen. Die Ursache für die Fehleranfälligkeit wird im wortartbasierten Vermittlungsansatz gesehen mit seiner zentralen Regel „Substantive schreibt man groß“, wobei der Begriff Substantiv meist anhand prototypischer Vertreter (Personen, Tiere, Dinge) eingeführt wird – im Kontrast zu 'Tun-Wörtern' (Verben) und 'Wie-Wörtern', die klein zu schreiben sind. Typische Fehler, die hieraus resultieren, sind Klein‐ schreibungen von nominalisierten Verben (der Lauf, das Laufen) und Adjektiven (das Schöne). (Auch scheinbar unmotivierte Großschreibungen von Verben wie im Schüleraufsatz, vgl. Abb. 2.1, gesehen, können auf Unsicherheiten in diesem Bereich zurückgeführt werden.) Eine didaktische Alternative bietet der syntaxbasierte Ansatz, demzufolge der erweiterbare Kern einer Nominalphrase groß geschrieben wird (vgl. Maas 1992; Röber-Siekmeyer 1999). Zur Debatte um die beiden didaktischen Ansätze und um zu erfahren, welche Lerneffekte der syntaxbasierte Ansatz in einer experimentellen Interventionsstudie mit 36 zweiten Klassen brachte, lesen Sie den Aufsatz von Wahl, Rautenberg & Helms (2017).

2 Wortschreibung

5.***

Im Kontext von Mehrsprachigkeit gilt es verschiedene Ausprägungen des Schrifterwerbs zu unterscheiden, um eine zielgruppengerechte Schriftvermitt‐ lung zu gewährleisten. „Am komplexesten ist der Erwerbsprozess, wenn weder Schrifterfahrung noch Deutschkenntnisse vorliegen, also erstmals ein Schrift‐ system und gleichzeitig die Sprache Deutsch erworben werden müssen. Je ver‐ wandter die vorhandenen Schrifterfahrungen zum deutschen Schriftsystem und je älter die Lernenden mit entsprechenden Vorkenntnissen sind, desto schneller wird das deutsche Schriftsystem in seinen Grundzügen erworben“ (Berkemeier 2018: 282). Lesen Sie in Berkemeier (2018, Kapitel 3), welche Aspekte bei der Wahl der Schriftvermittlungsmethoden Berücksichtigung finden sollten.

Partner- und Gruppenaufgaben

6.**

7.***

Entwickeln Sie zu zweit ein Arbeitsblatt, das das Prinzip der Stammkonstanz erfahrbar werden lässt. Tauschen Sie dieses dann mit einem anderen Team und geben Sie einander Feedback. Der Text von Röber (2012) enthält zahlreiche Anregungen, wie schriftsprachli‐ che Strukturen didaktisch genutzt werden können, um Deutschlernenden zu einem tieferen Verständnis systeminhärenter Zusammenhänge zu verhelfen. Teilen Sie sich nach dem Lesen der Kapitel 1 bis 3.3 in zwei Gruppen, um die didaktischen Potenziale und konkreten Vorschläge für den phonologischen Bereich (Kapitel 3.4-3.6) und für den morphologischen Bereich (Kapitel 4) zu erarbeiten. Präsentieren Sie im Anschluss der jeweils anderen Gruppe Ihre gewonnenen Erkenntnisse und simulieren Sie ggf. mit den KommilitonInnen (in der Rolle von Deutschlernenden) Beispielübungen zum erarbeiteten Bereich.

45

3 Wortbildung Aktivierung

Wettstreit um die meisten Wortbildungen 1. Bilden Sie in drei Minuten so viele Wortbildungsprodukte wie möglich mit dem lexikalischen Kern Kraft.

2. Versuchen Sie die gebildeten Wörter nach der Wortart des Wortbildungsprodukts zu systematisieren: Nomen

Adjektive

Verben

3. Versuchen Sie die gebildeten Wörter nach dem Wortbildungstyp zu systematisie‐ ren: Komposition Verbindung frei vorkom‐ mender Wörter

Derivation Verbindung eines freivor‐ kommenden Wortes mit einem Wortbildungsaffix

Konversion Wortartwechsel ohne hinzu‐ kommendes Wortbildungs‐ element

Bei der Derivation ließe sich noch weiter differenzieren nach Präfigierung vs. Suffigie‐ rung und bei der Komposition danach, ob Kraft das Erst- oder das Zweitelement ist. ***** Die deutsche Sprache verfügt über ein reichhaltiges Wortbildungsrepertoire. Zu den wichtigsten Wortbildungstypen zählen die Komposition, bei der mindestens zwei

3 Wortbildung

47

Wörter verbunden werden (Haustür, Bleiberecht, schneeweiß, rutschfest), die Derivation, bei der ein Suffix (goldig, essbar, Lehrer, Lesung) oder ein Präfix (verfolgen, behalten, unwissend, erkranken) an den Stamm tritt oder (eher selten vorkommend) ein Zirkumfix (Ge-red-e, be-schön-igen) den Stamm umschließt und die Konversion, bei der ohne Hinzufügen eines Wortbildungsmorphems ein Wortartwechsel stattfindet (V treff- → N Treff, N Fisch → V fisch-). Siehe Tab. 3.1 für einen Überblick und eine Auswahl an häufig vorkommenden Bildungsmustern mit Angabe der involvierten Wortarten ((N)omen, (V)erb, (A)djektiv). Das jeweils rechts stehende Element bestimmt die Wortart des Wortbildungsprodukts. Für die Affixe (abgekürzt mit hochgestelltem aff) bedeutet dies, dass Suffixe die Wortart festlegen, Präfixe hingegen nicht. Affixe verbinden sich nicht mit jedweder Basis, es gelten (mehr oder weniger strikte) Beschränkungen für ihre Kombinatorik. Beispielsweise verbindet sich das Suffix -bar mit Verben, die ein Akkusativobjekt verlangen (mit sog. transitiven Verben) und es entsteht daraus ein Adjektiv. typische Muster

mit Beispielen

Komposition Verbindung frei vorkommender Wörter

N+N→N A+N→N

Haus+tür, Fuß+ball Hoch+haus, Rot+wein

Derivation Verbindung eines frei vorkommenden Wortes mit einem Wortbildungsaffix (Präfix, Suffix oder Zirkumfix)

Präfigierung Vaff + V → V Aaff + A → A

ver+lauf(en), ent+lass(en) un+gut, un+wissend

Suffigierung V + Naff → N A + Naff → N N + Naff → N V + Aaff → A

Les+ung, Les+er, Bohr+er Wahr+heit, Heiter+keit Kind+chen, Lehrer+in ess+bar, lös+bar

- morphologische Konver‐ sion1 das Wortbildungsprodukt besteht nur aus dem Stamm

N→V A→V V→N A→N

filter(n), fisch(en) glätt(en), kürz(en) der Lauf, der Treff, der Fall das Rot, das Hoch

- syntaktische Konversion das „Wortbildungsprodukt“ weist ein Flexionselement des zugrun‐ deliegenden Wortes auf

A→N A (aus Part. I) → N A (aus Part. II) → N V (Infinitiv) → N

das/der/die Alte der/die Studierende der/die Abgeordnete das Laufen, das Bedauern

Konversion Wortartwechsel

Bezeichnung und Kurzbeschreibung

Tab. 3.1: Die wichtigsten Wortbildungstypen im Deutschen

Ein spezieller Fall, der sich weder dem Wortbildungstyp der Komposition noch dem der Derivation zuordnen lässt, aber im Deutschen als ausgesprochen produktiv gilt, ist die sogenannte Partikelverbbildung (z. B. auf-/an-/zu-/ab-machen). Der besondere Status ergibt sich aus der Trennbarkeit in bestimmten morphologischen und syntaktischen

1

Häufig auch als Nullderivation bezeichnet. Verändert sich der Stammvokal (z. B. werf(en) → Wurf; trink(en) → Trank), spricht man auch von impliziter oder innerer Derivation.

48

3 Wortbildung

Kontexten, vgl. (1)-(4). Im Kontrast dazu handelt es sich bei Komposita und bei durch Derivation gebildeten Präfixverben um feste Einheiten. (1)

Er will nachher seine Tochter von der Schule abholen.

(2)

Er ist gerade los, um seine Tochter von der Schule abzuholen.

(3)

Er holt gerade seine Tochter von der Schule ab.

(4)

Er hat seine Tochter von der Schule abgeholt.

Es ist daher also berechtigt, Partikelverben einen besonderen Status zuzubilligen. Es handelt sich bei diesen um ein Phänomen zwischen Wortbildung und Syntax (siehe grammis2). Um Lernende auf die Besonderheiten von Partikelverben aufmerksam werden zu lassen, könnten die Partikeln fett markiert werden, vgl. (1)-(4). Diese Hervorhebung lässt sich auch dadurch rechtfertigen, dass Verbpartikeln (z. B. ab, auf, zu, an, ein, …) im Unterschied zu Verbpräfixen (z. B. be-, er-, ent-, ver-) den Akzent tragen, vgl. abfragen, anfragen vs. befragen, erfragen. Um die Lernenden an die morpho-syntaktischen Eigenarten von Partikelverben heranzuführen und ihnen eine Mustererkennung der Verwendungsweisen zu ermög‐ lichen, ist es ratsam, zunächst eine Auswahl an nur wenigen, frequent gebrauch‐ ten Partikelverben zu treffen. Wählt man hierbei einen semantisch unspezifischen Verbstamm, wird der Fokus automatisch auf die Partikel gelenkt, da sie die zentrale Bedeutung enthält (z. B. aufmachen, zumachen, anmachen). Bei einer solchen wohl überlegten Auswahl an Partikelverben gelingt es dem Lernenden leichter als bei einem Überangebot an verschiedenen Partikeln und Verbstämmen (wie häufig in Lehrbüchern zu finden) das zugrundeliegende System der Verwendungsmuster zu durchschauen und zu verinnerlichen. Hierauf aufbauend lässt sich dann systematisch der Verbwortschatz erweitern und die Produktivität einzelner Partikelverbmuster erfahren, vgl. (5) und (6). (5)

Wie, auf welche Art und Weise kann man etwas aufmachen? aufdrehen, aufschrauben, aufziehen, aufdrücken, aufbrechen, aufstoßen, …

(6)

Wie, auf welche Art und Weise kann man ins Klassenzimmer reinkommen? reinrennen, reinschlendern, reinschleichen, reinschlurfen, reinpoltern, reinstol‐ pern, …

Mit der Partikelverbbildung haben wir nun also neben der Komposition, Derivation und Konversion, vgl. Tab. 3.1, einen weiteren, wenn auch aufgrund seiner morpho-syntak‐ tischen Eigenarten speziellen, im Deutschen aber sehr präsenten Wortbildungstyp identifiziert. Die Schwierigkeiten, die Lernende mit Partikelverben haben, können auf ihre Trennbarkeit und Distanzstellung zurückgeführt werden. Dies gilt insbesondere für SprachanfängerInnen und wird in den Kapiteln 5 und 12 zur Wortstellung noch einmal thematisiert. Bei fortgeschrittenen Deutschlernenden geht es vor allem darum

2

https://grammis.ids-mannheim.de/systematische-grammatik/1352 (Abruf: 12.02.2020)

3 Wortbildung

zu durchschauen, welche Bildungen produktiv sind, vgl. (5), und somit auch für eigene Wortschöpfungen zur Verfügung stehen, und welche lexikalisiert sind (z. B. aufräumen, auffinden). Wenden wir uns im Folgenden noch einmal den anderen Wortbildungstypen zu. Be‐ sonders „berüchtigt“ ist die deutsche Sprache für ihre starke Neigung zur Komposition (Roelcke 2011: 56). Auf eindrückliche Weise zeigt sich vor allem bei diesem Wortbil‐ dungstyp ein Hang zu komplexen Wortkonstruktionen. Man vergleiche hierfür nur einmal die Konstruktion Unabhängigkeitserklärung mit der englischen Entsprechung Declaration of Independence. Die meisten Lernenden zeigen sich überrascht, was das Deutsche für „Bandwurmwörter“ hervorbringen kann, und wissen nicht recht, wie sie damit umzugehen haben. Ausgehend von einfachen, häufig gebrauchten Komposita (weinrot, Rotwein, Haus‐ tür), lassen sich zunächst die Grundregeln der Komposition vermitteln. So bestimmt das rechtsstehende Element nicht nur die Wortart sondern auch die Flexionsklasse. Daher lassen sich Übungen mit N+N-Komposita auch gut verbinden mit Übungen zum grammatischen Geschlecht: das Haus + die Tür → die Haustür (zur Genuskategorie siehe auch 4.2.1). Die Bedeutung eines Kompositums aus seinen Bestandteilen zu ermitteln, ist oft gar nicht so leicht. So lässt sich bei dem Kompositum „Lernwiese“ ohne Kontext nicht entscheiden, ob dies eine Wiese ist, auf der man lernt oder aber eine Wiese, an der man etwas lernt oder ob möglicherweise eine uns im Moment noch gar nicht in den Sinn kommende Lesart die zutreffende ist (Fandrych & Thurmair 1994: 37). Heißt das dann aber, dass wir den Deutschlernenden für die Interpretation eines Kompositums der Form AB lediglich eine ganz allgemeine Erschließungsregel wie etwa „B hat irgendetwas mit A zu tun“ (ebd. 36) mit auf den Weg geben können? Mit den Aufgaben 3 und 4 (am Ende dieses Kapitels) soll dieser Frage nachgegangen werden. Ab einer Dreigliedrigkeit ist bei der Interpretation zudem zu überlegen, welche der Teile sich wohl zuerst verknüpft haben und damit in engerer morphologischer sowie semantischer Verbindung stehen. Nicht immer liegt der Fall so klar wie bei Haustürrahmen oder Haustürschlüssel, vgl. Abb. 3.1. Handelt es sich beispielsweise bei Frauenfilmfestival um ein Festival, auf dem Frauenfilme gezeigt werden oder ist es ein Filmfestival, das sich speziell an Frauen richtet?

Abb. 3.1: Binäre Struktur für das dreiteilige Kompositum Haustürschlüssel

49

50

3 Wortbildung

Für viele der in Tab. 3.1 aufgeführten Derivations- und Konversionsmuster bieten sich in der Unterrichtsinteraktion durch eine spezifische Inputgestaltung vielfältige Möglichkeiten, die Lernenden auch implizit an Wortbildungsmuster heranzuführen, wie die zwei Redeauszüge in (7) und (8) illustrieren sollen. Der erste Auszug ist geeignet für SprachanfängerInnen im Kontext handlungsbegleitenden Sprechens und der zweite für fortgeschrittene Lernende. (7)

Jetzt müssen wir an jeder Seite noch ein Loch reinmachen. Wir müssen das Papier an jeder Seite lochen. Und dafür nehmen wir den Locher. (Bischoff & Bryant 2020: 326)

(8)

Wir wollen heute mal versuchen, eine ganz besonders schwierige Aufgabe zu lösen. Sie ist schwierig, aber lösbar. Das heißt man kann es schaffen, sie zu lösen. (…) Ok, jetzt haben wir die Lösung gefunden – wir haben die schwierige Aufgabe gelöst. Ich schreibe die Lösung oder am besten gleich den ganzen Lösungsweg nun noch mal an die Tafel. Nächste Woche bringe ich uns wieder eine schwierige, aber lösbare Aufgabe mit.

Der Auszug in (8) enthält mit lösbar, Lösung, Lösungsweg drei Wortbildungsprodukte zum Verb lösen und sensibilisiert zunächst einmal für Wortverwandtschaften. Die Lernenden nehmen den gleichen Stamm in verschiedenen Kontexten war. Auf ähn‐ liche Weise würde man in anderen Situationen weitere Instanzen der -bar und -ung-Derivationen verwenden, um beim Lernenden erst einmal mehrere Vertreter eines Wortbildungsmusters mental zu verankern und möglicherweise erste Wiederer‐ kennungseffekte zu stimulieren. Die (vermutlich) noch als unanalysierte ganze Einheiten (als Chunks) wahrgenom‐ menen Wortbildungsprodukte können dann zu gegebener Zeit zusammen mit weiteren nach dem jeweiligen Muster gebildeten Beispielen wieder aufgegriffen werden, um nun gezielt den Analyseprozess anzustoßen bzw. voranzubringen. Durch das Präsentieren mehrerer Vertreter eines Wortbildungsmusters wird der/dem Lernenden die Struktur des komplexen Wortes bewusst und spezifische Regularitäten können erkannt werden, wie etwa die Wortart der Basis und die Wortart des Derivats. Sprachspiele, die sich überdies sehr leicht mit Wortschatzarbeit verbinden lassen, eignen sich hervorragend, um das jeweils zugrundeliegende Bildungsmuster zu durchschauen und zu verinner‐ lichen, vgl. Tab. 3.2. Anschließend könnte man gemeinsam eine Wortbildungsregel formulieren und die Funktion und Bedeutung des Suffixes -bar reflektieren. Fragen nach dem Muster:

Antworten nach dem Muster:

Was kann man essen? / Was ist essbar?

X kann man essen. / X ist essbar.

mit (oder ohne) Vorgabe von einzusetzenden Objekten weitere Verben: trinken – waschen – abschließen – genießen – lesen – … Tab. 3.2: Übungsvorschlag zur Derivation mit -bar

3 Wortbildung

51

Bei einer Wiederholung des Sprachspiels könnte man Objekte vorgeben, die unter‐ schiedliche Ansichten evozieren und zu Diskussionen anregen, bei denen die Zielstruk‐ turen dann in authentischen Kontexten Anwendung finden (z. B. nicht genießbar, weil …; genießbar nur, wenn ...). Sind die Lernenden einigermaßen vertraut mit besonders häufig vorkommenden Wortbildungsmustern, geht man zu komplexeren Wörtern über, die das Produkt mehrerer verschiedener Wortbildungsprozesse sind. Da es deutschen Muttersprach‐ lerInnen oft gar nicht bewusst ist, wie viele und welche Wortbildungsoperationen in einem rezipierten oder selbst produzierten Wort stecken, soll der nächste Absatz einmal beispielhaft für die morphologische Komplexität sensibilisieren, mit der wir täglich umgehen und an die auch die Deutschlernenden sukzessive heranzuführen sind, damit sie sich selbstständig komplexe Wörter in Zeitungen oder Lehrbüchern erschließen können. Als Beispiel sei das bereits am Anfang erwähnte Wort Unabhängigkeitserklä‐ rung gewählt. Tab. 3.3 schlüsselt auf, welche Prozesse hier involviert sind. Komposition

N+N→N

Unabhängigkeit

Derivation

A + Naff → N

unabhängig + -keit

Derivation

Aaff + A → A

un- + abhängig

Derivation

V+A →A

abhäng- + -ig

Partikelverbbildung

Part + V → V

ab- + häng-

Derivation

V+N →N

erklär- + -ung

Derivation

Vaff + V → V

er- + klär-

aff

aff

+

Erklärung

Tab. 3.3: Wortbildungsprozesse im Wort Unabhängigkeitserklärung 3

Ein Vorschlag, sich derart komplexen Wörtern zu nähern und Deutschlernende (der Sekundarstufe) zu befähigen, diese in ihrer Struktur „aufzuknacken“, wäre der Einsatz des (nach Bedarf zu vereinfachenden) linguistischen Strukturdiagramms. Man spricht auch von einer Baumstruktur, wobei der Baum auf dem Kopf steht und nach unten hin verzweigt. Diese Darstellungsweise kann man den Lernenden leicht mit Wörtern, die nur zwei Wortbildungsprozesse enthalten, nahebringen, vgl. Abb. 3.2. Zunächst lässt man das Wort in seine Bestandteile (Morpheme) sequenzieren (a), um dann im nächsten Schritt erst einmal die Wortstämme zu identifizieren und nach Wortarten zu kategorisieren (b). Bei der Kategorisierung der Präfixe (c) sollte die Lehrkraft mit unterstützenden Fragen helfen (z. B. Was wird aus dem Verb? Welche Wortart

3

In der Tabelle nicht berücksichtigt wurde das im Wort enthaltene Fugenelement. Fugenelemente dienen zur Strukturierung von Komposita (Eisenberg 2013: 226). Die s-Fuge wird regelhaft nach Nominalisierungssuffixen (z. B. -ung, -heit, -keit, -schaft, -tum) eingefügt (ebd. 230). Eine Gesamtsys‐ tematisierung sämtlicher Fugen (s, n, ns, e, er, en, es, ens) ist nicht zuletzt aufgrund vielschichtiger Sprachwandelprozesse nicht zu erwarten (ebd. 226). Ein kleiner, wenn auch schwacher Trost für die Lernenden: „die weitaus überwiegende Zahl der Komposita (ist) fugenlos“ (ebd. 226).

52

3 Wortbildung

entsteht, wenn man -ung mit dem Verbstamm verbindet?). Im letzten Schritt (d) wird gemeinsam überlegt, welche Bestandteile sich in welcher Abfolge verbinden und welche Zwischenergebnisse dabei entstehen. Der (umgedrehte) Baum wird von unten nach oben in binären Strukturen entwickelt. Eine Ausnahme hierzu bildet die Konversion, bei der sich ohne Hinzufügen eines Elements die Wortart verändert – auch dies lässt sich anschaulich mit dem Modell darstellen, vgl. Abb. 3.3.

Abb. 3.2: Morphologische Analyse des Wortes Lösungsweg in Teilschritten

Abb. 3.3: Morphologische Analyse des Wortes Langlauf

Mit fortgeschrittenen Lernenden hin und wieder gemeinsam auch mal ein besonders langes Wort in seine Bestandteile zu zerlegen, die einzelnen Wortbildungsschritte zu identifizieren und die Teilbedeutungen sowie die Gesamtbedeutung zu erschließen, vgl. Abb. 3.4, schafft ein tieferes Verstehen für morphologische Zusammenhänge im Deutschen und vermittelt den Lernenden Strategien zum eigenständigen Aufschlüsseln langer okkasioneller Wortbildungen4, wie man ihnen oft in bürokratischen und juris‐ 4

Man unterscheidet (grobrastig) zwischen okkasionellen und usuellen Wortbildungen (Bußmann 2008: 492): Erstere sind mittels produktiver Wortbildungsregeln geschaffene „Neubildungen, die spontan aus einem momentanen Bedarf heraus und in starker Kontextabhängigkeit entstehen“. Zweitgenannte gehören „zum lexikalischen Inventar einer Sprache“ (z. B. Fußball, Sonnenbrille, Wein‐ handlung, Beerdigungsinstitut). Okkasionelle Wortbildungen können „durch häufige Wiederverwen‐ dung in den usuellen Wortbestand der Sprache eingehen“ (z. B. Abwrackprämie, Masernschutzgesetz).

3 Wortbildung

tischen Kontexten, aber auch in Zeitungen und in fachsprachlichen Texten (z. B. Jah‐ resarbeitsentgeltgrenze, Nikotinersatzpflasterverträglichkeit, Löslichkeitsgleichgewicht) begegnet.

Abb. 3.4: Baumstruktur des komplexen Wortes Unabhängigkeitserklärung

Aufgaben 1.* 2.** 3.**

Nennen Sie die wichtigsten Wortbildungstypen des Deutschen und geben Sie jeweils drei Beispiele. Erklären Sie (imaginären) Deutschlernenden, warum es das Brot, aber die Brot‐ scheibe und der Brotkorb heißt. Fandrych & Thurmair (1994) entwickeln basierend auf linguistischen Wortbil‐ dungsanalysen ein für didaktische Zwecke funktionales Interpretationsmodell für Nominalkomposita. Zum Aufbau der Wortbildungskompetenz benötigen die Lernenden Wissen über die Möglichkeiten kontextfreier Interpretation sowie Strategien der Bedeutungserschließung im Textkontext. Ausgangspunkt für die Interpretation ist immer das Zweitglied. In Tab. 3.4 befinden sich Fälle mit semantisch „ergänzungsbedürftigem“ Zweitglied – das Erstglied besetzt sozusa‐ gen eine semantische Leerstelle. Andere Komposita lassen sich mit Hilfe von Grundrelationen erschließen, dargestellt in Tab. 3.5. Ergänzen Sie in der rechten Spalte beider Tabellen die Lücken für Beispielkomposita.

53

54

3 Wortbildung

Beschreibung der semantischen Leerstellen

Beispielkomposita

Das Zweitglied ist aus einem Verb abgeleitet: z.B. Trinker, Herstellung, Pflege; Das Erstglied ist Komplement dieses Verbs: __ trinken, __ herstellen, __ pflegen

___________, ___________, Altenpflege

Das Zweitglied ist ein relationales Nomen: z.B. Fan von __, Hälfte von __, Rest von ___

___________, Pizzahälfte, ___________

Das Zweitglied kann auch mit präpositionalem Prüfungsangst, Freiheitssehnsucht, Natur‐ Komplement auftreten liebe z.B. Angst vor ___, Sehnsucht nach ___, Liebe zu ___ Das Zweitglied steht in einer stereotypen Relation Kosmetikfabrik, ___________, Antiquitä‐ zum Erstglied tenmarkt, ___________ z.B. eine Fabrik, in der ___ hergestellt wird, ein Markt, in/auf dem ___ verkauft werden Tab. 3.4: Über semantische Leerstellen interpretierbare Komposita (nach Fandrych & Thurmair 1994: 38-39)

Grundrelationen

mögliche Umschreibungen

Beispielkomposita

SITUATION Das Zweitglied steht in lokaler oder temporaler Relation zum Erstglied

Das Zweitglied: - ist in … - führt zu … - stammt von … - ist zum Zeitpunkt / im Zeit‐ raum …

Stadtautobahn, _________ Gartentür, Mondrakete Kalbsfilet, Fabriknagel Mittagessen, Nachtkonzert, ________

KONSTITUTION Das Zweitglied hat das Erstglied als wesentliche Eigenschaft bzw. wesentli‐ chen Bestandteil.

Das Zweitglied: - besteht vollständig aus … - hat … - hat die Art von … - hat die Form / Farbe von …

ZWECK / FUNKTION Das Zweitglied: Das Zweitglied wird durch - dient zu … das Erstglied hinsichtlich seines - schützt vor … Anwendungs-/Funktionsbereiches bestimmt.

Goldring, Holztisch, _________ Erdbeertorte, Rahmenbrille Vogel-Strauß-Politik Würfelzucker, ________, _________ Schlafzimmer, Arbeitstisch, Nähmaschine, _________ Schmerztablette, Hustensaft, Re‐ genjacke, _________

INSTRUMENT Das Zweitglied: Das Zweitglied wird in sei‐ - funktioniert durch / mit Hilfe Benzinmotor, Ölheizung, Wind‐ ner F UNKTIONSWEISE durch von … mühle, Wasserstoffauto, Hand‐ das Erstglied charakteri‐ bremse, Pferdepflug, _________ siert. Tab. 3.5: Über Grundrelationen interpretierbare Komposita (nach Fandrych & Thurmair 1994: 39-40)

3 Wortbildung

4.***

5.***

Um das lokale Verstehen von Nominalkomposita zu fördern, schlagen Fandrych & Thurmair (1994) Übungen vor, die rezeptiv und produktiv auf die oben skiz‐ zierten Relationen abzielen. Ein konkreter Vorschlag bezieht sich auf die Arbeit mit vorstrukturierten Assoziogrammen. Entwicklen Sie nach den gegebenen Vorlagen (ebd. 43) eine Übung mit eigenen Beispielen. Auch Wortbildungsprozesse unterliegen Sprachwandelerscheinungen und kön‐ nen ihren reihenbildenden Status zugunsten neuerer Muster verlieren. Informie‐ ren Sie sich in Fuhrhop & Werner (2016), welche substantivischen Ableitungen (ebd. 131-138) und welche adjektivischen Ableitungen ( ebd. 138-141) im Gegen‐ wartsdeutschen als produktiv (im Sinne von reihenbildend) anzusehen sind und damit auch im DaZ-/DaF-Unterricht einen entsprechenden Stellenwert einnehmen sollten. Wählen Sie einen der produktiven Wortbildungstypen aus und gestalten Sie hierzu eine Übung für Deutschlernende. Überlegen Sie sich vorab das Sprach‐ niveau und nehmen Sie eventuell Bezug auf eine thematische Einheit eines ausgewählten Lehrbuchs.

Gruppenaufgabe

6.***

Gärtner (2012) unterbreitet einen Unterrichtsentwurf für Deutschlernende auf C-Niveau zum Umgang mit Okkasionalismen (= Ad-hoc-Bildungen / Gelegen‐ heitsbildungen), wie sie zahlreich in Zeitungen zu finden sind (ebd. 507-512). Simulieren Sie in Ihrer Studiengruppe die Unterrichtsstunde am vorgegebenen oder an einem anderen selbstgewählten Zeitungstext und reflektieren Sie diese im Anschluss. An welchen Aufgaben würden Sie festhalten, welche würden Sie ggf. modifizieren?

