Der Erst-Lebendige: Christologie leiblicher Ursprungswahrheit 9783495825389, 9783495492123


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Inhalt
Vorbemerkung
Einleitung: Das immemoriale Lebenswissen – älter als alles Denken
I. Quellen und Grundlagen
1. Rezeptivität und johanneischer Christus
1) Rezeption und Empfänglichkeit
2) Die johanneische Christuswirklichkeit
2. Der Logos der Gotteserkenntnis bei Meister Eckhart
1) Gotteserkenntnis als Geburt in Gott
2) Zeugung und Ungeschaffenheit
3. Der Ur-Sohn nach Michel Henry
1). Christi Sohnsein als lebendiges Ursprungsverhältnis
2) Radikal phänomenologische Ur-Christologie
II. Lebensphänomenologie und Christologie
4. Christi Selbstaussagen und Bestimmung des Menschen
1) Die Ich-Reden Jesu und sein Gottesverhältnis
2) Die Stellung des Menschen in Jesu Sprechen
5. Fleischwerdung des Wortes
1) Anfänglichkeit als Ipseisierung
2) Passion und Sterben Christi
6. Gottes Herrlichkeit und Auferstehung Christi
1) Der neutestamentliche Doxa-Befund
2) Osterberichte und Auferstehungsleib nach Paulus
Ausblick: Christologie als Ästhetik und Lebenssituativität
Gesamtbibliographie
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Der Erst-Lebendige: Christologie leiblicher Ursprungswahrheit
 9783495825389, 9783495492123

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Seele, Existenz und Leben Band 37

Rolf Kühn

Der Erst-Lebendige Christologie leiblicher Ursprungswahrheit

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495825389

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B

Rolf Kühn

Der Erst-Lebendige

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Seele, Existenz und Leben Band 37 Herausgegeben von Rolf Kühn und Frédéric Seyler Forschungsstelle für jüngere französische Religionsphilosophie, Forschungskreis Lebensphänomenologie, Universität Freiburg i. Br. und Department of Philosophy DePaul University, Chicago

https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Rolf Kühn

Der Erst-Lebendige Christologie leiblicher Ursprungswahrheit

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Rolf Kühn The first one who is really alive. Christology of bodily truth If God is no longer understood in terms of the concept of being, but as an original reality of life, then Christ can be defined as the innertrinitarian word in the sense of the first one who is really alive. Radically phenomenologically, this means the self-production of the primordial life in a »sonship« that makes possible the conception of absolute life as its self-giving in a »mutual interiority«. Thus this Christological incarnation »in the beginning« (Jn 1:1) is at the same time the making possible of our own corporeality, insofar as this is only conceivable in the reciprocity of the life begotten by God in the Son. In this way, the phenomenology of Christ and the original phenomenological truth of our subjectively immanent body correspond to each other in order to understand the New Testament testimonies of Christ – especially in the evangelist John – as the self-revelation of an immediate life as it is tested in all our relations to ourselves, to the world as well as to others. The thought of Meister Eckhart and Michel Henry is considered as a further basis for such an analysis.

The author: Rolf Kühn (b. 1944), Dr. phil. Paris-Sorbonne, philos. Habil. Univ. Vienna; from 1992, university lecturer in philosophy in Vienna, Beirut, Nice, Lisbon, Louvain-la-Neuve; from 2007 to 2021, director of the »Research Centre for Recent French Philosophy of Religion« and the »Research Group Life Phenomenology« at the University of Freiburg im Breisgau. Most recently published works: »Diskurs und Religion« (2016), »Postmoderne und Lebensphänomenologie« (2019), »Alles, was leiden kann« (2019) and »Psychoanalyse, Philosophie, Religion – wer leitet die Kultur« (2020).

https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Rolf Kühn Der Erst-Lebendige Christologie leiblicher Ursprungswahrheit Versteht man Gott nicht mehr vom Seinsbegriff her, sondern als originäre Lebenswirklichkeit, dann kann Christus als das innertrinitarische Wort im Sinne des Erst-Lebendigen bestimmt werden. Radikal phänomenologisch bedeutet dies die Selbsthervorbringung des ur-anfänglichen Lebens in einer »Sohnschaft«, welche die Empfängnis des absoluten Lebens als dessen Selbstgebung in einer »gegenseitigen Innerlichkeit« ermöglicht. Damit ist diese christologische Inkarnation »im Anfang« (Joh 1,1) zugleich die Ermöglichung unserer eigenen Leiblichkeit, sofern diese nur in der Reziprozität des von Gott im Sohn gezeugten Lebens denkbar ist. Dadurch entsprechen sich die Phänomenologie Christi und die originär phänomenologische Wahrheit unseres subjektiv immanenten Leibes, um die neutestamentlichen Christuszeugnisse – besonders beim Evangelisten Johannes – als die Selbstoffenbarung eines unmittelbaren Lebens zu verstehen, wie es in all unseren Bezügen zu uns selbst, zur Welt sowie zu Anderen erprobt wird. Als weitere Grundlage für eine solche Analyse wird das Denken von Meister Eckhart und Michel Henry berücksichtigt.

Der Autor: Rolf Kühn (geb. 1944), Dr. phil. Paris-Sorbonne, philos. Habil. Univ. Wien; ab 1992 Univ.-Dozent für Philosophie in Wien, Beirut, Nizza, Lissabon, Louvain-la-Neuve; von 2007 bis 2021 Leiter der »Forschungsstelle für jüngere französische Religionsphilosophie« sowie des »Forschungskreises Lebensphänomenologie« an der Universität Freiburg im Breisgau. Zuletzt veröffentlichte Werke: »Diskurs und Religion« (2016), »Postmoderne und Lebensphänomenologie« (2019), »Alles, was leiden kann« (2019) sowie »Psychoanalyse, Philosophie, Religion – wer leitet die Kultur« (2020).

https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Erzdiözese Freiburg im Breisgau

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2021 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49212-3 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82538-9

https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Inhalt

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einleitung: Das immemoriale Lebenswissen – älter als alles Denken

9

. . .

13

I.

Quellen und Grundlagen

1. 1) 2)

Rezeptivität und johanneischer Christus . . . . . . . . . Rezeption und Empfänglichkeit . . . . . . . . . . . . . Die johanneische Christuswirklichkeit . . . . . . . . . .

37 38 47

2. 1) 2)

Der Logos der Erkenntnis bei Meister Eckhart . . . . . . Gotteserkenntnis als Geburt in Gott . . . . . . . . . . . Zeugung und Ungeschaffenheit . . . . . . . . . . . . .

62 63 71

3. 1) 2)

Der Ur-Sohn nach Michel Henry . . . . . . . . . . . . . 89 Christi Sohnsein als lebendiges Ursprungsverhältnis . . 90 Radikal phänomenologische Ur-Christologie . . . . . . . 100

II.

Lebensphänomenologie und Christologie

4. 1) 2)

Christi Selbstaussagen und Bestimmung des Menschen . . 117 Die Ich-Reden Jesu und sein Gottesverhältnis . . . . . . 118 Die Stellung des Menschen in Jesu Sprechen . . . . . . . 127

7 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Inhalt

5. 1) 2)

Fleischwerdung des Wortes . . . . . . . . . . . . . . . 139 Anfänglichkeit als Ipseisierung . . . . . . . . . . . . . 140 Passion und Sterben Christi . . . . . . . . . . . . . . . 149

6. 1) 2)

Gottes Herrlichkeit und Auferstehung Christi . . . . . . 163 Der neutestamentliche Doxa-Befund . . . . . . . . . . 164 Osterberichte und Auferstehungsleib nach Paulus . . . . 176

Ausblick: Christologie als Ästhetik und Lebenssituativität . . . . . . . . 188 Gesamtbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204

8 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Vorbemerkung

Im Mittelpunkt der folgenden Untersuchung steht die rein phänomenologische Wirklichkeit Christi als des Erst-Lebendigen, den Michel Henry auch den Ur-Sohn nannte, um das Ursprungsverhältnis von absoluter Lebensselbstzeugung und Ipseisierung zu klären. Dieses originäre Verhältnis ist älter als jedes thematische Denken von Philosophie und Theologie, sofern es um die Singularität eines jeden individuierten Lebens als Subjektivität geht. Die christologische Problematik gehört daher zur radikalen Analyse des Anfangserscheinens als rein phänomenologischem Selbsterscheinen, welches sich in unserer unmittelbaren Leiblichkeit als Impression, Affekt und Können offenbart. Deshalb sind Christologie und Inkarnation in lebensphänomenologischer Perspektive ebenso gleichursprünglich wie identisch. Dies wollen die folgenden Kapitel in der notwendigen Stringenz aufweisen, wobei die Grundlagen beim Evangelisten Johannes und bei Meister Eckhart im Teil I keinen vornehmlich historischen oder hermeneutischen Fragen folgen, sondern derselben gegenreduktiven Methode selbstaffektiver Lebensunmittelbarkeit wie im Teil II zur Wirklichkeit des »Erst-Lebendigen« mit soteriologischem Bezug auf Mensch- und Weltsein. Dies bedeutet nicht, dass wir die Exegese ausklammern, sondern diese innerhalb der Analyse einer Ur-Christologie dazu dient, dem innersten Selbstverständnis des christlichen Credo gerecht zu werden. Denn wenn eine christologische Immanenz das maßgebliche Ursprungsverhältnis von Leben/Lebendigem betrifft, dann steht deren »gegenseitige Innerlichkeit« im Mittelpunkt einer Untersuchung, welche sich zugleich mit dem material phänomenologischen Vollzug unserer Leiblichkeit in all unseren ursprünglichen Potentialitäten deckt. Anders gesagt mit einer Inkarnation, die all das umfasst, was das absolut phänomenologische Leben in seiner Selbstoffenbarung »im Anfang« beinhaltet und ermöglicht (Joh 1,1). Eine solche UrChristologie bedeutet daraufhin naturgemäß die vorzeitliche Wirk9 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Vorbemerkung

lichkeit des »originären Wie« des Erscheinens in seiner ständig lebendigen Selbstbewegung, wodurch jeder affektiv von uns gelebte Augenblick als Lebenssituativität die unmittelbar praktische Erprobung solch inkarnatorischer Christologie selbst bildet. Das heißt die innere Präsenz des »Wortes des Lebens«, welches der »Sohn« als solcher im »Vater« ist, um als Erste Ipseität die Verwirklichung der Selbstzeugung des absoluten Lebens in einer originären Proto-Relation zu sein, die keine Distanz in sich kennt – so wie auch unser Leib als vorintentionales Fleisch keine Differenz in sich selbst kennt. Über die epistemologische Relevanz der Phänomenologie für die Theologie ist seit den 1980er Jahren viel in Frankreich geforscht worden. Dazu können als die wichtigsten Vertreter Emmanuel Levinas, Paul Ricolig;ur, Michel Henry, Jean-Louis Chrétien und Jean-Luc Marion genannt werden, ohne die neueren dekonstruktivistischen Analysen bei post-strukturalistischen Autoren wie Jean-Luc Nancy, Alain Badiou oder auch Slavoj Zižek über Lacan auszusparen. Aber unser Hauptinteresse gilt weniger dieser Entwicklung postmoderner Diskussion der weiterhin faszinierenden Christusgestalt für das aktuelle religionsphilosophische und kulturelle Denken als eben der bisher kaum aufgeworfenen Frage, warum das Leben sich stets als einzelnes und leibliches manifestiert. Denn wenn kein Leib ohne Leben erscheint, so gilt auch umgekehrt, dass es nie Leben ohne Leiblichkeit gibt. Woher stammt diese originär phänomenologische Selbstgegebenheit, die vor allen Seins- und Bewusstseinsphilosophien liegt und beispielsweise in Bezug auf das principium individuationis seit der Antike eine ungelöste Problematik enthält? Ist diese Notwendigkeit diesseits jeglicher biologischen Evolutionstheorie eine transzendentale Bedingung im Sinne rein immanenter Selbstgründung des Lebens durch sich selbst, dann beinhaltet solche Transzendentalität die Frage eines originären Bezugs, dessen Relationalität als innerste Wirklichkeit des Lebens selbst bestimmt werden muss. In der originären Christologie fällt die Wirklichkeit des Lebendigseins als Proto-Relation weder mit Gott noch mit unserer Leiblichkeit auseinander, sondern eint sie ursprünglich als die ipseisierende Weise dieser Bezüglichkeit selbst. Bevor also Philosophie und Theologie – oder andere Disziplinen – Wesensverhältnisse epistemologisch bedenken, hat in jedem leiblichen Individuum bereits das stattgefunden, was jeder Diskurs nur in einer thematischen Differenz nachträglich erfassen kann – und damit in seiner unmittelbaren Wirklichkeit auch schon verloren hat. 10 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Vorbemerkung

Durch eine radikale Phänomenologie dieses immemoriale »Voraus« als »originäres Wie« einsichtig zu machen, heißt nicht, Theologie bzw. sonstige Wissenschaft durch Philosophie ersetzen zu wollen, wohl aber die Struktur der Ursprungsverhältnisse zu klären, ohne dabei in einer metaphorischen Sprache zu verbleiben. Vater, Sohn, Christus sind solche Namen, die aus einem traditionellen genealogischen Naturalismus herauszulösen sind, um die immanente Notwendigkeit einer originären Singularisierung innerhalb lebendiger Relationalität »im Anfang« selbst aufzuweisen. Der »Erst-Lebendige« ist eidetisch der Versuch, dies adäquat zum Ausdruck zu bringen. Denn um sich als Leben hervorbringen zu können, bedarf es einer ersten Singularität, in der das Leben sich selbst ipseisiert, um stets ein bestimmtes – und kein allgemeines oder anonymes – Leben zu sein. Nichts ist der überlieferten Christusgestalt dadurch in ihrer geschichtlichen Konkretheit für den Gläubigen genommen, aber im Zentrum steht die Analyse, warum Leben – auch göttliches – erst über eine solch inkarnatorische Vereinzelung zum Leben in seiner ganzen Fülle wird. Dies wird abschließend durch eine Analyse der Freiheit und Situativität im Zusammenhang mit der Ästhetik der neutestamentlichen doxa als religiöser Manifestation der »Herrlichkeit Gottes« in jedem inkarnatorischen Augenblick zugleich in einem existentiellen wie ethischen Sinne konkretisiert. Freiburg im Breisgau, Sommer 2020

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Einleitung: Das immemoriale Lebenswissen – älter als alles Denken

Christus ist nicht Text, sondern Fleisch geworden; nicht Bedeutung, sondern Erprobung jeder nur denkbaren menschlichen Erfahrung in der Einheit mit der göttlichen Selbstoffenbarung. Unsere folgende Untersuchung ist daher prinzipieller Natur, da es nicht darum geht, irgendein Unsichtbares zu interpretieren, sondern zu verstehen, warum die christologische Fleischwerdung dem rein phänomenologischen Wesen des Wortes in Gott als solchem entspricht – wenn gilt, dass Verstehen eine Analyse des Wesens impliziert, welches sich gemäß seiner eigenen Wirklichkeit hervorbringt. Die Ur-Anfänglichkeit, das »Bei-Gott-sein« sowie die Lebensfülle des Logos als »Licht der Menschen«, welche zu den grundlegenden Wesensbestimmungen des Johannes-Evangeliums insgesamt gehören, können sich demzufolge nicht auf ein phänomenologisch unbestimmtes Unsichtbares gründen, sondern es ist einsichtig zu machen, warum das Fleisch sowohl das Prinzip solch ewiger Ursprünglichkeit, Unsichtbarkeit wie göttlichen Selbstoffenbarung bildet. In einer hermeneutischen Sichtweise, wie ganz deutlich etwa die heideggersche Angstanalyse als Welterschließung und Todesendlichkeit zeigt, gibt es eigentlich keine rein phänomenologische Fleischlichkeit als Ursprung affektiver wie göttlicher Eigenoffenbarung. Denn dieses »Fleisch« wird nur als Sinnträger einer Botschaft angesetzt, ohne in sich selbst das phänomenologische Wesen des Lebens Gottes schlechthin zu manifestieren. Damit bliebe die Realität des Fleisches der Metaphorik ausgeliefert, worin es sich als »Sich« nicht in seiner Unmittelbarkeit aussagen kann. Die Phänomenalität jeder metaphorischen Aussage ist nämlich – wie jede Apophantik – die Struktur des Weltseins selbst, das heißt die Differenz, welche ebenfalls die Bedingung jeder Exegese darstellt, ohne damit in irgendeiner Wese eine reine Selbstbezeugung ausweisen zu können, welche gerade den Kern der johanneischen Logosoder Christuswirklichkeit bildet. Diese Selbstbezeugung als »Selbstoffenbarung« Christi bei 13 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Einleitung

Johannes lässt daher eine nicht-hermeneutische Unmittelbarkeit, welche die scheinbare Tautologie seines Sprechens, in dem sich Subjekt und Prädikat ständig vertauschen, überhaupt erst erschließen. Denn die tautologische Identität von Logos/Leben weist auf die Struktur eines immanenten »Sprechens« hin, welches die pathische oder selbstaffektive Einheit des Lebens mit sich selbst impliziert. Damit legt sich das originäre Fleisch in seiner Phänomenalität als göttlicher Selbstbezug oder innere Selbstoffenbarung gerade nicht in irgendeinen zeitlichen oder eschatologischen Horizont aus. Vielmehr ist der johanneische Logos des Lebens genau der radikal phänomenologische Umsturz allen Weltwissens als »Finsternis« und bildet den beispiellosen Logos des Christentums diesseits aller Welt und Metaphorik. Dem Sprachwesen als »Weltbildung«, in der Sein sich eröffnet und durch die Sprache »ist«, mithin dem »Außer-sich« gehorcht, um nochmals Heidegger zu erwähnen, steht radikal der Logos des Lebens gegenüber, der nicht nur »bei Gott war« (Joh 1,1b), sondern dieses Bei-sein als seine eigene Verfleischlichung ist – dass nämlich darin Gott selbst offenbart wird, mithin Immanenz und Relation, »Innerlichkeit« und »Gegenseitigkeit« als johanneische »Ur-Intelligibilität« ineinander fallen. Dies muss sich phänomenologisch notwendigerweise vor wie außerhalb aller Schöpfung vollziehen, insofern Schöpfung »Ent-werfen« besagt, das heißt Welt als Horizont, Differenz, Zeit und Sprache. 1 Jede Philosophie und religiöse Reflexion bzw. Theologie »über« das Leben wird natürlich eine Metaphorik der Welt benutzen, um sich erklärend auf Bedeutungen als Entwürfe von Weltsein wie Zeitlichkeit zu beziehen. So kann ich natürlich über die zuvor genannte Angst sprechen, dass sie nämlich Welt erschließt. Aber dies ist als ek-statische Grundstruktur »griechischen Denkens« bis heute gerade nicht jenes originäre »Wort des Lebens«, welches die Angst selbst »sagt«, indem es deren Affekt an sich selbst gibt und somit in sich und für sich offenbar werden lässt. Mit anderen Worten jene Weise darstellt, wie unser impressionales Fleisch in seiner Ur-Passibilität an sich selbst gegeben wird, um so die phänomenologische Wirklichkeit der Offenbarung des Fleisches zu sein. Nichts ist also missverständlicher, als im Bereich der lebendigen Selbstoffenbarung von Meta-

Vgl. M. Henry, Christi Worte. Eine Phänomenologie der Sprache und Offenbarung, Freiburg / München 2010, 9 ff.

1

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Einleitung

phorik zu sprechen, die es dort nicht geben kann. Die johanneische »Dekonstruktion« ist daher grundlegend, indem sie in den Selbstaussagen Christi und deren »Symbolismus« letztlich keine Bedeutungen mehr vermeint, sondern eine vor-intentionale Wirklichkeit – nicht die Bedeutung der Fleischwerdung, sondern deren unmittelbare, weil je aktuelle Heilswirklichkeit, ohne deren phänomenologische Rückbindung an ein effektiv lebendiges Fleisch jedes Sprechen von »Innerlichkeit« oder auch »Glaube« in einer unverbindlichen – weil nicht aufgeklärten – Immanenz verbliebe. Setzt jedes Sprechen über Angst, Leiden oder Freude die immanente Affektabilität derselben voraus, um dann deiktisch davon überhaupt sprechen zu können, so sind auch alle Bedeutungen der christlichen Fleischwerdung letztlich weder geschichtlich noch eschatologisch bezogen – sondern je erprobte Unmittelbarkeit. Der Logos gelangt nicht metaphorisch oder geschichtlich ins Leben, sondern er ist Leben als göttliche oder unmittelbare Selbstzeugung des Lebens zu jedem Augenblick, und somit je »im Anfang«. Johannes ist der erste Denker einer solch radikalen Immanenz, während in der abendländischen Tradition bisher zumeist nur das Denken der Außenheit mit den daraus folgenden Vermittlungen geübt worden ist. Insofern stellt das johanneische Denken eine bisher ungenutzte und beispiellose Phänomenologie dar, so wie dies auch bei Meister Eckhart der Fall ist – denn bei beiden handelt es sich um eine »lebendige Gegenwart« ohne Vergangenheit. Dies scheint nicht nur im Gegensatz zur historisch-kritischen Exegese zu stehen, sondern zu jeder möglichen Texttheorie überhaupt, deren Hauptpostulat auf der Kon-textualität oder Intertextualität beruht. Für die Schriften des Alten und Neuen Testaments bedeutet dies allgemein, dass sich kein Fragment aus der Einheit eines Evangeliums herauslösen ließe und zudem dieses Prinzip auch das Alte Testament mit einbezieht. So versetzten etwa die Verse 17 und 18 des Prologs durch die Einbeziehung des mosaischen Gesetzes und die »Botenschaft« des Logos oder »Einzigen Sohnes«, da er »am Herzen des Vaters ruht«, in die Gesamtwirklichkeit der göttlichen Offenbarung, ohne dass davon die Fleischwerdung aus Vers 14 einfach isoliert werden könne. Der Vorwurf theologischer Bibelexegese in Bezug auf ein radikal phänomenologisches Verständnis könnte daher dahingehend zusammengefasst werden, dass die transzendentale Ausrichtung solcher Phänomenologie die Faktizität der gesamtgeschichtlichen Existenz Jesu Christi nur verkürzt wiedergebe, indem sie die neutestamentlichen Texte bloß als eine Art Sammlung für ihre Be15 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Einleitung

griffe benutze, um diese je nach Intention der eigenen Analyse auszuwählen. Dieses Argument würde jedoch nicht nur speziell eine lebensphänomenologische Rezeption des Neuen Testaments betreffen, sondern die Grundfrage philosophischer Rezeption biblischer Texte allgemein. Der Begriff der Kontextualität bedarf daher einer systematischen Antwort, welche die Historizität der Existenz Jesu mit seinen Worten und Taten insgesamt betrifft, indem diese jedoch an eine originäre Wahrheitsfrage geknüpft ist, nämlich göttlichen Ursprungs zu sein. Wenn die Hauptthese ab unserer Einleitung hier darin besteht, dass der Mensch gemäß dem Christentum nicht von der Welt und ihrer Sprache her geschichtlich verstanden werden kann, dann beruht dies gerade in der inkarnatorischen Verknüpfung von transzendentaler Wahrheitsfrage sowie historischer Wahrheits- und Existenzfrage Jesu. Die biblische Bedingung des Menschen ist dem göttlichen Leben nicht heterogen, sondern trägt dieses als fleischliche Bedingung in sich. Genau dies macht die entscheidende Wirklichkeit wie Botschaft der Inkarnation Christi als solcher aus, dass der Mensch durch das absolute Leben Gottes schon immer in seinem »Fleisch« an sich selbst gegeben wurde und daher ein ursprünglicher »Sohn« oder »Kind« Gottes ist. Wenn beispielsweise der Prolog das johanneische Evangelium und dessen Theologie als solche rekapituliert, dann ist damit nicht nur die faktische Textzugehörigkeit des Ganzen anerkannt, sondern dieses Prinzip der Intertextualität bleibt auch für die phänomenologische Analyse ihrerseits maßgeblich – und zwar in einem radikaleren Sinne. Anstatt der Textanordnung der einzelnen Verse zu folgen, legt eine radikale Lebensphänomenologie die gegenseitigen Wahrheitsbedingungen offen, wie sie durch die Einheit von geschichtlicher Inkarnation und ewiger Fleischwerdung des Logos gegeben sind. Dabei vollzieht sich dieser Aufweis nicht auf spekukative Weise wie in der Rezeption des deutschen Idealismus, 2 sondern die je individuierte Lebensrealität besagt, dass deren Erprobung in einem originär vorgegebenen absoluten oder göttlichen Leben erfolgt, in dem jedes »Sich« transzendental geboren wird. Mithin ergibt sich aus einer solch phänomenologischen Analyse eine Folge von konkret lebendigen ImpliVgl. M. Enders u. R. Kühn, »Im Anfang war der Logos …«. Studien zur Rezeptionsgeschichte des Johannesprologs von der Antike bis zur Gegenwart (mit einem Beitrag von Chr. Bruns), Freiburg – Basel – Wien 2011, 175–258.

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Einleitung

kationen einer Phänomenalisierungsweise, welche sich als ur-anfänglich zeugendes Leben über die Ordnung des neutestamentlichen Textes im linguistischen oder literarischen Sinne erhebt. Methodisch gesehen, kreuzen sich die Wahrheiten des – hier johanneisch bezeugten – Christentums und die Analyse der Phänomenologie dergestalt, dass letztere ihre Textreferenzen in Abhängigkeit von der erwähnten prinzipiellen Offenbarungsordnung des Lebens her gestaltet. Was an diesem Vorgehen – von außen her betrachtet – als willkürlich erscheint, löst sich dadurch auf, dass das neu gefundene Intelligibilitätsprinzip eines ursprünglich sich in sich selbst offenbarenden Lebens zugleich auch den überlieferten Text in seiner Redaktion erhellt. Das Entscheidende dieser phänomenologischen Intelligibilitätsstruktur besteht darin, dass es sich nicht mehr um ein metaphysisches oder historisch positivistisches Vernunftprinzip handelt, weil gerade dessen griechisch ererbte »Logizität« aufgehoben ist – nämlich als das Vermögen, mündlich oder schriftlich geformte Bedeutungen hervorzubringen. Das damit verbundene transzendentale Prinzip, dabei jeweils einer Norm der Sinn- oder Evidenzverflechtung als hermeneutischem Verstehen folgen zu müssen, 3 wurde bereits als grundlegende Enthellenisierung durch die nicht-griechische originäre Wahrheitsgegebenheit des Fleisches angedeutet, was auch eine »Dekonstruktion« der »Metaphysik der Vorstellung« genannt werden kann. 4 Der Logos der »johanneischen Theologie« steht bis heute für die biblische Exegese und seine allgemeine Rezeptionsgeschichte in einer unaufgeklärten Zwitterstellung zwischen einem hellenistisch durchdrungenen jüdischen Denken und einem im eigentlichen Sinne biblisch zu nennenden hermeneutischen Bereich – fast scheint er sogar durch diese Ambivalenz zerrissen zu werden. Diese besondere historische und kulturelle Situation ist dem johanneischen Text selbst bewusst, so dass die Tatsache, von einem »Logos des Lebens« zu sprechen, welcher trotz Philon von Alexandrien in einem griechischen Denkhorizont unvorstellbar ist, gerade die Abweisung eines griechischen Einflusses durch den Johannestext selbst anzeigt. Für den Griechen bedeutet die Gegenüberstellung von Logos und Leben die Unterscheidung des Menschen vom Tier, dem als animalitas das 3 Vgl. J. Greisch, Hermeneutik und Metaphysik. Eine Problemgeschichte, München 1993. 4 Vgl. R. Kühn, Postmoderne und Lebensphänomenologie. Zum Verhältnis von Differenz und Immanenz des Erscheinens, Freiburg / München 2019, hier bes. 75–121.

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Einleitung

»Leben« letztlich zugeordnet wird, während das »Leben« bei Johannes durchgehend das Leben Gottes bedeutet. Diese neue johanneische Intelligibilität dem griechischen Logosbegriff zu entreißen, um eine ursprünglichere Phänomenalisierungsweise auszumachen, impliziert zugleich, den johanneischen Text dem klassisch philosophischen Konzept der »Erkenntnis« zu entreißen, um ihn heute auch kritisch dem Objektivismus und seinen globalisierenden Zerstörungstendenzen entgegenzustellen. Als pathische Selbstoffenbarung sowie als ur-intelligible Offenbarungsrealität haftet dem johanneischen Logos nichts konzeptuell Griechisches mehr an und entzieht damit einem fleischgewordenen Gott jeglichen allgemeinen Universalismus, wie er für die griechische und abendländische ratio maßgebend war und ist. 5 Der johanneische Logos steht jedoch nicht allein kritisch gegen eine solch abstrakte Vernunftwahrheit, sondern er erlaubt das unmittelbare Verständnis der bis heute beispiellosen singulären Allgemeinheit in ihrer fleischlichen Konkretion. Das historische Geschick Jesu Christi, in biblischen Termini sein »Fleisch«, betrifft in einmaliger Weise die besondere exegetische Struktur im doppelten Wortsinn von Exegese, nämlich erklärend wie narrativ zu sein, indem der johanneische Text eine jeweilig narrative Fortsetzung der relationalen Wesensimplikationen Gottes und des Logos bietet. Aber dies nicht als eine metaphysische Auslegung, denn der johanneische Offenbarungsanspruch will keineswegs die Wahrheit Jesu Christi im Horizont der αλήθεια als ein »Wissen« auslegen, das bis dahin verborgen gewesen wäre. Im radikal phänomenologischen Begriff einer Ersten Ipseität und jeweils individuierten Ipseität als »Mensch« findet sich nämlich sowohl die hermeneutische Spannung zwischen Judentum/ Hellenismus wie zwischen Allgemeinheit/Individuierung aufgehoben. Denn vor aller Zeit ist der johanneische Logos die Erste lebendige Ipseität als Wort »bei Gott« sowie in jedem transzendental Lebendigen als Ermöglichung eines jeweils konkreten Sich. Beides findet sich in der geschichtlichen Inkarnation oder Existenz Jesu wieder, denn es geht nicht nur darum, dass sich »das Wesen des Menschen als die offene, personal zu vollziehende Transzendenz auf das Sein Gottes« bezieht und dadurch »die Inkarnation als die […] absolut Vgl. für diese Diskussion im Zusammenhang mit der Trinitätslehre K. Ruhstorfer, Gotteslehre, Paderborn 2014, 263–351: »Der dreieine Gott als Geschichte und Gegenwart«, einschließlich der Kritik der Postmoderne.

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Einleitung

höchste Erfüllung dessen erscheint, was ›Mensch‹ überhaupt besagt«. 6 Vielmehr trägt jedes transzendentale Sich durch seine Zeugung im absoluten Leben diesen »Logos des Lebens« bereits originär und unverlierbar in sich. Diese Kurzfassung der rahnerschen Theologie als einer freiheitlich transzendentalen Anthropologie lässt gut sichtbar werden, wie hier scheinbar problemlos heideggersches und christliches Transzendenzdenken ineinander gefügt wurden, ohne sich über die phänomenologische Struktur dieser ek-statischen Transzendenz im griechischen Denken selbst letztlich Rechenschaft abzulegen. Aber ist die Vorgegebenheit eines transzendentalen Fleisches nicht selbst ein Widerspruch, worin sich in gewisser Weise eine anonym ontologische Vernunft noch einmal wiederholt? Ohne Zweifel meint Transzendentalität hier phänomenologische Bedingungsmöglichkeit, aber die Universalität dieser Möglichkeit ist ein stets singulär sich vollziehendes Leben, das heißt die Ur-Ipseität des Logos im und als göttliches Leben, wodurch jegliches »andere« Leben generiert wird. Indem das johanneische und christliche Denken im Anfang Gott und Individuum als Selbstoffenbarung/Sich unauflösbar miteinander verbindet, handelt es sich um keine bloß allgemeine Möglichkeit der Erkenntnis mehr, sondern um eine jeweils phänomenologisch konkret gegebene Existenz. Und genau dieser Zusammenhang von Erkenntnis/Inkarnation wird durch die geschichtliche Existenz Jesu Christi in seiner dramatischen Problematik sichtbar, weil ihm gerade die meisten nicht glauben, da sie – entgegen aller »Zeichen« und »Zeugenschaft« – das Gottsein eines Menschen für unmöglich hielten. Diese Unmöglichkeit durchzieht alle neutestamentlichen Debatten um die »Wahrheit« Jesu und bereitet jüdische wie christliche Gnosis insofern vor, als die Inkarnation entweder einer unzugänglich monotheistischen Transzendenz (Jahwe) oder einem affekt- und leidlosen theoretischen νοuς widerspricht, da der animalisch materielle Körper im griechischen Denken gemäß seiner ontischen Natur dem endlichen Vergehen unterworfen sei.

K. Rahner u. H. Vorgrimmler, Kleines theologisches Wörterbuch, Freiburg – Basel – Wien 1975, 215 (Artikel »Jesus Christus«). Den jüngsten Vergleich zwischen Lebensphänomenologie und Rahner bietet D. Remmel, Die Leiblichkeit der Offenbarung. Zur anthropologischen, offenbarungstheologischen und christologischen Relevanz der Lebensphilosophie Michel Henrys, Innsbruck – Wien 2021, hier bes. 455–566.

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Das johanneische Leben als Fleischwerdung des Logos antwortet mithin genau auf die originär »transzendentale Frage«, ohne sich dem Vorwurf anonymer Allgemeinheit oder unstatthafter Vergöttlichung des Menschen auszusetzen. Als Logos der Offenbarung bedeutet die johanneische Ur-Intelligibilität zugleich vorzeitliche Lebenswirklichkeit sowie deren innere historiale Vollzugsstruktur als affektiv lebendiges Offenbarungswort Gottes (im Sinne seiner Liebe) wie des Menschen. Damit kommen die philosophischen wie exegetischen Anliegen zu ihrem eigentlichen Ziel, denn indem jedes Fleisch originär an sich selbst gegeben wird, indem das Leben jedes Fleisch an sich selbst gibt, hat es seine faktische Existenz in genau jenem rein phänomenologischen oder absoluten Leben, welches es als Passibilität empfängt. Die geschichtliche Existenz eines jeden lebendigen Individuums hat demzufolge ihre transzendentale Bedingung in jenem einzig wirktatsächlichen Leben, welches Gott selbst ist. Diese doppelte Möglichkeit, nämlich wie das ursprüngliche Leben in sich fleischlich wird und wie diese Fleischwerdung als geschichtliche Existenz verwirklicht werden kann, findet daher im »christlichen (oder fleischlichen) Cogito« 7 eines vorzeitlich inkarnierten Lebens als Logos ihre Erklärung. Auf diese nicht-griechische Weise ergibt sich zugleich der Boden für all jene Antworten, welche sich für eine zeitlich geschichtliche Hermeneutik ergeben, ohne deren einseitig transzendenten Sinnprämissen teilen zu müssen. Versteht man nämlich die fleischliche Existenz als eine solch geschichtliche Existenz, welche originär auf den lebensimmanenten Gegebenheiten von Bedürfen, Begehren und Anstrengung wie Tun beruht, dann bilden die unsichtbaren Modalisierungen dieser transzendental konkreten Lebendigkeit zugleich das innere oder historiale Wesen aller Geschichte als ursprünglicher Gemeinschaftlichkeit der Individuen mit ihren unterschiedlichen wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und ideologischen Ausformungen. Dementsprechend ist das rein phänomenologische Wesen der hermeneutisch an Sinnereignissen ausgerichteten Geschichtsbetrachtung eine meta-genealogisch unsichtbar pathische Realität, das heißt jene stets abgründig transzendentale Geburt eines jeden Individuums und seiner Gemein7 Vgl. M. Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg / München 2002, 209–216: »Das christliche Cogito bei Irenäus« im Sinne eines »fleischlichen Cogito«, welches als reine Passibilität für das Leben Gottes grundsätzlich empfänglich ist.

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schaftsbeziehungen. Diese werden in der geschichtlichen Welt als »Lebenswelt« nur über die Vorstellungen »präsent«, wodurch jedoch nicht nur der innere conatus der lebendigen Motivation außer Sicht gerät, sondern vor allem jene Originarität, dass wir alle nur einen »himmlischen Vater« als Ursprung haben – nämlich jenen, den Jesus selbst als Ursprung allen Lebens von seiner eigenen erprobten christologischen Wirklichkeit her als »Sohn« verkündete. Damit wurzeln alle Lebensmodalisierungen in ihrer geschichtlichen Vielfalt in einer absolut praktischen Einheit, welche durch keinerlei historische Sammlung von »Sinn« jemals eingeholt wird, sofern letztere über das Verstehen verläuft und nicht über eine effektiv gemeinsame »Geburt im Leben«. 8 Auf die Sprache – und mithin auf die Exegese – bezogen, will dies besagen, dass es im Unterschied zur »Sprache der Welt« und ihren Bedeutungsdifferenzen eine ältere »Sprache des Lebens« gibt, welche vom Logos des Lebens als Christus selbst nicht getrennt ist. In der je zu interpretierenden Bedeutungssprache des Welterscheinens herrscht die Differenz vor, die nie zu einer wirklichen Identität hinfindet, während das phänomenologische »Wort des Lebens« das Leben selbst ist, welches nicht von sich selbst verschieden sein kann. Daher ergreift es sich selbst in jeder Affektion oder Impression als die Urphänomenalisierung schlechthin und sagt sich so unmittelbar als das originäre Leben in Schmerz und Freude selbst aus, ohne diskursiv ausgelegt werden zu müssen. Im Augenblick des Empfindens kann dieses nichts anderes als es selbst sein und bildet in dieser Hinsicht eine absolut phänomenologische Wahrheit, die weder täuschen noch lügen kann. Wenn zudem dieses »Wort des Lebens« zugleich das »Wort Gottes« als sein ewiger innergöttlicher Logos selbst ist, dann verstanden die hoch gebildeten Rabbiner und Schriftgelehrten als Exegeten ihrer Zeit dieses »Wort Gottes« in den Schriften des Alten Testaments und im Sprechen Jesu nicht, obwohl ihnen die Kontextualität des Gesprochenen nicht entgehen konnte. Das »Unverständliche« der Schriften und der Worte Jesu ist daher einer der konstantesten Anlässe und Themen der Verkündigung Jesu, um in der johanneischen Theologie des Zeugnisses und des Lebens eine ursprüngliche Antwort zu finden. Das Wort Gottes in seiner jesua-

Vgl. J. Scheidegger, Radikale Hermeneutik. Michel Henrys Phänomenologie des Lebens, Freiburg / München 2012.

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nischen Wahrheitsbezeugung wird im »Herzen« eines jeden durch die Unmittelbarkeit des Lebens selbst vernommen. 9 Denn sofern jeder ein Sich ist, welches in der Selbstoffenbarung des lebendigen Logos an sich selbst gegeben wird, hört ein solches Sich als immanente Ipseität die pathische Wahrheit von Tod und Auferstehung Christi als uranfängliches Erscheinen bis in den einfachsten fleischlichen Eindruck hinein. Denn dieser wäre in seiner impressionalen Parusie in der Tat nicht gegeben ohne die Ur-Mächtigkeit der Lebensselbstoffenbarung in jeder Modalisierung als solcher. Sagen die Heiligen Schriften jemals etwas anderes, als diese transzendentale Geburt zu jedem Augenblick in jedem Geschehen zu bezeugen, sei es Exil, Sünde, Krankheit, Schuld oder Heil, Freiheit, Vergebung oder ewiges Leben? Ohne dieses originär verlebendigende Wort des Logos, welches die transzendentale Bedingung jeglichen Hörens selbst ist, gäbe es kein Verstehen der Schriften. 10 Die Transzendentalität des »Wortes des Lebens« im genannten Sinne muss daher phänomenologisch eingesehen werden, um zu ermessen, dass Exegese und Hermeneutik – wie alle Diskurse – dem Welterscheinen als Bedeutungsdifferenz kategorial verbunden bleiben, welche die Ur-Intelligibilität der lebendigen Wahrheit im johanneischen Sinne nicht in sich tragen kann, da diese vor aller Zeit und Schöpfung ist. Damit löst sich der scheinbare Widerspruch auf, dass die Schriftgelehrten Jesu Worte letztlich als »Gotteslästerung« zurückgewiesen haben – und nur einige wenige, die »Einfachen«, diesem »Wort des Lebens« in Jesus Christus gefolgt sind. »Einfach« nicht unbedingt und allein ihrer sozialen Herkunft nach, sondern sich befreiend von der »transzendentalen Illusion« ihres Ego, welches uns als »Sorge« im existenzialen Sinne Heideggers das reine Hören durch den Horizont der ausschließlichen Weltbezüge verunmöglicht. Auch ein »Pharisäer namens Nikodemus, ein führender Mann unter den Juden« scheint etwas von dieser »zweiten Geburt« geahnt zu haben, selbst wenn Jesus nach dem Hinweis auf die Notwendigkeit einer solchen »Geburt aus dem Geist« die Frage des Nikodemus genau im Sinne des Unverständnisses von Exegese und Hermeneutik mit einer

Vgl. M. Henry, Christi Worte, 128 ff. Vgl. A. Vidalin, La Parole de la Vie. La phénoménologie de Michel Henry et l’intelligence des Écritures, Paris 2006.

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Gegenfrage beantwortet: »Du bist der Lehrer Israels und verstehst das nicht?« (Joh 3,1–13) 11 Die sorgfältigen Schriftstudien werden damit nicht hinfällig, auch wenn ihre Kon-textualität niemals abschließend beendet werden kann, wie jede moderne – aber auch schon ältere – Texttheorie seit der Allegorie, Typologie der Kirchenväter bzw. der jüdischen Kabbala bis hin zur disseminierenden Grammatik und Rhetorik heute weiß. Aber die erarbeiteten Welt- und Geschichtsbezüge der Exegese dürfen nicht in diesen rein zeitlichen Horizonten verharren, sondern in allem spricht das »Wort des Lebens«, um von uns gehört und empfangen zu werden. So gibt es einen »hermeneutischen Zirkel« des biblischen Textes, falls man an diesem Begriff festhalten will, um im Buchstaben den Geist oder das Leben selbst zu hören, das heißt den einen Logos, sofern dieser schon immer durch unser Leben selbst effektiv gesprochen hat. Die Lektüre der Bibel ist die Jahrhunderte hindurch die geistige wie kulturelle Bedingung gewesen, um unser immanentes Verhältnis zum Absoluten zu ergreifen oder religiös zu vertiefen. Dieser Lektüre darf aber nicht ein positivistischer Objektivismus der Exegese übergestülpt werden, um im Namen einer hypostasierten Wissenschaft den Zugang zur lebendigen Wahrheit der Schrift von Kriterien abhängig zu machen, denen alle Diskurse heute mehr und mehr gehorchen – nämlich der Auflösung der rein phänomenologischen Wirklichkeit der Individuen, welchen nicht nur kein »sakraler« Charakter mehr zuzukommen scheint, sondern ebenfalls kein originärer Wahrheitswert mehr. Eine kritische Reflexion über die hermeneutische Exegese und Sprachtheorie im Allgemeinen beinhaltet daher mehr als nur eine methodische Problematik von angemessenem Textverständnis; es geht dabei letztlich um die radikal phänomenologische Frage der Wahrheitszugänglichkeit als solcher. So wenig diese in der Hermeneutik oder anderen Diskursen selbst liegen kann, so wenig kann sie auch in der exegetischen Rezeption biblischer Texte allein liegen. Gerade die Johanneszeugnisse machen deutlich, dass eine andere Intelligibilität gefordert ist, die vor jedem Text liegt – im Fleisch als Leben ruht. Dies lässt uns der eindeutige Rückbezug des Johannesprologs auf den Beginn des Buches »Genesis« im Alten Testament deutlich erkennen, denn dort stehen bereits der göttliche Anfang sowie die ErVgl. M. Henry, »Ich bin die Wahrheit«. Für eine Philosophie des Christentums, Freiburg / München 1997, 213 ff., zur zweiten Geburt.

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schaffung des Menschen als eines Ebenbildes Gottes in einem solch fundamentalen Kontext, dass sich hierbei von einer ersten »metaphysischen Bestimmung« des Menschen sprechen lässt. Diese ist ganz auf dessen transzendentaler Endlichkeit – oder eben Passibilität – begründet, wie sie der Johannestext als ein ursprünglich lebendiges Verhältnis in Gott selbst – und nicht nur als Schöpfung außerhalb von Gott – präzisiert. Was mit dem hebräischen bereschit beginnt, ist daher weder eine naturwissenschaftliche noch eine im engeren Sinne geschichtliche Darstellung, sondern ein originär religiöses Glaubenzeugnis über die Heilsinitiative Gottes in Welt und Geschichte. Dabei ist das »im Anfang« (Gen 1,1) ein solcher Anfang, der nicht das erste Moment in einer langen Reihe von darauf folgenden Momenten darstellt, sondern die Bedingung für alles Geschehen in seiner Ganzheit, weshalb der Begriff »transzendental« in diesem Sinne alle formale und äußere Zeit grundsätzlich übersteigt. Insofern schließt der Anfang (arché) bereits auch das Ende (telos) in sich ein, was diesseits aller möglichen eschatologischen Entfaltungen bedeutet, dass in Bezug auf Gottes Leben als Anfang schlechthin dieser mit dessen Wesen als Selbstoffenbarung zusammenfällt. Auch die Schöpfung ist damit von Vornherein personal oder heilsökonomisch im klassisch theologischen Sinne zu interpretieren. Wenn Johannes in dieses jüdische Welt- und Geschichtsverständnis nun genau den Logos einführt, der im Anfang bei Gott ist und selbst Gott war (Joh 1,1), dann impliziert dies eine Klärung und Weiterführung des alttestamentlichen »Anfangs« im Sinne einer prinzipiellen Grundlegung aller Lebensverhältnisse. Aus letzteren ragt jeder Mensch als ursprüngliches »Kind Gottes« heraus und kann sich in der Fleischwerdung Christi neu verstehen, nämlich unmittelbar »im Anfang« – »aus Gott geboren« zu sein (Joh 1,13 ff.). Bildet jedoch der Prolog die eigentliche Offenbarung des Beginns der Genesis, dann beinhaltet diese inter-textuelle Vertiefung naturgemäß auch eine Klarstellung des Verhältnisses von Schöpfung und Ursprung, wie dies gerade auch Meister Eckhart in seinem Johannes-Kommentar mit dem Hauptakzent hinsichtlich des in principio unterstreichen wird. Das Verhältnis von Schöpfung/Geschaffenem setzt nicht nur die Zeit als Existenzbedingung voraus, in der sich die Schöpfung von Welt und Mensch entfaltet, sondern auch das Wesen des Menschen selbst in der inneren – oder transzendentalen – Wirklichkeit Gottes. Adam ist der Arche-typ eines jeden Menschen, weil an ihm das Apriorische jedes Menschen sichtbar wird, und die 24 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

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rein phänomenologische Wirklichkeit dieses »ersten Menschen« ist mit seiner Transzendentalität identisch, da letztere seine Realität selbst ist. Das Wesen des Menschen als Individuum ist mithin jeweils ein wirklicher Mensch, da jeder in sich diese arche-typische Situation wieder findet. Deshalb ist ebenfalls kein Mensch von der Gemeinschaftlichkeit aller getrennt. Verglichen mit Kants »Kritik der reinen Vernunft« etwa, welche ebenfalls die apriorische Bedingungsmöglichkeit jeglicher Erfahrung aufweisen will und somit einen »transzendentalen Menschen« unter den kategorialen Bedingungen der Anschauung entwirft, ist die Objektivität eines solchen Menschen mit der Phänomenalität der Welt als einem raum-zeitlichen Sichzeigen identisch. Die Genesis bezieht von Vornherein die Transzendentalität des Menschen auf Gottes Anfang, welcher durch das johanneische Leben ergänzt wird. Verliert ein Text das Wesentliche gleich zu Beginn, sei es die kantische Ontologie oder exegetische Hermeneutik, so lässt sich dieses wesenhafte Leben im Verlauf von Welt und Text nicht mehr wieder finden – selbst wenn der transzendentale Kritizismus um eine »Kritik der praktischen Vernunft« und »Metaphysik der Sitten« als Theorie der Freiheit ergänzt wird. Die kritische Klärung der Transzendentalität in Bezug auf Weltbewusstsein und Lebensselbstoffenbarung bildet somit den Kern einer radikalen Phänomenologie selbst, um einen originären Zugang zur »Wahrheitsfrage« überhaupt zu erarbeiten, welche eben nicht nur von der kategorialen Methodenfrage gekennzeichnet bleibt. Der Begriff Schöpfung bezeichnet auf jeden Fall das Ganze des Seins, die Gesamtheit der Wirklichkeit, und bei aller berechtigten Kritik Heideggers 12 am onto-theologischen Begriff des Seins als »Vorhandenheit« lässt sich nicht übersehen, dass jegliches Sein in der Genesis radikale Passibilität gegenüber Gott bedeutet. Die Frage lautet demzufolge, ob diese Passivität zunächst eine bloß weltliche Endlichkeit auf dem Hintergrund einer ontologischen Universalität des Weltseins bedeutet, oder ob nicht die Passivität des Menschen als »In-der-Welt-sein« im Sinne einer lebendigen Passibilität innerhalb der Immanenz Gottes selbst johanneisch weitergeführt werden muss. »Passiv« ist unser Dasein als Weltwesen in Bezug auf den Welt- und Sichtbarkeitshorizont schlechthin sowie in Bezug auf die einzelnen Weltgehalte, da diese über die sinnliche Erfahrung vermittelt werden, Vgl. Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis) (GA 65), Frankfurt/M. 21994, III: »Das Zuspiel«, 169 ff.

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welche den Gegenständen als solchen nicht zukommt. Denn der reine Horizont der Außenheit, welcher sich uns in einer originären Affektion zu empfinden gibt, indem er sich uns zeigt, woraufhin sich alle Dinge für uns in ihm zeigen können, bedeutet nach Kant und Heidegger eine »transzendentale Affektion«, durch die unsere Passivität als reine – und somit klassischerweise transzendentale – Sinnlichkeit definiert ist. Die Genesis bietet nun aber die Schöpfung der Welt und des Menschen in ihr nicht nach einem solch transzendentalen oder zeitlichen Weltverständnis letztlich dar, insofern der »Mensch« als »Abbild Gottes« nämlich keineswegs von den Elementen der Welt her verstanden werden kann. Durch seine Ebenbildlichkeit mit Gott ist der Mensch nicht das Ergebnis irgendeines Prozesses, welcher den Menschen außerhalb der Schöpfungshervorbringung unter der Gestalt eines Bildes setzt – oder zumindest ist er keine bloße Vorstellung bzw. Idee, die man sehen könnte. Noch niemals hat jemand Gott gesehen, wie auch Johannes das alttestamentliche Gottesverständnis bestehen lässt, um Gott allein im Logos zugänglich zu machen (1,18); aber ebenso wenig wurde auch jemals ein »Mensch« in seiner transzendentalen Wirklichkeit als lebendiges Sich gesehen. Und da Gott als das absolute Leben »im Anfang« unsichtbar ist und bleibt, ist ebenfalls der Mensch, welcher im Leben – und nicht in der Welt – geboren wird, niemals in dem Sinne geschaffen worden, dass er zunächst in die Welt und ihre Materialität eintritt. Die »Ebenbildlichkeit« mit Gott, »uns ähnlich« (Gen 1,26), beruht mithin in der ursprünglichen Phänomenalisierung durch das Leben, welches im Fall Gottes die Selbstgründung dieses Lebens aus sich selbst heraus ist, während wir in ihm geboren werden, das heißt passiv in seiner absoluten Vor-gegebenheit. Die Präzisierung durch Johannes gegenüber der Genesis besteht deshalb darin, dass er uns die Einheit der transzendentalen Sichtweise der Heiligen Schrift verstehen lässt, mit anderen Worten eine Inter-Textualität höherer Ordnung als die bloße Textabfolge im literarischen oder historischen Sinne. Die Schöpfung weicht dem Begriff der Zeugung oder Geburt als generatio, welche eine originäre Hervorbringung im Sohn ist, weshalb dann auch der Schöpfungsbericht mit seinem wiederholten »Und Gott sprach …« als Schöpfung im Logos verstanden werden kann. Im Sprechen Gottes aktualisiert sich jeweils die Selbstoffenbarung Gottes in seinem Sohn als innergöttlichem Wort, weshalb aufgrund dieser Homogenität zwischen der Zeugung des Logos wie des Menschen in Gott der Johannesprolog davon sprechen kann, dass 26 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

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der Logos zu den »Seinen« kam (1,11). Es handelt sich also nicht nur um Israel als Jahwes »Eigentum« im Sinne des jüdischen Volkes, sondern der Logos inkarniert sich im Fleisch, wodurch er bei all denen ist, die ihm schon immer als originäre generatio zugehören – und woraus die ganze Dramatik ihres »Vergessens« oder »Nicht-Erkennens« resultiert. In diesem Sinne wird der Logos also nicht »Fleisch« in der Welt oder in der Schöpfung, sondern die transzendentale Einheit der Schriften unter der Wirklichkeit der generatio verlässt jede hermeneutische oder exegetische Chronologie, um im Johannes-Evangelium dergestalt den Schlüssel zum Verständnis der Genesis zu finden. 13 Die Johannestexte implizieren folglich sowohl einen transzendentalen Umsturz in Bezug auf die biblische Hermeneutik wie hinsichtlich der philosophischen Transzendentalität als einer reinen Geist- oder Seinsmetaphysik, gleich ob diese von Platon bis Hegel dialektisch oder potenzhaft konzipiert ist. Genau dadurch aber wird auch der Begriff der Endlichkeit als Passivität ein anderer; wir sind letztlich nicht mehr der Welt und inneren Zuständen gegenüber passiv, sondern unsere radikale Passibilität betrifft das ungeschaffene Verhältnis zum göttlichen Leben, wie gleichfalls Meister Eckhart unterstreicht. Damit ändert sich das Verständnis der Sinnlichkeit im klassisch philosophischen Sinne selbst, insofern die Transzendentalität des reinen Empfindenkönnens der Affektivität als solcher zugeordnet werden muss, weil diese den Grund für die lebendige Selbstimpressionabilität und all unserer intentionalen Leistungen im Fleisch bildet. Die Welt ist nur das erste Gegen-über bei allen Gegen-ständen, aber die subjektive Bewegung in einem solchen Horizont als affektive Hin- und Abwendung von den Dingen als Weltgehalten ist transzendental originär allein in der pathischen Selbstbewegung des Lebens möglich. Jede Bewegung als leibliche Intentionalität verweist somit zunächst unhintergehbar auf die radikale Passibilität im Leben. Dadurch wird jede sinnliche Modalisierung – bestimmt als eine immanente Historialität im Sinne von Begehren, Leiden, Anstrengung, Freude etc. – sich selbst als Können eines immanenten Vollzugs gegeben, um in solcher Selbstaffektion die Welt originär auf affektive Weise zu erschließen. Diese Ur-Passibilität kennt in sich selbst keine Distanz oder Transzendenz, weshalb sie als gemeinsame transzendenVgl. M. Henry, Inkarnation, 356–362: »Die Stufen der Passivität: von der Genesis zum Johannesprolog«.

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tale Affektivität auch den Unterschied zwischen Empfindenkönnen und thematisch Empfundenem begründet, welcher kein metaphysischer Dualismus ist, sondern die urfaktische Heterogenität der transzendentalen Phänomenalisierung offenbart, welche letztlich in der Einheit des ursprünglich fleischlichen Lebens wurzelt. Die Passibilität jedes Sich oder subjektiven Lebens sich selbst gegenüber ist mithin eine originär nicht-transzendente Passivität unseres Fleisches im absoluten Leben selbst, sofern sich jedes Fleisch mit all seinen intentionalen Vermögen nur aus der Selbstgebung des absoluten Lebens entgegennimmt. Die Quelle solch reiner Passibilität als einer immanenten »Endlichkeit« impliziert mithin den Logos des absoluten Lebens, sofern im »Sohn« das Leben Gottes als solches in sich selbst gelangt, indem er sich in sich selbst offenbart. Die Passibilität unseres transzendentalen Fleisches als »transzendentale Geburt« ist daher identisch mit unserem »Sohnsein« als »Ebenbild« oder der »Macht, Kinder Gottes zu werden«, bzw. »die Herrlichkeit des Einzigen Sohnes vom Vater« in uns empfangen zu haben (Joh 1,12 u. 14). Die »Ähnlichkeit« im Anfang mit Gott aus der Sicht der Genesis ist also letztlich unsere Geburt in Gott selbst, wodurch die Schöpfung als transzendentaler Endlichkeitsstatus unserer originären Passivität nicht aufgehoben ist, sondern vielmehr in seine radikal immanente Wahrheit des »Gott-Erleidens« oder »Gott-Wissens« im Sinne Meister Eckharts transformiert wurde. Lässt sich nicht dennoch dagegen halten, die Rückführung der Schöpfung auf die alleinige generatio in Gott sei unstatthaft, weil sich die Schöpfung nicht in diesem a-kosmischen Prozess der Lebensselbstzeugung erschöpfe? Gibt es nur ur-anfänglich Gezeugtes, oder auch Geschaffenes? Die philosophisch-theologische oder scholastische Tradition des analogiehaften Seinsdenkens verweist etwa auf Thomas von Aquin, für den die Schöpfung »Abhängigkeit« des geschaffenen Seins in Bezug auf ein Schöpfungsprinzip Gottes impliziere, das heißt nur im Modus der Relation gedacht werden kann. 14 Abhängigkeit und – für den Menschen – personale Beziehung im transzendenten Schöpfungsverhältnis werden damit für immer in einer gewissen Außenheit zueinander stehen, die ontologisch unaufhebbar wäre. Aristotelisch gesprochen, ließe sich damit für die IndiVgl. J.-L. Marion, »Eine andere Erste Philosophie und die Frage der Gegebenheit«, in: J.-L. Marion u. J. Wohlmuth, Ruf und Gabe. Zum Verhältnis von Phänomenologie und Theologie, Bonn 2000, 13–34.

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viduierung des Menschen die Materialursache als Körper, bzw. biblisch als Geschichte, nicht so einfach radikal phänomenologisch ausklammern, ohne die »Wirklichkeit« des Menschen aufzugeben. Allerdings wurde zuvor schon erwähnt, dass das Fleisch nicht irgendeine Eigenschaft darstellt, welche sich einem ursprünglich materiellen oder geschichtlichen Körper hinzufügte – das Fleisch ist die transzendentale Wirklichkeit des »Menschen« im Unterschied zu allen anderen Weltkörpern und damit zu einer solch materiellen oder geschaffenen Welt selbst. Das Sprechen von einem »materiellen Körper«, und wie sich in einen solchen der Logos in-karnieren (»verkörpern«) könne, bleibt also eine spekulative Frage, so wie Analogie und Transzendenz letztlich rationale Argumentationsfiguren in einem schon vorausgesetzten universalen oder ersten Sein sind, ohne sich phänomenologisch zu fragen, wie solches »Sein« in sich selbst – nämlich als Leben – überhaupt ankünftig wird. In jedem Schöpfungs- und Transzendenzdenken bleibt folglich nicht nur zu klären, wie die Differenz von Weltsein zum originären Sichempfinden überbrückt wird, sondern wie Gott in sich selbst vor allem Seinsdenken originäres Leben als dessen Selbstgebung ist. Wenn sich also die Eigenschaften unseres Fleisches letztlich vom unendlichen Leben Gottes und der Fleischwerdung des Sohnes her einsichtig machen lassen, dann ist damit nicht nur die Alltäglichkeit unserer ganz konkreten Existenz als ein je sich-erfreuendes und sicherleidendes Leben radikal phänomenologisch aufweisbar gemacht. Vielmehr verstehen sich »Abhängigkeit« und »Relation« als Ausdruck einer Schöpfungstranszendenz von dem Vermögen her, solch existenziale Faktizität von einer affektiven Grundbetroffenheit als originärer Passibilität her überhaupt erst empfinden und dann denken zu können. Denn solange der Transzendenz- oder Schöpfungsbezug nicht transzendental erprobt, das heißt material phänomenologisch empfunden werden kann, verharrt er in einer formalen Endlichkeitsbestimmung, ohne in der Ipseität einer unverwechselbaren Individuierung verankert zu sein. Um sich in der Tat überhaupt »auf etwas beziehen zu können«, wie Max Scheler forderte, bedarf es zunächst eines effektiven Sich und eines ihm entsprechenden Könnens, ohne welches auch keine »personale Freiheit« danach denkbar ist. Der Immanenzbegriff, wie er mit dem Johannestext unmittelbar verbunden ist, sofern wir in Christus als Sohn Gottes sind, so wie dieser selbst in Gott ist, damit auch wir in Gott seien, impliziert daher 29 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

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weder eine Differenz- noch Transzendenzstruktur, sondern jene »gegenseitige Innerlichkeit«, welche entweder Subjekt und Prädikat austauscht oder sich überhaupt in Tautologien ausdrückt. Letztere bedeuten jedoch kein formales A = A, sondern sind Ausdruck der Unsichtbarkeit des Lebens und damit der reduktiven Abwesenheit eines jeden apophantischen oder hermeneutischen »Als«, wie auch schon Fichte 15 deutlich gemacht hat. Die Immanenz bei letzterem Denker bleibt allerdings noch spekulativ, weil das Verhältnis des Absoluten zum rein praktischen Ich keine wirkliche oder phänomenologische Ipseität birgt, sondern aus einer ersten »Setzung« stammt. Der in jeder Immanenzphilosophie drohende Pantheismus ist im johanneischen Immanenzdenken jedoch dadurch bereits überwunden, dass die Selbstgenerierung des Lebens nicht anonym gedacht wird, sondern in einer Ersten Ipseität erfolgt – eben im Logos als dem »Einzig Geborenen« Gottes (Joh 1,18). Und da auch jedes menschliche Sich in diesem Erst-Lebendigen geboren wird, ist jedes Sich kein unbestimmter Modus einer Substanz oder eines unendlichen Seins wie bei Spinoza, sondern »im Anfang« selbst unverwechselbar, womit auch die Zweideutigkeit Adams als eines bloßen Gattungswesens noch überboten wird. Gewiss findet sich diese Immanenz, wodurch jedes individuierte Leben sich erproben und selbst lieben kann, auch bei den Synoptikern und Paulus wieder, aber für Johannes sind Selbsterprobung und Selbstliebe als lebendige oder praktische Wahrheit so fundamental, dass zusammen mit der Nächstenliebe zugleich in ihnen die Präsenz des Heiligen Geistes selbst abgelesen werden kann. Diese phänomenologisch »gegenseitige Innerlichkeit« als die Fülle der johanneischen Immanenz geht über jede exegetische Schrifteinheit und hermeneutische Sinnkoinzidenz hinaus. Dadurch stellt die »Relation« bei Johannes mehr als nur eine Analogie dar, nämlich eine wirkliche Gleichheit in jeglichem »So wie …« als unmittelbarer Selbstoffenbarung Gottes in seinem Logos und in uns. Schöpfung und Zeugung fallen damit nicht mehr auseinander, falls die Genesis von Johannes aus gelesen wird. Das Licht, welches er mithin auf die Genesis wirft, löst jene Zweideutigkeit auf, die zwischen der Schöpfung als Eröffnung eines Welthorizontes in der Differenz und der Erschaffung des Menschen als »Gottähnlichkeit« herrscht, da letztere nur über Vgl. Die Anweisung zum seligen Leben, oder auch die Religionslehre, Hamburg 1994, 58 ff. u. 180 ff.

