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German Pages 229 Year 2019
Der Anaesthesist Editorial Anaesthesist 2019 · 68 (Suppl 2):S77–S78 https://doi.org/10.1007/s00101-019-0584-0
G. Breuer1 · A. R. Heller2 1 2
© Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019
Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin, Klinikum Coburg GmbH, Coburg, Deutschland Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin, Universitätsklinikum Augsburg, Augsburg, Deutschland
Facharzt-Training Anästhesiologie – ein Sonderheft für Assistenz- und Fachärzte! Praxisnahe Fallbeispiele kombiniert mit fundiertem Hintergrundwissen
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Expertise in unserem Fachgebiet der Anästhesiologie hat mehrere Säulen: Hierzu gehört natürlicherweise ein immenses, fundiertes und an wissenschaftlicher Evidenz orientiertes Wissen. Dieses Wissen schafft die Grundlage für eine Vielzahl von Fertigkeiten, die besonders in den letzten Jahren durch die Etablierung von Ultraschallverfahren eine enorme Erweiterung erfahren haben. Eine weitere Säule von Expertise ist die jahrelange Erfahrung in unserem Fachgebiet, in der theoretisches Wissen und Fertigkeiten ihre Anwendung in der klinischen Alltagsroutine finden. Wissen alleine ohne jeglichen Praxisbezug wird jedoch schnell langatmig und wird schneller vergessen. Die Didaktik spricht von der „Vermeidung“ des „trägen Wissens“, wenn ein Anwendungsbezug und eine Relevanzfür Wissen hergestellt werden. Und genau dies versucht auch die vorliegende Fortbildungsreihe des Anästhesisten: alltagsrelevante Situationen und Probleme exemplarisch und doch möglichst umfassend in eine Artikelreihe zu formen, die wesentliche Facetten des Facharztwissens vereint. In den vorliegenden 25 Kapiteln der ersten Ausgabe dieser Fortbildungsreihe werden in neuartiger Form klinische Alltagsexpertise und kognitive Wissensgrundlage anhand von konkreten Fallbeispielen vereint – das Ganze möglichst
umfassend und doch übersichtlich kompakt. Der Anspruch war hierbei, die Vorbereitung auf die „Expertise-Prüfung“ – die Facharztprüfung in der Anästhesiologie – zu unterstützen. Daher sollten klinische Fragestellungen den „roten Faden“ vorgeben, an denen sich der gesamte klinische Wissensinhalt anknüpft.
Von Experten des »Fachgebietes für Sie geplant, geschrieben und begutachtet Dank einer Vielzahl ausgezeichneter Kliniker, die alle ausnahmslos Experten ihres Fachgebietes sind und teils sogarselbst als Prüfer der jeweiligen Ärztekammern bestellt sind, konnte dieses innovative Konzept verwirklicht werden. Wir danken daher allen Autorinnen und Autoren von Herzen für ihr großes Engagement, diese Weiterbildungsreihe mit ihrer Erfahrung und ihrem Wissen möglich gemacht zu haben, ebenso wie den Redakteuren und Mitarbeitern des Springer Medizin Verlags, insbesondere Frau Wolff, Frau Dr. Wasser und Herrn Rößling, die bei der Umsetzung eine große Hilfe waren. Wir hoffen darüber hinaus, dass diese Fortbildungsreihe nicht nur für die Vorbereitung auf die Facharztprüfung Anklang findet, sondern auch dem einen oder anderen langjährigen „Experten“ als lohnende Lektüre erscheint – allein schon Der Anaesthesist · Suppl 2 · 2019
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Editorial deshalb, um das eigene Tun nochmals einer kritischen Evaluation zu unterziehen. Die Experten des Fachgebietes werden zusammen mit dem Springer Medizin Verlag in Kürze ein zweites Sonderheft Facharzt-Training Anästhesiologie herausbringen. Dann werden Sie alle wichtigen Fallbeispiele aus dem Fachgebiet Anästhesiologie mit kompaktem Hintergrundwissen beisammen haben. Zudem werden die Lerninhalte aus diesen Sonderheften in Kürze als responsive e.Learningkurse unter www. springermedizin.de zur Verfügung stehen. Bleibt also der abschließende Wunsch, dass wir mit der vorliegenden Reihe einen Beitrag dazu leisten können, dass viele junge Anästhesistinnen und Anästhesisten zu ausgewiesenen Experten werden und mit uns die Einschätzung teilen, dass die Anästhesiologie ein schönes, spannendes, umfangreiches und wichtiges Fachgebiet ist. Viel Freude beim Lesen!
Georg Breuer
Axel R. Heller
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Korrespondenzadresse Priv. Doz. Dr. G. Breuer, MME Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin, Klinikum Coburg GmbH Ketschendorfer Str. 33, 96450 Coburg, Deutschland [email protected] Prof. Dr. A. R. Heller, MBA DEAA Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin, Universitätsklinikum Augsburg Stenglinstr. 2, 86156 Augsburg, Deutschland [email protected] Interessenkonflikt. G. Breuer und A.R. Heller geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. The supplement containing this article is not sponsored by industry.
Der Anaesthesist Facharzt-Training Anaesthesist 2019 · 68 (Suppl 2):S80–S84 https://doi.org/10.1007/s00101-019-0566-2 © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Redaktion A. Heller, Augsburg G. Breuer, Coburg
F. Bartelke · K. Gürtler Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin, Universitätsklinikum Augsburg, Augsburg, Deutschland
70/m mit über 40 „pack years“ zur Metallentfernung Vorbereitung auf die Facharztprüfung: Fall 1 Fallschilderung für den Prüfungskandidaten
Thematik 4 Anamnese und körperliche Unter-
Ein 70-jähriger Mann (Körperlänge 170 cm, Körpergewicht 70 kg), stellt sich zur Metallentfernung nach Weber-CFraktur am rechten Sprunggelenk vor. Er weist über 40 „pack years“ auf. Die antiobstruktive Medikation seiner chronisch obstruktiven Bronchitis (COPD) erreicht eine gute Symptomkontrolle. Als Selbstversorger kann er leichte Hausarbeiten verrichten. Ein Oropharynxkarzinom wurde bestrahlt, und die Mundöffnung ist deutlich eingeschränkt. Die Nierenfunktion war nie eingeschränkt. Er zeigt permanentes, normofrequentes Vorhofflimmern und ist mit Rivaroxaban antikoaguliert.
suchung 4 Einschätzung des perioperativen
Risikos 4 Weiterführende Untersuchungen 4 Präoperativer Umgang mit Dauer-
medikation 4 Auswahl des Anästhesieverfahrens 4 Optimaler Operationszeitpunkt 4 Medikamentöse Prämedikation
Prüfungsfragen 4 Worauf liegt Ihr Fokus bei der Anamnese
und der körperlichen Untersuchung? 4 Wie schätzen Sie das perioperative Risiko
ein? 4 Welche weiterführenden Untersuchungen
sind indiziert? 4 Welches Anästhesieverfahren schlagen Sie
vor? 4 Wie gehen Sie mit der Dauermedikation
um? 4 Wann ist der optimale Operationszeit-
punkt? 4 Welche medikamentöse Prämedikation
empfehlen Sie?