55

4 Flexion Aktivierung Auffrischung von Grammatikgrundkenntnissen

1. Tragen Sie die im Kasten stehenden Wortarten in die Abbildung 4.1 ein. Präpositionen, Adverbien, Artikel, Pronomen, Verben, Substantive, Partikeln, Adjektive, Konjunktionen

Abb. 4.1: Einteilung in Wortarten nach morphologischen Kriterien (nach Pittner & Berman 2021: 18)

2. Geben Sie für die flektierbaren (veränderbaren) Wortarten an, nach welchen Merkmalklassen diese flektieren. 3. Nennen Sie für jede Merkmalklasse die jeweiligen Merkmale mit einem konkreten Beispiel (z. B. Kasus: Nominativ – der Vater, Genitiv – des Vaters, Dativ – dem Vater, Akkusativ – den Vater). ***** Die Flexion ist der Teilbereich der Morphologie, der sich mit Abwandlungen von Le‐ xemen (aus flektierenden Wortarten) in Abhängigkeit der grammatischen Funktion(en) in Phrase und Satz beschäftigt. Man unterscheidet zwischen der Flexion der Verben (Konjugation) und der Flexion nominaler Wortarten (Deklination). Hierzu zählen

4.1 Verbflexion

neben Nomina, die nach Numerus und Kasus flektieren, auch Artikel, Adjektive und Pronomina, die sich zusätzlich in ihrer Form noch dem Genus des Nomens anpassen müssen. Verben werden hinsichtlich Numerus, Person, Tempus, Modus und Genus verbi konjugiert. Für die Sprachlernenden spielt es dabei eine gewichtige Rolle, wie transparent die verschiedenen grammatischen Kategorien kodiert werden. Deutsch gehört zu den Sprachen, die es dem Lernenden diesbezüglich nicht leicht machen. Nach Skalička (1966) lassen sich Sprachen nach der Art, wie sie grammatische Bedeutungen zum Ausdruck bringen, in fünf Typen unterteilen: agglutinierend, flektierend, isolierend, polysynthetisch, introflexiv. Das Deutsche wird dem flektierenden Typ zugeordnet. Charakteristisch sind Flexionsaffixe, die mehrere grammatische Bedeutungen beinhal‐ ten – im Kontrast zum agglutinierenden Typ (z. B. Türkisch und Ungarisch), bei dem (tendenziell) ein bestimmtes Suffix für nur eine grammatische Bedeutung steht. Dementsprechend werden an den Stamm dann mehrere monofunktionale Suffixe „an‐ geklebt“ (lat. agglutinare = ankleben). Diese transparente Form-Funktions-Zuordnung erschließt sich dem Sprachlernenden leichter als die Polyfunktionalität der Flexive, wie sie für das Deutsche (und auch für das Tschechische, Russische, Griechische u. a.) typisch sind. Deutschlernenden, die nicht aus einer Sprache des flektierenden Typs kommen, wird beim Erschließen grammatischer Funktionen also eine beachtliche Umstellung abverlangt. Zwar wird Deutsch gemeinhin als Vertreter des flektierenden Typs angesehen, es zeigen sich aber auch hier Strukturmerkmale der anderen Sprachtypen. Wurzel (1996) bezeichnet Deutsch daher sogar als morphologischen Mischtypus. Werfen wir zur Veranschaulichung zunächst einen Blick auf den Bereich der Nominalflexion: Pluralsuffixe sind als agglutinierend zu klassifizieren, die Umlautung hingegen als introflexiv (z. B. Gast vs. Gäst-e) und ein diesem Nomen vorangestellter Artikel zum Anzeigen des Kasus ist als isolierend anzusehen, da die Markierung ohne Verbindung zum Stamm erfolgt. Zur Verbalflexion ist zu sagen, dass diese zwar primär flektierend ist (z. B. sing-st: Präsens, Indikativ, 2. Person, Singular), die Kennzeichnung des Präteritums erfolgt bei starken Verben aber introflexiv mit dem Ablaut (sang) und bei schwachen Verben mit dem Suffix -t (er sag-t-e) agglutinierend. 4.1 Verbflexion Sieht man von anspruchsvollen Verbformen (z. B. Passiv oder Konjunktiv), für de‐ ren sicheren Gebrauch auch deutschsprachige Kinder bis weit ins Schulalter hinein brauchen, einmal ab, scheint die Verbalflexion im Vergleich zur Nominalflexion den Lernenden insgesamt weniger Schwierigkeiten zu bereiten. Dies mag zum einen an der wortfinalen Position der merkmalsrelevanten Flexive liegen, aber sicher auch an der satzfinalen Position finiter Verben in Nebensätzen. Wort- und satzfinale Positionen gelten für den Spracherwerbsprozess im Allgemeinen als vorteilhaft, weil sie salienter

57

58

4 Flexion

(auffälliger), also leichter wahrnehmbar sind und somit eher im Sprachverarbeitungs‐ prozess Berücksichtigung finden. Die folgenden Äußerungen zweier Kinder sollen zum einen illustrieren, welche Aspekte der Verbalflexion dennoch gewisse Hürden darstellen, und zum anderen für den Lerngegenstand der Nominalflexion sensibilisieren, auf den im Anschluss genauer eingegangen werden soll. Bildung des Perfekts

Beide Kinder sind im Alter von ca. 3 Jahren in eine deutschsprachige Kita gekommen. Zum Zeitpunkt der Datenerhebung waren sie ca. 6 Jahre alt. Die Erstsprache (L1) des ersten Kindes, das im Gespräch mit einer Erwachsenen, ausgehend von einem gemeinsam beobachteten Ereignis, von Selbsterlebtem berichtet, ist Russisch. Die L1 des zweiten Kindes, das eine Bildergeschichte erzählt, ist Türkisch. Gesprächsauszug mit nicht-zielsprachlichen Partizipbildungen und Auxiliaren K:

[…] und da hat er runtergeplumpst.

E:

Warum ist er da runtergeplumpst?

K:

Weil er gezieht hat.

E:

Ist dir sowas auch schon mal passiert? Hast du dir auch schon mal weh getan.

K:

Paarmal. Einmal hab ich mich hier angestoßen.

E:

An was denn?

K:

An Boden (.) hab ich runtergefallt (.) zwei mal.

E:

Hm_hm und warum? Wie kam_s dazu?

K:

Ich hab gerennt einfach.

E:

Bist du gerannt? Und dann?

K:

Hab ich gestolpert.

E:

Bist du gestolpert.

K:

Ja / so runtergefallt.

(Zwei Protagonisten zogen an ei‐ nem Stück Stoff, bis einer losließ.)

(Kind zeigt auf Knie.)

4.1 Verbflexion

Auszug einer Bildergeschichte mit nicht-zielsprachlichen Partizipbildungen und Artikeln

Da will der Hund den Honig. […] Der Kind hat wieder darein geruft und der Hund hat den Bienenhaus kaputt gemacht. Und Eichhörnchen guckt den Kind an.

Jetzt klettert der da hoch – der Kind und der Eule kommt ihn nach. […] Jetzt hat der Rentier den Kopf genehmt und hat den runtergeschmeisst.

Abb. 4.2: Bildsequenz (nach Mayer 1969)

Bei der Perfektbildung der Kinder fällt auf, dass sie beim Partizip II nahezu konsequent dem Muster der schwachen Verben folgen: *gezieht, *runtergefallt, *gerennt, *runterge‐ fallt, *geruft, *genehmt, *runtergeschmeisst. Sie haben das Präfix ge- und das Suffix -t als formbildend identifiziert und nutzen diese Markierung nun beharrlich für alle Verben. Das ist nur allzu verständlich, denn die Lernenden – auf der Suche nach transparenten Form-Funktions-Zusammenhängen – entdecken die regelhafte Partizipbildung der schwachen Verben recht schnell, während sich die Bildungsweisen der starken und der unregelmäßigen Verben deutlich schwerer erschließen, wobei das Suffix -en, das sich am Partizip II aller starken Verben findet, dem Lernenden wiederum leichter zugänglich ist als die verschiedenen Vokalwechsel (schreiben – geschrieben, singen – gesungen, treffen – getroffen). In der ersten Erzählung fällt eine weitere zielsprachliche Abweichung bei der Perfektbildung auf – ebenfalls sehr typisch für den ungesteuerten Deutscherwerb: Das Kind verwendet als Hilfsverb ausschließlich eine Form von haben (z. B. hat er runtergeplumpst, hab ich runtergefallt). Die Distribution von haben und sein hat sich das Kind bislang noch nicht erschließen können. Laut DUDEN „Die Grammatik“ (2016: 473) ist die Perfektbildung mit haben aber auch der Normalfall und die Perfektbildung mit sein der Sonderfall. Nach Fandrych & Thurmair (2018: 36) wird sein verwendet bei:

59

60

4 Flexion



Verben, die eine Orts- oder Positionsveränderung bezeichnen (Bewegungsverben): gehen, fahren, klettern, fallen, ankommen, umziehen, … ▸ Verben, die eine Zustandsänderung bezeichnen: aufwachsen, einschlafen, erblühen, verblühen, sterben, wachsen, … ▸ den Verben sein, werden, bleiben (ich bin gewesen, er war gewesen, sie sind geblieben)

Bezogen auf den ausgewählten Bereich der Verbalflexion sei an dieser Stelle festge‐ halten, dass die Lernenden die Hauptregeln der Perfektbildung entdecken und diese dann zunächst übergeneralisieren. Wie verhält es sich mit der Nominalflexion? Die Bildergeschichte des zweiten Kindes, in der verschiedene Nomen Verwendung finden, ist hier besonders aufschlussreich. Wie am Artikelgebrauch zu erkennen, scheinen nicht alle grammatischen Kategorien Beachtung zu finden und dennoch lässt sich eine gewisse Systematik feststellen. Der nächste Abschnitt gibt Aufschluss darüber, wie sich Lernende das System der Nominalflexion erschließen.

Aufgaben 1.* 2.**

Vor welchen Herausforderungen bzw. Umstellungen stehen Deutschlernende, deren Herkunftssprache zum agglutinierenden Typ gehört? „Ich habe auf der Couch gelegen“ oder „Ich bin auf der Couch gelegen“? Welche der beiden Perfektbildungen bevorzugen Sie? Es handelt sich hier um regionale Varianten, die beide als richtig anzusehen sind.1 Wie würden Sie mit diesen Varianten im Deutschkurs umgehen?

Partner- oder Gruppenaufgabe

3.**

Nachfolgend sehen Sie Auszüge zweier DaF/DaZ-Lehrwerke zur Perfektbildung. Wie beurteilen Sie (aus der Lernendenperspektive) die Heranführung an die haben/sein-Distribution? Welche Aspekte der Übungen würden Sie als gelungen bezeichnen (bitte begründen) und wo sehen Sie Optimierungsbedarf? Tauschen Sie zu zweit und/oder in der Gruppe Ihre Meinungen aus.

1

https://grammis.ids-mannheim.de/fragen/87 (Abruf: 01.08.2020)

4.1 Verbflexion

Abb. 4.3: Auszug aus: Prima ankommen. Deutsch. Arbeitsbuch DaZ 5-7, S. 26 © Cornelsen/ Gregor Mecklenburg

61

62

4 Flexion

Abb. 4.4: Auszug aus: DaF kompakt A1-B1, Kursbuch, S. 40 © Ernst Klett Sprachen

4.2 Nominalflexion Unter Nominalflexion (oder auch Deklination) versteht man, wie es der Begriff selbst schon verrät, die Flexion der nominalen Wortarten. Hierzu gehören Nomen, Artikel, Adjektive und Pronomen. Diese Wortarten sind in Nominalphrasen (oder auch Nominalgruppen) anzutreffen. Den Kern (oder Kopf) einer Nominalgruppe (NG) bildet ein potenziell erweiterbares Nomen oder ein Pronomen, vgl. (1). (1)

NG[NG[Der

kleine, noch ganz junge Hund] von NG[meiner großen Schwester]] ist gestern weggelaufen. NG[Sie] hat NG[ihn] schon überall gesucht.

4.2 Nominalflexion

63

Nominale Wortarten flektieren nach Numerus, Kasus und Genus mit folgender Ein‐ schränkung: Ein Nomen flektiert nicht nach Genus. Das Genus ist dem Nomen inhä‐ rent. Innerhalb einer Nominalgruppe stimmen Artikelwörter und Adjektive mit dem Nomen in Numerus, Genus und Kasus überein. Man spricht von nominalgruppeninterner Kongruenz. Ein Pronomen muss ebenfalls mit dem Bezugsnomen in Numerus und Genus übereinstimmen (= nominalgruppenexterne Kongruenz), aber nicht im Kasus, vgl. (1), denn der Kasus wird im jeweiligen Satz durch das Verb oder durch eine Präposition bestimmt. Das Deutsche verfügt über ein umfangreiches Repertoire an Artikelwörtern und Pronomen, die die beschriebenen Kongruenzrelationen anzeigen müssen (siehe Tab. 4.1). Artikelwörter

Pronomen

indefiniter Artikel (ein Hund, eine Frau, ein Buch)

Personalpronomen (er, sie, es)

definiter Artikel (der Hund, die Frau, das Buch)

Relativpronomen (der, die, das, welcher, welche, welches)

demonstratives Artikelwort (DER Hund, dieser Hund, derselbe Hund)

Demonstrativpronomen (der, dieser, derselbe, derjenige)

possessives Artikelwort (Das ist mein / sein / ihr Hund.)

Possessivpronomen (Das ist meiner / seiner / ihrer.)

interrogatives Artikelwort (Welches Buch soll ich kaufen?)

interrogatives Pronomen (Welches soll ich nehmen?)

indefinites Artikelwort kein Mann, keine Frau, irgendein Buch

indefinites Pronomen keiner, keine, irgendeins

Tab. 4.1: Artikelwörter und Pronomen (in Auswahl), in Anlehnung an DUDEN (2016: 251-253)

Bereits an dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass alle genannten Artikelwörter und Pronomentypen das grammatische Geschlecht spezifizieren. Das bedeutet, potenzielle Schwierigkeiten im Erwerb des Genussystems werden an all diesen Stellen zutage treten. Gleichzeitig kann dieses umfangreiche Set an Genusindikatoren aber auch genutzt werden, um die Genuskategorie wahrnehmbar zu machen, sie aufzubauen und zu stabilisieren. Wir kommen auf die Genuskategorie gleich noch einmal zurück, doch zuvor sei der Blick auf die Adjektivflexion gelenkt – für Deutschlernende wohl eine der größten Herausforderungen. Dies verwundert kaum, denn wie in (2) zu erkennen, flektiert das Adjektiv je nachdem, mit welchem Artikelwort es gebraucht wird, mal schwach und mal stark.2 Hierhinter steckt das Prinzip der Monoflexion, demzufolge 2

Das schwache Flexionsmuster umfasst nur die Endungen -e und -en. Die Endung -en steht im Plural, im Dativ und Genitiv sowie im Akkusativ Singular beim Maskulinum. Sonst steht die Endung -e (DUDEN 2016: 368). Das starke Flexionsmuster entspricht dem von Demonstrativartikeln (dieser, dieses, diese) – mit Ausnahme vom Genitiv Singular Maskulinum und Neutrum, wo die Endung -en verwendet wird (ebd. 368). Welches der beiden Flexionsmuster Anwendung findet, ist syntaktisch

64

4 Flexion

die morphologisch-syntaktische Kennzeichnung innerhalb der Nominalgruppe nur an einem Element erfolgt, und zwar an dem am weitesten links stehenden – vorausgesetzt das Element gehört nicht zu den endungslosen Artikelwörtern wie etwa ein, kein, ir‐ gendein, mein im Nominativ des Maskulinums, vgl. (2), sowie im Nominativ/Akkusativ des Neutrums. In diesen Fällen fungiert das Adjektiv als Hauptmerkmalträger (DUDEN 2016). In (2) und (3) sind die Hauptmerkmalträger der Nominalgruppen jeweils fett markiert. (2)

Der kleine Hund Dieser kleine Hund Welcher kleine Hund ⇒

braucht Hilfe./?



muss geholfen werden./?

Ein kleiner Hund Mein kleiner Hund Irgendein kleiner Hund (3)

Dem kleinen Hund Diesem kleinen Hund Welchem kleinen Hund Einem kleinen Hund Meinem kleinen Hund Irgendeinem kleinen Hund

Auch bei artikellosen Nominalgruppen übernimmt das Adjektiv als das am weitesten links stehende Element die Funktion des Hauptmerkmalträgers, vgl. (4). (4)

www.saechsische.de/ (Abruf: 27.02.2020) Erwerbserschwerende Faktoren: Polyfunktionalität, Homonymie, Synkretismen

Sprachlernende suchen beständig nach Form-Bedeutungs-Zusammenhängen. Dies gilt auch für grammatische Elemente. Erwerbsbegünstigend wäre die Konstellation: eine Form – eine (grammatische) Bedeutung. Die deutsche Nominalflexion ist davon jedoch weit entfernt. Wird ein Artikelwort oder ein Pronomen im Satz verwendet (s. Tab. 4.2), dann steht diese Form gleich für mehrere grammatische Kategorien, und zwar:

determiniert. Es gilt die Grundregel: „Wenn dem Adjektiv ein Artikelwort mit Flexionsendung vorangeht, wird das Adjektiv schwach flektiert, sonst stark“ (ebd. 368).

4.2 Nominalflexion

65

Numerus, Genus, Kasus. (Zusätzlich zeigen der definite Artikel und die Pronomen an, dass über bekannte bzw. zuvor eingeführte Objekte oder Personen gesprochen wird.)

Tab. 4.2: Fusionierung mehrerer grammatischer Merkmale

Eine solche Verschmelzung von Merkmalen in einem Flexiv wirkt sich erschwerend auf den Erwerb aus, da zum Aufbau der Flexionsparadigmen die einzelnen grammatischen Informationen in jeder Form erkannt werden müssen. Wegener (1995b: 6) beschreibt das Dilemma der Lernenden als Teufelskreis: Um aus einem Artikel die Genusinfor‐ mation zu extrahieren, braucht man die in ihm enthaltene Kasusinformation, an die man aber wiederum nur mit dem Genuswissen herankommt. Zu dem Problem der sogenannten Polyfunktionalität (eine Form – mehrere Funktionen) gesellt sich noch ein weiteres Erwerbshindernis: Wird die gleiche Artikelform für unterschiedliche Funkti‐ onskomplexe verwendet, handelt es sich um einen Fall von Homonymie. Beispielsweise ist die Artikelform der im Satz Der Mann hilft Tina Träger der grammatischen Informationen Maskulinum und Nominativ, im Satz Tina hilft der Frau hingegen von Femininum und Dativ. Für die Lernenden ist es höchst verwirrend, wenn mit der gleichen Form vollkommen unterschiedliche Bedeutungen kodiert werden. Als dritte Erschwernis kommen die sogenannten Synkretismen hinzu (s. Tab. 4.3). Hierunter versteht man die Aufhebung der Markierung einer im Sprachsystem angelegten gram‐ matischen Distinktion. Während beispielsweise im maskulinen Paradigma Nominativ und Akkusativ formal unterschieden werden, besteht diesbezüglich im Neutrum sowie im Femininum eine Formengleichheit – ein Kasussynkretismus. Maskulinum Nominativ

der

Akkusativ

den

Dativ

dem

Genitiv

des

Tab. 4.3: Kasusparadigma mit Synkretismen

Neutrum

Femininum

das

die

der

66

4 Flexion

In Anbetracht der aufgezeigten Erwerbshürden (Polyfunktionalität, Homonymie, Syn‐ kretismen) ist es erstaunlich, dass sich auch Lernende im ungesteuerten Zweitsprach‐ erwerb auf die Herausforderung Nominalflexion einlassen. Dies gilt zumindest für Lernende im Kindesalter. Für viele Erwachsene im ungesteuerten Erwerb scheinen in Anbetracht der Komplexität des Lerngegenstandes Aufwand und kommunikativer Nutzen in keinem angemessenen Verhältnis zu stehen, sodass sie sich z. B. mit einer Strategie des weitgehenden Artikelverzichts, mit einem (scheinbar) sporadischen Einsetzen oder mit einer Übergeneralisierung einer frequenten Artikelform (z. B. die) arrangieren. Kinder aber versuchen Regelhaftigkeiten zu erkennen und entwickeln Hypothesen, wann welche Form eingesetzt werden muss. Die zuvor in Kap. 4.1 gezeigte Bildbeschreibung kann durchaus als repräsentativ für Deutschlernende angesehen werden, die im Vorschulalter mit Deutsch in Kontakt kamen und deren Erstsprache über kein Genussystem verfügt. Während sich die Wortstellung zielsprachlich entwi‐ ckelt hat, zeigt die Nominalflexion auch nach mehreren Jahren des Sprachkontakts noch Abweichungen. Diese sind systematisch und geben Aufschluss über die aktu‐ elle Entwicklung des Lernenden. Der Junge, von dem die Äußerungen stammen, verwendet im Singular nur zwei Artikelformen: der scheint reserviert zu sein für das Subjekt (bzw. für den Handlungsausführenden) und den für das Objekt (bzw. das zweitgenannte Nomen). Er hat es offenbar aus eigener Kraft geschafft, durch die (unbewusste) Analyse der Häufigkeits- und Positionsverhältnisse, ein Kasus-System, wenn auch ein unvollständiges, aufzubauen. Die Genuskategorie wird von ihm zum Zeitpunkt der Datenerhebung noch vollständig ausgeblendet. Dies verwundert nicht, denn wie schwierig muss es für Deutschlernende aus einer Nicht-Genus-Sprache (u. a. Armenisch, Dari, Persisch, Türkisch) sein, in den polyfunktionalen Flexiven (z. B. der) eine ihnen unbekannte grammatische Kategorie aufzuspüren.

Aufgaben 1.*

2.* 3.* 4.**

Was versteht man unter nominalgruppeninterner und unter nominalgruppenex‐ terner Kongruenz? Illustrieren Sie anhand selbstgewählter Beispiele die jeweili‐ gen Spezifika. Erklären Sie anhand selbstgewählter Beispiele das Prinzip der Monoflexion. Inwiefern wirkt sich Polyfunktionalität erschwerend auf den Erwerb aus? Lesen Sie die folgenden Auszüge der zur Bildergeschichte Frog, where are you? (Mayer 1969) entstandenen (mündlichen) Erzählungen dreier Deutschlernender. Die zugehörigen Bilder finden Sie in Abb. 4.5. Analysieren Sie den Artikel- und Pronomengebrauch in jeder Erzählung und vergleichen Sie diesbezüglich die Erzählungen miteinander.

4.2 Nominalflexion

Froschgeschichte – Mündliche Erzählung 1 Informationen zur Person: L1 Russisch, 49 Jahre, Techniker, mit 29 Jahren nach Deutschland gekommen, keine Deutschkurse, die ersten Jahre Deutsch am Arbeitsplatz, spricht Deutsch mit seinen Töchtern und deren Freunden Eine Jung eine Junge hat Frosch gehabt. Er hat immer behalten Frosch im Glas. Dazu er hat noch eine Hund gehabt und abends er schaut ganz freundlich auf den Frosch. Frosch auch freundlich. Und und guckt auf den Frosch. In de Nacht Junge schläft. Frosch kommt raus aus dem Glas und willt wahrscheinlich spazieren gehen. Morgens, wann is Junge wach, er schaut im Glas und gibt keinen Frosch. Er sucht zusammen mit Hund ganze Wohnung. Wo ist Frosch? Er kann nicht finden. Hund kommt mit seine Kopf in Glas, wahrscheinlich kann nicht raus ziehen sein Kopf aus dem Glas. Und Junge sucht weiter Frosch. Er guckt in Fenster aus dem Haus mit Hund zusammen. Und irgendwann passiert so, dass Hund fällt mit Glas runter von dem Fenster. Glas geht kaputt, Junge nimmt Hund auf den Arme und Hund ganz froh, dass es Junge hat ihn auf die Arme genommen. Froschgeschichte – Mündliche Erzählung 2 Informationen zur Person: L1 Türkisch, 58 Jahre, Reinigungskraft, mit 21 nach Deutschland gekommen, Deutsch am Arbeitsplatz, aber auch in Kursen; Ausbildung in der Türkei zur Hebamme Der Junge sitz und Hund fressen. Frosch denken. Und der Junge mit Hund ins Bett. Frosch sitz eine Beine in Flasche, andere Bein draußen. Dann Junge und Hund wieder in Bett …. von Junge Rücken geblieben. Junge aufstehen morgen. Hund hat ihre Kopf in der Flasche und dann Junge aufstehen Fenster auf geguckt draußen. Hat gesehen der Hund hat Kopf in der Flasche und Junge helfen raus von Flaschen. Um Arm nimmt Junge Hund. Froschgeschichte – Mündliche Erzählung 3 Informationen zur Person: L1 Türkisch, 6 Jahre, Deutschkontakt in Kita seit ca. 3 Jahren Der Hund sitzt und schaut ins Glas rein. Und der Junge sitzt auch und schaut auch ins Glas rein. Der Frosch geht raus von den Glas und der Hund und der Kind schlafen.

67

68

4 Flexion

Und dort schaut der Hund und der Kind ins Glas rein und dann war dort nicht der Frosch. Und dann habt der in den Schuh reingeschaut. Dort is es nich und der Hund is in den Glas mit den Kopf … reinge …. reingegangen. Und dann hat der Hund und der Kind geschaut … raus und der Kind hat geschreit. Und dann ist der Hund runtergefallen und der Kind hat zu den Hund geschaut. Und dann ist der Kind auch runtergegangen und hat den Hund genommen. Und hat der Hund geleckt.

Abb. 4.5: Bildsequenz (nach Mayer 1969)

4.2.1 Genus

Warum heißt es der Kamm, aber die Bürste? Was ist Genus eigentlich? Genus ist ein spe‐ zieller Fall von Nominalklassen. (Eine andere Art der Klassifikation von Substantiven sind nominale Klassifikatoren.) Von Genus spricht man meistens dann, wenn es eine erkennbare Korrelation zum natürlichen Geschlecht gibt und die Zahl der Klassen sich auf maximal vier begrenzt (Dixon 1982). Das Hauptkriterium für die Annahme eines Genussystems ist nach gängiger Lehrmeinung jedoch Kongruenz. Bemerkenswert ist, dass Genus die einzige grammatische Kategorie ist, die über Kongruenz definiert wird, obwohl auch bei anderen Kategorien Kongruenzbeziehungen angezeigt werden (Claudi 1985). Damit sind wir der Funktion von Genus schon auf der Spur. Aber erst im letzten Drittel dieses Kapitels werden wir der Frage nachgehen, wozu es die grammatische Kategorie Genus eigentlich braucht, schließlich kommen Sprachen doch

4.2 Nominalflexion

auch ohne sie zurecht. Von den 257 für den Online-Weltatlas sprachlicher Strukturen untersuchten Sprachen verfügen nur 112 über ein Genussystem (Corbett 2013). Bei 84 von diesen Sprachen haben die Genusklassen einen Bezug zum biologischen Geschlecht – so auch im Deutschen. Die Zuordnung der Nomen zu den drei Genera Maskulinum, Femininum, Neutrum erscheint so manch einem als weitgehend willkür‐ lich. Ist dem aber so? Gäbe es keinerlei Systematik in der Genuszuweisung, müsste zu jedem Nomen das Genus auswendig gelernt werden, was die Gedächtniskapazitäten der Lernenden enorm beanspruchen würde (vgl. Wegener 1995b). Kleines Experiment mit Kunstwörtern Notieren Sie jeder für sich, welches Genus (M, N, F) Sie den folgenden Kunstwörtern zuweisen würden. Knirf – Schoge – Lupchen – Troch – Borchheit – Bachter Vergleichen Sie Ihre Ergebnisse in der Gruppe.3

Die Feststellung, dass es Regelhaftigkeiten gibt, führt zur Frage, welche davon im natürlichen Erwerbsprozess von besonderer Relevanz sind. Wie gelingt Deutschlern‐ enden im ungesteuerten Erwerb der Einstieg ins Genussystem und welche didaktischen Implikationen lassen sich hieraus ziehen? Entscheidend ist hier sowohl das Alter bei Erwerbsbeginn und mit zunehmendem Alter das (Nicht-)Vorhandensein von Genus in der Erstsprache (vgl. u. a. Kaltenbacher & Klages 2006; Wegener 1995b). Bei Sprachkontakt vor dem fünften Lebensjahr entdecken die Lernenden formbezogene Regelhaftigkeiten. Sie erkennen, dass einsilbige Nomen (Kopf, Schal, Stift) oft mit maskulinen Genusindikatoren (ein, der, dieser) auftreten, und Nomen, die auf -e enden (Jacke, Mütze, Vase), mit femininen (z. B. eine, die, diese). Haben die Lernenden die zu‐ grundeliegenden Genuszuweisungsregeln (einsilbige Nomen → Maskulinum, Nomen auf -e endend → Femininum) verinnerlicht, kommt es oft zu Übergeneralisierungen wie *der Tier oder *die Hase. Dies sind „gute“ Fehler, denn sie zeigen an, dass die Lernenden Regelhaftigkeiten entdeckt haben. Älteren Lernenden gelingt der Einstieg meist über das natürliche Geschlechtsprin‐ zip (männliche Personen → Maskulinum, weibliche Personen → Femininum). Ein typischer Fehler nach Entdecken der Regel: *die Mädchen. (Kapitel 10 widmet sich in mehr Ausführlichkeit dem Genuserwerb und den einschlägigen Studien hierzu.)

3

Eine (weitgehende) Übereinstimmung in der Genuszuweisung wäre ein Hinweis darauf, dass die Genuszuweisung nicht willkürlich sondern eher regelbasiert erfolgt – je größer die erzielte Übereinstimmung, desto strikter die Regel.

69

70

4 Flexion

Genuszuweisung mit Ausnahmen phonolog. Regeln

Beispiele

Gegenbeispiele

Genuszuweisung ohne Ausnahmen morphol. Regeln Beispiele -chen

→N

Mäuschen

Einsilber

→M

Fuß, Knopf, Kamm

das Knie, die Wurst -er

→M

Lehrer

-e

→F

Hose, Nase, Bürste

der Hase, der Löwe -in

→F

Lehrerin

-er

→M

Koffer, Teller, Keller

das Futter

-ung

→F

Lösung

-en

→M

Garten, Rasen

das Fohlen

-heit

→F

Freiheit

-keit

→F

Einigkeit

Tab. 4.4: Auswahl formbezogener Genusregeln (M = Maskulinum; F = Femininum; N = Neutrum)

Wie kann man Deutschlernende im Erwerb des Genussystems unterstützen? Festzuhal‐ ten wäre zunächst, dass weder im Erstspracherwerb noch im natürlichen Zweitsprach‐ erwerb das Genus für jedes Nomen auswendig gelernt wird (vgl. Wegener 1995b). Lernende suchen nach ökonomischen Wegen, sich eine Sprache anzueignen. Man kann den sprachlichen Input so aufbereiten, dass das Entdecken der Regelhaftigkeiten leichter fällt – zu empfehlen im Vorschulalter (s. unten Aufgabe 6). Oder man führt die Lernenden schrittweise an die Zuweisungsregeln heran und gibt ausreichend Anwendungsmöglichkeiten zur Festigung. Die Genuszuweisung erfolgt im Deutschen auf der Basis formaler und semantischer Kriterien (s. Tab. 4.4 und 4.5). Regeln

Beispiele

Gegenbeispiele

männliche Personen und Tiere

→M

Mann, Bruder, Kater, Hengst

weibliche Personen und Tiere

→F

Frau, Schwester, Katze, Stute das Mädchen

junge Personen und Tiere

→N

Baby, Kind, Kalb, Fohlen

der Welpe

Zeitabschnitte

→M

Herbst, Monat, Mai, Mitt‐ woch

die Woche, das Jahr

Bäume und Blumen

→F

Tanne, Eiche, Rose, Tulpe

der Ahorn, das Veilchen

Oberbegriffe

→N

Obst, Getränk, Besteck, Tier

Tab. 4.5: Auswahl bedeutungsbezogener Genusregeln (nach Wegener 1995a: 69)

Ältere Deutschlernende fragen sich (berechtigterweise) oft, wozu man lernen muss, dass z. B. Schale weiblich und Krug männlich ist? Erhalten sie darauf keine befriedi‐ gende Antwort, kann eventuell die Motivation nachlassen, sich auf das komplexe Re‐ gel-System und seine Ausnahmen einzulassen, denn schließlich ist die Kommunikation

4.2 Nominalflexion

nicht gefährdet, wenn man den falschen Artikel gebraucht. Aber: Die Textverstehens‐ fähigkeit ist beeinträchtigt, wenn man das Genussystem nicht sicher beherrscht. (5)

Der Krug1 fiel in die Schale2, aber er1 / sie2 zerbrach nicht.

(6)

Ich meine das Haus1 neben der Kirche2, das1 / die2 gerade renoviert wird.

(7)

Der Mann1 sah die Frau2 neben seinem1 / ihrem2 Auto stehen.