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den Lebensbegriff zu verstehen ist, der zunächst kein transzendentes oder abkünftiges »Sein« enthält. Insoweit die Wirklichkeit des lebendigen Fleisches aus dem Leben Gottes selbst heraus jedem sichtbaren menschlichen Körper fundierend innewohnt und ihm originär vorgegeben ist, erlaubt diese phänomenologische Trennung von Fleisch/ Leibkörper auch den Gedanken der Erschaffung eines solchen Körpers im materiellen Wortsinne »aus Lehm« (Gen 2,7). Wenn daraufhin die geschichtliche Inkarnation des Logos »im Fleisch« die ursprüngliche »Ebenbildlichkeit« – und damit auch »Schöpfung« – wiederhergestellt hat, wie gleichfalls alle Kirchenväter bezeugen, dann ist damit die ursprüngliche generatio aus Gott heraus nochmals in den Mittelpunkt gestellt. Denn es wird kein »neuer Mensch« in einem kreationellen Sinne geschaffen, sondern der »in Gott geborene Mensch« findet seine vergessene Erstbedingung wieder, ohne hier die Implikationen einer solchen »verlorenen« oder »vergessenen« Ursprünglichkeit in ihren heilstheologischen und ethischen Konsequenzen weiter zu verfolgen, wie sie etwa besonders gut am Beispiel vom »verlorenen Sohn« bei Lukas 15,11–32 ablesbar sind. Was also durch eine nicht-hermeneutische Rezeption des Johannes-Evangeliums vermieden wird, ist einerseits die Hypostase der Transzendenz wie Schöpfung, andererseits die neuzeitliche Verabsolutierung des Weltseins als Differenz oder Alterität. Dadurch werden die gegenwärtigen Schwierigkeiten in Philosophie wie Theologie überbrückt, in ganz unterschiedlichen Transzendenzbegriffen zu verharren, welche miteinander nichts mehr gemein hätten – nämlich einerseits als das schlechthin Absolute und andererseits als zeitlich endliches Sinnexistenzial. Die johanneische Ur-Intelligibilität verweist auf ein un-bedingt lebendiges »Voraus«, welches absolut ist, ohne in der Immanenz als Fleisch abwesend zu sein, sondern um sich gerade über die rein phänomenologische Wirklichkeit der Passibilität miteinander zu vereinen. In der Ur-Passibilität des Lebens individuiert sich die Passivität unseres Fleisches, so dass hier Absolutes und menschliche Selbstheit in der einen Fleischwerdung des Logos verbunden sind, ohne den Menschen entweder zu einem reinen Weltsein oder zu einem abgefallenen Gott zu machen – zum »Prothesengott« nach Freud etwa. Der Johannestext verkennt allerdings auch nicht die »Finsternis« als »Vergessen« dieser ursprünglichen Situation, welche zugleich ein Vergessen Gottes, des Nächsten wie meiner selbst in Bezug auf ein und dieselbe originäre generatio ist. Damit ist die Botschaft des vierten Evangeliums für alle phänomenologischen Fragen 31 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

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ein Umsturz, und somit ein Neubeginn, wie ihn weder Hermeneutik noch Exegese beinhalten können. Mit anderen Worten: Die ratio essendi et cognoscendi als »Leben«, sei es als Zugang zur Welt, zum Miteinander, zu Gott, zu uns selbst – oder auch zu Texten. Unterfängt nämlich die originäre Selbstverlebendigung jegliche Intentionalität, dann ist damit die prinzipielle Zugänglichkeit zu jeglichem Sein schlechthin gewährt. Phänomenologische Analysen auf dem Boden einer johanneischen Rezeption beruhen daher auf einer erneuerten Transzendentalität, welche in allen Erscheinungen die ur-anfängliche Selbstbewegung des Lebens ausmacht, ohne von der Sakralität oder originären religio solchen Lebens getrennt sein zu können – mithin von einem stets »ursprünglichen Wie« als phänomenologischem Modus jeglicher Ge-gebenheit. 16 Lässt man die strukturelle Unabhängigkeit des Johannestextes hinsichtlich einer hermeneutisch kritischen Exegese gelten, dann bietet sich derselbe auch für die philosophische Rezeption ohne größere Schwierigkeit an, insofern letztere dadurch ihre eigenen phänomenologischen Voraussetzungen radikalisiert. Gegenüber Welt, Körper, Ich etc. muss gegenreduktiv jeweils eine passible Immanenz aufgesucht werden, welche genau den originären Status des johanneischen Logos als Ur-Intelligibilität besitzt, um die irreführenden Hypostasen und Substitutionen aufzubrechen, welche auch die Philosophie seit dem griechischen Denken überlagern und gewisse Fragestellungen kaum zugelassen haben. Der johanneische Umsturz ist als neuer Horizont eines Verständnisses zu sehen, welches sich nicht mehr vorrangig an Denkprobleme bindet, sondern eine lebendige Erprobung initiieren will. Dieser können keine mundanen, zeitlichen oder diskursiven Apriori länger zur Voraussetzung gemacht werden, weil sie die Selbstzeugung des Lebens verfehlen, ohne die nichts wäre. Wir haben schon angedeutet, dass die Immanenz als fleischliches Können zugleich das eigentliche Wesen jeder Handlung ist, so dass uns das johanneische Denken auch jegliches Weltsein als reine Schöpfung im Sinne ursprünglicher Gebung wiedergibt. Der scheinbare Dualismus von Licht/Finsternis ist daher kein traditioneller, metaphysischer oder gnostischer Dualismus, sondern die bisher nie in Anspruch genommene Klarheit einer zweifachen Phänomenalisierungs-

Vgl. R. Kühn, Lebensreligion. Unmittelbarkeit des Religiösen als Realitätsbezug, Dresden 2017, 23.

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weise, welche nicht Welt/Leben trennt, sondern jegliches Weltsein im leiblichen Leben zugänglich macht. Denn indem Johannes den Blick auf die Schöpfung als immanente generatio schärft, schärft er zugleich den Blick dafür, dass alle Weltgehalte einer effektiven Geschichte unterliegen – der Praxis lebendiger Individuen. Was wäre erhellender für unsere kulturelle Zukunft als diese Neubestimmung, anstatt alles von wissenschaftlicher und digitaler Objektivität als technischem »Lösungspotential« her zu erwarten? Sollten die Johannestexte mithin deutlich dafür die Augen schärfen, dass die Trennlinie nicht zwischen Glaube/Atheismus verläuft, sondern zwischen Leben/Tod, dann wäre verständlich, warum die »johanneische Theologie« so frei von allem Verengenden auftritt – weil sie allein aus dem Leben heraus denkt. In diesem Sinne ist ihr Denken älter als jede Philosophie und Theologie, älter als alles Denken – und entspricht dem unmittelbaren Selbstwissen des Lebens als inkarnatorischem Logos, wie es in den folgenden Kapiteln im Einzelnen entfaltet werden soll.

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I. Quellen und Grundlagen

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1. Rezeptivität und johanneischer Christus

Wenn die Frage der Rezeption originär keine Auseinandersetzung im rein hermeneutischen Bereich von Textüberlieferung und -verständnis ist, sondern die Grundproblematik der phänomenologischen Rezeptivität des Lebens als solcher enthält, dann entscheidet sich hier die innere Struktur solcher Empfänglichkeit als Ursprungsfrage schlechthin. Werden mithin die johanneischen Aussagen über den absoluten Anfang in Gott als Leben radikal ernst genommen, dann ist dieser Anfang – einschließlich des erst-lebendigen Logos – in einer solchen Unmittelbarkeit zu nehmen, dass zu seinem Verstehen keinerlei welthafte Denk- oder Existenzstrukturen mehr in Anspruch genommen werden können, insofern dieser Anfang in jeglicher Hinsicht bedingungslos ist. Wenn zudem alles in diesem vorzeitlichen oder ur-anfänglichen Logos geschaffen wird, dann vermag unsere Beziehung zu diesem Logos – ebenso zeitlos – nur darin bestehen, dass unsere Empfängnis des Lebens im rein phänomenologischen Sinne ebenfalls keinerlei anthropologische oder egologische Rezeptionsbedingungen mehr voraussetzt, sondern das Leben dieses Logos mit der radikalen Rezeptivität dieses Lebens selbst identisch ist. Erst indem wir dieses Leben rein selbstaffektiv entgegennehmen, sind wir, und diese Entgegennahme, sofern sie nicht schon »etwas« auf unserer Seite voraussetzen kann, das vor diesem empfangenen Leben konstituiert wäre, ist dadurch zugleich identisch mit dem ewigen Anfang des Logos selbst, da diese absoluten Ursprungsverhältnisse vor Zeit und Welt prinzipiell im absoluten Leben selbst gegeben sind. Daraus folgt als zentrale Aufgabe für unsere weitere Untersuchung, die Analyse der johanneischen Ursprungsverhältnisse als das radikale Apriori jenes »Voraus« fortzusetzen, wie es mit dem uns immanent übereigneten Leben gegeben ist. Da der Anfang im absoluten Sinne zeitlos ist, darf auch dieses allem Sein vorgängige »Leben« nicht als ein zeitliches Vorher gedacht werden, sondern es bildet die konkret trans-

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zendentale Bedingung unseres Lebensvollzugs in jedem Augenblick seiner unmittelbaren Verwirklichung selbst.

1) Rezeption und Empfänglichkeit Wenn daher der Johannestext von der ursprünglichen Selbstgebung eines solch göttlichen Lebens im Logos spricht, dann spricht er nicht von einem vergangenen geschichtlichen Ereignis, das noch zu empfangen wäre, sondern er spricht selbst aus der je sich verwirklichenden Aktualität solch lebendiger Rezeptivität heraus. Damit wird die Rezeptionsfrage des johanneischen Zeugnisses zur Unmittelbarkeit dessen, was wir als transzendental Lebendige sind, so dass keine irgendwie geartete intentionale »Horizontverschmelzung« von Sinnereignissen etwa nach Gadamer gemeint sein kann. Vielmehr handelt es sich um die originäre Wahrheit der eigenen absolut phänomenologischen Empfänglichkeit in Übereinstimmung mit der Inkarnation des Logos innerhalb seiner göttlichen Fleischwerdung als »Wortwerdung« Gottes, welche mit Gottes Selbstoffenbarung identisch ist. Diese rein praktische oder leiblich affektive Intelligibilitätsstruktur, wie wir sie schon in der Einleitung unterstrichen haben, lässt sich auch über das reine Bedürfen des Lebens als dessen immanentes Selbstbegehren im Sinne der »gegenseitigen Innerlichkeit« von Vater/Sohn als innergöttlich verwirklichtes Offenbarungsverhältnis artikulieren. Damit plädieren wir für ein Immanenz-Verständnis der ursprünglichen johanneischen Rezeptivität des göttlichen Lebens, wobei allerdings eine solche Immanenzstruktur noch vor allen personalen »Innerlichkeits«-Bezügen liegt, wie sie im Anschluss an die johanneischen Schriften auch in der spirituellen Tradition der »Christusmystik« immer wieder im Zentrum einer existentiell gelebten Jesusnachfolge gestanden haben 17 und philosophisch sowohl durch Meister Eckhart wie Fichte und Maine de Biran 18 repräsentiert sind. Noch genauer gesagt, schafft die Lebensübereignung in uns durch den Logos erst die Rezeptionsstruktur als solche, weshalb in radikaler

Vgl. zum Beispiel K. Scholtissek, In ihm sein und bleiben. Die Sprache der Immanenz in den johanneischen Schriften, Freiburg i. Br. 1999. 18 Vgl. Die innere Offenbarung des »geistigen Ich«. Drei Kommentare zum Johannes-Evangelium, Würzburg 2010. 17

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Hinsicht von dieser Immanenz des Lebens als Empfänglichkeit zu sprechen ist. Es dürfte schon deutlich geworden sein, dass die originäre Rezeptivitätsfrage auch die Autonomie des Lesers oder Subjekts auflöst. Damit unterliegt nicht nur jede Textkommentierung als solche der phänomenologischen Reduktion, sondern letztlich auch der Text selbst, um im vorliegenden Fall die Lebensoriginarität des Johannestextes zu einer immanenten Historialität der Lebensempfänglichkeit selbst im Sinne ursprünglicher Individuierung werden zu lassen. Dies ist keine methodologische oder epistemologische Vorentscheidung, weil bei Aufhebung dieser Letztgegebenheit des ur-faktischen Lebendigseins keinerlei Analyse einer »Ur-Intelligibilität« mehr möglich wäre, insofern die Lebensaffektion jedem Denken vorausgeht. Eine Rezeptionslektüre, welche wirklich voraussetzungslos arbeiten möchte, indem sie ihre Grundkonzepte nicht sekundär empfängt, sondern gegenreduktiv von der Originarität des Lebens selbst ausgeht, vermag demzufolge keinen anderen Weg einzuschlagen, als sich dieser absoluten Rezeptivität im Sinne lebendiger Empfänglichkeit schlechthin bewusst zu werden. Capax Dei zu sein, das heißt die Macht des Kindseins Gottes zu empfangen, seine Herrlichkeit zu schauen, wie Johannes diese Originarität vertieft, weil wir aus Gott geboren sind, impliziert daher, die reine Empfängnis des Lebens Gottes unter Einklammerung aller Welt- und Wahrnehmungsgesetze als die Fülle Gottes selbst zu verstehen (1,12 ff.). 19 Jedes Erkennen im Rahmen einer bereits konstituierten Disziplin oder Tradition beruht nicht nur geschichtlich auf einem Etwas, das ihr voraus liegt, sondern dieses Etwas ist seinerseits abhängig vom Erkennen, sofern es eine Disziplin begründet. Soll mithin eine originäre Wahrheit vor jeder existierenden Disziplin aufgesucht werden, wozu gerade das Johanneszeugnis auffordert, so ist eben vor jedes Etwas eines Erkennens zurückzugehen, um diese effektive Wahrheit des menschlichen »Seins« vor jedem Denken ergreifen zu können. Denn jedes Etwas, welches als erkannte Erkenntnis zur Grundlage des »Menschseins« gemacht würde, wäre kleiner als dieses selbst, insofern jedem Denken von Etwas bereits die bedingungslose Möglichkeit zum Denken selbst voraus liegt, welche nicht aus dem Denken Vgl. für die exegetischen Zusammenhänge N. Chibici-Revneanu, Die Herrlichkeit des Verherrlichten: das Verständnis der doxa im Johannesevangelium, Tübingen 2007.

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selbst stammt, sondern älter als dieses ist. In diesem radikal gegenreduktiven Sinne geht das absolut phänomenologische Leben allem Denken voraus, wie wir schon aufzeigten, da im Denken ein Vollzug am Werk ist, dessen Kraft ohne Erinnerung in einem thematischen Sinne ist. Historisch kennen wir im Abendland – neben Kunst und Ethik – zwei Disziplinen, welche dieser Ursprungssituation an sich gerecht zu werden versuchen und auch schon zur Sprache kamen: die Philosophie und die Theologie. Erstere scheint ihrem eigenen Anspruch nach autonom zu sein, weil sie kein ihr äußeres Gesetz anerkennt, nach dem sie sich auszurichten hätte, während die Theologie als heteronom im Vergleich dazu erscheint, indem sie die Wahrheit Gottes als dessen Selbstoffenbarung über Schrift und Tradition empfängt. Untersucht man jedoch diesen Unterschied in radikal phänomenologischer Perspektive genauer, so ergibt sich schnell, dass sowohl Autonomie als auch Heteronomie in diesem Fall eine gemeinsame intentionale Struktur besitzen, da sie sich beide auf Etwas beziehen, um von diesem die Wahrheit für das menschliche Erkennen auszusagen. Der scheinbare Unterschied zwischen Philosophie und Theologie ist mithin in Wirklichkeit keiner, denn wir kommen durch beide vor ein cogitatum zu stehen, welches nicht der immanent vorzeitliche Vollzug des Denkens selbst ist, worin allein die Originarität der lebendigen Wirklichkeit als Wahrheit zu schöpfen wäre. 20 Da diese Situation eines intentional Gedachten von allen Wissenschaften geteilt wird, welche sich seit dem griechischen Beginn des Denkens bis heute herausgebildet haben, sind sie für ein gegenreduktives Aufsuchen einer originären Selbstgegebenheit insgesamt auszuklammern, da sich die wissenschaftliche Objektivität oder auch hermeneutische Sinngegebenheit als »Wahrheit« stets im Vorstellungsbereich eines theoretisch oder praktisch vorgegebenen ideatum bewegt. 21 Philosophie wie Theologie hinterschreiten zwar das Denken des Gedachten mit Blick auf ein erstes Erscheinen oder Sichoffenbaren, welches jedoch als intentionales Korrelat der Evidenz oder des Glaubens im Grunde die Struktur der abendländischen Wissenschaftlich-

20 Vgl. M. Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg / München 2002, 399–413:»Über Phänomenologie und Theologie hinaus – die johanneische UrIntelligibilität«. 21 Vgl. hierzu besonders E. Husserl, Formale und transzendentale Logik. Versuch einer Kritik der logischen Vernunft (1929), Tübingen 21981.

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keit voraussetzt – nämlich das Erscheinen/Offenbaren als Gegenständlichkeit, Seiendheit, (höchstes) Sein oder Sinn (Ereignis) schlechthin. Dieser lange Zeit hindurch unbefragte Vorhandenheitscharakter, wie ihn Heidegger durch ein »anderes Denken« unterlaufen wollte, markiert ohne Zweifel die Schwierigkeit der Philosophie, sich selbst einen absoluten Anfang zu geben, welcher nicht bereits von der Kategorialität des Denkens selbst bestimmt ist, nämlich dass »etwas ist«, ohne die reine Selbstgegebenheit von »Sein« in diesem onto-logischen Bezug geklärt zu haben. Die Differenz von Sein/Seiend bzw. die Einheit von Ereignis/Zeitlichkeit führen aber letztlich auch nicht aus der genannten intentionalen Grundstruktur des Denkens heraus, da ich bei aller Nähe des Seins niemals dieses selbst zu sein vermag, insofern es sich stets als »transzendent« gibt und im zeitlichen »Außer-sich« verbleibt, auch wenn es das Da-sein in die »In-ständigkeit« dieser Differenz als Offenheit der Ek-sistenz ruft. 22 Der Johannestext sprengt daher nicht nur die denkkategorialen Vorgaben der realistischen oder idealistischen philosophischen Tradition, sondern auch ihre neuzeitliche existenziale Dekonstruktion, um uns die Ursprünglichkeit des göttlichen Lebens in der Unmittelbarkeit seiner Immanenz selbst erproben zu lassen – und damit alle ekstatischen Verstehenshorizonte zu verlassen. Sind Thales und Parmenides in gewisser Weise die Vordenker der genannten Rationalität oder Korrelation von Sein/Denken, so hat eigentlich der rein affektive Denkvollzug als Leben oder Kraft nur einmal ideengeschichtlich eine ebenso kurze wie unmissverständlich erste Analyse gefunden, nämlich bei Descartes als einer Proto-Phänomenologie. Ist alles im Zweifel als trügerisch auszuschalten, einschließlich des Sichtbarkeitshorizonts selbst, in dem jeder »Zweifel über …« selber nur auftreten kann, dann bleibt allein die reine passio oder affectio als das eigentliche cogitare übrig, wie die »Zweite Meditation« zeigt: »Aber es scheint mir doch, als ob ich sähe, hörte, Wärme fühlte, das kann nicht falsch sein, das eigentlich ist es, was an mir Empfinden (sentire) genannt wird, und dies, genau so verstanden, ist nichts anderes als Bewusstsein (cogitare).« 23 Bevor also das Denken irgendein Etwas und dessen Vor-stellung ergreift, ist es 22 Vgl. M. Heidegger, Zur Sache des Denkens, Tübingen 31988; vor allem die beiden Beiträge »Zeit und Sein« sowie »Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens«. 23 Meditationes de prima philosophia (Übers. L. Gäbe), Hamburg 1959; 50 f.

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seinerseits bereits in der originären Gewissheit eines unmittelbaren wie immanenten Lebensvollzugs ergriffen, welcher den apodiktischen Anfang des Denkens ohne weitere Transzendenz oder kategoriale Außenheit zunächst ausmacht. Erst auf dieser Ebene ergibt sich eine nachvollziehbare Affinität zum theologischen Offenbarungsbegriff als absolutem Ersterscheinen der Wahrheit (Gottes), insofern »mich« das Absolute des Lebens so »zeugt«, wie ich mich meinerseits nie »gesetzt« haben kann, und dennoch dieses Absolute in seiner Selbstgebung nicht von mir getrennt ist, sofern es mich ursprünglich selbst affiziert. Was Descartes mithin in radikaler Weise für das Subjektivitätsverständnis der Neuzeit maßgeblich ausführte, 24 hatte das Johannes-Evangelium bereits zuvor noch entschiedener ausgeführt, insofern die radikal phänomenologische Verlebendigung als transzendentale Geburt in Gott die gleich-ursprüngliche Verbindung von Gott/Individuum – und nicht nur von affectio/cogito – impliziert. Die rein lebensphänomenologische Selbstaffektion als ein je ständiges Geborenwerden im Leben bezeichnet mithin jene Modalisierungsweise, wo ich aus der intentionalen, diskursiven oder objektiven Denkstruktur heraustrete, um in die Passibilität des absolut vorgängigen Lebens eingetaucht zu sein, welches dergestalt eine unhintergehbare Wahrheit als eigenständige Phänomenalisierung vor allen Disziplinen bildet. Soll dieses Leben rein phänomenologisch in solcher Ursprünglichkeit verbleiben, kann es nicht zum Gegenstand einer Disziplin werden, so wie der Logos nach Johannes nicht nur ein kosmologisches Prinzip ist. 25 Vielmehr muss er sich selbst als seine ihm eigene Wahrheit aussagen – seine eigene Offenbarung in sich und durch sich vollziehen, ohne dem philosophischen wie theologischen Wissen in deren doxischer Gegenständlichkeit anheim gegeben zu werden. Diese radikal phänomenologische Wahrheit wird Meister Eckhart exemplarisch in ihrer gleichursprünglichen Absolutheit wie Universalität fassen, wenn er – wie Johannes – von allen lebendigen Menschen sagt: »Warum bleibt ihr nicht in euch selbst und greift in euer eigenes Gut? Ihr tragt doch alle Wahrheit wesenhaft in euch.« 26 Versteht man diese Wesenhaftigkeit nicht als eine solche, die eine neue Disziplin – etwa der Metaphysik – beinhaltet, sondern das Vgl. M. Henry, Inkarnation, 142–160, zum Problem reiner Phänomenalität bei Descartes und Husserl. 25 Vgl. R. Schnackenburg, Das Johannesevangelium I, Freiburg i. Br. 61986, 257–269. 26 Deutsche Predigten und Traktate (Hg. J. Quint), München 1979, 181 (Predigt 6). 24

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lebendige Wesen jeder Impressionabilität, das heißt Vollzug oder Kraft des Lebens ist, dann entfällt auch der Einwand, wir begäben uns damit in den irrrationalen Bereich des Mystizismus – folglich fern von allem Denken, um uns nur der persönlich intuitiven Erfahrung eines problematischen »Aufgehens in Gott« zu überlassen. Wir nehmen mithin in diesem originären Lebenszusammenhang weder die historische Konstellation von Theologie/Mystik noch von Denken/Mystik methodisch in Anspruch, weil wir dadurch wieder an Disziplinzuschreibungen verwiesen würden, auch wenn wir der Mystik grundsätzlich eine gegenreduktive Kriteriologie zugestehen. 27 Vielmehr steht allein der radikal phänomenologische Sachverhalt im Mittelpunkt, dass »im Anfang« für jeden Menschen die Differenz mit dem »Sein« oder »Gott« bereits aufgehoben ist, um vor jeder theoretischen Andersheit oder noematischen Transzendenz der Intentionalität eine Übereinstimmung mit der christologischen oder inkarnierten Selbstgegebenheit des rein phänomenologischen Lebens zu vollziehen – genauer gesagt, sich vollziehen zu lassen. Der Schritt zurück vor jede Philosophie, Theologie, Mystiktradition oder Wissenschaftlichkeit erfolgt dadurch, indem die vorreflexive Einheit des transzendental Lebendigen von Affizierendem und Affiziertem in unserer transzendentalen Leiblichkeit aufgesucht wird. Und zwar unmittelbar dort, wo dieses Leiblichsein an sich selbst in der Originarität des Lebens gegeben wird, das heißt in der schon genannten Passibilität des Lebens als reiner Empfängnis von allem, was wir als unsere subjektiven Potentialiäten und Vollzüge betrachten können. Ist hier jedes Denken von einem Etwas aufgehoben, weil das Denken nur eine Modalität des Lebens ist, welches ihm vorausgeht, dann sind in der Absolutheit solcher Empfängnis Selbstgegebenheit des Lebens und Mich-Gegebenheit als »Ich im Akkusativ« eins. Absolutheit des Gegebenseins meint hier, dass in der reinen Empfängnis des Lebens zunächst keinerlei Intentionalität von meiner Seite gegeben ist, weder Wille noch Freiheit, sondern eben nur uranfängliches Geborenwerden als radikal phänomenologische Passibilität der »Geburt aus Gott« nach Joh 1,13. Die Affinität zu christlicher Theologie und Mystik allgemein als un-bedingtem Existenzvollzug besteht nun darin, dass ich im Modus des reinen Geborenwerdens im Leben dessen »Kind« bin. Mit andeVgl. R. Kühn, Lebensmystik. Ursprüngliche Erfahrungseinheit von Religion und Ethik im Spiegel »philosophischer Mystik«, Dresden 2018, 255 ff.

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ren Worten von derselben Wesenhaftigkeit wie das Leben selbst, sofern alle anderen Kategorien hier eingeklammert sind und das »Leben Gottes« nichts anderes als sich selbst zu geben vermag, wie es der originäre Logos als »Wort des Vaters« bezeugt. Dieses Lebendigsein vor allem existentiellen oder reflexiven Sein im Leben impliziert mithin das Sichoffenbaren des Lebens als sein originäres Selbsterscheinen in meinem immanenten Geborenwerden als solchem. Es spricht »sich als mich und mich als sich« aus, um nochmals Meister Eckhart hinsichtlich der ur-anfänglichen Phänomenalisierungsweise im Sinne der Logoswahrheit zu zitieren, denn er kann dadurch den prinzipiellen Anfang als Einheit ur-intelligibel werden lassen: Gott »gebiert mich als sich und sich als mich und mich als sein Sein und als seine Natur. Im innersten Quell […] da ist ein Leben und ein Sein und ein Werk. Alles, was Gott wirkt, das ist Eins; darum gebiert er mich als seinen Sohn ohne jeden Unterschied.« 28 Diese rein immanente Intelligibilitätsstruktur ist keinerlei Vorstellung mehr, sondern als Ursprung unserer radikal phänomenologischen Leiblichkeit eine rein impressionale Affektion im Selbstempfinden des absolut individuierten Lebens. In jedem Affekt, im tiefsten Grund unseres Leiblichseins als »Fleisch« mithin, berühre ich so das Absolute des göttlichen Lebens, sofern es mich gebärend – oder immer wieder neu verlebendigend – in seinem fleischgewordenen Logos als Erst-Lebendigem zeugt und ständig berührt. 29 Das Einssein meines Lebendigseins mit meinem Leiblichsein bedeutet daher eine rein praktische Wahrheit des Ursprungserscheinens, welches in seiner phänomenologischen Absolutheit nur im Vollzug jeder Sinnlichkeit und Affektion gegeben ist, um sich im intentionalen Blick darauf zu verlieren. Denn die Unmittelbarkeit der Lebensgeneration in ihrem iterativen Selbstbegehren vermag in keine horizonthafte Intentionalität einzutreten – letztere aber sehr wohl als »lebendige Gegenwart« unthematisch durchzieht, wie Husserl sie zu fassen versuchte. Älter als das Bündnis von Denken/Sein bei Parmenides bis Heidegger, aber auch als der griechische Logos bei Heraklit und Philon von Alexandrien, ist damit die ur-anfängliche

Deutsche Predigten und Traktate, 185 (Predigt 7). Zur Diskussion um Differenz und Berühren besonders bei Derrida und Nancy vgl. R. Kühn, Postmoderne und Lebensphänomenologie. Zum Verhältnis von Differenz und Immanenz des Erscheinens, Freiburg / München 2019, 409–431: »Wovon wir berührt werden – was uns berührt«.

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wie ur-offenbarende Verknüpfung von Leben/Leib, welche allen Disziplinen voraus liegt und so auch die eigentliche »Lebenswelt« bildet, aus der alle Theorien und Praxen geschichtlich entstehen. Wurzelt aber alle lebensweltliche Phänomenalisierung in der originären Produktion, Konsumtion und Kulturalität des Lebens, dann ergibt sich daraus gleichfalls der Hinweis auf die effektive Offenbarungsmächtigkeit des Lebens in seiner unentwegten Iteration als einer »kontinuierlichen Schöpfung« selbst. Denn was auch stets individuell wie gesellschaftlich im intentionalen Sinne geplant und verwirklicht werden kann – das absolute »Mehr« des Lebens ist immer schon all diesen Projekten voraus, indem es in seiner reinen Passibilität seine Kraft zum Vollzug jeglich gewünschten Tuns zur Verfügung stellt, welches sich leiblich generiert und somit rückverweisend an die Geburt des absoluten Lebens und dessen affektiven Logos zu erinnern vermag. Die originäre Wesenhaftigkeit des Selbsterscheinens ist dementsprechend in jedem Augenblick und an jedem Punkt seiner immanenten Praxis affektiv oder impressional greifbar, wenn die Vorstellungen von besonderen Weisen, das Absolute sichtbar besitzen zu wollen, als »Finsternis« aufgegeben werden, wie es Johannesprolog, phänomenologische wie dekonstruktive Reduktion und mystische Kriteriologie des Erkennens und Handelns übereinstimmend fordern. Versteht man unser ur-anfängliches Geborenwerden im Leben als unmittelbares »Kind-« oder »Sohnsein«, dann ist damit der tiefste Logos-Bezug zur christologischen Inkarnation gegeben, welche die eigentliche Konkretion der Selbstoffenbarung Gottes in der Theologie und des Selbsterscheinens des Erscheinens in der Phänomenologie ausmacht, indem sie zugleich als lebendige Realität über beide Disziplinen als theoretische Konzeptualisierungen hinausführt. Bildet nämlich das zuvor genannte Leiblichsein unsere Originarität des Lebendigseins als Passibilität, dann empfängt sich mit anderen Worten das Leben selbst, indem es sich gibt. Die Selbstoffenbarung Gottes ist als Christuswirklichkeit das »Wort« (Logos) des Vaters in seinem »Sohn« und als dieser. Entkleidet man diese theologische Darstellungsweise von ihren metaphysischen Implikationen einer naturoder intellektanalogen Generation wie etwa in der Stoa und bei Plotin, dann beinhaltet dies als radikal phänomenologische Wahrheit des originären Sich-gebens des Lebens, dass letzteres eine Erste Ipseität als Erst-Lebendigen zeugt, um sich in seinem Geben selbst entgegen-

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nehmen zu können. 30 Die reine Bezüglichkeit des Lebens findet also in einem Sich statt, dessen absolute Phänomenalität als »Wort« die immanente oder historiale Materialität der ur-anfänglichen Inkarnation Gottes besitzt. Diese vorzeitliche Inkarnation als konkretes Wesen der Selbstoffenbarung Gottes besagt mit anderen Worten eine innergöttliche »gegenseitige Innerlichkeit« ohne Differenz und Andersheit, insofern »das Wort im Anfang bei Gott war« und in diesem Anfang auch »Fleisch geworden ist«, wie wir dies seit unserer Einleitung hervorgehoben haben. Wenn wir daher unser Leben ausschließlich leiblich entgegennehmen, um nur auf diese Weise der Empfängnis am Leben überhaupt teilhaben zu können, dann vollzieht sich unsere transzendentale »Menschwerdung« innerhalb der innergöttlichen Inkarnation Gottes selbst, da dieser sich nur geben kann, indem er sich innergöttlich im Sinne des Logos als »Sohn« inkarniert – und dementsprechend sich selbstoffenbarend als Wort aussagt. Formuliert Michel Henry zusammenfassend diese genannte Erscheinens- wie Offenbarungsproblematik wie folgt: »In der Tiefe seiner Nacht ist unser Fleisch Gott«, dann zieht er damit heute radikal phänomenologisch die letzten Konsequenzen aus einem nicht-griechischen Denken, um die unmittelbare Ur-Intelligibilität des originären Logos an die Selbstgebung unserer fleischlichen Leiblichkeit zu binden. Letztere ist über kein »logozentrisches« oder wissenschaftliches Weltverständnis als intentionales »Bewusstsein von …« zugänglich, 31 weshalb die christologische Struktur der absoluten Offenbarungswahrheit als in-karnatorische Wirklichkeit keinen irgendwie gearteten »Logos« des Denkens darstellt. Vielmehr handelt es sich um einen rein affektiven Logos – um die ursprüngliche Lebensimmanenz jeder Impressionalität als Selbstaffektion in der Ipseität des Erst-Inkarnierten als Erst-Lebendigem, den die christlichen Glaubenszeugnisse den »Christus« nennen.

Vgl. M. Henry, »Ich bin die Wahrheit«. Für eine Philosophie des Christentums, Freiburg / München 1997, 79 ff. 31 Inkarnation, 412. 30

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Die johanneische Christuswirklichkeit

2) Die johanneische Christuswirklichkeit Diese originäre Zugänglichkeit der Wahrheit Gottes im Leben für jeden und zu jedem Augenblick macht die radikal phänomenologische Christuswirklichkeit als leibaffektive Wahrheit vor jeder Philosophie und Theologie im diskursiven Sinne aus. Diese Wahrheit liegt auch insofern aller Phänomenologie selbst noch voraus, als hier unter einer solchen Weise des Philosophierens nicht mehr die Konstitutionsoder Destruktionsphänomenologie im Sinne Husserls, Heideggers und ihrer Nachfolger wie etwa Derrida und Marion verstanden werden kann. Es handelt sich um eine radikale Umkehr in der Phänomenologie als solcher, welche sich an keine bloße Idealität oder Formalität des Gegebenseins von Wahrheit oder Offenbarung mehr bindet, sondern jede Spaltung von Form und Inhalt bzw. von Ontik und Ontologie durch die inkarnatorische Konkretion unterläuft. Denn fasst auch Martin Heidegger »Philosophie [als] das formale anzeigende ontologische Korrektiv des ontischen, und zwar vorchristlichen Gehaltes der theologischen Grundbegriffe«, 32 dann wird genau dieses deiktische Verhältnis lebensphänomenologisch umgekehrt, indem der eigentliche Gehalt der christlichen Wahrheit als Christuswirklichkeit weder philosophisch noch theologisch in einem bloß regionalen, konstituierenden oder existenzialen Sinne fungiert, sondern das Erscheinen selbst in seinem fleischlichen Selbsterscheinen bildet. Damit erschließt eine originäre religio auch nicht nur einen ontischen Bereich, sondern sie ist mit der unmittelbaren UrOffenbarung des inkarnatorischen Lebens als dessen immanente Selbstoffenbarung eins. 33 Die Grundannahme für eine diesbezügliche Intelligibilität der Heiligen Schrift allgemein lautet daher phänomenologisch, dass der Mensch die Wahrheit der Selbstoffenbarung Gottes durch den Logos nicht verstehen könnte, wenn er dessen Wesen nicht bereits in sich trüge, nämlich als jene absolute Lebensselbstaffektion, welche in der lebensgenerierenden »inneren Gegenseitigkeit« zwischen Gott Vater und Gott Sohn das göttliche Wort (Logos) in Gestalt der genannten zeitlosen Inkarnation einschließt. Insofern Gott sich in diesem Wort 32 In seinem Vortrag Phänomenologie und Theologie von 1927, Frankfurt/M. 1970, 31. 33 Vgl. R. Kühn, Lebensreligion. Unmittelbarkeit des Religiösen als Realitätsbezug, Dresden 2019, hier bes. 11 ff. u. 117 ff.

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des ewigen Lebens zeugend aussagt, welches als »Sohn« empfangen wird, ist auch jeder »Mensch« seinem transzendentalen Ursprung nach in dieser innergöttlichen Inkarnation geboren, so dass er das innertrinitarische Wort Gottes bereits in sich trägt und es in jeder affektiven Lebensmodalisierung erproben kann. Christologisch ist dieses lebensphänomenologische Wahrheitsverständnis der menschlichen Originarität deshalb, weil die Weise, wie jedes Sich als Ipseität an sich selbst gegeben wird, in der Ur-Ipseisierung des Wortes Gottes als dem Erst-Lebendigen geschieht. Damit ist grundlegend klargestellt, dass Gottes Wort gemäß dem Johanneszeugnis zunächst eben nicht Text, sondern Fleisch geworden ist – und unser selbstaffektives Empfinden dieses Wortes unserer fleischlichen Selbsterprobung in Christus als dem inkarnierten Leben Gottes selbst entspricht. Die unsichtbare Immanenz dieser Lebensoffenbarung als Bezug zwischen Vater/Sohn sowie zwischen Absolutem/Mich in Christus als dem Erst-Lebendigen bedeutet also beide Male eine Selbstoffenbarung, worin das Leben sich ausschließlich sich selbst als affektiver Logos aussagt, das heißt sich als Pathos selbsterprobend erfährt. Dabei ist dieses Pathos gemäß den Johannesschriften in Gott eindeutig Liebe und besteht für den Menschen in den beiden Grundaffektionen von Freude und Schmerz. Deren Affinität – sowie letztlich Identität – mit der Passion und Auferstehung Christi basiert daher nicht nur auf einer eschatologischen oder existentiellen Struktur, sondern auf dem je aktuellen Rememorial der Affektivität in uns, wie schon als Kritik an der bisher vorherrschenden Exegese einleitend festgehalten wurde. Dieses rein affektive Gedächtnis schließt des Weiteren die dargestellte radikale Leibphänomenalität ein, wodurch die absolute Subjektivität des je lebendigen Empfindenkönnens zum einen auf den immanenten Selbstgenerierungsprozess des göttlichen Lebens verweist und zum anderen auf die transzendente oder intentionale Eröffnung von Welt mit ihren axiologischen Implikationen. Im Rückgriff auf Pierre Maine de Biran kann nämlich zusätzlich für das Sprachproblem die Analyse dieses nachcartesianischen Denkers vom »doppelten Zeichengebrauch« in Anspruch genommen werden. Wenn ich etwa das Wort »sehen« gebrauche, greife ich dabei unmittelbar auf die Vorstellung des transzendenten Organs des Auges zurück, welches aber gleichzeitig eine »innere transzendentale Erfahrung« voraussetzt, nämlich die lebendige Selbst48 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Die johanneische Christuswirklichkeit

affektion 34 unseres Ursprungsleibes reiner Subjektivität als selbstapperzeptiver »Anstrengung« (effort). Damit ist eine zusätzliche Bedingung für die originäre Sprachverwendung geklärt, dass nämlich eben vor jedem diskursiven Referenzsystem von Zeichen/Bezeichnetem immer schon innerhalb der Wahrnehmung ein rein immanentes Empfinden vollzogen wurde, welches phänomenologisch gegeben sein muss, damit eine bestimmte Bedeutung überhaupt verstanden werden kann. Verbindet man diese leibliche Sprachanalyse mit der christologischen Inkarnationswirklichkeit, dann wird fassbar, dass für jede doxische Intentionalität die apriorisch immanente Selbstbewegung des unsichtbaren Lebens vorausgeht, wodurch Gesten wie Worte in der Welt an die fleischgewordene Wirklichkeit des johanneischen »Wortes des Lebens« als Affektion zurückgebunden bleiben. Will Theologie oder Religionsphilosophie mithin verständlich machen, wovon sie spricht, wenn sie das Heil den Menschen verdeutlichen möchte, dann muss sie sich genau in dieses originäre Fleisch jedes lebendigen Menschen versetzen, um darin sowohl die »Ur-Intelligibilität« der Christuswirklichkeit wie der Heiligen Schrift auszumachen. Denn dieses rein immanente Fleisch als Ort der Offenbarung des Wortes des Lebens kann niemals lügen oder täuschen, weil es als passible Affektion oder Pathos an die Inkarnation des Sohnes Gottes im Sinne des johanneischen Logos zurückgebunden ist, um unsere unsichtbare Geburt im Leben Gottes zu bezeugen. Daraus ergibt sich, dass meine innerste phänomenologische Wahrheit der Wahrheit des lebendig inkarnierten Christus gleich ist, so dass der Zugang zu den Schriften – wie eine entsprechende Theologie und Verkündigung – darin liegt, im biblischen Wort vom »Sohnsein« meine eigene innerste Lebensaffektion wieder zu empfinden, weil in meiner »Ur-Passibilität« die johanneische »Ur-Intelligibilität« des inkarnierten Christus bereits gegeben ist und in den Worten der gläubigen Tradition ihren Widerhall findet. 35 Im engeren theologisch sakramentalen Sinne geht die Schrift dabei von der Eucharistiefeier als einem »Tun des Gedächtnisses« an Christi Leben und Wirklichkeit als inkarniertem Logos aus, wodurch unterstrichen wird, dass der Leib der Eucharistie mit unserem rein affektiven Fleisch von Freude und Schmerz eine gemeinsame OffenVgl. Von der unmittelbaren Apperzeption (Berliner Preisschrift 1807), Freiburg / München 2008, 176 ff. 35 Vgl. M. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 133 ff.; Inkarnation, 410 ff. 34

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Rezeptivität und johanneischer Christus

barung kennt, welche alle benutzten Worte und literarischen Bedeutungen von Wahrheit, Leben, Fleisch, Gedächtnis, Inkarnation, Passion, Brot, Wein usw. an den Ort ihrer originär phänomenologischen Hervorbringung zurückführt. Damit wären wir im Besitz einer Fundamentaltheologie wie auch radikalen Religionsphänomenologie, welche ein wirkliches »Wort Gottes« beinhaltet, da es sich ausschließlich vom originären Leben in dessen Modalisierungen her speist. Gewiss geht die christliche Praxis in Sakrament und Kirche über die Phänomenologie hinaus, insofern letztere nur die konkret transzendentalen Möglichkeitsbedingungen der Wirklichkeit aufweisen kann, ohne diese selbst zu sein. Aber die Wirklichkeit der Inkarnation, der Eucharistie und des christlichen Heils, von der die Theologie spricht, findet in der rein phänomenologischen Lebensimmanenz dergestalt eine neue Aussagekraft, welche an das Empfindenkönnen auch des einfachsten Lebens zurückgebunden ist. Christi Worte an die Menschen und über sich selbst aus der Heiligen Schrift zu hören, heißt daher, sie nicht nur in den Freuden und Leiden unseres eigenen Lebens zu hören, sondern in jener ur-passiblen Lebensumschlingung der Affektivität, welche stärker und älter ist als wir selbst. Wenn dieses Wort des Lebens in Christus als sein inkarniertes Wesen gesprochen hat, so wie es in jedem Menschen ebenfalls spricht, dann ist auch die Theologie zunächst kein menschliches Wort »über Gott«, sondern ein menschliches Wort, welches von Vornherein in die Wahrheitsrealität des absoluten Lebens hinein versetzt ist. Im Unterschied zum griechischen Denken, besonders in seiner hellenistischen Gnosisform, hat auch für die ersten Kirchenväter ein Logos ohne Fleisch (asarkos) keinen Sinn. 36 Vielmehr wurzelt die konkrete Möglichkeit des Glaubens in unserer fleischlichen Bedingung als solcher, die Sünde wie Heil gleichermaßen impliziert. Sünde insofern, als wir illusionshaft unsere Vermögen des »Ich kann« allein als die unsrigen ausgeben, und Heil dadurch, indem wir in allem leiblich-geistigen Tun die unsichtbare Lebensoffenbarung als Sohnesoffenbarung in Christus wieder erkennen. 37

36 Zur Auseinandersetzung mit dieser Gnosis vgl. M. Henry, Inkarnation, 199 ff.; außerdem P. Hofrichter, Im Anfang war der »Johannesprolog«: das urchristliche Logosbekenntnis – die Basis neutestamentlicher und gnostischer Theologie, Regensburg 1986. 37 Vgl. M. Henry, Inkarnation, 363 ff.

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Ausgehend vom liturgischen Memorial der Eucharistie, bei dem die Präsenz Christi proklamierend vollzogen wird, nahmen in der Kirche nach und nach auch die Evangelien Gestalt an, welche keine äußeren Berichte sind, sondern zur unmittelbaren Kommunion mit Gott in seinem Sohne hinführen wollen, bzw. diese als Rezeptivitätsgegebenheit bezeugen: »Denn das Leben wurde offenbart, wir haben gesehen und bezeugen und verkünden euch das ewige Leben, das beim Vater war und uns offenbart wurde. […] Wir aber haben Gemeinschaft mit dem Vater und mit seinem Sohn Jesus Christus.« (1 Joh 1,2 f.) In diese unauflösbare Einheit von Eucharistie und Evangelium wurde auch das Alte Testament mit aufgenommen, um die Geschichte Israels in sukzessiven Relektüren von Sünde/Vergebung, Exil/Wiederkehr, Gesetz/Weisheit oder Tod/Leben zu verstehen. So ergibt sich beispielsweise eine ganz neue lebensgenealogische Entwicklungsgeschichte des Schriftkanons als der Intertextualität zwischen Altem und Neuem Testament, um in der Auferstehung die Vollendung des affektiv Historialen des Absoluten auszumachen, das heißt den definitiven Übergang des Leidens in die Freude. Ein solches Verständnis der Schrift löst sich von dem immer noch vorherrschenden Interpretationsverständnis des hermeneutischen Zirkels wie bei Heidegger, Gadamer, Ricolig;ur oder auch in der Semiotik und Narrativität allgemein als Modell für das biblischeschatologische oder existentielle Kerygma. Denn all diese – zumeist in der historisch-kritischen Schriftexegese verfolgten – Auslegungsmethoden bleiben einem Wortverständnis verhaftet, welches allein der Transzendenzphänomenologie als Distanz oder Differenz zwischen Zeichen/Bezeichnetem bzw. Anruf/Antwort unterworfen ist, 38 während eine an der absoluten Lebensaffektion orientierte Lesart dem »Herzen« des Einzelnen verpflichtet ist, wie wir bereits zuvor ausführten. In dieser Unmittelbarkeit des Herzens als inkarnatorisch christologischer Lebensaffektion gibt es keine Kluft mehr. Wort und Hören sind dasselbe, weil in der Zeugung des Hörenden selbst, und zwar als seine jeweilige Geburt im absoluten Leben, die Selbstoffenbarung Gottes – sowie die des Hörens an sich selbst – ebenso gleichzeitig wie unmittelbar als ein und derselbe Logos erfolgt. 39 Vgl. etwa M. Theobald, Im Anfang war das Wort: textlinguistische Studien zum Johannesprolog, Stuttgart 1983. 39 Vgl. M. Henry, Christi Worte. Eine Phänomenologie der Sprache und Offenbarung, Freiburg / München 2010, 124 ff. 38

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Wenn mithin schließlich keine Modalität meines Lebens außerhalb dieses Rememorials eines inkarnierten Lebens Gottes empfunden zu werden vermag, dann besteht der lebendige Schriftsinn mit seiner Verkündigung eben nicht darin, den Schrifttext durch eine eigene Interpretation beherrschen zu wollen, sondern »in uns zu empfinden, was in Christus Jesus ist« (Phil 2,5). Christus hat durch seine inkarnatorische Selbsterprobung auf passionshafte Weise alle Wirklichkeit der Schrift erfüllt, und deshalb ist die Auslegung der Bibel durch die Bibel selbst auch ein radikal phänomenologisches Durchqueren dieser von Christus als dem Logos durchlebten Wirklichkeiten, wie sie in uns ebenfalls gegeben sind. Nämlich 1) als das Geheimnis der Vereinigung von Christus/Kirche; 2) als das Geheimnis der Sohnschaft Christus/Gläubiger sowie 3) als jenes Heilsmysterium, in dem wir durch unser eigenes Leben bereits originär geboren sind und auch existentiell immer tiefer eingeführt werden können. Religionsphänomenologisch gesehen haben die Menschen heute also keine Ideen mehr zu empfangen und wollen es auch nicht, sondern in der Weitergabe der Schrift mit deren sich gegenseitig erhellenden und vertiefenden Symbolmotiven sollte es das Ziel sein, die johanneische oder »gegenseitige Innerlichkeit« zwischen Gott Vater und Sohn in uns selber als Wirklichkeit unserer Wesenhaftigkeit aufscheinen zu lassen. In einer Art »eidetischen Variation« führt so zum Beispiel die phänomenologische Beschreibung von Begehren, Brot, Wasser, Haus usw. zum Erleben derselben Wirklichkeiten in Christus, wo all diese ihre eigentliche Wahrheit besitzen, ohne uns eben selber fremd zu sein. 40 In einer solchen Schriftlektüre begegnen sich also nicht nur Philosophie und Theologie, Vernunft und Glaube, wie in den herkömmlichen Versuchen einer Fundamentaltheologie oder Religionsphilosophie, sondern es wird vielmehr die gemeinsame Originarität beider im konkretesten inneren Leben eines jeden Individuums aufgewiesen. Dadurch wird eine notwendige Antwort auf das Selbsterleben der Menschen aus der innersten Wahrheit Christi, der Tradition und der Schrift selbst heraus gegeben, um eine Einheit zu Wort kommen zu lassen, die weder bloß diskursiv noch spekulativ oder sozial engagiert ist, sondern die unbezweifelbare Praxis eines von jedem vollzogenen Lebens in dessen phänomenologischem wie göttlichem Wesen »im Anfang« impliziert. Vgl. A. Vidalin, La Parole de la Vie. La phénoménologie de Michel Henry et l’intelligence des Écritures, Paris 2006, 211 ff.

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Ein Einwand von maßgeblicher Tragweite auf die bisher dargestellte rein phänomenologische Rezeption der johanneischen Christuswirklichkeit könnte lauten, ob bei aller Kritik an einer leibund weltfeindlichen Gnosis diese nicht trotzdem jenes Wahrheitsverständnis charakterisiert, welches mit der Einheit der Selbstoffenbarung Gottes und der lebendigen Selbstaffektion des Menschen gegeben ist – zumal beispielsweise Michel Henry selber im letzten Satz seines Werkes über die »Inkarnation« festhält: »Die Ur-Gnosis ist die Gnosis der Einfachen.« 41 Es fehlen allerdings bei dieser Bestimmung nicht nur alle mythologischen oder spekulativen Elemente, welche sonst eine gnostische Erkenntnislehre auszeichnen, sondern die jedem zugängliche »Einfachheit« in ihm selbst, von der hier als »Gnosis« die Rede ist, verweist auf einen zentralen Satz bei Irenäus von Lyon zurück, welchen Henry auch als das bereits erwähnte fundamentale »christliche« oder »fleischliche Cogito« qualifizierte: »Dass nämlich das Fleisch fähig ist, das Leben [Gottes] aufzunehmen, zeigt sich durch dasselbe Leben, wodurch das Fleisch lebt.« 42 Diesseits aller Bildhaftigkeit, Spekulation oder Diskursivität ist mithin das Fleisch in seiner Ermöglichung durch das Leben die hier in Anspruch genommene johanneische Ur-Intelligibilität. Das heißt ein ebenso unmittelbares wie einfaches Cogito, welches von keiner Intentionalität jemals eingeholt werden kann, aber gerade dadurch mit jener Christuswirklichkeit selbst identisch ist, von der das Johannesevangelium durchgehend spricht. Diese christuskonforme »Ur-Gnosis der Einfachen« diesseits jeder konstruierten wissenden Gnosis wird mithin keinen Eingeweihten vorbehalten, sondern sie kehrt vielmehr jedes Wissen, welches sich als religiöses oder theoretisches »Verstehen der Wahrheit« dünkt, in einem radikalen Sinne um, wodurch in der phänomenologisch materialen Konkretheit die fleischlich absolute Logos-Affektion oder Liebe des Lebens zugleich als die je singuläre Universalität des Heils für jeden Menschen unterstrichen ist. Ideengeschichtlich wie radikal phänomenologisch bedeutet dies, dass mit der Christuswirklichkeit eine grundlegende Umkehr des Wahrheitsverständnisses überhaupt stattgefunden hat, welche bisher kaum – weder in der Phi41 Inkarnation, 413; vgl. auch M. Henry, »Die Wahrheit der Gnosis«, in: Radikale Religionsphänomenologie. Beiträge 1943–2001, Freiburg / München 2015, 259–273. 42 Adversus haereses V, 3.3. Fünf Bücher gegen die Häresien, Band II, München 1912, 159; zit. M. Henry, Inkarnation, 215 f.

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losophie noch in der Theologie – wirklich realisiert wurde. Dass die Wahrheit nämlich keine Kategorie einer je transzendenten Theorie ist, sondern wesenhaft der immanenten Praxis unseres Fleisches als originärer Subjektivität im Sinne des Lebenspathos entspricht. Damit ist jeder Gnosis, Intuition oder Vernunft der Boden als solcher entzogen, sich zu einem distanzierten Wissen der Wahrheit zu machen. Denn wenn Wahrheit nur erprobt werden kann, dann ist die Passibilität dieser absoluten Erprobung (épreuve) zugleich Selbstoffenbarung des Lebens Gottes, welche originär nie von unseren Vermögen abhängen kann, wohl aber in ihnen permanent in ihrer Wirktatsächlichkeit gegeben ist. Das »christliche Cogito« unseres Fleisches lässt daher keinen entfernten oder fremden Gott in unzugänglicher Andersheit zu, der über eine wie immer auch geartete Anstrengung des Denkens aufgesucht werden müsste, um uns nahe zu werden. 43 Die nie fehlende Ur-Intelligibilität Gottes im Sinne des Johannestextes vor Vernunft und Glaube in deren intentionalem Sinne ist zugleich die Ur-Intelligibilität unserer radikalen Ursprungsaffektion, mit der wir an uns selbst im Leben gegeben werden. Dadurch vernehmen wir Gott als originäres Leben durch solche Empfängnis in allem, wenn wir uns unmittelbar selbst in unserer lebendigen Gewissheit empfinden, so dass wir dabei zugleich auf rein passible Weise die Absolutheit des Lebens verwirklichen. Daraus folgt aber auch, dass wir Gott und den Anderen als Nächsten ebenso vergessen, wenn wir uns selbst vergessen, das heißt das Ich der Vorstellung für das sich selbst gründende Maß aller Wahrheit und Wirklichkeit halten. Ist das »christliche Cogito« keine Gnosis der Erkenntnis mehr, sondern eine Umkehr jeder abstrakten Wahrheitshypostase, um zur rein immanenten Praxis der Affektion zu werden, dann bedeutet dies zugleich, dass wir damit immer schon in ein Tun eingebettet sind, welches das Wort des absoluten Lebens selbst ist. Im reinen Wirken durch das absolute Lebenswissen in mir kann es demzufolge kein Wissen der Mystik über sich selbst als »Mystik« mehr geben, denn in dieser thematischen Selbstversicherung verlöre sie, was ihre johanneische Wahrheit vor allem Disziplinendenken ist, nämlich die »Ungeschaffenheit« in der reinen Kraft des Lebens als innere Vollzugswirklichkeit allen Tuns und Denkens Zu einer solchen Auseinandersetzung mit dem ontologischen Gottesbeweis nach Anselm von Canterbury vgl. auch M. Henry, »Hinführung zur Gottesfrage: Seinsbeweis oder Lebenserweis?«, in: Radikale Religionsphänomenologie, 145–160.

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im Sinne des geburtlich einen Wirkens nach Meister Eckhart. 44 Die Ur-Intelligibilität ist daher mit anderen Worten zugleich immer auch ein Ethos als absolutes Bündnis mit dem Leben. Letzteres vermag von seinem Einheitswesen her nicht anders, als jedes individuelle und gemeinschaftliche Leben dort zu regenerieren, wo unsere Existenz sich dem ständigen inneren »Mehr« der Steigerung des Lebens zu verweigern scheint, indem es das Absolute seiner je »frischen Geburt« im Sinne Meister Eckharts nicht mehr zu vernehmen meint. 45 Die lebensphänomenologische Verknüpfung des Wirkens Gottes in der Einheit von Leib/Seele als Fleisch im Sinne inkarnatorischer Ipseität löst damit zugleich jene Widersprüchlichkeit zwischen gnostischer Erkenntnis und Ethik auf, die Welt einerseits als Bereich Gottes im Sinne des Schöpfers nicht gelten zu lassen und andererseits die Leiblichkeit von den Elementen der Welt her verstehen zu wollen – und somit für eine unmittelbare Heilsgegebenheit als verloren anzusehen. Die fleischliche Ur-Intelligibilität überwindet in ihrem Prinzip nicht nur allen gnostischen oder manichäischen Leib-Seele-Dualismus, sondern auch eine Ethikkonzeption, welche sich durch eine Weltverleugnung (Gnosis) oder eine Welthypostase (Modernität) verwirklichen will, anstatt überall den Logos als Leben im Sinne des Kommens »zu den Seinen« oder »in sein Eigentum« aufzunehmen (Joh 1,11). Gibt es aber radikal phänomenologisch nur ein Wirken Gottes, so ist dieses Wirken Gottes in der Welt zwar unsichtbar, wie auch die Selbstoffenbarung Gottes in seinem Sohn in der Welt unsichtbar bleibt, aber diese Immemoriabilität des absoluten wie inkarnierten Lebens haben wir zugleich als eine stets präsente Potentialität dank der originären Affektion unserer Leiblichkeit zu erproben. Dies bedeutet, dass die Welt in phänomenologischer wie johanneischer Sicht gerade nicht auf ihr äußeres Erscheinen reduziert werden kann, wie es die Wissenschaften tun, sondern dass sie sich in ihrer phänomenologischen Wirklichkeit dank der immanenten Leibvermögen originär erstellt, die zugleich als immanente Axiologie des Lebens eine unmittelbare Bejahung allen Seins beinhalten. Aus solcher Potentialität folgt ebenfalls jegliche Geschichte, sofern sie eine Geschichte unseres affektiven Bedürfens wie Begehrens und deren ständiger Iteration Vgl. dazu im einzelnen unser folgendes Kapitel I,2. Vgl. R. Kühn, Lebensethos. Inkarnatorische Konkretionen originärer Lebensreligion, Dresden 2017.

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bildet – und keine zeitliche oder dialektische Transzendenz mit unverständlichen »Sinn-Ereignissen«. Wenn aber das praktische Lebensethos schon immer jegliche Gnosis überwunden hat, insofern die Welt – leibgebunden – ihrerseits in der Unsichtbarkeit des absoluten Lebens entsteht und darin weitergeführt wird, so bleibt eine letzte Frage dieses unmittelbar lebendigen Ethos zu klären, welche identisch mit der Frage des Heils allgemein ist: Wie kann die göttliche Lebensaffektion im Leben selbst verloren gehen und darin wieder gefunden werden, wenn wir prinzipiell nicht aus der transzendentalen Geburt im Leben heraus zu fallen vermögen? Wir haben schon angedeutet, dass wir unseren reinen Ursprung »vergessen« können, indem wir der transzendentalen Illusion verfallen, das Ego sei der intentionale Quellpunkt aller Mächtigkeit, weil die gegenreduktive Transparenz zum rein passiblen Mich hin nicht mehr erprobt wird, in dem jede subjektive Kraft als lebendiges Vermögen an sich selbst gegeben wird, das heißt in der absoluten Lebensaffektion als unzurückweisbarer »Gabe« Gottes durch die Christuswirklichkeit. Die Gnosis in ihrem Versuch, solches Vergessen aufzuheben, indem sie bestimmte Erkenntnisweisen »übernatürlicher« Offenbarungen oder Retter in Anspruch nimmt, die den negativ definierten Leib- und Weltcharakter aufheben sollen, vergisst selber in solchen Versuchen ihre Eigenmächtigkeit, das Denken als Spekulation an die Stelle dessen zu setzen, was schon in ihr stets als wirkmächtiger Ursprung am Werk ist. Es ist mit anderen Worten das gesetzte Postulat einer absoluten Differenz, um diese als Fremdheit oder Andersheit überwinden zu können – und sei dies unter den heutigen Formen der hypostasierten Dekonstruktion. Wenn das »Heil« aber prinzipiell nicht über irgendeine Form von »Erkenntnis« zu gewinnen ist, dann kommen wir damit auf die Ausgangsfrage dieses Kapitels zurück: Von welcher Art ist ein originäres »Wissen« vor allen Disziplinen, wie sie in ihrer historischen Entfaltung auch immer aussehen mögen? Es ist ein unmittelbares Lebenswissen, welches ausschließlich im praktischen Vollzug realisiert, dass die transzendentale Bedingung des Menschen und seines Lebens die Absolutheit des Lebens selbst bildet, mithin ein apriorisch wirkendes »Voraus« darstellt. Sein Vergessen kann nur aufgehoben werden, wenn das zu Tuende in seiner subjektiven Praxis als selbstaffektive Gewissheit erprobt, dass keine Tradition oder Normativität es von außen generiert, sondern allein die Ursprünglichkeit jener Kraft, die es ins Leben gerufen hat und 56 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

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weiterhin ermöglicht. Wenn das Neue Testament als die christliche Offenbarung dafür die Wirklichkeit der Liebe oder Barmherzigkeit setzt, dann bedeutet dies, dass im Tun eine Kraft des Lebens am Werk ist, welche die Selbstliebe des Lebens zu sich selbst ausmacht, um in allem »die Fülle des Lebens« zu erwirken, die der johanneische Christus als die fleischliche Wahrheit Gottes selbst verkündet, indem er – der Sohn – diese ist (Joh 1,16). Wie sollte diese Fülle anderswoher kommen als aus jenem Leben, welches Gott originär ist und in dem wir unsererseits durch unsere transzendentale Geburt als seine »Söhne« schon sind? Die Weise des Wissens vor allen Disziplinen ist diese Fülle als solche, im Bescheidensten wie im Höchsten, wo es kein Vergessen mehr geben kann – und damit auch keine Sorge mehr um sich selbst als ein allein um das Ego der transzendentalen Illusion bemühtes Handeln. 46 Die ursprüngliche Weise aller Wahrheit ist gemäß Meister Eckhart »weiselos«, was heißt, »in allen Dingen gleicherweise«, um so zugleich Gott »in rechter Weise« zu empfangen, 47 da er als Leben das »Sein« von allem ist, sofern Er es wirkt und wir in dieser Einheit mit ihm wirken. Damit wird als Grundlage einer radikal phänomenologischen Rezeption der johanneischen Christuswirklichkeit eindeutig greifbar, dass alle Bedeutungs-, Begriffs- oder Traditionsfragen einer Textrezeption einer effektiven Erprobung der immanenten Empfänglichkeit unterzuordnen sind, die wir mit der johanneischen Identität von Logos/Leben grundgelegt sehen: »In Ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen« (1,4 f.). Nicht das »Licht« einer Erkenntnis, sondern vielmehr jene Erscheinensoder Offenbarungswirklichkeit, welche jedes Weltwissen naturgemäß zur »Finsternis« werden lässt, weil die Unsichtbarkeit des Lebens darin strukturell nicht erscheinen kann. Wenn daraufhin im Namen des Auferstandenen der Heilige Geist in die »ganze Wahrheit einführt« (14,26), dann ist dies genau jenes Stadium der Offenbarung als Gesamtwahrheit, welche Johannes darbietet, ohne die kultische und sakramentale Seite zu vernachlässigen. Bei allen gegebenen Bezügen hierbei zu den Festen im Tempel von Jerusalem will er jedoch eine erneuerte Religion verkünden, nämlich in »Geist und Wahrheit« (4,24), wie wir dies phänomeno46 Vgl. auch F. Seyler, Eine Ethik der Affektivität: Die Lebensphänomenologie Michel Henrys, Freiburg / München 2010, 211 ff. 47 Deutsche Predigten und Traktate, 176 f. (Predigt 7).