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D Antworten ? Worauf liegt Ihr Fokus bei der Anamnese und der körperlichen Untersuchung? Grundlagen der präoperativen Risikoevaluation sind die Anamnese und die körperliche Untersuchung [1]. Wichtig ist der Fokus auf das anästhesiologisch Wesentliche: Atemwegsevaluation, Gerinnungsmanagement und Vermeidung von Komplikationen. Anamnese. Die körperliche Belastbarkeit muss erfragt werden und hilft bei der Gesamteinschätzung des Patienten. Atemweg. Eine anamnestisch erfasste schwierige Intubation ist ein Prädiktor für eine schwierige direkte Laryngoskopie [2]. Sowohl die direkte Frage nach Problemen bei Vornarkosen als auch nach einem ausgestellten DGAI1Anästhesie-Ausweis kann Hinweise auf einen erwartet schwierigen Atemweg liefern. Lungen. Chronischer Husten kann ein Frühsymptom der COPD sein. Ein Lungenemphysem macht sich häufig durch Belastungsdyspnoe ohne Husten bemerkbar. Anhand der Zahl der Exazerbationen mit und ohne Krankenhausaufenthalt kann das Exazerbationsrisiko abgeschätzt werden. Herz. Der Schweregrad einer Herzinsuffizienz kann anhand der Dyspnoe Tab. 1
durch die Klassifikation der New York Heart Association (NYHA) eingeordnet werden. Die Schweregradeinteilung der Angina pectoris findet gemäß der Klassifikation der Canadian Cardiovascular Society (CCS) statt. Blutgerinnung. Art, Dosis und der Zeitpunkt der letzten Einnahme von direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK) müssen überprüft werden [3]. Die Compliance des Patienten spielt eine entscheidende Rolle. Gibt es eine weitere gerinnungshemmende Begleitmedikation? Eine strukturierte Gerinnungsanamnese muss sowohl für den Zeitraum vor als auch nach der Antikoagulation erhoben werden. Allergie. Allergien, insbesondere gegen Medikamente, müssen erfragt werden; sie können die Ursache vermeidbarer lebensbedrohlicher Zwischenfälle sein. Körperliche Untersuchung. Eine orientierende körperliche Untersuchung kann anästhesierelevante Befunde liefern. Atemweg. Zur Atemwegsevaluation dienen u. a. der nach Samsoon und Young modifizierte Mallampati-Test, der thyreomentale Abstand, der „upper lip bite test“, die Mundöffnung und die Beweglichkeit der Halswirbelsäule [2]. Nach Bestrahlung muss getastet werden,
Revised Cardiac Risk Index. (Mod. nach [4])
Kardiale Risikofaktoren
Risiko-Score
Hochrisikoperation
1
Anamnestisch erhobene koronare Herzkrankheit
1
Anamnestisch erhobene Herzinsuffizienz
1
Anamnestisch erhobene zerebrovaskuläre Erkrankung
1
Insulinpflichtiger Diabetes mellitus
1
Präoperative S-Kreatinin-Konzentration >2 mg/dl
1
Punkt(e)
Risiko für kardiale Komplikationen (%)
0
0,4
1
0,9
2
6,6
≥3
11
1 Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin.
ob der Hals verhärtet ist. Beim „laryngeal handshake“ wird die anatomische Situation des anterioren Halsbereichs palpatorisch evaluiert und das Lig. cricothyroideum identifiziert. Herz. Dyspnoe, periphere Ödeme, obere Einflussstauung und fein- bis grobblasige Rasselgeräusche in der Auskultation der Lungen sind Befunde einer dekompensierten Herzinsuffizienz. Lungen. Tachypnoe, Zyanose, Giemen und Brummen in der Auskultation der Lungen sind Befunde einer akut exazerbierten COPD. Blutgerinnung. Petechien, Hämatome und großflächige Blutungen können ein Hinweis auf eine Hämostasestörung sein. ?