Die drei Beispiele (aus Wegener 1995a: 66) veranschaulichen die Hauptfunktion von Genus. Sprachen, die über ein Genussystem verfügen, können mit Hilfe genusanzeig‐ ender Pronomen auf effiziente und oftmals disambiguierende Weise referenzielle Bezüge herstellen – auch über Satzgrenzen hinweg. Das Pronomen weist dabei immer das gleiche Genus auf wie sein Bezugsnomen. Der Rezipient muss, um Sätze und Textpassagen in der intendierten Weise zu verstehen, jedes Pronomen mit dem richtigen Bezugsnomen verbinden. Für MuttersprachlerInnen ist das (meist) kein Problem. Deutschlernende jedoch tun sich beim Lesen von Texten oftmals schwer mit der Interpretation von Pronomen. Wird aber das Sprachangebot von Anfang an so gestaltet, dass die kohärenzstiftende Funktion von Genus sichtbar wird, vgl. (8) und (9), dann sind die Lernenden zum einen motivierter, sich die Genuszugehörigkeit der Nomen zu erschließen und dabei auf Kongruenzrelationen zwischen den einzelnen Genusindikatoren (z. B. Artikel, Personalpronomen, Relativpronomen, Possessiva) zu achten. Zum anderen wird ihnen dann später beim Textverstehen die Interpretation von Pronomen kaum Schwierigkeiten bereiten, da sie wissen, dass sich Pronomen (meist) auf ein zuvor erwähntes Nomen beziehen. Und bei dessen Auffinden hilft ihnen die im Pronomen enthaltene Genusinformation. (8)

Neben mir steht Lara1 / Tarek2. Sie1 / Er2 hat heute eine Jeans an. Ihr1 / Sein2 Pullover ist rot.

(9)

Wo ist der Ball1 / die Tasche2? Wer weiß, wo er1 / sie2 ist? Tom sucht ihn1 / sie2.

Neben der referenziellen Funktion kommt der Genuskategorie auch eine wichtige syntaktische Funktion zu, die insbesondere für weit fortgeschrittene Deutschlernende relevant wird. Typisch für die deutsche Bildungssprache sind hochkomplexe Nomi‐ nalphrasen (siehe hierzu u. a. Petersen 2014). Zwischen Artikel und Nomen können sich mehrfach erweiterte Attribute schieben und eine große Distanz zwischen Artikel und Nomen verursachen, vgl. (10) bis (12). (10)

der regelmäßig zum Jahrestag der Institutsgründung stattfindende Kongress

(11)

das von den Kritikern in höchsten Tönen gelobte, bei der Leserschaft aber nicht besonders gut ankommende Buch

(12)

die an dem Versuch, beide Parteien wieder an den Verhandlungstisch zu bringen, beinahe gescheiterte Kanzlerin

71

72

4 Flexion

Diese Klammerbildung wird durch die Genuskongruenz zwischen dem genusanzeigen‐ den Artikel und dem genusinhärenten Nomen ermöglicht, denn durch sie werden An‐ fang und Ende der komplexen Nominalphrase angezeigt und somit leichter perzipierbar (Wegener 1995a: 65). (In Kapitel 13 kommen wir im Rahmen der vorzustellenden Er‐ werbsstudien noch einmal etwas genauer auf die Funktionen von Genus zu sprechen.) Die Nominalklammer – ein Schnittstellenphänomen von Nominalflexion und Syntax – ist nicht die einzige Klammerkonstruktion des Deutschen. Auf sie lässt sich bis zum mittleren Sprachniveau jedoch gut und gern verzichten, nicht aber auf die sog. Verbalklammer (bzw. Satzklammer), um die es in Kapitel 5 gehen wird.

Aufgaben 1.*

2.* 3.**

Nennen Sie (mit Beispielen) – drei bedeutungsbezogene Genuszuweisungsregeln – drei formbezogene Genuszuweisungsregeln, zu denen es auch Ausnahmen gibt – drei formbezogene Genuszuweisungsregeln, zu denen es keine Ausnahmen gibt. Worin besteht die Hauptfunktion des Genussystems? Ein Kind (L1 Türkisch, Deutschkontakt 16 Monate) soll einen von der Lehrkraft (LK) vorgegebenen Satz nachsprechen. Wie zu erkennen ist, spricht es das Gehörte nicht einfach nach, sondern nutzt bei der Wiederholung sein eigenes zu diesem Zeitpunkt auf der Basis bisheriger Spracherfahrungen für die Zielsprache entwickeltes Regelsystem – man spricht auch von einer Interimsgrammatik. Welche Genuszuweisungsregel wendet das Kind an und welche wäre erforder‐ lich? LK: K:

Das Rotkäppchen, das die Blumen pflückt, will die Großmutter besuchen. Die Rotkäpchen pflückt die Blumen. Sie sucht ihre Großmutter. (Wegener 1995b: 6)

4.***

Viele Deutschlehrwerke nutzen drei Farben, um die Zugehörigkeit der Nomen zu einem der drei Genera zu markieren. Verschaffen Sie sich anhand zweier oder dreier Lehrwerke für das Grundschulalter zunächst einen Eindruck über diese Visualisierungsform des grammatischen Genus. Ob bzw. wie sinnvoll diese ist, wird kontrovers diskutiert. Lesen Sie hierzu Pagonis (2015: 158-169) und positionieren Sie sich zu dieser Art der Formfokussierung.

4.2 Nominalflexion

73

Partner- und Gruppenaufgaben

5.**

Stellen Sie sich vor, Sie würden im Unterricht hospitieren und erleben dabei fol‐ gendes Gespräch der Lehrkraft (LK) mit einem Mädchen (L1 Russisch, Deutsch‐ kontakt 11 Monate). K: LK: K: LK: K: LK: K: LK: K:

Die Affe nehm ich nicht mit. Die Affe ist bestimmt nicht richtig, weil es heißt ja nicht die Affe oder das Affe, sondern der Affe. Also? Der Affe nehm ich nicht mit. Der Affe geht auch nicht. Mhm. Was geht denn dann? Mit den. Also, sag nochmal. Den Affe fährt net mit oder so. Ja, dann musst du sagen der. Der Affe fährt nicht mit, aber den – mit mitnehmen. Warum muss jetzt immer des ich machen? (Wegener 1995b: 6)

Beschreiben Sie zunächst einmal die vielschichtige Problematik des Gesprächs‐ verlaufs. Überlegen Sie dann zu zweit, wie angemessene Reaktionen auf die Äußerungen der Schülerin hätten aussehen können und bereiten Sie ausgehend vom ersten Satz der Schülerin „Die Affe nehm ich nicht mit“ eine kleine Szene der S-LK-In‐ teraktion vor und präsentieren Sie diese vor der Seminargruppe. Reflektieren Sie gemeinsam Ihre Vorschläge. 6.**

In Abb. 4.6 ist ein Auszug einer für das Vorschulalter geeigneten Fördereinheit zur Anbahnung des grammatischen Geschlechts dargestellt. a. Warum ist eine gezielte Auswahl an Objekten / objektdarstellenden Bildern notwendig? Nach welchen Kriterien wurden die Nomen für die Übung ausgewählt? (Zur leichteren Erfassung der Objektnamen wurden für die Illustration des Säckchens in Abb. 4.6 statt der Objektvisualisierungen die Wortformen angegeben.) b. Die Fördereinheit soll implizit an das Genussystem heranführen. Wie ist der Input hierfür strukturiert? Unterstreichen Sie in den Ausführungen alle genusanzeigenden Hinweise. c. Simulieren Sie zu zweit oder zu dritt mögliche Fortführungen des oberen oder unteren Gesprächs.

74

4 Flexion

LK: Nun wollen wir doch mal sehen, was da für Dinge (für Bildkarten) in unserem Grabbel‐ säckchen sind. Der Reihe nach darf jeder eine Karte rausneh‐ men und wir schauen, was dadrauf ist. (…) K1: Ball LK: Ganz genau, das ist ein Ball. Wie sieht der denn aus? Welche Farbe hat der Ball? K2: blau LK: Stimmt, er ist blau – ein blauer Ball. mögliche Erweiterung bei einer späteren Wiederholung des Sprach‐ spiels: LK: Was ist denn noch alles blau hier in unserem Kreis – schaut euch mal um … K3: Hose (zeigt auf die eigene Hose) LK: Ja, deine Hose ist blau. Und meine? K4: schwarz LK: Stimmt, meine Hose ist nicht blau, die ist schwarz. Aber schaut mal zu Tarek und Lia. K5: Hose blau (zeigt auf Tarek) und Lia auch LK: Gut beobachtet! Seine Hose ist blau (auf Tarek zeigend) und ihre Hose (auf Lia zeigend) ist auch blau. (…) Abb. 4.6: Auszug einer Fördereinheit zur Anbahnung des grammatischen Geschlechts

4.2.2 Kasus

Die Hauptfunktion der Kasus besteht darin, die grammatischen Relationen Subjekt (SU), direktes Objekt (DO), indirektes Objekt (IO) und Attribut (ATT) zu unterscheiden (Wegener 1995a: 120). (13)

[Der Junge]SU streichelt [den Hund]DO [des Nachbarn]ATT.

(14)

[Der Junge]SU gibt [dem Hund]IO [des Nachbarn]ATT [einen Knochen]DO.

In den Beispielen (13) und (14) markiert der Nominativ das Subjekt, der Akkusativ das direkte Objekt, der Dativ das indirekte Objekt und der Genitiv das Attribut. Während der Genitiv ein adnominaler (vom Nomen abhängiger) Kasus ist, sind Nominativ, Akkusativ und Dativ adverbale Kasus – sie sind vom Verb regiert. Das Verb, als zentrale Instanz im Satz, verlangt einerseits seine Leerstellen mit grammatischen Relationen

4.2 Nominalflexion

75

bzw. syntaktischen Funktionen (SU, DO, IO) zu füllen und andererseits deren Bele‐ gung mit semantischen Rollen (Agens, Patiens, Rezipient). Man bezeichnet daher die Argumentstruktur oder Argumentforderung des Verbs auch als Schnittstelle zwischen Syntax und Semantik. Nach allgemeiner Auffassung sind sowohl die semantischen Rollen als auch die grammatischen Relationen und die Kasusformen hierarchisch geordnet, vgl. Abb. 4.7, und im Normalfall wie folgt miteinander in Beziehung zu setzen: Die ranghöchste semantische Rolle (Agens) wird auf die ranghöchste syntaktische Funktion (Subjekt) abgebildet und diese wird mit dem ranghöchsten Kasus realisiert (Wegener 1995a: 122, nach Wunderlich 1985). Agens

>

Patiens

>

Rezipient

(die Handlung verursa‐ chend, kontrollierend)

(von Handlung betroffen)

(Empfänger bei Besitzwechselverben, Adressat bei Mitteilungs‐ verben)







Subjekt

>



direktes Objekt

>



Nominativ

>

Akkusativ

indirektes Objekt ↓

>

Dativ

Abb. 4.7: Semantische Rollen, syntaktische Funktionen, Kasus: Hierarchien und Verknüpfung (Linking)

Aus diesen Regularitäten ergeben sich Unterstützungspotenziale für den Spracherwerb und die Sprachförderung: Da semantische Rollen den Lernenden (insbesondere den jüngeren) leichter zugänglich sind als syntaktische Relationen, bietet es sich an, die adverbalen Kasus über die semantischen Rollen zu vermitteln – beginnend mit einstelligen Handlungsverben4 (XNom schwimmt / tanzt / angelt / …), um mit den Formen des Nominativs (z. B. der ____ /er; die ____ /sie) vetraut zu werden, gefolgt von zwei‐ stelligen Handlungsverben, um nun für die Patiensrolle den Akkusativ einzuführen. Das Patiens (Y) kann belebt (XNom küsst YAkk, XNom umarmt YAkk, …) oder unbelebt (XNom liest YAkk, XNom trinkt YAkk, …) sein. Sind die Lernenden mit den Formen für Nominativ und Akkusativ vertraut, können dreistellige Verben des Besitzwechsels (XNom schenkt / gibt / bringt ZDat YAkk) zum Lerngegenstand werden – inhaltlich vielleicht eingebettet in eine Lektion über ein Geburtstagsfest oder eine andere Festivität, bei der Geschenke übergeben werden. Im Fokus steht nun die semantische Rolle des Rezipienten (Z), die mit einer belebten Entität zu besetzen und mit dem Dativ zu markieren ist.

4

Vollverben werden in Handlungsverben, Vorgangsverben und Zustandsverben unterteilt. „Hand‐ lungsverben sind agentiv. Sie ordnen dem Subjekt eine typische Agensrolle zu. Sie […] haben […] immer eine dynamische Aktionsart: setzen, töten, singen, arbeiten. […] Vorgangsverben sind nicht-agentive Verben mit dynamischer Aktionsart; d. h. sie beschreiben Sachverhalte, die nicht statisch sind und die auch nicht unter der Kontrolle eines Agens stehen: erfrieren, wachsen, schlafen. […] Zustandsverben [beschreiben] statische Relationen oder Sachverhalte […] und [verlangen] kein typisches Agens als Subjekt […]: liegen, wohnen, besitzen, ähneln“ (DUDEN 2016: 419).

76

4 Flexion

Aufgrund der Kasusmarkierung erlaubt das Deutsche eine variable Anordnung der Aktanten, vgl. (15) und (16). Dies sollte den Lernenden frühzeitig vermittelt werden, um zu vermeiden, dass sich bei ihnen die Hypothese verfestigt, dass das Erstelement immer Subjekt bzw. Agens sei. (15)

a. b.

Der Junge / das Mädchen umarmte den Vater / die Mutter. Den Vater / die Mutter umarmte der Junge / das Mädchen.

(16)

a. b. c.

Die Mutter / der Vater schenkte der Lehrerin / dem Lehrer einen Blumenstrauß. Der Lehrerin / dem Lehrer schenkte die Mutter / der Vater einen Blumenstraß. Einen Blumenstrauß schenkte die Mutter / der Vater schenkte der Lehrerin / dem Lehrer.

Selbstverständlich muss eine vom Normalfall abweichende Reihenfolge entsprechend motiviert werden, um in Bezug auf die Anordnung relevanter Informationen eine gewisse Natürlichkeit im Sprachgebrauch zu simulieren. Abb. 4.8 enthält Anregungen, wie man hierbei vorgehen könnte. Mit den in Abb. 4.7 dargestellten Regularitäten lassen sich „prototypenhaft die Standardfälle“ der Handlungsverben (Wegener 1995a: 123) erfassen. Darüber hinaus gibt es für alle vier Kasus weitere Verwendungskontexte, die im Folgenden lediglich kurz aufgelistet werden sollen, um danach einzelne Aspekte, die den Lernenden besondere Schwierigkeiten bereiten, noch einmal herauszugreifen. Übung mit Vorgabe der Zielstruktur (Rezipient als Erstelement)

Am Abend wollen Lisas Eltern noch etwas lesen. Lisa holt für sie eine Zeitung und ein Buch.

Wem bringt Lisa die Zeitung und wem bringt sie das Buch? Was meinst du? Wem bringt Lisa was? Schau dir nun die Bilder an und vervollständige die Sätze.

4.2 Nominalflexion

Dem Vater bringt sie ___ _______ .

77

Der Mutter bringt sie ___ ________ .

Übung zum Einsetzen der Zielstruktur (Rezipient als Erstelement)

Die Großeltern sind heute zu Besuch. Tom holt einen Tee und eine Cola aus der Küche.

Wem bringt Tom die Cola und wem bringt er den Tee? Was meinst du? Wem bringt Tom was? Schau dir nun die Bilder an und vervollständige die Sätze.

78

4 Flexion

___ Oma bringt er ___ _______ .

___ _____ bringt er ___ _______ .

Abb. 4.8: Auszüge einer Übung zur Objektvoranstellung bei Besitzwechselverben (© Bryant/Erhard)

Kasuszuweisung durch Rektion

Der Kasus wird einer Nominalphrase in Abhängigkeit ihres Gebrauchs im Satz von außen zugewiesen – entweder durch Rektion oder durch Kongruenz (DUDEN 2016: 818).5 Rektion „liegt vor, wenn ein Wort verlangt, dass eine von ihm abhängige Phrase ein bestimmtes grammatisches Merkmal [z. B. Kasus] aufweist“ (ebd. 818). Nicht nur Verben können den Kasus einer Nominalphrase bestimmen (17)6, sondern auch Präpositionen (18), Adjektive (19) sowie im attributiven Falle auch Substantive (20). Beispiele für Kasusrektion (17)

a. b. c.

[des Diebstahls]Gen beschuldigen / bezichtigten / verdächtigen [dem Großvater]Dat helfen [die Aussage]Akk verweigern

(18)

a. b. c.

während [des Urlaubs]Gen mit [meinem Freund]Dat ohne [meinen Freund]Akk

5 6

Die semantische Kasuszuweisung als dritte Form (ebd. 819) bleibt im Folgenden unberücksichtigt. Beispiele hierfür wären der adverbiale Akkusativ (Sie arbeitete [einen Monat]Akk in der Firma) und der adverbiale Genitiv (Die Kündigung wird er [eines Tages]Gen noch bereuen). Im Normalfall weist jeder Satz mit finitem Verb im Deutschen ein Subjekt auf. Dieses wird stets mit dem Nominativ markiert. Bei Verben, die in semantischer Hinsicht keine entsprechende Leerstelle aufweisen, wird das expletive (den Satz vervollständigende) es verwendet: Es regnet / schneit.

4.2 Nominalflexion

(19)

a. b. c.

[seiner Sache]Gen sicher [ihrem Mann]Dat treu [einen Meter]Akk lang

(20)

a. b. c.

[Lisas]Gen Mütze; [Omas]Gen Brille das Auto [unseres Nachbarn]Gen [Timos]Gen Erklärung [der Situation]Gen

Der Genitiv bereitet sowohl im Erstspracherwerb als auch im Zweitspracherwerb die meisten Schwierigkeiten – ausgenommen hiervon sind Genitivformen von Eigen‐ namen und Verwandtschaftbezeichnungen, vgl. (20a). Es ist daher zu empfehlen, die anderen Kontexte erst auf etwas fortgeschrittenem Niveau (im Rahmen bildungs‐ sprachlicher Förderung) systematisch in Angriff zu nehmen. Zunächst sollten die Formen der anderen drei Kasus Vorrang haben. Genitivattribute wie in (20b) lassen sich ohne Bedeutungsverlust gut ersetzen durch von-Phrasen (das Auto von unserem Nachbarn), die den Dativ erfordern. Für recht große Unsicherheit und Verwirrung (z.T. auch bei erwachsenen deutschen MuttersprachlerInnen) sorgen genitivregierende Präpositionen, die zunehmend (insbe‐ sondere in der gesprochenen Sprache) auch mit dem Dativ verwendet werden. Von den Kasusschwankungen betroffen sind u. a. die Präpositionen trotz, statt, fern, während, wegen, inklusive. Es lassen sich bestimmte Kontexte identifizieren (u. a. DUDEN 2016: 624 oder Duden-Online), in denen besonders häufig der Dativ gebraucht wird, z. B. wenn dem präpositionsregierten Nomen noch ein Genitivattribut folgt (21) oder wenn der Artikel fehlt (22). Als Lehrkraft kann man diese Sprachwandelerscheinungen nicht aufhalten. Sprache verändert sich beständig – in einigen Bereichen eher zu spüren als in anderen. Auf fortgeschrittenem Sprachniveau (sowie im Fachunterricht Deutsch) lassen sich zu den Kasusschwankungen genitivregierender Präpositionen spannende, den Wandel aufspürende Unterrichtsstunden gestalten. (21)

trotz dem Einspruch des Pfarrers vs. trotz des Einspruchs des Pfarrers

(22)

trotz heftigem Regen vs. trotz heftigen Regens

Typischerweise regieren Präpositionen nur einen Kasus. Das eben beschriebene Phänomen konkurrierender Kasus ist dem Sprachwandel geschuldet und nicht zu verwechseln mit Präpositionen, die tatsächlich zwei Kasus regieren – gemeint sind die sogenannten Wechselpräpositionen. Wir wenden uns diesem herausfordernden Lerngegenstand am Ende des Kapitels in mehr Ausführlichkeit zu. Kommen wir, um den Überblick über Kasuszuweisungsmöglichkeiten abzuschlie‐ ßen, nun aber erst einmal zur Kongruenz – neben der Rektion eine weitere Art der Kasuszuweisung.

79

80

4 Flexion

Kasuszuweisung durch Kongruenz

Hierbei übernehmen Nominalphrasen in bestimmten Konstruktionen das Kasusmerk‐ mal einer anderen Nominalphrase. Besonders relevant für SprachanfängerInnen sind prädikative Konstruktionen, vgl. (23), bei denen eine Nominalphrase (NP) als Ergän‐ zung eines Kopulaverbs (sein, werden, bleiben) fungiert. Diese NP bildet zusammen mit dem Kopulaverb den prädikativen Ausdruck und übernimmt den Kasus des Subjekts – also den Nominativ.7 Ein weiteres Kongruenzbeispiel sehen wir in den Vergleichskonst‐ ruktionen von (24).8 Da die Konstruktionen von (23) und (24) auch im Sprachvergleich recht einfach sind, bietet es sich an, sie bereits auf frühen Sprachniveaustufen gezielt einzubinden, um Nominativformen zu üben. Beispiele für Kasuskongruenz (23)

a. b.

[Er]Nom ist [ein guter Lehrer]Nom. [Sie]Nom bleibt [unsere Klassenlehrerin]Nom.

(24)

a. b.

[Er]Nom trampelt wie [ein Elefant]Nom. [Sie]Nom rennt schneller als [meine Schwester]Nom.

Die Konjunktionen als und wie können sich auch in anderen Kontexten mit einer Nominalphrase verbinden, die dann den Kasus der Bezugsphrase übernimmt, vgl. (25) und (26). Für ein leichteres Erkennen sind die Konjunktionalphrasen farblich hinterlegt. In den Beispielen von (25) wird das Bezugsnomen durch die Konjunktionalphrase näher charakterisiert, während in den Beispielen von (26) ein Vergleich ausgedrückt wird (DUDEN 2016: 855). Diese eher bildungssprachlichen Konstruktionen sind für Lernende deutlich anspruchsvoller als die einfachen (auf den Nominativ beschränkten) Vergleichskonstruktionen in (24) und setzen eine gewisse Sicherheit mit den Formen des Kasusparadigmas bereits voraus. Weitere Beispiele für Kasuskongruenz (25)

a. b. c.

(26)

a. b. c.

7 8

[Er]Nom wird als [gute Führungskraft]Nom geschätzt. Man wollte [Herrn Schmidt]Akk als [kompetenten Sachverständigen]Akk gewin‐ nen. Als [guter Menschenkennerin]Dat fiel [ihr]Dat sein Verhalten sofort auf. Wie [viele andere Viren]Nom breitet sich [das Coronavirus]Nom über Tröpfchen‐ infektion aus. Er begrüßte [seinen stärksten Konkurenten]Akk wie [einen guten Freund]Akk. Wie [jedem anderen]Dat ist auch [mir]Dat bewusst, dass es so nicht weiter gehen kann.

Im Russischen und Polnischen wird in Konstruktionen dieser Art ein anderer Kasus – der sog. Instrumental – verwendet (Wegener 1995a: 121) Im Türkischen muss in Fällen wie diesen der Ablativ gebraucht werden (ebd. 121).

4.2 Nominalflexion

Der Vollständigkeit halber seien zwei weitere Beispiele für Kasuskongruenz aufgeführt – relevant für Fortgeschrittene und das schriftsprachliche Register. Es handelt sich um sogenanne Appositionen – um Nominalphrasen (NP), die einer anderen NP folgen, die sie näher modifizieren und mit deren Kasus sie übereinstimmen: (27)

a. b.

[Herr Erhard]Nom, [der neue Direktor]Nom, hielt eine kurze Rede. Ich hätte [Herrn Erhard]Akk, [unseren früheren Nachbarn]Akk, fast nicht wieder‐ erkannt.

Wechselpräpositionen

Wechselpräpositionen gehören zur Domäne der Lokalisierungsausdrücke (oder auch Raumausdrücke), denen mit Kapitel 6 eine eigene Abhandlung gewidmet ist. An dieser Stelle interessieren daher nur die kasusrelevanten Spezifika. Während ein Teil der lokalen Präpositionen nur einen Kasus regiert (z. B. aus, von und zu → Dativ; durch und um → Akkusativ), regieren die Wechselpräpositionen, vgl. (28), zwei Kasus: Dativ und Akkusativ. Mit der Kasuswahl gehen bedeutsame Unterschiede einher: Um eine Orts- bzw. Lageveränderung auszudrücken, muss der Akkusativ gewählt werden, vgl. (29). Er kodiert das Merkmal [+direktional]. Die Ortsveränderung wird mit „wohin?“ erfragt. Beim Verbleiben an einem Ort (zu erfragen mit „wo?“) ist der Dativ zuständig, vgl. (30), und zwar unabhängig davon, ob eine Bewegung an diesem Ort stattfindet (a./b.) oder nicht (c./d.). Der Dativ kodiert das Merkmal [–direktional]. (28)

an, auf, hinter, in, neben, über, unter, vor, zwischen

(29)

a. b. c. d.

Er springt auf [den Tisch]Akk. Er tanzt in [den Raum]Akk. Er stellt die Schuhe unter [die Bank]Akk. Er hängt das Bild an [die Wand]Akk.

(30)

a. b. c. d.

Er springt auf [dem Tisch]Dat. Er tanzt in [dem Raum]Dat. Die Schuhe stehen unter [der Bank]Dat. Das Bild hängt an [der Wand]Dat.

Nehmen wir noch einmal die Lernendenperspektive ein und vergleichen die gram‐ matische Kodierung von [+/–direktional] im Deutschen mit der im Russischen und Türkischen. Wie in Tab. 4.6 zu sehen, kodieren alle drei Sprachen die Distinktion [+/–direktional] durch Kasus. Während jedoch im Russischen und im Türkischen die Unterscheidung durch Suffixe direkt am Nomen markiert wird, steckt im Deutschen die entsprechende Information im polyfunktionalen Artikel und dieser geht dem (das Relatum bezeichnenden) Nomen voran. Pränominale (unbetonte) Informationsträger bereiten im Erwerbsprozess größere Schwierigkeiten als postnominale, weil sie der Wahrnehmung weniger zugänglich sind (vgl. u. a. Slobin 1973). Sowohl die russischen als auch die türkischen Deutschlernenden müssen sich also diesbezüglich, von einer er‐

81

82

4 Flexion

werbsgünstigen Konstellation kommend, mit einer erwerbsnachteiligen Konstellation auseinandersetzen. Eine weitere Hürde stellt die Polyfunktionalität des Artikels dar, der im Deutschen neben Kasus auch noch Definitheit, Numerus und Genus verschlüsselt (siehe hierzu den Anfang des Kapitels 4.2). Wo? [–direktional]

Wohin? [+direktional]

Deutsch

Das Bild hängt an der Wand.            ↓           Dativ

Lea hängt das Bild an die Wand.              ↓            Akkusativ

Russisch

Kartina visit na stene.            ↓         Präpositiv

Lea vešaet kartinu na stenu.               ↓            Akkusativ

Türkisch

Resim duvarda asılı.        ↓       Lokativ

Lea resimi duvara asıyor.          ↓         Dativ

Tab. 4.6: Grammatische Kodierung von [+/–dir] im Sprachvergleich von Deutsch, Russisch und Türkisch (Bryant 2015b: 14)

Ein bislang noch nicht angesprochenes Phänomen, das Präpositionen und Kasus betrifft und Deutschlernenden persistierende Schwierigkeiten bereitet, ist die Fusion von Präposition und Artikel (z. B. an dem Haus / am Haus, zu der Veranstaltung / zur Veranstaltung) – in bestimmten Kontexten fakultativ, in anderen hingegen obliga‐ torisch. Diesem Phänomen wird in Kapitel 7 nachgegangen.

Aufgaben 1.* 2.* 3.* 4.**

In welchem Zusammenhang stehen (bei den meisten Handlungsverben) gramma‐ tische Relationen bzw. syntaktische Funktionen, semantische Rollen und Kasus? Wie wird Kasus zugewiesen? Welche Funktionen erfüllen die Kasus bei den Wechselpräpositionen? Kasus wird auf unterschiedliche Weise zugewiesen. Entscheiden Sie bei den geklammerten Nominalphrasen, ob es sich um Kasusrektion oder um Kasuskon‐ gruenz handelt. Im Falle von Kasusrektion unterstreichen Sie das kasusregierende Element, im Falle von Kasuskongruenz, setzen Sie eine Klammer um die Nominal‐ phrase, zu der Kongruenz besteht. Orientieren Sie sich an den Lösungsbeispielen (Lös1) bis (Lös4). Beginnen Sie zunächst damit, für jeden geklammerten Ausdruck den Kasus anzugeben. (a) (b) (c) (d)

Auswendig zitierte er [Rilkes] längstes Gedicht. Wie [eine Anfängerin] stellt sie sich heute an. Die Ministerin erhielt [ein verdächtiges Paket]. Unser Institut untersucht das Wasser [des Flusses] auf Bakterien.

4.2 Nominalflexion

(e) (f) (g) (h) (i) (j) (k) (l)

Er begann in dieser Firma als [jüngster Projektleiter] seine Karriere. Sie verbringen den ganzen Tag in [der Stadt]. [Als erste Rednerin] trat die ehemalige Direktorin auf die Bühne. Wir sind [dem Ziel] schon sehr nahe. Versuch die Dose mal mit [dem Messer] zu öffnen. Das Kleid gefiel [ihrer Tochter] überhaupt nicht. Mein Auftrag scheint schwieriger zu sein als [deine Aufgabe]. Herr Schenk war acht Jahre lang [der zweite Bürgermeister] der Stadt.

Lösungsbeipiele (Lös1) (Lös2) (Lös3) (Lös4)

Paul klebt [seinen Kaugummi]Akk unter den Stuhl. → Rektion: Verb > Akkusativ Paul klebt seinen Kaugummi unter [den Stuhl]Akk. → Rektion: Präposition > Akkusativ [Er]Nom ist [der jüngste Schüler]Nom. → Kongruenz (mit Subjekt > Nominativ), Prädikativ Als [Vertrauten des Präsidenten]Akk ließ man [ihn]Akk unbehelligt ins Gebäude. → Kongruenz (mit Objekt > Akkusativ), Konjunktionalphrase (als-Phrase)

Partner- und Gruppenaufgaben

5.**

6.**

Selbstverständlich sollten die Lernenden nicht mit allen Kasusformen und al‐ len Verwendungskontexten gleichzeitig konfrontiert werden. Überlegen Sie in der Gruppe unter Berücksichtigung des Gelesenen, welche Abfolge(n) sinnvoll wäre(n) und begründen Sie Ihre Entscheidung. Nehmen Sie sich zwei oder drei DaF/DaZ-Lehrwerke (der Stufen A1-B1) vor und analysieren Sie, wie Kasus in diesen vermittelt wird. Orientieren Sie sich an folgenden Leitfragen: ▸ Wird eine erkennbare Auswahl an Kasusformen und Verwendungskontex‐ ten getroffen? Welche? In welcher Abfolge? (Entsprechen die Beobachtun‐ gen Ihren Überlegungen von Aufgabe 5? Reflektieren Sie Übereinstimmun‐ gen und Unterschiede.) ▸ Werden die Form-Funktions-Zusammenhänge für die Lernenden transpa‐ rent dargestellt? ▸ Erfolgt die Heranführung an den Gebrauch bestimmter Kasusformen eher induktiv oder deduktiv? ▸ Wie werden die Kasusparadigmen für die jeweiligen Genuskategorien erarbeitet? Werden von Anfang an alle drei Genuskategorien (M, F, N) einbezogen oder beginnt man mit zwei Genera (M und F)? ▸ Welche Artikelwörter und welche Pronomen werden bei der Kasusvermitt‐ lung einbezogen? Lässt sich auch hier eine Abfolge feststellen?