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logisch fruchtbar machen konnten. Auch wenn das Gespräch mit Nikodemus gerade die Immanenz der Offenbarung als präsentische Erleuchtung und Auferstehung in die Mitte stellt, so sind dennoch dabei Elemente einer Taufkatechese mitgegeben (3,1–21; 5,1–39), so wie auch die Eucharistielehre im Kapitel 6 konzentriert ist. In diesem Sinne lässt sich abschließend festhalten, dass Jesu gesamtes Leben durchgehend in Bezug auf die christlichen Mysterien gestaltet ist, ohne ursprüngliches altkirchliches Kerygma auszuscheiden, um insgesamt einen vertieften Endpunkt desselben auszubilden. Die Neigung einer historisch-kritischen Methode als Erbe eines geschichtlichen Positivismus des 19. Jahrhunderts in der Exegese führt naturgemäß dazu, einen Text vornehmlich als ein historisches Produkt von Entwicklungslinien mit gemeindespezifischen Anreicherungen zu verstehen denn als einen wirklichen Neubeginn oder Umsturz. Letzteres würde bedeuten, dass Johannes zwar auch überliefertes Predigtgut und zeitgenössische Denkströmungen widerspiegelt, aber nach unseren vorherigen Analysen vor allem eine eigenständige Durchdringung der Christuswirklichkeit. Der angebliche Dualismus gnostischer Einfärbung ist daher eher eine Proto-Phänomenologie, welche erkennen lässt, dass die »Selbstoffenbarung Gottes« mit den tradierten Religions- und Weltkategorien des Erscheinens als Gesetz bzw. geistigem Wissen gemäß Judentum und Hellenismus nicht zu greifen ist, sondern gerade ein ur-anfängliches Denken erfordert – nämlich das absolute Leben als nicht mit intentionalen Phänomenalisierungsweisen vergleichbar, wie wir es dargestellt haben. Denn beispielsweise nur den Unterschied zu den Synoptikern festzuhalten und eigenes historisches Quellengut anzusetzen, würde der Einmaligkeit der »johanneischen Theologie« nicht gerecht. Diese bietet mehr, als nur einen Ergänzungswillen zur synoptischen Tradition anzunehmen, da diese für Johannes, der dieselbe gekannt haben muss, erhebliche Lücken enthält. Diese erweiterte literarische Abhängigkeit würde nämlich nicht die offensichtliche Autonomie des vierten Evangeliums als einer originären Quelle der frühen Kirche und Tradition erklären. Dass Lukas besonders in seinem Passions- und Auferstehungsbericht johanneisches Gut vor dessen endgültiger Redaktion gekannt hat, und letztere dann wiederum ihrerseits lukanisch inspiriert ist, beschränkt sich ebenso auf einen rein literargeschichtlichen Horizont wie die an sich richtige Feststellung, dass Johannes geschichtliche und topographische Details des Lebens Jesu präzisiert 58 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

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(Zeit der Mission Jesu, Chronologie der Passion, Teich Bethesda mit fünf Säulenhallen: 5,2), so wie er mit der zeitgenössisch sich herausbildenden rabbinischen Kasuistik bestens vertraut war. Johannes verkennt also nicht die Historie, aber so wie die feinen menschlichen Züge Jesu durch die Offenbarungsherrlichkeit des Logos als ErstLebendigem weiter geführt wurden, so vollzieht sich auch die Geschichte selbst bei ihm als unmittelbare Ewigkeit. Insofern ist das Eigentliche in der Welt unsichtbar und erfordert ein Verstehen der »Zeichen« und des »Zeugnisses« Christi von innen her, mit anderen Worten von einem immanent gegebenen »ewigen Leben« aus, welches eine eigene wahre Erkenntnisweise impliziert, die Johannes durch die gegenseitige Durchdringung von Symbolischem und Geschichtlichen (Lamm Gottes, Brot der Welt, guter Hirte, wahrer Weinstock etc.) zugleich als eine besondere Phänomenalisierungsoder Erscheinensweise Christi selbst reflektiert. So ist der johanneische Christus vor allem das Fleisch gewordene Wort Gottes, und diese Inkarnationstheologie hat die Wirklichkeit der göttlichen Lebensmitteilung zum Korrelat, so dass dieser Christus älter als die Propheten, als Abraham und selbst die Schöpfung ist (17,5), was im Prolog besonders exponiert zum Ausdruck kommt, aber für das gesamte Johannes-Evangelium gilt. Weil mithin das gesamte Werk dieses Christus das Heil als »Leben Gottes« beinhaltet, stehen Begriffe wie »Herrlichkeit« und »Manifestation« im Sinne radikal phänomenologischen Erscheinens im Zentrum dieses Textes und korrelieren letztlich mit der Herrlichkeit des Vaters (doxa) selbst – bzw. mit einer »inneren Gegenseitigkeit« zwischen Vater/Sohn und Sohn/Gläubigen. Gewiss kennt Johannes auch eine eschatologische Herrlichkeit Christi wie bei den Synoptikern als »Reich Gottes«, aber die Tendenz johanneischer Theologie, diese Eschatologie prinzipiell zu vergegenwärtigen und zu verinnerlichen, ist unübersehbar, so dass Inkarnation, Passion und Gericht letztlich zusammenfallen, das heißt im »Herzen« Wirklichkeit sind. Was sichtbar in Israel durch Jesu Geschick geschah, betrifft »Welt« oder »Finsternis« schlechthin (1,9 f.; 8,12), so dass sich in jedem Menschen das »Urteil über die Welt« vollzieht (12,31 f.), mit anderen Worten als die Herrlichkeit des Fleisch Gewordenen im Sinne originärer Erscheinenswirklichkeit vor aller Welt. Blicken wir daher auf das Gesamt der johanneischen Schriften, welche zusätzlich die drei Johannesbriefe und zum Teil die »Offenbarung des Johannes« mit einschließen, dann kann man sich zweifel59 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

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los jenem weit reichenden Urteil anschließen, dass diesem Evangelium »alles Verengende und Partikularistische fremd ist« und der Blick direkt »auf den in Jesus sich mitteilenden Gott gerichtet ist«, wodurch sich ergibt, dass »das Gericht schon ergangen ist, das Leben schon in den Neugezeugten lebendig ist und sie eine in Liebe gefügte Gemeinschaft von Brüdern sind«. 48 Abgesehen von einer recht scharfen Kritik an den Pharisäern und dem jüdischen Volk hinsichtlich der Verurteilung Jesu kennt das Johannes-Evangelium in der Tat kaum jene aggressive Polemik, wie sie in der paulinischen Theologie teilweise zum Ausdruck kommt, sondern es herrscht gleichsam eine stille Verwunderung darüber vor, dass Jesus als Logos, Sohn Gottes, Messias oder Christus von den Menschen überhaupt abgelehnt werden konnte. Diese Besonderheit der johanneischen Theologie schließt nicht aus, dass trotz ihres unterschiedlichen Sprachgebrauchs mit semitischem Hintergrund die inhaltlichen Kernaussagen mit den Synoptikern und Paulus übereinstimmen, wobei eine Reduktion sowohl auf einen begrenzten Wortschatz wie auf ein vertieftes Verständnis der Heilsbotschaft als Selbstoffenbarung Gottes in und durch Jesus Christus festzuhalten ist. Als Erst-Lebendiger ist letzterer zugleich innergöttliche »Person« und »fleischgewordener Gott«, wobei die dogmatischen Bestimmungen einer solchen »Hypostatischen Union« in ihren relationalen wie wesenhaften Bezügen erst kirchlich durch das Konzil von Chalkedon 451 n. Chr. endgültig festgelegt wurden. Jesus Christus ist eine Hypostase (Person) in zwei Naturen, die in dieser einen Person unvermischt, unverwandelt, ungetrennt und ungeschieden gegeben sind, was wir durch die phänomenologische Radikalität seiner ursprünglichen Fleischwerdung unterstrichen haben. Die altkirchliche Überlieferung führt das vierte Evangelium auf den Apostel Johannes, Sohn des Fischers Zebedäus und Bruder des Jakobus zurück (Mk 1,19 f.; 3,17), wobei auch eine besondere Nähe zu Petrus bezeugt wird (13,23 f.; 18,15 f. etc.). Gemeinhin geht die Exegese heute von einem längeren Entstehungsprozess dieses Evangelientextes aus, der am Ende des 1. Jahrhunderts seine jetzige Textgestalt gefunden haben soll und als Träger und Gewährsmann dieser Überlieferung eben jenen Jünger nennt, »den Jesus liebte« (vgl. Joh 13,23.26; 20,2; 21,7,20.24), und der auch um 180 n. Chr. von Irenäus von Lyon bezeugt wird. Dabei ist auffallend, dass Johannes wohl als K. Rahner u. H. Vorgrimmler, Kleines theologisches Wörterbuch, Freiburg – Basel – Wien 1975, 217 f.

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einer der ersten Jünger berufen wurde (1,25 f.), aber wie sein Bruder Jakobus nicht eigens erwähnt wird, so dass man in diesem Schweigen eine stille Selbstbezeugung vermuten darf. Die Auffassung, dass das Johannes-Evangelium – vor allem in den »Ich-Reden« Jesu – schriftlich früh festgehaltene ipsissima verba desselben verwendet hat und daher vor 100 n. Chr. entstanden sein kann, stellt bisher sicher eine vereinzelte Position dar, welche sich nach Claude Trèsmontant 49 auf die besonderen Beziehungen eines äußerst gebildeten Johannes zu theologischen Kreisen um den Hohenpriester in Jerusalem berufen kann. Dann wäre die johanneische Christuswirklichkeit nicht nur eine theologische Konstruktion, sondern Selbstaussage der ewig fleischlichen Präsenz des Logos als jenem Erst-Lebendigen, den eine originäre Phänomenologie unmittelbarer als historisch abhängige Lesarten herauszuarbeiten vermag, um solche Christusgegenwart als Gegebenheit in unserer leiblichen Lebensaffektion selbst erproben zu lassen.

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Vgl. Le Christ hébreu, Paris 1992; dazu auch unser folgendes Kapitel I,3.

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2. Der Logos der Gotteserkenntnis bei Meister Eckhart

Das lebendige Erkennen Gottes, worin die Bedeutung der Einheit mit ihm gegründet ist, entspricht bei Meister Eckhart der Selbstoffenbarung des Absoluten und bestimmt – als phänomenologisch damit identisch – das Wesen selbst der Seele. Was in die Seele eindringt, ist nichts anderes als die Ursprungsoffenbarung des Absoluten oder Gott selbst in seiner gottheitlichen Entblößung, weshalb der Mensch – in direktem Anschluss an Dionysios Areopagita – ein »Gottwissender« oder »Gott-Erleidender« genannt werden kann: »Das (nur) ist Armut im Geiste, wenn der Mensch so ledig Gottes und aller Welt steht, dass Gott, dafern er in der Seele wirken wolle, jeweils selbst die Stätte sei, darin er wirken will, – und dies täte er (gewiss) gern. Denn, fände Gott den Menschen so arm, so wirkt Gott sein eigenes Werk und der Mensch erleidet Gott so in sich, und Gott ist seine eigene Stätte seiner Werke; der Mensch (aber) ist ein reiner Gott-Erleidender in seinen (Gottes) Werken angesichts der Tatsache, dass Gott einer ist, der in sich selbst wirkt. Allhier, in dieser Armut erlangt der Mensch das ewige Sein (wieder), das er gewesen ist und das er jetzt ist und das er ewiglich bleiben wird.« 50 Diese Wesensoffenbarung vollzieht sich unabhängig vom Objektivierungsprozess der Schöpfung oder des Denkens und deren Phänomenalität, so dass das Sein primär nicht im Bild der Andersheit oder Vermittlung gesehen wird, sondern als Immanenz oder Einheit, wie sich mit dem »Kommentar zum Buch der Weisheit« 51 sagen lässt: »Da das Sein im eigentlichen Sinne die Wirkung Gottes ist, so gießt er in das, dessen Ursache es ist, das Sein ein und teilt es ihm mit. […] Des Weiteren ist anzumerken: dass das Werden der Dinge zwar von den Zweitursachen stammt, das Sein aller Dinge aber, sowohl der natürlichen als auch der künstlichen, Predigt 52, in: Werke I (Hg. N. Largier), Frankfurt/M. 1995, 559 f. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von K. Albert, Sankt Augustin 1988, n. 16 u. 19 f., S. 16 u. 17,

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Gotteserkenntnis als Geburt in Gott

unmittelbar von Gott allein ist.« Dies wird an anderer Stelle im selben »Weisheitskommentar« gleichfalls als Zeugen und Gebären gefasst: »Ziel der Erzeugung ist nämlich das Sein und die Form des Erzeugenden oder des Zeugenden und Gebärenden,« 52 wodurch die generatio als Leben eben einen rein statischen Seinsbegriff letztlich ersetzt.

1) Gotteserkenntnis als Geburt in Gott Aber weil die Form der Bildhaftigkeit sich als solche ebenfalls manifestiert, gibt es neben der Ursprungsoffenbarung eine eigene Phänomenalität der Bilder, das heißt der Phänomene im allgemein mundanen Sinne. Die Wesenseidetik als Erscheinen des ontisch Manifesten teilt sich folglich in eine Erkenntnis des äußeren Schöpfungsseins und in eine Erkenntnis auf dem Boden der bleibenden Einheitsstruktur, wo das Erkannte das Ergriffene sein muss, und zwar als das ungeteilte Identischsein mit der Gottheit, was der Bedingung des passiblen Ergriffenwerdens in solcher Einheit entspricht. Von hierher gesehen, ist auch die Unterscheidung des »inneren« und »äußeren Menschen«, wie sie seit dem Apostel Paulus gegeben ist, keine nur existentielle, sondern sie entspricht der radikal phänomenologischen Heterogenität oder Duplizität von immanenter Einheitsoffenbarung und phänomenaler Außenheitserkenntnis, das heißt den beiden apriorischen Grundweisen der Manifestation überhaupt: »Die Seele in sich selbst, da, wo sie oberhalb des Körpers ist, ist so lauter und zart, dass sie nichts aufnimmt als die bloß lautere Gottheit. Und selbst Gott kann nicht da hinein, ihm werde denn alles das abgenommen, was ihm zugelegt ist. […] Eins legt nicht zu, dort, wo er (Gott) in sich selbst ist, ehe er ausfließt in den Sohn und in den Heiligen Geist. […] Sage ich, Gott ist gut, so fügt das (Gott) etwas zu. Eins (dagegen) ist ein Verneinen des Verneinens und ein Verleugnen des Verleugnens. Was meint ›Eins‹ ? Eins meint das, dem nichts zugelegt ist. Die Seele nimmt die Gottheit, wie sie in sich geläutert ist. Wo (ihr) nichts zugelegt wird, wo nichts (hinzu-)gedacht ist.« 53 In diesen letzten Sätzen lässt sich eine Bestätigung überhaupt für das gesamte methodische Bemühen der radikalen Lebensphänomenologie erblicken, sofern 52 53

N. 100, S. 58. Predigt 21: Werke I, 247.

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Der Logos der Gotteserkenntnis bei Meister Eckhart

auch sie Gott als originäres Leben nicht weiter den welthaften Erscheinungsbedingungen als Distanz unterwerfen will, wie zuletzt am johanneischen Christus aufgezeigt wurde. Die Wesensoffenbarung in der Einheit Gottes steht mithin der Horizontmanifestation als Kreatur oder Bild nicht einfach gegenüber, sondern begründet diese, weshalb auch eine radikalisierte Phänomenologie der Welt keine Entwertung der letzteren darstellt. Alles Gegebene hat in der Tat gleiches Recht und gleiche Dignität als Erscheinung im Erscheinen, weil das Horizontsehen jeder Schau im phänomenologischen Ursprungsgehalt des Wesens wurzelt. Da sich hier der effektive Ursprung allen Sehens befindet, manifestiert sich alles darin und gehört zur Einheit – mithin in jene Einheit der Immanenz, welche die Transzendenz fundiert, wie die wesentlichen Grundanalysen von Michel Henry 54 hierzu lauten. Dieses ontologische Medium der Einheit aller Phänomene fließt nicht aus einer metaphysischen Behauptung als formalem Ermöglichungsgrund und impliziert daher auch keine gedachte Hinterwelt eines unzugänglichen »An sich« wie etwa bei Kant; vielmehr breitet sich dieses Medium – der Manifestation entsprechend – zusammen mit letzterer aus. Wo eine Manifestation als Erscheinung effektiv wird, ist folglich die Einheit stets mitgegeben, und zwar als ursprünglich phänomenologischer Gehalt. Die sehende Seele besitzt dementsprechend eine Mächtigkeit, worin nach Eckhart alles eins wird, denn sie eint das Getrennte und Verstreute: »Die Seele hat in dieser Kraft (das heißt in der ›möglichen‹ Vernunft) das Vermögen, geistig zu allen Dingen zu werden. In der wirkenden Kraft gleicht sie dem Vater und wirkt alle Dinge zu einem neuen Sein.« 55 Dem korrespondiert das Wesen des christologischen Logos, denn als »Wort« oder »Sohn« drückt sich darin das phänomenologische Manifestwerden allen Seins aus. Als Werk des Absoluten im Logos bleibt die Einheitsstruktur der mit sich selbst identischen Gottesoffenbarung erhalten, denn der Logos ist dem »Vater« nicht nur gleich, sondern wesenseins. Die Gleichheit gehört in der Tat noch der archetypischen Referenz der Transzendenz an, denn Gleiches setzt Unterschiedenheit voraus. Was hingegen im Sagen des Wesens vom Wort (Verbum) rezeptiv gehört wird, ist das ungeteilte Wesen Vgl. L’essence de la manifestation, Paris 1963 (dt. Das Wesen des In-ErscheinungTretens, Freiburg / München 2019), § 25 ff. 55 Predigt 37: Werke I, 403. 54

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Gotteserkenntnis als Geburt in Gott

selbst, welches das gottheiliche Sagen ausspricht – oder mit anderen Worten das Werk der Manifestation vollzieht, worin sich das Wesen wiederum selbst manifestiert. Unabhängig von den Erscheinungen außerhalb von mir oder in mir, welche sich stets in der Vorstellungswelt ereignen, befindet sich folglich in der Einheit des Ursprungswesens jener Logos, welcher der Grund aller lebendigen Vernunft ist: »Alles, was man hier äußerlich in Mannigfaltigkeit hat, das ist dort [in Gott als Vater] innerlich und als Eins. […] Alle Lust des Vaters und sein Kosen und sein Anlachen gilt allein dem Sohn. Außerhalb des Sohnes weiß der Vater nichts. Er hat so große Lust im Sohne, dass er sonst nichts bedarf, als seinen Sohn zu gebären, denn der ist ein vollkommenes Gleichnis und ein vollkommenes Bild des Vaters.« 56 Diese Ausdehnung des Logos auf die Gesamtheit seiner grundlegenden ontologischen Dimensionen sowie seine Entfaltung im umfassenden Konzept der Phänomenalität beinhaltet daher eine prinzipielle Erkenntniskritik, die den intentional erkennenden Zugang zur inneren Struktur des Seins abwehrt, wie dies durchgehend auch von der Tradition der negativen Theologie bezeugt wurde. Phänomenologisch auf der Ursprungseinheit basierend und analytisch dem Seinsbegriff als Leben in all seinen entscheidenden Bestimmungen verpflichtet, muss nun insbesondere die eckhartsche ontologische Seinserfahrung die äußere oder horizonthafte Erkenntnis wegen deren heterogener Phänomenalitätsgegebenheit aus der Immanenzerfahrung ausschließen. Denn die Manifestation eines ungeteilten Wesens bestimmt nicht nur die Nicht-Manifestation seines Gegenwesens, sondern jedes horizonthafte Erscheinen bedeutet bezüglich der reinen Wirklichkeitsstruktur auch immer ein letztlich zeitliches Verschwinden. Die Erkenntnis kann keinerlei Medium entwickeln, in dem das »originäre Wie« ihrer phänomenalisierenden Leistung einmal tatsächlich greifbar würde, da ein solches Medium nicht selbst in sich sichtbar werden kann, ohne das zum Verblassen zu bringen, was in seinem rein phänomenologischen Gehalt unzurückführbar bleibt. Was die Erkenntnis hervorbringt, nämlich Objektives sowie das intentionale Idealmedium der transzendenten Seinsbestimmungen, bildet niemals – auch nicht als eine irgendwie postulierte »einfache Erscheinung« – eine Manifestation des Absoluten. Die Referenz zu den eidetischen Strukturen der reinen Phänomenalität liegt auf der Hand, denn alles, was uns umgibt, ist eine erste 56

Predigt 51: Ebd., 541 f.

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Der Logos der Gotteserkenntnis bei Meister Eckhart

Transzendenzschicht, deren existentielle Bestimmtheiten nur den Charakter von Vermittlungen besitzen können. In dieser Außenvermittlung jedoch, wo sich das naive wie aber auch das philosophische und wissenschaftliche Wissen seiner Phänomenalitätstypik nach bewegt, ist Gott nicht einbegriffen. Der Misserfolg der Erkenntnis betreffs des Absoluten gründet folglich des Näheren auf der phänomenologisch medialen Distanz als solcher. Diese hat sich als Wahrnehmung, sobald diese der Gotteinheit ansichtig werden sollte, bereits in eine eo ipso vorhandene Vielheit verloren: »Ja, sogar, wenn ich das Licht, das wirklich Gott ist, nehme, insofern es meine Seele berührt, so ist es dem unrecht. Ich muss es in dem (da) nehmen, wo es ausbricht. […] Und selbst dann, wenn ich es da nehme, wo es ausbricht, muss ich auch dieses Ausbrechens noch entledigt werden: ich muss es nehmen, so wie es in sich selbst schwebend ist. Ja, selbst dann noch, sage ich, ist es das Richtige nicht: ich muss es nehmen, wo es weder berührend noch ausbrechend noch in sich selbst schwebend ist, denn das ist alles noch (Seins-)Weise. Gott aber muss man nehmen als Weise ohne Weise und als Sein ohne Sein, denn er hat keine Weise.« 57 Die von hier ausgehende mystisch philosophische Kritik am Gottesbegriff gründet sich dementsprechend auf die Nichtkorrespondenz vom Ursprungswesen des Logos und der Phänomenalität der intentional vermittelnden Erkenntnis sowie auf das Nichtverhältnis der Gottheit zu irgendeiner erfassten äußeren Offenbarung, welche als inhaltliche Erscheinung das eigene Wesen Gottes niemals wiedergeben kann. Deshalb muss nach Eckhart die Seele selbst Gott »verlieren«, da alles Verstehen Gottes sie von ihm entfernt. Und die Modi, wonach die intentional korrelative Erkenntnis sich phänomenalisiert, lassen nicht nur das Ursprungswesen der Gottheit entgleiten, sondern ebenfalls das mit ihr identische Wesen der Seele. Die religiös ethischen Folgen dieser Position bei Meister Eckhart, wie zum Beispiel für das konkrete Glaubensleben, implizieren deshalb natürlicherweise einen Abweis des tranzendenten Gottesbildes. Dass hier leicht Wurzeln der kommenden Atheismuskritik der Aufklärung und Moderne auszumachen sind, ergibt sich ebenfalls aus der schon erwähnten Heterogenität der beiden phänomenologischen Grunddimensionen von Immanenz und Transzendenz und macht verständPredigt 71: Werke I, 77 f.; vgl. auch den Kommentar zur »Weiselosigkeit« bei N. Largier ebd., 746 ff. u. 836 f.

57

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lich, warum Elemente der negativen Theologie bis hin zu Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Franz Rosenzweig, Martin Heidegger, Simone Weil und Jacques Derrida anzutreffen sind. 58 Aber positiv ist es wichtiger, in unserem Zusammenhang hier zu vermerken, dass infolge dieser eckhartschen Eidetik das Wesen nicht außerhalb unserer selbst sich aufhält, sondern nur in unserem Leben als solchem. Das Wesen ist phänomenologisch das Wesen jenes Lebens, welches wir selber sind und wie es vom Johannes-Evangelium bezeugt wurde. Oder wie Meister Eckharts bekannte Predigt 5A sagt: »Was ist mein Leben? Was von innen her aus sich selbst bewegt wird. Das (aber) lebt nicht, was von außen bewegt wird. Leben wir denn also mit ihm, so müssen wir auch von innen her in ihm mitwirken, so dass wir nicht von außen her wirken; wir sollen vielmehr daraus bewegt werden, woraus wir leben, das heißt: durch ihn. Wir können und müssen (aber nun) aus unserem Eigenen von innen her wirken. Sollen wir also denn in ihm oder durch ihn leben, so muss er unser Eigen sein und müssen wir aus unserem Eigenen wirken; so wie Gott alle Dinge aus seinem Eigenen und durch sich selbst wirkt, so müssen (auch) wir aus dem Eigenen wirken, das er in uns ist.« 59 Die unmittelbar religiösen wie ethischen Implikationen eines solchen Lebensbegriffes berichtigen eindeutig etwa die traditionelle spirituelle Vorschrift, der Mensch habe konstant an Gott zu denken oder zu ihm zu beten. Da die Gottheit nämlich keine transzendente Wirklichkeit im dargestellten absolut phänomenologischen Sinne ist, kann sie vom Denken auch gar nicht erreicht werden, weshalb kein Gott im oder jenseits des Denkens zu erwarten ist. Denn Gottes Indifferenz als Gottheit gegenüber dem Erkenntnisvorgang bedeutet zugleich seine eigene Unverbrüchlichkeit als stets lebendiger An-wesenheit, auch in der Vergessenheit, welche dem Menschen sogar die Freiheit lässt, sich von ihm in ihren Vorhaben zu entfernen, da Gottes Be-Ständigkeit ein »Warten« zu jeder Zeit und an jedem Ort einschließt: »Du brauchst ihn weder hier noch dort zu suchen, er ist nicht weiter als vor der Tür des Herzens; dort steht er und harrt und wartet, wen er bereit finde, dass er ihm auftue und ihn einlasse. Du brauchst nicht von weither zu rufen; er kann es kaum erwarten, dass du (ihm) auftust. Ihn drängt es tausendmal heftiger nach dir als dich Vgl. R. Kühn, Lebensmystik. Ursprüngliche Erfahrungseinheit von Religion und Ethik im Spiegel »philosophischer Mystik«, Dresden 2018, 41 ff. u. 233 ff. 59 Werke I, 65. 58

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Der Logos der Gotteserkenntnis bei Meister Eckhart

nach ihm: das Auftun und das Eingehen, das ist nichts als ein Zeitpunkt.« 60 Bei aller Betonung der immanenten Wesenhaftigkeit der unsichtbaren Gottheit gibt es also für Eckhart keinen »fernen Gott«, und diese Nähe erübrigt im Grunde jede Vergewisserung durch repräsentative oder symbolische Glaubensakte. Kein dunkler Gott zu sein, sondern vielmehr »Vernunft« und »Offenbarung«, und zwar ohne sich ent-äußern zu müssen, bedeutet radikal phänomenologisch die Bewährung eines Seinsbegriffs als Leben, wo Manifestation und Wesen nicht mehr auseinander fallen – und damit bereits die Kritik postmodernen Dekonstruktivismus durch ausschließliche Differenz oder Andersheit hinfällig wird wird. Diese Lebenseinheit bindet die Seele oder das Gemüt (mens) in die selbe Wirklichkeit ein, denn sie verwirklicht sich in der Identität ihrer Phänomenalität mit dem absolut immanenten Sein, dessen »Gutsein« als Selbstgebung dann eine von keinem Bild mehr einzufangende Bestimmung der ursprünglichen Manifestation des Ursprungslebens ist. Will sich die Seele hingegen in sich selbst erkennen, und zwar im Sinne der äußeren Weltphänomenalität, so ergreift sie nur ein transzendent reflexives Selbst, das mit der Wirklichkeit des absolut lebendigen Seins nichts gemein hat. Infolgedessen kann auch die wahre Seligkeit nicht ihren Grund in einer solchen Außenerkenntnis des Inneren finden, welches nicht der ursprünglichen Immanenz des Wesens entspricht: »Alles das, was in der Gottheit ist, das ist Eins, und davon kann man nicht reden, Gott wirkt, die Gottheit wirkt nicht, sie hat auch nichts zu wirken, in ihr ist kein Werk.« 61 Dass das Erbe einer solch negativen Theologie teilweise in die transzendentale Frage der Philosophie eingegangen ist, gilt natürlich besonders auch von der Subjektivitätsproblematik, welche in der unio strukturell mitformuliert wird. Und man kann der begründeten Auffassung sein, dass diese Subjektivitätsthematik deshalb noch keine umfassende Antwort erhalten hat, weil die phänomenologische Analyse des Lebens bisher nicht stringent innerhalb der Philosophie aufgegriffen wurde – wenn etwa auch in religiöser Hinsicht Sören Kierkegaard zu zitieren wäre, der über das Pathos der Verzweiflung des Selbst zur Bindung an den lebendigen Absolutsheitsgrund hin fand und damit noch vor der

Predigt 58, in: Meister Eckhart, Deutsche Predigten und Traktate (Hg. J. Quint), München 1979, 436. 61 Predigt 26: Werke I, 272. 60

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Gotteserkenntnis als Geburt in Gott

Lebensphänomenologie unserer Passibilität nicht nur einen existentiellen, sondern auch ontologischen Sinn verlieh. Die Erkenntnisabweisung für die reine Gotteserkenntnis hat die endgültige Befreiung des Seins und dessen Wirklichkeit zum Ziel, und in diesem Sinne liegt bei Meister Eckhart eine reflektierte philosophische »Mystik« vor. Die scheinbar zunächst ethischen oder spirituellen Forderungen, auf alles zu verzichten und arm zu sein, haben dabei eine äußerste, radikal ontologische Bedeutung, wie wir schon unterstrichen. 62 Denn weder etwas von sich selbst noch von der Welt und von Gott zu wissen heißt, so in der originären Gottheit zu leben, dass keine isolierte Kenntnis mehr darüber besteht, ob jemand für sich lebt, für die Wahrheit oder für Gott. Auch fühlt und weiß er nicht mehr, ob Gott in ihm lebt; er ist leer von jeder Erkenntnis, welche sich in ihm noch zeigen könnte. Wenn also in der Seele antinomisch wie paradox »Unkenntnis« bzw. »Nichtwissen« und »Erkenntnis Gottes« zusammenfallen, dann hat die Seele jede Absicht aufgegeben, noch eine Idee von Gott besitzen zu wollen. Denn solcher Seele wird die rein lebendige Wirklichkeit des Offenbarungsseins selbst gegeben, und diese »Gabe« steht in keinem Verhältnis zu irgendeinem eigenen Entwurf einer Glückserfüllung, wie auch die »Herrlichkeit« oder »Macht der Kinder Gottes« bei Johannes zu verstehen gibt. Die Seligkeit besteht mithin allein praktisch als rein immanenter Vollzug in der Offenbarung der absoluten Wirklichkeit an die Seele, so dass der geheime Grund des Absoluten als Gottheit auch der geheime Wesensgrund der Seele ist. Die Seligkeit ist die ihr eigene Offenbarung und insoweit eine Art »Kenntnis«, welche aber nicht ver-mittelt ist – weder durch objektive Wissensinhalte noch durch Formen des Geistes oder Liebesaffekte. Das Bewusstsein von letzteren widerspricht der Gegebenheit der »Unkenntnis« in der gottheitlichen »Ruhe«, weil jeder Begriff aus der Außenwirklichkeit das zerstört, was ist, indem er dem vollen Sein etwas nimmt: »Nicht nur der Sohn des himmlischen Vaters wird in dieser Finsternis, die sein Eigen ist, geboren: auch du wirst da geboren als desselben himmlischen Vaters Kind und keines andern, und er gibt (auch) dir jene Gewalt. […] 62 Vgl. auch U. Kern, »Der Demütige ist der Vernünftige. Zur humilitas intellectualis Meister Eckharts«, in: R. Kühn u. S. Laoureux (Hg.), Meister Eckhart – Erkenntnis und Mystik des Lebens. Forschungsbeiträge der Lebensphänomenologie, Freiburg / München 2008, 322–357.

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Wenngleich es ein Unwissen heißen mag und ein Nichterkennen, so enthält es doch mehr als alles Wissen und Erkennen außerhalb seiner (außerhalb dieses Grundes); denn dieses Unwissen lockt und zieht dich fort von allen Wissensdingen und überdies von dir selbst.« 63 Versteht man hierunter die reine Praxis einer radikalen Phänomenologie vor allen Einzeldisziplinen, mithin auch vor der Scheidung von Philosophie/Theologie, wie wir schon wiederholt unterstreichen konnte, so ist damit eine originäre Erscheinensweise gegeben, deren Einheit alles Erscheinende im Voraus umfasst. 64 Wenn sich die Wesensimmanenz also in der Wissensabwesenheit bildet, dann bedeutet die radikal phänomenologische Bestimmung dieses Nichtwissens, dass sich die Wesenseffektivität nicht in der sich zeitigenden Welt manifestiert und dementsprechend auch kein anzuschauendes Gesicht aufweist. Der maßgebliche Grund für das radikal phänomenologische Nichtwissen als Parallele zur Mystik der negativen Theologie ist daher nicht irgendeinem mangelhaften Unverständnis des Denkens zuzuschreiben, sondern er liegt an der ontologischen Struktur der absoluten Wirklichkeit als Immanenz selbst, nämlich in ihrer Ohnmacht, sich nicht im Licht der Phänomenalität innerhalb eines Bewusstseinsfeldes hervorbringen zu können. Nicht das Unvermögen der Transzendenz, ihre eigene rezeptive Manifestation zu garantieren, bildet so im Letzten den Hauptdiskussionspunkt der mystischen wie radikal phänomenologisch relevanten Offenbarungsunsichtbarkeit, sondern es ist die ontologische Positivität des Wesens der Immanenz selbst, die diesen Rückzug heraufbeschwört. Mit Meister Eckhart gesehen, bewirkt das ungeteilte Wesen selbst mithin seine eigene Verbergung, weil es sich zurückhält, ohne seine Offenbarung zu verweigern, das heißt, prinzipiell nicht zum Wesen der Horizontmanifestation aus eidetischen Gründen gehören kann und so als Abwesenheit in der Sichtbarkeit dennoch die unaufhörlich ge-gebene Anwesenheit des gottheitlichen Lebens in unserem passiblen Leben als die innerste Natur des Absoluten selbst ist. Deshalb lässt sich das lebendig Absolute der Gottheit eben nur von seinem verborgenen oder vergessenen Zustand in Bezug auf das Denken aus verstehen: »Dies ist leicht einzusehen, denn dieses einige Predigt 57: in: Deutsche Predigten und Traktate, 423. Vgl. hierfür auch schon R. Kühn, Praxis der Phänomenologie. Einübungen ins Unvordenklichen, Freiburg / München 2009, hier bes.194 ff. 63 64

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Zeugung und Ungeschaffenheit

Eine ist ohne Weise und ohne Eigenheit. Und drum: Soll Gott je darein lugen, so muss es ihn alle seine göttlichen Namen kosten und seine personhafte Eigenheit. […] Vielmehr, so wie er einfaltiges Eins ist, ohne alle Weise und Eigenheit, so ist er weder Vater noch Sohn noch Heiliger Geist in diesem Sinne und ist doch ein Etwas, das weder dies noch das ist.« 65 Diese philosophisch mystische Ursprungssituation des thematisch etwaslosen Absoluten kann nicht mehr reflexiv hinterschritten werden, was für eine radikale Phänomenologie daher eben kein Transzendenzereignis mehr beinhaltet, sondern das Wesen des immanenten Lebens der Selbstaffektion als solcher. Eben jenes Leben, dessen wir nie ansichtig werden, ohne jedoch aufzuhören, unablässig durch dieses Leben transzendental geboren zu werden und in ihm zu leben. In diesem Sinne der selbstaffektiven Passibilität als Wesen des Lebens in seiner ausschließlich inneren Praxis als Liebe des Lebens zu sich und allem, was lebt, lässt sich auch Predigt 69 verstehen: »Gott liebt die Seele so stark, dass, wenn man es Gott nähme, die Seele zu lieben, man ihm sein Leben und sein Sein nähme und Gott tötete, wofern man so etwas sagen dürfte; denn eben jene gleiche Liebe, mit der Gott die Seele liebt, in derselben Liebe blüht der Heilige Geist aus, und diese gleiche Liebe ist der Heilige Geist. Da nun Gott die Seele so stark liebt, so muss die Seele etwas ebenso Großes sein.« 66 Im Folgenden wollen wir diese unmittelbare Seelengeburt in der Gottheit am Beispiel der Johannes-Lektüre Eckharts weiterführen, wobei auch zahlreiche Zitate aus anderen Predigten und Bibelkommentaren angeführt werden, um dem Leser den direkten Wortlaut dieses herausragenden mittelalterlichen Meisters mitvollziehen zu lassen.

2) Zeugung und Ungeschaffenheit Die Johannesauslegung wird als einer der wichtigsten Schriftkommentare Meister Eckharts angesehen, 67 worauf nicht nur die werkinternen Beziehungen besonders zum zweiten Genesiskommentar

Predigt 2: Werke I, 35. Ebd., 45. 67 Expositio sancti Evangelii secundum Iohannem (Lateinische Werke, Band III, herausgegeben und übersetzt von K. Christ, B. Becker, J. Koch, H. Fischer, L. Sturlese und A. Zimmermann), Stuttgart 1994 (abgekürzt LW III). 65 66

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Der Logos der Gotteserkenntnis bei Meister Eckhart

hinweisen, 68 in dem häufig einzelne Sätze aus dem Johannes-Evangelium zitiert werden, sondern auch die Datierung durch die Eckhartforschung. Sie zählt den Johanneskommentar zu den Spätwerken, des Näheren entstanden nach 1313, selbst wenn Meister Eckhart schon vorher daran gearbeitet haben dürfte. Dabei kommentiert Eckhart zumeist nur einzelne Sätze oder Schriftworte, die ihm besonders bedeutsam erscheinen, wie vor alkm jene Aussage Joh 1,1: »Im Anfang war das Wort«, welche einen überragenden Wert in seinem Denken besitzt, wie es unter anderem auch die Predigt »Quasi stella matutina« bezeugt: »Das Allereigentlichste, was man von Gott aussagen kann, das ist ›Wort‹ und ›Wahrheit‹. Gott nannte sich selbst ein ›Wort‹. Sankt Johannes sprach: ›Im Anfang war das Wort‹ (Joh 1,1), und er deutet damit (zugleich) an, dass man bei diesem Worte ein ›Beiwort‹ sein solle. [Denn das Wort in Gott] ist sowohl unvorgebracht wie ungedacht, das niemals austritt; vielmehr bleibt es ewig in dem, der es spricht. Es ist im Vater, der es spricht, immerfort im Empfangenwerden und innebleibend. Vernunft ist stets nach innen wirkend. Je feiner und geistiger etwas ist, um so kräftiger wirkt es nach innen; und je kräftiger und feiner die Vernunft ist, um so mehr wird das, was sie erkennt, mit ihr vereint und mit ihr eins.« 69 Da für Eckhart auch das Verhältnis von Wesensform/Materie letztlich eine Frage der Selbstzeugung der Gottheit in ihrem Anfang als Ursprung von Allem ist, können wir daraus entnehmen, dass diese Ursprungsverhältnisse des reinen Erscheinens in der Gottheit als Leben keiner hermeneutischen, sondern einer radikal phänomenologischen Analyse unterliegen, wie sie gerade auch das Johannes-Evangelium auszeichnet. Nichts anderes sagt folgende Passage aus seinem »Johanneskommentar«: »Jede Wesensursache und jeder Wesensursprung ist etwas Lebendiges, ist Leben; was aber im Leben ist, ist Leben. Denn Sein und Denken sind im Leben Leben oder vielmehr ist (beides) Leben und Lebendigsein, wie aus dem Buch Von den Ursachen erhellt.« 70 Durch die eckhartsche Reduktion auf den reinen Ursprung als Hervorgehen, Geburt oder Ausfluss aus der Gottheit dürfen wir Expositio libri Genesis u. Liber Parabolarum Genesis (Lateinische Werke, Band I, 1–2, herausgegeben und übersetzt von K. Weiß sowie L. Sturlese), Stuttgart 1964 u. 1982–92 (abgekürzt LW I). Für die Nähe zu Themen wie »Hervorbringung« und »Vorbild« in Bezug auf das »Hervorgebrachte«, wie sie auch den Johanneskommentar bestimmen, vgl. unter anderem n. 4, 9, 48, 65 (S. 462–465, 480 f., 516, 532). 69 Predigt 9: Werke I, 113 f.; vgl. 117. 70 LW III, n. 139; vgl. n. 534. 68

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Zeugung und Ungeschaffenheit

daher auch für ihn die Einheit aller Manifestation als Leben in Anspruch nehmen. Die erwähnte Bedeutsamkeit der Auffassung des lebendigen Wortes (verbum, logos) aus dem Johannesprolog wird des Weiteren durch die Hauptstellung deutlich, welche dieses Wort im gesamten Kommentar einnimmt. Denn während Eckhart dem 1. Kapitel bei Johannes zwei Drittel seiner ganzen Auslegung widmet, und davon zwei Drittel allein wiederum Joh 1,1–18, werden anschließend nur noch einzelne Worte aus den Versen 38, 39, 43, 48 und 51 zitiert. Auch das 6. Kapitel wird fast ganz übergangen, und selbst die Kapitel 18–19 mit der Leidensgeschichte Jesu sind nur kurz abgehandelt. Dabei ist es erneut charakteristisch, dass ihm die Pilatusfragen »Was ist Wahrheit?« am wichtigsten ist, die Einzelheiten der Passion Jesu indessen gar nicht näher behandelt werden. Wenn wir uns daher nicht vom Begriff der Expositio als eines Kommentars im fortlaufenden Sinne irreführen lassen, so handelt es sich eher um eine Anhäufung von mehrfachen Auslegungen wichtiger Stellen für Eckhart, »damit der Leser aus ihnen nach Belieben bald die eine, bald die andere nehme, je nachdem es ihm nützlich scheint«. 71 Solchen inhaltlichen wie formalen Merkmalen des Aufbaus und des Vorgehens bei der Auslegung dürfen wir daher insgesamt entnehmen, dass mit der gedanklichen Durchdringung des Prologs das reichste Denken sowie der tiefste Glaube für Eckhart in diesem Werk vorgefunden werden kann, um der jeweiligen auctoritas eines Wortes und seiner Exegese auch das volle Gewicht im Sinne einer mystisch philosophischen Rezeption abzugewinnen. Letzteres lässt sich zum Beispiel auch der Tatsache entnehmen, dass Eckhart seinerseits Augustinus zustimmend zitiert, der im 7. Buch seiner »Confessiones« schrieb, er habe »in Platons Büchern den Satz im Anfang war das Wort und einen großen Teil dieses ersten Kapitels des Johannes gelesen«. 72 Wir folgen daher diesem Kommentar in einer mehr systematischen Darstellung zur Frage der Geburt im absoluten Anfang Gottes, bzw. der Gottheit besser gesagt, um die radikal phänomenologische Auffassung des Johannes-Evangeliums hier durch eine weitere Quelle für das Verständnis der immanenten Christuswirklichkeit zu stützen. In Eckharts Augen ist unsere transzendentale Geburt in der Tat das originärste Phänomen des Lebens, welches das göttliche Wesen 71 72

Werke II, 525. Ebd., 491.

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Der Logos der Gotteserkenntnis bei Meister Eckhart

und alles offenbart, was von ihm her in seiner Einheit und Absolutheit lebt, da das göttliche Leben des Vaters nur sein kann, indem es Zeugen und Gebären ist. Die lebensphänomenologische Passibilität, deren Identität mit der eckhartschen transzendentalen Geburt wir hier verfolgen, erlaubt mithin die Herauslösung der reinen Empfänglichkeit aus dem aristotelischen Form/Ursache-Schema heraus, um sie unmittelbar als einfache Fülle im Vollzug oder »Akt« zu verstehen, ohne die Differenz von Aktivität/Passivität dann noch weiter bemühen zu müssen. Dafür stehen auch die Aussagen Eckharts gegen jede Form von Vermittlung im »Kommentar zum Buch der Weisheit«: »Alle Verbitterung, Unruhe, Kampf und Missklang oder Missfallen eines Wirkens liegt an etwas Mittlerem […]. Das Wirken Gottes aber ist den Dingen ganz unmittelbar.« 73 Eckhart wendet dann diese Erkenntnisse auf seinen uns bereits bekannten Lebensbegriff selber an: »Alles von innen kommende Wirken ist süß und Leben oder Lebensvollzug. […] Dadurch wird ja das Lebendige vom NichtLebendigen unterschieden und geschieden, dass das Lebendige sich von innen aus sich selbst bewegt. […] Daher kommt es, dass alle die Werke, und sie allein, lebendig sind, die Gott in uns wirkt und die wir in ihm, dem Innersten, seinetwegen wirken.« 74 In seiner »Auslegung des Buches Genesis« wird die längere Auseinandersetzung um den Materie-Begriff zwar weiterhin vom Gedanken des Erleidenden und Potentiellen her bestimmt, aber Eckharts platonisch inspirierter Hylemorphismus lässt keinen ontologischen Dualismus zwischen ihnen aufkommen: »Ferner sind auch Form und Materie, nämlich Himmel und Erde, nicht nur der Zeit nach zugleich, sondern wie die Materie ohne Form kein Sein hat und es zu ihrem Wesen gehört, ohne Vermittlung eines Vermögens unter der Form und geformt zu sein, so empfängt auch umgekehrt die Form gleichlautend auf Grund ihres Wesens ohne alle Vermittlung das Sein nur in der Materie und durch das Formgeben, und im Formgeben besteht das Sein. So also werden im Ursprung, das heißt im Sein, Form und Materie, Wirkendes und Erleidendes, Himmel und Erde zugleich hervorgebracht.« 75 Entscheidend ist hierbei also, dass – wie in der reinen Selbstaffektion als Erscheinensbedingung – keine Vermittlung gedacht wird, wodurch auch die Passibilität unmittelbar Ak73 74 75

N. 176, S. 89 f. Ebd., n. 184, S. 93. LW I, n. 24, S. 24; vgl. n. 55, S. 224.

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Zeugung und Ungeschaffenheit

tivität ist, und zwar in Freiheit (als Potentialität), wie Eckhart in einem starken Bild festhält: »Denn das Erleidende gehorcht dem Verändernden nach Sklavenart wie der Knecht dem Herrn, dem Erzeugenden aber nach des freien Bürgers Art wie der Sohn dem Vater.« 76 So lässt sich feststellen, dass sich beim Werden ein Mittel zwischen Form und Materie schiebt, die reine Form hingegen jeweils nur »auf das Innerste gerichtet ist«, das heißt »auf die bloße Substanz der Materie«, weshalb »Gott sich zwar in allen Dingen zu jedem einzelnen nach Art der Wirk-, Form- und Zielursache verhält. Nicht aber nach Art der Materie« mit ihren Zweitursachen und Akzidenzien (Zufallendem, Zurichtungen). 77 Wenn Eckhart zudem den sichtbaren Wahrnehmungsgegenstand und das Sehvermögen »in ihrer Verwirklichung eins« sein lässt, dann greift er damit nicht nur Aristoteles auf, 78 sondern diese Einheit ist genau das Wesen der Selbstaffektion als Immanenz des Vollzugs oder Wirkenkönnens in allen leiblichen wie geistigen Akten. Denn »der Vater, der (Erkenntnis)Gegenstand und der Sohn, der gezeugte Spross – Erkenntnisbild oder Akt, das Sehen selbst – sind im Sehen und Sehenden eins. […] Daraus folgt, dass im Erkenntnisbild selbst oder im Bild des sichtbaren oder erkennbaren Gegenstandes allgemein das Erkennbare selbst sich gefällt, und in ihm (dem Bild) gefällt ihm alles, nichts ohne es.« Insofern lässt sich sagen, dass Welt sich im Leben als Selbstaffektion »gefällt«, das heißt, zum Leben selbst gehört. 79 Denn Eckhart fährt in diesem Zusammenhang fort: »Daher wird nach dem Kommentator aus dem Erkannten und dem Erkennenden nicht ein drittes; es ist nämlich ein und dasselbe der Substanz nach schlechthin und unbedingt, nach Potenz und Akt, nach Vorher und Nachher, ebenso wie dem Träger nach dasselbe […]. Ferner ist aber zu bemerken: auf jedes Denken oder Betrachten folgt immer Liebe, und das Denken selbst oder das Betrachten haucht das Feuer der Liebe […], denn immer gefällt Kenntnis, wenn auch das, was erkannt wird, missfällt.« 80 Leben ist mithin Erkennen und Lieben in einem, was den Begriff der Selbstaffektion als solchen im radikal phänomenologischen Sinne ausmacht.

76 77 78 79 80

Johanneskommentar LW III, n. 170; ebenso n. 476. Ebd., n. 325–327. Vgl. ebd., n. 401. Ebd., n. 505. Ebd., n. 508 f.

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Der Logos der Gotteserkenntnis bei Meister Eckhart

Der Vater in seinem Sein ist somit insgesamt gesehen innere Selbstgebung, und indem er sich an sich selbst gibt, hört er nicht auf zu geben, indem er gebiert: »Er gibt sich selbst auf gebärende Weise, denn das edelste Werk in Gott ist das Gebären, dafern (überhaupt) das eine in Gott edler wäre als das andere, denn Gott hat seine ganze Lust in dem Gebären. Alles, was mir angeboren ist, das kann mir niemand nehmen, es sei denn, dass er mich mir selbst nähme. (Hingegen) alles, was mir zufallen kann, das kann ich (auch) verlieren; darum gebiert sich Gott ganz in mich, auf dass ich ihn niemals verliere; denn alles, was mir angeboren ist, das könnte ich nicht verlieren.« 81 Im »Johanneskommentar« unterscheidet Eckhart auch »leibliche und fleischliche Zeugung oder Geburt« von der »geistigen Geburt«. Dem entspricht »die Verschiedenheit von fleischlicher und weltlicher Lust oder Tröstung einerseits, geistlicher und göttlicher andererseits«, 82 wobei der Durst des Begehrens im ersten Fall nicht gestillt werden kann, da er nie das Ganze erreicht – Gott als das Ganze hingegen sich selbst in das Streben hinein ergießt: »Es gibt aber auch eine Bewegung des Strebens, die sich nicht auf das Erstrebenswerte richtet, sondern von ihm herkommt, in dem die Seligkeit und völlige Sättigung besteht, und dadurch bewegt der Gegenstand ununterbrochen das Streben, er zeugt sich selbst und ergießt sich in es hinein, immer zeugend, immer gezeugt, nach dem Wort: ›er küsse mich mit dem Kuss seines Mundes‹ (Hohelied 1,1).« 83 Diese Einheit von Begehren und Geburt als Streben ist der äußerste Grund dafür, warum das göttliche Wesen in seinem eigenen immanenten Wirken der sowohl verstandesmäßige wie »mystische« Ort eines ursprünglichen Geborenwerdens »ohne Warum« ist, welches zugleich die radikal phänomenologische Wahrheit eines jeden individuierten Seins im wesenhaften Leben darstellt. Das Leben des Vaters kann sich folglich nur dort an sich selbst als causa essentialis manifestieren, wo es sich selbst zeugt und gebiert: »Gott wirkt alle seine Werke darum, dass wir der eingeborene Sohn seien. Wenn Gott sieht, dass wir der eingeborene Sohn sind, so drängt es Gott so heftig zu uns, und er eilt so sehr und tut gerade so, als ob ihm sein göttliches Sein zerbrechen und in sich selbst zunichte werden wolle, auf dass er uns den ganzen Abgrund seiner Gottheit und die Fülle seines Seins 81 82 83

Predigt 59: Werke I, 627. LW III, n. 324 u. 370. Ebd., n. 375.

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und seiner Natur offenbare.« 84 Allerdings kann mit Abgrund auch die Erste Materie bezeichnet sein; 85 wobei Eckhart dann vor allem den Aspekt ihres Mangels oder Seinkönnens als Unruhe auf die Formbestimmung hin unterstreicht. So heißt es ebenfalls im »Johanneskommentar«: »Die Wesensform ist in den Abgründen, in der Mitte, im Herzen der Materie, nämlich in ihrem Wesen, gleichsam unerkannt verborgen; denn das Wesen der Materie ist ihre Möglichkeit.« 86 Aber selbst bei allem Mangel oder in der Verneinung bzw. als Möglichkeit bleibt der Sohn stets vorausgesetzt: »Wer also leugnet, dass der Sohn der Wirkgrund alles Wirkens ist, versteht sein eigenes Wort nicht. […] Wer verneint, dass alles Wirken durch den Sohn und in dem Sohn geschieht, der bejaht, dass das Wirken im Sohn geschieht. Denn er könnte seine Verneinung gar nicht aussprechen, wenn er nicht den Sohn, das Kind und Erkenntnisbild seiner Worte in sich gezeugt, das heißt vorher in sich gebildet hätte. Ferner könnte er auch von dem Zuhörer nicht verstanden werden, wenn in diesem nicht das Kind, das Erkenntnisbild, der Sohn durch den Sprecher selbst gezeugt würde.« 87 In lebensphänomenologischer Sicht entspricht dies wiederum der Transzendentalität der Lebensselbstaffektion, die stets realisiert sein muss, damit ein Erscheinen sich überhaupt gibt, und letztlich – wie bei Eckhart – im »Fleisch« als Wort-Sein des Erst-Lebendigen wurzelt. Somit gibt es keine Wirklichkeit, die nicht christologisch wäre, was nach demselben »Johanneskommentar« auch das Erleiden als Affektion oder Fleisch einschließt: »Wie dieses oder jenes Wirkende (in seinem Sohn) dies oder jenes wirkt, und wie dieses oder jenes Erleidende in demselben Sohn diese oder jene Form und Daseinsweise erhält, so ist das ganze Weltall, Himmel und Erde, in dem Sohn des ersten Wirkenden hervorgebracht worden, und das ist nicht dies oder jenes, sondern das Seiende und das Sein selbst, das heißt Gott.« 88 Insofern ist das Erleidende nicht selbst das Gute, sondern nur durch die Seins- oder Lebensmitteilung, die sich darin realisiert: »Mangel und Erleidendes oder Aufnahmefähigkeit hat als solches ganz allgemein überhaupt nichts an Gutem wie auch nicht an Seiendem, viel-

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Predigt 12: Werke I, 143 f. Vgl. Auslegung des Buches Genesis: LW I/1, n. 29–45, S. 206–218. LW III, n. 147. Ebd., n. 59. Ebd., n. 60.

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mehr ist Bloßheit oder Beraubtsein und Entbehren seine Eigentümlichkeit; das Gute aber und alles Sein, was es hat, gehört anderem, stammt von anderem.« 89 Da mithin in allem Erleiden als Empfangen eine Proto-Relation im Leben gegeben sein muss, ist durch sie auch im Erleiden ein Gutes (Wirken des »Anderen«), was für die Lebensphänomenologie die immanente Einheit von Freude und Schmerz bedeutet. Wir können uns daher niemals auf einen lebendigen Gott in irgendeiner Weise beziehen, es sei denn, dass wir in uns selbst seine lebendige Wahrheit a priori oder gegenreduktiv erproben, welche originär die Wahrheit einer Gottheit bildet, die das ur-anfängliche Zeugen als solches ist. Weil der Vater nämlich reines Zeugen (generatio) ist, zeugt er sich ständig selbst und zeugt uns auf die selbe Weise: »Unser Namen ist: dass wir geboren werden sollen, und des Vaters Name ist: gebären, wo die Gottheit ausglimmt aus der ersten Lauterkeit, die eine Fülle aller Lauterkeit ist. […] Zum ersten ist damit gemeint, dass wir Vater sein sollen; zum zweiten sollen wir ›Gnade‹ sein, denn des Vaters Namen ist: gebären; er gebiert in mich sein Ebenbild.« 90 Daraus folgt, dass alles von Gott Gezeugte in seiner absoluten Selbstzeugung gezeugt wird. Gott ist also im absoluten Anfang (in principio) »Lust« am Zeugen, und alles, was von ihm immanent bewirkt wird, phänomenalisiert sich in der ständig lebendigen Ursprünglichkeit der gleichzeitigen Zeugung seines einzigen Sohnes als Wort: »Wenn man mich fragte, was Gott im Himmel täte: er gebiert seinen Sohn und gebiert ihn völlig neu und frisch und hat so große Lust an diesem Tun, dass er sonst nichts tut, als dass er dieses Werk wirkt. […] Das Werk ist ihm so eigen, dass niemand als der Vater es zu wirken vermag. In diesem Werke wirkt Gott alle seine Werke, und der Heilige Geist hängt daran und alle Kreaturen, denn Gott wirkt dieses Werk, das seine Geburt ist, in der Seele; seine Geburt ist sein Werk, und die Geburt ist der Sohn.« 91 Hierin wirkt für Eckhart auch die XX. These aus dem »Buch der 24 Philosophen« 92 fort: »Gott ist das einzige Wesen, das von seiner Selbsterkenntnis lebt.« Der Kommentar führt dazu aus: »[Gott] lebt aus sich selbst und in sich selbst, indem er sich geistig erkennt und auf überseiende 89 90 91 92

Ebd., n. 60. Predigt 13: Werke I, 157. Predigt 31: Ebd., 349 f. Hg. K. Flasch, München 2010, 65.

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Weise (superessentialiter) ist.« Verstünde man diese und andere Thesen dieser Eckhart-Quelle nur als Ausdruck einer gänzlich sprachlosen negativen Theologie mit aristotelischem und plotinischem Hintergrund, so bliebe völlig uneinsichtig, wie wir überhaupt einen solchen Satz über den in sich lebendigen Gott sagen könnten, ohne solches Leben in uns als rein phänomenologisches unmittelbar selbst zu erproben. Der Vater hört also in seinem Einheitsgrund niemals zu wirken auf, denn er kann nur zeugen und gebären, indem er sich selbst zeugt und sich dadurch an sich selbst im – ihm innebleibenden – Logos gibt. In diesem einzigen Wirken des Vaters, das mit der wesensursächlichen Kraft seines abgründigen Lebens identisch ist, welche sich in der Selbstzeugung selbst gibt, vollzieht sich ewiglich die Zeugung seines einzigen Sohnes als göttliches Wort in der Kommunion mit dem Heiligen Geist, welcher der Geist als Liebe des Vaters wie des Sohnes ist. Der Sohn wird mithin ständig in der Selbstzeugung des Vaters gezeugt, so dass auch jede menschliche Sohn- oder Kindschaft nur in dieser Sohnschaft des Einzigen Sohnes möglich ist. Indem dieser Einzige Sohn als Wort geboren wird, kommt er nur in jener immanenten Bewegung in sich selbst, welche auch den Vater in sich selbst kommen lässt, denn nichts vermag außerhalb des Vaters und seines Sohnes gesetzt zu werden, da alles in ihm wie durch ihn in ungeteilter Einheit gegeben wird (vgl. Joh 1,3). Deshalb ist jede einzelne Kind- oder Sohnschaft in der selben incarnatio continua an sich selbst gebunden, welche in der Einheit der Vaterschaft verwirklicht wird. 93 Über die Einheit von creatio continua und incarnatio continua sagt die »Auslegung des Buches Genesis«: »Ferner ist drittens der Anfang, in dem Gott Himmel und Erde schuf, das erste einfache Jetzt der Ewigkeit. Genau dasselbe Jetzt, sage ich, in dem Gott von Ewigkeit her ist und in dem auch das Ausfließen der göttlichen Personen ewig ist, war und sein wird. […] In demselben und einen (Jetzt) nämlich, in dem Gott war und in dem er den ihm gleich ewigen, den durchaus gottgleichen Sohn zeugte, schuf er auch die Welt.« 94 Für die Annahme der »menschlichen Natur« und nicht eines einzelnen Menschen in der Inkarnation kann Eckhart deshalb folgern, dass wir »derselbe Christus« sein können, und zwar »ohne Gnade«, Predigt 24: Werke I, 282; sowie Predigt 22: Ebd., 282, zur Gnade, die kein Werk wirkt oder nicht mit Gott vereinigt. 94 LW I/1, n. 7, S. 189 f. 93

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insofern die Seele als »Funken« (oder »Etwas«) im Grunde des göttlichen Seins eins mit Gott ist, mithin dort, wo auch die drei göttlichen Personen »ein Sein sind«. 95 Ein solches christologisches Menschsein wird auch dem »verachtetsten Menschen« als sein eigentliches Menschsein zugesprochen, wodurch die aristotelische Definition des Menschen als Sprach- und Vernunftwesen dank eines solchen ImWort-Seins überhöht ist. 96 Dadurch wird ebenso verständlich, dass für Eckhart die Menschwerdung Christi in uns entscheidender ist als das historische Ereignis: »Denn das Wort, das in Christus, außer uns, Fleisch geworden ist, macht uns eben dadurch, dass es außer uns ist, nicht vollkommen; aber nachdem und dadurch, dass es in uns Wohnung genommen hat, gibt es uns Namen und Vollkommenheit […]. Denn dann wohnt der Sohn Gottes, das Fleisch gewordene Wort, in uns, wirklich in uns selbst.« 97 So ließe sich sagen, dass die Menschwerdung Gottes eine ständige incarnatio in uns als Bewegung der »Überbildung« oder »Zurichtung« in Gott ist, was auch Eckharts Verständnis des Glaubens enstspricht: »Daraus erhellt, dass der Glaubende noch nicht eigentlich Sohn ist; denn diesem kommt es zu, den Vater zu schauen und zu kennen (Mth 11,27). Und doch ist er der Sohnschaft nicht ganz bar, vielmehr verhält er sich zu ihr wie die Zurichtung und das Unvollkommene. […] Also ist das Glauben und der Glaube gleichsam eine Bewegung und ein Werden (hingeordnet) auf das Sohnsein; alles aber, was in Bewegung ist, war (vorher) in Bewegung und wird es (nachher) sein und hat (so) etwas vom Ausgangs- und Zielpunkt in sicht.« 98 In einer kurzen Formulierung zusammengefasst: »Denn so groß ist ja die Vereinigung von Gottheit und Menschheit in Christus, dass das, was der Gottheit angehört, ›dem angenommenen Menschen‹ zukommt«, 99 was den Aussagen zur Seelengeburt in den deutschen Predigten entspricht, wo Gottheit und Seele eins sind. So bleibt Gott als Gottheit in allem die absolute Einheit, welche in ihm selbst hervorquillt: »Aus ihr [der Lauterkeit] treibt Gott, der ewige Vater, die Fülle und den Abgrund seiner ganzen Gottheit hervor. Dieses (alles) gebiert er hier in seinem eingeborenen Sohn und (bewirkt), dass wir

95 96 97 98 99

Predigt 24: Werke I, 280 f. Predigt 25: Ebd., 291. Johanneskommentar LW III, n. 118. Ebd., n. 158. Ebd., n. 415.

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derselbe Sohn seien. Und sein Gebären ist (zugleich) sein Innebleiben, und sein Innebleiben ist sein Ausgebären. Er bleibt immer das Eine, das in sich selber quillt.« 100 Zum Verhältnis von Einheit/Vielheit allgemein heißt es dementsprechend in der »Auslegung des Buches Genesis«: »Gottes Natur aber ist Verstand und bei ihm ist das Sein Denken. […] Daraus folgt: wie es seiner Einfachheit nicht widerstreitet, Mehreres zu denken, so auch nicht, unmittelbar Mehreres hervorzubringen. […] Gott aber hat von Natur aus alle und aller Dinge Formen im Voraus. Also kann Gott, wenn er naturhaft wirkt, alles Verschiedene unmittelbar hervorbringen. Drittens – und diese Antwort ist besser – sage ich so: allerdings geht aus dem Einen, das in sich einförmig ist, unmittelbar immer (nur) eines hervor. Dieses eine aber ist das Weltall als Ganzes, das aus Gott hervorgeht und trotz seiner vielen Teile ein eines ist.« 101 Gleiches wird bestätigt vom »Johanneskommentar«: »Denn aus dem Einen als Solchem kann nur Eines hervorgehen. […] Das Eine nämlich als Solches ist ganz und gar Eines und hat nichts anderes in sich als das Eine; ja sogar ist und wird alles, was in ihm ist, Eines.« 102 Einheit in der Vielheit und Einheit in der Geburt haben dergestalt denselben Ursprung: »Gott gebiert sich aus sich selber in sich selber und gebiert sich wieder in sich. Je vollkommener die Geburt ist, umso mehr gebiert sie. Gott gebiert sich vollständig in seinem Sohn. […] Gott wirkt seine ganze Macht in seiner Geburt aus, und das gehört dazu, auf dass die Seele wieder zu Gott komme. […] In dieser Geburt wird sie lebendig, und Gott gebiert seinen Sohn in die Seele, auf dass sie lebendig werde.« 103 Es gibt mithin zugleich dieses InSich-Selbst-Bleiben und dieses ständige In-Sich-Hervorquellen, welches die innere Bewegung ohne räumliche und zeitliche Bewegung beschreibt – die Ur-Bewegung des Ur-Geschehens des ewigen Seinswerdens des Vaters in sich selbst. Diese dem Leben des Vaters immanente Dynamik, wird sie als solche Dynamik seiner Selbstzeugung verstanden, ist die auf solches In-Sich-Bleiben gegründete Dynamik, welche vom Hervorquellen aus sich in sich und von der Rückkehr zu sich in der vollen Einheit mit sich selbst vorausgesetzt ist. In derselben Bewegung der Selbstzeugung des Vaters wird auch unaufhörlich 100 101 102 103

Predigt 28: Werke I, 323. LW I/1, n. 11 u. 12, S. 195. LW III, n. 329. Predigt 43: Werke I, 461.

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der Sohn gezeugt, und hört der Heilige Geist nicht auf zu »blühen«. Das Hervorquellen des Sohnes als Wort aus der lebendigen Innerlichkeit des Vaters ist das Hervorquellen im Hervorquellen des Vaters in sich selber. Dieses Hervorquellen in sich setzt das ursprüngliche InSich-Bleiben des Vaters voraus, so dass ein solches Sohnes-Hervorquellen mit der Rückkehr des Sohnes zum Vater durch den Geist verbunden bleibt. Dabei ist diese Rückkehr mit der unaufhörlichen Rückkehr des Vaters zu sich selbst in eins zu sehen, sofern er »jedes Mal« erneut in sich heimkehrt, das heißt in seinen gottheitlichen Ungrund. Auch der Geist fließt vom Vater und vom Sohn her in derselben Bewegung ihres ewigen Wirkens zu sich selbst, und zwar wiederum in der vollkommenen Einheit der göttlichen Natur, um in den Vater und den Sohn zurückzufließen – um in ihnen in der Einheit des göttlichen Wesens als gegenseitiger Innerlichkeit zu leben. Allein die abgründige Einheit in der Gottheit ermöglicht folglich ebenfalls die Unterscheidung innerhalb der Dreifaltigkeit, denn nach Eckhart eint die Einheit die Vielheit, und die Unterscheidung setzt die Einheit voraus, wie wir sahen. Je mehr Einheit, desto größer die – hier personale – Unterscheidung innerhalb der Trinität. 104 Deshalb heißt es in Predigt 11: »Denn solange als mehr und mehr in dir ist, kann Gott nimmer in dir wohnen noch wirken. Diese Dinge müssen stets heraus, soll Gott hinein, es sei denn, du hättest sie in einer höheren und besseren Weise so, dass die Vielheit zur Einheit in dir geworden wäre. Je mehr dann der Vielheit in dir ist, umso mehr Einheit ist vorhanden, denn das eine ist gewandelt in das andere. […] Einheit eint Vielheit, aber Vielheit eint nicht Einheit.« 105 Dies kann nur deshalb gegeben sein, weil der Vater, der Sohn und der Heilige Geist eins sind, sowie auch Gott und Mensch eins, das heißt nicht als Zahl anzusehen sind, denn »in der Ewigkeit gibt es keine Zahl, sie ist jenseits aller Zahl«. 106 Entsprechend kann man im »Johanneskommentar« lesen: »›Alles‹ (Joh 1,3) besagt Teilung und Zahl und folglich fällt unter alles weder der Sohn noch der Heilige Geist noch etwas Göttliches, insofern es göttlich ist.« 107 Ebenso erwähnt der »Kommentar zum Buch der Weisheit« die Zahl als Abfall vom Einen: »In Gott aber gibt es weder Zahl noch Vielheit noch Verneinung, sondern nur die reine 104 105 106 107

Vgl. Predigt 10: Ebd., 129 f. Ebd., 133 f. Predigt 25: Ebd., 293. LW III, n. 52, S. 64.