Wie schätzen Sie das perioperative Risiko ein? Der Patient weist mit der COPD eine schwere Allgemeinerkrankung auf und ist damit dem Status III in der Klassifikation der American Society of Anesthesiologists (ASA) zuzuordnen. Je höher die ASA-Klasse, desto höher sind die perioperative Morbidität und Mortalität. Die Verrichtung leichter Hausarbeit entspricht 4 metabolischen Äquivalenten („metabolic equivalent“, MET). Eine ausreichende körperliche Belastbarkeit (≥4 MET) ist ein guter Prädiktor für ein gutes perioperatives Outcome [1]. Kardiales Risiko. Als oberflächlicherEingriff weist die Metallentfernung am oberen Sprunggelenk ein niedriges kardiales Risiko auf. Das Risiko für schwere kardiale Komplikationen (akuter Myokardinfarkt, Kammerflimmern, Herz-KreislaufStillstand, atrioventrikulärer [AV-]Block °III, plötzlicher Herztod) kann mithilfe des Revised Cardiac Risk Index nach Lee abgeschätzt werden (. Tab. 1). Es handelt sich um keine Hochrisikooperation, und der Patient weist weder eine Herzinsuffizienz, koronare Herzkrankheit, zerebrovaskuläre Insuffizienz, Diabetes mellitus (insulinpflichtig) noch eine Niereninsuffizienz (S-Kreatinin-Konzentration >2 mg/dl) auf. Bei einem Lee-Score von 0 Punkten ist das Risiko für schwere
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Facharzt-Training Tab. 2 Prädiktoren für eine postoperative pulmonale Komplikation. (Mod. nach [5]) Patientenbezogene Risikofaktor(en) Risiko-Score ASA-Klasse ≥3
3
Notfalleingriff
3
Hochrisikoeingriff
2
Herzinsuffizienz
2
Chronische pulmonale Erkrankung
1
Punkt(e)
Risiko für eine Reintubation (%)
0
0,12
1–3
0,45
4–6
1,64
7–11
5,86
ASA American Society of Anesthesiologists
kardiale Komplikationen als sehr niedrig einzuschätzen (0,4 %). Pulmonales Risiko. Die Wahrscheinlichkeit für einen Bronchospasmus und andere pulmonale Komplikationen bei einer Allgemeinanästhesie ist durch die vorliegende COPD deutlich erhöht. Das Risiko einer Reintubation kann nach Brueckmann et al. abgeschätzt werden (. Tab. 2). Als Patient mit einer ASAKlasse III und chronisch-pulmonaler Erkrankung beträgt das Risiko 1,64 %. Dies ist besonders problematisch, da eine schnelle Notfallintubation mit Endotrachealtubus oder Larynxmaske aufgrund der eingeschränkten Mundöffnung nicht möglich ist. ? Welche weiterführenden Untersuchungen sind indiziert? Unnötige und konsequenzlose präoperative Tests und Untersuchungen sollten grundsätzlich vermieden werden [6]. Laboruntersuchungen können auffällige Befunde der Anamnese und körperlichen Untersuchung verifizieren. Bekannte oder vermutete Organerkrankungen sind eine Indikation für eine präoperative Blutuntersuchung. Insbesondere ist auf Organerkrankungen zu achten, die die DOAK-Wirkdauer verlängern (Niereninsuffizienz) und das Blutungsrisiko darüber hinaus noch weitererhöhen (Leberinsuffizienz). Da der Patient keinen Hinweis hierauf zeigt, ist ein „Routinescreening“ nicht empfohlen. Quick-Wert, International Normalized Ratio (INR) und aktivierte partielle Thromboplastinzeit (aPTT) sind unge-
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eignet zur Überwachung einer DOAKTherapie. Empfehlenswert ist bezüglich der DOAK-Therapie ein präoperatives „pausing“. Dies ist, unter Berücksichtigung der patientenindividuellen Nierenfunktion, wegen der pharmakodynamischen Eigenschaften der DOAK möglich. Eine DOAK-Plasma-Spiegelbestimmung ist somit überflüssig [3]. Ein 12-Kanal-EKG ist nicht indiziert, weil es sich um einen anamnestisch unauffälligen und kardial asymptomatischen Patienten mit niedrigem Operationsrisiko handelt (. Abb. 1). Da der Patient eine bekannte und stabile COPD aufweist, sind im Thoraxröntgen keine Befunde zu erwarten, die das perioperative Vorgehen beeinflussen (. Abb. 2). Eine Untersuchung der Lungenfunktion ist nicht nötig, da keine neu aufgetretene bzw. akut symptomatische Lungenerkrankung vorliegt. Eine (Doppler-)Echokardiographie ist nur bei neu aufgetretener Dyspnoe unklarer Genese sowie bei Patienten mit bekannter Herzinsuffizienz und Symptomverschlechterung innerhalb der letzten 12 Monate indiziert. Eine Sonographie der Halsgefäße ist nicht nötig, da der Patient weder eine transitorische ischämische Attacke (TIA) noch einen Apoplex in den letzten 6 Monaten erlitt [1]. ? Welches Anästhesieverfahren schlagen Sie vor? Grundsätzlich ist die Operation (OP) in alleiniger peripherer Nervenblockade, Spinal- oder Allgemeinanästhesie möglich. Aufgrund des Oropharynxkar-
zinoms mit Bestrahlung und eingeschränkter Mundöffnung liegt ein erwartet schwieriger Atemweg vor. Empfohlen wird eine Operation in Regionalanästhesie. Sollte der Patient dieses Vorgehen trotz ausführlicher Aufklärung über die Vorteile der Regionalanästhesie ablehnen, muss der Atemweg unter Erhaltung der Spontanatmung gesichert werden [2]. Die fiberoptische Wachintubation ist der Goldstandard für diese Situation ([7]; siehe auch Fall 6 dieser Beitragsserie [8]). Die Operation ist auch in alleiniger peripherer Nervenblockade (distaler N. Ischiadicus + N. saphenus) möglich. Dies erfordert eine entsprechende regionalanästhesiologische Expertise des Anästhesisten. Dabei gilt es, den erwartet schwierigen Atemweg, bei evtl. insuffizienter Nervenblockade, in die präoperativen Überlegungen einzubeziehen. Bei der Spinalanästhesie erfolgt zügig eine sichere Schmerzausschaltung im kompletten Operationsgebiet. Grundsätzlich gilt: „So peripher wie möglich, so zentral wie nötig“. ?
Wie gehen Sie mit der Dauermedikation um? Das Absetzen des DOAK ist abhängig vom periprozeduralen Blutungsrisiko, dem individuellen prokoagulatorischen Risiko und dem gewählten Anästhesieverfahren [1, 3, 9]. Ist eine rückenmarknahe Regionalanästhesie bei einem antikoagulierten Patienten geplant, werden die höchsten Ansprüche an die Blutgerinnung gestellt. Zur Prophylaxe von Schlaganfällen und systemischen Embolien sind 20 mg Rivaroxaban/Tag bei Patienten mit nichtvalvulärem Vorhofflimmern empfohlen. Bei uneingeschränkter Nierenfunktion ist eine Pause von 4 bis 5 Halbwertszeiten (44–52 h) vor rückenmarknaher Punktion nötig [9]. Der Patient hat bei einem CHA2DS2-VASc Score2 von 2 ein Thromboembolierisiko von 2,2 %/Jahr. Für die periphere Regionalanästhesie werden deutlich niedrigere Anforderungen an die Blutgerinnung gestellt. Eine 2 Congestive heart failure or left ventricular dysfunction, Hypertension, Age ≥75 [Doubled], Diabetes, Stroke [Doubled] – Vascular disease, Age 65–74 and Sex category [Female]
kurz wie möglich und damit das thrombembolische Risiko so klein wie möglich zu halten. Der Patient sollte im Rahmen seiner Komorbiditäten in einem stabilen und nichtbesserbaren Zustand sein. Elektive Operationen können nicht stattfinden, wenn eine COPD exazerbiert oder eine Herzinsuffizienz dekompensiert ist. Durch eine sorgfältige Planung und interdisziplinäre Absprachen kann das perioperative Risiko gesenkt werden. ?