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84

4 Flexion

7.**

Ein Gespräch über Fehler kann der Lehrkraft Hinweise darauf geben, warum es zu den zielsprachlichen Abweichungen kommt. Welche Hypothese hat der Schüler im folgenden Gesprächsauszug (aus Benholz & Lipkowski 2008: 141) von der Zielsprache? Ich sehe den Mutter …

Auszug aus einem schriftlichen Text eines türkischen Schülers der 6. Klasse, 12 Jahre alt

Frage des Förderlehrers: „Warum hast du hier den genommen?“ Antwort des Schülers: „Weil Mutter nicht am Anfang steht.“

Diskutieren Sie in der Gruppe, wie Sie den Schüler in diesem Bereich auf zielsprachliche Bahnen lenken könnten. 4.2.3 Numerus

Das Deutsche verfügt mit Singular und Plural über zwei Numeruskategorien, von denen nur letztere durch bestimmte Flexive angezeigt wird (Wegener 1995a: 10) und daher im Fokus dieses Kapitels stehen soll. Die Kennzeichnung erfolgt über drei verschiedene Markierungstypen: additiv durch Suffixe, modifikatorisch durch Umlaut und durch den Artikel bzw. Nullartikel bei Indefinitheit (siehe Tab. 4.7). Diese Pluralmarker treten einzeln, vgl. (a), oder in Kombination auf, vgl. (b). Singular

Plural

(a)

z.B. nur Artikel

ein Lehrer der Lehrer

Lehrer die Lehrer

(b)

Artikel + Suffix Artikel + Umlaut Artikel + Suffix + Umlaut

der Hund der Vater das Haus

die Hunde die Väter die Häuser

Tab. 4.7: Pluralmarkierungstypen (nach Wegener 1995a: 12)

Eine gewisse Erleichterung mag es den Lernenden bringen, dass bei den Artikeln im Plural Genus nicht unterschieden wird, siehe Tab. 4.8. Im Vergleich zum Singular ist beim Artikelgebrauch im Plural also „lediglich“ die Kasusinformation zu beachten und da für die beiden am meisten gebrauchten Fälle Nominativ und Akkusativ die gleiche Form zu verwenden ist, stellt das Artikelsystem im Plural keine allzu große Heraus‐ forderung für die Deutschlernenden dar. Diese liegt eher in der Pluralmarkierung am Nomen selbst – konkret in der sogenannten Polymorphie oder auch Allomorphie genannt: Eine bestimmte grammatische Bedeutung (hier Plural) wird nicht nur durch eine Form ausgedrückt, sondern durch mehrere, vgl. (Abb. 4.9). Diese werden auch als

4.2 Nominalflexion

85

Varianten des zu repräsentierenden Morphems bezeichnet bzw. (um die Fachbegriffe zu gebrauchen) als Polymorphe oder Allomorphe. M

N

F

Plural

Nominativ

der

das

die

die

Akkusativ

den

das

die

die

Dativ

dem

dem

die

den

Genitiv

des

des

der

der

Tab. 4.8: Definite Artikel im Singular und Plural, Aufhebung der Genusdistinktion im Plural (nach Wegener 1995a: 100)

Die Lesenden seien noch einmal erinnert an den in Kapitel 4.2 eingeführten Begriff der Polyfunktionalität (eine Form – mehrere grammatische Bedeutungen). Bei der Polymor‐ phie ist das Verhältnis umgedreht: eine grammatische Bedeutung – mehrere Formen. Beide Phänomene wirken sich erwerbserschwerend aus, sind sie doch weit entfernt vom erwerbsbegünstigenden Ideal: eine Form – eine Bedeutung / eine Funktion. Während in agglutinierenden Sprachen wie Türkisch und in morphemarmen Spra‐ chen wie Englisch und Französisch jeweils nur ein Pluralmarker mit phonologisch bedingten Allomorphen zu erlernen ist (Wegener 1995a: 11), müssen Deutschlernende „nicht weniger als 9 verschiedene Pluralflexive erkennen“ (ebd. 12), vgl:

Abb. 4.9: Pluralflexive des Deutschen (nach Wegener 1995a: 12)

Wie mag es sich für Lernende auf A1-Niveau anfühlen mit einer solchen Varianz an Pluralmarkern konfrontiert zu werden – oftmals begleitet von dem gut gemeinten Tipp: Singular- und Pluralform (z. B. Tag – Tage, Woche –Wochen) am besten immer zusammenzulernen (siehe Aufgabe 5 zur Pluralbehandlung in Lehrwerken). Lassen sich in der deutschen Pluralbildung nicht auch Regelhaftigkeiten finden, sodass sich das Auswendiglernen auf Ausnahmen reduzieren ließe? Bereits aus den 1970ern stammen Vorschläge, das zentrale Pluralsystem mit nur wenigen Regeln zu beschreiben. So formuliert Augst (1979) die drei in (31) aufgeführten Regeln. Die selten vorkommenden Plurale -er und -s sowie die Umlautung werden von ihm nicht berücksichtigt.

86

4 Flexion

(31)

1. 2. 3.

Maskulina und Neutra bilden den Plural auf -e, Feminina auf -en. Maskulina und Neutra auf -el, -er, -en, -lein bilden den Plural mit -ø. Substantive auf -e bilden den Plural auch im Maskulinum auf -en. ebd. 224

Allein mit diesen drei Regeln lässt sich die Pluralbildung des Grundwortschatzes und in Bezug auf Derivationen sogar darüber hinaus mehrheitlich erfassen. Wie Eisenberg (2013: 158) anerkennend ausführt, gehorchen abgeleitete Nomen (z. B. der Lehrer → die Lehrer, die Lösung → die Lösungen) diesen Regeln nahezu immer, Nomen mit Schwa-Silben (e, er, el, en) zu 98 % (2929 von 2976 Nomen) und alle übrigen zu 84 % (1524 von 1819). Für (uns) an der Sprachvermittlung Interessierte greift diese Reduktion sicherlich zu kurz – nicht zuletzt auch deswegen, weil der Input der Lernenden gerade am Anfang Substantive in hoher Frequenz enthält, die von den genannten Regeln nicht erfasst werden (z. B. Kinder, Bücher, Häuser, Autos, Hände). Wir orientieren uns daher im Fol‐ genden an der DUDEN-Grammatik (2005: 182-187) und übernehmen die Unterschei‐ dung in Regeln und Sonderfälle. Letztere sind nicht herleitbar und müssen auf jeden Fall gelernt werden. Bei den Regeln ist es sinnvoll, noch einmal zu differenzieren zwi‐ schen Grundregeln (GR), die einen großen Teil des Wortschatzes abdecken und Zu‐ satzregeln (ZR), die sich auf nur wenige Substantive beziehen. Beispielsweise hat die GR2 einen Skopus (= Wirkungsbereich) von 35,9 %, hingegen erfasst die ZR2 lediglich 2 % des Grundwortschatzes (Wegener 1995a: 32). In Tab. 4.9 sind die für die ersten Sprachniveaustufen relevanten Regeln und Son‐ derfälle aufgeführt. Für weitere Ausführungen zu Sonder- und Einzelfällen (u. a. auch den Bildungswortschatz und Fremdwörter betreffend), zu Eigennamen, Kurzwörtern sowie zu regionalen Schwankungen siehe DUDEN (2016: 186-194). Die Deutschlernenden müssen sich also nicht nur mit verschiedenen Pluralmarkern auseinandersetzen sondern auch mit verschiedenen Regeln, die unterschiedliche Wir‐ kungsbereiche beanspruchen und zudem mit einer Reihe von Sonderfällen. Wie aus Tabelle 4.9 ersichtlich wird, ist (mit Ausnahme von ZR2) die Pluralmar‐ kierung aufs Engste mit den Genusklassen verwoben. Da gerade die Genuskategorie für Deutschlernende als eine der größten Schwierigkeiten gilt (siehe hierzu auch Kapitel 4.2.1 und 10), stellt sich natürlich die Frage, ob und wie man die hier präsen‐ tierten Regularitäten überhaupt für den Pluralerwerb nutzen kann. Ein mögliches, dem System gerechtwerdendes didaktisches Vorgehen könnte so aussehen, dass Ge‐ nus und Plural zusammen in den Blick genommen werden, um die Grundregeln der Pluralbildung zu etablieren. Beispielsweise könnte ein Wortschatzspiel, ein Text oder eine Liste Nomen in der Singular- und Pluralform enthalten, die der Einsilber-Regel (Einsilber → M) und der Schwa-Regel (-e → F) folgen. Man könnte die Formen auf‐ finden, markieren oder herausschreiben lassen und Überlegungen anstoßen, wie der Plural für maskuline und feminine Nomen gebildet wird, vgl. Tab. 4.10. Es sollten sich verschiedene Übungen anschließen, um hinreichend Gelegenheit zu geben, die zwei Grundregeln anzuwenden. Im Rahmen einer explorativen Übung ließe sich die

4.2 Nominalflexion

Tab. 4.9: Die Bildung der Pluralformen (in wesentlichen Auszügen), in Anlehnung an DUDEN (2005)

GR1 um Neutra (z. B. das Jahr – die Jahre, das Tor – die Tore, das Boot – die Boote, das Brot – die Brote) erweitern.

87

88

4 Flexion

maskuline Substantive ein / der Tag ein / der Tisch ein / der Stuhl ein / der Stift

– – – –

die Tage zwei Tische die Stühle viele Stifte

feminine Substantive eine /die Woche eine / die Uhr eine / die Tasche eine / die Schere

– – – –

die Wochen die Uhren die Taschen zwei Scheren

Regel 2: Regel 1: Maskuline Substantive bilden den Plural auf Feminine Substantive bilden den Plural auf -e. -(e)n. Tab. 4.10: Erarbeitungsbeispiel für GR1 und GR2

Für die GR3 würde man in ähnlicher Weise verfahren und Feminina mit n-Plural kon‐ trastieren mit Nicht-Feminina, die auf -er, -el oder -en enden und einen endungslosen Plural bilden (vgl. Tab. 4.11). Für einige Lernende mag es hilfreich sein, die erarbeiteten Pluralformen mit Unterstützung der vorlesenden Lehrkraft auch hinsichtlich ihrer Sil‐ benstruktur zu reflektieren und zu erkennen, dass sie allesamt zweisilbig sind und dem trochäischen Betonungsmuster (betont-unbetont) folgen – eine morphoprosodische Bedingung der deutschen Pluralbildung bei einfachen, nicht abgeleiteten Wörtern (den sogenannten Simplizia) (Eisenberg 2013: 160). maskuline und neutrale Substantive ein / das Mädchen ein / der Teller ein / das Muster ein / der Löffel ein / das Messer

– – – – –

zwei Mädchen vier Teller die Muster die Löffel vier Messer

feminine Substantive eine / die Frau eine / die Tasse eine / die Schüssel eine / die Kanne eine / die Gabel

– – – – –

zwei Frauen vier Tassen die Schüsseln zwei Kannen nur drei Gabeln

Regel 3: Regel 2: Maskuline und neutrale Substantive auf -er, BESTÄTIGT ! → SIEHE OBEN -el und -en bilden den Plural endungslos. Tab. 4.11: Erarbeitungsbeispiel für GR3 und Bestätigung für GR2

Mit den drei Grundregeln sind ca. 70 % des Grundwortschatzes erfasst. Besonders verlässlich ist die Pluralregel für Feminina, weil sie von diesen 91 % abdeckt (Wegener 1995a: 32) und auch auf Nominalisierungen mit -ung, -heit, -keit (die Meinung-en, die Besonderheit-en) anwendbar ist. Diese Verlässlichkeit des femininen Plurals könnte sich durchaus positiv auf den Genuserwerb auswirken – zumindest aber auf die Herausbil‐ dung der Opposition feminin vs. nicht-feminin. (Eine solche Unterstützungsfunktion kann vom Plural natürlich nur dann ausgehen, wenn die Lernenden nicht in der naheliegenden auslautbezogenen Hypothese, alle Substantive auf -e bilden den Plural mit -n, bestärkt werden. Diese Auslautregel ist kurzfristig zwar eine sichere Bank, versperrt aber den Blick auf die genusdeterminierte Systematizität im Pluralsystem.) Bei Feminina herrscht im Plural ein starker Markierungsdruck. Dadurch, dass einerseits die Artikel im Singular und Plural formidentisch (die – die) sind und andererseits die meisten femininen Simplizia (ca. 1400) im Singular auf dem Schwa-Laut enden,

4.2 Nominalflexion

kann nur mit dem n-Plural die kategoriale Erkennung gewährleistet werden (Augst 1979: 224). Selbst bei den wenigen Feminina „ohne charakteristischen Wortausgang“ mit dem Sonderfall der e-Pluralbildung (z. B. Hände, Nüsse, Mäuse) wird durch die obligatorische Umlautung eine regelhafte Kennzeichnung vorgenommen (ebd. 224). Wir sehen in diesen Regelhaftigkeiten der Pluralbildung durchaus Potenziale, die feminine Genuskategorie im Erwerbsprozess zu unterstützen (siehe oben). Im Kontrast zur femininen Kategorie lassen die beiden nicht-femininen Kategorien deutlich mehr Unregelmäßigkeiten zu. Beispielsweise werden von den maskulinen Einsilbern mit umlautfähigen Vokalen nur etwa die Hälfte umgelautet (der Hut – die Hüte, der Tag – die Tage) – jedoch ohne erkennbare Regel (Eisenberg 2013: 159). Laut Köpcke (1993) lässt sich aber bei Einsilbern, die Lebewesen bezeichnen, eine deutliche Tendenz feststellen, den Plural mit Umlaut zu bilden (der Koch – die Köche, der Floh – die Flöhe, der Fuchs – die Füchse; Ausnahme: der Hund – die Hunde). Eine Frage, die sich in Bezug auf die in Tab. 4.9 genannten Zusatzregeln und Sonderfälle stellt, ist, ob, wann und wie diese zum expliziten Vermittlungsgegenstand werden sollten. Eine Option wäre, die Deutschlernenden im Zuge der Vermittlung von GR1, GR2 und GR3 bereits darauf vorzubereiten, dass es über die Grundregeln hinaus noch zwei Zusatzregeln gibt, die aber auf nur sehr wenige Nomen zutreffen, sowie einige auswendig zu lernende Sonderfälle. Wenn dann im Unterricht entsprechende Vertreter vorkommen, können die Lernenden oder die Lehrkraft diese mit Singularund Pluralform auf (für Zusatzregeln und Sonderfälle) vorbereitete, im Klassenzimmer längerfristig hängende Plakate notieren. Auf diese Weise wäre eine Sensibilisierung für die Komplexität und partielle Unregelmäßigkeit des Pluralsystems gewährleistet ohne jedoch die Lernenden zu überfordern und ohne die etablierten Grundregeln zu erschüttern. Die unregelmäßigen Formen können so nebenbei gelernt werden, was bei einigen Lexemen (z. B. Junge – Jungen, Mensch – Menschen, Kind – Kinder, Haus – Häuser, Buch – Bücher, Hand – Hände) aufgrund der hohen Tokenfrequenz im Input der Lernenden ohnehin passiert. Sobald die gemeinsam geführten, für alle sichtbaren Sonderfall-Listen mehrere Einträge aufweisen, könnte man zusammen nach Mustern Ausschau halten (z. B. das Kind – die Kinder / das Rind – die Rinder; das Buch – die Bücher / das Tuch – die Tücher; die Maus – die Mäuse / die Laus – die Läuse; die Nuss – die Nüsse / der Kuss – die Küsse), um im Erwerbsprozess (neben der Regelanwendung) auch die Potenziale der Analogiebildung auszuschöpfen.

89

90

4 Flexion

Aufgaben 1.* 2.**

Worin bestehen die potenziellen Schwierigkeiten beim Pluralerwerb des Deut‐ schen? Ordnen Sie die folgenden Nomen einer Pluralregel oder einem der Sonderfälle zu. die Hose – die Hosen, der Hund – die Hunde, das Plakat – die Plakate, die Tür – die Türen, der Mann – die Männer, der Traum – die Träume, das Heft – die Hefte, der Füller – die Füller, das Sofa – die Sofas, der LKW – die LKWs, das Zeichen – die Zeichen, die Mauer – die Mauern, die Bewerbung – die Bewerbungen, die Kunst – die Künste, der Pädagoge – die Pädagogen, der Vogel – die Vögel, der Abgeordnete – die Abgeordneten, der Besucher – die Besucher, das Ziel – die Ziele, die Landschaft – die Landschaften, das Dorf – die Dörfer, die Stadt – die Städte, das Land – die Länder

3.***

In verschiedenen L1- und L2-Studien zum Pluralerwerb des Deutschen hat sich wiederholt „eine ganz offensichtliche Vorliebe für die Pluralbildung mit -(e)n“ gezeigt (Diehl et al. 2000: 210), festzumachen an häufigen Übergeneralisierungen wie z. B. *Handen (Hände), *Fruschten (Früchte), *Freunden, *Fischen (ebd. 215). Überlegen Sie einmal, was -(e)n gegenüber den anderen Pluralmarkern so attraktiv macht? Vergleichen Sie Ihre Überlegungen mit den Ausführungen in Kapitel 11 zum Erwerb des Plurals.

Partner- und Gruppenaufgaben

4.*

5**

Bezogen auf die Pluralbehandlung die gängige Lehrpraxis kritisierend äußert Heide Wegener (1995a: 51) folgende Überzeugung: „Vollständigkeit ist kein didaktisches Prinzip!“ Diskutieren Sie dieses Zitat in der Seminargruppe. Die nachstehende Aufgabe aus einem Lehrwerk (DaF kompakt A1-B1 Übungs‐ buch, S. 28) soll von den Lernenden mit Hilfe eines Wörterbuchs, in dem die Singular- und Pluralformen der Artikel nachzuschlagen sind, bearbeitet werden. Ergänzen Sie einmal selbst die Lücken und diskutieren Sie in der Gruppe, warum diese Aufgabe nicht geeignet ist, um Einblicke in die Systematik des Pluralsystems zu gewinnen. Wie könnte man die Aufgabe modifzieren, um Grundregeln des Pluralsystems erfahrbar zu machen?

4.2 Nominalflexion

© Ernst Klett Sprachen

6.***

Schauen Sie sich unter Berücksichtigung der folgenden Fragestellungen zwei oder drei DaZ/DaF-Lehrwerke (der Stufen A1-B1) zur Pluralvermittlung an. ▸ Findet eine Pluralbehandlung statt oder nicht? ▸ Wann und wie wird mit der Pluralbehandlung begonnen? ▸ Auf wie viele Lektionen erstreckt sich die Pluralbehandlung? ▸ Werden alle Pluralvarianten gleichzeitig präsentiert oder findet eine didak‐ tische Reduktion statt? Wenn ja, nach welchen Kriterien? ▸ Wird zwischen Regeln und Sonderfällen (Ausnahmen) unterschieden? ▸ Wird der Bezug zu den Genuskategorien hergestellt? ▸ Werden hinreichend viele Beispiele für die einzelnen Pluralvarianten ange‐ boten? ▸ Wie viele Pluralmarker sind in den einzelnen Übungen gleichzeitig zu berücksichtigen? ▸ Tragen die Übungen (aus Ihrer Sicht) zum besseren Verständnis und zum Erwerb des Pluralsystems bei?

91

5 Wortstellung Aktivierung Entdecken Sie Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Wortstellung der drei Sprachen. Achten Sie insbesondere auf die Position des finiten Verbs in den Hauptsatzvarianten und im Nebensatz sowie auf die Anordnung mehrteiliger Verbformen. Deutsch

Russisch

Türkisch

Der Junge liest ein Buch.

Мальчик читает книгу. JungeNOM liest BuchAKK

Oğlan kitap okuyor. JungeNOM BuchNOM liest

Am Abend liest der Junge ein Buch.

Вечером мальчик читает книгу. am Abend Junge liest Buch

Akşam oğlan kitap okuyor. am Abend Junge Buch liest

Der Junge möchte ein Buch lesen.

Мальчик хочет прочитать книгу. Junge möchte lesen Buch

Oğlan kitap okumak istiyor. Junge Buch lesen möchte

Я думаю, Ich glaube, dass der Junge ein Buch liest. ich glaube что мальчик читает книгу. dass Junge liest Buch

Oğlanın kitap okuduğunu 1 sanıyorum. JungeGEN Buch LesenAKK glaube-ich

Der Junge ist in der Schule.

Oğlan okulda. Junge SchuleLOK

Мальчик в школе. Junge in SchuleLOK

Tab. 5.1: Wortstellung im Sprachvergleich

***** Auf humorvolle Weise klagt Mark Twain in seinem Essay The awful German language (1880) über diverse Undurchsichtigkeiten und Eigenarten, mit denen sich Deutschler‐ nende auseinandersetzen müssen. So fragt er sich in Bezug auf die Distanzstellung trennbarer Verben zu Recht: „Can any one conceive of anything more confusing than that?“ (ebd. 605). Zusammengehörendes (wie in (1) das Verb zurückfließen) wird weit auseinandergerissen, muss aber gedanklich wieder zusammengeführt werden, um den Satz zu verstehen. (1)

1

Das Wasser fließt über Bäche und Flüsse sowie über das Grundwasser wieder ins Meer zurück.

Nebensätze, im Deutschen typischerweise eingeleitet durch eine Konjunktion oder ein Relativ-/Fra‐ gepronomen, erscheinen im Türkischen in ganz anderer Gestalt. Beispielsweise wird ein Objektsatz durch eine Nominalisierung (hier mit dem Suffix -duğ) ausgedrückt.

5 Wortstellung

93

Gleiches gilt auch für mehrteilige Verbformen (z. B. Futur, Perfekt, Passiv sowie für Verbindungen aus Modalverb und Vollverb). Die getrennten verbalen Elemente bilden eine Klammer, zwischen die sich beliebig viele Informationen schieben lassen, wodurch sich jedoch die beiden Verbteile immer weiter voneinander entfernen mit entsprechenden Auswirkungen auf das Sprachverstehen. Um Deutschlernenden unnötige Irritationen zu ersparen, sollten sie von Anfang an durch eine klare Visualisierung an die deutschtypische Eigenart der Distanzstellung verbaler Elemente herangeführt werden. Hierfür eignet sich das auf Drach (1937) zu‐ rückgehende topologische Satzmodell in besonderer Weise. Wie in Tab. 5.2 dargestellt, wird durch die Klammer des Verbalkomplexes der Satz in drei Felder unterteilt: Vorfeld, Mittelfeld und Nachfeld. In der linken Klammerposition (LK) befindet sich im Hauptsatz immer das flektierte Verb. Davor steht (wie in den Zeilen 1, 2 und 4) oft das Subjekt. Steht wie in Zeile 3 etwas anderes im Vorfeld, dann wird das Subjekt ins Mittelfeld verbannt. (Dieses Phänomen wird auch als Subjekt-Verb-Inversion bezeichnet, weil in der linearen Abfolge der Eindruck entsteht, Subjekt und Verb würden ihre Positionen tauschen.) Das Deutsche erlaubt vor dem finiten Verb also nur eine Konstituente.2 Auch das ist im Sprachvergleich wieder eine Eigenheit des Deutschen und damit eine pozentielle Hürde für die Lernenden. Aufgrund der festen Position des finiten Verbs an der zweiten Stelle im Hauptsatz wird Deutsch auch als V2-Sprache bezeichnet. Vorfeld

LK

Mittelfeld

RK

1

Das Wasser

fließt

über Bäche und Flüsse … ins Meer zurück.

2

Die Luft

wird

tagsüber vom heißen Boden

3

In der Regel

wird

die Luft tagsüber vom heißen Bo‐ erwärmt. den

4

Kalte Luft

kann

aber nicht so viel Wasser

Nachfeld

erwärmt.

speichern

wie warme Luft.

Tab. 5.2: Hauptsätze im topologischen Modell

Während der Wortstellungserwerb im (frühen) Vorschulalter noch mühelos verläuft und dem deutschsprachiger monolingualer Kinder gleicht (vgl. Tracy 2007), treten bei Grundschulkindern zielsprachliche Abweichungen auf, die man auch beim erwach‐ senen ungesteuerten Erwerb beobachten kann und die z.T. auf den Einfluss der Erstsprache zurückzuführen sind (vgl. Haberzettl 2005). (Zum Wortstellungserwerb siehe Kapitel 12.) Mit dem Einsatz des topologischen Modells ließen sich die bei

2

Zum Begriff Konstituente: „In der strukturellen Satzanalyse Bezeichnung für jede sprachliche Einheit […], die Teil einer größeren Einheit ist.“ (Bußmann 2008: 364). Eine Konsituente kann ein Wort, eine Phrase aber auch ein Nebensatz sein.

94

5 Wortstellung

Deutschlernenden im Schulalter typischerweise zu beobachtenden Probleme im Be‐ reich der Wortstellung weitgehend vermeiden.3 (2)

* Gestern Trainer hat gesagt zu mein Vater, dass ich soll kommen zu Spiel.

In der Äußerung von (2) stecken neben den Artikelauslassungen gleich mehrere Wortstellungsfehler: Im Hauptsatz ist die Distanzstellung des Verbalkomplexes nicht realisiert und das Subjekt steht trotz vorangestelltem Adverbial vor dem finiten Verb. Zudem hat der Lernende noch nicht verinnerlicht, dass im Nebensatz eine andere Verbstellung gilt als im Hauptsatz. Hier muss nämlich das finite Verb am Satzende stehen. Auch dieser Fehler verwundert nicht, denn dass Hauptsatz und Nebensatz sich in der Verbstellung unterscheiden, ist eine weitere Besonderheit des Deutschen. Wie lässt sich nun ein solches Satzgefüge im topologischen Modell darstellen? Siehe hierzu Tab. 5.3: Zunächst wird der Hauptsatz analysiert und der von ihm abhängige Nebensatz erscheint erst einmal als Ganzes im Nachfeld. Im zweiten Schritt wird dann der Nebensatz in die Felderstruktur eingetragen. Drei Dinge fallen hierbei auf: Das Vorfeld bleibt leer, die Subjunktion nimmt die linke Klammerposition ein und der gesamte Verbalkomplex steht im rechten Teil der Klammer. Man kann sich merken: Die linke Klammerposition ist immer gefüllt – im Hauptsatz mit dem finiten Verb, im Nebensatz mit der Subjunktion. Das Vorfeld hingegen kann bei einigen Satztypen leer sein: z. B. bei Imperativsätzen (Schalt doch mal das Radio ein!) oder bei Entscheidungsfragen (Hast du das Fahrrad repariert?).

HS NS

Vorfeld

LK

Mittelfeld

RK

Gestern

hat

der Trainer zu meinem Vater gesagt

dass

ich zum Spiel

Nachfeld dass ich zum Spiel kommen soll.

kommen soll.

Tab. 5.3: Haupt- und Nebensatz im topologischen Modell

Worauf wäre also bei der Vermittlung der deutschen Wortstellungsregeln zu achten? Hauptsätze mit einfachem Verb und Subjekt am Satzanfang (Meine Schwester mag Erdbeereis.) werden im alltäglichen Sprachgebrauch erworben und bereiten keine Schwierigkeiten. Unterstützung benötigen die Lernenden in Bezug auf Hauptsätze mit alternativen Satzanfängen (und dem Subjekt folglich im Mittelfeld), mit trennbaren Verben und mehrteiligen Verbformen sowie bei der Verbstellung im Nebensatz. Mit Hilfe des topologischen Modells kann auf sehr systematische Weise (auch ohne explizite Grammatikarbeit) die Aufmerksamkeit der Lernenden auf die deutsch‐ typischen Wortstellungsphänomene gelenkt werden. Beispielsweise lassen sich kurze 3

Das Modell lässt sich auch ohne explizite Grammatikvermittlung anwenden. Für Beispiele von Arbeitsblättern mit farblich hinterlegten Klammerpositionen zur Sensibilisierung deutschtypischer Wortstellungen, die auch von Kindern im Grundschulalter bearbeitet werden können (siehe Bischoff & Bryant 2020).

5 Wortstellung

95

Lesetexte im Feldermodell aufbereiten, sodass die Lernenden wiederkehrende Wort‐ stellungsmuster erkennen.

Aufgaben 1.* 2.**

Welche Merkmale machen die Wortstellung des Deutschen zu einem schwierigen Lerngegenstand? Auf höherem Sprachniveau ließe sich das Topologische Modell auch sinnvoll einsetzen, um die Lernenden für die Belegungsmöglichkeiten des Nachfeldes zu sensibilisieren. Wie Breindl (2015) in einer Korpusanalyse schriftlicher argumen‐ tativer Texte herausgefunden hat, vermeiden weit fortgeschrittene Deutschler‐ nende im Vergleich zu MuttersprachlerInnen die Besetzung des rechten Randes mit nicht-satzförmigen Konstituenten. Möglicherweise ist dies auf die Fremd‐ sprachdidaktik zurückzuführen, die sich auf die oben skizzierten Stellungsphäno‐ mene konzentriert und die Belegung des Nachfeldes auf Nebensätze beschränkt. MuttersprachlerInnen aber nutzen das Nachfeld (s. Tab. 5.4) hin und wieder auch für adverbiale Phrasen und Präpositionalobjekte; bei Adjunktorphrasen mit als und wie gilt diese Position sogar als Normalfall (ebd. 373) und sollte den Deutschlernenden also auch entsprechend nahe gebracht werden. Vor‐ feld

LK

Mittelfeld

RK

Nachfeld

1

Ich

habe

ihn gestern

gesehen

in der Uni.

2

Er

hat

mich gestern

angesprochen

während der Pause.

3

Das

hängt

wie immer

ab

von den finanziellen Mitteln.

4

Er

hat

gestern zwei Stunden

gewartet

auf sie.

5

Ich

habe

ihn

geliebt

wie einen Bruder.

6

Es

ist

wieder mal an‐ ders

gekommen

als erwartet.

Tab. 5.4: Typische nicht-satzförmige Belegungen des Nachfeldes

Konzipieren Sie eine Übung für Deutschlernende, die Konstruktionen vom Typ (5) und/oder (6) als Zielstruktur hat. Nutzen Sie dabei die Potenziale des Topologischen Modells. Exkurs: Relativsätze

Die deutsche Sprache verfügt hinsichtlich Form und Funktion über ein ausgesprochen umfangreiches Spektrum an Nebensätzen. Da deutsche Relativsatzstrukturen aufgrund

96

5 Wortstellung

ihrer morphologischen und syntaktischen Komplexität einen besonders schwierigen Lerngegenstand darstellen, sei ihnen ein eigener Abschnitt gewidmet. Die folgenden Ausführungen stammen aus Bryant (2015a: 81-85). Bei einem Relativsatz handelt es sich um einen Nebensatz, der sich auf ein Element im übergeordneten Hauptsatz bezieht. Entsprechend der pragmatischen Funktion wird unterschieden zwischen restriktivem und nichtrestriktivem Relativsatz. Während der restriktive Relativsatz dazu dient, die Menge pozentieller Bezugsobjekte einzuschrän‐ ken, vgl. (3), gebraucht man den nicht-restriktiven Relativsatz, um das Bezugsobjekt näher zu spezifizieren, vgl. (4). (3)

Die Mutter, die den besten Kuchen gebacken hatte, wurde prämiert.