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Bejahung und Fülle des Seins.« 108 Der Zahl steht mithin Gottes Einheit als alles umfassende Bejahung gegenüber, denn in Gott gibt es keinerlei Verneinung wie durch Zahl und Vielheit. Wenn Gott mithin einer genannt wird, so gehört das »eins« nicht zur Gattung der Zahl, wodurch die »Drei« der Trinität eins sind, insofern Gott eben keine Zahl aus sich ausströmen lässt. Hinsichtlich der Einheitsfrage des Bleibens des Sohnes und des Heiligen Geistes im Vater, welcher mit ihrem personalen Hervorquellen »außerhalb« von sich verbunden ist, sagt deshalb Eckhart: »Der Vater ist ein Beginn der Gottheit, denn er begreift sich selbst in sich selbst. Aus dem geht das ewige Wort innebleibend aus, und der Heilige Geist fließt von ihnen beiden innebleibend aus; und (der Vater) gebiert ihn nicht, denn er ist ein innebleibendes Ende der Gottheit und aller Kreaturen, in dem eine lautere Ruhe ist und ein Rasten all dessen, was je Sein gewann. […] (Das letzte Ende) des Seins ist die Finsternis oder die Unerkanntheit der verborgenen Gottheit. […] Je mehr man dich sucht, umso weniger findet man dich. Du sollst ihn suchen so, dass du ihn nirgends findest. Suchst du ihn nicht, so findest du ihn.« 109 Gemäß Predigt 26 ist es eher Gott daher, der uns sucht, als dass wir Ihn suchen sollten. Die Einheit Gottes, die nicht Ursächlichkeit im kreatürlichen Sinne ist, ist folglich als causa essentialis oder auch Urgrund zu verstehen, worin alles als Idee intellectualiter gegeben ist, bevor es ins Sein hervortritt. Dadurch ergibt sich nach Predigt 67 das Einssein der Seele mit dem »Grund Gottes« noch über die dreifaltige Personhaftigkeit hinaus. 110 »Sohn im Sohn« zu sein, wie schon der Apostel Paulus sagte, will also ontologisch bedeuten, dass die Sohn- oder Kindschaft des lebendigen Menschen ebenfalls nur dort hervorzuquellen vermag, wo der Vater in ur-anfänglicher Weise seine Vaterschaft manifestiert, indem er seinen Einzigen Sohn zeugt, so dass unsere Sohnschaft nur eine wahrhafte Sohnschaft ist, sofern sie sich in der Sohnschaft des Sohnes und in der Vaterschaft ein und desselben Vaters vollzieht. Die Quelle unseres reinen oder transzendentalen Menschseins kann daher ebenfalls in radikal phänomenologischer Hinsicht keine abgeleitete oder vermittelte Quelle sein, welche sich von der gottheitlichen Quelle unterscheiden würde. Wenn wir das Leben des Einzigen Sohnes selbst be108 109 110

N. 110–112, S. 64; vgl. ebd., n. 148, S. 78 f. Predigt 15: Werke I, 179 f. Ebd., 23–31.

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sitzen, dann aus dem Grund, weil wir in ihm im Vater als absolutem Ursprung jeglichen Seins sind. Denn wenn wir unsere Sohnschaft im ewigen Sohn als unser Leben rein erproben, dann erproben wir sie in jener Weise selbst, welche der Sohn von seiner eigenen ur-anfänglichen Sohnschaft her besitzt. Meister Eckhart sagt deshalb immer wieder, dass wir dazu berufen sind, der selbe Einzige Sohn zu sein und ihn vom Vater in uns gebären zu lassen. Das heißt, das Sohnesleben des Sohnes selbst in unserer lebendigen Sohnschaft zu leben, welche als die innerste Offenbarung des Wesens unserer Kindschaft zu betrachten ist: »Der Vater kann nichts als gebären, der Sohn kann nichts als geboren werden. Alles, was der Vater hat und was er ist, die Abgründigkeit göttlichen Seins und göttlicher Natur, das gebiert er alles in seinen eingeborenen Sohn. Das hört der Sohn von dem Vater, das hat er uns geoffenbart, auf das wir derselbe Sohn seien. Alles, was der Sohn hat, das hat er von seinem Vater, Sein und Natur, auf dass wir derselbe eingeborene Sohn seien.« 111 Demzufolge entsprechen sich in der Einheit Gottes auch das Hören und das Gehörte, bzw. ist das Auge, mit dem wir Gott sehen, dasselbe Auge, durch das Gott uns sieht. 112 Diese Sichtweise ist zentral für das rein immanente Offenbarungsverständnis bei Michel Henry. 113 Niemand kann mithin dem Erst-Lebendigen als Wort des Vaters seinen ursprünglichen Platz streitig machen, welcher aus ihm die absolute Weise aller phänomenologischen Selbstgebung als Sohnschaft macht. Jede Sohnes-Geburt von ihren eigenen lebendigen Wurzeln aus zu verstehen, verlangt in radikal phänomenologischer Rezeption mithin, dass wir in der Geburt jedes einzelnen Menschen die Geburt einer lebendigen Ipseität erblicken, so wie letztere im absoluten Leben des Vaters gezeugt ist, um eine unzerstörbare »Freundschaft« zwischen den Menschen zu verwirklichen. 114 Aber mehr noch als das aristotelische Moment der Freundschaft aus der »Nikomachschen Ethik« wirkt bei Eckhart die Umkehr der Knechtschaft zugunsten der Freundschaft mit Christus und dem Vater aus Joh 15,15 nach. 115 Außerdem erinnert Eckhart im »JohannesPredigt 29: Werke I, 333. Vgl. Predigt 12: Ebd., 149. 113 Vgl. Christi Worte. Eine Phänomenologie der Sprache und Offenbarung, Freiburg / München 2005, 139 ff. 114 Vgl. Predigt 12 zur Freundschaft und Gleichheit aller Menschen untereinander Werke I, 145. 115 Vgl. Predigt 10: Ebd., 121. 111 112

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kommentar« daran, dass Gott »entweder alles kund tut oder nichts. Denn wie das Verhältnis von Himmel und Erde in der Natur gegenseitige Zuneigung einschließt, so entspricht ein solcher Bezug noch wesenhafter Gott: »Es erhellt also, wie wortwörtlich der Sohn alles, was er vom Vater hört, allen kundtut, die Söhne Gottes sind. Wird nämlich einer Sohn, so hört und kennt er eben dadurch alles, was des Vaters ist: für ihn ist Werden Hören, und für ihn ist Hören Werden und Gezeugtwerden. […] Der Sohn selbst ist das Wort selbst, das hier gesprochen, dort gehört wird, das hier zeugt, dort gezeugt wird.« 116 Die Frage der Ungeschaffenheit unserer anfänglichen Geburt als absolut phänomenologischer Selbstaffektion im Leben Gottes als solchem antwortet daher auf die Frage des Ungeschaffenen in der Seele gemäß Eckhart. 117 Wenn die rein rezeptive Seele dieses »ungeschaffene Geheimnis« in sich selbst trägt, dann aus dem Grund, weil sie im Ungeborenen des abgründigen Lebens Gottes selbst geboren wurde: »Es gibt (aber) etwas, das über dem geschaffenen Sein der Seele ist […]. Es ist göttlicher Art verwandt, es ist in sich selbst eins, es hat mit nichts etwas gemein. […] Es ist eine Fremde und eine Wüste und ist mehr namenlos, als dass es einen Namen habe, und ist mehr unerkannt, als dass es erkannt wäre. […] Solange du auf dich selber noch irgendwie achtest oder auf irgendein Ding, so weißt du so wenig, was Gott ist, wie mein Mund weiß, was Farbe ist.« 118 Und in Predigt 22 lesen wir: »Die Seele nimmt die Gottheit, […] wo (ihr) nichts zugelegt ist, wo nichts (hinzu) gedacht ist. […] Ich sage deshalb eine Gottheit, weil dort noch nichts ausfließt und nichts berührt noch gedacht wird.« 119 Sowie zur Verbindung von Namenlosigkeit Gottes, Vernunft und Sohnsein heißt es in Predigt 26: »Sollen wir den Vater erkennen, so müssen wir Sohn sein.« 120 Deshalb gilt allgemein für die Ungeschaffenheit bei Eckhart: »Ich habe von einer Kraft in der Seele gesprochen, in ihrem ersten Ausbruche erfasst sie Gott nicht, sofern er gut ist, sie erfasst Gott auch nicht, sofern er die Wahrheit ist: sie LW III, n. 639–641. Vgl. auch J. Reaidy, »Die Geburt im Leben bei Meister Eckhart und Michel Henry«, in: R. Kühn u. S. Laoureux (Hg.), Meister Eckhart – Mystik und Erkenntnis des Lebens, 159–185. 118 Predigt 28: Werke I, 323; vgl. auch Predigt 15 u. 17, wo Gott wie die Seele »namenlos« genannt werden (ebd. 181 u. 199); ähnlich Predigt 20A u. 20B (ebd., 225 f. u. 239). 119 Ebd., 249. 120 Ebd., 299. 116 117

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dringt bis auf den Grund und sucht weiter und erfasst Gott in seiner Einheit und in seiner Einöde; sie erfasst Gott in seiner Wüste und in seinem eigenen Grunde. […] Wenn der Seele ein Kuss widerfährt von der Gottheit, so steht sie in ganzer Vollkommenheit und in Seligkeit; da wird sie umfangen von der Einheit. Im ersten Berühren, in dem Gott die Seele als ungeschaffen und unerschaffbar berührt hat und berührt, da ist die Seele der Berührung Gottes nach ebenso edel wie Gott selbst.« 121 Da die abgeschiedene, losgelöste oder gelassene Seele in der Selbstzeugung Gottes als »ungeschaffen« geboren wird, tritt sie in die Ewigkeit Gottes selbst ein und lebt als »ungeboren« in ihrem mit der Tiefe Gottes identischen Ab-Grund selbst. Auf diese Weise ist sie ohne äußere Seinsursache, wie Gott selbst, und daher auch »ungeschaffen« wie »ungeboren«. All dies führt zu der Aussage, dass das aristotelisch-scholastische Kausalitäts- wie Analogieprinzip auf dieser letzten lebendigen Ebene seine Geltung in ontologischer und metaphysischer Hinsicht verliert, um allein die schon genannte unmittelbare Immanenz oder Empfänglichkeit der causa essentialis zu beinhalten: »In jenem Sein Gottes nämlich, wo Gott über allem Sein und über aller Unterschiedenheit ist, dort war ich selber, da wollte ich mich selber und erkannte mich selber (willens), diesen Menschen (mich) zu schaffen. Darum bin ich Ursache meiner selbst meinem Sein nach, das ewig ist, nicht aber meinem Werden nach, das zeitlich ist. Und darum bin ich ungeboren, und nach der Weise meiner Ungeborenheit kann ich niemals sterben. Nach der Weise meiner Ungeborenheit bin ich ewig gewesen und bin ich jetzt und werde ich ewiglich bleiben. […] In meiner (ewigen) Geburt wurden alle Dinge geboren, und ich war Ursache meiner selbst und aller Dinge; und hätte ich gewollt, so wäre weder ich noch wären alle Dinge; wäre aber ich nicht, so wäre auch ›Gott‹ nicht: dass Gott ›Gott‹ ist, dafür bin ich die Ursache, wäre ich nicht, so wäre Gott nicht ›Gott‹.« 122 Letzterem entspricht dann auch die äußerste reduktive Aussage in Predigt 12: »Das Höchste und das Äußerste, was der Mensch lassen kann, das ist, dass er Gott um Gottes willen lasse. [So] ließ Sankt Paulus Gott um Gottes willen; er ließ alles, was er von Gott nehmen konnte, und ließ alles, was Gott ihm geben konnte, und alles, was er von Gott empfangen konnte. […] und da blieb ihm Gott, so wie Gott in sich selbst 121 122

Predigt 10: Ebd., 129 f. Predigt 52: Ebd., 561 f.

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seiend (istic in sîn selbes) ist, nicht in der Weise seines Empfangens oder Gewonnenwerdens, sondern in der Seinsheit (isticheit), die Gott in sich selbst ist. Er gab Gott nie etwas, noch empfing er je etwas von Gott; es ist ein Eines und eine lautere Einung. Hier ist der Mensch ein wahrer Mensch.« 123 Ähnlich Predigt 26: »Ich will ihn vielmehr bitten, dass er mich würdig mache zu empfangen, und will ihn dafür loben, dass er der Natur und des Wesens ist, dass er geben muss«, was eben einschließt: »Wenn Gott noch mehr hätte [denn seine Wahrheit als Vatersein], er könnte es dir nicht verbergen, und er müsste es dir offenbaren, und er gibt es […] in Geburtsweise.« 124 Von daher lässt sich gleichfalls lebensphänomenologisch unterstreichen, dass die Transzendentalität oder das Wesen des abgründigen Lebens als Wahrheit (Offenbarung), Geben und Gezeugtwerden (Empfangen) in eins fallen, um den Anfang oder Ursprung von Allem bzw. dem Erscheinen schlechthin zu bilden. Hinsichtlich des Verhältnisses von Zeit und lebendiger Gegenwart, welche die Ewigkeit als die ur-anfängliche Weise jeder lebendigen Affektion in uns offenbart, bemerkt Eckhart grundlegend: »Die Tage, die seit sechs oder sieben Tagen verflossen sind, und die Tage, die da waren vor sechstausend Jahren, die sind dem heutigen Tage so nahe wie der Tag, der gestern war. Warum? Weil da die Zeit in einem gegenwärtigen Nun ist.« 125 Wer also vom Leben des göttlichen Lebens selbst lebt, ist weder »vor« noch »nach« diesem Leben, denn er ist nur das, was das Leben Gottes selbst in ihm ist. Deshalb ist jeder Lebendige ebenso je neu und lebendig wie das ur-anfänglich göttliche Leben. Eingetaucht in das »Jetzt« und das ewige »Heute« des Lebens, ist der Lebendige in der Ewigkeit der Selbstaffektion des Lebens und dessen Selbstzeugung unverlierbar an sich selbst gegeben. In Gott, sagt Eckhart demzufolge in seinem »Genesiskommentar«, gebe es nichts Vergangenes noch Zukünftiges, sondern alles sei ihm gegenwärtig, denn sowohl das Vergangene wie das Zukünftige sind nur, sofern sie sich auf das Gegenwärtige zurückführen. Denn was nicht gegenwärtig ist, wäre auch nicht seiend. Und an anderer Stelle fügt er deshalb hinzu: »Alles, was [Gott] ist, das empfängt die Seele. Wonach

Ebd., 147. Ebd., 303 u. 299. 125 Predigt 10: Ebd. 125; vgl. auch Predigt 49, bzw. die an Augustinus orientierte ausführliche Zeitanalyse im Zusammenhang mit der Schöpfung im Johanneskommentar LW III, n. 199–222. 123 124

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Der Logos der Gotteserkenntnis bei Meister Eckhart

die Seele begehrt, das ist nun bereit. Was auch immer Gott gibt, das ist immerfort, im Werden begriffen gewesen; sein Werden ist in diesem Nun neu und frisch und völlig in einem ewigen Nun.« 126 Das »Jetzt« der existentiellen Zeit ist also nicht mit dem ewigen »Nun Gottes« zu verwechseln, in dem wir in jedem Augenblick dank der unmittelbaren Geburt wie die Gottheit selbst leben. Diesen Gedanken einer Geburt ohne Zeit als unser je unmittelbares Leben im Fleisch der Inkarnation Christi als »Ur-Sohn« werden wir bei Michel Henry als Grundreferenz wieder finden.

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Predigt 20A: Werke I, 229: ebenso Predigt 26: Ebd., 295.

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3. Der Ur-Sohn nach Michel Henry

Wenn die Wahrheit des Christentums das Leben Gottes selbst in dessen ganzer Fülle ist, dann kann auch die Offenbarung Gottes an die Menschen nur in seiner sich ohne jeden Rückhalt gebenden Selbstoffenbarung bestehen. Diese Antwort der Lebensphänomenologie bedeutet für die Christologie, dass der »Sohn« oder das »Wort« als der Erst-Lebendige verstanden werden muss, sofern er die Selbstoffenbarung Gottes als dessen innertrinitarischen Lebensprozess ermöglicht. Bevor wir diese radikal phänomenologische Perspektive gemäß Michel Henry weiterführen, wie er sie in seinem Werk »›Ich bin die Wahrheit‹« grundgelegt hat, sollen einige allgemeinere Hinweise auf damit zusammenhängende Voraussetzungen in methodischer Hinsicht genannt werden, wie wir sie teilweise auch schon für das Verständnis von Johannes und Meister Eckhart in Anspruch genommen haben. Indem die Schriften des Neuen Testaments erkennen lassen, dass das Christentum von Vornherein die Wirklichkeit der Offenbarung als Selbstoffenbarung Gottes mit dem Leben verknüpft, kann es dabei letztlich nicht um bloße Sätze, Symbole oder Bilder gehen, sondern um die phänomenologische Absolutheit unseres eigenen Lebens selbst. Ohne Leben existierten wir nicht, nähmen wir nichts wahr und wären zudem unfähig, auch nur die geringste Handlung zu vollziehen, die durch unsere lebendige Leiblichkeit bedingt ist. Schon seit dem Begründer der Phänomenologie, Edmund Husserl, wird das subjektive Leben als »lebendige Gegenwart« für den Ausgangspunkt allen Erscheinens angesehen. Aber Michel Henry radikalisierte diesen Ansatz, indem er aufweist, dass das absolut phänomenologische Leben wesenhaft unsichtbar ist und daher von keiner Erkenntnis oder Intuition überhaupt veranschaulicht zu werden vermag. In der Tat setzen wir für jeden Akt, den wir bewusst oder unbewusst vollziehen, wie auch in unserem Empfinden und Fühlen, das Leben als originär gewährte Bedingung immer

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Der Ur-Sohn nach Michel Henry

schon voraus. 127 Diese ebenso notwendige wie in sich gewisse Bedingung in transzendentaler Hinsicht nennt Henry in terminologischer Übereinstimmung mit der philosophischen Tradition – wie etwa bei Descartes, Kant, Maine de Biran oder Fichte – »Selbstaffektion«, ohne damit jedoch rationalistische oder idealistische Vorgaben zu übernehmen.

1) Christi Sohnsein als lebendiges Ursprungsverhältnis Ist diese Weise des uns affizierenden Lebens in einem solchen material phänomenologischen Sinne der absolute Ursprung unserer selbst, ohne dass wir jemals einen reflexiven Zugang dazu hätten, da dieser schon immer später als das Leben selbst wäre, dann liegt auf der Hand, dass Gottes Leben und unser Leben eine unmittelbare Verknüpfung beinhalten. Dieses Band (religio) zwischen Gott und uns ist Christus als jener schon genannte Erst-Lebendige, den Henry in seinem zentralen fünften Kapitel von »›Ich bin die Wahrheit‹« auch als den Ur-Sohn bezeichnet. Die göttliche Sohnschaft im Prozess der ewig lebendigen Selbstzeugung Gottes des Vaters ist das entscheidende Offenbarungsmoment als die konkrete Selbstbestimmung dieses innergöttlichen Prozesses als eines Vorgangs der Hervorbringung und Rezeptivität. Der »Vater« ergreift sich als das originäre Leben selbst, und diese Selbstergreifung ist zugleich sein »Wort« oder Logos, in dem sich dieses ur-anfängliche Leben als immer lebendiges aussagt, um sich in solcher Selbstergriffenheit an seinen Ursprung zurückzugeben, ohne dass irgendein Abstand zwischen Vater und Sohn hinsichtlich ihres göttlichen Wesens und dessen »innerlicher Gegenseitigkeit« entstünde. Denn da im rein phänomenologischen Leben keine Differenz im Sinne einer Ek-stase oder Transzendenz bzw. eines Horizontes denkbar ist, können diese letzteren Kategorien für das Welterscheinen auch niemals auf Gott übertragen werden, was Henrys lebensphänomenologischen Ansatz auch unmittelbar in Übereinstimmung mit dem Denken Meister Eckharts sein lässt, 128 wie wir es zuletzt darstellten. 127 Vgl. zur Auseinandersetzung mit der klassischen Phänomenologie M. Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg / München 2002, 43 ff. 128 Vgl. M. Henry, Radikale Religionsphänomenologie. Beiträge 1943–2001, Freiburg / München 2015, 97–144, die vier Kapitel zu seiner Eckhartauslegung, die zum

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Christi Sohnsein als lebendiges Ursprungsverhältnis

Dieser sich folglich selbst genügende innergöttliche Prozess beinhaltet des Weiteren, dass das Ausgesagte und die liebende Zurückwendung in identischer Gegenseitigkeit in allem das Leben – und nichts als das Leben selbst ist. Dadurch jedoch, dass die Lebensselbstmitteilung als Sichergreifen in Gott zugleich ihre schon genannte eigene Rezeptivität beinhaltet, in der sie sich aussagt, besitzt sie eben eine einmalige Ipseität, welche als der »Ur-Sohn« die Wirklichkeit allen individuierten Lebens überhaupt ist. Somit gibt es einen Zugang zum Leben als unserer transzendentalen Geburt in diesem nur dank der ur-christologischen Konkretion des göttlichen Lebens in seinem Wort. Oder wie es der Johannesprolog festhält: Christus als der ewige Logos, der »im Anfang beim Vater war«, ist die Wahrheit der Welt als Leben für jeden Lebendigen. Insofern unser eigener Selbstbezug im »Ich« sowie unser Fremdbezug zu »Anderen« nur als lebendige Verbindung möglich ist, beinhaltet dies zugleich, dass die genannte urchristologische Ipseität als Leben auch all diesen Relationen zugrunde liegt. Wir können mithin keinen Schritt auf den Anderen oder auf uns selbst hin tun, ohne in unserem »Fleisch« mit dem »Fleisch Christi« in Berührung zu kommen. Wir sind daher nicht nur »Söhne Gottes«, sondern genauer, wie Paulus sagt, »Söhne im Sohn«, mit anderen Worten Lebendige durch das göttliche Leben des Einzigen Sohnes, des »Erstgeborenen Gottes«. Auf diese Weise gelingt es Henry, 129 die Wahrheit des Christentums als eine bisher »beispiellose und ungenutzte Phänomenologie« zu erweisen, die grundsätzlich das Wesen des Menschen nicht mehr an die Ratio oder an das Sein bindet, sondern an das Leben, welches immer in seiner originären Hervorbringung selbst ein individuiertes Leben ist. 130 Die lebensphänomenologische Auslegung des Johanneszeugnisses hat damit nicht nur religionsphänomenologische Relevanz, sondern sie vermag dem Christentum eine Leuchtkraft für die Zukunft wiederzugeben, insofern das individuelle wie gesellschaftliche Leben durch die verschiedenen Theorien und Praktiken einer ersten Mal in L’essence de la manifestation, Paris 1963 (dt. Das Wesen des In-Erscheinung-Tretens, Freiburg / München 2019), § 39 ff., erschienen. 129 Vgl. »Ich bin die Wahrheit«. Für eine Philosophie des Christentums, Freiburg / München 1997, Kap. 6–7: »Der Mensch als ›Sohn Gottes‹« / »Der Mensch als ›Sohn im Sohn‹«. 130 Zum Vergleich mit der wesentlich in der Tradition aristotelisch geprägten prädikativen Ousiologie siehe A. Hilt, Ousia – Psyche – Nous. Aristoteles’ Philosophie der Lebendigkeit, Freiburg / München 2005, 286 ff.

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wirtschaftlich-technischen »Objektivität« in seinem Prinzip selbst bedroht ist. Die absolute Bindung des Christentums an das Wesen des Lebens schlechthin, welches Gott selber ist, könnte der Menschheit insgesamt sowie jedem Einzelnen, und zwar unabhängig von allen äußeren Faktoren wie Rasse, Geschlecht, Stand, Bildung etc., eine Würde zurückgeben, die nicht formal über Sprache oder Vernunft zu begründen wäre, sondern unmittelbar durch die lebendig fleischliche Faktizität der jeweiligen Existenz gestiftet wird. Die im Johannes-Evangelium von Henry aufgefundene göttlichmenschliche Lebenspriorität als Affinität zu seiner Lebensphänomenologie besitzt damit gleichzeitig Konsequenzen für eine christliche Ethik im Sinne einer transzendentalen Analyse des Verhältnisses des Christentums zur Welt. Aus ihr ergibt sich, dass der christliche Offenbarungsglaube keinerlei »Weltflucht« bedeuten kann, wie schon Hegel und ein doktrinärer Marxismus meinten, da gerade das Gebot der Nächstenliebe auf eine Praxis verweist, die als regeneratio des Lebens alle materiellen wie geistigen Bedürfen der Menschen originär betrifft. Mit anderen Worten ist die christliche Ethik kein Imperativ, der zum Leben von außen als eine fremde Norm hinzuträte, ohne unmittelbar die Motivation wie die Kraft zu entsprechendem Handeln selbst bereit zu stellen. Henry zeigt exemplarisch an den »Werken der Barmherzigkeit« sowie mit Hilfe der neutestamentlichen Auseinandersetzung zum »Alten Gesetz«, dass eine Ethik des Christentums – ausgehend vom Evangelisten Johannes – ganz der phänomenologischen Ontologie des Lebens selbst entspricht, welche die Wahrheit des Christentums begründet – nämlich in einer »zweiten Geburt« den Ursprung in Gott wieder zu finden, sofern dieser egohaft vergessen wurde, das heißt einer »transzendentalen Illusion« verfiel. 131 In wirkungsgeschichtlicher Hinsicht lässt sich noch vorausschicken, dass zunächst nach der antiken und mittelalterlichen Bestimmung des Menschen als »vernunftbegabtem Wesen« oder »endlichem Geschöpf« die neuzeitliche Philosophie von Descartes bis Heidegger und danach das intentionale Subjektsein oder den existenzialen Sorgecharakter des Daseins in den Mittelpunkt gestellt hat. Dabei ist aber zumeist nicht bedacht worden, dass aller ichhaften Aktzentrierung oder fundamentalhermeneutischen Seinsrelation eine 131 Vgl. M. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, Kap. 9: »Die zweite Geburt«; Inkarnation, Kap. 45 u. 48.

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originäre Passivität voraus liegt, die Henry 132 aufgrund der material selbstaffektiven Verknüpfung von Leben/Leib auch Passibilität nennt. Damit wird ausgedrückt, dass alle Lebensvermögen als »Potentialitäten« sich einer ursprünglich passiblen Empfängnis verdanken, welche als unsere originäre Geburt im Leben nur ein reines »Mich« im Akkusativ kennt, wie auch Emmanuel Levinas betonte. Auf diese Weise ist der post-strukturalistische Vorwurf überwunden, der Subjektivitätsbegriff gehöre einem überkommenen Subjektdenken auf einem metaphysischen Hintergrund von onto-theologischem Substanzdenken an. Vielmehr sind alle bisherigen differentiellen oder alterologischen Konzepte der Philosophie auf ihre Überdeterminiertheit hin zu untersuchen, sofern sie den Lebensbegriff, wie etwa bei Merleau-Ponty und Derrida, nur als »Opazität« oder »Spur« benutzen, ohne diese »Dunkelheit« oder »Unsichtbarkeit« als die immanente Erscheinensweise des Lebens in seiner affektiven Passibilität als Pathos selbst aufzuklären. Verbindet man in der Tat den Johannesprolog mit den übrigen Reden Jesu über sich selbst im gesamten Johannes-Evangelium, dann springt aus den Ich-Reden Jesu jene ungeheuerliche »Egozentrik« ins Auge, die maßloser nicht sein könnte, aber eben nur aus dem Wissen um die Einmaligkeit der Sohnschaft Christi in Gott verstanden werden kann. Denn das Ich-sein schließt christologisch gesehen gerade die originäre Empfänglichkeit nicht aus, da diese innerhalb der innerlichen Gegenseitigkeit des göttlichen Geschehens genau dem Wesen des Sohnes entspricht, das lebendig gezeugte Wort der Selbstoffenbarung Gottes zu sein. Dies ist nur ein weiteres Beispiel, um zu erwähnen, inwieweit die innere Wirklichkeit des Lebens Gottes in den absoluten Modalisierungsweisen des rein phänomenologischen Lebens eine »Affinität« besitzt, wie sie Henry zwischen dem JohannesEvangelium und der Lebensphänomenologie erblickt. 133 Lässt man methodisch wie inhaltlich solche Affinität als einen der wichtigsten Vorstöße im phänomenologischen wie religionsphilosophischen Denken der Gegenwart überhaupt gelten, 134 dann wird auch verständlich, 132 Vgl. dazu auch M. Henry, Affekt und Subjektivität. Lebensphänomenologische Beiträge zur Psychologie und zum Wesen des Menschen, Freiburg / München 2005, 33–50: »Die Kritik des Subjekts«. 133 In einem anderen Beitrag wird auch der Begriff Kongruenz verwandt; vgl. M. Henry, Radikale Religionsphänomenologie, 210–228: »Das Christentum – eine phänomenologische Annäherung« (1997). 134 Vgl. R. Welten, »God is Life. On Michel Henry’s Arch-Christianity«. in: P. Jon-

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warum es nicht einfach um einen Paradigmenwechsel innerhalb der Wahrheitsdiskussion geht, sondern um deren Grundverlagerung, soweit die bisherige gnoseologische Auseinandersetzung zumeist vom hermeneutischen oder analytisch sprachphilosophischem Erbe geprägt blieb. Geschichte wie Sprache können jedoch – ebenso wie Vernunft oder Diskurs – letztlich keine Wahrheit im material phänomenologischen Sinne bezeugen, sofern die intentionalen Verweisstrukturen im Welthorizont notwendigerweise idealisierend und damit irrealisierend bleiben, wie wir dies in unserer Einleitung darstellten. Ist also Wahrheit in ihrem Erscheinen konkret an eine affektiv fleischliche Ermöglichung gebunden, dann kann auch nur das Leben selbst als ein solch inkarnierter Ursprung für sich als Wahrheit zeugen. »Ur-christologisch« bedeutet dies vor allen theologischen oder religionsphilosophischen Diskursen über Christus, dass die ewige oder transzendentale Sohnschaft Christi immer schon in unserer je eigenen Lebensaffektion originär grundgelegt ist, bevor wir sie als »Wort Gottes« in der Heiligen Schrift wieder erkennen. Wenn Christus derjenige ist, der allein »lebendig macht«, dann muss diese radikal ontologische Verlebendigung als unser Eintreten in die ebenso lebendige Selbstoffenbarung Gottes eine Wirklichkeit besitzen, die keine bloße Satzaussage jemals erschöpfend begründen kann, weil sie sich im Horizont der Welt und deren Sprache als je aufschiebendem Referenzsystem bewegt. Die Eucharistie ist hier zusätzlich ein Hinweis auf das methodisch notwendige Umdenken: »Tut dies zu meinem Gedächtnis!« Erst das Vollziehen leiht mithin dem Wort seine konkrete Verwandlungsfähigkeit, womit phänomenologisch wiederum unterstrichen ist, dass die stringente Analyse des Lebens einschließlich seiner leiblich affektiven Vollzugsweisen dem Verstehen des Christentums einen rein praktischen Rahmen verleiht. 135 Dies kommt dem Wesen wie Wirken des christlichen Credo in seiner auch sakramentalen Natur selbst entgegen, um eine ursprüngliche »johanneische UrIntelligibilität über Phänomenologie und Theologie hinaus« 136 an-

kers u. a. (Hg.), God in France. Eight Contemporary French Thinkers on God, Leiden 2002, 119–142. 135 Vgl. dazu M. Henry, Radikale Religionsphänomenologie, 274–283: »Sakrament der Eucharistie und die Phänomenologie in der gegenwärtigen philosophischen Reflexion« (2000). 136 So lautet das Schlusskapitel von Inkarnation, 399–413.

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zudenken, wie wir sie durch unsere gesamte Untersuchung hindurch verfolgen. Im Johannesprolog muss sich daher eine Epoché aller welthaften Genealogien aufweisen lassen, welche sowohl das transzendentale Geborenwerden der Menschen wie die Ur-Zeugung des Sohnes Gottes betreffen. Daher beginnt Henry seine Auslegung von Joh 1,1–18 als »Phänomenologie Christi« damit, dass das menschliche Vater/ Sohn-Verhältnis keine Analogie für die Selbstoffenbarung Gottes abzugeben vermag, weil der Sohn Gottes im Anfang selbst ist, während einem menschlichen Sohn stets ein Vater vorausgeht, ohne dieses Verhältnis der Vorgängigkeit jemals aufheben zu können. Aber es ist nicht nur die Unumkehrbarkeit dieses Verhältnisses, welche im Johannesprolog unterstrichen wird, sondern auch jene Differenz, wie sie zwischen menschlichem Vater und menschlichem Sohn herrscht. Denn die Exteriorität, welche in diesem uneinholbaren Abstand zwischen natürlichem Vater und Sohn am Werk ist, bedeutet letztlich die Außenheit der Welt als ihren transzendenten Erscheinensmodus selbst, wodurch ein jedes in ihr Erscheinende dem anderen äußerlich bleibt, was für Menschen wie Dinge gilt. Genau diese allgemeinste, aber in der Welt als solcher unhintergehbare Erscheinensbedingung bricht der Johannestext von Vornherein auf, indem Geburt und Leben diesseits einer solchen Welt und ihrer ekstatischen Wahrheit angesetzt werden, nämlich »in der Innerlichkeit des transzendentalen Erlebens«, welches eine Einklammerung aller lebendigen Funktionen und Organe zugunsten des sie hervorbringenden Lebens einschließt. 137 Damit sind zugleich alle wissenschaftlichen Sichtweisen eines bloß biologischen, chemischen oder neuronalen Lebens eingeklammert, weil sie – wie die naiven Lebenswahrnehmungen – niemals an eine originäre Selbstzeugung heranreichen, sofern diese eine Selbstoffenbarung in einer wesenhaften Ersten Ipseität impliziert. Der Vers 1,13 im Johannesprolog scheidet geschlechtliche Zeugung nicht deshalb für ein angemessenes Verständnis einer uranfänglichen Geburt aus, weil »Blut« oder »Fleisch« irgendwelchen moralischen Makel an sich besäßen, sondern weil alles menschliche Zeugen – wie im natürlichen Verhältnis von Vater und Sohn – bereits das Leben unhintergehbar voraussetzt. Die allein »aus Gott Geborenen« im selben Vers 1,13 verweisen daher auf eine ältere Geburt 137

Vgl. M. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 110.

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als die irdische zurück, welche den Logos betrifft und damit die Offenbarung des Wortes in Gott selbst als Zeugung desselben im Sinne des Ur-Sohnes. Durch die transzendentale Reduktion der welthaften Genealogie hat der Johannesprolog gleichfalls alle Zeithaftigkeit reduziert, so dass Gott, Anfang und Zeugung des Ur-Sohnes als göttlicher Selbstoffenbarung zusammenfallen. Dies schließt ein, dass das originäre Leben als »Vater« nur dadurch gegeben ist, indem es seine Offenbarung als Selbstzeugung beinhaltet, nämlich als Ipseität eines Erst-Lebendigen als Anfang, sofern alles Werden sich nur in ihm vollziehen kann (Joh 1,1 u. 3). Die Ipseisierung des göttlichen Lebens ist aber nicht nur ebenso alt wie dieses selbst, sondern meint auch keine Differenz, Transzendenz oder Exteriorität in dieser ur-anfänglichen »Umschlingung«, wie Henry sie nennt. Das Bei-Gott-sein ist deshalb mit dem Gott-sein selbst identisch, weshalb die Tautologie von Anfang/Gott/Wort den Kern des Christentums selbst ausmacht. Und wenn Henry hier kritisch anmerkt, dass jenes originäre Bei-Gott des Logos »aus der langen Reihe der Widersprüche losgerissen wird, die das abendländische Denken ihm bis zum hegelschen ›Bei sich‹ zufügen wird«, 138 dann können wir darin die radikal phänomenologische Relevanz des Johannestextes erkennen. Denn dieser legt die Identität von Leben und Ipseität in einer zeitlosen Immanenz oder »gegenseitig phänomenologischen Innerlichkeit« von Vater und Sohn für die christliche Religion und ein phänomenologisch angemessenes Denken zugrunde: »In ihm war das Leben.« (Joh 1,4) Wie bei Meister Eckhart und Fichte wird also dem Johannesprolog von Henry eine denkerische Potenz zuerkannt, welche nicht nur für seine eigenen frühen Untersuchungen zur Selbstaffektion einen stringenten Abschluss bedeutet, 139 sondern die Zerbrechlichkeit alles 138 Für Hegel spielen im Verhältnis von Gott und Logos »objektive« und »subjektive« Lesart allein als Bezug der Reflexion zum vorausgesetzten Reflektierten eine Rolle, wodurch das »bei Gott« für den Logos nur die Trennung von Form und Stoff in Gott betreffe; vgl. Der Geist des Christentums, in: Frühe Schriften (Werke I), Frankfurt/M. 31994, 373 f. In den späteren Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte bedeutet das πρός die Vereinigung des reinen Gotteswesens mit dem Geschichtlichen in der Gestalt Christi (Frankfurt/M. 1970, 401). 139 Was gegenüber dem absoluten Leben der transzendentalen Affektivität aus L’essence de la manifestation (dt. Das Wesen des In-Erscheinung-Tretens), § 70, hinzutritt, ist genau die Notwendigkeit eines ersten Sich zur Verwirklichung des Absoluten in seiner Einfachheit als Wesen der Erscheinung selbst. Insofern liegt bei Henry in der Trilogie »Ich bin die Wahrheit«, Inkarnation und Christi Worte keine theologische Wende seiner Phänomenologie vor, sondern eine konsequente Vertiefung der

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Ek-statischen erkennen lässt, sofern dieses sich nicht selbst gründen kann – und damit auch die menschlichen Verhältnisse oder Bewusstseinsvollzüge als scheinbar intentionale Autonomie aufhebt. Wenn der Prozess der Lebensselbsthervorbringung als »Zeugung des Wortes« mit dieser letzteren begonnen hat, dann umschließt diese Selbstzeugung als Selbstoffenbarung Gottes die Ipseität des Erst-Lebendigen als seine eigene innere Bedingung – und kehrt als Zeugung jedes Lebendigen im Erst-Lebendigen wieder, sofern wir Menschen ebenfalls im Anfang in der ewigen Fleischwerdung des Sohnes geboren werden. Das Verhältnis des Erst-Lebendigen zum Leben (»Vater«) ist mithin nicht kontingent, sondern das Leben kann sich nicht ohne sein ihm originär eingeborenes Wort verwirklichen. Der Ur-Sohn ist als Wort dem ursprünglichen Leben gleich wesenhaft, damit sich die Selbstzeugung als Selbstoffenbarung überhaupt erfüllen kann. Nach Joh 1,18, dem Schluss des Prologs, ruht der »Einziggeborene« im Schoß des Vaters, so wie der Vater im Sohn ruht, um von dieser »gegenseitigen Innerlichkeit« das ganze vierte Evangeliums durchdrungen sein zu lassen. Die Reden, mit denen Christus die gewöhnlich weltlichen Bezüge der Menschen in Frage stellen wird, betreffen daher nicht nur eine ethisch oder geschichtlich unvollkommene Ordnung, sondern Henry unterstreicht mit Recht, dass es sich dabei jeweils um die ontologische Bedingung unserer transzendentalen Geburt im Leben durch den Erst-Lebendigen selbst handelt. Ist diese Geburt unsichtbar, aber zugleich unser wesenhaft phänomenologischer Ursprung, dann bilden jene Verhältnisse, welche sich familiär wie gesellschaftlich um das welthafte Vatersein herum errichten, keine letzte Wirklichkeitsreferenz und werden daher von Christus selbst suspendiert: »Nur wer den Willen Gottes tut, ist mir Bruder, Schwester oder Mutter«. (Math 10,43 f. u. 12,48 f.) Aus dieser radikalen Umkehr der weltlichen Verhältnisse ergibt sich letztlich die umfassende Konsequenz der christlichen Religion, wie sie eine Phänomenologie des Lebens in Übereinstimmung mit der bisher »unerreichten Phänomenologie« des Johannes-Evangeliums zum Ausdruck bringen kann: Das Kommen Christi hat zum Ziel, den Menschen ihren wahren »Vater« wieder erkennen zu lassen, den sie in ihrem ausschließlichen Interesse für die Welt vergessen haben. Die Überwindung dieses Vergessens ist mit dem Heil identisch, welletzteren. Vgl. B. G. Kanabus, »La Vie absolue et l’Archi-soi: Naissance de la protorelationnalité«, in: Studia Phaenomenologica 9 (2009) 113–128.

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ches Jesus verkündet und als Christus für die Menschen realisiert, indem er in der Manifestationsweise der Welt – in deren »Außenheit« oder »Sorge« – für den wesenhaft unsichtbaren, aber ursprünglichen Vater zeugt. Diese Erkenntniskonstellation, im Bereich welthafter Sichtbarkeit für die ur-anfängliche »Vaterschaft« des absoluten Lebens einzutreten, ist daher die radikal phänomenologische Situation schlechthin, indem das scheinbar Nicht-Manifeste (Gott) die eigentliche Phänomenalität (Leben) darstellt, welche die Welterscheinung strukturell ausblendet, da sie als »Bewusstsein von …« dieses göttliche Leben nicht ergreifen kann – und damit stets vergisst. Die »Wiedererkenntnis« der ewigen Vaterschaft Gottes als unser Heil, wie es Christus verkündet und realisiert, ist somit kein geistiges Ereignis im Sinne irgendeiner Bewusstseinsleistung, sondern sie liegt in der Einheit von Selbstoffenbarung Gottes und Christi Sohnsein als Wort im Fleisch. Damit verlagert sich die konstitutive Situation zwischen Phänomenologie der Welt und Phänomenologie des Lebens in eine Problematik diesseits aller theoretischen Erkenntniszugänge, denn in seiner originären Leiblichkeit ist jedes »Fleisch« zunächst und vor allem Selbstempfinden. Die »Herrlichkeit« (doxa) aus Joh 1,14 und 18 ist die Herrlichkeit des Vaters in seinem Ur-Sohn, mithin die Selbstoffenbarung des göttlichen Lebens in ihrem absoluten Anfang selbst, welcher vor aller Welt und Zeit liegt. Wenn daher die Fleischwerdung Christi Gottes Offenbarung für die Menschen verwirklichen soll, dann kann dies auch nur über die menschliche Fleischlichkeit geschehen, sofern diese als Geburt unseres Ins-Leben-Kommens ebenfalls vor aller Zeit gegeben ist. In der Sichtbarkeit der Welt tritt Jesus als ein Mensch mit einem sichtbaren Körper auf, der sich in nichts von den anderen menschlichen Körpern als Weltphänomen unterscheidet, so dass auf diesem Weg der welthaften Wahrnehmung niemals eine Gewissheit über das Heil in Christus zu erlangen wäre, da es welt- oder bewusstseinshaft kein absolutes Kriterium für diese Gewissheit des absoluten Lebens in und durch Christus gibt. Die Verlagerung der phänomenologischen Grundsituation in Bezug auf das Wiedererkennen unseres Heils betrifft daher nicht nur die Verlagerung vom Welthorizont als äußerem Manifestationsraum in das selbstaffektive Empfindenkönnens des Fleisches als ursprüngliche Immanenz im Sohnsein Christi, sondern die damit gleichzeitige Verlagerung der Problematik der Bezeugung. Diese erwartet Christus von keinerlei Menschen mehr, sondern allein von seinem Vater selbst, weshalb im Johannes-Evangelium die Frage der Zeugenschaft 98 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Christi Sohnsein als lebendiges Ursprungsverhältnis

zur Kernfrage der johanneischen Ur-Intelligibilität überhaupt wird. 140 Vollziehen wir diese Verlagerung mit, so verändern sich Methode wie Gegenstand einer Religionsphänomenologie des ursprünglich inkarnatorischen Lebens. Die Herrlichkeit des Sohnes »im Schoß des Vaters« ist nur unsichtbar vor aller sichtbaren Welt gegeben, so dass auch solche Unsichtbarkeit nur das Leben des Sohnes im Vater und umgekehrt des Vaters im Sohn erkennen lassen kann. Sofern diese Unsichtbarkeit aber gleichzeitig Fülle der Wahrheit ist, beinhaltet sie die Wirklichkeit Gottes selbst und seine Selbstumschlingung im Sohn, das heißt seine Selbstoffenbarung im Wort, die älter als das erste Zeugnis des Johannes des Täufers ist (Joh 1,15 f.). Mit der Zeugenschaft des Täufers wird daher die Problematik jeder Zeugenschaft in Bezug auf Christus bereits grundsätzlich thematisiert, insofern die sichtbare Erscheinung als »Herabkommen der Taube« aufgehoben wird. Denn die Sichtbarkeit der Taube erübrigt nicht, dass Gott selbst die Zeugenschaft für die Wahrheit dieses Ereignisses übernimmt, nämlich dieselbe an seine Selbstoffenbarung zurück bindet: »Der mich gesandt hat, er hat mir gesagt: Auf wen du den Geist herabkommen siehst […], der ist es.« (Joh 1,33 f.) Die Bezeugung der Offenbarung des Erst-Lebendigen kann mithin nur vom Leben und dessen Selbstoffenbarung als solcher übernommen werden, in diesem Fall vom Sprechen Gottes als Offenbaren der Sohnschaft Jesu. Von gleicher Struktur der Unsichtbarkeit geht das Zeugnis gegenüber den fragenden Pharisäern aus: »Mitten unter euch steht der, den ihr nicht kennt.« (Joh 1,16) Ebenso reicht beim Wunder am Blindgeborenen sowie im Gespräch mit Philippus die sichtbare Erscheinung Christi nicht aus, um ihn als Messias und Sohn Gottes erkennen zu lassen (Joh 9,35 ff. u. 14,16 ff.), so dass sich diese Situation in den Begegnungen mit Jesus nicht nur immer wiederholt, sondern nach dem Johannestext die Grundsituation des Glaubens als einer Umkehrung der phänomenologischen Bezeugungsproblematik überhaupt beinhaltet. Christus zeugt für sich selbst, insofern seine lebendige Immanenz im Vater für ihn zeugt. Der Glaube, welcher diese Innerlichkeit des Ur-Sohnes in Gott als Ursprung des Lebens ergreift und damit im transzendentalen Menschen selbst dieses Verhältnis wieder erkennt, ist also kein geringeres Wissen als das Weltwissen, unvollendeter als dieses, wie es eine objektivistische Sicht meist hinstellt. Vielmehr betrifft der Glaube 140

Vgl. »Ich bin die Wahrheit«, 116 ff.

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strukturell eine andere Erscheinensordnung, da das Weltgesetz der Sichtbarkeit ihm keineswegs homogen ist und folglich auch nicht daran gemessen werden kann. Diese »Substitution« der Weltordnung durch eine »wesentlichere Ordnung«, wie Henry sie nennt, nimmt daher dem Glauben nicht nur seine angebliche Unvollkommenheit. Vielmehr klammert sie auch die gewöhnliche Erwartung ein, wie sie mit jedem sonstigen Glauben als Vermeinen verbunden ist, um so die absolute Selbstgegebenheit der Offenbarung zu betonen, wie sie mit der Offenbarung des Wortes des Lebens als Leben des Ur-Sohnes im Vater gegeben ist. Die »präsentische Theologie« im Johannes-Evangelium, wie wir bereits ausführten, ist daher nicht nur ein besonderes literarisches Merkmal desselben, sondern die Offenbarung Gottes als seine lebendige Anwesenheit selbst. Und zwar erweist sich in der genannten Unsichtbarkeit gegenüber der Welt die notwendige phänomenologische Bestimmung des Glaubens, wenn dieser in seiner immanenten Identität mit dem absoluten Lebensprozess selbst erkannt wird. Im Glauben als solchem bezeugt sich der Selbstglaube des Lebens an sich selbst, insofern in solch historialer Selbstbindung des immanenten Lebens als seine unzerstörbare Weise von Freude/ Schmerz als Geburt/Empfang die gegenseitige Lebenshingabe von Vater und Sohn selbst erkannt wird. Der Glaube ist letztlich dieser Prozess des Lebens schlechthin, wenn die Epoché der Weltsichtbarkeit zugleich die Einklammerung jeder intentionalen Thematisierung und Protention als Erwartung bedeutet. An diesem Punkt lässt sich die Henry’sche Bestimmung einer radikalen Religionsphänomenologie als die grundsätzliche religiöse Erfahrungsstruktur diesseits aller Logik und Hermeneutik im Sinne der Erprobung der Selbstoffenbarung des Lebens als solchem verstehen.

2) Radikal phänomenologische Ur-Christologie Allerdings will Henry nicht irgendeine zusätzliche »spekulative Christologie« errichten, wie sie vor dem deutschen Idealismus auch schon innerhalb der neuplatonischen oder aristotelischen Theologiebemühungen vorliegt, sondern er fragt nach jener Ur-Christologie, wie sie allen denkerischen Bemühungen voraus liegt, um im Johannestext als die Identität von Echtheit und Wahrheit aufzutreten. Was Christus als Erst-Lebendiger selbst von sich sagt, entspricht nicht nur der historischen Wirklichkeit, sondern impliziert zugleich die akos100 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Radikal phänomenologische Ur-Christologie

mische Wahrheit des von Jesus dergestalt Bezeugten. Denn wenn Jesus subjektiv wie objektiv im historischen Sinne von sich als »Sohn Gottes« gesprochen hat, so wäre das Zeugnis solcher Authentizität noch nicht das ausreichende Kriterium dafür, dass er auch wirklich der Ur-Sohn ist. Seine Liebe zu Gott und der eigene Enthusiasmus hätten ihn zu solchen Aussagen veranlassen können, ohne seinem immanenten Sein als tatsächlichem »Wort Gottes« im Sinne von dessen ur-anfänglicher Selbstoffenbarung zu entsprechen. 141 Die von Henry diskutierte johanneische Bezeugunsproblematik muss daher einer solchen Ur-Christologie selbst entsprechen, in der das von Johannes Aufgezeichnete das Selbstverständnis Jesu als Gottes Wort selber wiedergibt und nicht erst eine spätere Gemeinderedaktion darstellt. Joh 14,10 f. ist daher als Ausdruck der Einheit von Echtheit wie innerer Wahrheit der Selbstbezeugung Christi zu hören: »Die Worte, die ich zu euch sage, habe ich nicht aus mir selbst. Der Vater, der in mir bleibt, vollbringt seine Werke. Glaubt mir doch, dass ich im Vater bin und dass der Vater in mir ist.« Verstanden werden können diese und andere Aussagen der IchReden Jesu aber nur, wozu auch die Worte des Prologs gehören, wenn zugleich der Umsturz der phänomenologischen Wahrheitsbedingungen mit erkannt wird, die den Zugang zum Gehalt des christlichen Glaubens zum Ausdruck bringen. Umgekehrt wird, wie schon durch die Bezeugungsproblematik erwähnt wurde, das Verhältnis von Weltund Lebenswirklichkeit. Letztere hebt den Vorrang der griechischen und späteren rationalen Philosophie auf, Wahrheit allein über die Phänomenalität der Sichtbarkeit bzw. des Wahrnehmungs- und Verstandeslichtes zu ermöglichen. Dieser intentionale Weltlogos wird nicht zerstört, aber er gilt nur für den Bereich von Horizont- und Gegenstandswissen, welcher gerade für die immanente Christuswirklichkeit nicht in Frage kommen kann. Im Aufheben der scheinbar allein maßgeblichen Weltkategorien einschließlich ihrer daraus resul141 Vgl. »Ur-Christologie« (1997), in: M. Henry, Radikale Religionsphänomenologie, 229–246. Wie in unserem Kapitel I,2 schon erwähnt, beruft er sich dabei auf C. Tresmontant, Le Christ hébreu, Paris 21992, der Johannes dem theologischen Kreis um den Hohenpriester in Jerusalem zuordnet und dadurch als Jünger Jesu direkten Zugang zum Prozess Jesu sowie den damit verbundenen Auseinandersetzungen in rechtlicher wie theologischer Hinsicht seitens der religiösen Autoritäten hatte. Die ipsissima verba Jesu über seine Gottessohnschaft entstammen daher dem unmittelbaren Zeugnis Jesu selbst, dessen Dramatik und Echtheit eben darin beruht, ihn zum Tod geführt zu haben.

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Der Ur-Sohn nach Michel Henry

tierenden menschlichen Verhältnisse eröffnet Christus einen anderen Zugang, nämlich zur Erprobung der Lebenswirklichkeit, welche er selbst ist. Bedingung der Wahrheit und ihre Unmittelbarkeit fallen damit in Christus zusammen: »Ich bin die Wahrheit.« / »Ich bin nicht von der Welt.« / »Im Anfang war das Wort.« (Joh 14,6; 17,14; 1,4) Christus, und nach ihm das Christentum, vollziehen mithin eine radikale Umkehr der phänomenologischen Erscheinensbedingung jener distanzierten Bewusstseinsweise, nach denen sich das Denken traditionellerweise ausformt. Dies wird unmittelbar am schon erwähnten Zusammenhang von Licht/Finsternis greifbar, wie ihn gerade der Johannesprolog der gläubigen Erkenntnis Christi als maßgeblich für das gesamte weitere Evangelium voranstellt. Die Äquivalenz von Wahrnehmung, Welt und Wahrheit durchzieht nicht nur wie selbstverständlich alles Alltags- und Wissenschaftsdenken, sondern als »Transzendenz« auch das gewöhnliche religiöse Sprechen, wodurch Gottes Leben bereits konstitutiv in eine Distanz oder Außenheit gerät, wozu gelegentlich – wie etwa bei Augustinus – oder grundlegend für Meister Eckhart die »Innerlichkeit« als Gottes Immanenz in der »Seele« hinzutritt. Der Johannesprolog hebt die ekstatische Weltwahrheit als Licht auf, insofern sie sich gerade beim Kommen Christi in solch lichthafte Welt in das Gegenteil der Finsternis verkehrt. Das »wahre Licht«, welches in das »Licht der Welt« kommt (Joh 1,9), würde aber in der Tat zu einem Licht führen, in dem sich alles erhellt, falls dieses Kommen nicht die ihm eigenwesentliche Erkenntnisbedingung selbst hervorbringt. Denn kommt das ur-anfängliche Wort Gottes in die Welt, so setzt dies voraus, dass es ihr nicht wesenhaft zugehört, da es sonst selbst im Licht solcher Welt aufleuchten müsste und mit ihm seit jeher identisch wäre. Die johanneische Ur-Intelligibilität zerbricht genau diese selbstverständliche Voraussetzung, indem das welthafte Licht zur Finsternis wird, wodurch die genannte radikale Umkehr vollzogen ist, die es für den christlichen Glauben sowie eine ihm entsprechende Religionsphänomenologie zu verstehen gilt, 142 nämlich als eine apriorische Ur-Christologie und deren Zeugnis- bzw. Wahrheitskonstellation. Das Licht der Welt ist nicht Finsternis an sich, 142 Dies hat allerdings nichts mit einer ontologischen und ethischen Entwertung der Welt zu tun, wie M. Enders diese Analysen deutet; vgl. Postmoderne, Christentum und Neue Religiosität, Hamburg 2010, 147–184: »›Ich bin die Wahrheit‹ – eine kritische Lektüre von Michel Henrys Philosophie des Christentums«.

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denn es erhellt durchaus alles Seiende, um es erkennen zu lassen. Aber dieses transzendentale Horizontvermögen wird zur Ohnmacht hinsichtlich der Selbstoffenbarung des Lebens als Ur-Sohn Gottes: »In ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen.« (Joh 1,4) Wenn das Licht der Welt dieses Licht des Lebens »nicht erfasst« (ου κατέλαβεν; non comprehenderunt), obwohl es darin »scheint« (φαιναι; lucet), dann manifestiert diese plötzliche Verwandlung von Licht in Finsternis, sobald das wahre Licht erscheint, eine neue Weise der originären Phänomenalisierung: »Ich bin das Licht, das in die Welt gekommen ist, damit jeder, der an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibt.« (Joh 12, 46) Allein die kritische Herausarbeitung von zwei unterschiedlichen Erscheinensmodi als Welt- und Lebensphänomenalität vermag folglich eine Antwort darauf zu geben, dass Jesus in allem wie ein Mensch dieser Welt erscheint und zugleich den unerhörten Anspruch auf sein göttliches Wesen im Sinne seiner Offenbarungwirklichkeit als Logos oder »Wort Gottes« stellt. Die Entäußerung seiner göttlichen Bedingung nach Phil 2,6 f. ist so total, dass er in der Welt zwar als Jesus von Nazareth unbezweifelbar gesehen wird, aber die meisten nicht an ihn glauben (Joh 6,36). Ist diese göttliche Selbstentäußerung, um sich den Bedingungen der phänomenalen Welt zu unterwerfen, so radikal, dass das Sehen das Glauben – sowie das Glauben das Sehen – ausschließt, dann wird die gesamte Dramatik der »Phänomenologie Christi« als einer »Ur-Christologie« nur umso größer. In den Augen der Welt und einer Religion absoluter Transzendenz wie dem Judentum muss der Selbstanspruch, »Gottes Wort« unter den Bedingungen der welthaften Selbstentäußerung zu sein, zum Vorwurf der Gotteslästerung führen, welcher solch unaufhebbarem Inkognito fast zwangsläufig folgt. 143 Es gibt aber nicht nur einen Zugang zur Wahrheit Christi durch das seinerseits unsichtbare Leben und seine Selbstaffektion als immanente Selbstumschlingung, sondern selbst wenn dieser Zusammenhang erkannt werden sollte, ist darüber hinaus im johanneischen Sinne festzuhalten, dass es eine ursprüngliche Einheit von göttlichem Leben und dem Erst-Lebendigen gibt. Christus ist mithin nicht »im« Leben, wie es die Dinge »in« der Welt sind, sondern in der Ur-Zeugung des Sohnes vollzieht sich zugleich das Selbst143 Dieses Motiv des Inkognito wird von Kierkegaard her aufgegriffen; vgl. bereits M. Henry, Die Barbarei. Eine phänomenologische Kulturkritik, Freiburg / München 1994, 335 f.

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werden des Lebens als Verwirklichung seiner selbst (Vater) in einer Ersten Ipseität (Logos). Für den Menschen und seinen Glauben gibt es daraufhin keinen anderen Weg, zum Leben oder zum Heil zu gelangen, als auf passible Weise »sich in der Bewegung dieser Selbstumschlingung selbst zu umschlingen«, wie Henry 144 sagt, das heißt in der genannten wesenhaften Ipseität des Erst-Lebendigen als UrSohn. Die an Christus Glaubenden sind somit im johanneischen Denken nicht nur ihrerseits »nicht von der Welt«, sondern sie erfahren auch den Lebenszugang in der ur-anfänglichen Selbstumschlingung von Vater und Sohn selbst als eine ganz neue Phänomenalisierungsweise, nämlich als die reine Immanenz solcher Innerlichkeit diesseits aller Distanz oder Transzendenz. Sie »glauben« also nicht nur ohne jedes intentionale Meinen oder Erwarten, sondern sie leben in der Wirklichkeit solchen Glaubens als der inneren Wesenserprobung des Sohnes schlechthin, wodurch sie die Bedingung des göttlichen Lebens dank der Sohnschaft Christi als ihre eigene Erprobungswirklichkeit im Sinne des Erst-Lebendigen in sich selbst tragen. Der Johannestext spricht durchgehend von nichts anderem als von dieser Bewegung ohne Ende in Gott, wodurch sich Vater und Sohn in »all ihren Werken« selbstzeugend umschlingen, wozu auch jene gehören, die »aus Gott geboren sind« (Joh 1,13). Im Bereich solcher Ur-Christologie ist es dann gar nicht anders möglich, als dass Christi eigene Rede stets bis zu seinem – als wesenhafter Ipseität gezeugten – »Ich« zurückgeht, in dem das Leben sich selbst erprobt und ohne Unterlass an sich selbst offenbart. Sein Leben erprobt sich selbst als die Selbsterprobung des göttlichen Lebens, das heißt als die Weise der ständigen Selbsterfüllung dieses Lebens, dessen »Herrlichkeit« die Offenbarung des Vaters ist – und damit auch »die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, [die] wir gesehen haben« (Joh 1,14). Christi Sprechen, Wollen und Tun kann aufgrund dieser radikalen Zugehörigkeit des Sohnes zum Vater, in dieser Erst-Ipseisierung, nichts anderes als der Wille und das Tun des Vaters selbst sein: »Alles, was der Vater tut, ist mein.« (Joh 16,15; vgl. 5,19; 10,39). 145 Die gegenseitige Innerlichkeit von Vater und Sohn ist daher nicht nur eine solche ihrer Selbstzeugung als Selbstumschlingung, sondern auch ihr Wollen ist wesenhaft eins, so dass die Ipseität des 144 145

Vgl. »Ich bin die Wahrheit«, 125 f. Vgl. ausführlicher zu diesen Ich-Reden unser folgendes Kapitel II,4.

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Sohnes als Erst-Lebendiger nichts anderes als die Selbsterfüllung der Bewegung des göttlichen Lebens als solchem zu sein vermag. Beispiele dafür sind im geschichtlichen Leben Jesu unter anderem die Heilungen am Sabbat, wodurch eine unmittelbare Gottgleichheit zum Ausdruck kommt, die zur schon genannten Anklage seitens der religiösen Autoritäten führte, aber für Jesus als den Christus eben die Bestätigung seiner vollkommenen Willenseinheit mit dem Vater impliziert – bis hinein in die Stunde der Zerstreuung: »Ich bin nicht allein, denn der Vater ist in mir.« (Joh 16,32; vgl. 10,38) Die Selbigkeit des Wollens mit dem Vater, was auch für den Gläubigen gelten wird, ist deshalb vor aller ethischen Relevanz eine phänomenologische Identitätswirklichkeit, wie sie durch Johannes – aber auch von den Synoptikern (vgl. Lk 10,22: »mir ist alles von meinem Vater übergeben worden«) – stets im Modus der Apodiktizität festgehalten wird. Gibt es nicht zwei Willensformen in Christus, dann erfüllt sich alles in Christus als dem Ursprung der göttlichen Einheit selbst, womit gleichfalls der Wollensbegriff einer phänomenologischen Umkehr unterliegt, sofern er an keinem äußeren Gesetz mehr orientiert ist. Als der »Gesandte Gottes« in der Gleichheit mit Gott versteht Christus die Thora, ohne dafür eigens ausgebildet zu sein (Joh 7,15); und was er sagt, ist notwendigerweise die »Lehre Gottes« selbst bzw. dessen »Wort« (Joh 8,28; 12,49; 14,10). In seiner Person als wesenhafter Ipseität wird folglich Christus als das Ereignis des Lebens schlechthin von Johannes erkannt, um aus dieser Grundwahrheit den Kern des christlichen Glaubens zu machen. Als der »Gesandte Gottes« schöpft Christus die Bedingung dieser Sendung in Gott selbst, dessen Lehre und Werk er selbst ist, insofern der ihn Sendende die originäre Wahrheit sagt und für deren Bezeugung durch die Einheit mit Christus als seinem Wort bürgt (Joh 8,25). Jeder Versuch, eine solche Wahrheit des Lebens in seiner inneren gegenseitigen Selbstoffenbarung mit dem Logos der Welt und ihren Seienden, einschließlich ihrer geschichtlichen Zeitlichkeit, verstehen zu wollen, zerbricht aus rein phänomenologischen Gründen an der zentralen Wahrheit des Lebens, überall und stets nur es selbst zu sein und sich damit auch allein durch sich selbst in sich selbst zu offenbaren. Nämlich in der Ipseität des Erst-Lebendigen, dessen Sprechen die Identität mit dem ur-anfänglichen Wort des Lebens selbst ist und sich in solchem Sprechen selbstoffenbarend erfüllt. Die Frage, wie sich in Jesus von Nazareth die Wahrheit seiner Christuswirklichkeit zeigt, kann daher nur mit dem Hinweis auf den imma105 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

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nenten Prozess der Selbstoffenbarung des Lebens beantwortet werden, welche als Phänomenalität des Lebens mit der innergöttlichen Phänomenalisierung des Selbstzeugungsprozesses des Lebens identisch ist. Die Manifestation Christi in der Welt, seine Epiphanie in ihr, vermag daher nicht mit einem welthaften Sichzeigen oder Sehenlassen überein zu stimmen, sondern sie kann nur die Einheit der »Herrlichkeit« Gottes und Christi selbst bedeuten, welche als transzendentales Lebensgeschehen bis in die Passion hinein den Sohn »verherrlicht« (Joh 13,31; 17,4 f.). Im Unterschied zur »Ehre der Welt«, welche nur sich selbst sucht und sich nur um sich selbst sorgt, kennt der Ur-Sohn allein die Ehre dessen, der ihn gesandt hat und dem als Ursprung des Lebens allein Ehre zukommt (Joh 5,41 ff.; 7,17 f.). Glauben, um Gott als dem Lebensursprung vor aller Welt die Ehre zu geben, ist damit aufgrund der phänomenologisch gegenseitigen Innerlichkeit von Vater und Sohn identisch mit dem Glauben an Christus, da nur in ihm der Vater gesehen werden kann, der sich selbst jedem Sehen entzieht (Joh 12,45). Aber da Christus seinerseits als der Erst-Lebendige nicht in der Welt als solcher erkannt zu werden vermag, jedes welthafte Zeichen für seine Wahrheit eingeklammert werden muss (Joh 6,31 ff.), eröffnet sich die Wahrheit eines solch autarkischen Lebens nur durch die Mitzugehörigkeit zur phänomenologischen Innerlichkeit solchen Lebens und seines Offenbarungsprozesses: »Niemand hat den Vater gesehen außer dem, der von Gott kommt.« (Joh 6,46) Die Aporie des Sehens Gottes löst sich also nicht dadurch, dass wir Jesus in der Welt sehen, da solches Sehen gerade nicht seine innere Zugehörigkeit zum Vater »im Anfang« erkennen lässt. Wird jedoch der Glaube als die phänomenologische Umkehr des Weltsehens verstanden, dann wird das innere lebendige Wesen Gottes und seines fleischgewordenen Wortes zugänglich, insofern sich der Mensch gegenreduktiv nicht mehr primär als ein Wesen dieser Welt versteht. Das Christentum der Ursprungsverhältnisse erschüttert mithin radikal Wesen wie Wahrheitszugang des grundlegenden Erscheinens, indem es den Menschen durch eine transzendentale Geburt in der Ipseität des Sohnes Gottes selbst geboren sein lässt, um das Heil durch solch originäre Zugehörigkeit zum innersten Leben Gottes und dessen Selbstoffenbarung zu verwirklichen. Besonders der Johannesprolog enthält damit in seiner prägnanten Kürze wie gewaltigen phänomenologischen Ursprungsaussage die Möglichkeit eines anderen Gottes-, Welt und Lebensverständnisses. Dessen Kon106 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

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sequenzen wurden bisher noch nicht wirklich im abendländischen Denken realisiert, um in der Wahrheit der christologischen Erst-Ipseisierung auch die radikale Wahrheit jedes menschlichen Sich zu verstehen, welches an den selbstaffektiven Gehalt des innergöttlichen Lebensprozesses wesenhaft zurückgebunden ist. Indem nämlich die johanneische Ur-Intelligibilität als eine UrChristologie auf die vorzeitliche Autonomie des Lebensprozesses in Gott verweist, benennt sie das In-sich-selbst-Kommen des ur-anfänglichen Lebens als eine Selbstgründung desselben dank seiner inneren Selbsthervorbringungsmacht, welche sich in der Ipseität Christi erfüllt. Ist Christus als Ur-Sohn nicht das »Ergebnis« dieses Prozesses, sondern seine phänomenologische Konkretion selbst, wie Henry unterstreicht, 146 dann ist diese Selbsthervorbringung des Lebens in jeglicher Hinsicht ein radikal phänomenologischer Vorgang. Das heißt die Selbstphänomenalisierung als rein immanente Erprobung des Sich-Offenbarens, wobei Sagen und Gesagtes in eins fallen, mit anderen Worten die Selbstumschlingung von Vater und Sohn bilden. Beide sind füreinander jene Subjektivität, in der sich der andere jeweils selbst affiziert, um auf diese Weise das Sich dieser Selbstaffektion als seiner Selbsterprobung zu sein. Das Sich ist mithin nichts anderes als das In-sich-Kommen des Lebens im Modus jeweiliger Ipseisierung, so dass das Sich nur im Leben sein kann, so wie das Leben nur als Sich auftritt. Anders gesagt nur als radikale Individuierung, die jedes allgemeine oder anonyme Leben sowohl als Wirklichkeit wie als Begriff ausschließt. Die johanneische Ur-Intelligibilität der innergöttlichen Selbsthervorbringung als christologische Wahrheit bezeugt damit einen Wahrheitsbegriff, der jede formale, apersonale oder wissenschaftliche Wahrheit als Objektivitätsbereich hinter sich lässt, da die Wahrheit ein singuläres »Ich« ist – die Ipseität Christi. Bezeugt Christus, in seiner Einmaligkeit wie Einzigartigkeit die Wahrheit ursprünglicher Verlebendigung zu sein, dann ist er damit wesenhaft zugleich der »Weg« zu ihr, aber nicht in einem ekstatischen Sinne, sondern als die Immanenz jedes Sich, welches in diesem ipseisierten Leben Christi ebenfalls als ein »Mich« geboren wird. Denn im Leben geboren zu sein, ist identisch mit der Selbstankünfigkeit des Lebens in sich selbst, welches durch solches Kommen in sich selbst unmittelbar seine Selbstoffenbarung als seine Selbstaffizierung in diesem Geschehen selbst ist. »Sehen« wir auf 146

Vgl. »Ur-Christologie«, 235 ff.