Welche medikamentöse Prämedikation empfehlen Sie?
Abb. 1 8 Empfehlungen zur präoperativen Durchführung eines 12-Kanal-EKG. EKG Elektrokardiogramm, ICD implantierbarer Kardioverter-Defibrillator [1]
Die Prämedikation mit Benzodiazepinen sollte bei älteren Patienten vermieden werden [9]. Benzodiazepine können prodelirant wirken und die Aufwachphase nach einer Allgemeinanästhesie verlängern. Auch die zentral muskelrelaxierende und atemantriebshemmende Wirkung ist bei einem Patienten mit Oropharynxkarzinom und COPD unerwünscht. Die perioperative Phase löst erheblichen psychischen Stress aus. Pregabalin wirkt anxiolytisch, hat weniger negativen Einfluss auf die Atmung und könnte in diesem Fall zum Einsatz kommen. Schlüsselwörter. Atemwegsmanagement · Präoperative Evaluation · Perioperatives Risiko · Regionalanästhesie · Blutgerinnung
Korrespondenzadresse F. Bartelke Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin, Universitätsklinikum Augsburg Stenglinstr. 2, 86156 Augsburg, Deutschland [email protected] Abb. 2 8 Empfehlungen zur präoperativen Durchführung einer p.-a.-Thoraxröntgen-Aufnahme bzw. einer Lungenfunktionsdiagnostik. COPD „chronic obstructive pulmonary disease“ (chronisch obstruktive pulmonale Erkrankung). a Pulsoxymetrie, Spirometrie, Blutgasanalyse [1]
Rivaroxabanpause von 2 Halbwertszeiten (12–24 h) ist ausreichend [3]. Nach individueller Nutzenabwägung kann eine distale Blockade des N. Ischiadicus, eine entsprechende Expertise in ultraschallgestützter Regionalanästhesie vorausgesetzt, unter fortgeführter Antikoagulation durchgeführt werden.
Eine antiobstruktive Dauermedikation muss unbedingt perioperativ weitergeführt werden. ?
Wann ist der optimale Operationszeitpunkt?
Die Unterbrechung der DOAK-Therapie setzt eine zeitliche operative Stabilität voraus. Sobald die gebotene Zahl der Halbwertszeiten abgewartet wurde, sollte die Operation so früh wie möglich stattfinden. Ziel ist es, die Pause so
Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. F. Bartelke und K. Gürtler geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor. The supplement containing this article is not sponsored by industry.
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Meine Notizen!
Literatur 1. Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI), Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), Deutsche Gesellschaft für Chirurgie (DGCH) (2017) Präoperative Evaluation erwachsener Patienten vor elektiven, nicht HerzThoraxchirurgischen Eingriffen. Anaesthesist 66:442–458 2. Piepho T, Cavus E, Noppens R, Byhahn C, Dörges V, Zwissler B, Timmermann A (2015) S1Leitlinie Atemwegsmanagement. Anaesthesist 64:859–873 3. Giebl A, Gürtler K (2014) Neue orale Antikoagulanzien in der perioperativen Medizin. Anaesthesist 63:347–364 4. Lee TH et al (1999) Derivation and prospective validation of a simple index for prediction of cardiac risk of major noncardiac surgery. Circulation 100(10):1043–1049 5. Brueckmann et al (2013) Development and validation of a score for prediction of postoperative respiratory complications. Anesthesiology 118(6):1276–1285 6. Rossaint R, Coburn M, Zwissler B (2017) Klug entscheiden: . . . in der Anästhesiologie. Dtsch Arztebl 114(22–23):A-1120–C-916 (A-1120/B936/C-916) 7. Gerheuser F, Gürtler K (2011) Fiberoptische Wachintubation. Anaesthesist 60(12):1157–1178 8. Piepho T (2019) 66/m zur laparoskopischen Hemikolektomie. Anaesthesist https://doi.org/10. 1007/s00101-019-0550-x 9. Waurick K, Riess H, Van Aken H, Kessler P, Gogarten W, Volk T (2014) S1-Leitlinie Rückenmarksnahe Regionalanästhesien und Thrombembolieprophylaxe/antithrombotische Medikation. Anästh Intensivmed 55:464–492
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Platz für noch mehr Wissen
Der Anaesthesist Facharzt-Training Anaesthesist 2019 · 68 (Suppl 2):S85–S89 https://doi.org/10.1007/s00101-019-0543-9 © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Redaktion A. Heller, Augsburg G. Breuer, Coburg
G. Pestel Klinik für Anästhesiologie, Universitätsmedizin, Johannes Gutenberg-Universität, Mainz, Deutschland
24/m mit Leistenabszess und Komorbidität Diabetes mellitus Vorbereitung auf die Facharztprüfung: Fall 2 Fallschilderung für den Prüfungskandidaten
Thematik 4 Inzidenz und Ätiologie des Diabetes
Der diensthabende Anästhesist wird am frühen Abend in die Notfallambulanz gerufen. Dort wartet ein ca. 25-jähriger, athletisch wirkender Mann (Körperlänge 182 cm, Körpergewicht 68 kg), der stabile Vitalfunktionen aufweist und zu allen Qualitäten orientiert ist. In seiner rechten Leiste befindet sich ein ungefähr 3 cm großer, erhabener, prallelastischer, geröteter schmerzhafter Tumor. Die diensthabende Chirurgin gibt an, aufgrund drohender Sepsis umgehend mithilfe eines minimalen Eingriffs den Abszess spalten zu wollen; der Patient sei ansonsten völlig gesund. Im Rahmen der Patientenbefragung gibt der körperlich voll belastbare Patient an, seit Jahren wegen eines insulinpflichtigen Diabetes mellitus in ärztlicher Behandlung zu sein. Eine Insulinpumpe benutze er nicht. Der aktuelle Blutzuckerwert beträgt 300 mg/dl.