(4)

Pauls Mutter, die in Hamburg aufgewachsen war, zog später nach Leipzig.

Eingeleitet wird ein Relativsatz durch ein im Vorfeld stehendes Relativpronomen (der, die, das, welcher, welche, welches, wer, was), durch ein einfaches Relativadverb (wo, wie, wann) oder durch ein Präpositionaladverb (womit, wodurch, worüber, …). Wir beschränken uns im Folgenden auf attributive Relativsätze mit d-Pronomen, die auf nominale Elemente Bezug nehmen. Das Relativpronomen kongruiert in Numerus und Genus mit dem Bezugsnomen, zum anderen zeigt es durch die Kasusinformation an, welche syntaktische Funktion ihm im Nebensatz zukommt, und diese stimmt oftmals nicht überein mit der syntakti‐ schen Funktion des Bezugsnomens im Matrixsatz, vgl. (5) und (6). (5)

Anna geht morgen zu dem Arzt, den ihr jemand empfohlen hat.             [Sg, Mask] [Sg, Mask]     Präpositionalobjekt [Dat] direktes Objekt [Akk]

(6)

Anna trifft morgen den Arzt, der ihr Heilung versprochen hat.      [Sg, Mask] [Sg, Mask]      direktes Objekt [Akk] Subjekt [Nom]

Wie Beispiel (7) zeigt, sind die Deutschlernenden nicht nur mit der Polyfunktionalität der Artikel und Pronomen konfrontiert, sondern auch mit dem Problem der Homony‐ mie (gleiche Form (hier der), aber unterschiedliche Bedeutungen (Maskulin/Nominativ vs. Feminin/Dativ). (7)

Der Wind wird immer nach der Richtung benannt, aus der er kommt.

Die Interpretation von Relativsätzen setzt voraus, dass die Lernenden mit den nomi‐ nalen Flexionsparadigmen hinreichend vertraut sind (s. Kapitel 4.2). Schwierigkeiten, die beim Umgang mit Relativsätzen auftreten, sind nicht nur morphologisch, sondern auch syntaktisch bedingt. Die syntaktischen Möglichkeiten, die das Deutsche im Bereich der Relativsatzkonstruktionen offeriert, und die hierbei im Vergleich zu anderen Sprachen auftretenden Besonderheiten machen es den Lernenden nicht gerade leicht, sich diese Nebensatz-Domäne zu erschließen.

5 Wortstellung

97

Relativsätze werden (u. a.) danach kategorisiert, welche syntaktische Funktion (i) das Bezugselement im Hauptsatz und (ii) das Relativum im Nebensatz einnehmen. Wenn wir uns an dieser Stelle zur Illustrierung lediglich auf die Funktionen Subjekt (S) und direktes Objekt (O) beschränken, ergeben sich bereits vier RS-Typen: SS, SO, OS, OO. (8)

[Der Nachbar, [der dich gestern gegrüßt hat]], repariert die Tür. (SS)

(9)

[Der Nachbar, [den du gestern gegrüßt hast]], repariert die Tür. (SO)

(10)

Der Nachbar repariert [die Tür, [die gestern deine Hand gequetscht hat]]. (OS)

(11)

Der Nachbar repariert [die Tür, [die du gestern kaputt gemacht hast]]. (OO)

Die Klammerung zeigt an, dass das unterstrichene Bezugselement im Hauptsatz mit dem adjungierten Relativsatz eine enge syntaktische Einheit bildet, die als eine Konsti‐ tuente vor dem finiten Verb des übergeordneten Satzes stehen kann – im sogenannten Vorfeld, vgl. (8) und (9) sowie die Voranstellung des Objekts (Objekttopikalisierung) in (11’) und die exemplarischen Eintragungen im topologischen Modell von Tab. 5.5. (11’) [Die Tür, [die du gestern kaputt gemacht hast]], repariert der Nachbar. (OO) Vorfeld

LSK

Mittelfeld

Der Nachbar [der dich gestern gegrüßt hat]

repariert

die Tür

Die Tür [die du gestern kaputt gemacht hast] repariert

RSK

Nach‐ feld

der Nachbar

Tab. 5.5: Relativsatzkonstruktionen im topologischen Modell: Bezugsnomen im Vorfeld

Immer wenn sich das Bezugselement im Vorfeld befindet, muss auch der Relativsatz dort stehen. Diese enge Verbundenheit geht allerdings auf Kosten des Hauptsatzes, der, wie durch die Fettmarkierung in (11’’) illustriert, aufgespalten wird. Das im Vorfeld befindliche Nomen – ob Subjekt oder Objekt – wird durch den Einschub des Relativsatzes vom Rest des Satzes getrennt. Diese Distanzstellung wirkt sich ungünstig auf den Erwerbsprozess aus. (11’’) [Die Tür, [die du gestern kaputt gemacht hast]], repariert der Nachbar.

Auch dann, wenn das Bezugselement nicht im Vorfeld (sondern im Mittelfeld) steht, kann es unter bestimmten Umständen zu einer Verkomplizierung der syntaktischen Oberflächenstruktur kommen – nämlich dann, wenn im Hauptsatz eine mehrteilige Verbform oder ein trennbares Partikelverb verwendet wird. (12)

Der Nachbar hat [die Tür, [die du gestern kaputt gemacht hast]], repariert.

(13)

Der Nachbar hat die Tür repariert, [die du gestern kaputt gemacht hast].

Aufgrund der Satzklammer, die im Hauptsatz eine Distanzstellung des mehrteiligen Verbalkomplexes bewirkt, stehen der/dem Relativsatz-Produzierenden zwei Optionen

98

5 Wortstellung

zur Verfügung. FÜR (12) spräche die Adjazenz von Bezugselement und Relativsatz, DAGEGEN jedoch der weit auseinander gerissene Verbalkomplex, wodurch im Prozess des Sprachverstehens das Gedächtnis enorm belastet wird, weil die Verarbeitung des Matrixsatzes bis zum Eintreffen des finalen Vollverbs nicht voranschreiten kann. Daher präferieren deutsche MuttersprachlerInnen in dem Konflikt (12) vs. (13) die letztere Variante und nehmen damit bereitwillig die Dislokation des Relativsatzes in Kauf. Diese (mit Blick auf die Sprachen der Welt) ungewöhnliche Loslösung vom Bezugselement gilt als schwierig zu erlernen. So beobachtet beispielsweise König (2007) bei türkischsprachigen Deutschlernenden eine Tendenz, Relativsätze „als adjazent zum Bezugsnomen abzuleiten [und eine] Vermeidung von Extrapositionen, wie sie indessen von L1-Sprechern des Deutschen bevorzugt werden” (ebd. 12). Tab. 5.6 stellt noch einmal im topologischen Modell die zwei Varianten (12) und (13) dar. Um den Verarbeitungsprozess des übergeordneten Satzes zu erleichtern, wird der Relativsatz von seinem Bezugsnomen getrennt und aus dem Mittelfeld ins Nachfeld bewegt. Vorfeld

LSK

Mittelfeld

RSK

Der Nachbar

hat

die Tür [die du gestern kaputt repa‐ gemacht hast] riert

Der Nachbar

hat

die Tür

repa‐ riert

Nachfeld

[die du gestern kaputt gemacht hast]

Tab. 5.6: Relativsätze im Mittelfeld und im Nachfeld des topologischen Modells

Dieser Abschnitt sollte exemplarisch anhand einiger Beispiele verdeutlichen, was an morphologischem und syntaktischem Wissen aufgebaut werden muss, um mit dem Spektrum der Relativsatzkonstruktionen umgehen zu können. Für Anregungen zur Didaktisierung dieses höchst anspruchsvollen Lerngegenstandes siehe die Aufgabe 3.

Aufgaben 1.* 2.**

Was macht Relativsatzkonstruktionen in syntaktischer Hinsicht und in morpho‐ logischer Hinsicht zu einem schwierigen Lerngegenstand? Analysieren Sie die folgenden Äußerungen in Bezug auf die Realisierung der Relativsätze: Was gelingt den Kindern bereits? Und welche zielsprachlichen Abweichungen sind zu beobachten? Die Sätze stammen aus Aufsätzen zum Bildstimulus „Der Fahrraddieb“ (Abb. 2.2; S. 40) von Viert- und Fünftklässlern mit DaZ (Deutschkontakt seit mehr als zwei Jahren). Tipp: Unterstreichen Sie zunächst das Bezugsnomen des Relativsatzes und setzen Sie dann Klammern um den Relativsatz. (a) Eines Tages gabs ein Fahrräderdieb. Er klaute jedes Fahrrad den es auf der Straße gibt.

5 Wortstellung

(b) Als die Arbeit zu ende war ging er mit seinem Werkzeug zum Fahrad um nachhause zu Fahren. Aber dann hatte er nicht mehr die Schlüssel vom Schloss der an seinem Fahrad befestigt war nicht mehr gefunden. (c) Die Pulizistin und ihr Kolege der gerade kam in (= ihn) Festgenommen haben ohne etwas den jungen zu sagen. (d) Heute Morgen ging ich raus zum spielen und sah ein Mann der weil (= will/wollte) ein Fahrradschloss auf machen mit einer Zange. (e) ich sehe Ein Junge wo ein Fahrad schlos knakt und eine Pulizistin wo fersucht in (= ihn) auf zu halten und ein Jung wo an jemanden zit (= zieht) und zeigen will was der junge macht. (f) Dem Mädchen dem das Fahrrad gehört schaut traurig aus dem Fenster, und weint erschrocken.

3.***

Bereits in der Vorschule kann mit einer systematischen Heranführung an die deutschtypischen Besonderheiten einfacher Relativsatzkonstruktionen begon‐ nen werden. Lesen Sie in Bryant (2015a: 89-97), welche didaktischen Maßnah‐ men sich in Abhängigkeit von Alter und Schriftkundigkeit eignen, um sukzes‐ sive (von impliziten Sprachspielen bis hin zur Einbeziehung des Topologischen Modells) das Repertoire von Relativsatzkonstruktionen aufzubauen. Überlegen Sie, welche der Vorschläge Sie für praktikabel in Ihnen bekannten Lehr-/Förderkontexten halten und unterbreiten Sie ggf. Modifikations- und Adaptationsvorschläge.

99

6 Lokalisierungsausdrücke Aktivierung Sprachen unterscheiden sich in der Kategorisierung räumlicher Relationen. In Abb. 6.1 ist dargestellt, wie die Sprachen Deutsch, Englisch, Finnisch und Spanisch auf die drei Konfigurationen (Tasse → Tisch, Apfel → Schale, Griff → Tür) Bezug nehmen. Versuchen Sie die Unterschiede herauszuarbeiten und zu beschreiben, für welche Relationen die jeweiligen Lokalisierungsausdrücke verwendet werden.

Deutsch

Englisch

Spanisch

Finnisch

Abb. 6.1: Unterschiedliche Kategorisierungen lokaler Relationen (nach Bowerman 1996: 394)

*****

6.1 Lokale Verben: Bewegungs- und Positions-/Kontaktmodus

Das Lokalisierungssystem gilt als besonders schwieriger Lerngegenstand (vgl. u. a. Becker & Carroll 1997, Bryant 2012, Grießhaber 1999, Lütke 2008). Selbst dann, wenn der Zweitspracherwerb bereits in früher Kindheit beginnt, sind oftmals noch über viele Jahre hinweg Abweichungen von der Zielsprache zu beobachten (vgl. u. a. Bryant 2012). Dies liegt nicht zuletzt daran, dass das erstsprachliche Raumausdruckssystem bereits in den ersten Lebensjahren in seinen Grundzügen erworben und sensomotorisch verankert ist. Damit ist die Inputanalyse und die Sprachplanung in der Zweitsprache stark beeinflusst von den verinnerlichten Kategorien und den lexikalisierten perspek‐ tivenbildenden Mustern der Erstsprache (vgl. u. a. Slobin 1996). Dieses Kapitel versucht, aus sprachkontrastiver Sicht die Besonderheiten des deut‐ schen Lokalisierungssystems und damit auch die potenziellen Lernschwierigkeiten zu beleuchten. Zu den typischen sprachlichen Mitteln, mit denen im Deutschen lokale Informatio‐ nen kodiert werden, gehören lokale Präpositionen (auf dem Berg), lokale Adverbien (da, darauf, oben), Kasus (auf dem vs. auf den Berg), meist aus Präpositionen oder Adverbien entstandene Verbzusätze (auflegen, draufklopfen) sowie statische (wohnen, sich befinden, liegen) und dynamische lokale Verben (fahren, platzieren, legen). Deutschlehrwerken fehlt oftmals der Blick auf das Gesamtsystem. Im Fokus ste‐ hen für gewöhnlich lokale Präpositionen. Mit guten Absichten, die Lernenden an die schriftnahe Standardsprache heranzuführen, werden ihnen umgangssprachliche, für den Erwerbsprozess jedoch relevante Verwendungsweisen (z. B. auf dem Tisch drauf) meist vorenthalten. Wichtige Vorläuferstrukturen – wie etwa lokale Präpositi‐ onaladverbien (da(d)rauf, darein, dadrin) – bleiben oftmals unberücksichtigt. Auch auf Erwerbszusammenhänge zwischen lokalen Verben und lokalen Relationen (z. B. hängen + an) wird kaum eingegangen. Zudem fehlt es meist an einer systematischen, am prototypischen Gebrauch orientierten Heranführung an die lokalen Basisrelationen (Bryant 2015b: 4). Die folgenden Ausführungen stammen aus dem Artikel von Bryant (2015b), der wesentliche Aspekte der Monographie zu Lokalisierungsausdrücken und deren Erwerb (Bryant 2012) zusammenfasst. 6.1 Lokale Verben: Bewegungs- und Positions-/Kontaktmodus Lokale Verben kodieren (statische und dynamische) Lokalisierungen von Objekten, Tieren oder Personen im Raum. Die Sprachen der Welt unterscheiden sich dahinge‐ hend, welche Informationen sie bei der Versprachlichung von Lokalisierung regulär ausdrücken, d. h. welche Bedeutungskomponenten in die sprachspezifischen Lexikali‐ sierungsmuster eingehen. Die WEG-Information gilt in der konzeptuellen Struktur eines Bewegungsereignisses als Kernelement. Talmy (1985) identifiziert diesbezüglich zwei typologische Muster: satellite vs. verb-framed. Spanisch und Deutsch, vgl. Tab. 6.1, gelten in der Literatur als ideale Repräsentanten dieser beiden typologischen Ausprä‐ gungen. Während im Spanischen die WEG-Information im Verbstamm ausgedrückt

101

102

6 Lokalisierungsausdrücke

wird, vgl. (2), ist sie im Deutschen ausgelagert, und zwar in sogenannte Satelliten (Partikeln), vgl. (1). (1)

Die Flasche schwamm in die Höhle hinein.

(2)

La botella entró a la cueva.

(3)

La botella entró a la cueva flotando. (Molés-Cases 2019: 148)

Dadurch, dass im Deutschen die zentrale WEG-Information durch zum Verb gehörende Partikeln ausgedrückt wird, steht der Verbstamm zur Verfügung, um MODUS (die Art und Weise der Bewegung) zu kodieren. Von dieser Option macht das Deutsche regen Gebrauch. Der deutsche Sprachbenutzer ‚rennt, watschelt, schlurft, schleicht, poltert, tänzelt, kriecht, … vorwärts’. Deutsche MuttersprachlerInnen legen großen Wert auf die Spezifizierung des Bewegungsmodus, während spanische MuttersprachlerInnen, die sich hierfür zusätzlicher Adverbialkonstruktionen, vgl. (3), bedienen müssen, weitgehend darauf verzichten (vgl. u. a. Slobin 1996). Spanisch

Deutsch

BEWEGUNG + WEG

WEG (Satellit)

BEWEGUNG + MODUS

subir

hoch, rauf, hinauf

gehen, rennen, kriechen, …

bajar

runter, hinunter

gehen, rennen, kriechen, …

entrar

rein, hinein, herein

gehen, rennen, kriechen, …

salir

raus, hinaus, heraus

gehen, rennen, kriechen, …

Tab. 6.1: Verbrahmung vs. Satellitenrahmung am Beispiel des Spanischen und des Deutschen

Auch mit Präpositionalphrasen können WEG-Informationen ausgedrückt werden, vgl. (4). Bei gleichzeitigem Gebrauch von lokaler Präposition und lokaler Partikel, vgl. (5) sowie auch (1), entsteht eine redundante, für das Deutsche aber typische Konstruktion (siehe hierzu auch Kapitel 6.2). (4)

Ängstlich schlich er aus dem Raum.

(5)

Ängstlich schlich er aus dem Raum hinaus.

MODUS wird im Deutschen nicht etwa nur bei intransitiven Bewegungsverben versprachlicht, sondern auch bei transitiven Verben, die eine Verursachung des Orts‐ wechsels ausdrücken – gemeint sind die so genannten kausativen Lokale, wie etwa stellen und legen (man spricht auch von kausativen Positionsverben). In diesem Fall handelt es sich nicht wie in Tab. 6.1 um Bewegungsmodus, sondern um Positionsund Kontaktmodus. Diese sind im Deutschen auch bei statischer Lokalisierung zu spezifizieren, vgl. Tab. 6.2.

6.1 Lokale Verben: Bewegungs- und Positions-/Kontaktmodus

103

statische Lokalisierung

kausative Lokalisierung

Positionsverben

liegen stehen sitzen

legen stellen setzen

Kontaktverben

kleben stecken hängen lehnen

kleben stecken hängen lehnen

Tab. 6.2: Positions- und Kontaktverben statischer und dynamischer Lokalisierung

Man sieht also, dass MODUS das System lokaler Verben im Deutschen vollkommen durchdringt. Bei einem Deutschlernenden, dessen Herkunftssprache diesen Informa‐ tionstyp weitgehend ausblendet, besteht die Gefahr, dass eine zielsprachliche Annä‐ herung im gesamten Bereich der lokalen Verben ausbleibt. So wird im Bereich der statischen Lokalisierung, wo MuttersprachlerInnen den Gebrauch von Positionsverben favorisieren, meist die Kopulakonstruktion verwendet, vgl. (6a) und (6b). (6)

Die Flasche / der Untersetzer a. steht / liegt auf dem Tisch. b. ist auf dem Tisch.

Auch in Bezug auf den Bewegungsmodus zeigen Deutschlernende, deren Herkunfts‐ sprache die Art und Weise der Bewegung nicht im Verbstamm kodiert, durch den Gebrauch eher unspezifischer Verben (in (7b) z. B. gehen) ein von der Zielsprache (vgl. (7a)) abweichendes Verhalten. (7)

Der Frosch a. klettert / steigt / krabbelt / schleicht aus dem Glas. b. geht aus dem Glas.

nach Mayer (1969)

Dieses auch in anderen Sprachkonstellationen beobachtete Phänomen beschreibt Slo‐ bin (1996) mit der Thinking for Speaking-Hypothese, derzufolge im Prozess der Sprach‐ planung sprachspezifische Lexikalisierungsmuster der L1 den Aufmerksamkeitsfokus auf bestimmte Aspekte eines Ereignisses lenken. Und die Bewegungsart beispielsweise gehört für SprecherInnen einer verbrahmenden Sprache (z. B. Spanisch und Türkisch) eben nicht dazu, für SprecherInnen einer satellitenrahmenden Sprache (z. B. Englisch und Russisch) hingegen schon. Da die muttersprachliche Prägung in früher Kindheit erfolgt und sich entsprechende Orientierungsmuster früh einschleifen, wird eine Re‐

104

6 Lokalisierungsausdrücke

strukturierung im Zuge eines späteren Zweitspracherwerbs ausgesprochen schwierig: „(E)ach native language has trained its speakers to pay different kinds of attention to events and experiences when talking about them. This training is carried out in childhood and is exceptionally resistant to restructuring in adult second-language acquisition“ (ebd. 89). Diese Aussicht könnte die Sprachlernenden nun möglicherweise demotivieren. Neuere Erwerbsstudien (siehe hierzu auch Kapitel 13) stimmen jedoch optimistisch. Zweierlei wird in ihnen offenkundig: Zum einen erweist sich die Unter‐ teilung in verbrahmende und satellitenrahmende Sprachen als zu vereinfachend, um dem komplexen Zusammenspiel veschiedener sprachlicher Mittel in dieser Domäne gerecht zu werden und potenzielle Transferphänomene zu interpretieren. Zum anderen scheint es durchaus möglich, im fortgeschrittenen L2-Erwerb die prägenden L1-Muster zu überwinden (vgl. Goschler 2019). 6.2 Lokalisierungskonstruktionen: einstellig, zweistellig, pleonastisch Lokalisierungsausdrücke kodieren eine Relation zwischen dem zu lokalisierenden Objekt und dem Bezugsobjekt. Diese Zweistelligkeit ist in (8) mit Buch und Tisch auch syntaktisch realisiert. Das Bezugsobjekt (Tisch) ist hier versprachlicht. Im Unterschied dazu wird in (9) und (10) das Bezugsobjekt nicht genannt. Lokale Adverbien (u. a. oben, (da)(d)rauf, vorne, darein) sind syntaktisch einstellig, obgleich auch sie semantisch eine zweistellige Relation ausdrücken. Das Bezugsobjekt – man spricht auch vom Relatum – wird nicht explizit genannt, kann aber aus dem Kontext inferiert werden. Es ist eine spezielle Eigenart des Deutschen, die Zweistelligkeit auch morphologisch sichtbar zu machen, und zwar durch deiktische Pronomina (da, hier), die sich produktiv mit lokalen Präpositionen verbinden, vgl. (10). Das deiktische Element nimmt Bezug auf das kontextuell gegebene Relatum, während das präpositionale Element dessen Lokalisierungsregion näher spezifiziert. Beide Elemente können sowohl als Einheit auftreten, vgl. (10a), oder wie in (10b) eine Rahmenkonstruktion bilden. Anzumerken ist ferner, dass diese (aus einem deiktischen und einem lokalen Element bestehenden) Präpositionaladverbien (darauf, darüber, daneben, …) nicht nur in einer konkreten Situation zum Verweisen auf etwas Sichtbares gebraucht werden, sondern auch im Text zum Verweisen auf etwas zuvor Erwähntes, vgl. (10c). Damit wird zum einen deutlich, welche zentrale Rolle Lokalisierungsausdrücke im deutschen Sprach‐ system spielen und zum anderen wird der Zusammenhang von (ontogenetisch frühen) situationsgebundenen, umgangssprachlichen Verwendungsweisen einerseits und den im Erwerbsprozess nachgelagerten textkohäsiven Funktionen höherer Sprachregister andererseits sichtbar. Erstaunlich ist, dass das Deutsche auch eine redundante (eine sog. pleonastische) Konstruktion wie (11) erlaubt, in der der Teilraum des Relatums (hier die AUF-Region) zweimal benannt wird. Im Erstspracherwerbsprozess kommt dieser Konstruktion eine

6.3 Lokale Basisrelationen

wichtige systemstabilisierende Brückenfunktion zu. Den Zweitsprachlernenden wird die pleonastische Konstruktion meist vorenthalten bzw. nicht gezielt angeboten. (8)

Das Buch liegt auf dem Tisch.

(9)

Das Buch liegt oben.

(10)

a. Das Buch liegt da(d)rauf. b. Da liegt das Buch drauf. c. Neben der Tür steht ein kleiner Tisch1. Darauf1 liegt das gesuchte Buch.

(11)

Das Buch liegt auf dem Tisch drauf.

Bei der Vermittlung lokaler Relationen sollte das gesamte strukturelle Spektrum einbezogen werden. Bislang spielt die Umgangssprache in didaktischen Maßnahmen kaum eine Rolle. Zu den umgangssprachlichen systembildenden Elementen gehören neben den deiktisch gebrauchten Präpositionaladverbien (u. a. da(d)rauf, dadrin, darein) vor allem die pleonastischen Konstruktionen, die frequent angeboten werden sollten – vor allem in Verbindung mit kausativen Positionsverben, vgl. (12), und anderen Bewegungsverben mit lokalen Partikeln, vgl. (13). (12)

a. Steck den Schlüssel in das Schloss rein! b. Stell deine Figuren auf die weißen Felder drauf!

(13)

a. Spring auf den Stuhl drauf! b. Hau ordentlich drauf – auf die Taste!

Postpositionale und satzfinale lokale Informationsträger werden leichter wahrgenom‐ men und können daher die Anbahnung der deutschtypischen Teilraumspezifizierung (siehe 6.3) unterstützen. Im Rahmen metasprachlicher Reflexionen sollte man die Lernenden darauf aufmerksam machen, dass die lokalen Doppelkonstruktionen ein Phänomen der mündlichen Umgangssprache sind. 6.3 Lokale Basisrelationen Wie Tab. 6.3 illustriert, unterscheiden sich Sprachen in der Kategorisierung räumlicher Relationen. Während im Deutschen auf die fünf dargestellten Konfigurationen mit fünf teilraumspezifizierenden Präpositionen Bezug genommen wird, kommt das Rus‐ sische hier mit vier und das Türkische mit drei spezifischen Raumausdrücken aus. Weitgehende Übereinstimmung besteht hinsichtlich der Verwendung der jeweiligen Ausdrücke für die UNTER-Kategorie, die deswegen – im Unterschied zur IN-Kategorie – im Zweitspracherwerb früh zielsprachlich realisiert wird.

105

106

6 Lokalisierungsausdrücke

IN-Kategorie

Alle drei Sprachen verfügen über einen Ausdruck für die prototypische IN-Konfi‐ guration. Hierbei weist das Relatum einen Innenraum auf und ist nach möglichst allen Seiten abgegrenzt. Auch nach oben hin offene Behälterobjekte (z. B. Eimer, Schalen, Trinkgefäße usw.) zeichnen sich durch einen prototypischen Innenraum aus. Erhebliche Unterschiede gibt es jedoch in der Extension des entsprechenden Ausdrucks (vgl. u. a. Becker 1994). Das Türkische ist im Gebrauch seines IN-Ausdrucks besonders restriktiv und auf den dreidimensionalen Prototypen fixiert. Hingegen erfährt das Innenraumkonzept im Deutschen (wie auch im Russischen) eine starke Ausdehnung. Es seien hier nur beispielhaft einige vom Prototypen abweichende Verwendungskontexte genannt: der Stuhl in der Ecke, die Menschen in der Schlange, Sommersprossen im Gesicht, Insekten in der Luft, die Kirche in Dresden. Dadurch, dass die Präposition in im Deutschen in sehr vielen verschiedenen Ver‐ wendungskontexten zum Einsatz kommt, ist sie auch die mit Abstand frequenteste Präposition. Dies birgt die Gefahr, als neutraler Lokalisierungsmarker identifiziert zu werden (s. hierzu 6.4). Als Folge einer solchen Missinterpretation und resultierender Übergeneralisierung kann leicht der Eindruck entstehen, dass das deutsche Lokalisierungssystem in weiten Teilen beherrscht wird, obwohl die teilraumspezifizierende Funktion von in noch gar nicht dekodiert wurde.

Tab. 6.3: Sprachliche Kodierung lokaler Basiskonfigurationen in den Sprachen Deutsch, Russisch, Türkisch (Bryant 2015b: 7)

6.3 Lokale Basisrelationen

AUF und ÜBER – zwei Kategorien der oberen Peripherie

Mit den Präpositionen auf und über wird das Thema dem oberen Bereich des Relatums zugeordnet. Welche der beiden Präpositionen verwendet wird, richtet sich danach, ob sich Thema und Relatum berühren. Liegt eine Kontaktbeziehung vor, kann nur auf verwendet werden. Im Unterschied zum Deutschen und Russischen können AUF- und ÜBER-Konfigurationen im Türkischen mit nur einem Ausdruck versprachlicht werden, und zwar mit der Postposition üstünde. Es handelt sich um einen achsenbezogenen Ausdruck, der unabhängig von einer Kontaktbeziehung im positiven Bereich der Vertikalen operiert. Verfügt die Erstsprache der Lernenden im Bereich der oberen Peripherie über nur einen Ausdruck, dann wird auch im Deutschen oftmals nur ein Ausdruck verwendet um AUF- und ÜBER-Relationen zu kodieren, und zwar die frequentere Präposition auf. Mit kontrastierenden Handlungsanweisungen wie in (14) und Visualisierungen prototypischer Verwendungsweisen lassen sich die Lernenden relativ leicht für die kategoriale Differenzierung sensibilisieren. (14)

Steig mal da-drüber, aber nicht da-drauf, nicht auf den Stuhl steigen, sondern über den Stuhl steigen!

AUF und AN – zwei Kontaktkategorien

Neben auf verfügt das Deutsche mit an über eine weitere randbezogene Präposition und gehört damit zu den ganz wenigen Sprachen der Welt, die über zwei Randausdrücke verfügen. Das andere Extrem – nämlich keinen Randausdruck – sehen wir im Türki‐ schen. Für AN-Konstellationen gibt es im Türkischen keinen spezifischen Ausdruck, sodass hier nur das neutrale Lokativsuffix -de/-da in Frage kommt (siehe hierzu auch 6.4). Russisch hingegen repräsentiert mit einem Randausdruck (na) den Normalfall. So gibt es beispielsweise auch im Englischen (on) und Französischen (sur) nur eine Art der randbezogenen Zuordnung. Die von den Deutschlernenden übergeneralisierte Form ist in jedem Falle auf. Dies lässt sich u. a. damit erklären, dass die in Tab. 6.3 dargestellte prototypische AUF-Konfiguration einen universalen und damit auch einen kognitiv privilegierten Status genießt. Wenn eine Sprache über eine Kontaktkategorie verfügt (und dies trifft auf die meisten Sprachen der Welt zu), dann wird auch immer die hier dargestellte AUF-Konfiguration mit dem entsprechenden Label kodiert (vgl. hierzu u. a. Gentner & Bowerman 2009). Um die Aufspaltung der Kontakt/Support-Kategorie (siehe Tab. 6.3) in die beiden zielsprachlichen Kategorien AUF und AN zu unterstützen, sollten kontrastiv Konfi‐ gurationen angeboten und versprachlicht werden, die den maximalen Gegensatz repräsentieren, vgl. (15) und (16). (15)

Die Lampe hängt an der Decke. (Kontakt: punktuell, Support: Halt von oben)

(16)

Das Buch liegt auf dem Tisch.(Kontakt: flächig, Support: Halt von unten)

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6 Lokalisierungsausdrücke

AN und BEI – Überschneidungen im seitlichen Randraum

Wie oben bereits ausgeführt, ist an (neben auf) eine randbezogene Präposition. Allerdings ist der Zuständigkeitsbereich von an deutlich ausgedehnter, denn dieser umfasst den seitlichen Randraum, der wiederum Rand und Peripherie einschließt (vgl. u. a. Becker 1994). Insofern gibt es Überschneidungen mit der Präposition bei, deren Domäne die seitliche Peripherie ist. Sowohl im Erst- als auch im Zweitspracherwerb bereitet diese Überlappung Schwierigkeiten. Ein zentrales Unterscheidungskriterium für den Gebrauch der beiden Präpositionen ist, dass an den Kontakt zwischen Thema und Relatum erlaubt, bei hingegen nicht, vgl. (17). Aus diesem Grund wird an frequent mit Kontaktverben (lehnen, kleben, hängen) kombiniert (vgl. Herweg 1989) und sollte so auch vermittelt werden. (17)

a. Er lehnt an der Wand. b. ?? Er lehnt bei der Wand. (Herweg 1989: 112)

6.4 Obligatorische Teilraumspezifizierung Während im Deutschen eine Teilraumspezifizierung obligatorisch ist, gibt es Sprachen, wie etwa Spanisch oder Türkisch, bei denen – insofern sich die involvierten Objekte in einer erwartbaren Beziehung zueinander befinden – eine unspezifische Lokalisierung vorgenommen werden kann, d. h. das Relatum wird lediglich als Ort konzeptualisiert und die Lokalisierung erfolgt unabhängig von den Gestalteigenschaften des Relatums und unabhängig von dimensionalen Aspekten. Auf der sprachlichen Ebene wird hierfür im Türkischen das interne Argument der lokalen Relation mit dem Lokativsuffix -da bzw. -de (in Abhängigkeit des vorangehenden Vokals) markiert, vgl. (18) und (19). (18)

Kitap masa-da. Buch Tisch-LOK 'Das Buch ist auf dem Tisch.'