107 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

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diese Weise Christus und durch Ihn den Vater, dann erfolgt dieses Sehen nur als ständig originäre Individuierung in Ihm als die sich selbst erprobende Ipseisierung des Lebens »im Anfang«, mithin vor aller und ohne alle Zeit. Diese strukturelle Grenze der menschlichen Individuierung in der christologischen Individuierung als einer Ur-Affektion ist die transzendentale Faktizität unseres Lebens innerhalb der johanneischen Ur-Intelligibilität als einem Geschehen vor aller Weltwahrheit, wie ausgeführt wurde. Unsere Individuierung als eine solch passible Wirklichkeit bedeutet damit das lebendige Wahrheitszeugnis der rein phänomenologischen Christuswirklichkeit als die Ur-Bezeugung durch den Vater selbst. Indem wir je singulär vom Leben affiziert werden, indem wir in ihm geboren oder individuiert werden, gehören wir in den Ursprung Gottes als dessen Ipseisierung selbst hinein – und vernehmen infolgedessen Gottes Wort in der ständigen Verwirklichung unserer transzendentalen Geburt als »Sohnschaft im Sohn« (Röm 8,28 f.). Ist in der Tat die Hervorbringung des Sohnes durch den Vater das Zeugnis des Vaters für den Sohn im Sohn, indem dieser den Vater als sein eigenes Wesen empfängt, dann ist der Sohn als die Erkenntnis Gottes in der Selbsterprobung seiner eigenen Ipseität jenes »Ich« der Wahrheit, welches in den Ich-Reden des JohannesEvangeliums so überwältigend zu uns spricht. Nicht nur Zeugnis und Wahrheit gehören somit im johanneischen Sinne zusammen, sondern auch Wahrheit und Ichsein als Ipseität der »Erkenntnis«, welche lebendig erprobt wird. Diese innergöttlichen Wahrheitsbedingungen müssen sich daher im menschlichen Bereich der Phänomenalisierung unseres Lebens wieder finden lassen, wenn das Selbstzeugnis Christi für die Wahrheit Gottes auch von uns erkannt und gelebt werden soll. Das Christentum in der Perspektive der johanneischen Ur-Christologie legt durch die Epoché der Weltwahrheit die prinzipielle Möglichkeit für die Menschen offen, ihrerseits überhaupt »Ich« sagen zu können und sich transzendental je als ein solches Ich/Mich in der Selbstaffektion des Lebens zu erproben. Diese Erprobung ist keinerlei Selbsterfahrung in einem bloß psychologischen oder existentiellen Sinne mehr, sondern es handelt sich um die Erprobung der »Sohnschaft in Gott« im Mich-Empfinden als solchem. 147 Jedes individuelle »Ich« ist aufgrund dieses rein phänomenologischen Aufweises in struktureller Affinität zum johanneischen 147

Vgl. M. Henrys eigene Darstellung in »Ich bin die Wahrheit«, 161 ff. u. 186 ff.

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Denken ein gottgebürtiges Mich der Empfänglichkeit, da es ein jegliches Ich nur auf jene unvorstellbare Weise gibt, wie der Erst-Lebendige im Schoß seines Vaters geboren wird, um darin Fleisch zu werden, das heißt die selbstaffektive Materialität der innergöttlichen Phänomenalisierung. Indem meine Geburt nur in Gott denkbar ist, um ein transzendentales Mich in seiner originären Ipseisierung zu sein, muss die zuvor genannte Vollzugswirklichkeit eines Ersten Sich gegeben sein, wie es die Ipseisierung Gottes als Ur-Sohn einschließt. Indem wir zu »Söhnen im Sohn« durch unsere vorzeitliche Geburt werden, wiederholen wir die Ur-Geburt des Erst-Geborenen in Gott, wobei diese »Wiederholung« keine monotone Abfolge eines geschaffenen Selben meint, sondern die radikale Individuierung aller nur denkbaren Menschen, wie sie im Ur-Sohn – dank seiner in ihm eröffneten Proto-Relation zum absolut göttlichen Leben – geboren werden. Damit ist jedes Sich ausschließlich ein Bezug zu sich selbst, indem es durch das Leben ermöglicht wird, wie auch schon Kierkegaard erkannte, 148 um in solch reiner Bezüglichkeit als Wirklichkeit des UrSohnes ebenfalls den Selbstbezug des lebendig Absoluten im Sinne eines jeden affizierten Mich auszumachen. Die Individuierung als affektives Sich erfolgt mithin ohne Vorstellungsreferenz auf rein passible Weise, und die pathische Fleischlichkeit einer solchen Ur-Affektion ist kein anderes Fleisch als die ewige Inkarnation Christi. In meiner transzendentalen Geburt als impressionaler Individuierung werde ich daher selbst originär durch das Fleisch Christi als die materiale Selbstaffektion des einen göttlichen Lebens in dieser Ur-Geburt des Erst-Lebendigen affiziert. Demzufolge lässt sich insbesondere der Johannesprolog im zweifachen Sinne als eine Ur-Christologie verstehen. Zum einen ist er kein theoretischer Diskurs über Christus in einem Objektsinne, wie es jede christologische Theologie strukturell beinhaltet, sondern dieser Prolog erschließt die Immanenz der Christuswirklichkeit als Bedingung jeder Geborenheit in Gott, womit zum anderen die absolute Anfangshaftigkeit aus Vers 1,1 in das ewige wie stets neue »Voraus« der Bezüglichkeit zu uns selbst verwandelt wird. Die Affinität und Kongruenz zwischen einer radikalen Lebensphänomenologie bei Henry und der johanneischen Intelligibilität impliziert, nochmals gesagt, eine radikale Epoché aller Weltwahrheit als Gegen-Reduktion, weil sie die Selbstgebung Christi in der rein gebürtigen Selbstgebung 148

Vgl. M. Henry, Inkarnation, 299 ff.

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des »Menschen« bedeutet. Wird nämlich ein affektiver Selbstbezug nicht mehr in der Außenheit der Welt gesucht, dann gründet sich solcher Selbstbezug im jeweiligen Pathos von Freude und Leid nicht vom Sich eines jeden Individuums selbst her, sondern der eigene Zugang zu sich selbst – die Identität mit sich als innere Selbsterprobung – erfolgt durch Christus und sein Fleisch als Ur-Ipseisierung. In diesem Sinne gilt die Aussage »Im Anfang war das Wort« für Gott wie für den Menschen, denn als Leben und dessen innere Selbstoffenbarung geschieht dieser Anfang als bleibende Bedingung für jedes Sich, um in solch transzendentalem »Voraus« in sich selbst zu kommen, das heißt seine immanente Individuierung als reine Lebenselbstaffektion zu erproben. Im Unterschied zu jeder philosophischen, exegetischen oder theologischen Christo-logie, die einem allgemein diskursiven Logos verhaftet bleibt, macht eine Ur-Christologie wie im Johannesprolog und seine Weiterführung in den Ich-Reden des vierten Evangeliums unhinterschreitbar deutlich, dass sich unser Verhältnis zu Christus weder durch das Denken noch durch Welt oder Geschichte gründen lässt, welche ein und derselben Ek-stasis als Zeitlichkeit oder Differenz angehören. Henry zeigt auf, dass Glauben nicht Sehen ist, weshalb auch nur Christus allein Zugang zu sich selbst gewährt, indem er je ur-anfänglich ein Sich dergestalt zu sich selbst kommen lässt, indem es durch Ihn als die Erste Ipseität zu sich selbst als seine eigene Ipseität gelangt. Die Ur-Christologie ist daher Selbstgebung in diesem nicht voneinander zu trennenden phänomenologischen Sinne – Selbstgebung jedes Sich an sich selbst in der innergöttlichen Selbstgebung Christi als Wort Gottes. Im Leben zu sein, und zwar in einer unauflösbaren Individuierung, ist mit anderen Worten nur in einer immanenten Ur-Christologie möglich, deren originäre Strukturen der Johannesprolog über alle Zeiten hinweg zeichnet. Das gottheitlich Absolute als Ungrund bei Meister Eckhart, welcher als weitere Quelle für diese rein phänomenlogischen Analysen eine Rolle gespielt hat, wie wir ausführten, ist daher mehr als nur eine Herausarbeitung eines »philosophischen Christus«, 149 da die Analyse selbst dem Vollzug des Lebens entspricht – und nicht in einer bloß formalen Ideation verharrt.

149 So die Einschränkung bei X. Tilliette, Le Christ de la philosophie. Prolégomènes à une christologie philosophique, Paris 1990, 262 f.

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Ist der Glaube keine Erwartung mehr, sondern unmittelbare Präsenz der Selbstgebung Christi in unserem Fleisch, welches sich in seinem Fleisch affiziert, dann können wir uns auch nicht in irgendeiner Weise von unserer Sohnschaft aus zu Ihm »erheben«, da die Selbstwerdung des Mich als reine Sich-Bezüglichkeit im Leben keine Distanz im Sinne einer intentionalen Transzendierung zulässt. Bevor wir in uns sind, ist Er bereits in uns, und allein dieses immemoriable Werk Gottes in der abgründigen Nacht unseres affektiven Fleisches, in der Passibilität seiner Selbstimpression, macht aus uns ein Leben »in Fülle«: »Ich bin die Tür, wer durch mich hineingeht, [wird] ein und ausgehen und Weide finden.« (Joh 10,9 f.) 150 Der Logos des Lebens findet mithin niemals als Diskurs über das Leben statt, sondern nur affizierend in diesem Leben selbst, in seiner Immanenz als der ständigen Geburt in der absoluten Selbsthervorbringung des Lebens als Christi Fleisch im Schoß des Vaters. Wenn Jesus im JohannesEvangelium ohne jede welthafte Vermittlung von seinem eigenen Wesen als »Sohn Gottes« spricht, um uns im »Wort des Lebens« daran teilhaben zu lassen, das heißt durch die je absolut anfängliche Selbstgebung des Sich, dann ließ er zugleich dieses Sprechen nicht ohne konkretisierende Geste, um solch reine Selbstgebung als seine Lebensgabe für immer zu besiegeln, nämlich im »Brot des Lebens« der Eucharistie, wie wir schon zu Beginn sagten. Die Ur-Christologie als Sakrament ist daher als liturgische Praxis die phänomenologische Aktualisierung der originären religio als reiner Christusbezüglichkeit innerhalb der göttlichen Innerlichkeit von Lebenszeugung und Lebensselbstoffenbarung. 151 Die Ur-Intelligibilität des johanneischen Logos als Fleisch gewordenes Wort Gottes vor aller Zeit vermeidet darüber hinaus die problematische Zwei-Naturen-Lehre der klassischen Christologie. Denn wenn das Fleisch bereits ursprünglich jenes göttliche Pathos der Selbstumschlingung bedeutet, in dem sich Gott als Vater und Sohn in der Ipseität des Erst-Lebendigen gegenseitig empfangen und ihre Gottheit als »Personen« austauschen, dann ist dieselbe Ipseität auch jene ewig passible Phänomenalitätsweise, in der Jesus von Nazareth als sichtbarer Mensch geboren wurde. Setzt nämlich die gegenseitige 150 Zur Auslegung dieses Gleichnisses vom Schafstall im Sinne der Geburt des Sich in der Ipseität Christi vgl. M. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 162 ff. 151 Vgl. R. Kühn, Gabe als Leib in Christentum und Phänomenologie, Würzburg 2004, 133–170: »Sakrament und Lebensvollzug«.

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Innerlichkeit von Vater und Sohn in Gott selbst ein Ur-Fleisch ihres Austausches voraus, welches die Ipseität des Wortes als Verwirklichung der Selbstoffenbarung Gottes darstellt, dann wird auch der geschichtliche Jesus – wie jeder andere Lebendige in dieser Welt – zu einem menschlich individuierten Fleisch im Ur-Fleisch als Gottes Sohn. Unsere transzendentale Geburt als Verknüpfung von Leben/ Fleisch impliziert in jedem Sich die Bedingung zu einer solchen Ipseisierung, die keine andere Bedingung als das Kommen des Sich in sich selbst dank der Ipseität des göttlichen Wortes ist. Jesus Christus ist geschichtlich wie existentiell ein Fleisch wie das unsrige, fähig zu Freude und Leid, aber zugleich ist er das ewige Fleisch der originären Lebensverwirklichung in Gott selbst. Aus diesem Grund ist er das Heil der Menschen als deren »Heiligung«, welche die ersten Kirchenväter des Weiteren als »Vergöttlichung« auslegten (vgl. Joh 17,15 ff.). Denn kein Mensch vermag sich von sich aus in seinem Fleisch zu gründen – dies vermag allein Christus in seinem Ur-Fleisch, welches somit die göttliche Innerlichkeit als Bezug zwischen Vater und Sohn ebenfalls auf der Ebene seiner irdischen Inkarnation wiederholt, insofern diese die Fleischwerdung »im Anfang« gleichfalls in der historischen Menschwerdung aktuell sein lässt. Die ewige wie zeitliche Inkarnation im Sinne der gegenseitigen Innerlichkeit von Vater und Sohn nach Johannes in ihrem absoluten Ursprung wie Werk entfaltet somit ihre strukturell phänomenologischen Konsequenzen der Einheit von Lebenshervorbringung und fleischlicher Individuierung als Konkretion dieses ständigen Prozesses bis in jede Leibanalyse hinein, von der letztlich auch die Welt selber nicht ausgenommen ist. Mit Henry lässt sich dies als das schon früher von uns erwähnte christliche oder fleischliche Cogito verstehen, 152 um aufzuweisen, dass der menschliche Leib nicht nur des göttlichen Lebens fähig ist, indem er es empfangen hat und effektiv in sich trägt, sondern damit zugleich auch aus aller materiellen Weltontologie heraustritt. Wir hatten dies zu Beginn dieses Kapitels schon als die einmalige Würde der Fleischlichkeit als transzendental konkrete Individuierung bezeichnet, um darüber hinaus hier zu unterstreichen, dass das Pathos des Fleisches in seiner ursprünglichen Passibilität eben das besitzt, was keine Welt und deren Intentionalität beinhaltet, nämlich jegliches Erscheinen in seinem affektiven Selbsterscheinen zu fundieren. Das reine Gedächtnis bei Augustinus, die 152

Vgl. Inkarnation, 199 ff.

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kategoriale Verstandesintuition bei Kant oder die zeitliche Transzendenz bis hin zum »Ereignis« bei Heidegger vermögen zum Beispiel keinerlei Seiendes in seiner sinnlichen Gegebenheit zu begründen, weil Gedächtnis, Begriff oder Zeit nur jeweils eine erste Öffnung und einen möglichen Platz darin zur Erscheinung von Da-sein und Onta zur Verfügung stellen. Deren lebendige Bestimmtheit als »Erfahrung« erfordert als konkrete Gegebenheit eine zusätzliche UrPhänomenalität, wie sie mit dem Ur-Fleisch im Erst-Lebendigen verwirklicht wird. Denn nur auf diese letztere Weise wird das phänomenologische Erscheinen zu einem Sich-Selbst-Erscheinen, in der jegliches Erscheinen als Erscheinung an sich selbst gegeben wird, um so »Erscheinen von etwas« sein zu können. Die radikal phänomenologische Rezeption des Johannes-Evangeliums besitzt mithin eine grundsätzlich gnoseologische Relevanz, insofern das fleischliche Cogito das innergöttliche wie menschliche Fleisch dergestalt miteinander verbindet, dass jede transzendentale Subjektivitätsleistung, sei es Empfinden oder Weltintentionalität, auf eine ursprüngliche Leiblichkeit in uns zurückgreift. Diese bildet nicht nur die Ermöglichung der konkreten Leib- und Geistvollzüge, sondern bleibt ihrerseits an das Ur-Fleisch Christi als absoluten Anfang jeder Erscheinung in ihrem pathischen Selbsterscheinen zurückverwiesen. In diesem Ur-Fleisch kommt nach Henry das göttliche Leben in sich selbst, und in dieser »Selbstumschlingung« als Ipseisierung gelangt jegliche Potentialität als ein lebendiges Können in sich selbst, so dass mit jedem fleischlichen Cogito die Inkarnation Christi berührt wird, indem sie in der passiblen Selbsterprobung jeglichen affektiv gegründeten Vollzugs konkret vorausgesetzt ist. Dieses zugleich christliche Cogito als fleischliches Cogito beinhaltet dann nicht nur das Heil aller menschlichen Individuen, insofern in ihnen in allem Tun und Denken solch ursprüngliche Inkarnation als die göttlich geburtliche Innerlichkeit bzw. als »Heiligung« und »Vergöttlichung« am Werk ist, sondern durch solche Einheit von subjektiver und christologischer Praxis ist auch die Welt gehalten. 153 In letzter phänomenologischer Konsequenz ist sie nämlich das rein praktische Korrelat unseres Tuns, welches als lebendiges »Ich-kann« an die Er-

153 Für eine damit verbundene Intersubjektivität im Rahmen des »mystischen Leibes Christi« vgl. M. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 345 ff.; »Sie in mir: eine Phänomenologie« (2001), in: Radikale Religionsphänomenologie, 322–336.

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möglichung jedes handelnden Sich durch die Ipseisierung in Christus als Erst-Lebendigem zurückgebunden ist. Dadurch entfaltet die johanneische Intelligibilität eine ständige Originarität der ur-anfänglichen Zusammengehörigkeit von Gott und Mensch, welche weder ein bloß zusammengesetztes noch ein opakes Verhältnis darstellt. Es ist vielmehr der Einbezug aller Wirklichkeit in eine Selbstgegebenheit unzerstörbarer Verlebendigung, da es in allem Leben und Sein am Werk sein kann, insofern es die Wirkmächtigkeit aller Bewegung als immanent notwendiger Selbstbewegung ist. Das Verständnis der Johannestexte nach Henry bildet daher nicht nur ein Paradigma für eine adäquate Phänomenologie von Welt und Leben, sondern die johanneischen Zeugnisse beinhalten als »Erkenntnis« eine Ur-Erkenntnis, welche als solche Ur-Intelligibilität jedem thematischen oder regionalen Erkennen voraus liegt und darin je inkarnatorisch als Ur-Affizierung wirksam wird: »Alles ist durch das Wort geworden, und ohne das Wort wurde nichts, was geworden ist.« (Joh 1,3) Schließt dieses Ursprungsverhältnis als transzendentale Verlebendigung von allem, was erscheint, jede zu interpretierende Metaphorik aus, dann bilden Wort/Genealogie eine proto-relationale Wirklichkeit. Deren Struktur ist als immanente Verlebendigung jene immemoriable Bewegung, die in jedem Diskurs – sei er philosophisch oder theologisch – hinterschritten wird, um solch originäre Struktur als unmittelbares Wollen oder Begehren des Lebens selbst zu verstehen, das jeden Weltlogos zugunsten einer originären Ur-Affektion aufhebt. Dies lässt sich an der radikal phänomenologischen Analyse der Selbstaussagen Christi weiterhin verdeutlichen.

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II. Lebensphänomenologie und Christologie

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4. Christi Selbstaussagen und Bestimmung des Menschen

Wenn Buddha am Ende aller Versenkungsstufen bei der Erfahrung der bewusstseinsmäßigen Leerheit eines nicht mehr aufheben konnte, so war dies »nur noch die Spur von Bedrückendem, die in dem mit den sechs Sinnen ausgestatteten Körper besteht, weil er noch lebt«. 154 Dieses nicht weiter aufhebbare Leben ist jene absolute Grenze, die im Neuen Testament nicht als ein letztes Hindernis für eine Erlösung oder Erleuchtung angesehen, sondern gerade als jene Weise bekundet wird, wo sich Christus als apriorischer Zugang zu diesem für uns abkünftigen oder göttlichen Leben erweist. Ohne hier einen religionsgeschichtlichen Vergleich anzustreben, können Christi Selbstaussagen im Munde Jesu daher gerade dort ansetzen, wo sich unser Menschsein für uns als selbstgegeben empfinden lässt, um gleichzeitig in der entsprechenden Sprache von seiner absoluten Bedingung als Sohn oder Wort Gottes zu künden. Gibt es keine Autonomie des Lebens im Sinne dieser letzten Gegebenheit für den Menschen, sondern nur eine Immanenz des absoluten Lebens, durch welche wir selbstaffektiv unsere Meta-Genealogie aus Gott erfahren, dann muss diese Situation, sofern sie auch Jesus als Menschen betrifft, auf ihn zurückstrahlen, um gleichzeitig seine göttliche Bedingung als den Erst-Lebendigen erkennen zu lassen. Wir finden also in diesem Zusammenhang eine Art phänomenologischer »Rückfrage« (Heidegger) hinsichtlich der Ursprungsverhältnisse, wenn wir den Ungrund des Lebens in uns verspüren und wie das Neue Testament fragen, woher Jesus als Christus sein Wissen hinsichtlich desselben bezieht, um dessen konkrete Offenbarung sein zu können.

154 Buddhas Reden. Majjhimanikaya. Die Sammlung der mittleren Texte des buddhistischen Pali-Kanons (Übers. K. Schmidt), Reinbek 1992, XIII, 121; vgl. Jahrbuch für Religionsphilosophie 16 (2017): Lebensreligion interreligiös.

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Christi Selbstaussagen und Bestimmung des Menschen

1) Die Ich-Reden Jesu und sein Gottesverhältnis Indem die Seligpreisungen der Bergpredigt die Voraussetzungen angeben, unter denen das Reich Gottes den Menschen zuteil werden kann, nennen sie zugleich auch Christus als denjenigen, der Eintritt zu diesem Reich verschafft: »Selig seid ihr, wenn man euch schmäht und verfolgt und alles mögliche Böse fälschlich wider euch redet um meinetwillen. Freut euch und jubelt, denn euer Lohn ist groß im Himmel!« (Mth 5,11; vgl. Lk 6,22) Es tritt hier eine entscheidende Bestätigung im originären Bestimmungsverhältnis unseres Lebens zu Gott auf, wie wir es bisher bei Johannes, Meister Eckhart und Michel Henry erhoben haben. Es ist uns nicht nur absolut als Kindern Gottes gegeben, sondern Christus selbst ist die Beziehung zu Gott als solche. Damit wird durch Jesu Sprechen nicht nur das neue menschliche Selbstverständnis betont, sondern Christi eigenes Sein als Wort Gottes erweist sich in diesem Sprechen als jene Proto-Relation, durch die der Prozess einsichtig wird, in dem er selbst als der ewig von Gott Gezeugte auftritt und wodurch dann des weiteren die transzendentale Geburt des Menschen im göttlichen Leben gleichfalls ihre Aufklärung erfährt. Denn wenn der Zugang zum Reich Gottes als Gottes eigenem Leben nur »um seinetwillen« – und damit nur durch ihn – möglich ist, dann ist er in der Tat das »Tor zum Leben« selbst, wie das Johannes-Evangelium sagen wird, das heißt die Selbstoffenbarung Gottes als Logos oder Wort innerhalb dieses absoluten Lebensprozesses. Diese wesenhaft göttliche Stellung Christi kommt bei den Synoptikern auch dort zum Ausdruck, wo eine radikale Unterscheidung zwischen ihm und den Menschen zunächst nur angedeutet wird: »Ihr, die ihr böse seid …« (Mth 7,11), bzw. in Bezug auf die Selbsttäuschung beim Handeln, das nicht durch bloße Nennung seines Namens ersetzt werden kann: »Und [beim Jüngsten Gericht] werde ich zu ihnen sagen: Ich habe Euch nicht gekannt.« (Mth 7, 23) Jesus wird also nicht nur von jedem Bösen ausgenommen, was schon einen wesenhaften Unterschied zu uns Menschen anzeigt, sondern unsere Beziehung zu Gott hängt von der Beziehung zu ihm als dem Christus ab: nur um seinetwillen kann das Leben gerettet werden und nicht aufgrund eigener Mühen (Lk 9, 24; Mk 8, 35). Tritt Jesus durch solches Sprechen als entscheidende Instanz innerhalb des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch selbst auf, so wird nicht nur seine radikale Kritik am illusionären Weltbezug verständlich, welcher das originäre 118 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Die Ich-Reden Jesu und sein Gottesverhältnis

Leben den Mitteln unterordnet, sondern Christus beansprucht dann auch mit Recht die entscheidende Rolle im neuen Gemeinschaftsverhältnis unter den Menschen. Mit anderen Worten ist er in beiden Fällen jenes »Tor zum Leben«, das damit dann nur ein Leben meinen kann, welches den Tod nicht kennt, weil es sich in Christus mit Gott selbst identifiziert. Die Möglichkeit, sein Wissen über sich selbst als den ewig von Gott Gezeugten auch von den Menschen ergriffen zu wissen, erhöht sich damit, wenn sie Christus in der reinen Passibilität ihres eigenen Lebens als anwesend erproben können. Denn unser Leben als ein affiziertes oder begehrendes vermag sich nicht in sich selbst zu gründen, sondern es unterliegt dem Hunger und Durst, wie auch Jesus sie kannte. Nun zeigt gerade die bekannte Begegnung Jesu mit einer Frau aus Samaria am Jakobsbrunnen, dass jeder Durst beim Menschen der Wiederholung unterliegt, während Jesus als Erst-Lebendiger jenes Wasser zu geben vermag, »bei dem einem nicht mehr dürstet« (Joh 4,9–13). Damit weiß er menschlich zutiefst um unser Begehren als Streben, wie Meister Eckhart es nannte, und ist gleichzeitig derjenige in seiner göttlichen Natur, der dieses menschliche Leben in seine ewige Lebensrealität hineinnehmen kann, um es der tödlichen Zerstörung in jeder Hinsicht zu entziehen. Dass Jesus als Christus nicht nur beim Evangelisten Johannes diese Stellung innehat, sondern auch bei den Synoptikern, zeigen jene Aussagen, die sein gemeinsames Wirken mit dem Vater offenbaren, welches gegenseitiges Erkennen und gleiche Machtfülle einschließt (Mth 11,27; Lk 10,22). Wer daher ihn aufnimmt, nimmt auch den auf, der ihn gesandt hat (Mth 10,40), so dass sein Betreten von Jerusalem zugleich die Heimsuchung dieser Stadt durch Gott selbst bedeutet, auch wenn dies von ihren Bewohnern nicht erkannt wird. Sein Weinen über die Stadt bzw. seine Drohungen gegenüber anderen Orten wie Karphanaum, wo der Messias ebenfalls nicht aufgenommen wurde, zeigen deshalb, dass der Sprechende mit dem Urteil Gottes vertraut ist (Lk 19,41–44), wohinter sich aber eine noch grundsätzlichere Selbstaussage verbirgt. Denn wenn man Jesus nur folgen kann, indem man ihn nicht bloß den familiären Verhältnissen vorzieht, sondern »sogar seinem eigenen Leben« (Lk 14,26), dann kann dies originär nur beinhalten, dass allein sein Leben in letzter Hinsicht aus mir einen Lebendigen macht. Und dem entspricht ein gleiches abgründiges Verhältnis in allen anderen Menschen als »Kindern Gottes«, so dass er als der »Dienende« in unserer Mitte ist (Lk 22,26 f.). Wiederum handelt es sich hierbei um 119 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Christi Selbstaussagen und Bestimmung des Menschen

kein bloß ethisches Vorbild, das nur zur Lebensführung aufgestellt würde, sondern um eine radikal phänomenologische Aussage. Sein »Dienst«, welcher keiner Funktion in der Welt korrespondiert, ist die Gebung des Lebens als solche, der in ihm die göttliche Selbstgebung dieses Lebens entspricht und in uns eine transzendentale Geburt bildet. Nur kraft solcher ontologischen Vollmacht kann Jesus in der Sprache der Menschen denselben eine Bestimmung verkünden, die anders als jede Bestimmung durch die Welt ist. Die Berufungen in seine Nachfolge, welche radikale Trennung von Haus und Habe voraussetzen, brechen daher mit allen gesellschaftlichen oder bisherigen religiösen Vorschriften, wie Tote begraben oder Abschied von den Seinen zu nehmen (Lk 9, 57–62). Unser heutiges Verständnis von der Relativität der Gesetze im Allgemeinen lässt nur noch schwach erahnen, wie solches Herausrufen aus den vertrauten Ordnungen einen Bruch mit der Lebenswelt schlechthin beinhaltete, so dass die Radikalität solcher Forderungen Jesus prinzipiell aus der Situation der Sünder wie Gesetzestreuen heraushebt: »Hier ist mehr als der Tempel, und mehr als Jonas und Salomon! Der Menschensohn ist Herr des Sabbats!« (Mth 12,6–8; Lk 11,29–32) Dass auf solche Selbstaussagen hin, die Jesus ebenfalls über die Propheten Elias und Johannes den Täufer erheben (Mth 16,13–20; Mk 8,27–30), bei den religiösen Autoritäten die Anklage auf Blasphemie folgen musste, wie es besonders die Verhandlungen vor dem Hohenrat zeigen, wo Jesus seine Stellung als »Sohn Gottes« öffentlich bekundet (Mth 26,59–64; Mk 15,1–39; Lk 22,66–70), ist offensichtlich. Und wenn Jesus dabei jeweils darauf hinweist, dass der ihn Fragende diesen Titel selbst ausspricht, dann besteht gerade in dieser Übereinstimmung zwischen ersterem und ihm selbst die gemeinsame Identifikation mit der Macht Gottes selber, welche mit einem solchen Titel verbunden war. Ohne dieses gemeinsame Verständnis der Selbstaussage Jesu wäre es nicht möglich gewesen, einerseits sein Sprechen über sich selbst zu artikulieren und andererseits die Menschen zum Umdenken in allen Verhältnissen anzuleiten. Nämlich zu einer Veränderung hinsichtlich ihrer selbst und des Bezugs zu anderen sowie zur Welt und in Bezug auf Gott, wobei jedes Mal eine andere Genealogie als die von den Menschen hypostasierte welthafte Herkunft im Mittelpunkt steht. Die menschliche Erfahrung in ihrer paradoxen Entsprechung zur Wahrheit Christi ließe sich daher durchaus als eine Apologie des Christentums im Sinne Pascals durchführen, wobei die heutige le120 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Die Ich-Reden Jesu und sein Gottesverhältnis

bensweltliche Erfahrung und das zunehmende Vergessen der Worte Christi ebenfalls in einem nicht zu übersehenden Verhältnis zueinander stehen. Das heißt nahezu ausschließliche Überantwortung der menschlichen Natur an die Faktizität des Materiellen in Wissenschaft, Technik und Konsum; Zunahme der weltweiten Rivalitäten bezüglich dieser materiellen Güter sowie die damit verbundenen ideologisch moralischen Pseudorechtfertigungen. Aber so begründet ein solcher Versuch auch wäre, im letzten muss er auf das hören, was Christus in eigener Vollmacht von sich selbst direkt aussagt, wie wir es teilweise schon angedeutet und hier genauer zu verfolgen haben. Dabei sind entsprechende Selbstaussagen für den Menschen naturgemäß mit der Frage verbunden, mit welchem Recht Christus diese von sich behaupten konnte. Unter den Zuhörern tritt daher eine deutliche Spaltung ein, denn die Priester, Schriftgelehrten usw. lehnen ihn mit wenigen Ausnahmen ab, während die meist einfachen Leute ihm folgen. 155 Ein herausragendes Zeugnis ist in dieser Hinsicht die Heilung des Blindgeborenen Joh 9,8–34. Die Spannung zwischen den Schriftgelehrten und dem Geheilten, der sich zugleich als ein Jünger Jesu ausgibt, macht den tieferen Konflikt zwischen ihnen und Jesus deutlich, da er sich über das Sabbatgebot – und damit über die religiöse Ordnung überhaupt – erhebt. Bei den Synoptikern taucht die Autoritätsfrage gleichfalls auf, und als die Priester und Ältesten nicht antworten wollen, ob die Predigt durch Johannes den Täufer »von den Menschen oder von Gott« sei, antwortet Jesus seinerseits: »Auch ich werde euch nicht sagen, kraft welcher Autorität ich dies tue.« (Mth 21,23–27; Mk 11,27–33; Lk 20,8) Eine ähnliche Situation wiederholt sich bei der Ehebrecherin, nach deren Verurteilung durch Steinigung schließlich keiner der Anwesenden den ersten Stein zu werfen wagt, weil niemand unschuldig ist (Joh 7,3–11). Dass Moses ein solches Gesetz erlassen hat, ist jener Tatsache unterzuordnen, dass Jesus als Christus die Sünden vergeben kann und zeigt damit nicht nur eine Leerstelle im religiösen System Israels auf, sondern beinhaltet vielmehr die Macht, etwas in seinen Folgen ungeschehen zu machen, was gewesen ist, letztlich überhaupt die Macht, Leben anstelle von Tod zu setzen. Diese noch verhüllte Machtausstattung Jesu mit den Vollmachten Gottes selbst zeigt sich sodann in einer Vorwegnahme seines Todes im Gleichnis vom Wein155 Über die verschiedenen Gruppen zur Zeit Jesu wie Sadduzäer, Zeloten, Pharisäer, Essener usw. vgl. E. Lohse, Umwelt des Neuen Testaments, Göttingen 31974, 51–85.

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Christi Selbstaussagen und Bestimmung des Menschen

bergbesitzer, der am Schluss seinen eigenen Sohn schickt, um das ihm Zukommende an Pachtzins einzufordern. Der Satz: »Ergreifen wir ihn und lasst uns ihn töten, damit wir das Erbe besitzen« (Mth 21,33–40), ist in seiner Dramatik eine Darstellung des Gottesmordes durch die Menschen schlechthin, um sich das freie Walten über die Welt als den sich selbst zugesprochenen Besitz zu garantieren. Dieser Text ist ein grundsätzlicher Hinweis darauf, dass alle historisch darauf folgenden Legalismen und Humanismen in ihrer Selbstrechtfertigung nicht nur den Anspruch der Worte Jesu verkennen, der von Gott Gesandte zu sein, sondern sich letztlich Gott selbst substituieren. In dieser Hinsicht kommt folglich den Selbstaussagen Jesu über seine Person eine phänomenologisch strukturelle Klärung der Gottesproblematik zu, anders gesagt erfolgt eine Klärung, welche Stellung Christus im innergöttlichen Prozess als Erst-Lebendiger selbst innehat. Hierbei ist ohne Zweifel das Johannes-Evangelium am weitesten gegangen, wie wir schon hervorhoben, denn in den christologischen Berichten und Ich-bin-Reden Jesu wird nicht nur die Zuspitzung des dramatischen Konflikts mit den religiösen Führern des Volkes Israels in ihrer ganzen Tragik gezeigt, sondern der Verfasser versetzt sich selber in die Bewegung der Selbstaussagen Christi als solche, um von deren Innerstem her die Behauptung der Gottessohnschaft einsichtig zu machen. Eine unverkennbare Affinität des Johannes-Evangeliums mit der lebensphänomenologischen Reduktion ergibt sich dadurch, dass allein die reine Selbstgegebenheit der Offenbarung oder Parusie Gottes in seinen Worten letztlich Aufschluss über das erwähnte innere Verhältnis zu Gott bei den Selbstaussagen Christi gewährt. Die letzte Rechtfertigung der göttlichen Stellung Christi als Ur-Sohn bzw. Erst-Lebendiger kann nur durch Gottes Wort selber geschehen, welches in seiner originären Wahrheit erprobt wird – bis dahin bleiben wir auf das menschliche Sprechen angewiesen, dessen sich auch Jesus bedient. Unser folgendes Kapitel über die Fleischwerdung des Logos wird eine notwendige Ergänzung der Wahrheit dieses Ursprungsverhältnisses bieten. Philosophisch betrachtet bewegt sich die Argumentation der Schriftgelehrten in einem Zirkel, denn wenn Jesus nur ein Mensch ist, was den Gegenstand der Auseinandersetzung darstellt, dann muss er seine Identität durch Nachweis von Eltern und Geburtsort bestätigen und kann nicht für sich selbst zeugen (Joh 7,27; 8,13; 10,33). Das Gesetz des Alten Testaments bewegt sich damit nur innerhalb von 122 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Die Ich-Reden Jesu und sein Gottesverhältnis

Weltkriterien und vermag keine Anwendung auf denjenigen zu finden, der anderer Herkunft ist, das heißt, Gott zu seinem Vater hat, der allein für ihn zeugt. Wie im allgemeinen Verständnis gegeben, können also auch die Schriftgelehrten und Priester das Leben nur von der Welt her verstehen, weshalb die Worte Christi jedes Zeugnis dieser Art einer scharfen Kritik unterziehen, um mit dem Abweis ihrer begrenzten Sichtweise auf die Tatsache zu verweisen, dass er als Sohn des lebendigen Gottes kein Zeugnis seitens eines Menschen zu empfangen hat (Joh 5,34; 8,14 f.). Denn in der Welt ist jedes Zeugnis ein potentiell falsches, und deshalb verlangt auch das Gesetz der Schriftgelehrten den Beweis durch mehrere Zeugen gleichzeitig. Aber schon bei unserer eigenen Lebensabkünftigkeit als transzendentaler Geburt sind wir nicht auf solche äußeren Zeugnisse angewiesen – um wie viel weniger also kann sich das lebendige Wort Gottes als Ur-Sohn jenem genannten Zirkel zwischen Wahrheit und Bezeugung von außen unterwerfen! 156 Zeugt mithin Christus für sich selbst, weil es letztlich kein weltliches Zeugnis für ihn gibt, dann zeugt zugleich jener für ihn, der ihn gesandt hat: »Ihr habt weder seine Stimme gehört noch seine Gestalt je gesehen, und auch sein Wort bleibt nicht in euch, weil ihr dem nicht glaubt, den er gesandt hat.« (Joh 5,36 f.) Das Johannes-Evangelium greift also nicht nur die innerste Intention der Predigt Jesu auf, indem es sich an jene Stelle versetzt, von der her Christus selbst spricht, sondern nach dem Bericht dieses Evangeliums werden die religiösen Vertreter Israels – über ihre Unfähigkeit hinaus, Jesus antworten zu können – zur Verneinung Gottes selbst getrieben. Die Tragik und Schwere dieser Verkennung leuchtet dann ganz ein, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es für die transzendentale Lebendigkeit unser aller nur ein Zeugnis zu geben vermag – eben jene göttliche Meta-Genealogie, die alle Menschen umfasst. Infolgedessen verquickt sich hier die Problematik der Selbstaussagen Christi mit unserem meist einseitigen Verständnis von Sprache als einem »Wort der Welt«, womit sich zugleich die Frage zweier Erscheinensweisen auftut, die wir schon in den Kapiteln zuvor analysierten. Jene Manifestation, die sich auf den alleinigen phänomenologischen Zusammenhang von Erscheinung und Außenheit stützt und so das Wort in Sagen und Gesagtes trennt, sowie eine andere 156 Vgl. M. Henry, Christi Worte. Eine Phänomenologie der Sprache und Offenbarung, Freiburg / München 2010, 78 ff.

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Christi Selbstaussagen und Bestimmung des Menschen

Phänomenalisierung, die eine Selbstoffenbarung des Lebens kennt und an sich im Judenchristentum den Weg eines anderen Verständnisses vom Erscheinen des Lebens eröffnet hat als das griechische Denken. Denn sowohl im Alten wie im Neuen Testament wendet sich das lebendige Wort Gottes an den Menschen, so dass dessen Natur als originäre Beziehung zu Gott in diesem Wort selbst besteht, wie es der schon früher erwähnte Schöpfungsbericht der Genesis zeigt, indem alles durch das Wort Gottes geschaffen wird. Dieses Wortsein Gottes ist dann im Neuen Testament, besonders bei Johannes, mit Christus als dem fleischgewordenen Sohn Gottes selbst identisch, womit sich nicht nur eine neue Form des Hörens dieses Wortes ergibt, sondern eben auch die Bestätigung seiner Selbstoffenbarung als originärem Leben. Dieses impliziert im Unterschied zu Gesetz und Denken eine Unmittelbarkeit unseres Gottesverhältnisses, nämlich die phänomenologisch absolute Selbsterprobung dieses Lebens Gottes in uns selbst, sofern wir niemals die Erfahrung haben können, dieses Leben von uns aus geschaffen zu haben. Wie aber kann ein Leben leben, welches nicht aus sich selbst heraus das Vermögen besitzt, zu leben, und zwar in allem, was es tut? Genau auf diese Frage wird der Johannesprolog antworten, wie wir sahen, worin Christus als der ErstLebendige in Gott dargestellt wird, in dem alle das Leben besitzen, welches sie mit Gott eint. Diese Ungeschaffenheit des Lebens ist es, die sich als Grundgewissheit durch die gesamte Heilige Schrift zieht und von Jesus im Neuen Testament durch seine göttlich-menschliche Person bestätigt wird, um sie als Selbstoffenbarung Gottes in jedem Lebendigen definitiv zu wecken und zu festigen. Damit wird die alttestamentliche Auffassung vom Menschen als »Ebenbild Gottes« (Gen 1,26) vollendet, indem der Mensch seine wesenhafte Natur keineswegs in einem sichtbaren Außer-sich besitzt, wie dies zumeist in der abendländischen Denktradition bis in ein ausschließlich transzendentes Gottesbild hinein festgeschrieben wurde, sondern die transzendentale Natur des Menschen ruht in einem radikal immanenten Bezug zu Gott. Und diese Immanenz ist es, die sich durch die Selbstaussagen Christi im Neuen Testament als unser Sohnsein im Sohn nach Paulus erweist, denn als der Zugang zum Leben ist Christus dieses Leben Gottes in uns, sofern wir das Leben als nicht von uns selbst begründet erproben. Der wesenhafte Unterschied zum Weltsein als dem phänomenologischen Ausdruck aller Außenheit, sei es Gesetz, Zeugnis, Wissen usw., bildet daher die kritische Seite der Predigt Jesu, um auf 124 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

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das innerste Anliegen seiner Worte hinzulenken, welche sich in allen Bezügen als die fleischgewordene Mitte derselben erweisen. Das heißt im Vater-Sohn-Verhältnis sowie in unserem Bezug zu Gott, zum Nächsten, zu uns selbst und auch zur Welt, sofern die Inkarnation die Wirklichkeit all dieser Relationen bildet, nämlich strukturell bestimmt zu sein durch die materiale Verknüpfung von Leben/Fleisch seit dem »Anfang bei Gott« (Joh 1,1). Sagt Christus daher, er komme von Gott (Joh 8,42), so meint dieses Gesandtsein (4,34; 5,4 u. ö.) nicht nur, dass sein göttlicher Ursprung ein bloßer Ausgangspunkt wäre, von dem sich seine Existenz trennen könnte, sondern dieser Ursprung als Reich des Vaters, als Himmel oder absoluter Anfang ist seine ursprüngliche Weise innerhalb der lebendig göttlichen Selbstzeugung. Deshalb benötigt er kein anderes Zeugnis als das »Wort des Lebens«, welches er auf gleiche Weise wie Gott selber ist, so dass hierin das eigentliche Zeugnis beruht (Joh 8,18.26). Christus vermag daher die Wahrheit nur als Selbstoffenbarung Gottes zu sagen, weil er deren Wirklichkeit – und somit Wahrheit – selbst ist. Demzufolge vermag auch sein Sprechen zu uns Menschen nichts anderes zu sein als die Wahrheit dieser Selbstoffenbarung Gottes, die wir in der absoluten Selbstaffektion des Lebens in uns erproben. Das heißt als jene radikale Passibilität, welche der Sohn Gottes als fleischgewordenes Wort sowohl seit seinem zeitlosen Anfang in Gott ist, sowie in seiner Passion und Auferstehung, worin sich unser Heil als Leben gründet. Was Christus also verkündet, kann nichts anderes als das Leben dessen sein, der ihn sendet, denn von diesem hat er alles, was er besitzt (Joh 8,16). Darauf beruht ebenfalls sein Urteil, welches mit dem Willen Gottes identisch ist (5,30), so dass der, »wer den Willen Gottes tut«, auch weiß, ob »diese Lehre von Gott stammt oder nicht« (7,17). Die Einheit des Willens und Handelns Jesu mit Gott, die ebenfalls für die Menschen gilt, welche diese Einheit durch die Selbstgebung des Lebens in sich tragen, führt in den Selbstaussagen Christi schließlich dazu, dass er nicht nur die Übereinstimmung seiner Botschaft mit dem Wissen und Wollen Gottes betont, sondern auch die Heilswirklichkeit, wie sie sich durch das Verhältnis zwischen Vater und Sohn ergibt: »Wer meine Worte nur hört und sie nicht befolgt, den richte nicht ich, denn ich bin nicht gekommen, um die Welt zu richten, sondern um sie zu retten […]. Und ich weiß, dass [Gottes] Auftrag ewiges Leben ist. Was ich also sage, sage ich so, wie es mir der Vater gesagt hat.« (Joh 12,47–50). Die Identität seines Wortes mit 125 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

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dem Wort Gottes beinhaltet also Christi Identität mit Gott schlechthin, so dass seine Selbstaussagen zugleich Wesensaussagen über Gott im Sinne seiner lebendigen Selbstoffenbarung bilden. Diese Einheit, welche ebenfalls von den Synoptikern durchgehend unterstrichen wird, gewinnt bei Johannes allerdings die schon öfters von uns angeführte Struktur einer gegenseitigen Innerlichkeit zwischen Vater und Sohn, 157 wie es beispielsweise sehr klar das Gespräch Jesu mit Philippus zeigt: »Weißt du nicht, dass ich im Vater bin und der Vater in mir ist?« (Joh 17,21 ff.) Und in dieser Hinsicht lässt sich sagen, dass das Johannes-Evangelium, welches in seiner Substanz wohl auf Jesu Sprechen aus den letzten Monaten seiner irdischen Existenz zurückgeht, das innere Sprechen zwischen Vater und Sohn selbst aufgreift. Der Prolog bildet dazu den Auftakt wie die Zusammenfassung, um zugleich den Übergang zwischen der alttestamentlichen Genesis und der neutestamentlichen Meta-Genealogie aus Gottes Leben zu kennzeichnen. Und dieses Verhältnis der gegenseitigen Innerlichkeit zwischen Vater und Sohn schließt dann konsequenterweise jede Welt im Sinne der Außenheit als eines distanzierten Wissens aus, denn »du hast mich schon geliebt vor der Erschaffung der Welt« (Joh 17,24). Die Selbstaussagen Christi finden somit ihren Höhepunkt nicht nur als Selbstoffenbarung Gottes, sondern sie sagen darüber hinaus, dass letztere in einer Innerlichkeit gegenseitiger Liebe besteht, welche die Freude des einen im anderen ist. Und weil dieses ursprünglichste aller Verhältnisse als Proto-Relation zugleich in der Selbstzeugung des göttlichen Lebens in sich selbst durch sich selbst besteht, hat Christus Anteil an dieser Selbstgebung des Lebens und vermag sie als Erst-Lebendiger allen Lebendigen mitzuteilen. Die Selbstrechtfertigung der Worte Jesu kann deshalb nirgendwo anders gesucht werden als in dieser immanenten Wahrheit, die er selbst ist, weshalb ein Sprechen darüber in der Welt immer problematisch bleibt, da es eine Trennung zwischen Sagen und Gesagtem, zwischen Offenbarungsinhalt und Offenbarungsakt einführt, welche es in Christus selbst nicht zu geben vermag. Denn wie auch Meister Eckhart unterstrich, fallen Gezeugtsein und Wortsein als die Offenbarung Gottes selbst zusammen. Dieses Ausscheiden aller korrelativen Konstitution, wie sie unserem Wissen prinzipiell eignet, sei es naiv, wissenschaftlich oder philosophisch, ist folglich eine notwendige Bedingung, um 157 Vgl. M. Henry, »Ich bin die Wahrheit«. Für eine Philosophie des Christentums, Freiburg / München 1997, 98 ff.

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Die Stellung des Menschen in Jesu Sprechen

Gottes Wort als solches zu vernehmen, wobei dieses Hören dem durch nichts unterbrochenen Leben in uns als unserer transzendentalen Geburt entspricht. Ist Christus dieses Wort, dann zielen die Selbstaussagen Christi letztlich darauf ab, dass es keine andere praktische Erkenntnis von Gott gibt als jene, die er von sich selbst als Wort Gottes besitzt. Und insofern wir »aus Gott geboren« sind (Joh 1,13), kann dann auch unsere Gewissheit keine andere sein als die Erkenntnis Gottes in Christus – die der Selbstoffenbarung des absoluten Lebens in seiner ewigen Selbstgebung. Es bedarf dann in der Tat keiner anderen Zeugen mehr, wenn dieses Leben selbst das Zeugnis ist, welches es sich in seiner inneren Selbstübereignung gegenseitiger Innerlichkeit gibt.

2) Die Stellung des Menschen in Jesu Sprechen Mit dem bisher Ausgeführten stoßen wir erneut auf die seit Beginn unterstrichene fundamentale Tatsache, welche nicht nur den je bleibenden Unterschied zwischen dem Sagen und dem Gesagten verdeutlicht. Vielmehr tut sich aufgrund des johanneischen wie phänomenologischen Eigenwesens des »Wortes des Lebens« ein abgrundtiefer Mangel des gewöhnlichen Sprachverständnisses überhaupt auf. Wenn nämlich Christus von sich selbst als inkarniertem Wort Gottes in einer Sprache reden sollte, die von keiner Sprachphilosophie oder Hermeneutik prinzipiell aufgrund ihres wissenschaftlichen Anspruchs verstanden werden könnte, weil Gott als zeitloses Leben allein in und durch seinen Sohn spricht, dann wüsste gerade die wissenschaftliche Sprache nichts von dem, wie Gott zu uns spricht. Deshalb müssen wir auf die Weise eingehen, welche Jesus benutzte, um als Mensch zu Menschen zu sprechen. Dadurch ist vertieft einsichtig zu machen, dass der zweifachen Natur in der einen Person des fleischgewordenen Wortes Gottes auch eine zweifache Art und Weise seines Sprechens korrespondiert, wie es mit der Unterscheidung von »Wort der Welt« und »Wort des Lebens« gemäß Henry bereits erkannt wurde. Wenn die Reden Jesu im Neuen Testament im Verlauf der Wanderstationen durch Galiläa, Judäa und Samaria bis hinauf nach Jerusalem immer mehr das Geheimnis seines Messiastums als »Menschensohn« oder »Sohn Gottes« durchscheinen lassen, um besonders im Johannes-Evangelium in seinen Selbstaussagen ihren Höhepunkt 127 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Christi Selbstaussagen und Bestimmung des Menschen

zu erreichen, ohne bei den Synoptikern Markus, Matthäus und Lukas ganz abwesend zu sein, dann stellt sich die Frage: Wie konnten die Menschen solche Aussagen verstehen, die in den Augen eines weltlichen und religiös einseitigen Verstehens nur Blasphemie als vernichtendes Urteil zuließen? Und in der Tat haben gerade diese Aussagen über seine Person vor dem Hohenrat und vor Pilatus Jesus den schändlichen Kreuzestod eingebracht, während er seine Originarität als Erst-Lebendiger zuvor hütete und auch im Jüngerkreis nur nach und nach preisgab. Die Selbstaussagen über sein Leben als Sohn Gottes stehen in der menschlichen Ideengeschichte ohne Vergleich da und haben deshalb in gewisser Hinsicht auch Aufnahme in die Philosophie gefunden, aber ihre Abblendung auf eine autonome Ethik bei Kant bzw. auf eine absolut idealistische Bestimmung des Bewusstseinslebens 158 lassen die Problematik unbeantwortet, ob nicht bereits jeder wissen muss, wer Gott sei, um zu verstehen, wie er zu uns ohne ihm fremde Vorbedingungen spricht? Und dies gilt gerade für die »Einfachen und Kleinen«, die sich kein besonderes Wissen zutrauen, so dass wir auch schlichter fragen können: Wie lässt sich Gott in jener uns eigenen Sprache verstehen, die an keine weitere theoretische Vermittlung gebunden sein darf, weil sonst Gottes Selbstzeugung in Christus einer stets anzweifelbaren Kette von äußeren Bezeugungen ausgeliefert wäre? Die Predigtweise Jesu kann daher nicht nur einem historischen oder theologischen Blick unterliegen, sondern sie ist originärer Natur, das heißt für die Phänomenologie von transzendentaler Bedeutsamkeit, ohne sich dadurch der konkreten Alltäglichkeit zu entfernen, weil das »Wort des Lebens« gerade diese Alltäglichkeit in ihrem Wesen und in ihrer immanenten Wiederholung aufgrund unseres Begehrens betrifft. Jedes Sagen beinhaltet einen Anspruch auf Wahrheit, aber Christi Anspruch ist eben nicht nur, die Übermittlung einer wahren göttlichen Offenbarung darzustellen, sondern vielmehr diese selbst in ihrer göttlichen Wirklichkeit zu sein, damit sie als solche ergriffen werde. Dass er für ein solches Verständnis zunächst die Alltäglichkeit seiner zumeist aramäisch sprechenden Zuhörer aufgreift, die wesentlich religiös, das heißt vom jüdischen Gesetz geprägt waren, führt bereits auf eine lebensphänomenologisch relevante Grundfeststellung aus dem Munde Jesu zu Beginn seiner Predigt158 Vgl. X. Tilliette, Le Christ de la philosophie. Prolégomènes à une christologie philosophique, Paris 1990, 45 ff.

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Die Stellung des Menschen in Jesu Sprechen

tätigkeit: Todschlag, Ehebruch, falsches Zeugnis usw. »kommen aus dem Herzen« und machen den Menschen »unrein«, während Essen ohne vorherige Waschungen den Menschen nicht »verunreinigt« (Mth 15,11–20). Damit wird nicht nur ein rituell lebensweltlicher Konformismus für die menschliche Grundfrage nach dem Bösen als irrelevant erklärt, sondern es findet darüber hinaus eine wesenhafte Trennung zwischen dem Sein des Universums und dem lebendigen Inneren des Menschen schlechthin statt. Alles Materielle ist in seinem Prinzip unschuldig, weil es nicht empfinden kann, während das damit unvergleichbare Leben der Menschen darin besteht, in seiner Affektivität das Bedürfen sowie Versuchungen zu kennen, welche ihn dem Bösen geneigt machen können. Dass Jesus hier nicht im Rahmen eines anachronistischen Weltbildes spricht, welches die Entmythologisierungskritik unter anderem bei Rudolf Bultmann überholen wollte, zeigt seine Bestimmung des Lebens, das »mehr wert ist als die Nahrung«, so wie »der Leib mehr als die Kleidung darstellt« (Mth 6, 25–34). Dieser Lebensbegriff hat allerdings auch nichts gemein mit dem modernen biologischen Verständnis, welches Leben und Leib unter dem Blick wissenschaftlicher Methodik als eine objektivierte Wirklichkeit diagnostiziert, um so jenem »Äußeren« zu entsprechen, welches auch der Evangelist Markus nennt, wenn er schreibt, dass »nichts von außen Kommendes den Menschen unrein macht« (7,14). Diese Unterscheidung zwischen den Dingen oder dem Universum und dem Menschen als lebendigem Wesen erfährt insgesamt durch Jesus vielmehr eine Bestimmung, die grundlegend für seinen Gedanken vom »Reich Gottes« und sodann für die »Kindschaft« des Menschen in Gott ist. Denn wenn es heißt, »sich keine Sorgen um den morgigen Tag zu machen«, weil schon die Lilien des Feldes in all ihrer Schönheit Salomon »in dessen Pracht« überträfen (Mth 6,29 ff.), dann erhält das Leben dadurch eine Dimension zugesprochen, die gerade die gewöhnliche Einschätzung von Welt und Mensch umkehrt. Anstatt das sichtbare Äußere der Dinge zum Maßstab des Lebens zu erheben, an welchen sich Wissenschaft wie Sorge verlieren, kehrt Jesus die Hierarchie der Werte und Erscheinungsweisen um und deklariert in kategorischer Weise: »Seid ihr nicht viel mehr als sie?« (Mth 6,28) Diese Aussage ist inzwischen nicht einfach zu verstehen, denn zum Vergleich kann weder das heutige wissenschaftliche Menschenbild herangezogen werden noch die traditionelle griechische Bestimmung des Menschen als vernünftiges und sprachbegabtes oder auch als politisches Wesen. Das erstere Wis129 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

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sen gleicht den Menschen in all seinem Erscheinen der mathematisch physikalischen Welterklärung letztlich an, so wie das zweite philosophische Wissen gerade im Leben wie im Leib eine zu überwindende Realität erblickte, um sich etwa im Sinne Platons oder bei Aristoteles einem ewig unveränderlichen – und damit empfindungsfreien – Urbild des Göttlichen intuitiv anzugleichen. Beiden Entwertungen des lebendigen Menschseins steht Jesu Sprechen vom fühlenden Inneren des »Herzens« und dessen göttlichem Ursprung von Vornherein gegenüber, so dass hier jene radikale Unterscheidung getroffen wird, die prinzipiell zwischen dem Sichtbaren der Welt und dem Unsichtbaren des Lebens besteht. Wir haben das phänomenologische Wesen der welthaften Sichtbarkeit bereits als den Horizont des Außer-sich oder der Distanz kennen gelernt, so dass diese Lichthaftigkeit des Sichtbarkeitshorizonts mit dem übereinstimmt, was die Synoptiker die »Pracht der Welt« nennen oder Johannes dann als »Finsternis« betitelt (1,5). Dies ist kein Gegensatz, weil sich das eine wie das andere von jenem anders gewerteten Ursprung absetzt, welcher die »Herrlichkeit Gottes« im fleischgewordenen Christus als dem Erst-Lebendigen bildet. Insofern der Mensch jedoch durch sein rein immanentes Leben diesem Reich des in sich unsichtbaren Lebens angehört, welches mit der Offenbarung Gottes als seinem Reich oder mit dem Wortsein Christi identisch ist, wird also durch Jesu Sprechen das originäre Leben in seiner inneren Offenbarungsstruktur als reines Empfinden bzw. als affektives Fleisch in den Mittelpunkt seiner Predigt gestellt. Um nämlich auf diese Weise eine Umkehr bei den Zuhörern zu erreichen, die unmittelbar eine solche Wirklichkeit in sich selbst erkennen können, wenn sie dem unmittelbar inneren Wissen um die reine Lebensabkünftigkeit stattgeben. 159 Dieser weitergeführten Annäherung zwischen einer radikal phänomenologischen Lebensanalyse und der Sprechintention Jesu korrespondiert ein weiterer Befund, welcher die leibliche Praxis des Menschen überhaupt betrifft. Erwähnt sei dazu das heuchlerische Verhalten bei Beten und Fasten auf öffentlichen Plätzen (Mth 6,1– 18), welches aber paradigmatisch für alle menschlichen Handlungen gilt. Was nämlich in der Welt von unserer Leiblichkeit als Bewegung, Geste und Effekt sichtbar wird und somit den objektiven Körper betrifft, wie er mir selbst und anderen in der Wahrnehmung erscheint, 159

Vgl. M. Henry, Christi Worte, 17 ff.; »Ich bin die Wahrheit«, 133 ff.

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Die Stellung des Menschen in Jesu Sprechen

ist nicht mit seiner transzendentalen Wirktatsächlichkeit identisch, welche die Verlebendigung aller subjektiven Leibvermögen betrifft und phänomenologisch als die immanente Selbstaffektion des Fleisches anzusprechen ist. Das heißt als jene originär unaufkündbare Verbindung, durch die es kein Leben ohne Fleisch und kein Fleisch ohne Leben gibt. Die Außerordentlichkeit der Inkarnationswirklichkeit Christi als einer solchen Faktizität von Leib/Leben beinhaltet genau diesen Prozess als innergöttliche Selbstzeugung, denn schon »im Anfang war das Wort bei Gott« (Joh 1,1 f.). Dabei lässt sich hier festhalten, dass Jesus mit dem Inneren der Handlung keine metaphysisch substanzhafte Hinterwelt meint, sondern jene lebendige Fleischlichkeit, welche die Menschen ursprungsgemäß mit ihm als dem lebendigen, fleischgewordenen Wort Gottes teilen. Könnte man bislang noch vermuten, das Neue Testament enthielte vor allem eine besonders hoch stehende Ethik oder Lebensweisheit, die keine Kompromisse mit äußerlicher Ehre und Anerkennung duldet, so sehen wir vielmehr jetzt, dass Jesu Sprechen an die Menschen, wie wir es sind, sie in ihrem Alltag abholt, um darin die Anwesenheit einer anderen Wirklichkeit evokativ wie provokativ aufzudecken, 160 welche jene Wirklichkeit darstellt, von der er selbst in seinem Innersten lebt. Und es ist diese Redeintention über jeden Moralismus hinaus, die nach und nach noch an Stärke und Deutlichkeit gewinnt, um dann die Menschen ebenso einladend wie direkt mit dem Offenbarungsleben seines inneren Wesens zu konfrontieren: »Wer aber bin ich für die Menschen? Und für euch, meine Jünger?« (Mth 16, 13–20) Wenn jemand so spricht, dass er seine Worte mit seinem innersten Erscheinenswesen und seinem Schicksal selbst verbinden kann, ohne eine Distanz bestehen zu lassen, dann gehören diese Worte einer Dimension an, welche nicht hauptsächlich eine Gemeindetheologie widerspiegelt, sondern seine ursprünglich eigenen Worte. Davon zeugen nicht nur die textuellen Übereinstimmungen bei den Synoptikern und Johannes sowie teilweise auch in den Apostelbriefen und bei den Apostolischen Vätern, sondern sogar noch jene Herrenworte, welche sinngemäß ebenfalls das Thomasevangelium mit gnostischem Hintergrund überliefert, wie zum Beispiel: »Blickt auf den Lebendigen, solange ihr lebt, damit ihr nicht sterbt und ihn zu sehen 160 Vgl. auch schon E. Biser, Theologische Sprachtheorie und Hermeneutik, München 1970, auch wenn hier der Bildcharakter des Wortes noch in den Vordergrund gestellt wird.