mellitus 4 Anästhesierelevante Komplikationen
des Diabetes mellitus 4 Auswirkungen von Anästhesie und
Operationen auf den Insulin- und Glucosestoffwechsel 4 Anästhesieführung bei Diabetes mellitus 4 Perioperative Kontrolle der Glucosehomöostase
Prüfungsfragen 4 Nennen Sie Inzidenz und Ätiologie des
Diabetes mellitus. 4 Nennen Sie anästhesierelevante Kompli-
kationen des Diabetes mellitus. 4 Nennen Sie Stoffklassen und Wirkstoffe 4 4 4 4
gebräuchlicher Antidiabetika, einschließlich ihrer Wirkmechanismen. Welche Auswirkungen haben Anästhesie und Operation auf den Insulin- und Glucosestoffwechsel? Welche Anästhesieführung ist im dargelegten Fallbeispiel vorstellbar? Wie sorgen Sie perioperativ für den Erhalt der Glucosehomöostase? Ist die Bewahrung eines engen Blutzuckerkorridors von 80 mg/dl bis 110 mg/dl für Patientinnen und Patienten Outcome-relevant und somit sinnvoll?
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Facharzt-Training D Antworten ? Nennen Sie Ätiologie und Prävalenz des Diabetes mellitus. Unterschieden werden Typ-1- bis Typ-4Diabetes. (Diabetes mellitus Typ 4 entspricht einem Gestationsdiabetes; die klinische Relevanz umfasst auch die Vermeidung einer gefährlichen postpartalen Hypoglykämie beim Neugeborenen, betroffen sind 1–3 % der Schwangeren. Ursache des Diabetes mellitus Typ 3 sind u. a. seltene genetische Defekte.) Mit 96 % ist die überwiegende Mehrheit der Menschen mit Diabetes in Deutschland vom Typ 2 betroffen. Dieser ist charakterisiert durch eine gestörte Insulinsekretion bzw. eine Insulinresistenz. Die Therapie der Erkrankung wird mithilfe von Diäten und der Einnahme oraler Antidiabetika, ggf. in Verbindung mit einer Insulintherapie, durchgeführt. Im Gegensatz dazu ist Diabetes mellitus Typ 1 durch den absoluten Insulinmangel charakterisiert und betrifft ca. 4 % der Diabetespatientinnen und -patienten. Die Therapie erfolgt ausschließlich mit Insulin. Diabetes mellitus ist eine Erkrankung, deren Prävalenz weiter zunimmt. Bei gesetzlich Krankenversicherten ist die Prävalenz von 8,9 % im Jahr 2009 auf 9,5 % im Jahr 2015 gestiegen [2]. Männer haben generell eine höhere Prävalenz als Frauen. In Deutschland bestehen deutliche regionale Unterschiede hinsichtlich der Prävalenz mit einem beträchtlichen Unterschied zwischen West und Ost. Auf Kreisebene wird die niedrigste Prävalenz mit 5,6 % in der Stadt Freiburg in Baden beobachtet; die höchste Prävalenz mit 18,1 % findet sich in Prignitz, Brandenburg. Jährlich werden in Deutschland ca. 500.000 Personen mit der Erstdiagnose Diabetes mellitus konfrontiert; Erkrankte im Osten sind jünger als im Westen. ? Nennen Sie anästhesierelevante Komplikationen des Diabetes mellitus. Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Menschen mit Diabetes tragen ein erhöhtes Risiko einer Vielzahl kardiovaskulärer Erkrankungen wie koronare Herzkrank-
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heit, periphere arterielle Verschlusskrankheit, systolische und diastolische Dysfunktion, Hypertonus und hydropische Herzdekompensation. Vor allem insulinpflichtige Diabetespatientinnen und -patienten müssen in der perioperativen kardialen Risikoeinschätzung bei nichtkardiochirurgischen Eingriffen mindestens als Patientinnen und Patienten mit mittlerem Risiko gewertet werden. Stumme Myokardischämien bei Diabetespatientinnen und -patienten können aufgrund der koronaren Herzkrankheit selbst oder aufgrund der diabetesbedingten Neuropathie zustande kommen. Die reduzierte Wahrnehmung des Ischämieschmerzes bei Myokardischämie oder Myokardinfarkt beinhaltet die Gefahr einer Verzögerung adäquater Diagnostik und Therapie. Eine Erhöhung des Blutzuckergedächtnis-Markers HbA1c (Normalwert ca. 6 %) auf 7 % lässt das Infarktrisiko um 40 % ansteigen, eine HbA1c-Erhöhung auf 8 % steigert das Infarktrisiko um 80 %. Die stufenweise Progression einer diabetischen Kardiomyopathie beginnt mit einer beeinträchtigen ventrikulären Relaxation und führt über eine diastolische Dysfunktion mit erhöhten linksventrikulären Füllungsdrücken zur manifesten Herzinsuffizienz. Bei einer Vielzahl von Patientinnen und Patienten mit asymptomatischem Diabetes kann eine diastolische Dysfunktion festgestellt werden. Bluthochdruck ist bei Diabetespatientinnen und -patienten häufiger als in der Normalpopulation. Die Inzidenz steigt bei zunehmender Krankheitsdauer an und ist mit der Entwicklung einer diabetischen Nephropathie vergesellschaftet. Diabetische Neuropathie. Bei ca. 50 % der Patientinnen und Patienten mit manifestem Diabetes liegt eine Magenentleerungsstörung (Gastroparese) vor. Die diabetisch bedingte Magenentleerungsstörung kannzum vergrößertengastralen Residualvolumen führen. Damit ist das Risiko einer Regurgitation und Aspiration im Rahmen der Narkoseeinleitung erhöht. Die diabetische Gastroparese
ist oftmals asymptomatisch. Im Rahmen der diabetischen Neuropathie kann postoperativ ein unerwarteter Atemstillstand auftreten. Zu den Risikofaktoren zählen männliches Geschlecht, Alter über 60 Jahre, Adipositas und Diabetes. Neben der engmaschigen postoperativen Überwachung sollte daher der Einsatz atemdepressiv wirkender Sedativa und Analgetika zurückhaltend und titrierend erfolgen. Diabetische Nephropathie. Die häufigste Ursache einer Niereninsuffizienz ist in industrialisierten Ländern ein Diabetes mellitus. Die Nierenerkrankung ist eine der häufigsten und gefährlichsten Komplikationen, die 20–40 % aller Patientinnen und Patienten mit Diabetes (definiert als Mikroalbuminurie) im Krankheitsverlauf entwickeln. Das Risiko ist bei beiden Diabetesgruppen (Typ 1 und Typ 2) gleich hoch. „Stiff joint syndrome“. Darunterversteht man die verminderte Beweglichkeit des Atlantookzipitalgelenks und der Larynxregion; dies kann Intubationsschwierigkeiten verursachen. Die Häufigkeit bei jugendlichen Diabetespatientinnen und -patienten mit bis zu 30 % angegeben. Das Stiff joint syndrome (SJS) tritt nur bei Menschen mit Typ-1-Diabetes auf und ist positiv korreliert mit der Inzidenz diabetischer Mikroangiopathien. Okkulte Hypoglykämie. Das präoperative Nüchternheitsgebot beruht auf der Rationale, dass die Entleerung des Magens das Risiko einer Regurgitation mit konsekutiver Aspiration minimiert. Eine solche mehrstündige Nüchternheit wird in aller Regel problemlos toleriert; bei Diabetespatientinnen und -patienten mit autonomer Neuropathie besteht hingegen ein erhöhtes Risiko des Auftretens unbemerkter Hypoglykämien. Daher sollte die engmaschige präoperative Blutzuckerüberwachung bei Diabetespatientinnen und -patienten erfolgen.