(19)

Kitap çanta-da. Buch Tasche-LOK 'Das Buch ist in der Tasche.'

Bei Deutschlernenden, die aus ihrer Erstsprache die Option der neutralen Lokalisierung kennen, besteht die Gefahr, dass sie im deutschen Input Ausschau halten nach einem Lokativäquivalent. Folgen sie einer frequenzanalytischen Strategie werden sie die Präposition in als Lokativersatz identifizieren, nehmen sie eine funktionale Analyse vor, ist bei der wahrscheinliche Kandidat. Warum? Die Präposition bei tritt neben ihrer Funktion als teilraumspezifizierender Ausdruck der seitlichen Peripherie in weiteren Kontexten auf, die die Lernenden, die nach einem Lokativäquivalent Ausschau halten, auf eine falsche Fährte führen. Einerseits wäre da die topikalisierende (voranstellende)

6.4 Obligatorische Teilraumspezifizierung

Funktion zu nennen, die Becker (1994) in ihrer Bildbeschreibungsstudie deutscher MuttersprachlerInnen zahlreich belegt findet, vgl. (20). (20)

Bei dem Restaurant-Haus fehlen am Obergeschoss die Gardinen. (Becker 1994: 62)

Auf den ersten Blick sieht diese Konstruktion wie eine lokale unspezifische Präposi‐ tionalphrase aus. Es handelt sich aber hierbei um eine deutschtypische Möglichkeit jene Entität einzuführen, über die im Folgenden eine Aussage gemacht werden soll, paraphrasierbar als: was X betrifft… oder zu X ist zu sagen … Neben dieser die DaZ-Lernenden möglicherweise irritierenden nicht-lokalen Funktion, findet sich bei aber auch in einigen Kontexten, die einen neutralen Ortsbezug erkennen lassen. Becker (1994: 62 f.) listet vier solcher Konstellationstypen auf: (i)

(ii) (iii) (iv)

Wenn Thema und Relatum Personen sind, kann „der über die Person identifizierte Ort als habitueller Aufenthaltsort der bezeichneten Person gedeutet werden: sie ist bei Johanna, (…), sie ist beim Zahnarzt“ Wenn es sich „um ein plurales Relatum handelt, dessen konstitutive disjunkte Teile ein Ganzes bilden (…): das Schiff ist bei der Flotte“ Wenn „das Thema zu derselben Klasse von Objekten gehört, aus denen sich das Relatum zusammensetzt (…): das Zeugnis liegt bei den Papieren“ Wenn „das Thema als konstitutiver Teil der als Relatum fungierenden Objektmenge verstanden werden kann (…): der Sahnelöffel liegt bei den Bestecken“.

Der Lehrkraft sollten diese die Lernenden in ihrer falschen Hypothesenbildung be‐ stärkenden Kontexte bewusst sein. Ratsam wäre bei zunächst in seiner teilraumspezi‐ fizierenden Funktion (d. h. als Lokalisierungsausdruck der seitlichen Peripherie) zu gebrauchen – und zwar im Kontrast zu an (siehe 6.3, letzter Absatz).

Aufgaben 1.* 2.* 3.**

Nennen Sie aus kontrastiver Perspektive für das Deutsche einige Charakteristika lokaler Verben. Wie kommt es, dass (insbesondere im ungesteuerten Erwerb) die Präpositionen in oder bei häufig übergeneralisiert werden? Beschreiben Sie die zielsprachlichen Abweichungen in Bezug auf die Versprach‐ lichung von Lokalisierung und geben Sie mögliche Erklärungen.

109

110

6 Lokalisierungsausdrücke

a.

L1 Türkisch, 5;9 Jahre Deutschkontakt in Kita seit ca. 3 Jahren Der Frosch geht raus von den Glas. Der Eule geht den Kind nach.

b.

L1 Türkisch, 4;11 Jahre Deutschkontakt seit ca. 2 ½ Jah‐ ren Der Hund is im seine Haus. Der Glas ist im Tisch. Der Dreffe ist im Wand.

c.

L1 Türkisch, 9;3 Jahre, Deutschkontakt seit ca. 5 ½ Jah‐ ren Die Teekanne ist auf dem Ofen drauf.

4.**

Lokale Präpositionen werden zahlreich in mathematischen Sachaufgaben ver‐ wendet. Ihre ursprüngliche lokale Bedeutung ist dabei oftmals kaum noch transparent. Sprachschwächere SchülerInnen scheitern oftmals an diesen Funk‐ tionswörtern. Entweder bleiben die Präpositionen gänzlich unbeachtet oder sie werden fehlinterpretiert (siehe Gürsoy et. al 2013). Unterstreichen Sie in der folgenden Aufgabe alle Präpositionen und versuchen Sie deren Bedeutungsbeitrag zu bestimmen. Um wie viel Prozent liegt der Verbrauch bei 180 km/h über dem Verbrauch bei 100 km/h?

5.**

Bei der Aufgabe handelt sich um einen Ausschnitt aus einer mehrteiligen Prüfungs‐ aufgabe für den Hauptschulabschluss zu einem grafisch gegebenen, funktionalen Zusammenhang zwischen Kraftstoffverbrauch und Geschwindigkeit (ebd. 19). Typisch für satellitenrahmende Sprachen, wie das Deutsche, ist ein umfangrei‐ ches Inventar an Verben, die die Bewegungsart (sog. Manner-Verben) ausdrü‐ cken. Für Deutschlernende (ganz besonders für jene mit verbrahmender L1) stellt die Dekodierung der feinen Bedeutungsnuancen von präzisen Bewegungsver‐ ben eine enorme Herausforderung dar.

6.4 Obligatorische Teilraumspezifizierung

a. Stellen Sie sich vor, Sie unterrichten eine Gruppe fortgeschrittener Deutsch‐ lernender, die ihr Ausdrucksrepertoire im Bereich der Fortbewegungsver‐ ben erweitern wollen. Sie haben aus Geschichten und Romanen folgende Verben in den Unterricht mitgebracht und fragen Sie nun nach deren Bedeutung: hasten, huschen, sausen, rauschen, preschen

Die einzige Information, die Ihre Deutschlernenden bislang aus den Kontex‐ ten für sich erschließen konnten, ist, dass diese Verben offenbar verwendet werden, um eine gewisse Schnelligkeit auszudrücken: Die Tür des Hauses wurde aufgerissen und eine Schar Bediensteter preschte zum Schloss. (aus Markus Richter, Ohne Herz, Neuschwanstein-Thriller)

6.***

7.***

Überlegen Sie, welche Bedeutungsnuancen die Verben in (22) kodieren. Vielleicht hilft es Ihnen, wenn Sie sich über Suchmaschinen mehrere Verwendungskontexte zu jedem Verb ansehen. b. Finden Sie mindestens ebenso so viele präzise Fortbewegungsverben, die ein langsames Tempo zum Ausdruck bringen (z. B. trotten) und versuchen Sie auch hier die Bedeutungsnuancen oder Spezifisches in den Verwendungs‐ kontexten zu beschreiben. Was passiert eigentlich mit dem Informationstyp der Bewegungsart, wenn ein Roman einer satellitenrahmenden Sprache (z. B. Deutsch) in eine verbrahmende Sprache (z. B. Spanisch) übersetzt wird oder umgekehrt? Während das Deutsche großen Wert auf diese Information legt und über ein entsprechendes hochpro‐ duktives Lexikalisierungsmuster verfügt, muss das Spanische hierfür zusätzliche Mittel wie etwa adverbiale Syntagmen oder Gerundien einsetzen (Molés-Cases 2019: 148), was mit einer größeren kognitiven Anstrengung verbunden ist (ebd.149), die man eben nur in besonders relevanten Fällen auf sich nimmt. Aufgrund dieser typologisch bedingten unterschiedlichen Präferenzen ließe sich vermuten, dass je nach Übersetzungsrichtung in Abhängigkeit der zielsprach‐ lichen Neigung der Informationstyp der Bewegungsart entweder hinzugefügt oder aber herausgefiltert wird. Lesen Sie hierzu den Aufsatz von Molés-Cases (2019), der sowohl auf ältere Studien Bezug nimmt als auch eine eigene Korpusstudie zu Übersetzungen von Bewegungsereignissen aus dem Spanischen ins Deutsche vorstellt. Es ist eine Eigenart des Deutschen, Modalverben mit einer Direktivergänzung und ohne Infinitiv zu gebrauchen: (a) (b) (c) (d)

Ich muss unbedingt zum Friseur. Er darf heute ins Schwimmbad. Die Kinder wollen ins Kino. Der Tisch soll ans Fenster.

111

112

6 Lokalisierungsausdrücke

Lesen Sie in Szumlakowski Morodo (2006 – insbesondere die Seiten 338-344), wie diese im Deutschen sehr häufig vorkommende Struktur in DaF-Lehrwerken präsentiert wird und wie ein alternatives didaktisches Vorgehen aussehen könnte.

7 Präposition-Artikel-Verschmelzung (PAV) Aktivierung Im Deutschen verschmelzen bestimmte Präpositionen im Dativ und/oder im Akkusativ mit dem definiten Artikel zu einer Wortform: z. B. an + dem → am oder an + das → ans. 1. Welche PAV-Formen fallen Ihnen neben den bereits genannten noch ein? Tragen Sie auch diese in die nachstehende Tabelle ein.

Dativ

Maskulinum

Neutrum

am

am

Akkusativ

Femininum

ans

2. Was können Sie bezugnehmend auf Ihre Einträge in der Tabelle feststellen: Sind eher Dativformen oder Akkusativformen von dem Verschmelzungsphänomen betroffen und eher Maskulina, Neutra oder Feminina? 3. Entscheiden Sie für jedes der folgenden Beispiele, ob eine Verschmelzung obliga‐ torisch, optional oder ausgeschlossen ist. Versuchen Sie Ihre Entscheidung zu begründen (siehe DUDEN 2016: 627-629). (a) (b) (c) (d) (e) (f)

Diese Straße führt direkt (zu___) Gedächtniskirche. Er setzte sich (auf___) Sofa und schlug die Zeitung auf. Angela Merkel beorderte Vertreter des Lebensmittelhandels (in___) Kanzleramt. Er kann sich (bei___) Lernen schlecht konzentrieren. Elon Musk will schon bald tausende Menschen (zu ___) Mars fliegen. Sie geht jetzt (zu ___) Arzt, den du ihr empfohlen hast.

4. Beschreiben Sie, worin sich die beiden Varianten in ihrer Form und (ggf.) in ihrer Bedeutung unterscheiden (siehe DUDEN 2016: 630). (a) (b)

Die Kosten werden in vollem Umfang erstattet. Die Kosten werden im vollen Umfang erstattet.

***** Die Verschmelzung von Präposition und definitem Artikel (z. B. im, am, ans, zur, zum, beim) ist ein Charakteristikum des Deutschen, das die Lernenden vor ganz besondere Herausforderungen stellt, mit denen sie – schaut man sich die gängigen Lehrwerke an – von der DaF-Didaktik jedoch weitgehend allein gelassen werden (Breindl 2013: 2). Dies liegt sicher auch daran, dass die optionalen und obligatorischen Verschmelzungen keinen leicht zu durchschauenden Lehrgegenstand darstellen. Es handelt sich um ein Schnittstellenphänomen, bei dem gleich mehrere sprachliche

114

7 Präposition-Artikel-Verschmelzung (PAV)

Ebenen (Phonologie, Morphologie, Syntax, Diskurspragmatik) interagieren und das besonders starken Grammatikalisierungstendenzen ausgesetzt ist (ebd. 1). In Anlehnung an Breindl (2013: 5-7) und der darin zitierten Literatur sei im Folgen‐ den eine kurze Zusammenfassung zentraler Formbildungs- und Distributionsregeln gegeben. Vom Prozess der Verschmelzung sind nur einfache und frequente Präpositionen betroffen, die nicht – wie etwa mit oder seit – auf einen Plosiv enden. In Bezug auf die involvierten Präpositionen lässt sich folgende Hierarchie angeben: zu, bei, an, in, von < hinter, über, vor. Bei den Artikeln verschmelzen Maskulina und Neutra eher als Feminina (Ausnahme: zur) und Dativformen eher als Akkusativformen. Zu den PAV, die am weitesten grammatikalisiert sind und die sich in bestimmten Kontexten auch nicht mehr durch die analytischen Formen austauschen lassen, gehören die Dativformen im, am, vom, beim, zum, zur sowie die Akkusativformen ins und ans. Beim Gebrauch von PAV wird zwischen drei Kontexten unterschieden: a. PAV und die analytische Form sind (mit möglichen stilistischen Unterschieden) austauschbar. (Sie saß vorm Haus vs. vor dem Haus.) b. PAV und die analytische Form sind nicht äquivalent, nicht frei austauschbar. (Sie ging zum Arzt vs. zu dem Arzt. / Er ist gerade wieder im Land vs. in dem Land.) c. PAV ist obligatorisch und die analytische Form ungrammatisch. ▸ substantivierte Infinitive, Partizipien, Adjektive (zum Lesen, im Folgenden, ins Blaue) ▸ Eigennamen (Er wohnt im Harz vs. *in dem Harz.) ▸ Unikate (Flug zum Mars vs. *zu dem Mars) Im Fall (b) sind diskurspragmatische Aspekte relevant, die im Zusammenhang mit der Funktion des definiten Artikels stehen. Hier gilt es (nach Löbner 1985) zwischen semantischer und pragmatischer Definitheit zu unterscheiden (Breindl 2013: 7). „Bei ersterer ist der Referent situations- und kontextunabhängig eindeutig identifizierbar, bei letzterer ist für eine eindeutige Referenz die Hinzuziehung von Kontext und Situation nötig“ (ebd. 7). Nach Breindl (ebd. 7) verweisen die PAV-Formen auf etwas, was für die Kommunikationspartner zum geteilten Hintergrundwissen gehört. Breindl zufolge ließen sich mit dieser Erklärung auch die obligatorischen Verschmelzungen von (c) erfassen. In den folgenden, von ihr gegebenen Beispielen ist der Referent Teil des gemeinsamen Hintergrundwissens, ▸

weil er zum Weltwissen gehört (Eigennamen, Unikate): Flug zum Mars, beim Papst, im Kanzleramt ▸ weil in der gegebenen Situation nur ein salienter Referent in Frage kommt (am Montag, zur Tankstelle fahren) ▸ weil der Referent zum generischen Typwissen gehört: Entwicklung vom Affen zum Menschen, ins Kino/zum Friseur/zur Bank gehen (irgendeiner beliebigen Instanz des Typs)

7 Präposition-Artikel-Verschmelzung (PAV)



weil der Referent aus dem Vortext (z. B. durch eine Teil-Ganzes-Beziehung) inferierbar ist (Sie fuhren mit dem Schiff hinaus. Sie saß am Bug und er am Heck.)

Neben der diskurspragmatischen Regel, die viele PAV-Verwendungen zu erfassen vermag, käme noch die sich aus der Form ableitende, leicht zu lernende Regel, dass bei substantivierten Infinitiven, Partizipien und Adjektiven PAV obligatorisch ist. Zum Auswendiglernen bleiben lediglich bestimmte Phraseme und Funktionsverbgefüge (am Ende, zum Beispiel, zur Sprache bringen). Breindl (2013) konnte in ihrer korpuslinguistischen Studie, in der Texte von weit fortgeschrittenen Deutschlernenden mit Texten von MuttersprachlerInnen verglichen wurden, zum einen feststellen, dass die Lernenden deutlich weniger (aber weitgehend korrekt) verschmolzene Formen gebrauchten, und zum anderen, dass ein großer Teil der analytischen Formen nicht korrekt verwendet wurde. Die Fehler zeigen auf, dass die Lernenden den Unterschied zwischen semantischer und pragmatischer Definitheit nicht beherrschen. Sie verwenden fälschlicherweise auch dann analytische Formen, wenn der Referent Teil des gemeinsamen Hintergrundwissens ist, wie beispielsweise in (1). (1)

*Wahrscheinlich werde ich nicht als Dolmetscherin in dem EU-Parlament tätig werden. (ebd. 14)

Unter den falschen Verschmelzungen im Lernerkorpus identifiziert Breindl zwei Feh‐ lertypen, wobei der erste Fehlertyp auf Unsicherheiten im Genus- und Kasusgebrauch zurückzuführen ist, vgl. (2) und (3). (2)

*im Universität, *beim Suche (MASK statt FEM)

(3)

*… um ein Fach im Griff zu bekommen (DAT statt AKK) (ebd. 11)

Beim zweiten Fehlertyp, vgl. (4) und (5), haben sich die Lernenden bei dreigliedrigen Nominalphrasen für eine Verschmelzung entschieden, wo das Standarddeutsche kei‐ nen definiten Artikel vorsieht und somit die starke Adjektivflexion Anwendung finden würde (von großem Interesse, zu keinem Zeitpunkt, in Goethes Gedicht (ebd. 11). (4)

*im solchen Zeitalter

(5)

*zur elende Existenz verurteilt (ebd. 11)

Breindl vermutet hinter diesem Fehlertyp „eine ganz andere Grammatik im Kopf der Lerner: Die verschmolzene Form ist für sie offenbar nicht mehr Kennzeichen für Definitheit, sondern schlicht klammeröffnender starker Merkmalträger für Kasus, Genus und Numerus. Die Präpositionalphrase wird gewissermaßen unter die Mono‐ flexionsregel für die deutsche [Nominalphrase] NP eingereiht, nämlich dass jede NP einen Hauptmerkmalträger hat und dafür die am weitesten links stehende Wortform gewählt wird, die eine starke Endung haben kann“ (ebd. 11-12). Da sich im Gegenwartsdeutschen ähnliche Tendenzen zum „Ausbau des Nominal‐ klammerprinzips“ durch PAV und damit einhergehend zur „Neutralisierung“ der in

115

116

7 Präposition-Artikel-Verschmelzung (PAV)

PAV enthaltenen Definitheitsinformation beobachten lassen (ebd. 12-13), erfährt die nicht standardgerechte Hypothesenbildung der Lernenden zusätzliche Bestätigung. So findet Breindl im Deutschen Referenzkorpus (DeReKo) analytische und verschmolzene Varianten phrasematischer Präpositionalphrasen ohne erkennbare Bedeutungsunter‐ schiede (z. B. in gutem Glauben – im guten Glauben, in bestem Einvernehmen – im besten Einvernehmen). Dass auch unter deutschen MuttersprachlerInnen eine gewisse Unsicherheit im Gebrauch bzw. Nichtgebrauch von PAV besteht, dokumentiert recht anschaulich der folgende Speisekartenauszug (ebd. 13) mit beiden Varianten: (6)

Tatar mit Eigelb am frischen Salat mit Kapern und Gewürzgurke 2 Tournedos mit „Sauce Madagaskar“ an geschwenktem Sommergemüse

Abschließend sei noch einmal hervorgehoben, dass es sich um einen relativ schwer zu durchschauenden Lernbereich handelt. Auch weit fortgeschrittenen Deutschlernenden gelingt es oftmals nicht, die diskurspragmatischen Regularitäten für den zielsprachli‐ chen Gebrauch von PAV aus dem Input zu inferieren. Sprachwandelerscheinungen mit vom Standard abweichenden Gebrauchstendenzen erschweren das Durchdringen dieser Domäne zusätzlich.

Aufgaben 1.* 2.* 3.**

Welche Präpositionen treten besonders oft in PAV auf und in welchem Genusund Kasuskontext? Mit welchen Regeln lassen sich viele PAV-Verwendungen erfassen? In welcher Situation wäre es angemessen (a) zu äußern und in welcher Situation (b)? (a) Wann kann ich zur Sprechstunde kommen? (b) Wann kann ich zu der Sprechstunde kommen?

4.**

Systematisieren und charakterisieren Sie die folgenden Fehlertypen. (a) (b) (c) (d) (e) (f) (g) (h) (i) (j) (k)

Jetzt hat die Gesellschaft sich alles im Himmel wachsen gelassen. auch wenn die Beantwortung der Frage vom großen Interesse ist im Berufswelt im Tesnières Valenzbegriff Sogar Männer haben sozusagen von dem Feminismus profitiert. (… im Haus der Großeltern …) Die Männer hatten mein Opa geschlagt, meine Oma, Cousine und Tante in dem Schlafzimmer eingeschlossen. im zukunft zur mentale Folterung werden im solchen Zeitalter eine Idee, im welchen Bereich man arbeiten will als ich im meinen Beruf beschäftigt war

7 Präposition-Artikel-Verschmelzung (PAV)

Partner- und Gruppenaufgaben

5.**

DaF/DaZ-Lehrwerke enthalten kaum Hinweise, wann die Präposition-Arti‐ kel-Verschmelzungen und wann die analytischen Formen zu verwenden sind. Einige wenige Lehrwerke gehen kurz auf PAV ein, und zwar im Kontext von Weg‐ beschreibungen. Aber auch hier werden die Möglichkeiten einer systematischen Vermittlung oft verschenkt. Wie beurteilen Sie beispielsweise die Heranführung an PAV im folgenden Lehrwerkauszug und dem Ausschnitt aus dem Grammatik‐ überblick? Welche Regelhaftigkeiten werden hier nicht beachtet?

Abb. 7.1: Auszug aus: DaF kompakt A1-B1, Kursbuch: 60 © Ernst Klett Sprachen

Abb. 7.2: Auszug aus: DaF kompakt A1-B1, Kursbuch: 67 © Ernst Klett Sprachen

117

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7 Präposition-Artikel-Verschmelzung (PAV)

6.**

Obgleich in dieser relativ schwer zu durchschauenden Domäne ein dringender didaktischer Handlungsbedarf besteht, finden sich in Lehrwerken kaum (syste‐ matische) Anleitungen für den Gebrauch bzw. Nichtgebrauch von PAV. a. Schlüpfen Sie in die Rolle von LehrwerksautorInnen und erarbeiten Sie im kleinen AutorInnen-Team eine Unterrichtseinheit zu diesem Phänomenbe‐ reich mit zwei bis drei Übungen und ggf. Merkkästen. Legen Sie in Ihrer Arbeitsgruppe zunächst fest, für welche Zielgruppe (Sprachniveaustufe, Alter) Ihre zu entwickelnden Materialien gedacht sind und treffen Sie eine Auswahl an zu vermittelnden Regelhaftigkeiten. b. Präsentieren Sie Ihre Unterrichtseinheit vor der Seminargruppe und begrün‐ den Sie Ihr didaktisches Vorgehen.

Zusammenfassung Meine philologischen Studien haben mich da‐ von überzeugt, dass ein begabter Mann Englisch (ausgenommen Rechtschreibung und Aussprache) in dreißig Stunden lernen kann, Französisch in dreißig Tagen und Deutsch in dreißig Jahren. Mark Twain

Vielleicht kann die/der Lesende nach der Lektüre der sieben Kapitel dieses Buchteils Mark Twain sein hartes Urteil über das Deutsche nachsehen und wird Deutschlern‐ enden künftig mit noch mehr Empathie und Verständnis begegnen. Die deutsche Sprache hat, wie in den letzten sieben Kapiteln aufgezeigt, für die Lernenden tatsächlich eine Menge an wirklichen Herausforderungen zu bieten. Noch einmal rekapitulierend: Schwierigkeiten bereiten z. B. jene Phänomenbereiche, in denen die Zielsprache über mehr Kategorien oder mehr kategoriale Ausprägungen verfügt als die Herkunftssprache. Vor besonderen Herausforderungen stehen die Lernenden auch, wenn grammatische Informationen, bedingt durch Position (z. B. pränominal) und Unbetontheit, schwer wahrnehmbar sind und/oder wenn gleich mehrere grammatische Informationen in nur einer Form stecken. Auch dort, wo sich die Zielsprache mit Blick auf die Sprachen der Welt in struktureller oder semantischer Hinsicht sonderbar, ausnahmenhaft verhält, sind Schwierigkeiten zu erwarten. In diesem Kapitel wurde ein breites Spektrum derartiger Phänomene skizziert, die sich verschiedenen linguistischen Beschreibungsebenen (Prosodie, Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik) bzw. Schnittstellen zuordnen lassen und die für unterschiedliche Erwerbsphasen bzw. Sprachniveaus relevant sind. Potenzielle Schwierigkeiten, wie sie das Deutsche für die Lernenden bereit hält, müssen nicht zwangsläufig zu Hürden werden. Die sprachsystematischen Darstel‐

Zusammenfassung

lungen dieses Kapitels können helfen, bereichsspezifische Herausforderungen zu identifizieren und eine hierauf eingehende Unterrichtsplanung zu gestalten. Für die besprochenen Phänomene wurde anhand konkreter Vorschläge beispielhaft illustriert, wie sich aus einer systematischen und kontrastiven Sprachbetrachtung didaktisches Handeln ableiten ließe.

119

Teil II Studien zum Erwerb des Deutschen im Kontext von Mehrsprachigkeit

8 Phonologie Aktivierung 1. Versuchen Sie zu erspüren, wo und wie folgende Konsonanten im Mundraum gebildet werden.: ∫, p, b, t, d, k, g, f, v, s, z, m, n, l, j. Nehmen Sie hierfür die Abbildung 8.1 zu Hilfe. 1 bilabial 2 labiodental 3 dental 4 alveolar 5 retroflex 6 postalveolar 7 palatal 8 velar 9 uvular 10 pharyngal 11 epiglottal 12 glottal

Abb. 8.1: Artikulationsorte der Konsonanten (Pompino-Marschall 2009: 185)

2. Lesen Sie nochmals in Kap. 1.4.1 sowie in Pompino-Marschall (2009: 182 ff) die Bildung der Konsonanten nach. Tragen Sie die Konsonanten aus Aufgabe 1 je nach ihren Artikulationsorten und -arten in die folgende Tabelle ein: Bilabial

Labio‐ dental

Alveolar

Postalveolar

Palatal

Plosiv Affrikate Nasal Frikativ Approxi‐ mant Lateral Vibrant Tabelle zum Ausfüllen (Hinweis: Lösungen finden sich in Hirschfeld & Reinke (2018: 71)).

Velar

Uvular Glottal

8 Phonologie

123

3. Das Deutsche, das Türkische und das Russische unterscheiden sich in ihrem Konsonanteninventar, wie Abb. 8.2 entnommen werden kann: Verorten Sie die Produktion der zwischen dem Deutschen, Türkischen und Russischen nicht geteilten Konsonanten in der untenstehenden Tabelle nach Artikulationsort und Artikulationsart und tragen Sie diese dort ein. Wieder können Sie hierzu Hirschfeld & Reinke (2018) zu Hilfe nehmen.

Deutsch ç ŋ R pf ʔ

x ts

h ʃpbtdk gfvsz mnlj

Russisch bʲ pʲ dʲ tʲ vʲ fʲ zʲ sʲ gʲ kʲ xʲ mʲ nʲ lʲ rʲ tʃʲ

tʃ ʒ r

Türkisch dʒ ɣ

Abb. 8.2: Konsonantenphoneme des Deutschen, Türkischen und Russischen im Vergleich (Grafik aus Melzer et al. 2018: 86)

Bilabial Plosiv Affrikate Nasal Frikativ Approxi‐ mant Lateral Vibrant Tabelle zum Ausfüllen

Labiodental

Alveolar

Postalveo‐ lar

Palatal

Velar

Uvular Glottal

124

8 Phonologie

4. Die Wahrnehmung und Produktion kleinster bedeutungstragender lautlicher Einheiten (Phoneme) ist für die Kommunikation entscheidend (z. B. Steht das Auto hinter einem Bus oder Busch? Trägt die Frau eine Tasse oder eine Tasche?). Welche Relevanz hat die Kenntnis der phonologischen Entwicklung von bilingualen Kindern für die Tätigkeit als Lehrkraft im DaZ- oder Sprachförderunterricht? ***** 8.1 Hintergrundinformationen zum Erwerbsgegenstand Der Erwerb des Lautsystems von Sprache(n) ist eine Voraussetzung für den Erwerb von Wortschatz und Grammatik. Laute wahrzunehmen, zu kategorisieren und zu unter‐ scheiden, sind sprachliche Fähigkeiten, die sehr früh erworben werden. Dies geschieht schon im Mutterleib (siehe Kap. 8.2). Daher ergibt sich für den Zusammenhang von auditiver Verarbeitung und Wahrnehmung und dem Lexikon, der Morphosyntax usw. ein komplexes Bedingungsgefüge (Abb. 8.3). Hier wird ersichtlich, wie relevant diese auditive Basis für die Ausbildung der weiteren sprachlichen Fähigkeiten bis hin zur Schriftsprache ist.

Abb. 8.3: Zusammenhänge zwischen auditiver Wahrnehmung und Verarbeitung und weiteren sprach‐ lichen Bereichen, Grafik aus Schecker et al. (2007: 201)

Dieses Bedingungsgefüge gilt genauso für den Erwerb von zwei und mehr Sprachen. Anders ist, dass durch die Interaktion von unterschiedlichen Lautsystemen spezifische Phänomene in Produktion und Lautwahrnehmung der L1 und der L2 (bzw. L3, L4, …) entstehen, die in dieser Form im Erstspracherwerb nicht beobachtet werden. Im folgenden Kapitel wird zunächst ein knapper Überblick über den Erwerb des pho‐ nologischen Systems bei einsprachig deutsch aufwachsenden Kindern gegeben. Dann werden spezifische Annahmen und Ergebnisse zum zweisprachigen Erwerb vorgestellt.