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sucht und ihn nicht werdet sehen können!« 161 Damit soll nicht gesagt sein, dass die Auseinandersetzung und Abgrenzung der frühen Christengemeinden von den vielfältigen gnostischen Strömungen keine Notwendigkeit war, um gerade die Inkarnationswirklichkeit ohne jede Abschwächung zum Prüfstein des Glaubens zu machen. Aber die Tatsache, dass Logiensammlungen mit authentischen Worten Jesu vielleicht schon während seiner Predigttätigkeit selbst entstanden und dann in verschiedener Weise nach seinem Tod weiterbearbeitet wurden, kann nicht geleugnet werden, wenn die Wucht der Aussagen Jesu auf seine Hörer beachtet wird, die größer war als jene der anderen jüdischen Lehrer, welche bereits ihrerseits zumeist einen Schreiber in ihrem Gefolge hatten. Mit diesen historischen Hinweisen, welche mehr als eine Wahrscheinlichkeit abgeben, wollen wir hier nur unterstreichen, was sich aus dem uns überlieferten Kanon der neutestamentlichen Schriften ergibt – nämlich ein solches Sprechen Jesu mit innerer Macht und Autorität, das eben von Vornherein mit seinem Wesen identisch ist und zum Verständnis desselben anleitet. Bisher haben wir zwei Punkte zurückbehalten, welche die klare Trennung von Welt und Mensch sowie von innerer und äußerer Handlung betreffen, wobei beides Mal ein Zusammenhang des Lebens oder des »Herzens« mit dem Gott eigenen Leben angedeutet ist. Wäre daher unser leibliches Leben nur in der Wahrnehmung gegeben, mit anderen Worten im veräußernden Horizont der Welt, so wäre für immer ein Verständnis der Worte Jesu unmöglich, sofern sie das absolut affizierende Wesen dieses Lebens im rein phänomenologischen Sinne selbst betreffen. Unser Leben als Leib, phänomenologisch genauer als impressionales oder passibles Fleisch, wäre dann nur in einem Bild oder in einer Vorstellung gegeben, die aus sich selbst heraus keinerlei Offenbarungsmächtigkeit besitzen, da sie als mit dem entäußernden Blick Geschautes für immer eine entwirklichende Distanz aufrechterhielten, in der auch »Gott« – zumal als Vater Jesu »im Himmel« – ein uns Fremder in seinem absoluten Leben bliebe. Aber gerade diese konstitutive Fremdheit, die dem Welterscheinen eignet, will das Sprechen und Handeln Jesu aufheben, indem es aufzeigt und bekundet, dass das »Herz« des Menschen und die Originarität Gottes als das »Verborgene« dieselbe Wesenhaftigkeit in 161 Vgl. A. Guillaumont (Hg.), Evangelium nach Thomas (koptischer Text mit Übersetzung), Leiden 1959, Logion 59.

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Die Stellung des Menschen in Jesu Sprechen

ihrem inneren Selbsterscheinen kennen. Was die Gnosis missverstanden hat und was bis heute unter Weltflucht wie Weltaktivismus missverstanden wird, ist also jene einzigartige Offenbarungswirklichkeit, welche mit unserer transzendentalen Lebendigkeit gegeben ist, um hier Jesu Intention von unserem Leben in und aus Gott mit einem philosophischen Begriff auszudrücken. Deshalb lässt sich noch ein dritter Punkt anführen, welcher sich aus den Worten Christi lebensphänomenologisch ergibt und das Verhältnis von Leiblichkeit und Lebenswelt betrifft. Dieser besonders von Husserl eingeführte Inbegriff für eine unmittelbar erfahrene »natürliche Welt«, auf der alle späteren Abstraktionen im theoretischen Sinne beruhen, 162 verdeutlicht genauer, was ein System menschlicher Gegenseitigkeit genannt werden kann, welches originär auf unseren Empfindungen der Lebenswelt aufbaut, die wir einfühlend miteinander teilen. Diese Einfühlung bringt uns dazu, unsere jeweiligen Gefühle auch bei allen anderen vorauszusetzen, so dass wir von ihnen erwarten, was wir selbst empfinden, um beispielsweise Trauer mit Trauer und Freude mit Freude zu beantworten. Dass wir auch alle Weltkörper, das heißt die sinnlich erfahrbaren Dinge, mit solchen Empfindungsgehalten konstitutiv versehen, unterstreicht des weiteren die originäre Natur unserer sinnlich leiblichen Subjektivität, welche in ihrer reinen Impressionabilität letztlich die apriorische Notwendigkeit für alle Erfahrung ist, sofern diese aus dem originären Leben herrührt. Nun haben wir schon herausgestellt, dass die Rede Jesu einerseits dieses absolute Leben der als Immanenz verstandenen Subjektivität im Sinne der Weise des Lebens in Gott hervorhebt, aber andererseits gerade auch als Quelle des Bösen benennt. Dies wird dann unter Anderen besonders Augustinus aufgreifen, wenn er vom »inneren Geist« und dem »Herzen« als eigentlicher Begegnisstätte mit Gott im Zusammenhang mit dem Gedächtnis spricht, wodurch auch alle »Sünde« an sich an ein gewolltes Gute gebunden bleibt. 163 Es muss also auch nach dem neutestamentlichen Zeugnis der Logien Jesu ein Kriterium geben, wonach »Heil« und »Verdammnis« als die beiden entscheidenden Möglichkeiten des selben subjektiven Lebens im Sinne des empfindenden oder passiblen Fleisches voneinander getrennt werden. 162 Vgl. Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Husserliana VI), Den Haag 21976, 105 ff. 163 Vgl. Bekenntnisse X, 28 ff.; vgl. dazu M. Henry, Inkarnation, 363 ff.

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Der eine, sich gegen die rein lebensweltliche Übereinstimmung abgrenzende Aufruf Jesu besteht darin, die Zugehörigkeit zum Reich Gottes auf alle auszudehnen und nicht nur auf jene zu beschränken, welche uns wiederlieben (Lk 6,32). Sein anderer Aufruf, welchen wir hier im Zusammenhang mit der lebensweltlichen Gegenseitigkeit und deren Legalismen ansprechen müssen, ist die Ablösung des inneren Handelns von jeglichem äußeren Gesetz. Dessen ausschließliche Befolgung führt sonst dazu, dass sich anstelle der absolut subjektiven Selbstaffektion des Lebens, welche durch die reine Lebensabkünftigkeit mit Gott in Einklang steht, eine Selbstgerechtigkeit etabliert, die für immer das originäre Erscheinen des Empfindens und Handelns verkennt, weil sie die Erfüllung eines Gebots über die Fülle und Unmittelbarkeit des Lebens an sich erhebt. Wenn es daher in Bezug auf die Schriftgelehrten und Phärisäer heißt, dass es ihnen unmöglich war, »eine Antwort zu finden«, als Jesus sie frug, ob nicht jeder sein Kind oder sein Vieh auch am Sabbat aus dem Brunnen zöge, wenn es dort hineingestürzt sei (Lk 14,3–7), dann will dies besagen, dass bei jedem Blick auf idealisierte Normen oder Vorstellungen – sei es bei einer äußeren Gesetzeserfüllung oder bei imaginären Projektionen auf ein Böses hin – ein Schein gegen die Wirklichkeit des göttlichen Lebens eingetauscht wird. Denn letzteres macht nicht nur die Offenbarung dieses Lebens an unser Leben in dessen ipseisierter Abkünftigkeit aus, sondern es ist auch originär schon über jedes Gesetz hinaus und lässt entsprechend in jeder Situation – ob Sabbat oder Alltag – dem inneren Ethos des Lebens gemäß handeln: »Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht, und nicht der Mensch für den Sabbat.« (Mk 2,27) Oder auch: »Warum findet ihr nicht schon von selbst das rechte Urteil? Wenn du mit deinem Gegner vor Gericht gehst, bemüh dich noch auf dem Wege, dich mit ihm zu einigen.« (Lk 12,57 f.) Damit ist das Verständnis des Christentums als einer scheinbar moralischen Frage grundsätzlich von den lebendigen Ursprungsverhältnissen her überboten, die Christus sowohl in seinen Ich-Reden wie in seinem Sprechen an die Menschen gegenwärtig sein lässt. Jesus als der messianische »Menschensohn« im biblischen Sinne praktiziert selbst dieses Herauslösen aus starren Verhältnissen, denn er »hat keinen Ort, wohin er sein Haupt zum Ausruhen hinlegen kann«. Dieser Satz, der einem Schriftgelehrten entgegengehalten wird, welcher sein Jünger werden wollte (Mth 8,19 f.), beinhaltet, dass Jesus bei seinen Wanderungen von Dorf zu Dorf, um zu den Menschen zu sprechen, ohne Zweifel in allem als ein Mensch befunden 134 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Die Stellung des Menschen in Jesu Sprechen

wurde – außer der Sünde, wie es der Titel »Menschensohn« als christologischer Titel impliziert. Hat die Sünde keinen Platz in Jesu Selbsterscheinen als Wort Gottes, dann bedeutet dies aber auch, dass er bei aller Übereinstimmung mit der menschlichen Natur dem lebensweltlichen und moralischen System der menschlichen Gegenseitigkeit enthoben war. Denn keinen bewohnten Ort innezuhaben, zeigt an, dass er keinem Bild oder keiner Vorstellung eines naiven oder berechnenden Egoismus unterworfen war, der sich selbst überall voraussetzt, um von überall her auch seine eigene Bestätigung wiederzuerfahren. Wir verstehen jetzt noch besser die radikale Analyse der entscheidenden Selbstaussagen Jesu als Wort Gottes oder Christus. Aber ihr Verständnis kann von jenen Worten eben nicht abgelöst werden, welche die Logik der menschlichen Lebenswelt überhaupt sprengen. Anstatt also Legalismus, Lebensweisheit und Humanismus mittels deren Reform durch eine höhere Ethik fortzusetzen, verfallen all diese Gewohnheiten und Bemühungen einer unerbittlichen Kritik, wodurch Christus eine radikale Veränderung eines jeden als Wiedergeburt anstrebt. Dies heißt im Sinne von Johannes, Meister Eckhart und Henry eine Öffnung auf das unsichtbare Leben Gottes hin, welches den Menschen als Lebendigen bereits originär gegeben ist, aber wie der ausgestreute Samen unter die Dornen oder auf steinigen Boden fiel – um so vergessen zu werden, wie es im Gleichnis vom Sämann lautet (Mth 13,1–23). Christus als der Erst-Lebendige bringt also keineswegs den Frieden der unangefochtenen Verhältnisse in die Welt, sondern die »Entzweiung« selbst unter den Mitgliedern der Familien (Mth 10,34–36), wodurch letztlich jede gesellschaftliche Ordnung in ihrer unmittelbaren Selbstverständlichkeit in Frage gestellt wird. Wie bei der grundsätzlichen Umwertung des Verhältnisses von Welt und Leben, welches nicht der Sorge als Existenzial unterliegen soll, findet auch hier eine solch radikale Wende statt, die nicht nur den Größten oder Befehlenden zum Dienenden macht (Lk 22,24–27), sondern genau die Grundlage aller persönlichen und gesellschaftlichen Daseinssicherungen aufhebt: »Wer sein Leben retten will, wird es verlieren, und wer es meinetwegen verliert, wird es gewinnen.« (Mth 16,25) Was mithin alles übrige trägt und von Jesus bereits als Inneres oder Herz zur Mitte einer möglichen Offenbarung erklärt wurde, erfährt durch diese Aussage eine Deutung, die mehr ist als die Absage an Egoismus und Gesetzesübereinstimmung. Es geht um die transzendentale Bedingung des Lebens als solchem, indem seine originären Modi als 135 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

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Weisen des eigentlichen Erscheinens bestimmt werden, mit anderen Worten als die letztlich in Gott gegebene phänomenologische Wesenhaftigkeit des göttlich Lebendigen als Prozess seiner inneren Selbstzeugung. Mit den schon einmal erwähnten Seligpreisungen der Bergpredigt tritt daher eine andere Logik in die menschlichen Verhältnisse ein – eine andere »Vernunft« sozusagen, welche definitiv das Wesen des Handelns und Denkens in eine unsichtbare Phänomenalisierung hinein verlagert. Sofern die Philosophie sich mit den ihr vertrauten Vermögen reduktiv von der Illusion eines naiven Objektivismus und einer illusionären Ichbestimmung lösen kann, trifft sie hier auf eine noch ältere Wahrheit, die auch die ihre ist, aber nicht selbst hervorzubringen vermag. Sie begegnet nämlich der Struktur des subjektiven Lebens, welches einer immanent affektiven Historialität folgt, wonach die Traurigen, Hungernden, Verfolgten usw. selig genannt, die Reichen hingegen dem Unglück überantwortet werden (Mth 5,5 ff.). Diese andere Logik einer Antithetik, welche unsere Grundbefindlichkeiten in der Polarität von Freude und Schmerz oder Fülle und Armut erfasst, kommt genau der immanenten Struktur des rein phänomenologischen Lebens gleich, welches in seiner reinen Passibilität des Entgegennehmens die absolute Armut unserer anfänglichen Initiative bedeutet – und gerade deshalb die Fülle des sich selbst gebenden Lebens beinhaltet, so wie Rezeptivität und Gebung der Urfaktizität allen Empfindenkönnens im Sinne von ursprünglichem Sichertragen und Sicherfreuen entsprechen. Wenn den zuvor genannten lebensweltlichen und familiären Verhältnissen in ihrer Aufhebung durch Jesu Worte in der Bergpredigt und in anderen entsprechenden Antithesen die Barmherzigkeit entgegengesetzt wird, die keine deduzierbare moralische Kategorie ist, sondern das Wesen des göttlichen Lebens selbst, so wie es sich in seinem fleischgewordenen Wort bekundet, dann markiert solche Barmherzigkeit die innerste Selbstgebung des Lebens. Von ihr sagt Meister Eckhart deshalb: »Gottes Gabe ist völlig einfach und vollkommen ohne Teilung und nicht in der Zeit, immerzu nur in der Ewigkeit.« 164 Alle existierenden wie denkbaren symbolischen Austauschsysteme in zwischenmenschlicher, gesellschaftlicher oder ökonomischer Hinsicht usw. haben jedoch Anteil an der Macht, die sich gegen ein solches Geben sperrt, weil es keine Macht ohne die Illusion geben 164

Deutsche Predigten und Traktate (Hg. J. Quint), München 1979, 174 (Predigt 5).

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kann, sie zu besitzen. Wenn die Bergpredigt ein fundamentaleres Verhältnis benennt, welches in der ursprünglichen Einheit von Geben/ Empfangen beruht, das heißt im Weiterzeugen des Lebens ohne Kalkül, welches dort zur Barmherzigkeit wird, wo es einem Leben am Notwendigen zu seiner Existenz oder zu seiner Entfaltung mangelt, dann ist gerade die Machtillusion als ein Anspruch des Beherrschens über andere Leben von jenem Wort Jesu vor Pilatus in ihrem Kern getroffen, dass es keine Macht gibt, »die nicht von oben gegeben wäre« (Joh 19,11). Damit sind wiederum alle irrigen Verhältnisse, welche auf einer Täuschung hinsichtlich der originären Erscheinensgegebenheiten beruhen, in ihrem ontologischen wie phänomenologischen Prinzip umgekehrt, denn niemand vermag das Leben zu geben, auf dem alle Macht beruht, außer Gott. Da dieses Wort Jesu zudem in der Situation größter eigener menschlicher Ohnmacht gesprochen wird, in der er sich als Angeklagter und von allen Gelästerter befindet, um bald darauf den schändlichen Kreuzestod in äußerster Verlassenheit zu sterben, stehen auch hier Schein und Wirklichkeit in einem anderen Verhältnis zueinander, als es die Wahrnehmung in ihrer äußeren Sichtweise wahrhaben will. Denn so wie Freude und Trauer bei den Seligpreisungen eine immanent historiale Umkehrung erfahren, um das absolut phänomenologische Leben in der ihm eigenen inneren Gesetzmäßigkeit zu beschreiben, so kehrt auch das Wort vor Pilatus die gewöhnlichen Auffassungen von »Leben« um, um dessen unsichtbare Macht in jedem Vermögen oder Können zu klären, welches wir als Lebendige kontinuierlich in Anspruch nehmen. Es geht also hier nicht um eine bloß vordergründige Kritik an politischen Machtstrukturen, seien sie imperialer oder demokratischer Natur, sondern um das Wesen jener Mächtigkeit, welche im sich affizierenden Selbstergreifen aller Vermögen und Leistungen als solchen in transzendentaler Hinsicht liegt, mit anderen Worten um jene Kraft oder Potentialität, die originär aus dem Leben das Leben werden lässt. Wer mit solcher Autorität von der Sache her spricht, die das Leben Gottes selbst ist, der konnte konsequenterweise auch in seinen Selbstaussagen nichts anderes bekunden, als in seinem göttlichen Wesen selbst die Offenbarung dieses Lebens als Erst-Lebendiger zu sein. Da aber die Umwertungen durch die Worte und Taten Jesu keine Revolution des bloßen Umsturzes halber sind, sondern eine erneuerte Gemeinschaftlichkeit intendieren, die der Wiedergeburt originär aus Gott entspricht, so gewinnt schließlich auch die menschliche Struktur der lebensweltlich interessierten Gegenseitigkeit auf der Grundlage 137 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Christi Selbstaussagen und Bestimmung des Menschen

des affektiven Empfindens eine neue ontologische Qualität. Dies bekommt beispielsweise Jacques Derrida in seiner ansonsten berechtigten Kritik am Austauschprinzip eines bloß »zirkulierenden Gebens« nicht in den Blick. 165 Entspricht nämlich die Barmherzigkeit einem Geben, das in gewisser Weise nicht weiß, wem es gibt und wie es gibt, da die rechte Hand nicht weiß, was die linke tut«, und im Empfänger gar nicht Christus vermutet wurde (Mth 6,3), dann taucht damit eine neue Dimension des affektiven Miteinanders auf, welche eine ursprüngliche Gemeinschaftlichkeit in der Liebe des Lebens als solchem begründet. Sie bleibt insofern ebenfalls eine »Gegenseitigkeit«, als niemand der »Kinder Gottes« davon ausgenommen ist, aber es wird nicht mehr gegeben, um Gleiches wiederzuerhalten (Lk 6,75), sondern um das Wesen der Originarität allen Lebens selbst zu bekräftigen. Denn in der Weise unserer transzendentalen Geburt im göttlichen Leben gibt es keine Gegenseitigkeit im strengen Sinne; vielmehr liegt hier die Initiative allein und ausschließlich bei Gott, was seiner Mächtigkeit als Ursprung allen Lebens entspricht. Geben im Sinne der Barmherzigkeit oder der Nächstenliebe kann daher nur bedeuten, dass der »Andere« in der Unsichtbarkeit der Ipseität seines Geborenwerdens in Gott wahrgenommen wird – in seiner reinen Passibilität, die jede äußere Auszeichnung aufhebt, um anstelle menschlicher Genealogien die eine göttlich ur-anfängliche Genealogie zu erkennen, wo in der Tat alle nur »Brüder« und »Schwestern« zu sein vermögen. Dass Christus eine solch neue Gegenseitigkeit errichten kann, die unsere Zugehörigkeit zu geschichtlich anderen Kulturen und Zivilisationen, zu unterschiedlichen Berufen und Erziehungsstilen von je spezifischer Art in sozialer Hinsicht suspendiert, um damit die Motivationen der vielfältigen Formen an Feindschaft, Ressentiment, Hass und intrigenhaften Ambitionen zu zerstören, kann seine Berechtigung nur darin besitzen, dass er selbst ist und gibt, was er verlangt – die fleischgewordene Liebe Gottes. Oder kürzer gesagt, muss er als Erst-Lebendiger die Selbstoffenbarung Gottes in deren innerem Vollzug als solchem sein, der damit als eine unmittelbar lebendige Struktur ohne Metaphorik erprobend zu verstehen ist, wie es unsere gesamte Untersuchung zeigen möchte.

165 Vgl. Falschgeld. Zeit geben I, München 1993; anders M. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 233 ff.

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5. Fleischwerdung des Wortes

Das Verständnis und die Praxis des Christentums steht und fällt, wie bisher aufgewiesen, mit der zentralen Heilsbotschaft von der Inkarnation Christi, wie sich unter anderem an den frühen Ausprägungen des entstehenden Credo erkennen lässt. So beispielsweise in den Ignatiusbriefen vom Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr., wo in Anlehnung an Johannes die Rede ist vom »im Fleische erschienenen Gott […], der nicht zum Schein gelitten hat« und »auch nach der Auferstehung im Fleische ist«. 166 Es ließen sich viele weitere Zeugnisse ähnlicher Art in der Auseinandersetzung mit dem hellenistischen Denken oder auch mit dem jüdischen Monotheismus anführen, wobei gerade das größte Hindernis, sich einen leidensfähigen Gott denken zu können, im Mittelpunkt steht. Dies bezeugt ebenfalls Augustinus noch im 4. Jahrhundert durch seine, von ihm selbst kritisierte Bindung an Manichäismus und Neuplatonismus, wenn er für diese Zeit vor seiner definitiven Konversion zum christlichen Glauben in seinen »Bekenntnissen« gesteht: »Ich hielt es für eine Schande zu glauben, Du hättest die Gestalt eines Menschenleibes und wärest von den Umrissen unserer Körperglieder in Grenzen eingeschlossen […]. So scheute ich mich, an seine Geburt im Fleische zu glauben, um nicht an einen vom Fleische her Befleckten zu glauben.« (V,10) Die Motive der Ablehnung der Inkarnationwirklichkeit Christi umfassen folglich eine Gottes- und Leibvorstellung, die miteinander unversöhnbar erschienen, sofern man philosophisch gemeinhin von einem affektlosen Gott und einer menschlichen Leiblichkeit ausging, die der höheren oder ewigen Substantialität des Geistes nicht entsprechen konnte. Denn aufgrund der animalischen Sinnlichkeit wurden Geist oder Seele nicht mit der Materie in Verbindung gebracht, wie sich dies etwa in der aristotelischen Schrift »De anima« zeigt: »[Der] 166 An die Epheser 5,7; an die Trallianer 9,10; an die Smyrnäer 3,1, in: Die Apostolischen Väter (Hg. J. A. Schmidt), Darmstadt 1958, 147 f., 179 u. 207.

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Fleischwerdung des Wortes

Geist ist abgetrennt, leidensunfähig und unvermischt, da er dem Wesen nach Betätigung ist – denn immer ist das Wirkende ehrwürdiger als das Leidende und der Urgrund als die Materie.« 167

1) Anfänglichkeit als Ipseisierung Wenn gerade diese beiden verneinten Aspekte eines göttlichen Pathos und einer leiblichen Originarität im Christentum aufgrund der inkarnierten Christuswirklichkeit zusammengeführt wurden, so kam dies einer Umkehr antiken Denkens schlechthin gleich. Was Christus durch sein zuletzt dargestelltes Sprechen in den Menschen seiner Zeit als Veränderung grundsätzlicher Art bewirken wollte, nämlich den Glauben an ein originäres Leben in Gott, welches konkret das ihre selbst ist, wird also vom frühen Christentum bis heute weitergeführt. Die Radikalität der Verknüpfung der Leiblichkeit mit Gottes ur-anfänglichem Erscheinen selbst, worin das Wesen des fleischgewordenen Wortes als solchem besteht, kann daher nicht anders gedacht werden denn als ein Umsturz der griechischen Wahrnehmung überhaupt. Gegenwärtig lebt sie in gewisser Weise noch im Körper-SeeleDualismus weiter, ohne hierfür zusätzliche Einflüsse wie den klassischen Rationalismus zu verkennen. Wir haben jedoch durch unsere vorherige Analyse die notwendigen Elemente an der Hand, um diesen Umsturz, den die Predigt Jesu und das christliche Credo bezüglich der Inkarnation eingeleitet haben, in seinen äußersten Konsequenzen weiterzuverfolgen. Die schon festgestellte Affinität zwischen johanneischer Wahrheitsbezeugung und lebensphänomenologischer Reduktion besagt dann nämlich nichts anderes, als die teilweise noch unausgeschöpfte Wirklichkeit der christologischen Fleischwerdung für das Verständnis des Verhältnisses zwischen Gott und dem Menschen – einschließlich der Welt und Intersubjektivität – fruchtbar zu machen. Die Aufhebung der Denkgewohnheiten der damaligen Zeit wie der heutigen führt deshalb zu der Notwendigkeit, die Fleischwerdung des Wortes »im Anfang« selbst zu analysieren. Ist kein äußeres Zeugnis über Christus als Selbstoffenbarung Gottes möglich, wie wir mit dem Johannes-Evangelium sahen, weil der Weltcharakter im phänomenologischen Sinne eine reine Offenbarung des Lebens Gottes in 167

Über die Seele (Werke 13) (Übers. W. Theiler), Berlin 71994, 59.

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Anfänglichkeit als Ipseisierung

seiner inneren Gegenseitigkeit von Vater und Sohn strukturell nicht erkennen kann, dann müssen Fleisch und Anfang originär gleichgesetzt werden. Anders gesagt erschließt sich der Anfang im Sinne des absoluten und ununterbrochenen Lebensprozesses Gottes als jene innergöttliche Selbstoffenbarung, in die unser Lebendigsein originär mit hinein genommen ist. Es gilt daher entsprechend zu klären, was das Fleischwerden dieser Offenbarung als Identität mit dem Wort Gottes als Sohnsein im Sinne des Erst-Lebendigen bedeutet, um dann zu fragen, wie sich diese innergöttliche Inkarnation in der Passibilität unserer transzendentalen Geburt als radikal individuiertem Leben auswirkt. Gott als das Ursprungsleben in seiner Absolutheit lässt sich nicht anders denken, als dass dieses Leben in all seinen Vollzügen wiederum nur Leben sein kann, welches sich in den immanenten Weisen dieser Vollzüge selbst aussagt. Dieses Sich-Aussagen ohne Trennung vom Gesagten, mithin als ihre Identität von Akt und Inhalt, ist die Selbstoffenbarung dessen, was im Prozess des göttlichen Lebens zur Aussage kommt, nämlich die absolute Phänomenalisierung eines »Wortes«, welches ganz Leben ist und bleibt. Phänomenalisierung meint hier nicht mehr, wie in einer Konstitutionsphänomenologie husserlscher Prägung, die Korrelation zwischen Noese und Noema, sondern das Selbsterscheinen des göttlichen Erscheinens für sich und durch sich selbst in seiner ausschließlichen Immanenz. Als Leben muss es also eine Ipseität besitzen, die weder vor noch nach dem Prozess der Selbstverlebendigung eintritt, sondern als dieser Prozess selbst, wie auch Meister Eckhart betonte. Der absolute Anfang des Lebens ist zugleich dieser Prozess, in dem das Selbsterscheinen die Offenbarung dieses absolut anfänglichen Lebens an sich selbst in sich selbst bildet. Dies nennt der Johannesprolog jenes »Wort«, wie wir ausführten, welches »bei Gott war« und zugleich in sich das Leben enthält: »In ihm [dem Wort] war das Leben.« (1,1.4) Ist mithin das Wort zugleich im Anfang und als Leben, so ist dieser Anfang als Leben jenes Wort, in dem sich dieser Anfang selbst ausspricht. Das Selbsterscheinen Gottes in der originären Verlebendigung seines inneren Lebensprozesses muss daher eine Materialität im radikal phänomenologischen Sinne besitzen, welche mit dem Wort identisch ist, da nichts Äußeres zu diesem Prozess göttlicher Lebensselbstzeugung hinzutritt. Diese Materialität nennt Johannes im Vers 14 seines Prologs jenes »Fleisch«, zu dem »das Wort geworden ist«. Da wir uns im abso141 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Fleischwerdung des Wortes

luten Anfang bewegen, kann dieses Werden keine Zeitlichkeit einschließen, und ebenso schließt es keine Welt ein, die erst »durch das Wort geworden ist« (1,10). Das Wort als Fleisch vermag daher durch diese beiden Reduktionen von Zeit und Welt, die letztlich in ihrer ekstatischen Phänomenalität ein und dasselbe sind, nichts anderes bedeuten, als dass es in Gott ein Fleisch in der Gestalt des Wortes gibt. Da andererseits jeder innergöttliche Vollzug eine Weise der Lebensoffenbarung darstellt, ist dieses immanente Wort, welches im Anfang Fleisch geworden ist, die phänomenologische Materialität dieses absolut anfänglichen Lebens, sofern es sich selbst aussagt. Das Wort, der in Gott inkarnierte Christus der Evangelien, ist daher die Selbstoffenbarung des göttlichen Vaters an sich selbst in seinem Sohn, sofern dieser als der Erst-Lebendige das Fleisch jener Offenbarung bildet. Die Wesensidentität zwischen Vater und Sohn, die gerade als solche im Zusammenhang mit einer gleichzeitigen Inkarnation der Gnosis so große Schwierigkeiten bereitete, kann also nicht als eine Identität verstanden werden, die ohne jenes »Fleisch« als Wort Gottes zustande käme. In diesem Falle wäre die originäre Identität des Lebens nur eine allgemein begriffliche und nicht schon in sich selbst als Identität individuiert oder konkretisiert, was für uns die grundsätzliche Strukturfrage des Originären in unserer gesamten Untersuchung ausmacht. Die johanneische Ur-Intelligibilität der absoluten Fleischwerdung als Wort in Gott besagt in der Tat, dass das Leben Gottes in sich eine Ipseität besitzt, welche zugleich der Materialität der Selbstoffenbarung als Wort im Sinne des Erst-Lebendigen entspricht. Die Materialität ist hier keine Substanz, sondern die Offenbarung des Lebens an sich selbst als jene phänomenalisierende Weise, in der das Leben in sich selbst zum Leben wird, ohne eine zeitliche oder sonstige Distanz in sich zu kennen, welche die ek-statische Materialität des intentional transzendenten Erscheinens ausmacht. Das Fleisch des göttlichen Wortes ist, anders ausgedrückt, die strukturell unverzichtbare Ipseisierung des Lebens selbst in Gott als konkreter Vollzug seiner Selbstoffenbarung. Ohne eine solche Ur-Ipseisierung könnte es kein Leben geben, wenn das Leben in all seinen immanenten Modi stets ein bestimmtes und kein bloß formal begriffliches Leben darstellt. Im radikalisierten Verständnis solcher Phänomenologisierung gibt es infolgedessen einen Erst-Lebendigen, wie auch Paulus sagt, und dieser Erstgeborene vor allen Geborenen aus dem absoluten Leben heraus ist jener Christus, der vom Neuen Testament bezeugt 142 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Anfänglichkeit als Ipseisierung

wird, ohne sein Zeugnis als Christus äußeren Umständen zu verdanken. Denn gäbe es keinerlei historischen Hinweis auf ihn, so wäre er dennoch das fleischgewordene Wort Gottes »im Anfang«. In unserer transzendentalen Geburt als einem »geschaffenen« Leben wirkt die Ur-Ipseität des ungeschaffenen göttlichen Wortes. Und dieses Wirken ist mit jener passiblen Ermöglichung des Lebens für uns identisch, welche wir in unserer selbstaffektiven Abkünftigkeit aus dem Leben als die originäre Zugänglichkeit zu demselben in all unseren Vermögen erproben. Dieses Leben aus dem Wort, das Fleisch geworden ist, bedeutet nach Johannes das »Licht der Menschen« als jenes Leben, welches im Anfang bei Gott war und aus dem wir geboren sind (1,4). Denn »Kinder Gottes zu werden« besagt, weder dem »menschlichen Wollen« noch der Welt als »Finsternis« zu entstammen (1,5.12 f.), da in ihnen der Vater, an dessen Herzen Christus ruht, nicht wahrgenommen werden kann (1,17). Die Selbstoffenbarung Gottes im Fleisch seines Sohnes als Wort ist damit zugleich in aller Deutlichkeit jene Selbstphänomenalisierung des Lebens, durch die wir in Gott sein können, um sein Leben zu erproben. Wir kommen deshalb zu dem zweiten Hauptpunkt, wie sich die dargestellte innergöttliche Fleischwerdung in unserer Passibilität als transzendentaler Geburt vollzieht. Individuiert im Leben geboren zu sein, und zwar in seiner originären Struktur als Selbstaffektion eines Mich, welches die reine Empfänglichkeit des Lebens selbst ist, beinhaltet, dass dieses Mich sich in seiner Ipseität entgegennimmt oder gezeugt wird. Dies ist mithin keine von uns geschaffene Selbstheit, sondern kann nur in der Ur-Ipseität des absoluten Lebens gegeben sein. Unsere Ipseität als eine durch die Selbstaffektion des göttlichen Lebens gezeugte Selbstheit impliziert ohne weitere Vermittlung die unmittelbar eröffnete Zugänglichkeit zum Leben schlechthin, welche das Wort Gottes als Selbstoffenbarung ist, sofern in diesem Wort das absolute Leben in sich selbst ankünftig wird und sich so an sich selbst aussagt. Die phänomenologische Materialität dieser innergöttlichen Selbstoffenbarung ist das Fleisch des göttlichen Wortes als das uranfängliche Wie dieser Selbstzeugung im Sichoffenbaren an sich selbst. Die Zugänglichkeit aller Lebendigen zu diesem absoluten Leben kann sich infolgedessen nur in diesem Fleisch der Ur-Ipseität vollziehen, welche mit Christus als dem Erst-Lebendigen identisch ist. In diesem Fleisch des Wortes Gottes gezeugt zu sein, beinhaltet dann gleichfalls, dass nicht nur diese selbstaffektive Geburt aus und im göttlichen Leben christologisch zu sehen ist. Vielmehr impliziert 143 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Fleischwerdung des Wortes

die Weise, wie die Selbstheit des Mich an sich selbst gegeben ist, darüber hinaus, dass jeder Bezug innerhalb eines solch lebendigen Sich als Ipseisierung durch das Fleisch der ur-anfänglichen Gottheit im Sinne Meister Eckharts gegeben ist. Der Prozess unserer transzendentalen Geburt ist nämlich strukturell nicht so zu denken, als ginge das Leben diesem Sich in irgendeiner Weise voraus, sondern da das Leben als Sich an sich selbst gegeben wird, findet diese Selbstgebung unserer selbst innerhalb der Selbstgebung des absoluten Lebens statt, das heißt innerhalb seiner Selbstoffenbarung, welche Christi Fleisch ist. Der Bezug, in dem ich mir selbst gegeben bin, ist folglich kein intentionaler »Bezug auf etwas hin …«, sondern das rein phänomenologische Wesen jeder Bezüglichkeit als sich selbst gegebener Proto-Relation. Die göttliche Selbstoffenbarung als Fleisch ist mithin das Fleisch als Relationalität schlechthin, mit anderen Worten die passible Originarität von Leben/ Fleisch, so dass in allen Modi, durch die ich mich selbst berühre, das Fleisch der Ur-Ipseität des christologischen Wortes berührt wird. Oder einfacher gesagt, gibt es kein lebendiges Verhältnis, in dem nicht die Zugänglichkeit und Selbstoffenbarung des absoluten Lebens durch den Erst-Lebendigen impliziert wäre. In diesem Sinne sagt der Johannesprolog, dass das fleischgewordene Wort »unter uns gewohnt hat« und »wir aus seiner Fülle alles empfangen haben, Gnade über Gnade« (1,14.16). Gnade ist hier nicht mehr oder besser als Leben, wie es manchmal in den Weisheitsbüchern oder Psalmen des Alten Testaments heißt, sondern das Leben ist Gnade ohne Maß, sofern die Fülle Gottes sein Leben selbst ist, in dem wir als »Söhne« gleich Christus gezeugt werden. Unsere leibliche Passibilität, die wir ohne Unterlass als immanente Impressionabilität erproben, besitzt mithin in ihrem stets sinnlichen Charakter eine transzendentale Selbstgebung, welche nicht nur über alles griechische Denken hinausführt, wie es in jeder Theorie und Schau noch weiterlebt, sondern jene Passibilität ist mit dem Fleisch Christi gleichförmig. Lässt sich nämlich nur in einer leiblichen Sinnlichkeit »Erfahrung« als solche erproben, dann bleibt jede Erfahrung an eine solch originäre Leiblichkeit zurückgebunden, welche sich im radikal phänomenologischen Sinne strukturell als Fleisch aus dem Ur-Fleisch des Erst-Lebendigen entgegennimmt – und nicht bloß als »Materie der Sinnlichkeit« nach Kant etwa. Dies hat zur Folge, dass in allen sinnlichen Bezügen, seien sie auf Welt oder auf Andere ausgerichtet, das Fleisch Christi als »Fleisch der Welt« in144 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Anfänglichkeit als Ipseisierung

volviert ist. Ist jedes Berühren nur in der Selbstaffektion unseres Leibes möglich, um ein Könnensvollzug dieses Leibes zu sein, dann ist dieses durch die originäre Lebendigkeit des Leibes ermöglichte Berühren ein Berühren dank der Urfaktizität alles Leiblichen im fleischgewordenen Wort. Aus diesem Grund kann der Chiasmus von Berühren/Berührtwerden in seiner Hypostase des Sinnlichen als Transzendenz der Welt bei Maurice Merleau-Ponty 168 nicht das letzte Wort der Leibphänomenologie sein. Aber die christologischen Implikationen unseres abkünftigen Lebens treten dennoch nicht von außen zu diesem Leben hinzu, sondern unsere transzendentalen Bezüge und Vermögen sind als solche christologisch im Sinne des Erst-Lebendigen geprägt, da alle auf der ur-anfänglichen Wirklichkeit beruhen, dass er »der Weg und die Wahrheit und das Leben« ist (Joh 14,6). »Weg« ist Christus als Zugang zum Leben überhaupt, welcher durch keines unserer Vermögen selbst gegeben ist, sondern nur in der praktisch phänomenalisierenden Wahrheit dieser Zugänglichkeit als fleischlicher Selbstaffektion, in der jede lebendige Kraft zunächst in ihrer Immanenz an sich selbst gegeben wird, um effektiv zu sein, was sie vollzieht. Im Bereich der lebensphänomenologischen Wirklichkeiten gibt es daher keine Metaphorik mehr, wie wir nochmals unterstreichen möchten. Denn aufgrund der radikalen Reduktion von Welt, Schau und Diskurs ist aller Vergleich als analogisierende Wahrheitsfindung ausgeschaltet, so dass nur strukturelle Modi des absoluten Gegebenseins in Anspruch genommen werden können, welche die Hermeneutik geschichtlich relativieren möchte, sofern jedes intentionale Ich zu seiner Sinnstiftung in einer vermittelten Relation steht. Weg und Wahrheit als Zugänglichkeit und Selbstoffenbarung bedeuten daher in unserem Zusammenhang wirktatsächlich unhintergehbare Bedingungen der einen originären Lebensparusie, wie sie in ihrem eigenen Selbsterscheinen in sich ankünftig wird, um alles in ihr generierte Leben sein zu lassen, welches von Gott als Originarität solchen Lebens (»Vater«) ausgeht. Und da wir keine Gegenseitigkeit stiften können, welche nicht die innergöttliche Reziprozität beinhalten würde, beruhen auch unsere affektiv sinnlichen Gegenseitigkeiten auf dieser tieferen Reziprozität des fleischgewordenen Wortes mit dem absoluten Anfang als Gottheit im Sinne Meister Eckharts: »[Die] Kraft, darin Gott blühend und grünend ist 168 Vgl. Le Visible et l’Invisible, suivi de notes de travail, Paris 1964 (dt. Das Sichtbare und das Unsichtbare, München 1986).

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Fleischwerdung des Wortes

mit seiner ganzen Gottheit und der Geist in Gott, in dieser selben Kraft gebiert der Vater seinen eingeborenen Sohn so wahrhaft wie in sich selbst, denn er lebt wirklich in dieser Kraft, und der Geist gebiert mit dem Vater denselben eingeborenen Sohn und sich selbst als denselben Sohn und ist derselbe Sohn in diesem Lichte und ist die Wahrheit.« 169 Ist Kraft, rein immanent gesehen, also immer lebendige Ursprungskraft, um Bezüge in ihrer inneren Selbstgegebenheit effektiv wirken zu lassen, dann ist auch die Intersubjektivität eine Relation, welche die Fleischwerdung des Wortes beinhaltet. Ob ich den Anderen in seinem Gemüt, Geist oder Leib berühre, so wie er mich – stets ist die Ur-Ipseität präsent als jene lebendige Bedingung, die auch den Anderen in dessen Passibilität an ihn selbst gegeben hat, so dass jedes Berühren untereinander im Fleisch Christi stattfindet. Deshalb benutzt der Apostel Paulus nicht ohne Grund dasselbe Verb paradídonai für die Hingabe Christi und die Hingabe in der geschlechtlichen Liebe, sofern wir nach dem ersten Korintherbrief 3,17 ein lebendiger »Tempel Gottes« sind. Wir haben die Konsequenzen hieraus für ein originäres Lebensethos schon erwähnt, welches aufgrund der Antithesen der Bergpredigt und der in ihnen implizierten Barmherzigkeit nichts anderes als die praktizierte Ontologie der phänomenologischen Ursprungsverhältnisse darstellt. Zwar kann – und soll – ich mich keinem Anderen dort substituieren, wo er selbst in der Nacht seines impressionalen Fleisches in die Absolutheit des sich selbstgebenden Lebens eingetaucht ist. Aber da diese verlebendigende Wirklichkeit in jedem eine Gemeinschaftlichkeit schafft, die dem Mit-Pathos des Lebens entspricht, bedeutet jedes Sich kein solitäres oder sogar solipsistisches, sondern ein im Fleisch des Erst-Lebendigen mit Anderen verbundenes Sich. Die neutestamentliche Rede von den »Kindern Gottes« in dem einen Christus ist also wiederum keine bloß metaphorische, sondern eine phänomenologische Ur-Faktizität, die bei aller Geschichts-, Gesellschafts- und Kulturkritik zu beachten bleibt. 170 Insgesamt betrachtet, schafft daher die »Fleischwerdung des Wortes« eine Struktur-Intelligibilität, welche nicht nur alle Gegebenheiten umfasst, sondern zugleich auch selbst die Kraft darstellt, sie 169 Deutsche Predigten und Traktate (Hg. J. Quint), München 1978, 163 (Predigt 12); vgl. auch unser vorheriges Kapitel I,2. 170 Vgl. R. Kühn, Lebensethos. Inkarnatorische Konkretionen originärer Lebensreligion, Dresden 2017, 142 ff. u. 199 ff.

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Anfänglichkeit als Ipseisierung

praktisch zu erproben. Der Vorwurf einer »transzendentalen Christologie«, welcher beispielsweise gegenüber Karl Rahner geübt wurde, sofern dieser die Christologie auf eine Anthropologie der Freiheit gründen wollte, wie wir schon erwähnten, kann das lebensphänomenologische Bemühen in dieser Hinsicht insofern nicht treffen, als die von ihr analysierte Transzendentalität nicht in einem diskursiven Vorgehen gründet, sondern in einer gegebenen Urfaktizität, welche noch älter als die Freiheit ist. Als in der originär fleischlichen Passibilität gegründete Freiheit bedeutet der christologische Bezug der letzteren, dass sie nicht von einer Selbsthervorbringung des Ich oder auch des Daseins ausgeht, sondern von einer Mir-Gegebenheit dieses Ich als eines vorgängigen Mich, welches in seiner vorstellungs- und begrifflosen selbstaffektiven Originarität sein Lebenkönnen unmittelbar aus dem Fleisch Christi schöpft. Die »Selbstgründung« erfolgt mithin nicht über konstitutive Vorgaben seitens einer transzendentalen Methode, da solche Methode als »Weg« bereits immanent auf Abkünftigkeiten verweist, welche nicht selbst wiederum methodisch gesetzt werden können, sondern in sich wirklich sind. Damit stoßen wir auf weitere Konsequenzen dieser praktisch apriorischen Fleischwerdung Christi als Bedingung all unserer freien Vollzüge, die ein Wiederholenkönnen von immanent lebendigen Modi implizieren. Das heißt einerseits ein permanent sich verwirklichendes Leib-Gedächtnis und andererseits ein Fleisch der Auferstehung, da Gottes Leben nicht als ein tödliches gedacht zu werden vermag. Damit erweist sich die Fleischwerdung Christi als jene Gesamtwirklichkeit, die erprobend vollzogen werden muss, falls die Selbstoffenbarung Gottes alles Erscheinen in seinem Selbsterscheinen umfasst. Alles, was gegeben ist, impliziert in der Tat die Selbstgebung Christi als jene Gabe seines Fleisches, ohne die kein Leben und damit kein Erscheinen wäre. Die Gebung als christologische Gabe, das heißt als Entfaltung unserer Impressionabilität in ihrer abkünftigen Selbstgebung an sich selbst, ist also eine phänomenologische Konsequenz, welche nicht weiter reduziert werden kann, falls alles Gegebensein nicht in einer bloß faktuellen oder skeptischen Feststellung bzw. in einer zirkulierenden Verrechnung enden soll. Die Tatsache, dass »etwas« gegeben ist, und »nicht nichts«, wie unter anderem Leibniz metaphysisch argumentierte, vermag nicht nur ein philosophisches thaumázein zu bleiben. Denn die radikal phänomenologische Analyse kann darauf verweisen, dass die »Gabe des Lebens« apodiktisch jene Gabe ist, welche niemals zurückgewiesen werden kann, da sie 147 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

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uns ständig affiziert – eben auch bereits in der staunenden oder hingewandten Schau. Eine mögliche negative Stellungnahme gegenüber dem Leben im existentiellen oder psychologischen Sinne hebt diesen ur-anfänglichen Gabecharakter nicht auf, sondern selbst ihr Nein ist noch vom Leben getragen. Und da diese Gabe keine anonyme Seinsgabe darstellt, vielmehr durch ihre Ur-Affektion ein Sichoffenbaren des Lebens über jede welteröffnende Befindlichkeit noch hinaus, und zwar durch die ständige Modalisierung des immanenten Lebens als Eindruck und Gefühl, so besitzt diese Gabe letztlich auch einen singulären Namen – den Namen desjenigen, der sich in seinem Fleisch hingibt. Soll also die Analyse des Gebungscharakters alles Gegebenen nicht in einem ontologischen Autismus enden, welcher der Grenzauslotung des Intelligiblen durch das Denken nicht gerecht würde, so bleibt nur die rein phänomenologische Möglichkeit, jene Wirklichkeit ernst zu nehmen, welche sich in der neutestamentlichen Bezeugung kundtut – und zwar sich selbst ohne Vermittlung kundtut, wie wir aufgewiesen haben. Der Name Christi wird in der Tat aufgrund einer schriftlichen und ekklesialen Tradition hörend entgegengenommen, aber wie es schon von den Emmausjüngern heißt, gilt auch für uns: »Brannte nicht unser Herz in uns, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schrift erschloss?« (Lk 24,32) Die Berechtigung einer christologischen Benennung ist folglich transzendental bemessen an einer inneren Ur-Affektion, die immer schon als »Wort des Lebens« gesprochen hat, wenn der Schrifttext oder das christliche Zeugnis spricht. Unsere Wahrheit als die Wahrheit des Erst-Lebendigen in uns ist eine lebendige Präsenz, die auf die »Wahrheit Christi« stößt, um sie als die immanente Wahrheit unserer Wahrheit zu erkennen – und dies nicht als distanzierte Rede, sondern als das verzehrende Fleisch jeder Affektion selbst. Dass Christus in uns lebt und wir in ihm, wie das durchgehende neutestamentliche Zeugnis lautet, kann dann nur bedeuten, ohne einer gefühlsergebenen oder fundamentalistischen Hermeneutik verpflichtet zu sein, dass meine Wahrheit als in Gott geborene auch seine lebendige Wahrheit ist – und umgekehrt. Diese innerliche Gegenseitigkeit als phänomenologische Ur-Gegebenheit jeder Gabe in ihrer rein immanenten Gebungsstruktur umschließt dann auch die Vergebung, denn selbst dort, wo ich nicht der praktischen Wahrheit dieser Onto-do-logie in allem existentiell entspreche, also schuldig wurde, hebt die Passion Christi als das ver148 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Passion und Sterben Christi

zehrende Feuer in ihrem immerwährenden Brand für uns jene Ungenügsamkeiten und Verfehlungen auf, die sich selbst Gericht sind, weil sie sich selbst um die Fülle jener Gabe betrügen, die dem Leben stets innewohnt, sofern es seiner inneren unaufhebbaren Selbstgebung folgt. 171 Im faktischen Geben muss sein Name nicht gewusst sein, weil die reine Gabe ohne besondere Intention auf einen Empfänger hin oder ohne Wissen um den Gebenden – und sogar um die Gabe selbst – erfolgen kann, wie Jean-Luc Marion 172 aufgezeigt hat. Entscheidend ist allein die Wirklichkeit der Gabe in ihrem Gegebensein selbst. Und solche Gebung erfolgt in der Kraft desjenigen, der in seinem ur-anfänglichen Wesen nichts anderes als die Verwirklichung solcher Kraft in der Gestalt fleischlicher Selbsthingabe ist. Mit der Benennung »Christus« erfolgt daher nichts anderes, als auf eine originäre Struktur hinzuweisen, an welche auch die Philosophie gebunden bleibt, wenn sie die Frage nach den Ursprungsverhältnissen nicht mehr zurückweisen kann, ohne sich selbst untreu zu werden. Denn in ihrem eigenen Vollzug lebt sie von einer Verwirklichung, die nicht fleischlos oder bloß eine begriffliche Vermittlung ist, sondern als praktisches Performativ selbst eine Inkarnation birgt. Deshalb darf sie auch den Namen Christi gebrauchen, ohne ihn von sich selbst her gesetzt zu haben, da er sich nur in seiner eigenen Selbstoffenbarung erschließt. Ist jedes Ich schließlich vor die radikale Passibilität seines Mich gestellt, so erfährt ebenfalls die Philosophie als ein durch jede Gegebenheit aufgerufenes Denken die ihr eigene Passibilität angesichts der Aussagen der hier betrachteten christologischen Offenbarung, um ihre Aufgabe darin wieder zu erkennen und von diesem Ursprung aus weiterzuführen.

2) Passion und Sterben Christi Wenn die eucharistische Wirklichkeit als Gedächtnis des Leidens und des Todes Jesu die absolute Historialität seiner Selbstoffenbarung als den in allen Manifestationen originär lebendigen Christus beinhaltet,

171 Der Begriff der Onto-do-logie wurde im Gegensatz zur heideggerschen Onto-logie, die diesen Gabecharakter nicht sofort oder ausreichend erkennen lässt, von Claude Bruaire eingeführt; vgl. L’être et l’esprit, Paris 1983, 51 ff. 172 Vgl. Etant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris 1997 (dt. Gegeben sei, Freiburg / München 2015).

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Fleischwerdung des Wortes

dann ergibt sich in Bezug auf die Passion, dass der neutestamentliche Bericht diese Verwandlung allen Leidens und Sterbens in das göttliche Leben selbst darstellt. Wir können für die phänomenologische Analyse daraus folgern, dass der »Tod« in uns jene abgründige Möglichkeit bedeutet, die Verwandlung unserer immanenten Originarität von Leiden in Freude nicht geschehen zu lassen, weil der »Glaube« an ein solch immerwirkendes Leben in all seinen Modalisierungen verloren ging – ein Glaube, der dem Leben aufgrund seiner ur-anfänglichen Selbstbindung an sich selbst strukturell innewohnt. Denn dass das Leben in allem sich stets als sich selbst freudig erprobt, ist zugleich seine immerwährende »Auferstehung« als jener Selbstglaube an sich selbst, von nichts anderem als von sich selbst abhängig zu sein und in dieser reinen Selbstständigkeit seine unmittelbare Seligkeit zu besitzen. Gilt dies für uns Menschen nur in einem relativen Sinne, sofern wir allein aus dem absoluten Leben heraus leben, so ist diese Autarkie in Jesus Christus als dem Erst-Lebendigen seine zeitlos göttliche Wirklichkeit selbst. Die Passionsberichte sind daraufhin dergestalt zu lesen, dass sich diese Wirklichkeit gerade unter den scheinbar ihr widersprechendsten äußeren Manifestationen bestätigt. Das heißt, wie das Leben in Leid und Tod dennoch weiterhin das Leben sein kann, ohne ihnen in irgendeiner Weise nur eine manichäische Scheinrealität zukommen zu lassen. Wollen wir Sterben und Tod ohne jedes spekulative Vorverständnis fassen, weil in solchen Vormeinungen die Realität des Todes auf imaginäre Weise selbst verstellt würde, wir andererseits aber davon ausgehen können, dass in den neutestamentlichen Schriften das Wort Gottes stets ein Wort des Lebens ist, so findet sich die wahrscheinlich frühste Aussage über den Tod Christi im so genannten Philipperhymnus 2,6–9, den Paulus in den ersten Gemeinden schon vorfand. Er gibt diesen liturgischen Hymnus ausdrücklich mit den einleitenden Worten wieder, so gesinnt zu sein, »wie es dem Leben Christi« entspricht (Phil 2,5). Da dies mehr als eine ethische Haltung bedeutet, sofern dieses Leben in Christus mit seinem Leben in uns auf absolute Weise identisch ist, sind auch die folgenden Verse des Hymnus in einem originären, das heißt unmittelbar selbstoffenbarenden Sinne zu verstehen: »[Christus] war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich

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und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich […]; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen.«

Dieser Entäußerung als Kenose entspricht also die unvergleichbare Erhöhung durch Gott, wobei die Verleihung eines an Größe einzigartigen Namens einer Stellung entspricht, die das »Herrsein« Christi impliziert, wie der Vers 11 zu verstehen gibt. Dieses Herrsein ist aber kein anderes als jenes, wodurch er selbst das absolute Leben in der Gleichheit mit Gott ist, wie wir an Vers 1 sehen können. Die Entäußerung als »Erniedrigung« bis zum Tod am Kreuz dokumentiert nicht nur mit größter Wucht andererseits sein Gleichsein mit den Menschen in deren leidendem Fleisch, sondern auch seinen »Gehorsam« gegenüber Gott, diese passionshafte Inkarnation ohne die sichtbaren Attribute der Gottheit zu leben. Nicht wie Gott in den Augen der Welt zu erscheinen und dennoch das absolute Leben Gottes als dessen »Sohn« zu bleiben, kann dann nur bedeuten, dass die äußere Erniedrigung im Tod, wo der Anschein seiner »Gottverlassenheit« seinen höchsten Ausdruck erreicht, keineswegs den Verlust dieses göttlichen Lebens als Gottes Selbstoffenbarung beinhaltet. Die unmittelbare Erhöhung nach dem Sklaventod am Kreuz geschieht ohne Erwähnung einer expliziten Auferstehung, bzw. nur eingeleitet durch das begründende »Darum« aus dem Vers 9, so dass es keine wesenhafte Zäsur zwischen Sterben und Erhöhung gibt. Dies will im Sinne phänomenologisch struktureller Originarität besagen, dass sein »Herrsein« als Leben für die Menschen im Tod nicht ausgelöscht war, sondern der Tod dieses innergöttliche Leben in ihm gerade nicht vernichtete. Dass Jesus im historischen Sinne am Kreuz gestorben ist, bedarf keines weiteren Nachweises, weil die Zeugnisse innerhalb wie außerhalb des Neuen Testaments ohne jeden Zweifel dafür sprechen. Die Interpretation aber, dass dadurch auch der »Tod Gottes« stattgefunden habe, wie Hegel die christliche Tradition versteht, um dadurch den Untergang der Gestalten des unglücklichen Bewusstseins und der alten Welt anzudeuten, denen dann die Freiheit des reinen Begriffs – wenn auch mit der Bestimmung eines absoluten Schmerzes 151 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Fleischwerdung des Wortes

im Sinne der Kenose – entspricht, bleibt eine spekulativ idealistische Sichtweise. Sie beruht auf seinem Phänomenologieverständnis der Negation als »Entzweiung«: »[Der Tod der Abstraktion des göttlichen Wesens] ist das schmerzliche Gefühl des unglücklichen Bewusstseins, dass Gott selbst gestorben ist. Dieser harte Ausdruck ist der Ausdruck des innersten sich einfach Wissens, die Rückkehr des Bewusstseins in die Tiefe der Nacht des Ich = Ich, die nichts außer ihr mehr unterscheidet und weiß.« Oder an anderer Stelle: »Gott ist gestorben, Gott ist tot – dies ist der fürchterlichste Gedanke, dass alles Ewige, alles Wahre nicht ist, die Negation selbst ist Gott; der höchste Schmerz, das Gefühl der vollkommenen Rettungslosigkeit, das Aufgeben alles Höheren ist damit verbunden.« 173 Wenn es hingegen im Philipperhymnus heißt, Christus habe nicht an der Göttlichkeit festgehalten (2,6), dann kann dieser Vers nur auf sein Erscheinen in der Welt bezogen sein, wo das inkarnierte Wort Gottes als Erst-Lebendiger bis auf wenige Ausnahmen keinen Glauben fand. Denn er setzte die »Macht Gottes« nicht in dem von Israel erwarteten Sinne als Messias der Befreiung ein, sondern im Sinne einer Selbstoffenbarung des Lebens, welche sich an alle Menschen wandte, um in ihnen das göttliche Leben wiederzuerwecken, das sie als originär Lebendige in sich tragen. Wir haben schon wiederholt darauf hingewiesen, dass die Immemoriabilität des rein phänomenologischen Lebens ein intentionales Selbstvergessen dieses Lebens einschließt, so dass es nicht nur ausschließlich in der unsichtbaren Wirklichkeit der immanenten Selbstaffektion erscheint, sondern durch diese prinzipiell retentionale Entzogenheit die »Welt« auch als die phänomenalisierende Erscheinensmacht aller ekstatischen Erscheinungen auftreten lässt. In seiner geschichtlich fleischgewordenen Erscheinensweise welthaft nicht wie Gott zu sein, das heißt nicht als ein solcher wahrgenommen zu werden, ist also geradezu die Bedingung, wie das innergöttlich absolute Leben in der Welt erscheint, da diese nicht sein wesenhafter Offenbarungsraum sein kann und von Johannes deshalb auch »Finsternis« genannt wird. Entgegen Hegel und vielen ähnlich lautenden Interpretationen nach ihm, wie etwa bei Feuerbach oder Nietzsche, aber ebenfalls in

173 Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1988, 512; Vorlesungen über die Philosophie der Religion II (Werke 17), Frankfurt/M. 1969, 291.

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Passion und Sterben Christi

der so genannten kenotischen Theologie vom »Tode Gottes«, 174 ist daher radikal phänomenologisch daran festzuhalten, dass es im absoluten Leben keinen Tod zu geben vermag – aber sehr wohl in der Welt. Dass Christus als der Erst-Lebendige in solchem Tod das Leben im Sinne seiner ewigen Sohnschaft blieb, ist das durchgehende Zeugnis des Neuen Testaments, so wie die gesamte Bibel als Wort Gottes letztlich nur eine Botschaft besitzt: den Menschen von diesem Leben Gottes in ihnen selbst zu künden. Der »Gehorsam bis zum Tod am Kreuz« nach dem Philipperbrief 2,8 ist ein Gehorsam bis in den Tod; mit anderen Worten bleibt in diesem Tod der Gehorsam bestehen, so wie zwischen Vater und Sohn die Liebe bestehen bleibt. Da in der radikal phänomenologischen Reduktion jede Vorstellung an ein Ego oder eine sonstige reflexive bzw. sprachliche Personenidentität eingeklammert wird, ist solch reiner Gehorsam identisch mit einer Liebe als der innerlichen Gegenseitigkeit zwischen Vater und Sohn wie auch zwischen dem absolut göttlichen Leben und unserem, in diesem Leben gezeugten Leben als passiblem »Mich«. Ein solches Mich der reinen Passibilität ist notwendigerweise »Tod« für ein intentionales Ego, welches von sich selbst nur mit den Augen der Welt sprechen kann, sofern es sich hier ein »Ich« vorzustellen hat, um sich als ein solch akthaftes Ego fassen zu können. Was Geburt im Leben ist, erscheint mithin aus radikaler Sicht einer reinen Lebensimmanenz als Tod unter mundanen Voraussetzungen. 175 Mit Michel Foucault könnte man hierzu eine Parallele zum Wahnsinn ziehen, den er nach der kosmischen wie tragischen Sichtweise desselben hinsichtlich eschatologischer Infragestellung der Welt im Mittelalter und in der Renaissance dann auch innerhalb der christlichen Identifikation des »Verrückten« mit Christus vergleicht. Der Verlust aller Weltvernunft nähert den Wahnsinnigen in seinem Leiden unmittelbar der christologischen Passionswirklichkeit des Kreuzes als einer »Verrücktheit« an, die als immanentes Leben nur noch in der Lebendigkeit Gottes selbst ruht. Bevor dann das klassische Zeitalter des Rationalismus sich dem Wahnsinn in seiner psychiatrischen Sicht des faktischen Ein- wie Ausschlusses von Vernunft/

174 Vgl. H. U. von Balthasar, »Mysterium Paschale«, in: J. Feiner u. M. Löhrer (Hgg.), Mysterium Salutis III/2, Einsiedeln 1993, 143 ff. 175 Vgl. R. Kühn, Psychoanalyse, Philosophie und Religion – wer leitet die Kultur?, Göttingen 2020, 211–245: »Todesabwehr und Todeszustimmung als äußerste Wahrheitserprobung«.

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Fleischwerdung des Wortes

Wahrheit näherte, hat es mithin zuvor eine religiöse Gleichstellung von Leben/Wahnsinn gegeben, die zwar die institutionelle Aussonderung der »Schwachsinnigen« nicht ausschloss – ihren tiefsten Affekt jedoch für einen Augenblick als eine Berührung mit der originären Wahrheit göttlichen Lebens anerkannte. 176 Auch Michel Henry verortet seinen Roman »Le fils du roi« von 1976 in einer Psychiatrieanstalt, um die Ursprungswahrheit unter der Gestalt des Wahnsinns in narrativer Fiktion aufscheinen zu lassen – insoweit jedes Individuum originär ein »Königssohn« unabhängig von seiner äußeren Erscheinung ist. Diese Analysen im Hinblick auf das Verständnis des Todes Jesu – und damit auch des unsrigen – ergeben folglich, dass der Tod das Ende der innerweltlichen Möglichkeiten in ihrer Gesamtheit für ein Subjekt bedeutet. Husserl fasste dies als die Loslösung des transzendentalen Ich von seiner mundanen Weltobjektivierung, anders gesagt als Loslösung in der Epoché vom empirischen Ich, welches naiv in der Welt lebt bzw. seine »Welt hat«. 177 Diese letztlich rein intentionale Welthabe deutet ihrerseits an, dass der Tod in der Welt stattfindet, was auch von Heidegger unterstrichen wird, wenn er die Entschlossenheit zum Tode als die äußerste Möglichkeit des Daseins fasst, den Verlust jeder weiteren Weltmöglichkeit selber zu seiner Freiheit zu machen: »Das Vorlaufen [in der zeitlichen Sorge] enthüllt dem Dasein die Verlorenheit in das Man-selbst und bringt es vor die Möglichkeit, auf die besorgende Fürsorge primär ungestützt, es selbst zu sein, selbst aber in der leidenschaftlichen, von den Illusionen des Man gelösten, faktischen, ihrer selbst gewissen und sich ängstenden Freiheit zum Tode.« 178 Das Sterben in der Welt, die Realität des Leichnams und sein Verwesen als absoluter Bezugsverlust ist so eine Tatsache, die nicht geleugnet werden kann, wenn die ekstatische Phänomenalität das Entstehen und Verschwinden eines jeden Seienden in der Welt bedeutet. Das Leben des biologischen Körpers bildet dabei keine Ausnahme, denn als zeitliches Leben ist es ein sterbliches Leben. Insofern aber jeder sinnliche Körper, so wie unser Leibkörper, seine transzendentale Lebendigkeit einem originären Fleisch verVgl. Histoire de la folie à l’åge classique, Paris 1961, 204 ff. (dt. Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt/M. 1969). 177 Vgl. Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie (Husserliana VI), Den Haag 21976, 78 f. u. 151 f. 178 Vgl. Sein und Zeit, Tübingen 111967, 266. 176

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dankt, welches sich seinerseits dem absoluten Leben in der Gestalt des inkarnierten Wortes Gottes als dem Erst-Lebendigen verdankt, taucht die abgründige Frage auf, ob auch das Leben in solch reiner Immanenz den Tod kennt. Es handelt sich dann nicht mehr um einen Tod von außen als ontisches Sterben in der Welt, sondern um die Problematik der reinen Endlichkeit. Hier berührt sich der Tod Christi aufs innigste mit unserem Tod, da sein gehorsames »Bis-zum-Tod« diese Endlichkeit nicht leugnet, sondern als das Wesen seines Menschseins bejaht, und zwar so bejaht, dass darin zugleich sein unsterbliches Sohnsein in Gott selbst aufstrahlt – »sein Name, der höher als alle Namen ist«. Wir sehen daher, dass die radikal phänomenologische Analyse eine Möglichkeit bietet, den Tod zu denken, ohne das Leben auslöschen zu müssen. Denn »Leben« ist kein empirischer Begriff in solchem Zusammenhang, sondern eine ur-anfängliche Phänomenalisierungsweise in absoluter Hinsicht. Vom Gesichtspunkt der relativen Selbstaffektion des transzendentalen Menschen aus können wir sogar noch einen Schritt weitergehen und sagen, dass die reine Passibilität seines Lebens ihn dazu führen kann, sich den Tod zu wünschen, weil das Leben scheinbar unerträglich geworden ist. Es gibt also eine Weise für das impressionale oder passible Leben, dieses Leben unter bestimmten Umständen nur noch als seine Unerträglichkeit empfinden zu können. Und die dann ersehente oder tatsächlich vollzogene Selbstzerstörung, wie sie besonders Nietzsche, aber auch Kierkegaard und Bataille angesprochen haben, 179 ist noch eine Weise des Lebens selbst. Dass eine solche Faktizität des Todes als ein Nicht-mehr-sein-Wollen aufbrechen kann, und zwar genauer gesagt als das Empfinden, nicht mehr diese sich-affizierende Ipseität als absolute Subjektivität leben zu wollen, ist höchster Ausdruck einer ontologischen Endlichkeit als reiner Passibilität. Christus hat diese Endlichkeit als illusionsfreien »Gehorsam« hinsichtlich seines Todes in der ganzen Abgründigkeit dieses Geschehens erprobt; und weil er zugleich die sich selbstoffenbarende Wahrheit war, blieb er ohne jede äußere idolatrische Tröstung in dieser Wahrheit, wie Simone Weil bemerkt. 180 Aber dieser Gehorsam in seiner reinsten Form als transzendentale Passibilität ist zugleich auch 179 Vgl. für eine breite Darstellung der Todesdeutungen H. H. Jansen (Hg.), Der Tod in Dichtung, Philosophie und Kunst, Darmstadt 21989. 180 Vgl. Pensées sans ordre concernant l’amour de Dieu, Paris 1962, 113 f.; auch hier

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reine Lebensempfängnis als »Sohn« des Vaters, das heißt jenes Lebens, welches in seiner immanenten Gegenseitigkeit denselben Gehorsam als Liebe im Sinne der göttlichen Selbstoffenbarung kennt. Insofern entsprechen sich in den Passionsberichten der »große Schrei« Christi (Mk 15,37) äußerster Verlassenheit vonseiten seines »Vaters« und das innere Wissen um das »Vollbrachtsein« (John 19,28) dieses äußersten Lebensvollzuges ohne sichtbares Ergebnis in der Welt. 181 Lebensphänomenologisch ergibt sich so nicht nur die Möglichkeit, Tod im Leben zu denken, ohne aus dem Leben kontingent einen Tod machen zu müssen, was dem Leben im absoluten Sinne seiner originären Selbstgebung widerspräche. Vielmehr lassen sich auch die neutestamentlichen Zeugnisse dadurch in eine Kontextualität hineinstellen, die den Strukturen einer absoluten Phänomenologie gehorchen, das heißt einer Phänomenologie, welche die Berichte über den Tod Jesu nicht hermeneutisch vorrangig als nachösterliche Gemeindeinterpretationen versteht, sondern in ihrer urfaktischen Bedeutung radikalen Lebendigseins selbst. Die Welt ist der Raum des prinzipiellen Todes, nämlich als jene Indifferenz, die in ihrer Ent-äußerung als Außenheit keinen sinnlich lebendigen Gehalt aus sich selbst heraus hervorzubringen vermag. Zu solcher Hervorbringung bedarf es des absolut phänomenologischen Lebens, welches in Bezug auf das transzendentale Leben des Menschen zugleich die originäre »Ebenbildlichkeit« mit Gott umfasst, da es in der sinnlichen Selbstaffektion die immanente Verfleischlichung durch den Sohn Gottes als Erst-Lebendigen in sich trägt. Diese originäre Ebenbildlichkeit wird von Christus bis in den Tod hinein wieder deutlich gemacht bzw. wiederhergestellt, was besonders Paulus hervorhebt, sofern er gemäß der alttestamentlichen Zeugnisse den Tod als Folge der Sünde im Römerbrief auftreten lässt (7,7 ff.). Christi Gehorsam im Tod besagt dann, dass die Ebenbildlichkeit solchen Gehorsam schon immer bedeutet hat, so dass die Intertextualität mit dem Alten Testament gerade durch eine lebensphänomenologische Analyse ihre wesenhafte Bestätigung erfährt, welche sich in den Einzelaussagen der Passionsberichte weiter erhärten lässt.

wird die Parallele der »Liebe Gottes« mit dem Wahnsinn (folie) wie bei Foucault und Henry unterstrichen. 181 Vgl. J.-M. Dussert, La voix crue. Du phénomène au fondement, la voix comme passage – phone megale. La philosophie du christianisme de Michel Henry et la »grande voix« de la Croix, Dissertation Institut Catholique de Paris 2020.