Tab. 1 Perioperativer Therapieplan bei kleinen Eingriffen Zeitpunkt Typ-2-Diabetes ohne vorbestehende Insulintherapie
Typ-2-Diabetes mit Insulintherapie und Typ-1-Diabetes
Präoperativ
Keine Antidiabetika am Operationstag BZ-Kontrollen ab 7:00 Uhr 2-stündlich bis zur Operation BZ-Zielbereich vorgeben (z. B. 80–180 mg/dl [~4,4–10 mmol/l])
Optimale Diabeteseinstellung Basis-Bolus-Therapie: nur Basalinsulindosis injizieren am OperationMorgen bzw. Basalrate der Insulinpumpe laufen lassen bzw. 50 % der Gesamttagesdosis bei konventioneller Therapie mit Mischinsulin als Basalinsulin injizieren BZ-Kontrollen ab 7:00 Uhr 2-stündlich bis zur Operation BZ-Zielbereich vorgeben (z. B. 80–180 mg/dl [~4,4–10 mmol/l])
Intraoperativ
Einstündliche BZ-Kontrollen BZ-Zielbereich beachten
Einstündliche BZ-Kontrollen BZ-Zielbereich beachten 5 %ige Glucoselösung i.v., falls erforderlich, kurz wirksames Insulin zur Korrektur hoher BZ-Werte
Postoperativ
Einstündliche BZ-Kontrollen im Aufwachraum 2-stündliche BZ-Kontrollen auf Station BZ-Zielbereich beachten Antidiabetika nach erster postoperativer Mahlzeit
Einstündliche BZ-Kontrollen im Aufwachraum 2-stündliche BZ-Kontrollen auf Station BZ-Zielbereich beachten 5 %ige Glucoselösung i.v., falls erforderlich, kurz wirksames Insulin zur Korrektur hoher BZ-Werte Kurz wirkendes (Mahlzeit-)Insulin vor der ersten postoperativen Mahlzeit
BZ Blutzucker
? Nennen Sie 5 Stoffklassen und Wirkstoffe gebräuchlicher Antidiabetika, einschließlich ihrer Wirkmechanismen. a. α-Glucosidase-Inhibitor (Acarbose): Enzymhemmung der Glucoseabsorption b. Biguanid (Metformin): Glukoneogenese ↓ c. Dipeptidylpeptidase-4-Inhibitor (Saxagliptin, Sitagliptin): Glucagonlike-peptide-1-Abbau ↓ d. Glucagon-like-peptide-1-Agonist (Exenatid, Liraglutid): Glukagonsekretion ↓, Insulinsekretion ↑, Magenentleerungszeit ↑, Appetit ↓ e. Insulin (Insulin): Glucoseaufnahme ↑ f. Sulfonylharnstoff (Gliclazid, Gliquidon): Insulinsekretion ↑ g. Sulfonylharnstoffanalogon/Glinid (Nateglinid, Repaglinid): Insulinsekretion ↑ h. Thiazolidindion (Pioglitazon): Insulin-Sensitizer ? Welche Auswirkungen haben Anästhesie und Operation auf den Insulin- und Glucosestoffwechsel? Insgesamt betrachtet sind die Auswirkungen moderner Inhalations- und Injektionsanästhetika auf den Stoffwechsel im Vergleich zum Operationsstress als gering einzustufen. Hingegen stellt
ein operativer Eingriff eine klassische Stresssituation mit kataboler Antwort da. Das Ausmaß der Katabolie bei Patientinnen und Patienten ist abhängig von der Invasivität der Operation und anderer perioperativ vorliegender Faktoren wie Sepsis oder Schock. Bekannte hormonelle Veränderungen sind eine gesteigerte Katecholamin-, Adrenokortikotropin(ACTH)- und Cortisolsekretion sowie erhöhte Spiegel des zyklischen Adenosinmonophosphats (cAMP) und des Glukagons. Trotz unveränderter Plasmainsulinspiegel steigt der Blutglucosespiegel aufgrund der Wirkung der kontrainsulinären Hormone während und nach der Operation an. Im Anschluss an eine Operation besteht eine Phase relativer Insulinresistenz. Alle diese Veränderungen erhöhen den akuten Insulinbedarf bei diabetischen Patientinnen und Patienten. ?
Welche Anästhesieführung ist im dargelegten Fallbeispiel vorstellbar?