8.2 Phonologie im Erstspracherwerb

Es folgen ausgewählte Studien in diesem Bereich. Hier soll der Fokus speziell auf dem Erwerb des Phoneminventars liegen; andere Aspekte wie Silbenstruktur oder rhythmische Eigenschaften von Sprache(n) werden hier aus Platzgründen nicht thematisiert. Fragen, die in Bezug auf den Erwerb zweier Lautsysteme gestellt werden, sind unter anderem:

▸ Welchen Einfluss hat die L1 auf die Entwicklung der phonologischen Fähigkeiten in der L2 (und umgekehrt)? ▸ Welche Rolle spielt die sprachliche Umgebung? ▸ Welche Rolle spielen andere sprachliche Fähigkeiten bzw. gibt es Zusammenhänge der phonologischen Kompetenzen mit anderen sprachlichen Fähigkeiten wie dem Wortschatz? ▸ Welche Rolle spielen Erwerbsalter und -dauer im Erwerbsverlauf des phonologi‐ schen Systems? 8.2 Phonologie im Erstspracherwerb Lautwahrnehmung Kasten 1: Auditive Wahrnehmung und Verarbeitung

Wenn ein Mensch Laute oder einen Satz hört wie „Komm her!“, treffen Schallwellen an das Außenohr. Die Ohrmuschel stellt sicher, dass die Schallwellen in den Gehörgang geleitet werden. Im Mittelohr werden die Laute verstärkt und in der Cochlea („Schnecke“) im Innenohr in elektrische Aktivität umgewandelt. Diese elektrische Aktivität wird dann über den Hörnerv an das Gehirn weitergeleitet. Hier werden Laute zunächst kategorisiert, differenziert und verglichen. Dann werden größere Einheiten, Wörter und Sätze verarbeitet und interpretiert. Wenn eine Störung der auditiven Wahrnehmung oder Verarbeitung vorliegt, kann das zu zahlreichen Störungen der Sprachentwicklung oder auch des Schriftspra‐ cherwerbs führen. Das heißt: Eine Störung der auditiven Wahrnehmung bzw. Ver‐ arbeitung ist keine Hörbeeinträchtigung: Probleme sind nicht auf die Hörleistung des Ohres zurückzuführen, sondern entstehen in der neuronalen Weiterleitung zwischen Innenohr und Gehirn. Störungen der Wahrnehmung und Verarbeitung von Lauten haben gravierende Folgen für die weitere Sprachentwicklung. Zwei Monate alte Kinder, die beispielsweise die für das Deutsche relevante Längenun‐ terscheidung von Vokalen (siehe Tab. 1.2) nicht beherrschen, gelten bereits als Risikokinder für spätere Spracherwerbsstörungen (Friedrich, Weber & Friederici 2004).

125

126

8 Phonologie

Abb. 8.4: Das menschliche Gehör, schematische Darstellung (abgerufen von https://www.wilke-h oerakustik.de/das-ohr/, abgerufen am 23.06.2020).

Das Lautinventar aller Sprachen der Welt umfasst ungefähr 600 Konsonanten und 200 Vokale. Einzelne Sprachen benutzen aber deutlich weniger Konsonanten und Vokale (siehe auch Ball 2012). Das Deutsche hat z. B. 16 Vokalphoneme, das Türkische hingegen 8 (siehe auch Kap. 1.4.2). Die Wahrnehmung von Sprachlauten beginnt schon im Mutterleib. Wenige Tage alte Neugeborene reagieren, wie Studien belegen, auf ihre Muttersprache und sogar auf die Stimme der Mutter (Beauchemin et al. 2011; Mehler et al. 1988; Nazzi et al. 1998). Dies unterstreicht, dass sich das auditive System schon sehr früh auf das Lernen und Wahrnehmen von Sprache einstellt. Mit zwei Monaten können mit der Umgebungssprache Deutsch aufwachsende Säuglinge bereits unterschiedlich lange Silben im Vergleich zu kurzen Silben wahrnehmen (Friederici, Friedrich & Weber 2002). Die Wahrnehmung dieses für das Deutsche relevanten Kontrastes ist daher schon früh angelegt. Weber et al. (2004) konnten ebenfalls belegen, dass sich deutsche Babys schon in den ersten Lebensmonaten auf den muttersprachlichen Rhythmus einstellen; genauer ge‐ sagt zwischen vier und fünf Monaten: Mit vier Monaten waren die untersuchten Babys noch nicht in der Lage, den für das Deutsche typischen trochäischen Rhythmus (Máma) von dem eher untypisch jambischen (*Mamá) zu unterscheiden, mit fünf Monaten war ihnen dies möglich. Je automatisierter sprachassoziierte Wahrnehmungsprozesse ablaufen, desto besser scheinen die einzelsprachlichen Fähigkeiten ausgebildet zu werden.

8.2 Phonologie im Erstspracherwerb

Schon mit wenigen Monaten nutzen Kinder auch prosodische Muster zur Identifika‐ tion von grammatischen Irregularitäten im Input. So konnten vier Monate alte deutsche Babys bereits nach einer kurzen Lernphase von wenigen Minuten grammatikalische Fehler1 in einer ihnen unbekannten Sprache (Italienisch) identifizieren, wie in einem neurowissenschaftlichen Experiment (siehe Kasten 3) gezeigt werden konnte (Friede‐ rici, Müller & Oberecker 2011). Dies exemplifiziert den Zusammenhang von auditiven Fähigkeiten, sprachspezifischen Lautmustern und der Morphosyntax. Die Wahrnehmung spezialisiert sich im Laufe des ersten Lebensjahres zunehmend auf die Sprache(n), mit der ein Kind umgeben ist. Während Neugeborene noch in der Lage sind, Laute aller Sprachen dieser Welt wahrzunehmen, zu differenzieren und zu kategorisieren, können Babys mit 10-12 Monaten nur noch diejenigen Lautkont‐ raste unterscheiden, welche in der eigenen Sprache bzw. in den eigenen Sprachen von Bedeutung sind (Werker & Tees 1984). Was bedeutet dies? Im Japanischen beispielsweise ist der Unterschied zwischen /ra/ und /la/ nicht bedeutungstragend (d. h. „Radio“ oder „Ladio“ klingt für japanische Muttersprachler gleich). Kuhl et al. (2006) untersuchten die Unterscheidung dieses /ra/-/la/-Kontrasts: Zwischen 6-8 Monaten war die Unterscheidung bei japanischen und amerikanischen Babys gleich, danach konnten die japanischen Babys diesen Kontrast deutlich schlechter diskriminieren. Diese Entwicklung in der Diskrimination von muttersprachlichen und nicht-mut‐ tersprachlichen Lauten belegen auch elektrophysiologische Messungen: Wie Cheour et al. (1998) fanden, konnten finnische und estnische Babys im Alter von sechs Monaten estnische Vokalkontraste noch gleich gut unterscheiden, während im Alter von 12 Monaten nur noch die estnischen Babys dazu imstande waren. Dass diese Diskriminationsfähigkeit eine unabdingbare Voraussetzung für den Spracherwerb ist, belegt eine Studie, in der 11 Monate alten amerikanischen Kindern Phoneme im Eng‐ lischen und Phoneme, die es im Englischen nicht gibt, präsentiert wurden. Die Kinder, die unbekannte Phoneme besser differenzieren konnten, zeigten im Alter von zwei Jahren schlechtere sprachliche Leistungen als diejenigen, die die englischen Phoneme besser unterscheiden konnten, und waren auch in der späteren Sprachentwicklung im Nachteil (Kuhl & Rivera-Gaxiola 2008). Die Autoren führen das auf ein Kontinuum zwischen frühen und späten sprachlichen Fähigkeiten zurück.

1

Z.B. „*Il fratello sta cantare“ statt „Il fratello sta cantando“ (Friederici, Müller & Oberecker 2011, keine Seitenangabe).

127

128

8 Phonologie

Kasten 2: Das „Fis“-Phänomen

Die folgende inzwischen berühmte Szene wird in der Literatur berichtet (Berko & Brown 1960: 531): Kind: Erwachsener: Kind: Erwachsener: Kind:

„Fis.“ (= aufblasbarer Plastikfisch) „Ist das dein Fis?" „Nein.“ „Ist das dein Fisch?" „Ja, mein Fis."

Dieser Austausch zeigt, dass das Kind das Phonem /ʃ/ zwar nicht produzieren konnte, es jedoch vom Phonem /s/ unterscheiden konnte. Das in Kasten 2 aufgeführte Phänomen des Spracherwerbs bei Kindern demonstriert, dass die Wahrnehmung von Phonemen sich früher einstellt als die Fähigkeit des Kindes, diese Phoneme zu produzieren. Das Sprachverständnis geht im Spracherwerb generell der Sprachproduktion voraus (siehe auch z. B. Wortschatz). Als nächstes widmen wir uns nun der Lautproduktion. Lautproduktion

Wenn (ein- oder mehrsprachige) Babys in den ersten Lebensmonaten zu babbeln begin‐ nen, produzieren sie Laute, die noch keinen semantischen Referenten haben (Fox-Boyer & Schäfer 2015). Im monolingual deutschen Erwerb erwerben Kinder zunächst sog. kanonische Lalläußerungen, die aus ein- oder zweisilbigen Konsonant-Vokalfolgen (CV, CVCV oder CVC) bestehen. Insbesondere Labiale, Alveolare und Plosive wie [m], [p] und [d] werden besonders häufig verwendet wie bei Mama / Papa im Deutschen oder Daddy / Mommy im Englischen (Fox-Boyer & Schäfer 2015; für das Englische Dodd et al. 2003). Mit rund einem Jahr, wenn die ersten Wortproduktionen auftreten, realisieren Kinder, dass Lautketten eine Bedeutung haben. Zunächst werden Wörter als Ganzes, als holistische Einheiten, gespeichert und produziert. Die Lautproduktion ist noch durch zahlreiche von der Zielsprache abweichende phonologische Verände‐ rungen charakterisiert (z. B. Reduktion von Konsonantenverbindungen: /lu:mə/ statt / blu:mə/, Vorverlagerung von /ʃ/ zu /s/: /su:lə/ statt /ʃu:lə/, etc.). Ab 2;6 Jahren werden die Wortproduktionen zunehmend stabiler (Fox-Boyer & Schäfer 2015).

8.2 Phonologie im Erstspracherwerb

129

Alter

Petermann (2016)

1;0 – 1;5

Erhebung fand erst ab 3;0 Jah‐ ren statt

1;6 – 1;11

Fox-Boyer (2011) Keine Daten m, p, d

2;0 – 2;5

b, n

2;6 – 2;11

v, f, l, t, ŋ, x, h, k, s, z

3;0 – 3;5

p, b, m, f, v, pf, t, d, n, s, z, l, x, g, ŋ, h

j, ʁ, g, pf

3;6 – 3;11

j

ts

4;0 – 4;5

ts k R

ç

4;6 – 4;11

ʃ

5;0 – 5;5 5;6 – 5;11

ʃ

Tab. 8.1: Übersicht über den Erwerb der Konsonanten im Deutschen aus Petermann (2016) und Fox & Dodd (1999: 186) Hier ist das 90 %-Kriterium abgebildet: 90 % der Kinder in den Alterskategorien hatten mindestens zwei von drei korrekten Lautproduktionen.

Wie Tab. 8.1 zu entnehmen ist, werden bis zum Schuleintritt im Deutschen die Konsonanten durchgängig erworben (Petermann 2016). Spätester Laut ist das [ʃ], der bei Petermann (2016) etwas später verortet wird (5;6 – 5;11 Jahre) als bei Fox und Dodd (1999)2 (4;6 – 4;11 Jahre)3. Unterschiede können möglicherweise auf die Stichproben zurückgeführt werden. Fox und Dodd (1999: 188) begründen die Abfolge der Phoneme damit, dass Phoneme, die in besonders häufig gebrauchten frühen Wörtern im Deutschen wie „da“ oder „was“, „wo“ (mit dem Phonem /v/ realisiert) vorkommen, zuerst erworben werden. Vokale werden früher und stabiler als Konsonanten erworben – erste Vokale sind [a], dann [i]

2

3

Vergleichbare Studien, die über die Erhebung von Einzelfalldaten hinausgingen, waren bis dato Grohnfeldt (1980) und Fongaro-Leverin (1992). Für einen aktuelleren Überblick siehe Katerbow (2013). Allerdings ist tatsächlich erstaunlich, dass bis zur Studie von Fox und Dodd (1999) die phonologische Entwicklung im Deutschen noch nicht systematisch, d. h. inklusive aller Laute des Deutschen, untersucht wurde. Unterschiede zur Studie von Fongaro-Leverin (1992) werden darauf zurückgeführt, dass dort sprech- und sprachgestörte Kinder nicht klar unterschieden wurden. In der Studie von Petermann (2016) wurden insgesamt 1095 Kinder zwischen 3 und 5 Jahren untersucht (im Rahmen der Normierung des Sprachentwicklungstests SET 3-5), bei Fox und Dodd (1999) wurden 117 Kinder im Alter von 1;6 – 5;5 Jahren untersucht. Auch die Erhebungsverfahren unterschieden sich: Bei Petermann (2016) wurden Kinder anhand eines standardisierten Verfahrens (optionales Aussprachescreening des SET 3-5) untersucht, bei Fox und Dodd (1999) wurde ein nicht-standardisierter Bildbenennungstest (99 Items) eingesetzt. Hier wurden alle Lautverbindungen an den unterschiedlichen Positionen im Wort abgeprüft.

130

8 Phonologie

und [u] (Von Suchodoletz 2006). Sprachlich normal entwickelte Kinder können in der Regel im Alter von zwei Jahren alle Vokale sicher produzieren, lediglich die Produktion von Diphthongen kann längere Zeit in Anspruch nehmen (Fox & Dodd 1999). Der Phonemerwerb ist üblicherweise innerhalb der ersten fünf Jahre abgeschlossen, wenngleich dies nicht bedeutet, dass alle Kinder jeden Laut in jedem Alter korrekt produzieren. Abweichungen sind hier bis in die Schulzeit hinein möglich.

Aufgaben 1.* 2.**

3.***

Welche Laute produzieren monolinguale Kinder bis zum Alter von drei Jahren relativ sicher? Sehen Sie sich im Internet den TED-Vortrag von Patricia Kuhl aus dem Jahr 2010 an (https://www.ted.com/talks/patricia_kuhl_the_linguistic_genius_of_ba bies?language=de#t-34960, abgerufen am 10.08.2020). Warum nennt sie Babys „Sprachgenies“? Lesen Sie die Studie von Kuhl, Tsao und Liu (2003) zum frühen Erwerb des Chinesischen bei amerikanischen Kindern. Kann man aus der Studie schließen, dass der Fremdspracherwerb unter einem Jahr besonders gut gelingt?

Methoden zur Untersuchung der phonologischen Entwicklung

Lautwahrnehmungstests

Eine Möglichkeit für die Untersuchung von Säuglingen und ihren Diskriminationsfä‐ higkeiten von akustischen Reizen (Tönen, Lauten, Wörtern etc.) ist das sog. High-Am‐ plitude Sucking (Byers-Heinlein 2014a; Jusczyk 1985). Dabei wird erfasst, wie sich die Nuckelrate bei der Präsentation von neuen Stimuli von derjenigen bei bekannten Stimuli unterscheidet; z. B. die Stimme der Mutter im Vergleich zur Stimme einer anderen Frau. Gerade im Bereich der frühkindlichen Spracherwerbsforschung haben sich zudem Blickbewegungsstudien als sehr sinnvoll herausgestellt. Bei diesen sitzt das Kind üblicherweise auf dem Schoß der Mutter und es werden verschiedene auditorische Stimuli präsentiert. Hier gibt es verschiedene Methoden, z. B. Preferential Looking Paradigm, Head Turn Preference Paradigm oder Switch Paradigm. So kann beispielsweise untersucht werden, ob Babys eine eigene von einer fremden Sprache unterscheiden können oder ob sie kleine Fehler in Sätzen entdecken (im Überblick siehe Fox-Boyer & Schäfer 2015; Karmiloff-Smith & Karmiloff-Smith 2001)4.

4

Weitere Details siehe unter https://www.ling.uni-konstanz.de/bsl/forschung/methoden/, abgerufen am 19.02.2020.

8.2 Phonologie im Erstspracherwerb

Doch auch neurowissenschaftliche Untersuchungen können bereits mit ganz kleinen Babys durchgeführt werden. Hierzu eignen sich elektrophysiologische Studien anhand des EEG (insbesondere die Mismatch Negativity, siehe Kasten 3) oder auch z. B. die NIRS (Near Infrared Red Spectroscopy), anhand welcher der Blutfluss im Gehirn untersucht werden kann (im Überblick siehe Kuhl & Rivera-Gaxiola 2008). Kasten 3: Elektrophysiologische Studien

Viele elektrophysiologische Studien, die die phonologische Verarbeitung untersu‐ chen, nutzen die Mismatch Negativity (MMN, Näätänen et al. 1978; Näätänen et al. 2007). Diese neuronale Reaktion wird in der Regel durch akustische Stimuli bzw. die Verletzung einer Abfolge von Stimuli evoziert. Bereits 80-250 ms nach der Präsentation von Stimuli wird diese beobachtet. Das ist sehr früh in der Sprachverarbeitung. Zum Vergleich: Lexikalische Verletzungen werden nach ca. 400-600 ms erkannt. Die verwendeten Stimuli können Phoneme, Silben oder auch Töne sein. Beispiels‐ weise wird in der Präsentationsreihe aus Standards /ba/, /ba/, /ba/, /da/, /ba/, /ba/ das abweichende /da/ (Deviant) als Veränderung wahrgenommen. Die Differenz dieser Abweichung zwischen Standard /ba/ und Deviant /da/ wird als Mismatch Negativity (MMN) bezeichnet, da diese Differenz in der Regel eine negative Span‐ nungsänderung bedeutet. Im Bereich der Zweitspracherwerbsforschung eignet sich diese Komponente besonders, da sie Unterschiede in der Wahrnehmung spracheigener und sprachfremder Phoneme registriert. Zahlreiche Studien haben die MMN zur Untersuchung der sprachlichen Fähigkeiten bei jüngeren und älteren Sprachlernern eingesetzt. Da diese keine aktive Reaktion der Probanden erfordern, können bereits Neugeborene an Studien teilnehmen.

Abb. 8.5: Die Mismatch Negativity (MMN) wird als Differenzkurve aus einem Standardreiz und einem abweichenden Reiz (= Deviant) errechnet (Grafik modifiziert aus Bendixen & Schröger 2017: 67).

131

132

8 Phonologie

MMN-Studien konnten beispielsweise zeigen, wie die Entwicklung phonologischer Kategorien durch den Input, insbesondere die familiäre sprachliche Umgebung, geprägt wird. Bei bilingual spanisch-englisch aufwachsenden Säuglingen konnte in zwei Studien belegt werden, dass intensiver elterlicher Input in jeder Sprache mit einer erhöhten Amplitude der MMN einhergeht (García-Sierra et al. 2011, 2016). Bei spanisch-englischen Vierjährigen wurde ein Zusammenhang zwischen der Verwendung von Englisch im Haushalt und der MMN auf einen englischen Vokalkontrast beobachtet, d. h. je mehr Englisch zu Hause gesprochen wurde, desto besser konnte ein englischer Vokalkontrast diskriminiert werden (Vidal 2015). Lautdiskrimination: In der Forschung zur Sprachwahrnehmung werden häufig Tests eingesetzt, die den aktiven Vergleich von Sprachlauten von Probanden fordern. Hier werden z. B. zwei unterschiedliche Sprachlaute (Laut A und Laut B) präsentiert und dann entweder Laut A oder B („X“). Probanden müssen dann entscheiden, ob es sich hierbei um A oder B handelt. Diese werden zum Beispiel ABX- oder AXB-Task genannt, je nachdem an welcher Stelle sich der zu bestimmende Laut befindet (Jiang 2018). Diese Aufgabe kann schon vor dem Schulalter eingesetzt werden. Lautproduktionstest

Es liegt eine Vielzahl an Verfahren vor, die die Lautproduktion bei einsprachig deutschen Kindern überprüfen (im Überblick siehe Allemand, Fox-Boyer & Gumpert 2008). Hierzu gehört beispielsweise die Aachener Dyslalie Diagnostik (ADD, Stiller & Trokuss 2000, wie in Studie 2, Kap. 8.5.1 eingesetzt). Dieser Test basiert auf 98 Farbfotos und fordert von den Kindern die Benennung dieser Items. Auch in zahlreichen Sprachentwicklungstests (wie dem SET 5-10, Petermann 2016, s. Abb. 8.6) finden sich Tests zur Überprüfung der Lautproduktion; alternativ können Materialien, die für andere Aspekte eingesetzt werden (z. B. Benennleistungen zur Erfassung des Wortschatzes), auch zur Überprüfung des Lautinventars genutzt werden (siehe Studie 3, Kap. 8.5.2). PLAKSS (Psycholinguistische Analyse kindlicher Aussprachestörungen, Fox-Boyer 2014; Diskussion in Fox-Boyer et al. 2018; wie in Studie 4, Kap. 8.5.3, eingesetzt) ist ebenfalls ein Bildbenennungsverfahren. PLAKSS ist die, so Fox-Boyer et al. (2018), bis‐ lang reliabelste Möglichkeit, die phonetisch-phonologischen Fähigkeiten von Kindern abzuprüfen.

8.2 Phonologie im Erstspracherwerb

Abb. 8.6: Bildkarten aus dem SET 5-10 (Petermann 2016; https://www.k2-verlag.de/vde/set-5-10.html, abgerufen am 10.08.2020).

Für bilinguale Kinder liegen einige wenige Testverfahren vor, die die Lautproduktion in anderen Sprachen erfassen; für das Türkische existiert der TAT (Türkisch-Artiku‐ lations-Test; Naş 2010) sowie der WIELAU-T (Wiener Lautprüfverfahren für Türkisch sprechende Kinder; Lammer & Kalmár 2004). Bei beiden handelt es sich um ein Bildbenennungsverfahren, bei dem die von den Kindern produzierten Items mit Items auf einer CD von Diagnostikern abgeglichen werden können. Für das Türkische und das Russische kann der Test SCREEMIK 2 (Screening der Erstsprachfähigkeit bei Migrantenkindern; Wagner 2008) eingesetzt werden. Alle diese Testverfahren ermöglichen aufgrund mangelnder Normierungen aber lediglich eine „Orientierung“ und keine Diagnose (Fox-Boyer & Neumann 2017: 56). Nur das von Albrecht (2017) entwickelte Verfahren TPT (Türkischer Phonologietest für türkisch-deutsch bilinguale Kinder, Studie 4, Kap. 8.5.3) wurde nach internationalen Kriterien erstellt und normiert.

Aufgaben 1.* 2.**

3.***

Nennen Sie je zwei Testverfahren für monolinguale und bilinguale Kinder. Welche Untersuchungsmethoden eignen sich um herauszufinden, welche deut‐ schen Laute Deutschlernende unterscheiden, aber noch nicht produzieren kön‐ nen? Testverfahren, die für monolinguale Kinder erstellt wurden, können nur bedingt für bilinguale Kinder eingesetzt werden. Warum? Überlegen und diskutieren Sie.

Theorien des phonologischen Erwerbs

In der anglo-amerikanischen Literatur finden sich seit den späten 1960er Jahren Ausführungen zum Erwerb des phonologischen Systems bei Kindern (Vihman 2015). Insbesondere der Strukturalist Roman Jakobson hat diese frühe Debatte mitgeprägt. In

133

134

8 Phonologie

seiner Beobachtung bedeutet die phonetisch-phonologische Entwicklung ein Durch‐ laufen von der „phonetic richness“ aller Sprachen in der Babbelphase zur „phonological limitation“ eines sprachspezifischen Inventars in der Phase, in der Lautketten mit Bedeutung verknüpft werden (Jakobson 1971: 9). Dies sind Prinzipien, die heute mit modernen z. T. psycho- oder neurolinguistischen Methoden genauso bestätigt werden können (siehe unten). In der Gesamtschau vieler unterschiedlicher Sprachen ergibt sich eine „relative chronology“ (Jakobson 1971: 10). Vergleichbare Erwerbsverläufe, die selbstverständlich auch individuell geprägt sein können, finden sich in allen Sprachen der Welt. Diese beginnen in der Regel mit einem Vokal (i. d. R. [a]) und einem Verschluss des Mundes ([m, n, p, t]), was die sog. „maximale Opposition“ ergibt (siehe Mama, Papa). Für die Sprachen der Welt definiert er ein minimales konsonantisches und vokalisches System, das seines Erachtens diese Universalien belegt (Jakobson 1971: 10). In den letzten Jahrzehnten zeigen allerdings zahlreiche feinkörnigere Erkenntnisse, dass z. B. Vokalproduktionen von zehnmonatigen Babys im Englischen, Chinesischen, Französischen und Arabischen eher den Produktionen Erwachsener der jeweiligen Sprachen gleichen als einander (De Boysson-Bardies et al. 1989)5. Dies stellt den von Jakobson postulierten universellen Ablauf in Frage. Ausgehend von den strukturellen Betrachtungen der 60er und 70er Jahre entwickelten sich zahlreiche Theorien, warum der Erwerb in der von Jakobson angenommenen Form abläuft. Die Theorien des phonologischen Erwerbs gliedern sich – stark vereinfacht – in zwei „Lager“: Formale Ansätze und funktionale Ansätze (für eine kritische Diskussion siehe Nathan 1999 sowie die detaillierte Darstellung in Albrecht 2017). Formale Ansätze beinhalten universalgrammatische Annahmen basierend auf Chomsky und Kollegen. Diese besagen, dass der Erwerb des phonologischen Sys‐ tems angeboren ist und hier generelle Mechanismen im Erwerb greifen. Gerade die sprachuniversellen Abfolgen oder die Tatsache, dass Kinder auf die Welt kommen und jede Sprache dieser Erde erwerben können, könnten tatsächlich diese Annahme stützen. Allerdings, so Bybee (1999) als Vertreterin eines funktionalen Ansatzes, ist dieser Schluss von cross-linguistischen Prinzipien zu angeborenen Mechanismen ein „Trug-Schluss“ (Bybee 1999: 233). Sie schreibt: Some universals come from phonetic factors, others arise because of the external context in which language is used, others from cognitive or perceptual factors that are independent of language. Only if language is viewed in the more general context of real usage by real language users will it become clear how to describe and explain crosslinguistic patterns. (Bybee 1999: 235)

Funktionale, gebrauchsbasierte Ansätze beinhalten daher Vorstellungen, dass Input und Umweltfaktoren im Erwerb der phonologischen Einheiten einer Sprache (oder

5

Es wurde in dieser Studie das Babbeln von zehnmonatigen Babys aufgenommen und die Formantfre‐ quenzen der Vokale mit den Vokalproduktionen Erwachsener verglichen.

8.3 Phonologie im bilingualen Erwerb / Zweitspracherwerb

von Sprachen) in der Zuweisung von Form-Funktions-Zusammenhängen entscheidend sind. Kinder bilden Kategorien auf der Basis der Sprache, die sie um sich herum wahrnehmen. Dies gilt nicht nur für den Bereich der Phonologie. Wie Bybee (1999: 236) formuliert, sind das Lexikon und die Regeln der Morphosyntax und Phonologie eng miteinander verwoben und bilden eine Netzwerkstruktur. In this view, as users of language experience tokens of language use, they categorize them at varying degrees of abstractness. This categorization process creates a vast network of phonological, semantic and pragmatic associations that range over what has traditionally been designated as lexicon and grammar. (Bybee 2008: 216/217)

Daher wird auch in diesem Buch immer wieder auf die Rolle des Sprachgebrauchs und die Entwicklung anderer linguistischer Subsysteme und ihre Interaktion miteinander verwiesen (siehe Wortschatz, Plural, etc.). 8.3 Phonologie im bilingualen Erwerb / Zweitspracherwerb Beim Erwerb einer Sprache muss das Kind aus dem Lautstrom relevante akustische und phonetische Information extrahieren. Beim Erwerb von zwei Sprachen sind diese Prozesse deutlich komplexer: Das Kind muss hier aus dem Lautstrom von zwei (oder mehreren) Sprachen akustisch-phonetische Informationen extrahieren und sie der einen oder anderen Sprache zuordnen. Im Laufe des ersten Lebensjahres spezialisiert sich das phonologische System auf die Sprache der Umgebung und die Fähigkeit, Phonemkontraste, die nicht aus der Erstsprache stammen, wahrzunehmen, sinkt (Cheour et al. 1998; Fox-Boyer & Schäfer 2015; Kuhl et al. 1992). Die Phonemdiskrimination und -wahrnehmung sind Indikatoren rezeptiver Kompetenz und schon ab der frühesten Kindheit messbar. Bei bilingualen Kindern, die von Geburt an in einer kontinuierlich zweisprachigen Umgebung aufwachsen, spezialisiert sich das Phoneminventar im Laufe des ersten Lebensjahres (und ggf. noch etwas später) auf zwei Systeme (Bosch & Sebastián-Gallés 2003). Das heißt, dass die Entwicklung phonologischer Kategorien durch den Input, insbesondere zunächst in der familiären sprachlichen Umgebung, geprägt wird. Das eröffnet die Frage, wie die Lautsysteme zweier oder mehrerer Sprachen inter‐ agieren. Ungeklärt ist bis heute die Frage, inwieweit bei bilingualen Kindern von einem oder zwei phonologischen Systemen auszugehen ist. Es gibt Studien, die zeigen, dass bei (von Geburt an) bilingualen Kindern zunächst fusionierte Systeme (z. B. Schnitzer & Krasinski 1994) existieren, dann separate Entwicklungen in den phonologischen Systemen der Kinder mit möglichen Interaktionen erfolgen (z. B. Fabiano & Goldstein

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136

8 Phonologie

2005; Holm & Dodd 19996; Paradis 20017). Es können auch beispielsweise vergleichbare Substitutionen im Phoneminventar beobachtet werden, die eher für eine gemeinsame Entwicklung sprechen. Drei Phänomenbereiche zwischen L1 und L2 bzw. L1 und L2, L3, Lx existieren (siehe Albrecht 2017: 16; Core & Scarpelli 2015; Goldstein & McLeod 2012). 1. Transfer ist die Übertragung von bestimmten phonetisch-phonologischen As‐ pekten8 der einen auf die andere Sprache. Transfer kann in beide Richtungen – von der L1 in die L2 oder umgekehrt – erfolgen. 2. Langsamere Entwicklung (Decelaration-Hypothesis, Fabiano-Smith & Goldstein 2010; Paradis & Genesee 1996) des phonetischen Inventars bei bilingualen Kindern, die durch eine Interaktion der phonologischen Systeme der beiden Sprachen verur‐ sacht wird. Marecka und Kollegen (2019) diskutieren, ob es möglicherweise bis zu einem bestimmten Alter (das sie bei 4;7 Jahren festlegen) zu einer Verzögerung kommt, nach welchem dann primär Transfer zu beobachten ist. 3. Einige wenige Studien zeigen aber auch eine schnellere Entwicklung (Accelara‐ tion-Hypothesis, Fabiano-Smith & Goldstein 2010; Paradis & Genesee 1996) durch die beiden interagierenden Systeme (Tamburelli et al. 2014). Zudem könnte die Entwicklung auch den gleichen Verlauf zeigen wie bei monolingualen Kindern, was ebenfalls in Studien belegt wurde (im Überblick siehe Hambly et al. 2013). Brian MacWhinney (2008) vertritt in seinem Unified Systems Model die Annahme, dass Phoneme, die in beiden Sprachen existieren, zu einem positiven Transfer 9 führen, da die Datenbasis durch den Input in zwei Sprachen hier deutlich erhöht ist. Phoneme hingegen, die nur in einer Sprache existieren, kommen im Input seltener vor und können zu einer verzögerten oder verlangsamten Entwicklung führen (negativer Transfer). Allerdings argumentiert Albrecht (2017: 17), basierend auf Zählungen zur Buchstabenhäufigkeit10, dass die Häufigkeiten einzelner Phoneme in den Sprachen nicht gleich sind. Insofern wäre eine Erfassung des Sprachgebrauchs oder des Inputs hier nur bedingt hilfreich oder die generelle Häufigkeit bestimmter Phoneme müsste ebenfalls berücksichtigt werden. Qualitative Abweichungen sind neben quantitativen Abweichungen in der phonologi‐ schen Entwicklung ebenfalls vorhanden: Wie in diversen Studien berichtet wird, sind hiervon sogar die Vokale betroffen (z. B. Holm & Dodd 2006), die üblicherweise bei monolingualen Kindern früh erworben werden. Eine der wenigen Untersuchungen bei 6 7 8 9 10

In dieser Studie wurden allerdings nur zwei zweijährige Kinder in ihrer chinesisch-englischen Phonementwicklung untersucht. Paradis und Genesee (1996) postulieren vergleichbar für die Syntax bei bilingualen Kindern zwei autonome Bereiche, die miteinander interagieren. Transfer kann auch in anderen sprachlichen Bereichen auftreten (z. B. Syntax). Positiver Transfer bedeutet eine gelungene Übertragung einer Struktur von einer Sprache in die andere, negativer Transfer hingegen die fehlerhafte Übertragung. Generator für Buchstabenhäufigkeiten, https://www.sttmedia.de/buchstabenhaeufigkeiten; abgeru‐ fen am 19.05.2020: z. B. /i/ Deutsch: 8,02 %, Türkisch: 3,84 %, /y/: Deutsch: 0,65 %; Türkisch: 1,77 %.