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Wir sagten oben schon, dass Gottverlassenheit (Mth 27,46 u. Mk 15,34) und Wissen um das Vollbrachtsein allen selbstoffenbarenden Tuns (Joh 19,28.30) keinen Gegensatz bilden, sondern im Gehorsam des Todes am Kreuz zusammenlaufen. Ohne hier eine harmonisierende Evangelienlektüre zu betreiben, sind daher die synoptische und die johanneische Auffassung zwei Momente ein und desselben Lebensgeschehens im Tod, welches beide Modi in sich als fundamentale Selbstgegebenheiten kennt – nämlich äußerste Ohnmacht und absolutes Selbstwissen. Wenn Gott eine Wirklichkeit und kein bloßer Begriff ist, und zwar eine originäre Wirklichkeit, welche den Hervorgang allen Erscheinens bedeutet, dann kann Gott niemals den Gegenstand eines intentionalen Bewusstseins darstellen. Gott nicht in diesem sich vor-stellenden »Denken an …« wissen zu können, beinhaltet seine Abwesenheit für solch ein Wissen, welches sich in seiner Bindung an ein akthaftes Ego dann als »verlassen« erfahren muss. Dem entspricht andererseits in der Sphäre des rein immanenten Lebens, dass das Leben sich selbst gegenüber jene »Ohnmacht« ist, nicht anders als nur in sich selbst für sich selbst erscheinen zu können, mit anderen Worten niemals eine Außenheit im Sinne der Vorstellung für seine Phänomenalisierung in Anspruch nehmen zu können. In der Verlassenheit Jesu am Kreuz begegnen sich diese beiden Gegebenheiten eines göttlichen und eines menschlichen Lebens in ein und derselben Person als Ursprungswirklichkeit des Lebens. Als Wort Gottes ist Christus mithin jene Ohnmacht, Erniedrigung oder Verlassenheit, nicht anders denn als unsichtbares Leben in der Welt erscheinen zu können, und als Mensch erfährt er die Verlassenheit, genau diese immemoriale Parusieweise nicht unmittelbar intuitiv verstehen zu können, was nicht heißt, dass er selbstaffektiv nicht weiterhin als Sohn des Vaters im reinen Vollzug darum wüsste. Wenn Johannes von einem Wissen spricht, welches die Vollendung allen Tuns ausmacht, so lässt sich zum Verständnis einer solchen Todeserfahrung Jesu auch Lk 23,46 hinzunehmen, wo es heißt, dass Jesus mit »lauter Stimme rief: ›Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist!‹«. Dieser Ruf besitzt eine gewisse Mittelstellung zwischen dem Kreuzeswort nach Matthäus/Markus und Johannes. Kann die biblische Intertextualität hierbei auf ein Zitat aus Psalm 31,6 verweisen, sodass das Lukaswort für ein Gebet im Sinne dieses Psalms insgesamt im Munde Jesu steht, dann ist dadurch eine restlose Übereignung an Gott als den Vater ausgedrückt. Dieser Gott bleibt der »Vater« als Ursprung, auch wenn ihm keine welthafte Vorstellung 157 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

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mehr entspricht, und der Verlust jeder Vorstellung als Erprobung der Abwesenheit Gottes enthält (über die angedeutete Übereignung bei Lukas an einen solchen Gott gerade in seiner bewusstseinsmäßig erlebten Ferne) die Vollendung im johanneischen Sinne. Denn wenn nach Johannes das fleischgewordene Wort die lebendige Selbstoffenbarung Gottes als Erst-Lebendiger ist und bleibt, dann muss die Vollendung allen »Dürstens« aus Vers 19,28, auf das wir schon früher hingewiesen haben, genau Jesu rein phänomenologische Wahrheit beinhalten – dass sich nämlich auch der menschliche »Geist« Jesu im inneren »Wissen« um das göttliche Leben ohne Begriff wie Vorstellung vollendet. Die Antwort auf den Durst kann nur die rein fleischliche Erprobung dieses Durstes selber sein, das heißt das immanent vollzogene Lebenswissen als die absolute Abkünftigkeit aus dem reinen Leben Gottes heraus. Wenn nach Johannes der sterbende Jesus »seinen Geist aufgibt« (19,30b; vgl. Mth 27,50) und nicht nur wie bei Markus »verscheidet« (15,37), dann gibt sich nach hebräischem Verständnis die Gesamtperson unter all ihren leiblichen und geistigen Aspekten in den Tod hin. Somit verweist dieses »Auf-geben« auf die Über-gabe als Hin-gabe an den Vater, worin die Vollendung dieses Lebens als ur-anfänglich sich-gebendes in Fleischwerdung und Sterben besteht. Erblickte Hegel bereits im Tod den »höchsten Beweis der Menschlichkeit, der absoluten Endlichkeit«, 182 was Heidegger dann zur reinen Möglichkeit des Daseins in dessen frei entschiedener Selbstheit ohne ein »Gegenüber« als Gott oder Vater werden lässt, so kennt Husserl in universal monadologischer Sicht keinen eigentlichen Tod des Ego, weil die Rückerinnerung für ihn latent unabschließbar, also ewig ist. Wir haben demgegenüber zu zeigen versucht, wie Leid und Tod im lebensgenealogischen Sinne ein Wie des absoluten Lebens eignet, welches jeder seiner immanenten Modalisierungen innewohnt. Durst, Verlassenheit, Übereignung und Vollendung sind in der Tat historiale Weisen des Lebens, sich stets modifizierend an sich selbst weiterzugeben, so dass in all diesen Übergängen von Modalisierungen die eine Gewissheit bestehen bleibt, nämlich vom Leben ohne Unterlass fortgezeugt zu werden. Fassen wir den Tod nicht nur als ein physisches Sterben des sichtbaren Körpers in der Welt auf, dann zeigen die Passionsberichte, wie selbst im

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Vorlesungen über die Philosophie der Religion II, 289.

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Sterben das Leben nicht aufhört, das Leben im absoluten Sinne zu sein. Denn es findet zu einer Vollendung seiner originären Hingabe, welche dem ur-anfänglichen Leben als solchem in seiner inneren Selbstbewegung entspricht. Es ist dann auch nicht mehr notwendig, darüber zu spekulieren, ob eine irdische Menschwerdung Christi von Vornherein in Gottes Plan stand, was dann auf die Sünde und Erlösung als felix culpa für die Kenose des Gottessohnes zurückschlagen würde, wie es ein Teil der theologischen Tradition für möglich hält. Jedenfalls können wir radikal phänomenologisch sagen, dass die äußersten Weisen des Sterbensvollzugs den originären Weisen der Lebensselbstzeugung entsprechen, denn es gibt nur eine Weise der Selbstgebung, welche das fundamentale Wie der Lebensphänomenalisierung als solcher ist – nämlich ihr Sich-Geben niemals zurückhalten zu können. Wäre Letzteres in irgendeiner Weise innerhalb der absoluten Selbstaffektion möglich, welche in Gott dem innertrinitarischen Geschehen als Selbstoffenbarung entspricht, dann gäbe es durch diese Nicht-Gebung des Lebens eine Verweigerung, die als Einhalten des Lebens Tod im absoluten Sinne wäre, das heißt das reine Nichts. Da im rein phänomenologischen Leben ein solches Nichts der Selbstgebung nicht denkbar ist, weil dadurch alle Erscheinung in ihrem immanenten Selbsterscheinen hinfällig würde, so kann seinerseits der Tod nicht dieses absolute Nichts sein, weil er die originäre Selbstgebung des Lebens nicht in Frage stellt. Oder mit Mth 16,25 gesagt: »Wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen«, weil das Leben immer im ErstLebendigen geschieht. Wir erblicken im zuletzt Gesagten keine metaphysische Aussage im Sinne einer Deduktion aus einem als umfassend gegebenen Sein heraus, welches durch die phänomenologische Kritik mittels Zeitlichkeit und Horizontbildung in sich keinen Bestand hat, falls zuvor keine Seinseröffnung stattgefunden hätte. Vielmehr bieten die Passionsberichte, wenn sie im Zusammenhang mit dem gesamten Neuen Testament als originärer Lebensoffenbarung gelesen werden, keinen Anlass, ein solches Leben, wie es in Jesus als Christus gegeben ist, mit dem Tod enden zu lassen, auch wenn die Berichte von der Grablegung und der Verschließung, Versiegelung und Bewachung des Grabes einen welthaft definitiven Tod dokumentieren (Mth 27,60–66). »Vollendet« Jesus als der Christus sein inkarnatorisches Leben, indem er seinen »Geist aufgibt«, so muss dieser Geist als Übereignung der 159 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

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Gesamtperson an Gott phänomenologisch originär affiziert sein, weil sonst diese letzte Geste eine reine Leerintention ohne jeden konkreten Inhalt bliebe. Diese Geste versammelt vielmehr mit einer letzten Deutlichkeit, was das gesamte öffentliche Leben Jesu bezeugt hat, nämlich die Weitergabe des absoluten Lebens an die Menschen durch seine ständige Hingabe an den Vater in Worten und Werken. Wenn wir also wesenhaft nichts vom Ende unseres Sterbens als »Tod« im Vorhinein ausmachen können, sondern nur durch andere Menschen die Erfahrung ihres »Verscheidens« erproben, so zeigen die Sterbensberichte vom Tode Jesu eine Übereinstimmung des Wesens seines Sterbens mit dem Wesen seines Lebens. Mithin von einem Ursprung her zu existieren, der in allen Manifestationen Jesu als dem Christus die Selbstoffenbarung der ursprünglichen Lebensparusie als des ErstLebendigen zum Ausdruck bringt. Gibt es schon für die Aussagen der Selbstoffenbarung als Sohn des ewigen Lebens in Gott keine Zeugnisse von außen, weil diese nur dem Horizont der Welt entsprechen, so muss a fortiori gelten, dass es im Sterben Jesu als Hingabe an den Vater – und zwar in Entsprechung zu ihrer innerlich lebendigen Gegenseitigkeit – kein welthaftes Zeugnis zu geben vermag. Denn am Sterben als Tod finden alle Bezeugungen als Intentionalitäten das Ende ihrer welthaften Möglichkeiten. Dass aber die Welt keine Letztgebung ist, wie schon Husserls phänomenologische Kritik am »Weltabsolutismus« nicht müde wurde herauszustellen, gehört zum zentralen Inhalt der Predigt Jesu vom Reich Gottes als dem absoluten Leben im Vater. Wenn diese Gewissheit, welche die selbstaffektive Gewissheit seines ewigen fleischgewordenen Sohnseins selber war, die Bedrängnis äußersten Todesleidens gekannt hat, um auch hierbei noch solches Erleidenkönnen menschlicher Abgründigkeit als Weise des Lebens zu empfinden, dann gibt es keinen Grund, die neutestamentliche Grundüberzeugung von diesem letzten Punkt her in Frage zu stellen. Vielmehr laufen alle Zeugnisse darauf hinaus, dass er noch im Tod das Leben schlechthin war, und solches Leben kann auch in unserem Tod Leben bleiben, weil alles Empfinden ein Empfindenkönnen in seiner originären Fleischwerdung ist. Ohne thematisch auf ethische oder dogmatische Inhalte zurückgreifen zu müssen, bleibt daher ebenfalls in unserem Sterben das Selbstempfinden eines solchen Empfindens in der Fleischwerdung Christi als dem Erst-Lebendigen bestehen. Denn solange der existentielle Prozess des Sterbens dauert, unterliegen wir der passiblen Im160 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Passion und Sterben Christi

pressionabilität, welche sich nicht selbst trägt, sondern die Präsenz des ur-anfänglichen Lebens als die Inkarnation des Wortes Gottes in uns impliziert. Ist der Tod, so wie wir ihn von außen her verstehen können, das Ende der körperlichen Empfindung als einer noematischen Gegebenheit unserer subjektiven Sinnlichkeit, so ist damit noch nicht gesagt, dass durch ein solch zeitliches Ende in der ontischen Empfindung als »Tod« auch das rein phänomenologische Empfinden in seiner radikal unsichtbaren Selbstgegebenheit an ein Ende gekommen sei. Sofern die Phänomenologie in allem Erscheinen von der Originarität des immanenten Erlebens auszugehen hat, stößt sie hier ohne Zweifel an eine Grenze der Analyse als Diskurs. Aber in ihrer zuvor aufgewiesenen Affinität mit den neutestamentlichen Zeugnissen, besonders in der johanneischen Bekundung des Erst-Lebendigen, ergibt sich außerdem die Einsicht, dass sichtbarer Tod nicht mit einem Ende des sich selbstzeugenden Lebens identisch sein muss. Die unmittelbare Gewissheit, unser Leben nicht durch uns selbst zu besitzen, kann an dieser Stelle dann zu der Gewissheit werden, dass jenes christologische Leben, welches unser Leben in dessen originärem Anfang begründet, uns nicht nur bis zum irdischen Ende hin affiziert, sondern in der Unverbrüchlichkeit dieser ipseisierenden Affektion diese selbst als ein immanentes »Leben in Christus« aufgehoben ist. Dabei haftet solcher »Ewigkeit« weder eine zeitliche Dauer noch eine intentional akthafte Identität an, welche ein Weiterleben selbstreflexiver Ichidentität bedeuten würde. Die Gewalt des Todes ist eine grundsätzliche Gewalt für dieses Ich in seiner transzendentalen Illusion, sofern es vermeint, aus sich selbst heraus zu leben. Aber diese letzte Zerstörung durch eine Gewalt von außen führt abgründigerweise an die noch ursprünglichere »Gewalt« heran, nämlich originär ein »Mich« in reinster Passibilität zu sein. Dass letztere dann der allein gegebenen Ipseisierung im Erst-Lebendigen entspricht, ist eine strukturelle Gewissheit, die nicht mehr der Welt entstammt, sondern dem Zeugnis des Todes und der Vollendung Christi im Leben, sofern sich darin sein unzerstörbar göttliches Leben bekundet. Dass die Wahrheit seines Lebens auch die Wahrheit meines Leben ist, lässt sich daraufhin als die Selbstoffenbarung immanenter Auferstehung verstehen, deren originäres Fleisch kein anderes als diese reine Bezüglichkeit zwischen ihm und mir – sowie uns allen – ist. Eine Proto-Relation, welche allein durch die innergöttliche Gegenseitigkeit sowie in derselben besteht, wie sich sowohl in den Auferweckungsberichten bekundet 161 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Fleischwerdung des Wortes

wie in den Heilungsgesten Christi, in denen sich zugleich Gottes Herrlichkeit vor Tod und Auferweckung manifestiert, wie noch zu zeigen bleibt.

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6. Gottes Herrlichkeit und Auferstehung Christi

Dass der Begriff der doxa, welcher im griechischen Denken das unsichere subjektive Denken bezeichnet, durch die Septuaginta-Übersetzung der hebräischen Bibel zum Begriff der unanzweifelbaren »Herrlichkeit Gottes« (kabod Jahwe) werden konnte, birgt mehr als eine philologische Eigentümlichkeit. Aus dem Schwanken der Meinung und dem konjekturalen Wahrnehmen als Vermutung, welchen sich die Philosophie als Dialektik oder Intuition in ihrem absoluten Wahrheitsstreben innerhalb einer selbstverantworteten Erkenntniskritik seit Platon gegenüberstellte, wird der Begriff zur Bezeichnung der Gotteswirklichkeit als ihrer unvergleichbaren Heiligkeit schlechthin. Diese semantische Verschiebung für das Verständnis der Doxa Theou als Herrlichkeit Gottes ohne jede Erkenntnisrelativierung ist jedoch vielleicht nicht ganz so überraschend, falls man den Gegensatz von empfindender Subjektivität und überwältigender Gotteswirklichkeit aus dem dabei zumeist implizit mitgedachten Seinsverhältnis herauslöst und in seine radikal phänomenologische Originarität zurückversetzt. Stellt nämlich der Gott des Alten wie des Neuen Testamentes keinen »Gott der Toten, sondern der Lebendigen« dar (Mk 12,27), dann bemisst sich seine Herrlichkeit oder Hoheit als doxa auch an keinerlei totem oder objektivem Weltsein, sondern an dieser seiner originären Lebendigkeit, welche das Grundverhältnis zu seinen Geschöpfen von Adam über Abraham wie Moses bis hin zu Jesus und uns bildet. Mit anderen Worten wird die in den vorherigen Kapiteln von uns analysierte absolute Offenbarungsmächtigkeit des originär Selbstaffektiven als Lebendigkeit durch die reine Lebensfülle Gottes in die Dignität ihrer eigentlichen subjektiven Bedeutung erhoben, indem sich die »Herrlichkeit Gottes« zumal im Offenbarungsgeschehen Jesu Christi als in jeder Hinsicht lebensstiftende Wirklichkeit erweist: Kranke werden geheilt, Tote auferweckt, Sündern vergeben. Das heißt, die jeweils faktische Objektivität des Welt- und Geschichtsseins wird als letzter Maßstab rückgängig gemacht, die Zeit 163 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Gottes Herrlichkeit und Auferstehung Christi

in ihrer Mächtigkeit von Verderben und Tod als scheinbar äußerstes Gesetz unseres Daseins aufgehoben, indem das »Reich Gottes« in seiner Andersheit hervorbricht.

1) Der neutestamentliche Doxa-Befund Die Frage muss daher lauten, ob eine Verklärung, welche in der Neuzeit zumeist nur mit dem Begriff des fiktiv imaginären Seins innerhalb der Ästhetik verbunden war, jene Wirklichkeit der »göttlichen Herrlichkeit« in sich aufnehmen kann, wodurch die christologische Denk- und Handlungsweise in ihrer Substanz bestimmt ist. Auf diese Weise wollen wir jedoch keine theologische Ästhetik als eine gesonderte Disziplin im Sinne einer Fundamentaltheologie, Dogmatik oder Metaphysik entwerfen, wie sie Hans Urs von Balthasar mit seinem großen Werk »Herrlichkeit« bisher unübertroffen vorgelegt hat. Vielmehr soll gemäß der vorher genannten Andeutung eine originäre Ästhetik des absolut phänomenologischen Lebens bewusst werden, wie sie durch die Identität des Heilswillens Gottes mit Christus als dem Erst-Lebendigen ursprünglich zusammenfällt. Herrlichkeit oder Verklärung wären dann in solchem Zusammenhang genau das, was sich im Leben Christi als Leben Gottes selbst offenbart, indem das Leben der Menschen sich dadurch in seiner höchsten Lebendigkeit und Würde als gottgezeugt erfährt – und insofern als in der Herrlichkeit Gottes als solcher begründet erscheint. Die Ästhetik solchen Lebens wäre dann nicht mehr nur Imagination in einem fingierten Darstellungsraum, welchen etwa die Malerei, Musik und Literatur entwerfen, sondern der Widerschein des göttlichen Lebens selbst in einer Existenz, die solche Manifestation als ihre innerste Wirklichkeit im Vollzug weiß. Die früheren Erscheinungsweisen der kabod Jahwe als Heiligkeit, welche sich trotz ihrer Naturjenseitigkeit in der Wolke, im verzehrenden Feuer oder im rettenden Eingriff für sein Volk Israel zeigte (Ex 24,16 f.; Lev 9,23 f.; Num 14,10), sind damit nicht aufgehoben, aber sie verlagern sich naturgemäß in die Heilstaten Christi, deren Herrlichkeit neutestamentlich besonders in seiner Auferstehung als dem lebensaffirmierenden Geschehen schlechthin gesehen wurde. Wenn demzufolge auch Jesu Herrlichkeit vornehmlich als die Glorie des Gekreuzigten im Auferstandenen aufgefasst wird, wie wir zuletzt ausführten, so wird die einheitliche Offenbarung seiner wie Gottes 164 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Der neutestamentliche Doxa-Befund

Herrlichkeit in diesem Ereignis nicht allein in einem Moment solcher dramatischen Heilsgeschichte vollzogen. 183 Vielmehr handelt es sich um eine Offenbarungsherrlichkeit, welche die Manifestation des Sohnes durchgängig bestimmt, sofern er eben in seinem gesamten Leben und Tun »das Ebenbild des unsichtbaren Gottes« ist (Kol 1,15), wie die Verklärungsszene bei den Synoptikern ihrerseits unterstreicht. Bedeutet mithin die Herrlichkeit Gottes die Gesamtheit der Offenbarung in ihrem lebensstiftenden Anfang, dann schließt dies ein, dass »nichts verborgen ist, was nicht offenbar werden soll, und nichts geheim, das nicht ans Tageslicht kommen soll« (Mk 4,22). Die absolute Ästhetik der offenbar gemachten Herrlichkeit Gottes in Jesus als dem Christus kennt folglich keinerlei Esoterik, was nicht nur besagt, dass sich die jesuanische Predigt gegen zeitgenössische Praktiken von zirkelhaften Einweihungen abgrenzt, sondern dass seine doxa eine von Vornherein allen Menschen zugängliche Offenbarkeit ihres Lebens ist. Wenn jedoch Menschen unterschiedlichster Schichten und Bildungsgrade, Männer wie Frauen, zu ihm kommen und dadurch auch schon die Grenze zwischen »Heiden« (Syrophöniziern, Römern, Griechen) und Gläubigen Israels prinzipiell aufgehoben wurde, dann kann diese Offenbarkeit letztlich in keinem theoretischen Verstehen gründen, weil die kulturellen Bedeutungsreferenzen der Völker lebensweltlich bestehen bleiben. Offenbarkeit kann sich daher im Sinne der göttlichen Herrlichkeit nur auf jene doxa beziehen, wie sie mit der Absolutheit des originären Lebens in jedem Menschen selbst aufbricht. Denn nur in diesem absoluten Leben gibt es dann kein Unverborgenes mehr, da im Raum jeder aufgesuchten Wahrheitsevidenz stets noch verborgene Implikationen mitgegeben bleiben, die im Sinne der Phänomenologie konstitutiv jeder Gegenständlichkeit als solcher anhaften. Jene Herrlichkeit des Lebens Gottes in seiner Selbstoffenbarung muss daher unmittelbar auch als die Herrlichkeit unseres Lebens selbst aufscheinen, so wie dieses in der Herrlichkeit des Lebens Christi ipseisierend gegründet ist. Eine solche Herrlichkeit ist daher »ästhetische Existenz« im eigentlichen Sinne, um anderweitige Analysen hier mit zu integrieren, 184 nämlich der reine Vollzug ihrer Affiziertheit, und zwar nicht als Paradox wie etwa bei Pascal Vgl. H. U. von Balthasar, Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik, 3 Bände, Einsiedeln 1961–1964. 184 Vgl. R. Kühn, Lebensmystik. Ursprüngliche Erfahrungseinheit von Religion und 183

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Gottes Herrlichkeit und Auferstehung Christi

oder Kierkegaard, sondern als Freude bzw. Seligkeit. Nicht umsonst hebt das Evangelium nach Markus, dem wir hier hauptsächlich als einem der frühesten Zeugnisse der christlichen Schriften folgen wollen, mit einer solchen Proklamation an: »Anfang der Frohbotschaft (euaggeliou) von Jesus Christus, dem Sohne Gottes« (1,1), um es dann im Einzelnen durch Jesu Worte und Gesten zu entfalten. Die beiden Perikopen, in denen der Begriff der doxa Jesu als des Menschensohnes namentlich auftaucht, betrifft seine Nachfolge als Leidensnachfolge und deren Gegenteil als das Verlangen von Jakobus und Johannes, in seinem Reiche zu seiner Rechten und Linken sitzen zu dürfen. Es gibt hierbei einen eindeutigen Zusammenhang von Leben/Herrlichkeit und Macht/Herrlichkeit, der für die Offenbarung des immanenten Erscheinens als Gegenwart Gottes zentral ist. Denn im ersten Fall wird auf radikale Weise verdeutlicht, dass der Versuch, sein Leben selbst retten zu wollen, dessen Verlust besagt, und dies mit einer zweifachen Begründung: »Denn was nützt es einem Menschen, die ganze Welt zu gewinnen und dabei sein Leben einzubüßen?« Sowie: »Denn was kann ein Mensch als Preis geben, um sein Leben zurückzukaufen?« (Mk 8,36 f.) Das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus, und damit implizit das Einstimmen in die dadurch strukturell immer mögliche Leidensnachfolge, ist mithin in Bezug auf den Ursprung des reinen Lebens formuliert, welcher jenen transzendentalen Schein aufhebt, selbst über das Leben verfügen zu können. Dieser welthaft ästhetische Schein, wie man sagen könnte, wird durch die wahre Herrlichkeit ersetzt, welche darin beruht, dass »der Menschensohn in der Herrlichkeit (doxa) seines Vaters mit den heiligen Engeln wiederkommen wird«, um jedes Leben als das wahre zu bezeugen, welches sich um seinetwillen verleugnete (Mk 8,38). Die entscheidende, religiös ästhetische Wende in der Auffassung vom eigenen Leben betrifft folglich die radikal phänomenologische Wahrheit, dass dessen Herrlichkeit als ausschließlich in Gott ruhendes Leben erst dann ergriffen zu werden vermag, wenn solches Leben nicht mehr – vergeblich – seine eigene Bezeugung sucht, sondern dessen Ursprung in Christus als dem Erst-Lebendigen. Der absolute Übergang von einer Ästhetik des Scheins zur Ästhetik der Herrlichkeit Gottes beinhaltet somit eindeutig eine ontologische Desillusionierung tiefster Natur, durch welche die ursprünglichen Fundierungsverhältnisse Ethik im Spiegel »philosophischer Mystik«, Dresden 2018, 305–324: »Ästhetik und Lebensmystik«.

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Der neutestamentliche Doxa-Befund

allen Erscheinens klargestellt werden, was gerade die anfangs erwähnte philosophische Neubestimmung von doxa (Schein) als ur-anfänglichem Selbsterscheinen (Herrlichkeit Gottes) impliziert. Von gleich radikaler Offenbarungsstruktur ist auch die Umkehr jener Bitte, an der Macht des Menschensohnes »in seiner Herrlichkeit« teilhaben zu wollen, wie es demonstrativ das Sitzen zur Rechten und Linken gemäß damaligem Hofzeremoniell einschloss (Mk 10,37). Auch hier rückt Jesus die grundsätzlichen Verhältnisse einer Weltästhetik einerseits und einer Lebensästhetik im Sinne Gottes andererseits zurecht: »Ihr wisst, dass die, welche als Herrscher der Völker gelten, ein Gewaltregiment über sie führen und dass ihre Großen sie vergewaltigen.« (Mk 10,42) Diese in ihrer Schärfe kaum zu übertreffende Einschätzung politischer Machtverhältnisse als Vergewaltigungen für Leib und Existenz steht wiederum eine ebenso klare Aussage im Zusammenhang mit der Lebensrealität Jesu gegenüber. Wenn der Größte unter den Jüngern der Diener aller sein soll, dann deshalb, weil »der Menschensohn nicht gekommen ist, um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen und sein Leben als Lösegeld für viele hinzugeben« (Mk 10,45). Dieser zuletzt angedeutete soteriologische Aspekt der Offenbarungswirklichkeit Christi als seiner Heilswirklichkeit sollte aber nicht verkennen lassen, dass der Gesamtzusammenhang einen deutlichen Bezug zwischen Herrlichkeit und Leben als Kritik an jeder Macht – letztlich als deren Umkehrung – formuliert. Insofern kann eine Ästhetik des absoluten Lebens als »Herrlichkeit Gottes« nie den mindesten Schein an Verschleierung oder Fingieren implizieren, sondern als eine reine Ästhetik des Lebens bestätigt sie die göttliche Herrlichkeit des Ursprungslebens in dessen Erscheinen ohne jegliche Machtusurpation. Weil das Leben in seiner äußeren Nacktheit völlige Schutzlosigkeit in der Welt bedeutet, zeigt sich darin zugleich seine höchste Würde, wie wir wiederholt aufzeigten, nämlich zur immanenten Wirklichkeit der originären Selbstoffenbarung Gottes zu gehören. 185 In den schon erwähnten Taten Jesu als Auswirkungen solcher Herrlichkeit zeigt sich dies im Markus-Evangelium auf dreifache Weise: 1) von Leid und bösen Geistern Befallene werden geheilt; 185 Für mögliche Bezüge gegenüber den biopolitischen Analysen Giorgio Agambens vgl. M. Maesschalck, »Das nackte Leben«, in: E. Angehrn u. J. Scheidegger (Hg.), Metaphysik des Individuums. Die Marx-Interpretation Michel Henrys und ihre Aktualität, Freiburg / München 2011, 108–126.

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Gottes Herrlichkeit und Auferstehung Christi

2) dem originären Leben widerstrebende Gebote werden als nichtig erklärt und 3) wird auch den größten Sündern vergeben. Besonders bei den Heilungswundern und der Sündenvergebung spielt jeweils der Glaube an den Menschensohn als Erretter eine grundlegende Rolle, ohne dass jedoch ein solcher Glaube immer schon zusammen mit der Bitte um Heilung als Bedingung derselben vorausgehen müsste – der Glaube kann auch erst das Ergebnis der von allen bestaunten Heilung darstellen. In der frühesten Heilung, die von Markus im Zusammenhang mit Jesu erstem Auftreten in der Synagoge von Karphanaum berichtet wird, handelt es sich um »einen Menschen mit einem unreinen Geist«, welcher das Messiasbekenntnis ausstößt: »Ich weiß, wer du bist: Der Heilige (hagios) Gottes.« Jesus gebietet diesem bösen Geist Schweigen hinsichtlich eines solchen Messiaswissens und befiehlt ihm, aus dem besessenen Menschen auszufahren, was die Menschen nach dieser Austreibung in größte Verwunderung geraten lässt: »Was ist dieser? Eine neue Lehre in Vollmacht (kat’exousían). Sogar den unreinen Geistern gebietet er, und sie gehorchen ihm.« (Mk 1,23–27) Da dieser Austreibungsbericht das öffentliche Wirken Jesu begründet, wird der Glaube an ihn als den Menschensohn allen späteren Einzelberichten von der Glaubensbegegnung mit Jesus vorangestellt, um den Inhalt der von Vers 1,1 genannten Proklamation des »Evangeliums von Jesus Christus, dem Sohne Gottes« zu spezifizieren. Es handelt sich um eine »neue Lehre«, in welcher sich die Herrlichkeit Gottes als »Vollmacht« offenbart. Denn Vollmacht als exousia spricht die originäre Wesenhaftigkeit (ousia) dessen an, der ein solches Tun der Austreibung unreiner Geister ausführt, um anzuzeigen, dass gegenüber dem Heilswillen Gottes als seiner Heiligkeit oder doxa keine anderen Besitzansprüche bestehen können. Das Heilswirken Gottes in Jesus als Beginn seiner Herrschaft ist unwiderruflich, wie es zuvor schon in Mk 1,15 gleich nach seiner Taufe und Versuchung heißt: »Die Zeit ist erfüllt und das Reich Gottes ist nahe herbeigekommen; kehrt um und glaubt an die Frohbotschaft!« Die Vollmacht, mit der Jesus predigt und heilt, entspricht folglich der Unmittelbarkeit dieses Reiches selbst, wodurch Gott seine Herrlichkeit manifest werden lässt. Das heißt, seine Ousia ist reine Doxa als Erscheinen (phainesthai) ohne jede Verbergung nach Mk 4,22. Dass diese Vollmacht eine andere Art zu lehren beinhaltet, als die Zuhörer es von den Schriftgelehrten gewohnt sind (Mk 1,22), zeigt außerdem, dass mit Jesu Verkündigung grundlegend etwas 168 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

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Neues durch seine Lehre beginnt. Es findet in der Tat nicht mehr nur die traditionelle Auslegung des Gesetzes statt, um im religiösen Gehorsam zu verharren, sondern das, worauf die Gesetze an sich abzielten, nämlich die lebendige Gegenwart Gottes, wird jetzt selbst greifbare Wirklichkeit in ihrem reinsten Selbsterscheinen. Mithin stehen Vollmacht, Neubeginn und Herrlichkeit in einem originär ästhetischen Offenbarungsverhältnis zueinander, welches die Offenbarungswirklichkeit Gottes in Christus ästhetisch als über alle bisherigen welthaften und religiösen Kategorien hinausgehend erweist. Eine Lehre kat’ex-ousian sprengt alle Erwartungshorizonte und bildet ein Ereignis, welches weder in dieser Weise vorhersehbar war noch mit den üblichen Interpretationsmitteln erfasst zu werden vermag. Deshalb lässt sich sagen, dass hier vor jeglicher Hermeneutik eine Ästhetik der Herrlichkeit ins Spiel kommt, welche alle intuitiven Erfüllungsmöglichkeiten menschlichen Denkens und Hoffens übersteigt, so wie bereits im Bereich künstlerischer Ästhetik ein vollkommenes Werk alle Wahrnehmungsintentionen durch seinen singulären Glanz überragt. 186 Mit anderen Worten offenbart die jesuanische Ästhetik eine Doxa, welche in ihrem unmittelbaren Erscheinen reine Manifestation dieses Erscheinens selbst ist, wie auch noch am Verklärungsbericht in unserem Ausblick über die Lebenssituativität eines jeweilig absoluten »Hier« zu zeigen sein wird. Wäre damit auch die doxa als Herrlichkeit Gottes dem Übermaßcharakter einer Horizont übersteigenden Phänomenalisierung zuzuordnen, so würde damit allein jedoch noch nicht einsichtig, wie sie die Menschen originär berühren könnte. Denn deren Verwunderung hätte nichts mit ihnen selbst zu tun, falls diese Manifestation Gottes in ihrem eigenen Inneren keine phänomenologische Entsprechung besäße. Dies wird an der ersten Krankenheilung im Markustext erkennbar, wo ein Aussätziger zu Jesus kam, »ihn kniefällig bat und sprach: Wenn du willst, kannst du mich rein machen« (1,40). Sehen wir hier davon ab, dass auch die kultische Reinheit eines Aussätzigen in dieser Bitte mit einbeschlossen ist, wie die Fortsetzung des Heilungsberichtes zeigt (1,43–45), so ist die Reinheit das Gesamtempfinden einer Existenz als Integrität, welche sich entgegen ihrem 186 Bis an diesen Punkt kann der Interpretation von einem »gesättigten Phänomen« in Bezug auf die phänomenologische Offenbarungsmöglichkeit in Jesus Christus bei J.-L. Marion zugestimmt werden; vgl. Etant donné. Essai d’une phénoménologie de la donation, Paris 1997, 329–335 (dt. Gegeben sei, Freiburg / München 2018).

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eigentlichen inneren Begehren leiblich wie sozial verworfen weiß. Der Glaube an die Heilung entspricht folglich einer Gesamtwiederherstellung des Lebens in all seinen Dimensionen, so dass Jesu Heilungswort »Ich will, werde rein« aus Vers 1,41 dem ursprunghaften Bedürfen eines solchen Lebens entgegenkommt, nämlich dieses selbst in seiner originären Selbstfreude leben zu können. Die Herrlichkeit Gottes in der dann vollzogenen Heilung ist nicht nur eine Vollmachtstat, welche den Glauben an die Heilung Wirklichkeit werden lässt, sondern zugleich Offenbarung der innersten Intention Gottes in Jesus, nämlich dessen Erbarmen: »Da streckte er erbarmungsvoll seine Hand aus, rührte ihn an …« (Mk 1,41). Die Korrelation von Reinheit/Erbarmen erweist die Herrlichkeit Gottes mithin als eine solche Ästhetik des Absoluten, welche das innerste Empfinden Gottes selbst offen legt, wenn dieses sich einem Leben in dessen Heilungsbitte gegenübersieht, was das Zentrum jeder Existenz als rein phänomenologisches Begehren ausmachen dürfte. 187 Es geht daher nicht nur um welthaft transzendierte Horizonte der Offenbarungswirklichkeit Gottes, sondern dem Selbstempfinden des Lebens entspricht als immanent affektive Wirklichkeit das Erbarmen Gottes. Es ist jene originäre Weise, in der sich die Heilungsvollmacht Jesu konkret als dessen eigenes inkarniertes Empfinden offenbart, womit die doxa als Herrlichkeit kein transzendentes Geschehen mehr ist, sondern eine innerhistoriale Gegebenheit von Leid und Freude. Deren Grundpathos impliziert die Wirklichkeit der nie abwesenden Heilsintention Gottes in jener ur-anfänglichen Struktur, welche die Menschen auszeichnet, nämlich ihr Leben in seiner Originarität ausschließlich der absoluten Affektion eines göttlichen »Mitgefühls« zu verdanken. So »angerührt«, vermag der Geheilte gar nicht mehr anders, als sein unmittelbares Weggehen nach der Heilung zum »eifrigen Verkünden« werden zu lassen, so dass »die Sache sich verbreitete und die Leute von überall her kamen« (Mk 1,45). Kurz gesagt, verlassen wir mit einer rein affektiven doxa jede vorstellungsbedingte Trübung der Offenbarung Gottes als seiner Herrlichkeit, um ihr Selbsterscheinen radikal in der je affektiven Unmittelbarkeit zu erproben.

187 Vgl. R. Kühn, Begehren und Sinn. Grundlagen für eine phänomenologisch-tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Supervision, Freiburg / München 2015, 232 ff.

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Erklärt sich das Schweigegebot Jesu bei allen ähnlichen Heilungen dadurch, kein Missverständnis hinsichtlich seines nicht imperialen Messiastums aufkommen zu lassen (wie dies dann wirklich nach der wunderbaren Brotvermehrung geschieht, indem sie ihn »zum König machen wollten«: Joh 6,15), so besteht dennoch ein grundsätzlicher Zusammenhang zwischen Heilung und Verbreitung seiner Botschaft. Letztere wird nicht nur explizit den Jüngern bei ihrer Aussendung aufgetragen (Mk 6,7–12), sondern die Verkündigung der Botschaft dient dazu, der Allherrschaft gesellschaftlicher und religiöser Gebote die Herrlichkeit Gottes als Einspruch gegen die »Verhärtung der Herzen« entgegen zu setzen, wie es besonders bei der Heilung eines Menschen mit gelähmter Hand am Sabbat sichtbar wird. In diesem zentralen Kontext für den Gesetzesglauben Israels stellt Jesus in der Tat pro-vokativ die Frage: »Ist es erlaubt, am Sabbat Gutes zu tun, oder soll man Böses tun; darf man ein Leben retten oder soll man es töten?« (Mk 3,4) Hier betrifft die Herrlichkeit Gottes als Vollmacht des Erst-Lebendigen den gesamten Bereich der Ethik, in den jedes Leben im Sinne eines originären Lebensethos hineingestellt ist. 188 Deshalb erfolgt auch eine grundsätzliche Entscheidung – der Sabbat sei für den Menschen gemacht, und nicht umgekehrt, wie es schon zuvor bei der Auseinandersetzung um das Ährenpflücken der Jünger am Sabbat hieß (Mk 2,27). Denn die innerste Wirklichkeit des Lebens (das Gute) ist nicht in Bezug auf eine Norm (das Böse implizierend) gewährt, sondern allein um des Lebens Gottes selbst willen, welches als immanente Teleologie seiner Selbstoffenbarung nur die Offenbarung im Innersten des Lebens des Menschen selbst kennt. Die ausdrückliche »Betrübnis« und der offensichtliche »Zorn« Jesu gegenüber der Herzensverhärtung hinsichtlich eines bedürftigen Lebens auch am Sabbat ist wie die Kehrseite seiner offenkundigen Handlungsfreude. Diese zieht sich mit größter Energie und Spontaneität durch das gesamte Markus-Evangelium, um den Menschen durch seine Taten und Worte die uneingeschränkte Heilszusage Gottes in der Konkretheit ihrer Existenz spürbar zu machen. Radikal phänomenologisch ließe sich daher strukturell sagen, dass das Wesen der Offenbarung in ihrer originären Herrlichkeit als reiner Selbstgebung die Wirklichkeit eines jeden Lebens genau auf dieser Ebene 188 Vgl. R. Kühn, Lebensethos. Inkarnatorische Konkretionen originärer Lebensreligion, Dresden 2017, 189 ff.

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treffen will. Was dem nicht verhärteten Leben entspricht, ist vonseiten Gottes und Christi – sowie letztlich auch der Menschen untereinander – diese kompromisslose Ästhetik des originären Sich-Gebens, weil es durch deren Erscheinen keinen selbstgenügsamen Bereich einer rein normativen Ethik mehr zu geben vermag. 189 Das eingangs erwähnte Subjektive der griechischen doxa erweist sich somit ebenfalls als das eigentliche Herzstück der neutestamentlichen Herrlichkeit Gottes. Deren Interesse gilt jedem Leben in seinem umfassenden Heilsein, einschließlich der ontologischen Befähigung, die Grundintention Gottes in Bezug auf alles Leben in sich selbst zu erproben, das heißt die eigene originäre Subjektivität als Möglichkeit der Barmherzigkeit anstelle individueller oder sozialer Gesetzestreue. Geht die neutestamentliche Ontologie radikal phänomenologisch in eine solche Ästhetik des absolut lebendigen Empfindens und Tuns auf, um dadurch jede Ethik als bloße Gebotsinstanz aufzuheben, dann bedeutet die Herrlichkeit Gottes letztlich eine Unmittelbarkeit des Absoluten als unaufhebbarem Sich-Geben. Christi Vollmacht als spontaner Ausdruck der Herrlichkeit Gottes in ihm selber als dem Erst-Lebendigen ist jene Mächtigkeit, wie sie sich aus der Ur-Affektion des absoluten Lebens oder Gottes ergibt – eine Mächtigkeit, welche in ihrer unmittelbaren Selbstgewissheit die Ästhetik der Liebe ohne Distanzierungsmöglichkeit mittels eines transzendenten Gesetzes impliziert. Indem sich nämlich das Leben als in Gottes Leben selbst affiziert erprobt, vermag es offenbarend in Jesus gar nichts anderes, als allem Leben so gegenüber zu treten, als sei es das Selbstverständlichste, dem Leben die Fülle seiner Möglichkeiten zu gewähren. Im pathischen Austausch lebendiger Subjektivitäten untereinander vollzieht sich daher vorrangig kein zu verstehender Inhalt, sondern die material phänomenologische Herrlichkeit des Lebens selbst, sofern die Offenbarung Gottes in ihm zu dessen Selbstoffenbarung wird. Keine angebbare Grenze kann dieser Herrlichkeit gegenüber mehr gezogen werden, weder physisches Leid noch sittliche Vorschriften, und auch nicht der Tod in Form von Schuld und Sünde. Letzteres dokumentieren mit gewünschter Klarheit vor allem die Sündenvergebungen im Markus-Evangelium. Bei der Heilung eines Gelähmten nochmals in Karphanaum wird die Vollmachtsfrage anlässlich der Sündenvergebung ausdrücklich in 189 Vgl. M. Henry, »Ich bin die Wahrheit«. Für eine Philosophie des Christentums, Freiburg / München 1997, 240 ff.

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die Mitte der Auseinandersetzung gestellt. Nachdem Jesus angesichts des Glaubens jener, die den Kranken auf seiner Bahre durch das Dach des Hauses zu ihm herabgelassen hatten, bereits die Worte gesprochen hatte: »Mein Kind, deine Sünden sind vergeben«, dachten die ebenfalls anwesenden Schriftgelehrten bei sich: »Wie kann der so reden? Er lästert. Wer kann Sünden vergeben außer Gott allein?« (Mk 2,5–7) Hier wird bereits der mörderische Vorwurf gegenüber Jesus erkennbar, nämlich die Gotteslästerung, welche zu seiner späteren Verurteilung am Kreuz führen wird. Als Frage steht in der Tat durch solche Sündenvergebung, wie sie Jesus öffentlich ausspricht, die absolute Herrlichkeit Gottes zur Debatte, das heißt die tiefste Grundüberzeugung des jüdischen Monotheismus. Damit sind wir weit über eine rein ethische oder religiös sittliche Problematik hinaus, wie wir bereits festhielten, um auf das Grundverhältnis von doxa/exousia zurückzukommen, und zwar diesmal nicht nur in Zusammenhang mit einem faktischen Krankheitsbefund, sondern vielmehr in Bezug auf die abgründige Frage: Wie vermag überhaupt Vergangenes oder Gewordenes aufgehoben zu werden? In einer physikalischen Kausalkette lassen sich stets einige Faktoren in der Ursache verändern, um neue Ergebnisse hervorzubringen, aber eine einmal geschehene Tat bleibt in ihrer individuellen Faktizität unverrückbar, welche Erklärungen zu ihrer Motivation auch immer – mit Recht oder Unrecht – gefunden werden mögen. Mit anderen Worten bedeutet hier die Herrlichkeit Gottes zugleich auch seine Inanspruchnahme als Schöpfer, das heißt sein Herrsein über die Zeit schlechthin in ihrem Werden und Vergehen. Denn wenn die Sünde vergeben wird, und somit nicht mehr ist, dann stellt sich auch Jesus über die Ek-stasis der Zeit und hat teil an der Neuschöpfung eines Lebens aus der Vergebung seiner Schuld heraus. Damit verabschiedet Gottes doxa tatsächlich die äußerste welthaft transzendente Konstitutionsbedingung für ihr reines Erscheinen und erweist sich als die absolute Mächtigkeit oder Herrlichkeit, Leben aus ihrem originärem Leben hervorgehen zu lassen bzw. zur »Wiedergeburt« zu befähigen, was andere neutestamentliche Schriften, wie besonders Johannes und Paulus, vor allem als des Menschen »Sohnsein« in Christus als dem Ur-Sohn qualifizieren werden, wie wir aufwiesen. Genau diese Wirklichkeit, obwohl für jeden Lebendigen selbstaffektiv gegeben, vermögen die Schriftgelehrten nicht mit zu vollziehen, so dass ihr heimliches Denken »bei sich« oder »in ihrem Her173 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Gottes Herrlichkeit und Auferstehung Christi

zen« erneut jene innere Verhärtung andeutet, gegen die sich Jesu Predigt und Tun vehement wendet, weil darin das größte Hindernis gegenüber dem Manifestwerden der Herrlichkeit Gottes als ur-anfänglicher Lebensverlebendigung ruht. Ohne hier darüber des weiteren zu befinden, ob es einen psychischen Zusammenhang zwischen Lähmung/Sünde gibt, stellt Jesus jedoch indirekt klar, dass die »Leichtigkeit« der Heilung einer Lähmung in Bezug auf die Sündenvergebung einen qualitativ anderen Schritt darstellt. Es geht nicht nur darum, das Zeitverhältnis schöpferisch umzukehren, mithin Vergangenes ungeschehen zu machen, sondern eine neue Seinsweise des Lebens »auf Erden« überhaupt zu ermöglichen: »Damit ihr aber wisst (eidete), dass der Menschensohn Vollmacht (exousian) hat, auf Erden Sünden zu vergeben – sprach er zu dem Gelähmten: ›Ich sage dir: Steh auf, nimm deine Bahre und geh nach Hause‹.« (Mk 2,10 f.) Die Erde ist damit gleichfalls der Raum Gottes wie der Himmel, der im Hebräischen stellvertretend für den Gottesnamen selbst steht, wie wir etwa aus dem Gebet des Vaterunsers wissen. Anders gesagt, ist nicht nur alle Zeitlichkeit als aufgehoben in die Herrlichkeit Gottes mit hinein genommen, sondern die doxa Gottes umfasst auch alle Räumlichkeit, so dass die irdischen Verhältnisse in einer grundsätzlich neuen Ästhetik aufscheinen können. Ein Leben aus der Vergebung ist ein »anderes Leben« in sich und für die Anderen, als wie es unter bloß irdischen oder objektiven Anschauungskategorien sichtbar wird. Durch die Sündenvergebung und ihre re-volutionierte Ästhetik ergibt sich folglich ein neues »Wissen« (eidete) überhaupt. Durch den Menschensohn wird die Eidetik des Welterscheinens umgekehrt oder aufgehoben, wie gesagt, indem in seiner (ex)ousia sogar das Böse oder die Sünde vernichtet ist. Dort, wo ein menschliches Leben existentiell seinen inneren Tod bekennen muss, indem es nicht alle originären Lebensmöglichkeiten als das Gute effektiv werden ließ, dort setzt genau durch Gottes Ver-gebung in Jesus Christus eine »Neubelebung« dieses Lebens ein. Barmherzigkeit wie Vergebung sind damit aus einer Ästhetik des absoluten Lebens nicht nur nicht wegzudenken, sondern sie begründen dieselbe in jedem Augenblick und an jedem Ort, sofern die irdischen Verhältnisse nicht das letzte Maß im Reich Gottes sind. Anders ausgedrückt, offenbart sich in Gottes Ver-geben die Originarität seiner Selbstgebung als lebendiges Selbsterscheinen, insofern dessen Ge-gebenheit selbst im Tod von Schuld und Sünde nicht ihr Ende finden muss. Schließen wir an dieser Stelle mit einer vergleichenden Zusam174 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

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menschau der ästhetischen Momente auf neutestamentlicher Grundlage ab, dann fällt zum einen eine gewisse Kontinuität sowie zum anderen ein Überschreiten der rein künstlerischen Ästhetik auf. Indem sich das ästhetische Schaffen und Rezipieren nur über die affektive Sinnlichkeit mit ihrem hervorgebrachten Glanz in Farben, Formen, Tönen und Bildern erschließt, vermag hingegen die immanente Wahrheit einer Ebenbildlichkeit mit dem originären Leben Gottes nur dank der gleichfalls zeitlosen Selbstaffektion im Ursprung unseres eigenen phänomenologischen Lebens erprobt zu werden. Ein solches Erproben ist kein Inhalt als ein Etwas mehr, welches sich noch in einen welthaften Horizont irgendeines noetisch-noematischen Verstehens einordnen ließe, sondern die Möglichkeit dieses Erprobens als reine Passibilität des Empfindens ruht in der reinen Selbstgegebenheit solchen Lebens selbst, welche durch keine unserer intentionalen Initiativen eingeholt zu werden vermag. Aus diesem Grunde hielten wir zuvor bereits fest, die Ästhetik des Lebens in Gott sei eine Ästhetik der reinen Erscheinensoriginarität als Selbstgebung Gottes dank der Offenbarung in Christus als dem Erst-Lebendigen im unmittelbarsten Widerschein solch originärer Verlebendigung. Die in ihm inkarnatorisch zur Wirkung gelangende Voll-macht des Vaters oder Reiches Gottes manifestiert die umgreifende Herrlichkeit des göttlichen Lebens als einer »Verklärung«, welche grundsätzlich auch den gesamten irdischen Bereich mit unserer jeweiligen Existenz umspannen kann. Und in dieser Hinsicht wird der Glanz jeder künstlerischen Ästhetik wesenhaft überboten, denn was diese nur als Verheißung eines Heils in ihren Werken anschaulich zu machen vermag, gewinnt in der Ästhetik der offenbaren Herrlichkeit Gottes die radikal phänomenologische Qualität einer den Menschen permanent betreffenden Wirktatsächlichkeit mit ihren originären Modalisierungen als je immanenter Veränderung. Die Auferweckung Christi ist daher die strukturell im ursprünglichen Leben bereits gegebene Bestätigung dieser grundsätzlichen Gegebenheit transzendentaler Verlebendigung, wie sie in Christi Worten und Gesten einschließlich seines Sterbens manifest wird.

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2) Osterberichte und Auferstehungsleib nach Paulus Alle neutestamentlichen Berichte über die Auferstehung Jesu Christi stimmen nämlich darin überein, dass er sterben musste, um am dritten Tage von den Toten aufzuerstehen, wie es die Schriften des Alten Testaments vorhergesagt hatten (Lk 24,25–27.45 f.; Joh 20,9; 1 Kor 15,3). Damit wird eine notwendige innere Beziehung zwischen diesen beiden Ereignissen hergestellt, welche eben in der originären Wesenhaftigkeit Christi als dem lebendigen Wort Gottes selbst gründet und von Lukas den engelgleichen Gestalten direkt in den Mund gelegt wird, als die Frauen sich fürchtend ins Grab beugten und den Leichnam Jesu nicht fanden: »Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?« (24,5) Es besteht also eine prinzipielle Kluft zwischen dem Bereich des Todes und des absoluten Lebens, dessen Repräsentant Christus selbst ist. Als der Erst-Lebendige schlechthin erweist er sich in Gott als derjenige, dessen eigentliches Wesen nicht als tot gedacht und empfunden werden kann, weil er als der »im Anfang« Fleischgewordene den Zugang zum Leben für alle Lebendigen bildet und in dieser Eigenschaft auch »jeglicher Kreatur« gepredigt werden muss (Mk 16,15). Deshalb sind ebenfalls seine Jünger zu allen Völkern gesandt, wie er selbst vom Vater gesandt worden war, um Sünden zu vergeben und die Menschen auf den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes zu taufen (Joh 20,21–23; Mth 28,19; Apg 1,5–8). Folglich ihnen in allem ein Leben in Gottes Leben als solchem zu ermöglichen, wie wir es bisher radikal phänomenologisch zu verstehen versucht haben und im Folgenden an den Osterberichten strukturell verifizieren möchten. Durch die Auferstehungsberichte wird eindeutig unterstrichen, dass jenes absolute Leben des Vaters, welches sich in der Auferstehung als dessen todesüberwindende Machttat an dem Gekreuzigten offenbart, auch das neue innere Leben der Menschen darstellt, soweit sie dieses Leben im Auferstandenen und – durch ihn – in sich selbst erproben. Johannes als jener Jünger, »den Jesus liebte«, formuliert dies von sich selber in äußerst lapidarer Feststellung beim Blick in das leere Grab: »Er sah und glaubte.« (Joh 20,18) Wenn daraufhin auch das Zeugnis durch Frauen, denen sonst im öffentlichen Leben ein solches Recht nicht zukam (Lk 24,11), sowie das Betasten des auferstandenen Leibes und Jesu Zusichnehmen von Nahrung (Mth 28,31.42; Lk 24,30 f.) für eine geschichtliche Wahrheit der Auferstehung als solcher spricht, zu der auch der durchgehend übereinstim176 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

Osterberichte und Auferstehungsleib nach Paulus

mende Bericht vom »leeren Grab« gehört, 190 so liegt das Entscheidende der Osterbotschaft dennoch im »Glauben« an die Wirklichkeit Jesu Christi als den »im Anfang« Lebendigen. Zusammen mit der schon genannten Verbindung von Tod und Auferstehung als einem einheitlichen Geschehen, zu dem auch die Erhöhung zu Gottes Rechten bzw. Jesu Himmelfahrt und die Geistsendung gehört (Lk 23,51; Mk 16,19; Joh 20,23), spricht folglich nichts dagegen, die Unmittelbarkeit der Auferstehungswahrheit in Jesu sich hingebendem Gehorsam durch sein Sterben selbst zu sehen. Wie wir im vorherigen Kapitel bereits ausführten, blieb er als der Christus in dieser äußersten Hingabe an den Vater der schlechthin Lebendige, weil er als das fleischgewordene Wort in dessen ur-anfänglicher Rückgabe an den Vater als gemeinsame Selbstoffenbarung im Heiligen Geist gar nichts anderes als diese beständige Wirklichkeit des absoluten Lebens sein kann. Der Glaube an die Auferstehung fügt dem nur hinzu, dass es sich dabei keineswegs um eine bloße Einbildung der Jünger und Frauen aus Jesu Gefolgschaft handelt, sondern um eine Originarität, welche strukturell in der originären Inkarnation Christi selbst begründet ist: »Ein Geist hat nicht Fleisch noch Bein, wie ihr es an mir seht. Und nach diesen Worten zeigte er ihnen seine Hände und Füße.« (Lk 24,39 f.; vgl. Joh 20,20) Das Motiv der Furcht und des Zweifels aufseiten der Jünger und Frauen, welches ebenfalls in allen Berichten wieder zu finden ist (Mk 16,5; Mth 28,7) und besonders deutlich im ursprünglich abrupten Schluss des Markusevangeliums 16,8 mit Jesu alleinigem Todesschrei zum Ausdruck kommt, kann daher mit dem verglichen werden, was wir schon im Kapitel zuvor als den »Tod« in unserem eigenen Erleben bezeichnet haben. Nämlich dem strukturellen Übergang der inneren Historialität von Leid in Freude nicht mehr stattzugeben, weil die Unerträglichkeit des Empfindens, mit anderen Worten die innere Gewalt der Passibilität unserer Leiblichkeit, die Unmöglichkeit einer »Auferstehung« der letzteren zu beinhalten scheint. Der Vorstellung mit ihren lastenden Bildern kann die Hoffnung oder der Glaube nicht mehr gelingen, dass aus solcher Bedrängnis, wo alles »am Ende« zu sein scheint, noch eine Verwandlung in erneuerte Verlebendigung werden könne. Das Motiv des Unglaubens oder des Zweifels stellt 190 Vgl. H. U. von Balthasar, »Mysterium Paschale«, in: J. Feiner u. M. Löhrer (Hgg), Mysterium Salutis III/2, Einsiedeln 1993, 256 ff. (»Der Gang zum Vater: Ostern«); M. Striet, Gottes Schweigen. Auferweckungssehnsucht – und Skepsis, Mainz 52018.

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Gottes Herrlichkeit und Auferstehung Christi

infolgedessen eine ständige Möglichkeit unseres subjektiven Lebensvollzugs dar, weshalb auch Tod und Auferstehung in einem originären Sinne Gegebenheiten des rein phänomenologischen Lebens als solchem sind. Diese ergeben sich als Grundmodalisierungen im Übergang von Erleiden in Sicherfreuen permanent, wenn auch nicht immer in der unmittelbar damit erlebten existentiellen Intensität. Aber dass diese beiden Tonalitäten strukturell das immanente Lebensgesetz überhaupt ausmachen, in denen sich alles Fühlen, Denken und Handeln vollzieht, macht verständlich, warum die Jünger letztlich die Schrift – und damit den Auferstandenen selbst – verstehen konnten: »Brannte nicht unser Herz in uns … ?«, wie es vor ihrem Gang von Emmaus zurück nach Jerusalem heißt, um dem dort anwesenden Apostelkreis die Mitteilung von ihrer Begegnung mit dem lebendigen Christus zu machen, den sie im übrigen erst bei der Eucharistiegeste des Brotbrechens genau wieder erkannt hatten (Lk 24,30–34). Der Friede, welchen der Auferstandene den ersten Gläubigen mitteilte (Lk 24,36; Joh 20,19.21), beinhaltet daher jene endgültige Seligkeit, um neben Meister Eckhart auch mit Spinoza und Fichte zu sprechen, 191 welche die wesenhafte Einfachheit des in sich selbst ruhenden Lebens bekundet. Diese Ruhe ist keine Bewegungslosigkeit, sondern die Selbstvollendung der Historialität des rein immanenten Lebens in seiner zugelassenen Verwandlung des Toten oder Unerträglichen selbst. Was der Auferstandene als die manifeste Bestätigung seines göttlichen Lebens in dessen ur-anfänglicher Selbstgegebenheit als der des Erst-Lebendigen ist, bildet dann auch für uns die originäre Selbstgewissheit des selbstaffektiven Lebens, nämlich die in ihm wohnende inkarnatorische Wirklichkeit zu ihrer effektiven Ausgestaltung werden zu lassen. Die Wahrheit des Lebens Christi siedelt sich dergestalt nicht mehr allein in einem doxischen Bereich erwartender Hoffnung und Zuversicht an, sondern sie erprobt sich in ihrer immanenten Phänomenalisierung als unsere immer schon gegebene lebendige Wahrheit selbst. Das sich selbst gestorbene Ich hat die Illusion seiner vermeintlichen Autonomie als Selbstsetzung nicht nur begrifflich aufgehoben wie bei Hegel, sondern es erfährt jetzt als rein passibles »Mich« in allem Fühlen und Handeln die Proto-Relationalität seiner Selbstaffektion, welche die Ur-Affektion durch 191 Vgl. B. Spinoza, Ethik (Werke 2), Darmstadt 1967, 505 ff.; J. G. Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben, oder auch Religionslehre, Hamburg 1994, 180 ff.

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Gottes Leben in Christi Tod und Auferstehung selbst ist. Im uranfänglichen Gründungsgeschehen meines Lebens als permanenter generatio in einem solch rein phänomenologischen Leben gibt sich die Ipseität meines Sich an sich selbst ausschließlich in der absoluten Zeugung durch die Ur-Ipseität des fleischgewordenen Wortes. Letzteres kann nicht sterben, weil das Leben als seine permanente »Auferstehung« nichts anderes vermag, als das Leben ohne jede Begrenzung weiterzugeben, wie wir zu Beginn zum Beispiel an den österlichen Weisungen Christi hinsichtlich Taufe und Sündenvergebung sahen. Die Verwandlung der innersubjektiven Historialität als einer rein selbstaffektiven Teleologie in uns folgt mithin strukturell keinem anderen Phänomenalisierungsgesetz als jenem, welches im Tod Christi und seiner Auferstehung originär gegeben ist, um in uns diese Originarität der Selbstgegebenheit des Ich als Mich in seiner unzerstörbaren Bindung an das absolute Leben selbst zu sein. Wenn Hegel daher die Auferstehung vornehmlich als den »Übergang […] zur Anschauung, zum Bewusstsein, zur Gewissheit der Einheit und Vereinigung der göttlichen und menschlichen Natur« in den Glauben der Gemeinde hinein sieht, 192 dann entfällt damit das eigentlich wirktatsächliche Moment, welches nicht nur »Negation der Negation« als Aufhebung des bewusstseinsmäßigen »Todes Gottes« ist, sondern auch die urfaktische Verwandlung unserer reinen Subjektivität als solcher beinhaltet. Der Auffassung, dass das Menschliche durch die Auferstehung nun definitiv zu einem unablösbaren Moment im Prozess der absoluten Gottwerdung als Reflexionserfahrung geworden sei, steht entgegen, dass die »Verwandlung« Gottes in den Menschen und des Menschen in Gott schon immer eine originär phänomenologische Materialität besitzt, welche das eigentliche »Fleisch der Auferstehung« ist und bleibt. Es wird nicht als Bewusstseins- und Glaubensmoment spekulativ bzw. dialektisch aufgelöst, sondern dieses Fleisch der Auferstehung bildet in uns eine effektive Wirklichkeit, welche unserer transzendental lebendigen Affektivität als solcher zukommt. Denn insofern deren Leben ganz dem Leben Christi entstammt, welches nicht mehr dem Tod unterliegt, ist auch unsere affektive Historialität originär der Todesverfallenheit enthoben. Gerade weil die Auferstehung in Vorstellungskategorien nicht zugänglich ist, da es sich dabei um eine unsichtbare Wirklichkeit des Vorlesungen über die Philosophie der Religion II (Werke 17), Frankfurt/M. 1969, 298.