Chirurgischer Stress bewirkt eine Aktivierung des sympathoadrenergen Systems. Die katabolen Reaktionen können durch regionalanästhesiologische Verfahren (neuroaxiale oder periphere Blockaden) in ihrer Ausprägung vermindert oder ganz unterdrückt werden. Neuroaxiale Verfahren, die mit einer
Sympathikolyse einhergehen, können insbesondere bei diabetischen Patientinnen und Patienten mit autonomer Neuropathie zu ausgeprägten Nebenwirkungen führen. Das Vorliegen eines Diabetes mellitus ist ein unabhängiger Risikofaktor für das Auftreten von epiduralen Abszessen nach Anlage einer neuroaxialen Blockade. Wird bei diabetischen Patientinnen und Patienten eine Allgemeinanästhesie durchgeführt, ist insbesondere unter Notfallbedingungen das erhöhte Regurgitationsrisiko durch eine diabetische Gastroparese zu antizipieren. Die Durchführung einer Anästhesie unter Maskenbeatmung oder Zuhilfenahme eines supraglottischen Atemwegs einerseits ist daher sorgfältig abzuwägen gegen eine endotracheale Intubation andererseits mit dem erhöhten Risiko der erschwerten Atemwegssicherung aufgrund eines Stiff-Joint-Syndroms. Bei sehr kurzen Eingriffen kann eine dissoziative Anästhesie mit Ketamin unter Erhalt der Spontanatmung erwogen werden. ?
Wie sorgen Sie perioperativ für den Erhalt der Glucosehomöostase? Perioperativ besteht ein erhöhter Insulinbedarf. Insulin induziert u. a. die gleichzeitige Verschiebung von Glucose Der Anaesthesist · Suppl 2 · 2019
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Facharzt-Training Tab. 2 Perioperativer Therapieplan für große Eingriffe oder Notfalloperationen Zeitpunkt Typ-2-Diabetes ohne vorbestehende Insulintherapie Typ-2-Diabetes mit Insulintherapie und Typ-1-Diabetes Präoperativ
Keine Antidiabetika am Operationstag Ggf. präoperative Umstellung auf Insulin BZ-Kontrollen ab 7:00 Uhr 2-stündlich bis zur Operation BZ-Zielbereich vorgeben (z. B. 80–180 mg/dl)
Optimale Diabeteseinstellung Auch vor Notfalloperationen sollten Hyperglykämie, Ketoacidose oder Elektrolytentgleisungen korrigiert werden Basis-Bolus-Therapie: nur Basalinsulindosis injizieren am Operationsmorgen bzw. Basalrate der Insulinpumpe laufen lassen bzw. 50 % der Gesamttagesdosis bei konventioneller Therapie mit Mischinsulin als Basalinsulin injizieren BZ-Kontrollen ab 7:00 Uhr 2-stündlich bis zur Operation BZ-Zielbereich vorgeben (z. B. 80–180 mg/dl)
Intraoperativ
Einstündliche BZ-Kontrollen BZ-Zielbereich beachten, ggf. GIK-Therapie mit BZ-Zielwert ca. 150–180 mg/dl
Einstündliche BZ-Kontrollen BZ-Zielbereich beachten GIK-Therapie Bei BZ-Anstieg um >50 mg/dl (2,8 mmol/l) oder bei BZ-Konzentrationen >200 mg/dl (11,2 mmol/l) soll die Insulininfusion der individuellen Insulinsensibilität entsprechend angepasst werden (Faustregel: Steigerung um ca. 20 %), Bei BZ-Abfall auf 100 W)
Schlechte Belastbarkeit
1,5 mg/dl) Funktioneller Status des Patienten
Selbstversorgend Teilweise pflegebedürftig Vollständig pflegebedürftig
Die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten eines perioperativen Myokardinfarkts oder Herztods innerhalb von 30 Tagen kann auf dem Boden der oben genannten Faktoren über einen internetbasierten Rechner ermittelt werden [7] ASA Klassifikation der American Society of Anesthesiologists
Für Risikopatienten wird in neuen Leitlinien die präoperative Bestimmung von Biomarkern wie Troponinen und natriuretischen Peptiden (z. B. hochsensitives kardiales Troponin T [hs-cTnT] und „N-terminal prohormone of brain natriuretic peptide“ [NT-proBNP]) empfohlen. Beide verbessern die Risikoprädiktion [6]. ?
Wie gehen Sie perioperativ mit der Dauermedikation der Patientin um? Die etablierte Statindauertherapie der Patientin sollte perioperativ ohne Unterbrechung fortgesetzt werden. Für statinnaive Patienten, die sich einem gefäßchirurgischen Eingriff unterziehen müssen, wird darüber hinaus empfohlen, eine Statin-
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therapie möglichst mindestens 2 Wochen vor der Operation zu initiieren [5, 6]. Der Angiotensinkonversionsenzym (ACE)-Hemmer der Patientin sollte am Operationstag pausiert werden, da es sich um eine reine Therapie der Hypertonie handelt. Gleiches würde gelten, wenn die Patientin einen Angiotensinrezeptorblocker einnehmen würde. Dagegen sollten ACE-Hemmer und Angiotensinrezeptorblocker perioperativ weitereingenommen werden, wenn die Indikation zur Therapie eine Herzinsuffizienz ist [5, 6]. Bei Patienten, die eine Dauertherapie mit ASS durchführen, muss zwischen dem Blutungsrisiko einerseits und der Gefahr von kardiovaskulären Ereignissen andererseits abgewogen werden. Da die Patientin ihre DES vor 3 Jahren erhalten
hat, ist eine perioperative ASS-Therapie nicht zwingend. Weil jedoch das Risiko schwerer Blutungen beim geplanten Eingriff als gering einzuschätzen ist, sollte die ASS-Gabe im konkreten Fall fortgesetzt werden. Im Zweifel sollte ein interdisziplinäres Konzept zwischen dem behandelnden Kardiologen, Chirurgen und Anästhesisten erarbeitet werden [5, 6]. Patienten, die einen β-RezeptorenBlocker erhalten, sollte diesen perioperativ nicht absetzen. Für Patienten mit hohem kardiovaskulärem Risiko, die noch keinen β-Rezeptoren-Blocker einnehmen, sollte diese Therapie niedrig dosiert begonnen werden. Die Gabe sollte möglichst 8, besser 30 Tage vor dem Eingriff initiiert werden. Die Behandlung sollte nicht am Tag der Operation begonnen und Metoprolol sollte nicht angewendet werden [5, 6]. ? Welche kardiale Diagnostik veranlassen Sie bei dieser Patientin in Abhängigkeit von Anamnese und Risikoevaluation? Bei der Patientin zeigt sich im Rahmen der Anamnese eine klinisch stabile KHK. Da die Patientin damit zu einem Risikokollektiv gehört, sollte, wie oben beschrieben, die Bestimmung von Biomarkern wie dem hs-cTnT und NT-proBNP erfolgen [6]. Der Eingriff geht mit einem mittleren Risiko einher, sodass zusätzlich ein Ruhe-EKG durchgeführt werden sollte (. Abb. 1; [5]). Es ist besonders auf Zeichen der linksventrikulären (LV)-Hypertrophie und Veränderungen der STStrecke zu achten. Eine weiterführende kardiale Diagnostik ist nicht indiziert. Ein kardiologisches Konsil wäre nur angezeigt, wenn die Herzerkrankung der Patientin symptomatisch wäre [5]. ? Was beachten Sie bei der Auswahl des Narkoseverfahrens sowie der Durchführung der Anästhesie und des perioperativen Monitorings? Für die im vorliegenden Fall erforderliche Laparotomie ist eine Allgemeinanästhesie unumgänglich. Ob eine zusätzliche Periduralanästhesie neben einer guten postoperativen Analgesie weitere entscheidende Vorteile bietet, ist nicht abschließend geklärt. Auch für Operatio-
Anamnestisch auffällig oder kardial symptomatisch Nein
Ja
Auffällige kardiale Anamnese (≥1 Risikofaktor nach Lee)
Kardiale Symptome
Herzschrittmacher
(z.B. Thoraxschmerz, Ödeme, Rhythmusstörung etc.)