8.3 Phonologie im bilingualen Erwerb / Zweitspracherwerb

Kindern, die mit Deutsch und Spanisch aufwachsen, belegt dies: Kehoe (2002) untersuchte drei bilingual spanisch-deutsche Kinder im Vergleich zu zwei monolingual spanischen und drei monolingual deutschen Kindern (im Alter von 1;0 bis 3;0 Jahren). Im Fokus stand die Vokallänge; hier unterscheiden sich das Spanische und das Deutsche in dem bedeutungstragenden Unterschied von Länge und Kürze (wie auch das Türkische und das Deutsche, siehe Kap. 1). Die Daten wurden anhand von Spontansprachdaten (siehe Kap. 11.2) erhoben, transkribiert und auf die Vokallänge untersucht. Die Ergebnisse zeigen klare Unterschiede zwischen den monolingualen und bilingualen Kindern: Die bilingualen Kinder produzierten zwar wie die monolingualen Kinder die spanischen und deutschen Vokale überwiegend korrekt, aber sie zeigten eine Veränderung der Vokaldauer im Deutschen. Die Autorin interpretiert dies als „cross-linguistic interaction in the vowel productions“ (Kehoe 2002: 332). Gemäß Albrecht (2017) finden sich kaum abweichende Phänomene in der bilingualen Entwicklung, die nicht auf Transfer zwischen der L1 und der L2 zurückzuführen sind. Veränderungen, die nicht auf die L1 oder die L2 zurückzuführen sind, können aber immer noch typisch für eine spezifische Sprachkombination sein (wie z.B. die Veränderungen der Vokallänge bei türkisch-deutschen Kindern). Dies macht die Abgrenzung zu Störungen des Spracherwerbs bei bilingualen Kindern besonders schwie‐ rig (Fox-Boyer, Fricke & Albrecht 2020). Die Erfassung der phonologischen Entwicklung von Kindern unterschiedlicher Sprachkombinationen in Forschungskontexten ist daher weiterhin dringend erforderlich. Aus funktionaler Perspektive erfolgt die Entwicklung des phonologischen Systems immer in Abhängigkeit des Inputs und im Kontext des Lernens von Items (siehe auch Hambly et al. 2013). Eine Studie mit einem trilingual aufwachsenden Kind (Spanisch, Mandarin, Taiwanesisch) illustriert ebenfalls diesen Punkt (Yang & Zhu 2010: 124): The amount of input, the phonological saliency of the target system and degree of relatedness of language systems all play a role in the rate of acquisition. We have seen in this study both shared and language-specific error patterns in D’s [the subject; T.R.] speech across the three languages. While this provides the evidence for the argument that transfer and interaction exists between the languages involved, it also highlights the child’s ability to differentiate the three languages at an early age.

Es ist ebenfalls gemäß einem funktionalen Ansatzes unbestritten, dass externe und auch im Kind liegende Faktoren einen Einfluss auf den Erwerb des phonologischen Systems haben. Interne Faktoren können u. a. sein: das Erwerbsalter (das häufig mit der Sprachkompetenz einhergeht), das Geschlecht11, die Sprachkompetenzen im Allgemeinen, die auch die beiden Sprachen in unterschiedlichem Maße beeinflussen können (im Überblick siehe Albrecht 2017: 24-28). Unter externe Faktoren zählen z. B. der sprachliche Input aus der Umgebung (Eltern, ErzieherInnen, etc.). Hier sind insbesondere die Sprachkompetenzen der Gesprächspartner in den jeweiligen Sprachen und auch die Menge des Inputs relevant.

11

In vielen Studien zum Spracherwerb werden bei Jungen langsamere Entwicklungen beobachtet.

137

138

8 Phonologie

Diese Annahmen stellen eine gute Ausgangsbasis für Studien dar, wie sie in den Studienkapiteln (s. unten) beschrieben werden. Für das Deutsche liegen für den Erwerb des phonologischen Systems im Kontext von Mehrsprachigkeit sehr wenige Studien vor. Im Folgenden werden vier ausgewählte Studien für beide Bereiche – Phonemwahrnehmung und - produktion – vorgestellt.

Aufgaben 1.* 2.**

Was sind die Hauptaussagen von funktionalen und formalen Ansätzen? Finden Sie Beispiele für einen möglichen phonetisch-phonologischen Transfer zwischen dem Italienischen und dem Deutschen (Hierfür können Sie bei Hirsch‐ feld & Reinke (2018: 112-115) nachschlagen). *****

Im Folgenden soll exemplarisch eine Studie zur Phonemdiskrimination bei tür‐ kisch-deutschen Kindern präsentiert werden. 8.4 Studie 1: Neurophysiologische Marker der Phonemverarbeitung Rinker, T., Alku, P., Brosch, S. & Kiefer, M. (2010). Discrimination of native and non-native vowel contrasts in bilingual Turkish-German and monolingual German children: Insight from the Mismatch Negativity ERP component. Brain and Language 113, 90-95. (ebenso Rinker 2017; Rinker 2020). Hintergrund

Basierend auf der o. g. Annahme, dass der Aufbau des Phoneminventars der eigenen Sprache(n) unter Verlust der Wahrnehmungsfähigkeit für Kontraste der anderen Sprache(n) stattfindet, konnte in der Vergangenheit eine Reihe von Studien zum immersiven Lernen in Kindertageseinrichtungen zeigen, dass durch entsprechende Lernumgebungen die im Laufe des ersten Lebensjahres reduzierte Phonemdiskrimi‐ nation für Nicht-Erstsprachen „wieder erworben“ werden kann. Diese feinkörnigen Erkenntnisse wurden auf der neurophysiologischen Ebene generiert, anhand der Mismatch Negativity (siehe Kasten 3). Die bislang überzeugendsten Ergebnisse in Bezug auf den Erwerb nicht-erstsprach‐ licher Phonemkontraste stammen aus bilingualen Immersionsprogrammen in Kinder‐ tagesstätten. Französische Immersionsprogramme in Finnland führen bei Kindern zwi‐ schen drei und sechs Jahren bereits nach zwei Monaten zu einer zielsprachlichlichen Unterscheidung von französischen Vokalkontrasten (Cheour et al. 2002; Shestakova et al. 2003; vgl. auch Peltola et al. 2005). Der Anteil des Kontakts mit dem Französischen lag jeweils bei 50-90 % und es wurden französische Herkunftssprecher eingesetzt.

8.4 Studie 1: Neurophysiologische Marker der Phonemverarbeitung

Im Gegensatz dazu fand eine Studie aus der deutschsprachigen Schweiz heraus, dass der frühe Englischunterricht in der ersten Klasse (2 x 45 min. pro Woche) zu keinen Veränderungen der Phonemdiskrimination zwischen Beginn und Ende der 1. Klasse führte (Jost et al. 2015). In den Klassen wurden Lehrkräfte mit guten Sprachkenntnissen (mindestens C1) eingesetzt, die allerdings keine MuttersprachlerInnen des Englischen waren. Eine reduzierte bzw. nicht vorhandene Diskrimination von fremden Phonem‐ kontrasten (/ra/ vs. /la/) wurde ebenfalls bei japanischen Erwachsenen, die nach ihrem 12. Lebensjahr Englisch gelernt hatten (Bomba et al. 2011) oder bei Studierenden des Fachs Englisch an einer italienischen Universität gefunden (Grimaldi et al. 2014)12. Das heißt, dass die Methode der Vermittlung hier durchaus eine Rolle spielt. Für die nun im Weiteren erläuterte Studie, in der ebenfalls Phonemkontraste unter‐ sucht wurden, ist Folgendes relevant: Das deutsche und das türkische Vokalsystem unterscheiden sich in der Anzahl der Vokalphoneme (Türkisch 8, Deutsch 16, siehe Abb. 8.7) sowie den Produktionsorten (ein Vokaltrapez des Deutschen findet sich in Abb. 1.3). Unter einer Erwerbsperspektive könnten nun vor allem die im Türkischen nicht vorkommenden Laute bei Kindern mit L1 Türkisch im Erwerb des Deutschen schwierig wahrzunehmen sein. Auf dieser Annahme basieren die nun folgende Fragestellung und die Hypothesen.

Abb. 8.7: Vokale des Türkischen (Zimmer & Orgun 1999: 155)

Fragestellung / Hypothese

Wie diskriminieren türkisch-deutsche und monolingual deutsch aufwachsende Vor‐ schulkinder sprachspezifische und sprachunspezifische Phoneme? Auf der Basis der Studien von Cheour et al. (2002) und Peltola et al. (2005) wird angenommen, dass, wenn die Immersionssituation in einem deutschen Kinder‐ garten ausreichend ist, eine Diskrimination eines deutschen Vokalkontrastes seitens türkisch-deutscher Kinder vergleichbar mit der Diskrimination monolingual deutscher Kinder ist. Eine spezifische Reduktion der MMN auf den deutschen Vokalkontrast 12

In der Studie von Grimaldi spielte es keine Rolle, ob die Studierenden das erste oder das fünfte Jahr im Fach Englisch besuchten. Grimaldi et al. (2014) betonen, dass Phonetik/Phonologie in den Kursen zur Sprachvermittlung an jener Universität eine geringe Rolle spielen und selten Muttersprecher die Sprache vermitteln.

139

140

8 Phonologie

wäre ein Zeichen für einen (noch) nicht zielsprachlichen Erwerb des Deutschen. Bei einem Kontrast, der sowohl im Deutschen als auch im Türkischen vorhanden ist, wird hingegen kein Unterschied zwischen den beiden Gruppen erwartet. Probanden

In die Auswertung wurden 12 türkisch-deutsche Kinder (Mittleres Alter 5;3 Jahre, 7 Jungen) und 16 monolingual deutsche Kinder (Mittleres Alter: 5;4 Jahre, 9 Jungen) einbezogen. Beide Elternteile der türkisch-deutschen Kinder waren jeweils türkischer Herkunft und die dominante Sprache war überwiegend bis zum Kitaeintritt Türkisch. Im Kita-Alltag wird in der Regel nur Deutsch benutzt. Die Eltern gaben an, dass die Kinder im Schnitt seit dem Alter von 28,5 Monaten (SD ± 12) mit dem Deutschen in Kontakt waren. Alle Kinder hatten einen normalen IQ über 85 und ein normales Gehör. Während Alter und kognitive Entwicklung vergleichbar waren, unterschieden sich die Gruppen in den produktiven und rezeptiven deutschen Sprachkenntnissen (gemessen anhand des Heidelberger Sprachentwicklungstests, HSET, Grimm & Schöler 1991). In einem passiven Wortschatztest für das Türkische (CITO/jetzt PRIMO, Arnheim, NL, siehe Kap. 9.3) erzielten die türkisch-deutschen Kinder 39 von 60 Punkten.13 Material

Den Kindern wurden isolierte Vokalphoneme über Kopfhörer präsentiert, während das EEG abgeleitet wurde. Der deutsche Phonemkontrast /ε/ vs. /e/ und der türkische und der deutsche Kontrast (/i/ vs. /y/) wurden zur Evozierung der MMN eingesetzt. Hierbei wird eine Serie von Standards (/ε, ε, ε/ bzw. /i, i, i) von Devianten /e/ bzw. /y/ unterbrochen. Ergebnisse

Die türkisch-deutschen Kinder zeigten eine signifikant reduzierte MMN auf den deutschen Phonemkontrast (gestrichelte Linie liegt unter der durchgezogenen Linie, Abb. 8.8, oberer Teil) Bei dem Vokalkontrast, der im Türkischen und Deutschen existiert, wurde kein Gruppenunterschied gefunden (gestrichelte Linie liegt im Bereich der durchgezogenen Linie, Abb. 8.8, unterer Teil). Die Ergebnisse reflektieren eine ge‐ ringere Diskrimination des Phonemkontrasts im Vergleich zur monolingualen Gruppe trotz einer Immersionssituation in einer deutschen Kita.

13

Dieser Wert liegt knapp unter dem Durchschnittsbereich (dieser liegt bei bis zu 40 von 60 möglichen Punkten).

8.4 Studie 1: Neurophysiologische Marker der Phonemverarbeitung

Abb. 8.8: Standard und Deviant sowie die Differenzkurve auf /ε/ vs. /e/ und /i/ vs. /y/ bei deutschen und türkisch-deutschen Kindern (Grafik aus Rinker et al. 2010: 93)

Fazit

Insgesamt fügen sich die Ergebnisse in den bisherigen Erkenntnisstand ein: Sukzessiv bilinguale Kinder zeigen in der später erworbenen Sprache eine geringere Ausprägung der MMN (siehe Sebastián-Gallés et al. 2006). In einem Kontrast, der auch in der Erstsprache existiert, ist hingegen die MMN mit der monolingual Gleichaltriger vergleichbar. Das bedeutet aber auch, dass die „Immersionssituation“ (falls diese überhaupt als solche interpretiert werden kann) in einem deutschen Kindergarten nicht den qualitativ und quantitativ ausreichenden Input bietet, der für die Etablierung

141

142

8 Phonologie

erstsprachlicher Kategorien notwendig wäre (wie z. B. bei Cheour et al. 2002 und Peltola et al. 2005). Auf der Basis von MacWhinneys Modell (2008) kann nun auch argumentiert werden, dass hier ein positiver Transfer durch den sowohl im Türkischen als auch im Deut‐ schen vorkommenden Kontrast (siehe gleiche Verarbeitung des /i/-/y/-Kontrastes) im Vergleich zum ausschließlich deutschen Kontrast beobachtet werden kann und das obgleich die Häufigkeit der Phoneme nicht gleich verteilt ist (siehe Fußnote 11 zur Buchstabenhäufigkeit, Seite 132). Es ist hier allerdings zu berücksichtigen, dass nur eine kleine Anzahl von Probanden je Gruppe getestet wurde. Die Input-Situation jedes Kindes wurde zudem nur indirekt durch die Angaben der Eltern erfasst. Vergleichbare Studien mit Kindern, die von Geburt an balanciert mit dem Türkischen und Deutschen aufwachsen oder die eine der seltenen türkisch-deutschen Kitas besuchen, stehen noch aus.

Aufgaben 1.* 2.***

3.***

Fassen Sie in zwei bis drei Sätzen die Hauptergebnisse der Studie zusammen. Die Studie von Rinker et al. (2010) ist bereits über ein Jahrzehnt alt. Ist die Situation in vielen deutschen Kindertagesstätten noch vergleichbar? Findet sich noch das „typische“ Erwerbsszenario bei türkischen Kindern mit DaZ (kein / kaum Deutsch bis zum Eintritt in die Kita)? Werfen Sie hierfür schon mal einen Blick in Kap. 9 (Wortschatz, Abb. 9.2). Entwickeln Sie analog zum Design von Rinker et al. (2010) eine Studie für Kinder, die mit Russisch und Deutsch aufwachsen. Hinweis: Konsultieren Sie Grafik 8.2 für mögliche Phonemkontraste.

8.5 Lautproduktion bei bilingualen Kindern Der zweite Teil dieses Kapitels widmet sich der Phonemproduktion. Wie Abb. 8.2 entnommen werden kann, verfügen die Sprachen Deutsch, Russisch und Türkisch über unterschiedliche Konsonanteninventare. Doch nicht nur das Phoneminventar unterscheidet sich, sondern auch die Erwerbs‐ reihenfolge der unterschiedlichen Laute ist zwischen Sprachen unterschiedlich. Wie in Abb. 8.9 zu sehen ist, werden beispielsweise Laute wie [ʃ] im Türkischen früh, d. h. zwischen 2;0 und 2;6 Jahren erworben, im Deutschen ist dies hingegen der meist zuletzt erworbene Laut.

8.5 Lautproduktion bei bilingualen Kindern

143

Deutsch

Türkisch

Alter

Petermann (2016)

1;0 – 1;5

Erhebung fand erst ab 3;0 Jahren statt

Fox-Boyer (2011)

Topbaş (1997), Topbaş & Yavaş (2006)

Keine Daten

b, d, m, k

m, p, d

t, n, j, tʃ, p

2;0 – 2;5

b, n

ʃ, dʒ, g, v, l

2;6 – 2;11

v, f, l, t, ŋ, x, h, k, s, z

s, ʒ, f, z, h r (Topbaş 1997)

1;6 – 11;11

3;0 – 3;5

p, b, m, f, v, pf, t, d, n, s, z, l, x, g, ŋ, h

j, R, g, pf

3;6 – 3;11

j

ts

4;0 – 4;5

ts k R

ç

4;6 – 4;11

r (Topbaş / Yavaş 2006)

ʃ

5;0 – 5;5 5;6 – 5;11

ʃ

Tab. 8.2: Übersicht über den Erwerb der Konsonanten im Deutschen und Türkischen (siehe Melzer et al. 2018: 86)

Erkenntnisse über mögliche Erwerbsphasen der Phonemproduktion bei bilingualen Kin‐ dern sind aus zweierlei Gründen relevant: Zum einen werden hier Abfolgen des Erwerbs deutlich, zum anderen können diese Erkenntnisse in der Diagnostik von bilingualen Kin‐ dern mit einem Risiko für Sprachentwicklungsstörungen eingesetzt werden. Allerdings ist diese Diagnostik durch unterschiedliche Erwerbskonstellationen erschwert, die auch stark inputabhängig sind. Es besteht hier noch ein großer Forschungsbedarf. Wie in Kap. 8.3 aufgeführt wurde, stellen sich im bilingualen Erwerb die Fragen (a) inwieweit sich die phonologischen Systeme unabhängig voneinander entwickeln und (b) ob bei bilingualen Kindern Verzögerungen oder Abweichungen auftreten. ***** Die drei folgenden Studien widmen sich – mit unterschiedlichen Gewichtungen – diesen Fragestellungen. 8.5.1 Studie 2: Erwerb von Phonemen bei türkisch-deutschen Kindern

Ünsal, F. & Fox, A. V. (2002). Lautspracherwerb bei zweisprachigen Migrantenkindern (Türkisch-Deutsch). Forum Logopädie 16(3), 10-15.

144

8 Phonologie

Hintergrund

Ausgangspunkt der Studie war die Tatsache, dass wenig über die Entwicklung der Phoneme bei bilingualen Kindern in Deutschland bekannt war. Es stellte sich hier insbe‐ sondere die Frage, ob bilinguale Kinder qualitativ andere Phonemproduktionsprozesse haben oder ob diese im Wesentlichen mit den Produktionsprozessen monolingualer Kinder vergleichbar sind. Fragestellung

Wie entwickelt sich die Aussprache bei türkisch-deutschen Kindern im Deutschen und im Türkischen?14 Probanden

10 Mädchen und 10 Jungen zwischen 4;11 und 6;1 Jahren, deren Eltern Türkisch zu Hause sprachen und die laut der Autoren mit beiden Sprachen aufwuchsen15, nahmen an der Untersuchung teil. Die Kinder zeigten keine sprachlichen oder sonstigen Auffälligkeiten. Material

Den Kindern wurden von der Testleiterin Bildkarten vorgelegt (Deutsch: 98, Türkisch: 114) und sie sollten die darauf abgebildeten Gegenstände benennen. Die deutschen Bilder wurden der „Aachener Dyslalie Diagnostik“ (siehe Kap. 8.2) entnommen, die z. T. auch für das Türkische übernommen wurden. Es wurden aber auch kulturspezifisch neue Begriffe ausgewählt und Bilder gestaltet (z. B. Moschee). Ergebnisse

Es zeigten sich in beiden Sprachen noch unvollständige Phoneminventare, die sich im Deutschen bei 45 % der Kinder auf die Ersetzung der Phoneme /s/, /z/, /ts/ durch interund addentale Laute16 bezog sowie auf eine Reihe von noch fehlenden Konsonanten‐ verbindungen (siehe Tab. 8.2). Nicht erworben (90 %-Kriterium)

Türkisch

Deutsch

fehlende Phone

ʒsz

ç s z ͜ts

fehlende Phoneme

ʒ

ç

fehlende Konsonantenverbindung

bʁ kʁ gl ʃl ʃpl ʃtʁ p͜f l t͜sv

Sigmatismus (interdentalis/addentalis)

45 %

Tab. 8.3: Erwerb der Konsonantenphoneme bei türkisch-deutschen Kindern (Ünsal & Fox 2002: 15)

14 15 16

Hypothesen wurden keine aufgestellt. Weitere Informationen zum Deutscherwerb finden sich nicht. Zunge zwischen oder an den Zähnen, ähnlich dem englischen „th“.

8.5 Lautproduktion bei bilingualen Kindern

Während die meisten phonologischen Abweichungen typisch für den monolingualen Erwerb sind (z. B. der temporäre Sigmatismus) oder die Reduktion von Konsonanten‐ verbindungen wie in (1), finden sich auch Prozesse, die für den deutschen Erwerb nicht typisch sind, z. B. die Bildung des Wortes /tsan’ge/ anstatt mit dem Nasal ŋ mit n + g, siehe (2). Diese Ergebnisse können als Interferenz zwischen dem Türkischen und dem Deutschen betrachtet werden. Es finden sich ebenfalls zahlreiche Abweichungen im Türkischen, die zum Teil typische phonologische Prozesse sind ((3-6) in Abb. 8.10), aber auch untypische wie in (7), die auch auf Transfer aus dem Deutschen zurückzuführen sind: z. B. die Ersetzung des türkischen alveopalatalen /r/ mit dem deutschen [ʁ] in /ʁadiɔ/ (bzw. /aʁaba/ (Auto).

Deutsch

(1)

Reduktionen von Konsonantenverbindungen: /ʃRaube/ → [ʃaube]

(2)

Biphonematische Realisierung: /ŋ/ → [tsan’ge]

Türkisch

(3)

Regressive Assimilationen: /limon/→ [nimon] (Zitrone)

(4)

Devoicing (= stimmhafte Konsonanten werden stimmlos): /γuezuek/ → [γue‐ suek] (Ring)

(5)

Plosivierung (= z. B. Frikative werden plosiviert): /ʃapka/ → [dabka] (Hut)

(6)

Affrizierung (Ersetzung von Konsonanten durch Affrikaten): /garaʒ/ → [garatʃ] (Garage)

(7)

Uvulare Realisation des alveopalatalen /r/: /r/→ [ʁ]

(8)

Voicing (Stimmlose Konsonanten werden stimmhaft): /tavʃan/ → [davʃan] (Hase)

Abb. 8.9: Phonologische Ersetzungsprozesse bei bilingual türkisch-deutschen Kindern (Tabelle aus Ünsal & Fox 2002: 15)

Fazit

Die Studie ist die erste dieser Art, die konkrete Erwerbsprozesse bei Kindern zeigt, die mit Türkisch und Deutsch aufwachsen, und auch Rückschlüsse auf Entwicklungen in beiden Sprachen zulässt.

145

146

8 Phonologie

Derzeit ist noch unklar, wie z. B. auch monolingual türkische Kinder bei dem hier angewandten Testverfahren abschneiden würden. Auch weitere Entwicklungsverläufe müssen beachtet werden (wie in der Studie von Albrecht 2017). Wie in Studie 1 ist auch hier zu beanstanden, dass lediglich eine kleine Gruppe von Kindern (n =10 pro Gruppe) untersucht wurde. Auch werden bei der Aachener Dysla‐ lie-Untersuchung nicht alle Phoneme des Deutschen systematisch erfasst (z. B. nicht alle Konsonanten und Konsonant-Vokalkombinationen, siehe Allemand, Fox-Boyer & Gumpert 2008). ***** 8.5.2 Studie 3: Phonemerwerb türkisch-deutscher und russisch-deutscher Kinder im Vergleich

Melzer, J., Ring, A., Petermann, F. & Rißling, J.-K. (2018). Phonemerwerb monolingualer und mehrsprachiger Kinder im Vorschulalter. Logos 24, 84-92. Hintergrund

Wie in der Studie von Ünsal & Fox (2002) galt auch in dieser Studie das Erkennt‐ nisinteresse der Phonemproduktion und der Generierung von Daten als Basis der Unterscheidung von Kindern mit und ohne Spracherwerbsstörungen. Hier wurden nun einsprachig deutsche Kinder, türkisch-deutsche Kinder und russisch-deutsche Kinder einbezogen. Fragestellung / Hypothesen

In dieser Studie sollte untersucht werden, ob sich bilingual aufwachsende tür‐ kisch-deutsche und russisch-deutsche Kinder von ihren einsprachig aufwachsenden Altersgenossen in ihrem Phonemerwerb im Deutschen unterscheiden. In den Hypothesen legen die Autoren dar, dass die einsprachige Kontrollgruppe besser in der Produktion abschneidet als die bilingualen Gruppen. Zudem wird erwartet, dass die russisch-deutsche Gruppe gegenüber der türkisch-deutschen Gruppe einen Vorteil bei der Realisierung von russischen und deutschen Phonemen zeigt.17 Probanden

Aus einer großen Stichprobe von N = 1095 Kindern wurden jeweils n = 30 einsprachig deutsche, russisch-deutsche und türkisch-deutsche Kinder im Alter von drei, vier und fünf Jahren ausgewählt, die nach Alter, Geschlecht und Bildungsabschluss der Mutter vergleichbar waren. Im Schnitt hatten die türkisch-deutschen und die russisch-deut‐

17

Unklar bleibt, warum die Hypothese nicht umgekehrt für die türkisch-deutsche Gruppe formuliert wird (türkische Phoneme werden besser realisiert als russische) und warum die russisch-deutsche Gruppe besser als die türkisch-deutsche Gruppe bei den deutschen Phonemen abschneiden sollte.

8.5 Lautproduktion bei bilingualen Kindern

147

schen Kinder mit 2;2 bzw. 2;10 Jahren den ersten Kontakt mit dem Deutschen. Die Kinder durften nicht in logopädischer Behandlung sein. Material

Zum Einsatz kam das optionale Aussprachescreening des SET 3-5 (siehe auch Peter‐ mann & Melzer 2018). Hier erhalten die Kinder 57 Bildkarten mit Nomen und Verben und müssen diese Bilder benennen. Es werden Konsonanten in allen Positionen im Wort (initial, medial, final und in Konsonantenverbindungen) abgeprüft. Ergebnisse

Die untersuchten Phoneme wurden nach Produktionsart in sechs Klassen eingeteilt: Plosive, Frikative, Affrikaten, Nasale, Laterale und Vibranten sowie nach ihrer Position im Wort (initial, medial, final) und danach, ob sich diese in Konsonantenverbindungen befanden. Insgesamt waren die Unterschiede zwischen den Gruppen nicht signifikant: Keine der Gruppen unterschied sich signifikant in einer Kategorie von der anderen. Be‐ trachtet man allerdings die Mittelwerte (siehe Tab. 8.3), ist ersichtlich, dass die russisch-deutsche Gruppe bei den deutschen Phonemen und bei den Phonemen, die im Deutschen und im Russischen existieren, am besten abschneidet. Zielvariable

Gruppe

M

SD

UGTürkisch

24,20

4,76

KG

24,57

4,36

UGRussisch

26,00

2,39

UGTürkisch

7,10

1,37

KG

7,03

1,45

UGRussisch

7,43

1,10

UGTürkisch Phonem /h/, welches im Tür‐ kischen und Deutschen vor‐ KG kommt UGRussisch

1,93

0,25

1,97

0,18

1,93

0,254

Phoneme, die nur im Deut‐ schen vorkommen1

Phoneme, die im Russischen und im Deutschen vorkom‐ men2

p

0,186

0,455

0,814

Anmerkungen: UGTürkisch = Gruppe bilingual türkisch-deutschsprachig; KG = Gruppe monolingual deutschsprachig; UGRussisch = Gruppe bilingual russisch-deutschsprachig; M = Mittelwert; SD = Standardabweichung; p = Signifikanzwert 1 Einbezogene Phoneme: /ç/, /pf/, /ŋ/, /ʀ/ 2 Einbezogene Phoneme: /x/, /ts/ Tab. 8.4: Mittelwerte bei russisch-deutschen und türkisch-deutschen Kindern (Melzer et al. 2018: 89) Maximal zu erreichende Werte werden im Artikel nicht angegeben.

148

8 Phonologie

Zusätzlich wurden die Wortschatzdaten (rezeptiv und expressiv), die anhand des SET erhoben wurden, in die Analyse miteinbezogen, um zu untersuchen, ob die Wortschatz‐ leistungen der Kinder auf die Produktion der Phoneme einen Einfluss haben. Wie Tab. 8.4 entnommen werden kann, unterscheiden sich die Wortschatzleistungen der bilingualen Kinder von den Daten der monolingualen Kinder insbesondere im expressiven Wortschatz. Die UGRussisch zeigt allerdings signifikant bessere Werte als die UGTürkisch. Zielvariable

Rezeptiver Wortschatz

Expressiver Wortschatz

Gruppe

M

SD

UGTürkisch

43,90

13,46

KG

52,53

12,82

UGRussisch

46,60

12,97

KG

52,53

12,82

UGTürkisch

43,90

13,46

UGRussisch

46,40

12,97

UGTürkisch

37,70

7,65

KG

51,63

9,32

UGRussisch

43,77

9,08

KG

51,63

9,32

UGTürkisch

37,70

7,65

UGRussisch

43,77

9,08

p

Gruppenvergleich

0,037*

0,248

p=0,03*

1