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sich selbst zeugenden Lebens und nicht des intentionalen Denkens handelt, kann sie phänomenologisch nur rein material in der je aktuellen christologischen Gegenseitigkeit zwischen seinem Leben und unserem Leben als Proto-Relation gegeben sein. Deshalb lässt sich in diesem Sinne mit Augustinus sagen: »Für dich steht Christus täglich von den Toten auf; wann nämlich Christus für dich aufersteht, ist ›heute‹.« 193 Wie die Johannestexte werden insbesondere auch die Paulusbriefe nicht müde, dies zu betonen. Das ganze 15. Kapitel des ersten Korintherbriefes ist der Frage gewidmet, wie das Verhältnis zwischen dem Auferstandenen und den Toten einerseits sowie die Verwandlung aller Menschen bei der Vollendung des Heils andererseits zu sehen sei. Dabei ist das Leitmotiv in aller Deutlichkeit, dass nur der Glaube an den lebendigen Christus nach seinem Tod und Begräbnis einen Sinn ergibt, weil sonst jeder Lebenswandel zu rechtfertigen wäre: »Wenn Tote nicht auferweckt werden, dann ›lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot‹« (15,32), wie eine allgemein verbreitete Auffassung damals wie heute lautet. Das eindeutige Kriterium der Auferstehung Christi geht jedoch auch hier über eine bloß ethische Lebenseinstellung hinaus, indem in Vers 14 auf die ontologische Leere des kontingenten Lebens ohne eine wirkliche Auferstehung hingewiesen wird: »Ist aber Christus nicht auferweckt worden, dann ist unsere Verkündigung leer und euer Glaube sinnlos.« Nicht das Wort der Predigt schafft folglich irgendeine Wirklichkeit originären Lebens, auch wenn der Glaube aus dem Hören kommt, wie es an anderer Stelle lautet, sondern allein die Machttat Gottes, welche dem Tod den »Stachel« genommen hat, um ihn sodann als den »letzten Feind« zu überwinden (15,36.55 f.). Wenn also Christi Auferstehung eine originäre Bestimmung für jedes Leben beinhaltet, sofern es ein in Gott lebendiges Leben durch die Ur-Ipseität des ErstLebendigen ist, dann ändert sich damit auch die Grundeinsicht in das Wesen des Menschen. Er ist nicht mehr nur ein »irdisches Lebewesen«, wie Paulus unter Rückverweis auf den alttestamentlichen Genesisbericht festhält, sondern durch seine in der Auferstehung Jesu erneuerte und bestätigte transzendentale Gebung ist er vom »lebendigmachenden Geist« Christi affiziert, weil in ihm – als dem »letzten Adam« – alle Menschen eingeschlossen sind (15,45–49). 193 Zit. bei Thomas von Aquin, Das Herrenmahl (Übers. J. Piper), Leipzig 1939, 73; vgl. Summa theologica pars III, questiones 73–83.

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In diesem, auch generationenübergreifenden Sinn kann Paulus zwar die Begriffe »Fleisch und Blut« entsprechend dem biblischen sarx-Begriff von gesamtmenschlicher Schwachheit und Verfallenheit gegen einen pneumatischen Leibbegriff als mit dem »Reich Gottes« identisch abgrenzen (15,50). Aber dieser »Geist« als Leben des Auferstandenen entspricht der letztzählenden Wirklichkeit des Menschen, der zu einem »überirdischen Leib« auferweckt wird (15,44; vgl. 53 f.). Diese Unvergänglichkeit ist mithin kein bloß spekulatives oder religiöses Postulat wie etwa in den platonischen, pythagoreischen oder sonstigen späteren hellenistischen Seelen- und Jenseitigkeitslehren. Diese Unvergänglichkeit kennt vielmehr zwei zentrale Momente innerhalb der transzendentalen Wirklichkeit des Lebens. Nämlich zum einen die Vernichtung der Sünde und zum anderen die rein phänomenologische Materialität eines unsterblichen Leibes, der an Glanz und Schönheit alle anderen Welt- und Himmelskörper übertrifft (15,19.39 ff.), wobei besonders eben die Gestirne als Ort jenseitiger Verklärung in damaliger griechischer Mythologie angesehen wurden. Von Paulus ist damit unmissverständlich angesprochen, was wir die phänomenologische Duplizität unseres Leibes nennen können, ohne dadurch einen metaphysischen Dualismus zwischen Leib und Seele bzw. Geist wie bei den Griechen hineinzulesen. Anders gesagt, gibt es jenen abgründigen Sachverhalt, dass unsere Gesamtwirklichkeit als subjektive Leiblichkeit oder Fleisch sowohl eine Gegebenheit des Heils wie des Verderbens darstellt. 194 Der Leib gewinnt also eine ontologisch fundamentale Bestimmung, welche an die Reich GottesPredigt Jesu selbst anknüpft. Erinnerten in der Tat die Reden Jesu seine Zuhörer daran, dass aus ihrem »Herzen« allein alles Böse komme, was sie einmalig über alle toten Weltkörper erhebt, so betonten seine weiteren Selbstaussagen zugleich, wie wir ausführten, dass das heilsentscheidende Innere des Menschen, mit anderen Worten seine immanente Affektabilität, mit dem Leben Gottes selbst identisch ist. Die Auferstehungslehre des Apostels Paulus fasst demzufolge eine gesamthebräische, jesuanische und neutestamentliche Leibvorstellung genauer, indem sich durch die neue und endgültige Wirklichkeit der Auferweckung Christi entscheidet, wie ein solcher Leib Heil oder Verderben bedeuten kann. Denn indem eine klare Verbindung zwischen Gesetz, Sünde und Tod gezogen wird (1 Kor 15,56), sind alle 194 Vgl. M. Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg / München 2002, 363 ff.

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Selbstermächtigungsversuche, durch eigene Leistung ein irgendwie göttlich unvergängliches Leben zu erreichen, ihres inneren Widerspruchs überführt, weil kein Gesetz jemals als äußere Norm die uns zeugende Lebendigkeit als originäre Kraft Gottes zu enthalten vermag. Das Gesetz kann uns immer nur unsere Schuld bewusst machen oder zu täuschender Selbstgerechtigkeit führen, die schon Jesus ebenso heftig wie grundlegend an den Schriftgelehrten und sonstigen Führern Israels sowie an Pilatus kritisiert hatte. 195 Insofern also die Auferstehung Christi die grundlegende Verlebendigung und damit das Heil in unserem Leib als Fleisch bedeutet, kann dieses Heil auch nicht mehr an einem Gesetz gemessen werden. Vielmehr kann dies nur noch an jener unverbrüchlichen Ur-Faktizität der Inkarnation geschehen, dass Christus als der Erste der Auferweckung auch der Ursprung unserer ständigen wie endgültigen Auferweckung bleibt – mit anderen Worten die Schwächen und Verfehlungen sowie das Leiden in den »Sieg« der »Nachfahren des Himmels« verwandelt (1 Kor 15,48.54). Über das nähere Wie solcher Verwandlung äußert sich Paulus zudem im 8. Kapitel des Römerbriefes, nachdem er darin zuvor im 6. und 7. Kapitel die Gemeinschaft der Getauften mit Christus und ihre Freiheit von Sünde und Gesetz dargelegt hat, wobei letztere eben auch den Tod implizieren: »Weil das Gesetz, ohnmächtig durch das Fleisch, nichts vermochte, sandte Gott seinen Sohn in der Gestalt des Fleisches, das unter der Macht der Sünde steht, zur Sühne für die Sünde, um an seinem Fleische die Sünde zu verurteilen.« (8,3) Polysemie und Intertextualität der sarx (Fleisch) bestimmen folglich hiernach die genannte Duplizität unseres Leibes als subjektiver Gesamtwirklichkeit unseres Heils oder unseres Verderbens, denn unsere Hinfälligkeit zum Bösen als Schuld und Sünde fand ihr Ende am »Fleisch« des Mensch gewordenen Sohnes Gottes. Dieser verbindet zugleich die beiden Testamente miteinander, insofern er das Gesetz durch seine Sühne aufhob – anders gesagt, die biblische Botschaft des göttlichen Lebens in uns als Wirklichkeit wieder verwirklichte. Die soteriologische Duplizität unseres Leibes macht deshalb nur Sinn, wenn es zuvor schon eine ursprüngliche Einheit gibt, welche darin besteht, dass Gott bei jenen, »die ihn lieben, alles zum Guten führt«. Denn es war Gottes ewiger Plan, dass nach seiner Bestimmung alle »an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilhaben«, was demzufolge 195

Vgl. M. Henry, »Ich bin die Wahrheit«, 240 ff.

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Osterberichte und Auferstehungsleib nach Paulus

einschließt, dass Gottes Sohn »der Erstgeborene von vielen Brüdern« ist (8,28 f.). Unsere ursprüngliche Einheit besteht daher mit anderen Worten in der gemeinsamen Geburt aller Lebendigen in Christus, welcher selbst als das fleischgewordene Wort des absoluten Lebens Gottes im zeitlosen Anfang als der Erst-Lebendige gezeugt wurde. Wenn Gott durch diesen seinen Erstgeborenen Sohn bei allen Menschen das Gute gewollt hat, nämlich allein aus dem Leben Gottes heraus zu leben, dann muss auch das Gesetz des Alten Bundes an sich gut sein, denn »es sollte zum Leben führen« (7,10), sofern Gott keine Gabe zu geben vermag, die von Natur aus Verderben oder Tod bedeutet: »Das Gesetz ist heilig, und das Gebot ist heilig, gerecht und gut.« (7,13) Was also den Tod bewirkt, indem das Gute des Gesetzes zur Sünde führt, ist die Begierde. Diese Begierde ist ebenfalls an sich in ihrem affektiven Ursprung unschuldig, denn sie ist Verlangen nach einem ihr jeweils gut Erscheinenden, wie auch Augustinus das Verhältnis zwischen Sünde und Freiheit bestimmen wird: »Das Gut, das ihr liebt, ist von Ihm; […] aber wo Scheidung ist von Ihm, wird alles, was von Ihm ist, bitter sein.« 196 Der Durst, das Bedürfen oder das Verlangen im Begehren des Leibes als unserem passiblen Fleisch widerspricht also nicht von sich aus dem Guten in Gott, wie es durch die Selbstaffektion des Lebens im Fleisch des Erstgeborenen Sohnes grundgelegt wurde. Das Begehren kommt nur über das Gebot des mosaischen Gesetzes »Du sollst nicht begehren …« zur Erkenntnis dessen, dass sein Wollen auch Sünde sein kann. Dies schließt zugleich aber eben ein, dass zwar das Gesetz gut ist, aber nicht von sich aus das Gute selbst zu verwirklichen vermag, wie es hingegen dem göttlichen Leben aus seiner originären Selbstgegebenheit heraus möglich ist: »Ich lebte einst ohne das Gesetz, aber als das Gebot kam, wurde die Sünde lebendig.« (7,9) Und es ist diese Verwandlung der ursprünglichen Lebendigkeit in die Sündhaftigkeit, welche Paulus weitgehend das Fleisch als den begehrlichen Hang zum Bösen darstellen lässt, ohne ihm von Vornherein eine verwerfliche Qualität oder sogar widergöttliche Substanz zuzusprechen. In der Sünde büßt also das Fleisch seine ursprüngliche Lebendigkeit keineswegs ein; aber es entsteht eine leibliche Dialektik des Begehrens, indem »ich nicht das tue, was ich will, sondern das, was ich hasse« (7,15). Ist mir solches Handeln jedoch unverständlich, weil ich in der Tat das Gute will, aber das Böse tue (7,19), dann ist damit 196

Bekenntnisse IV, 12.

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genauer jene vorher genannte Duplizität gekennzeichnet, wodurch das an sich Gute des Leibes als originärer Lebendigkeit von Gott her in das Vergessen dieses Guten umschlägt, sofern das Gute im Handeln nicht mehr effektiv wird, ohne dadurch als solches zerstört zu sein. Es bleibt infolgedessen ein und derselbe Leib, der Verderben und Heil bewirkt, weil auch sein göttlicher Ursprung einer ist und nicht etwa durch ein gnostisch dualistisches Gegenprinzip eines göttlich Bösen verursacht wurde: »Ich stoße also auf das Gesetz, dass in mir das Böse vorhanden ist, obwohl ich das Gute tun will.« (7,21) Die Freude am Gesetz Gottes »in meinem Innern« ist dabei zudem weiterhin möglich, was zeigt, dass die originäre Affektion meiner lebendigen Leiblichkeit als das originär von Gott gewährte Gute nicht zerstört ist, sondern vielmehr ein »Streit« in meinen »Gliedern des Leibes« herrscht (7,22 f.). Das Empfinden des Unglücks, welches sich dadurch einstellt und sowohl an Hegels »unglückliches Bewusstsein« wie an Kierkegaards Angstbeschreibung als abgründige Möglichkeit der Freiheit zur Sünde erinnert, 197 lässt erkennen, dass der Zusammenhang von Begierde/Unglück ein Vergessen der lebendigen Originarität impliziert. Denn gäbe es deren Affektion als Gutsein des rein phänomenologischen Lebens in mir nicht mehr, dann gäbe es auch kein Empfinden des Unglücks mehr, welches innerlich erprobt werden muss, um gegeben zu sein. Das Gefühl des Unglücks, der Verzweiflung, der Unerträglichkeit oder der Angst besitzt daher – wie jedes Gefühl in seiner absolut affektiven Selbstgegebenheit – einen originär offenbarenden Charakter. Nur in einem Fleisch, welches gegensätzlicher Empfindungen fähig ist, kann eine Offenbarung statthaben, denn gäbe es die grundlegende Affektivität in ihrer transzendentalen Einheit nicht, dann wäre auch keine Verwandlung innerhalb der – als Einzelempfindung gegensätzlichen – Gefühle möglich. Diese Verwandlung als Aufhebung des Vergessens des originär affektiven Lebens in Gott ist identisch mit der Auferweckung in Christus als der Ur-Ipseität. Ein solch strukturell phänomenologischer Sachverhalt lässt sich unter anderem daran erkennen, wie Paulus den Streit oder die Dialektik zwischen Gut und Böse bzw. Begehren und Sünde aufhebt. In Rückerinnerung an die Taufe eines jeden Gläubigen als Begräbnis in Christi Tod sind wir nämlich grundsätzlich der Sünde gestorben und 197 Vgl. G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Hamburg 1988, 136 ff.; S. Kierkegaard, Der Begriff Angst (Ges. Werke 11.–12. Abt.), Gütersloh 1983, 114 ff.

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»leben als neue Menschen« (6,4 f.). Dieses neue Leben, welches notwendigerweise an das ursprüngliche Leben in dem von Gott gegebenen Leben wieder anknüpft, entspricht der »Vereinigung mit Christi Auferstehung«, so dass wir nunmehr »für Gott leben in Christus« (6,41 f.). Was mithin der Erstgeborene Sohn seiner inneren göttlichen Wirklichkeit nach ist, nämlich sein gezeugtes Leben nur selbstoffenbarend von Gott affiziert sein zu lassen, gilt auch für den »neuen Menschen«, sofern dieser seinen ebenso begehrenden wie sterblichen Leib nicht mehr der Sünde leiht, sondern die Glieder seines Leibes »als Waffen der Gerechtigkeit in den Dienst Gottes stellt« (6,13). Eine rein gebietende Ethik ist damit insofern überboten, als durch die Vereinigung mit der Auferstehung Christi unser Leib »vom Tod zum Leben gekommen ist« (6,13). Mit anderen Worten wieder jene ursprüngliche Einheit in ihm herrscht, welche der Selbstgebung Gottes in diesem originären Leib entspricht. Diesen Leib in den »Dienst der Gerechtigkeit« zu stellen, beinhaltet daher des weiteren, dass »wir nicht mehr nach dem Fleisch [des Gesetzes und der Sünde], sondern nach dem Geist leben« (8,4). Dieses pneumatisch neue Leben ist mit dem Auferstehungsleib Christi identisch, insofern die darin erworbene Freiheit von der Sünde die Feindschaft mit Gott durch unser egohaftes Begehren aufgehoben hat und daraufhin »der Geist Gottes in uns wohnt«, dessen Kennzeichen der Friede ist (8,9). Und jener Geist – als Geist Gottes wie als Geist Christi – bedeutet ein Leben aufgrund der durch Tod und Auferstehung Christi erworbenen Gerechtigkeit, die als Machttat Gottes auch unseren »sterblichen Leib lebendig macht«, indem sein Geist in uns wohnt (8,11). Dieses pneumatische Leibverständnis bei Paulus lässt, wie gezeigt wurde, das Fleisch (sarx) als sündhafte wie sterbliche Verfallenheit in eine »Fleischlichkeit« als Lebendigkeit verwandelt sein, worin das Vergessen ihres Ursprungs aus der Fleischwerdung Christi heraus aufgehoben ist. Dies äußert sich darin, dass der Leib als Geist die Sohnschaft in Gott selbst bedeutet: »Ihr habt den Geist empfangen, der euch zu Söhnen Gottes macht, den Geist, in dem wir rufen: Abba, Vater!« (8,15). Was mithin der Geist Gottes als Auferweckung auch unseres Leibes wieder herstellt, ist jenes Verhältnis gegenseitiger Innerlichkeit, welches in den Selbstaussagen Jesu in Bezug auf seinen »Vater im Himmel« zum Ausdruck kam. Die Rückverwandlung des Begehrens des Leibes in die ursprüngliche Affektion des Guten allein ist damit durch unser Sohnsein im Erstgeborenen Sohn ihrer Vollendung zugeführt, so dass auch die immanente Historialität der 185 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

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Selbstaffektion ganz originär ihrer eigentlichen Teleologie gehorchen kann, denn »wenn wir mit Christus leiden, werden wir auch mit ihm verherrlicht werden« (8,17). Der pneumatische Leibbegriff bei Paulus kennt somit über die Todesverfallenheit der sarx und den Leib der Auferstehung als neues unsterbliches Leben hinaus noch eine weitere eschatologische Dimension, welche zugleich kosmologische Folgen einschließt. Dies zeigt, wie im Johannesprolog, dass unsere Sohnschaft in Gott die eigentliche »Genesis« als Geburt in Gott darstellt, so wie sie vom Neuen Testament auf den absoluten Anfang in Gott zurückbezogen wird und wie Christus es seinen Zuhörern geoffenbart hatte. Bedeutet in der Tat der dreiteilige Leibbegriff bei Paulus als Fleisch der Begierde, als geistiger Leib der Auferweckung und als Leib der endzeitlichen Verherrlichung die Berücksichtigung der phänomenologischen Gesamtwirklichkeit des Menschen in seinem faktischen wie transzendentalen Wesen, dann muss dieser Leibbegriff aufgrund solcher Gesamtaffektion auch die Welt mit einschließen. Worauf die gesamte Schöpfung in der Tat »sehnsüchtig wartet«, ist »das Offenbarwerden der Söhne Gottes«, wie es im zweiten Teil des 8. Kapitels aus dem Römerbrief im Vers 19 heißt. Und zwar soll diese Offenbarung mit der »Erlösung unseres Leibes« zusammenfallen, woraus einsichtig wird, wie stark der Rückbezug hier auf die Gottesebenbildlichkeit in Genesis 1,26 ff. gegeben ist. Söhne Gottes zu heißen und es zu sein, wenn auch die eschatologisch letzte Verwirklichung dieses grundlegenden Sachverhalts des Christentums im Zusammenhang mit dem Weltschicksal noch aussteht, schließt ein, dass wir ur-anfänglich in Gott geboren werden. Das heißt in jener christologischen Passibilität oder Fleischwerdung, welche gerade die Schöpfung in ihrer sinnlich gegebenen Wirklichkeit mit uns teilt. Denn wenn sie »in Geburtswehen liegt und bis auf den heutigen Tag seufzt« (8,22), dann steigert Paulus die Sehnsucht auf die kommende Herrlichkeit noch durch das »Seufzen des Geistes« in uns, welches ein wortloses Seufzen ist (8,26). Mit anderen Worten lässt sich letzteres als das eigentliche Wesen des Begehrens im absolut phänomenologischen Sinne verstehen, welches als Verlangen nach dem Guten ausgezeichnet wurde und hier mit Gottes Geist gleichgesetzt wird. Wenn wir nicht einmal wissen, »worum wir in rechter Weise beten sollen« (8,26), dann wird auch hier die Sprache zugunsten jenes immanenten Seufzens relativiert, welches das Wort Gottes als sein Leben in uns selbst ist. 186 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

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Auch in der eschatologischen Dimension der erneuerten Leiblichkeit finden wir also auf diese Weise das innere Affektionsgesetz unserer immanenten Lebendigkeit wieder, welche ihre originäre Wirklichkeit aus der Identität des Lebens mit Gott schöpft, auch wenn diese noch nicht »sichtbar« ist (8,24). Begierde, Sehnsucht, Seufzen wie Ausharren sind folglich Grundmodalitäten des zur Offenbarung bestimmten Lebens in uns. Radikaler als jedes intentionale Wissen, grundlegender als das Ego der Weltkonstitution ist aus all den genannten Gründen, was wir nach Paulus das leibliche Cogito der Offenbarung nennen könnten. Nicht nur, dass sich unser originäres Leben als Geist der Auferweckung bekundet, sondern in dieser Verwandlung auch an der Wirklichkeit des Erstgeborenen Sohnes in Gott teilhat (8,29). Auf dem Grund unserer leiblichen Wirklichkeit als affektiver Materialität, mit anderen Worten als Fleisch und Pneuma, ruht mithin eine zeitlose Selbstoffenbarung Gottes, welche mit jeder passiblen Erprobung als ur-anfänglichem Cogito gegeben ist – dass sich das absolute Leben im Mich des Leibes als unsere rein immanente Wahrheit manifestiert und damit auch die Bestimmung der Schöpfung insgesamt kundgetan wird. Dies leitet zu einer abschließenden Betrachtung einer Ästhetik lebendiger Offenbarung über, die mit jedem historial erprobten Augenblick von Freude/Leid als unserer absoluten Situierung in der Lebensoriginarität gegeben ist.

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Ausblick: Christologie als Ästhetik und Lebenssituativität

In immer wieder neuen Verwandlungen und Akzentuierungen malten das Mittelalter und auch noch Renaissance wie Barock unzählige Marienszenen, Geburt, Taufe, Versuchung, Geißelung, Tod, Auferstehung und Himmelfahrt Christi. Mit anderen Worten Ereignisse, die niemals so gesehen wurden, wie sie auf den Gemälden oder als Glasfenster und Skulpturen erscheinen. Woher und warum diese Vielfalt, wenn nicht, um etwas zum Ausdruck zu bringen, das sich als originäre Wirklichkeit des Glaubens bereits verwirklicht hat, um erneut über die Affektivität von Freude, aber auch von Schmerz, Verzweiflung und Zuversicht, in der immanenten Gewissheit des je subjektiven Lebens erprobt zu werden? Insofern vermag das Heil nicht aus der künstlerischen Ästhetik selbst zu stammen, wie wir zuletzt schon unterstrichen, denn wenn sie dessen Gegebenheit verdeutlicht, setzt sie es als Ursprung voraus. Jede Ästhetik, welche letzte Erfahrungen des Menschseins anspricht, um sich selbst als ein unmittelbares Grundpathos der Existenz verständlich zu machen, kann also gar nicht anders, als eine Ur-Ästhetik der immanenten Offenbarung in Anspruch zu nehmen, wie sie in Christus als dem Erst-Lebendigen gegeben ist. Als »Sohn« ist er nicht nur der Glanz der Herrlichkeit Gottes, vielmehr ist er auch jener vollendete Widerschein, in dem sich jegliches menschliche Dasein wieder zu erkennen vermag, und zwar in der Einheit von Ursprünglichkeit wie Vollendung eines rein passiblen Lebens im Sinne eines absolut abkünftigen Lebens. Neben ihrer Affinität zur Botschaft des Neuen Testaments besitzt daher eine radikale Phänomenologie ebenfalls eine Affinität zur Ästhetik der Gestalt Christi, welche in früheren Zeiten zum Beispiel unter dem Begriff der Idea Christi diskutiert wurde. 198 Aber diese »Idee Christi« ist eben nicht nur ein transzendentaler Spiegel der Eidetik des Wesens 198 Vgl. X. Tilliette, Le Christ de la philosophie. Prolégomènes à une christologie philosophique, Paris 1990, Kap. V.

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Mensch in seiner Freiheit und in seinem Gehorsam, wie sie Maurice Blondel und Karl Rahner vor allem vorangestellt haben. Vielmehr ist diese Idee des Gottessohnes in der doxa reiner Offenbarungspraxis eine Wirklichkeit, wie wir sahen, deren ästhetisches Potential ergriffen werden darf, um die Existenz in der Gesamtheit ihrer Erfahrungsabgründigkeit ständiger Erprobung aufscheinen zu lassen. Eine transzendentale Idee vermag auch nur eine eidetische Grenzbestimmung zu sein, um das empirisch Mannigfaltige zu einen, während eine ästhetische Intuition unmittelbar alle Akte in deren Vollzug durchwirkt, und zwar mit einer immanenten Gewissheit, die keinen Zweifel am selbstaffektiv fundierten Sosein eines Gefühls und Gedankens oder einer Handlung mehr aufkommen lässt. Eine Ästhetik des Heils, eine Ästhetik der Wirklichkeit des Erst-Lebendigen mit anderen Worten, wirkt in all jenen radikalen Umkehrungen, wie wir sie exemplarisch an den Berichten der Krankenheilung und Sündenvergebung durch den inkarnierten Christus erheben konnten. Das heißt als die originäre Ermöglichung eines je neu geborenen Lebens, wodurch dieses sich nunmehr in allem – durch Gott selbst verlebendigt – unmittelbar affiziert weiß. Erst damit gelangt eine sinnlich ästhetische Existenz als Offenheit für das je kreativ Neue zu ihrer Vollendung, denn sie weiß als Gewissheit im rein affektiven Sinne, dass die Seligkeit des Lebens nicht fingierend hervorzubringen ist, sondern dessen immanent phänomenologische Wirklichkeit als Modalisierungsprozess schlechthin bildet. Es ist jener Glanz der Herrlichkeit, wie er sich über das gesamte Leben Jesu spannt, um Unmittelbarkeit des Willens oder des Reiches Gottes im jeweilig freisetzend erlösenden Vollzug zu sein, wie wir es zum Gegenstand einer strukturellen Untersuchung in diesem Buch gemacht haben. Jesu einzelne Worte und Taten als kala erga, mithin mehr als schöne Werke oder Gesten denn als magieähnliche Wunder gesehen, wie schon Simone Weil hervorhob,199 sind die jeweilige Manifestation dieser doxa, in der sich alle irdisch schöpferische Wirklichkeit verändert. Erst dadurch ist die ästhetische Verwandlung der Erscheinung der Welt durch die Kunst keine Illusion mehr, sondern vielmehr berechtigte Rückbesinnung auf den nicht zerstörbaren Ursprung, den jeder Glanz verheißt, nämlich die Selbstverherrlichung Gottes in seinem und aller Leben. Diese immanenten Zusammenhänge eines 199 Vgl. Lettre à un religieux, Paris 1951, 52 f. (dt. Entscheidung zur Distanz. Fragen an die Kirche, München 1988).

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ästhetisch phänomenologischen Erscheinens werfen ein erhellendes Licht auf den kunstgeschichtlich eindeutigen Vorgang, dass mit dem Zurücktreten des Sakralen wie Übernatürlichen als Präsenz Gottes in der Moderne ein auch immer stärkerer Naturalismus und Realismus sich in der Kunst etablierte, um letztlich derselben jede Möglichkeit einer »Versöhnung« abzusprechen, wie dies etwa in den ästhetischen Schriften von Theodor W. Adorno zum Ausdruck kommt. 200 Genau solch originäre Versöhnung impliziert jedoch die zuvor genannte Idea Christi, da hierbei ein Mensch in der Sichtbarkeit seiner einmaligen Gestalt sowie in der verborgenen Wirklichkeit seiner absoluten Lebensaffektion alle Menschen umfasst. Damit vermag er sie effektiv zu repräsentieren, das heißt ontologisch wie soteriologisch als Ur-Ipseität in sich einschließen, ohne sie als jeweilige Singularität durch eine göttliche Totalisierung aufzuheben, insofern jedes passible Mich in einem unmittelbaren Bezug zum Erst-Lebendigen steht. Was wir hier mit einer originären Ästhetik als Grund aller Einzelerscheinungen zum Ausdruck bringen, lässt sich unter anderem bei Kant als Freiheitsproblematik ablesen, wenn er seine Religionsschrift in einem seltsamen Schwebeverhältnis zu den Werken seiner theoretischen und praktischen Kritik sowie aber auch zur Analyse der Urteilskraft hält. In seiner »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« tritt Christus nämlich als das Urbild aller Menschen in gehorsamer Unterwerfung unter das Leiden zur Erfüllung des Willens Gottes im Sinne eines Vorbilds für das freie Subjekt schlechthin auf: »Der Mensch kann sich keinen Begriff von dem Grade und der Stärke einer Kraft, dergleichen die einer moralischen Gesinnung ist, machen, als wenn sie mit Hindernissen ringend und unter den größtmöglichsten Anfechtungen dennoch überwindend sich vorstellt.« 201 Gewiss bleiben wir hier im Rahmen einer idealistischen Vorstellungsanalyse als Reflexionskritik. Aber dabei geht es letztlich eben nicht nur um eine rational moralische Verkürzung der Christusfigur, wie oft angenommen wird, sondern um den ästhetischen Grundsachverhalt, wie die Freiheit oder das Subjekt sich konkret in ihrer je eigenen, von ihnen selbst hervorgebrachten Vorstellung zu ergreifen vermögen, damit daraus eine Praxis dieser Freiheit selbst erwachsen kann – und dies durchaus in einem ursprünglich religiösen Sinne der 200 Vgl. Ästhetische Theorie (Ges. Schriften Bd. 7), Frankfurt/M. 1970; E. Jain, Weltanschauung und Menschenbild in der Kunst der Gegenwart, Frankfurt/M. 1998. 201 Kants Werke VI (Akademie Textausgabe), Berlin 1968, 61.

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sittlichen Vollendung durch das Gute. »Sich eine Kraft vorzustellen«, ist eigentlich, das heißt radikal phänomenologisch, nicht möglich, weil das originäre Wesen der Kraft eine immanente Lebensaffektion als ur-anfängliche Hervorbringungsmacht voraussetzt, welche als solche niemals in den Sichbarkeitkeitsraum der Welt als thematischen Horizont eintritt. Sich mit dem angeschauten »Bild Christi« zu identifizieren, um daraus für das eigene Handeln eine gleich starke Kraft zu entwickeln, die erkenntnisleitend wie moralisch nicht kategorial deduzierbar ist und der sichtbaren Handlung als deren Motivation und innere Affektion voraus liegt, zeigt eben die Notwendigkeit eines ästhetischen Moments für diese gesuchte Entsprechung von Urbild und menschlicher Subjektivität. Somit geht es bei der Wahl eines solchen Bildes darum, praktisch die rein immanente Kraft ihrer Potentialisierung als sich bündelnde Anstrengung über die Motivation zu erproben, was Kant »Maxime« im Unterschied zu den psychologischen »Triebfedern« nannte, ohne diese Problematik hier weiter vertiefen zu können. 202 Denn kein Gesetz verleiht mit seiner Norm, und sei es im Namen der subjektiven Auto-nomie, zugleich auch jene Kraft, entsprechend den Intentionen eines solchen Gesetzes zu handeln, wie wir im Neuen Testament besonders bei Johannes und Paulus sahen. Insofern ist auch die Urteilskraft in jeder bestimmten Situation an eine immanente Ur-Affektion gebunden, welche die praktische Einheit von Empfinden, Erkenntnis, Entscheidung und Handeln erlaubt. Das ästhetische Urbild im christologischen Sinne durchzieht folglich in dieser Hinsicht konstitutiv all diese Erkenntnis- und Willensleistungen als originär gegründetes Freiheitsgeschehen und lässt sie wirktatsächlich werden, damit sich das Bilden der jeweiligen Vorstellung als Werden der Freiheit aus seiner offen affizierten Mächtigkeit selbst heraus erweist. Die kantische »Gesinnung« umschreibt damit mehr als nur den von keiner empirischen Triebfeder infizierten »reinen Willen«. Denn sie bewirkt das Herausbilden einer konkreten Freiheitsgestalt, welche mit dem Urbild des denkbar freiesten Handelns selbst identisch ist – mit dem Willen oder dem Reich Gottes nämlich, wie sie in der Christuswirklichkeit als dem Erst-Lebendigen realisiert sind. Wenn also bereits in einer kritizistischen Philosophie ein konkretes 202 Vgl. H. Renz, Geschichtsgedanken und Christusfrage. Zur Christusanschauung Kants mit deren Fortbildung durch Hegel in Hinblick auf die allgemeine Funktion neuzeitlicher Theologie, Göttingen 1977.

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Bild auftaucht, welches nicht nur »viel zu denken gibt«, ohne eine begriffliche Äquivalenz erreichen zu können, 203 sondern die größtmöglichste Freiheitsrealisierung selbst umfasst, dann kann dies zumal für eine radikale Epoché innerhalb der Lebensphänomenologie gelten. Hierin gibt die Urbildlichkeit Christi kein nur mehr vorgestelltes Modell ab, sondern macht die lebendige Identität derselben Wahrheit im inkarnierten Ur-Sohn sowie in jedem lebendig Gezeugten als »Kind Gottes« selbst aus. Diese ur-anfängliche Ästhetik beinhaltet dann eine ebenso unmittelbare wie originäre Kraft schlechthin, welche in ihrer radikalen Selbstaffektion ihr eigenes »Bild« in sich trägt – nämlich die Herrlichkeit Gottes als stets affektiv verlebendigendes Erscheinen. Dass sich solche doxa keineswegs der konkretesten Wahrnehmung versagt, sondern eben als Ästhetik der Herrlichkeit Gottes darin anwesend ist, um die eigentliche Veränderungskraft zu bilden, zeigt sich an den vielfältigen Formen des Berührens, die Jesus selbst ausübte oder an sich geschehen ließ. Seine alltägliche Existenz ist nicht nur von Hunger und Durst, Müdigkeit und Wachen durchzogen, um am Ende seines Lebens auch äußerste Qual, Demütigung und Verzweiflung zu erproben, sondern er berührt die Kranken, indem er ihnen – wie den Kindern beispielsweise – seine Hand auflegt oder sogar seinen Speichel zur Heilung eines Taubstummen benutzt (Mk 7,33 f.): »Und er nahm ihn beiseite von der Menge weg, legte ihm die Finger in seine Ohren, spuckte auf seine Finger und berührte damit seine Zunge, blickte zum Himmel auf, seufzte und sprach zu ihm: Ephphata, das heißt: Sei geöffnet.« Ähnliche, auch affektiv starke Szenen unter leiblicher Berührung und innerem Seufzen wiederholen sich ebenfalls bei der blutflüssigen Frau, welche innerhalb einer großen Menge nur sein Gewand berührte, um gesund zu werden: »Und sogleich merkte Jesus an sich, dass eine Kraft (dynamin) von ihm ausgegangen war. […] Und er blickte umher, um die zu sehen, die es getan hatte.« (Mk 5,30 f.) Diese Kraft, welche sich im Berühren oder Berührtwerden manifestiert, ist ein Korrelat jener in unserem letzten Kapitel genannten Vollmacht (exousia), mit der Jesus überhaupt heilt und spricht. Daher stellt die dynamis Jesu nicht nur eine bloß formale Möglichkeit dar, sondern den Erst-Lebendigen selbst in

203 Vgl. I. Kant, Kritik der Urteilskraft (Kants Werke V (Akademie Textausgabe), Berlin 1968, 193 f.

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seiner effektiven ousia – und dies unter Einbeziehung seiner unmittelbaren Sinnlichkeit als Inkarnationswirklichkeit. Nimmt man die übrigen Evangelien hinzu, so erweitert sich das Berühren durch Gesalbtwerden, Küssen und Benetzen seiner Füße mit Tränen seitens einer »Sünderin« (Lk 7,37 ff.), bzw. wäscht Jesus selbst die Füße seiner Jünger (Joh 13,1 ff.) oder lässt sich nach der Auferstehung von Thomas anfassen, indem dieser seine Hand in Jesu Seite legt (Joh 20,27 f.). Auch wenn gerade die neutestamentlichen Osterberichte davon motiviert sind, durch ihre Darstellungsweise einem bloß geistigen Verständnis der Auferweckung zuvorzukommen und eine tatsächliche Auferstehung des Fleisches zu bekunden, so drängt sich doch der Gesamtbefund auf, dass die subjektive Sinnlichkeit in ihrer phänomenologischen Ursprungswirklichkeit zum konkreten Vollzug der Offenbarungswirklichkeit Christi als Vollmacht und Kraft der doxa Gottes selbst gehört. Wir können hier diesbezüglich nicht alle leiblichen und affektiven Äußerungen Jesu im Detail aufzählen, etwa seine Freude über die Schönheit der Lilien des Feldes, die kostbarer als Salomo in dessen Pracht sind (Mth 6,28 f.), oder auch die stille Präsenz der Frauen, welche ihn mit seinen Jüngern auf den Wanderungen von Dorf zu Dorf begleiten, um ihm zu dienen (Mth 27,55). Dabei lässt sich unter anderem auch indirekt erkennen, dass ein originär erotisches Empfinden nicht ausgeschlossen sein muss, denn sonst hätte Jesus kaum einen solchen Satz sprechen können, wie er bei der Auseinandersetzung um die Ehescheidung fällt: »Ich aber sage euch: Jeder, der eine Frau nur begehrlich ansieht, hat schon in seinem Herzen mit ihr die Ehe gebrochen.« (Mth 5,28) Dass insbesondere der hier für die Judenchristen schreibende Evangelist Matthäus nach rabbinischer Tradition einen zusätzlich schützenden Zaun der inneren Gesinnung um das eigentliche Scheidungsverbot legt, mag exegetisch für die Textredaktion mit eine Rolle spielen. Aber wenn man den Blick auf die Sensibilität Jesu richtet, um in ihr eine vollkommne Entsprechung zwischen Heilsherrlichkeit und affektiv leiblicher Vollzugswirklichkeit zu entdecken, dann lässt sich zu keiner anderen Schlussfolgerung gelangen, als dass im Neuen Testament eine Gesamtästhetik vorliegt, welche grundsätzlich keine konkrete Erscheinung ausschließt – bis auf den Anspruch der Sünde. Ohne dies in allen Einzelheiten innerhalb der vier Evangelienschriften belegt zu haben, was eine eigene Aufgabe wäre, kann dennoch gesagt werden, dass erst eine umfassend ästhetische Sichtweise es er193 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

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möglicht, die Einheit von jesuanischer Erscheinung in deren subjektiver Konkretheit mit der absolut lebendigen Wirklichkeit des Selbstoffenbarens der Herrlichkeit Gottes zusammen zu sehen. Dass alles sinnlich Affizierte, das heißt alle »Lebensäußerungen« Jesu, Gott unmittelbar selber zu offenbaren vermögen, sofern seine doxa und dynamis darin wirken, sprengt jede Vorstellung, die das Erscheinen des göttlich Wirklichen nur gemäß einem kategorial intuitiven Schema der Wahrnehmung oder Seinsidee zu vereinen sucht. Insofern aber in der lebendigen Selbstaffektion eines jeden Menschen jene lebendig machende Kraft Gottes durch den Erst-Lebendigen immer schon mitgegeben ist, kann die originär ästhetische Gewissheit solcher Lebensübereignung als in der aisthesis jeder sinnlichen Empfindung und Wahrnehmung selbst erprobt werden. Wer folglich ein Fleisch im radikal phänomenologischen Sinne berührt, und zwar das seine wie das des Anderen, wie wir ausführten, berührt darin grundsätzlich auch Christi Fleisch – und somit die offenkundige Heilswirklichkeit in ihm als dem Erst-Lebendigen. In diesem originären Sinne bezeichnen daher auch Ästhetik und Leben dasselbe, was zugleich die Möglichkeit bietet, der dekonstruktivistischen Kritik der »Haptologie Christi« als einer intuitionistischen oder metaphysischen Präsenzontologie zu entgehen, wie Jacques Derrida sie im Anschluss an Jean-Luc Nancy vorgebracht hat. 204 Eine Phänomenologie, welche das Berühren auf den ausschließlich mundanen »Kon-takt« der intersubjektiven Wahrnehmung einengt, ohne zu sehen, dass die menschliche wie jesuanische Sinnlichkeit schon immer über eine gleich immanente Kraft der Affektivität im Ungrund des einen ur-anfänglichen Lebens miteinander verbunden sind, verkürzt die ästhetischen Zusammenhänge, welche nicht bloß in einer substantialistischen Präsenzontologie und deren Gegensatz als einem ursprungskritischen Differenzdenken beruhen. Insofern bildet eine Wiederentdeckung der ipseisierenden Wirklichkeit Christi als einer umfassenden Ästhetik originärer Verlebendigung zugleich die Antwort auf jedes Denken, welches im Ansatz seiner Selbstbegründung schon um die ästhetische Unmittelbarkeit verarmt ist, um auf dem Boden einer solchen Abspaltung dann eine begrenzte Kritik zu ver204 Vgl. Le toucher – Jean-Luc Nancy, Paris 2000, 116 ff. (dt. Berühren, Jean-Luc Nancy, Berlin 2007); dazu R. Kühn, Postmoderne und Lebensphänomenologie. Zum Verhältnis von Differenz und Immanenz des Erscheinens, Freiburg / München 2019, 368–407.

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folgen, selbst wenn kunstgeschichtliche Themen dabei nicht ausgeblendet werden. 205 Die genuine Christuswirklichkeit kann über keinen begrifflichen Präsenzgedanken demonstriert oder desavouiert werden, weil sie immer schon qua Passibilität des Lebens zur praktischen Möglichkeit des originären Empfindens selbst gehört. Genau dies zeigt schließlich der zuvor schon von uns angekündigte Verklärungsbericht der Synoptiker, denn Jesus wird hierbei durch die Attribute der Theophanie Jahwes aus dem Alten Testament ausgezeichnet, wie sie mit dem strahlend weißen Licht und der Wolke gegeben sind (Mth 17,2 ff.; Mk 9,2 ff.). Dem entspricht, dass die drei Jünger Petrus, Johannes und Jakobus nicht nur Moses und Elias »in Herrlichkeit« erblicken, sondern auch Jesu Herrlichkeit (doxan autou) sahen (Lk 9,22). Was diese Herrlichkeit und somit Verwandlung als Verklärung ausmacht (Mth 17,2), ist jenes Sohnsein, an dem der Vater, das heißt die Stimme aus der Wolke, »sein Wohlgefallen hat« (Mth 17,5). Wie alle Theophanieberichte ist auch dieser durch das Erschrecken und die Furcht der Jünger auf der menschlichen Seite gekennzeichnet. Aber wenn alle drei Texte übereinstimmend sagen, dass es für die Jünger »gut« war, »hier zu sein« (Mth 17,4 par), dann entspricht dem genau, am zentralen Ereignis der neutestamentlichen Botschaft teilzuhaben. Im Hören auf Jesus als den Christus (Mth 17,5) wird Gottes eigenes Wohlgefallen erprobt. In dieser Einheit der Doxa Gottes und der Herrlichkeit Christi nimmt mithin der Verklärungsbericht die Osterbotschaft vorweg, auf die explizit verwiesen wird (Mth 17,9; Mk 9,9 f.), weil das Wesen dieses Ur-Sohnes die originäre Bezeugung des Wortes Gottes selbst ist, welches ein immanent vernehmbares Wort des Erst-Lebendigen für alle Lebendigen ist. Die ästhetischen Kategorien einer radikalen Religionsphänomenologie des Erscheinens Gottes in der inkarnierten Manifestation Jesu als Licht und Verwandlung in den Augen der drei Jünger beinhalten also keine äußere Glorifizierung des Menschensohnes als eines isolierbaren Ereignisses. Vielmehr betrifft diese Verklärungsästhetik die Ur-Bildlichkeit Jesu Christi als Gottes lebendiges Wort selbst, so dass die stellvertretend für alle Menschen genannten Apostel ein »Wohlsein« empfinden, um in einem solchem »Hier« (hode) des Guten »Wohnung zu nehmen« (Mk 9,5). Im Offenbarwerden der doxa Christi erfahren sie folglich ihre immanente Bleibe als die Gewissheit 205 Vgl. J.-L. Nancy, Noli me tangere, Berlin 2008, über Auferstehungsdarstellungen in der Malerei.

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ihres Lebens und dessen Gutsein. Jedes Empfinden eines Gutseins schließt auf diese Weise im radikal phänomenologischen Sinne die Ästhetik Christi als »Verklärung« auch unseres Lebens ein, wobei die weitere Rahmenerzählung von der Passionsankündigung unmissverständlich anzeigt (Mk 8,31 f.), dass das Leiden davon nicht ausgenommen ist – ohne dadurch allerdings die Grundtatsache der Freude des Evangeliums (eu-aggelion) irgendwie aufzuheben, welche der Seligkeit des Lebens entspricht. Die Offenbarung insgesamt strukturell als Christologie zu bestimmen, bedeutet daher für eine originär fundierte Phänomenologie einerseits die innertrinitarischen Bezüge als Wirklichkeiten einer ewigen Fleischwerdung zu verstehen sowie andererseits keine Erscheinung unseres Lebens von der Inkarnation Christi als der Ur-Ipseität zu trennen. Wenn demzufolge in jeder Modalisierungsweise solchen Lebens, das heißt in seiner transzendental leiblichen Sinnlichkeit, kein Vollzug denkbar ist, der nicht die lebendige Wirklichkeit christologischer Offenbarung berührte, dann leben wir in allem affektiv gefärbten Situativen ein Offenbarungsmoment der ewigen Selbstoffenbarung Gottes in seinem inkarnierten Wort selbst. In einem herausragenden Sinne ästhetisch ist dabei die jeweilige Verknüpfung von Freude/Schmerz als permanentem Lebensübergang von Immanenz zu Immanenz sowie auch deren Verbindung mit einem unmittelbaren Handeln, welches durch die innere Lebensaffektion das »Wort des Lebens« im Sinne absoluter Offenbarung als ethos solcher Immanenz vernimmt. Denn da sich die ur-anfängliche Phänomenalisierung des Lebens im Sinne von dessen originärer Leibwerdung als »Fleisch« vollzieht, das wir je subjektiv sind, vollzieht sich darin auch jenes »Sprechen Gottes«, welches seinerseits in der ewigen Fleischwerdung des Ur-Sohnes seine originäre wie immer neue Gestalt gewinnt. Diesseits aller Vorstellung kann dann Gott weder als ab- noch anwesend proklamiert werden, sofern man darunter intentionale Modi des Vermeinens versteht, sondern als fleischliche doxa beinhaltet jeder inkarnierte Augenblick die Herrlichkeit Gottes, da nämlich das absolut phänomenologische Leben Gottes in sich selbst durch den »Sohn« als Erst-Lebendigen gelangt, in dem wir ebenfalls originär geboren werden. Weil der Übergang Freude/Schmerz als Phänomenalisierung von Leben/Leib immer auch Handeln impliziert, und sei es nur als eine erste Ausrichtung der Motivation und Anstrengung als der immanent sich konkretisierenden Kraft im Übergang, ist dieser schein196 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

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bar so ephemere Augenblick einer solch immanenten Phänomenalität stets ebenfalls eine existentiell geschichtliche Wirklichkeit. Das Wirken des historischen Jesus von Nazareth beinhaltet – christologisch gesehen – die Gegenwärtigsetzung Gottes als Verwirklichung des absoluten Lebens des Vaters in der »Gesinnung« wie in den Gesten Jesu. Fasst man jedoch diesen Begriff der Gesinnung nicht nur im Sinne Kants als den formalen Imperativ der Freiheit hinsichtlich ihrer autonomen Selbstsetzung, sondern eher in Übereinstimmung mit Fichte und Schelling als »Fleischwerdung der Liebe Gottes in uns sowie um uns herum« 206 bzw. als Potenzialisierung des Bewusstseins aus einer absolut positiven Hervorbringungsmacht heraus, dann wird nochmals deutlich, dass solche Gesinnung unmittelbar ein originäres Ethos bedeutet – konkretes Werden des je individuierten Lebens als Ausfluss oder Hervorbrechen des ewigen Lebens. 207 Christus als das Wort Gottes, das heißt als die effektive Selbstoffenbarung des einen göttlichen Lebens in seinem Sohn (1 Joh 1,1– 3), kennzeichnet innertrinitarisch wie geschichtlich diesen je originär gebärenden Augenblick oder Ausfluss des Hervorbrechens Gottes selbst, ohne dass er dabei sich selbst als Ungrund seiner Gottheit verließe. Meister Eckhart hat diesbezüglich verdeutlichet, dass jede andere Bestimmung der ursprünglichen Individuierung oder »Seelengeburt« zu kurz greift, falls sie sich nicht in diesem in sich verbleibenden Über-gang von Herausfluss und Zurückfluss verortet, da nur hierdurch jede temporale Bestimmung durch einen begrenzenden Bildcharakter im Horizont der Weltseienden vermieden wird. Und dennoch ist damit die Weltwerdung als Geschichtswerdung nicht ausgelöscht, denn die Kraft des Hervorbrechens als innerstes »Werk Gottes« ist zugleich das je immanent affektive Handlungsmoment, in dem »Sein« wird. Wenn wir dabei nur die Übereinstimmung mit einem Gesetz oder einer Regel suchen würden, gäbe es im strikten Sinne nie wirklich etwas Neues, sondern immer nur Wiederholung des Selben, das heißt eines imaginär vorgestellten ewigen Modells, welches es als solches nicht geben kann, insofern Gottes und der Seele Geburt »im Sohn« stets die absolute Aktualität ihrer unzeitlichen Potentialität darstellt. Christus ist damit nicht vornehmlich in der 206 Vgl. J. G. Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben, oder auch die Religionslehre, Hamburg 41994, 94 f. 207 Vgl. F. W. J. Schelling, Philosophie der Offenbarung (Schellings Werke, 6. Ergänzungsband) (Hg. M. Schröter), München 41983, 319 ff.

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geschichtlichen Vergangenheit aufzusuchen, wodurch er ein rein hermeneutisches Problem der Überlieferung bliebe, sondern er ist vielmehr die sich jetzt gebende heilsentscheidende Wirklichkeit – Freude und Schmerz als Tod und Auferstehung, als Hervor- und Übergang zum Vater (Joh 20,17) in diesem Jetzt, welches zugleich ein originäres Hier ist. Für eine dergestalt verstandene Ästhetik Christi macht dann eigentlich die historisch bedingte Unterscheidung in religiös und profan keinen Sinn mehr. Aber deren Aufhebung bedeutet nicht, dass alles Profane oder Säkulare von einer dogmatisch vorherbestimmten Religiosität vereinnahmt würde, sondern dass jede Wirklichkeit in ihre unverzichtbare Lebensempfängnis zurückgebunden wird – und in diesem Sinne der Bestimmung originärer religio nicht ausweichen kann. 208 Als radikal phänomenologische In-karnation bedeutet jede Wirklichkeit eine Verleiblichung, eine Investitur des Fleisches, ohne deren Vollzugseffektivität nichts geschähe. Aus diesem Grund beinhaltet jede Situation als Geschichtsmoment eine absolute Lebenssituativität, die weder beliebig noch auflösbar ist. Es ist die transzendentale Geburt in einem unverrückbaren »Hier« des Lebens – wie im angeführten Verklärungsbericht – als je singuläre Ipseisierung, die als eine solch zuvor unhintergehbare Lebensaffektion sowohl die Unverrückbarkeit des Situativen (Kreuz) wie die Verwandlung der Herrlichkeit Gottes (doxa) in sich schließt. Beide Momente jedoch nur als zeitlich geschichtliche Augenblicke gelten zu lassen, bzw. als dialektische Bewusstseinselemente von Erfahrung und Kultur, wie es Hegel unternimmt, verkennt zu schnell, dass das rein phänomenologische Leben nicht nur eine Offenheit des Werdens darstellt, sondern in sich ebenfalls eine unauflösbar passible Selbstbindung als seine strukturell ursprüngliche Bedingung kennt. Es ist dem Leben nämlich nicht möglich, sich von sich selbst zu lösen, um ein »anderes Leben« zu sein – und in diesem Sinne »wird« das Leben nicht, sondern ist es je die selbe ursprüngliche Verlebendigung, ohne damit einem allgemeinen Gesetz zu unterliegen. Diese ewige Selbstbindung des Lebens an sich selbst schließt seine immanente Selbstbewegung keineswegs aus, was die Christologie in ihrem innertrinitarischen wie ästhetisch sinnlichen und geschichtlichen Sinne ihrerseits unterstreicht, deren Einheit wir mit jedem Empfin208 Vgl. R. Kühn, Lebensreligion. Unmittelbarkeit des Religiösen als Realitätsbezug, Dresden 2017, 33 ff.

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den in affektiver Historialität erproben. Die Benennungen, welche wir solchem Empfinden individuell wie interkulturell verleihen, können unendlich vielfältig sein; entscheidend bleibt für den Wirklichkeitsbereich radikaler Phänomenologie ohne Metaphorik, dass wir dieses Empfinden erproben müssen, um im Leben zu sein. Das Müssen solcher Erprobung als Passibilität ist schließlich aber keine andere immanente Struktur, als dass Gott sich selbst offenbaren muss, um das Leben zu sein. Das heißt: Es kann nicht weniger als sich selbst geben, wie Meister Eckhart sagt, um sich als den Sohn im Sinne der Ur-Ipseität zu gebären, der wir somit in jedem Erscheinen nicht nur begegnen, sondern selbst sind, sofern sich dadurch die originäre Fleischwerdung in uns vollzieht, so wie wir die unsrige in ihr verwirklichen. Die in unserer Gesamtuntersuchung verfolgte Strukturaffinität zwischen Christologie und radikaler Phänomenologie betrifft demzufolge eine Ursprungsanalyse reiner Singularität, in der die originäre Identität mit Gott und den Anderen als Ur-Gemeinschaftlichkeit keineswegs ausgeschlossen ist. Der entscheidende Punkt hierbei in methodischer Hinsicht ist jeweils die Frage der uranfänglichen Verlebendigung als Untrennbarkeit von Leib/Leben, die wir ohne jede Differenz und Verdrängung in reiner Immanenz sind. 209 Die Freiheit zu können als auch die radikale Situiertheit des Lebens gründen daher in jenem originären Wie, dessen Potentialität Empfang und Gebung als dieselbe Ur-Affektion in sich vereint, das heißt als Affektabilität einer inkarnatorischen Struktur, worin Leib und Leben eins sind. Mit anderen Worten eine Wirklichkeit des Ursprungs stets aktueller Verlebendigung, die wir als jene Ur-Ipseisierung verfolgt haben, welche das Neue Testament und besonders Johannes das gegenseitige Verhältnis von Vater/Sohn nennen. Phänomenologisch maßgeblich ist hierbei weniger die sprachlich genealogische Metaphorik als die zu erprobende Wirklichkeit der einen strukturellen Meta-Genealogie: kein singuläres Leben, das nicht hervorgebracht wäre, ohne von der Hervorbringungskraft selbst jemals getrennt zu sein. Diese Einheit ist unser Leib, christologisch gesprochen die Inkarnation. Um letztere zu verstehen, haben wir unseren Leib nicht interpretierend uns vorzustellen, sondern jeweils ohne 209 Vgl. daher auch in Auseinandersetzung mit der Tiefenpsychologie R. Kühn, Primärerfahrungen, Ursprung und Nachträglichkeit. Grenzgänge zwischen Psychoanalyse und Phänomenologie, Gießen 2021.

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Distanz zu erproben, so dass Erprobung und Immanenz dasselbe bezeichnen – die transzendental materiale Ermöglichung des Lebens als Offenheit, die sich originär als Situation wie Freiheit zugleich manifestiert. Von daher ist es durchaus verständlich, dass die Christusfigur philosophisch in der Neuzeit meist als Idee oder Gestalt der Freiheit verstanden wurde, aber meist um den Preis einer nicht immer gleichzeitig ebenfalls herausgesellten älteren Verlebendigung. Denn Freiheit ist stets leiblich gebunden, und diese originäre Verbindung ist nicht kontingent, wie die Tradition meist annahm, sondern als »Können zu können« im Sinne Kierkegaards eine absolut relationale Ermöglichung, die wir nicht selbst verfügt haben. Insofern finden wir bei allen maßgeblichen Strukturelementen der Ursprungsfrage diese Bezüge wieder, welche inkarnatorisch Leib und Leben »im Anfang« miteinander verknüpfen, so dass zwischen ihnen eine zu erprobende Identität hervortritt. Letztere ist demzufolge nach allem in den Kapiteln zuvor Ausgeführten keine formale Identität von A = A, wie wir dies schon in unserer Einleitung festhielten, sondern die Immanenz einer Gegenseitigkeit, welche beinhaltet, dass sich das Leben selbst als Leib empfängt, indem der Leib das Leben empfängt – mithin ein und dieselbe Hervorbringung als Fleisch sind. Die Einheit dieser fleischlichen oder passiblen Identität als Rezeptivität besteht im Modus des Sichgebens, welches sich selbst entgegennimmt. Ein sich selbst empfangendes Geben ist insoweit die Originarität schlechthin, als alle Phänomene des Erscheinens diese Struktur aufweisen. Denn nichts kann erscheinen, was einerseits nicht gegeben wäre (Leben) und andererseits nicht als Sinnlichkeit empfangen würde (Leib). Dies drückt in theologisch metaphorischer Genealogie die »Fleischwerdung des Sohnes« aus, der die »Selbstgebung des Vaters« als immanentes »Wort« originärer Verleiblichung ist, das heißt als eine ipseisierte Proto-Relation. Auf dieser originären Bezüglichkeit beruhen Freiheit und Situativität unserer je leiblichen Subjektivität, welche die Offenheit wie Selbstbindung des Lebens in sich auf der Grundlage derselben Ursprungsermöglichung in sich vereint. Eine inkarnatorische Christologie als ipseisierende Selbstgründung des Lebens innerhalb seines eigenen immanenten Hervorbringungsprozesses »im Anfang« entspricht dieser originären Struktur als Offenheit/Selbstbindung im Sinne der ursprünglichen Gegenseitigkeit ohne Kluft. Als Ursprungswort des »Vaters« ist der »Sohn« genau die Ermöglichung einer solchen Relation, indem er empfängt, was sich gibt, um damit 200 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

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jeden Bezug im Erscheinen als Offenheit zu konstituieren, das heißt als Verwirklichung des Lebens, welches er als der Erst-Lebendige zugleich bleibt. Der Bezug des »Hörens« des Wortes Gottes als Wirklichkeit des Ur-Sohnes beinhaltet in solch empfänglichem Vernehmen als originärer Offenheit aber dadurch gerade eine ebenso originäre Selbstbindung, insofern die Offenheit des Hörens die unauflösbare Zustimmung in das Ursprungsleben als Selbstbindung des Erst-Lebendigen in diesem Leben selbst darstellt. Wenn dies in der Philosophie- und Theologiegeschichte eine transzendentale Freiheitsbestimmung des Menschen sowohl als Offenheit wie Selbstbindung im Sinne von Autonomie und Selbstgesetzgebung (Kant) bzw. als Daseinsentwurf und Seinsbegegnung (Heidegger) impliziert, dann sind entsprechende existenziale Bestimmungen jedoch nur letztlich gerechtfertigt, wenn ihr wirktatsächlicher Vollzug als Potentialisierung aus der ursprünglichen Verlebendigung selbst heraus berücksichtigt wird. Eine lebensphänomenologisch verstandene Christologie betrachtet mithin die immanente Struktur jener Singularität, welche als rein praktische Subjektivität die Originarität des Lebens als je selbstaffektives Können vollzieht, worin die Inkarnation des Ursprungs als stets lebendige Leiblichkeit im Sinne der Passibilität noch vor aller Freiheit als intentionalem Entwurf gegeben ist. Auf diese Weise ist die Leiblichkeit als immemoriables Fleisch dieser singuläre Ursprung als absolut phänomenologisches Leben selbst, da dieser Ursprung unter keinerlei kategorialen Vorgaben erinnert oder vorgestellt werden kann. Wenn Christi Tod und Auferstehung den »vollbrachten« Durchgang (Joh 19,30) durch alle Vorstellungen, Begriffe und Bilder beinhaltet, und zwar als Durchgang in je konkreter sinnlich affektiver Erprobung, dann ist sein originäres Lebendigsein als Ur-Sohn die stets reine Offenheit wie Situativität für das ur-anfängliche Leben, ohne noch eine Metaphorik oder ein Gesetz für die Verwirklichung dieses Lebens in Anspruch nehmen zu müssen. Christologie bezeichnet dann diese singuläre Phänomenalisierungweise des Ursprungslebens ohne Kluft oder Differenz als den Erst-Lebendigen, während die Weltphänomenalität die Formen der Alterität zu ihrer Voraussetzung hat. Damit ist auch unsere Freiheit als Offenheit wie Situativität für eine ununterbrochene originäre Verlebendigung bestimmt, die nicht an den Grenzen des Weltseins als Entfremdung endet, sondern im Ursprungsgedächtnis des Leibes als Könnensvollzug schon immer aus dieser Begrenzung herausgerufen ist – ohne die 201 https://doi.org/10.5771/9783495825389 .

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Realität des Außer-sich als Notwendigkeit sowie als Leid und Tod existentiell zu verkennen. Die kategoriale Phänomenalisierung durch Raum- und Zeitanschauung als transzendentale Ästhetik zu bezeichnen, ist seit Kant geläufig. Da jedoch auch Räumlichkeit und Temporalisierung darüber hinaus auf einer selbstaffektiven Verlebendigung als Fundierung der Transzendenz durch die Immanenz beruhen, lässt sich der Begriff der Ästhetik demzufolge auf den Ursprung der Verlebendigung als ProtoRelation jeglicher Hervorbringung selbst anwenden, wie es in unseren letzten Analysen im Ausgang von der neutestamentlichen doxa aus geschah. Insoweit dann Ästhetik jegliches Erscheinen originär zusammenführen kann, ist sie ebenfalls die ursprüngliche Einheit von Leben/Welt sowie Gott/Mensch, ohne einen Monismus oder Pantheismus zu implizieren, da die strukturell relational bestimmte Ursprungshervorbringung als Meta-Genealogie die Bedingungsverhältnisse von Absolut/Singulär wahrt. Die Ästhetik ginge verloren, wenn das Singuläre wie ein Tropfen im Meer oder im Nirwana verschwände, 210 denn der ästhetische Vollzug ist gerade je einmalig erprobte Singularität, ohne dabei in die Illusion der Allmächtigkeit zu verfallen. Radikale Phänomenologie wie Christologie bewahren beides, die Singularität wie deren Vollzug durch einen Ursprung, der sie ohne Kluft oder Allgemeinheit ipseisierend ermöglicht. Daher können wir in der Struktur einer Erst-Lebendigkeit im rein phänomenologischen Leben jene transzendentale Bedingung erblicken, welche den Glanz (doxa) des Absoluten im einzelnen subjektiv leiblichen Erscheinen ermöglicht, sofern diese umfassende Ästhetik der Erscheinung inkarnatorisch gefasst bleibt, das heißt als eine ursprüngliche Verleiblichung von Bezüglichkeit schlechthin. Wenn wir in allem Christus berühren, dann ist jeder singuläre Bezug unserer leiblichen Subjektivität eine solche Berührung aus der inkarnatorischen Originarität heraus, die zugleich Offenheit und Situativität des Lebens als ästhetische Einheit aufscheinen lässt. Dass dadurch jeder Lebensaugenblick eine unendliche Kostbarkeit wie Würde empfängt, welche alle Gemeinschaftlichkeit prägen, ist keine kontingente Ergänzung dieses Ursprungsverhältnisses, sondern seine gleichursprünglich ethische Wirklichkeit als originäre Einheit von 210 Zur Abgrenzung von der Lebensphilosophie Schopenhauers etwa in dieser Hinsicht vgl. M. Henry, Inkarnation. Eine Philosophie des Fleisches, Freiburg / München 2002, 285 ff.

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religio und ethos. Die jeweilige Gesamterprobung des singulären Lebensvollzuges nicht mehr in verschiedene Perspektiven wie Ethik, Religion und Ästhetik aufspalten zu müssen, sondern als unmittelbar sinnlich inkarniertes Einheitsgeschehen zu erproben, bleibt daher sicher ein herausstechender Gewinn einer radikal phänomenologisch verstandenen Christologie, die dann ihrerseits nicht mehr nur als Paradox oder Mysterium einer Zwei-Naturen-Lehre in einer Person erscheint, sondern im Schoß jeder gelebten Wirklichkeit selbst angesiedelt werden kann. Denn das stets gegebene »Mehr« des Lebens ist jene originäre Wirklichkeit, welche in jeder Situation schon immer über diese hinaus ist, wie es im Übergang von Tod/Auferstehung gerade durch den Erst-Lebendigen nicht nur angezeigt, sondern effektive Wahrheit ist.

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