Operationsrisiko mittel oder hoch
ICD-Träger
bei klin. Symptomen
Operationsrisiko niedrig
bei regelmäßigen Schrittmacherkontrollen
oder
Kein EKG
12-Kanal-EKG
Kein EKG
nen, bei denen prinzipiell die Möglichkeit besteht, zwischen Allgemein- und Regionalanästhesie zu wählen, konnten bisherige Studien nicht überzeugend zeigen, dass eines der Verfahren dem jeweils anderen mit Blick auf das perioperative kardiovaskuläre Outcome überlegen ist. Die Wahl des Anästhesieverfahrens sollte sich vielmehr an der geplanten Operation und den Wünschen des Patienten orientieren sowie das Ziel verfolgen, die sympathoadrenergen Reaktionen zu reduzieren [8]. Perioperativ ist die kontinuierliche ST-Strecken-Überwachung in 2 Brustwandableitungen zu empfehlen. Bei Risikopatienten ist die Indikation für eine invasive Blutdruckmessung großzügiger zu stellen. Unabhängig davon sollten systolische Blutdruckwerte unter 90 mm Hg, ein mittlerer arterieller Blutdruckwert unter 60 mm Hg sowie ein Abfall des mittleren arteriellen Blutdrucks ≥40 % zum Ausgangswert unbedingt vermieden werden [9]. Die Maxime der Narkoseführung muss sein, den myokardialen Sauerstoffverbrauch so gering wie möglich zu halten.
?
Wie erkennen Sie ein perioperatives kardiales Ereignis?
Erste Hinweise kann ein perioperativ abgeleitetes EKG liefern. Finden sich ischämietypische EKG-Veränderungen, sollte eine weitere Abklärung erfolgen. Klagt die Patientin postoperativ über ischämietypische Beschwerden, fallen in der Echokardiographie (mutmaßlich) neu aufgetretene Wandbewegungsstörungen auf. Präsentiert sich die Patientin mit höhergeradigen Herzrhythmusstörungen oder zeigt sich eine nicht anders zu erklärende hämodynamische Instabilität, steht die Verdachtsdiagnose einer perioperativen Myokardischämie oder eines perioperativen Myokardinfarkts im Raum. In diesem Fall sollte unmittelbar ein kardiologisches Konsil erfolgen. In neuen Leitlinien werden für kardiale Risikopatienten postoperative Verlaufskontrollen des Troponins empfohlen. Findet sich hier ein im Vergleich zum präoperativen Zeitpunkt auffälliger Wert (für hs-cTnT ≥5 ng/l), der wahrscheinlich kardial bedingt ist (keine extrakardiale Ursache wie Niereninsuffizienz oder Sepsis) und ist die Patientin nicht symptomatisch, liegt eine perioperative Myokardschädigung vor [6]. In diesem Fall sollten Verlaufskontrollen des Troponins vorgenommen werden. Fällt die Troponinkonzentration im Verlauf 2-mal ab
Abb. 1 9 Empfehlungen zur präoperativen Durchführung eines 12-Kanal-EKG. EKG Elektrokardiogramm, ICD implantierbarer Kardioverter-Defibrillator. (Aus Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin [DGAI], Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin [DGIM], Deutsche Gesellschaft für Chirurgie [DGCH] et al. [3])
und bleibt die Patientin symptomfrei, sollte sie im Intervall kardiologisch vorgestellt werden. Bleibt der Troponinkonzentrationsabfall aus, ist eine erneute Suche nach ischämietypischen Symptomen erforderlich, und eine zeitnahe kardiologische Vorstellung sollte erfolgen. ?
Wie sieht die Therapie perioperativer kardiovaskulärer Ereignisse aus? Sollte die Patientin einen perioperativen Myokardinfarkt erleiden, übernimmt ein Kardiologe die weitere Therapie. In diesem Fall ist sehr wahrscheinlich eine Koronarangiographie mit der Möglichkeit zur Koronarintervention geboten. In Absprache mit den behandelnden Kardiologen und Chirurgen kann ggf. bereits vorher eine duale Thrombozytenaggregationshemmung begonnen werden. Bei der im Fallbeispiel geschilderten Operation wäre dies wahrscheinlich gut vertretbar. Dagegen ist die Therapie einer perioperativen Myokardschädigung, gekennzeichnet durch eine Troponinkinetik bei fehlenden ischämietypischen Symptomen, weniger gut etabliert. Im Vordergrund stehen allgemeine Maßnahmen wie die Optimierung der Hämodynamik mit Vermeiden und ggf. Therapie einer Hypotonie und dem Der Anaesthesist · Suppl 2 · 2019
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Anstreben einer Normovolämie. Bei Hämoglobinwerten unter 8 g/dl sollte eine Transfusion erwogen werden. Zumindest für gefäßchirurgische Patienten gibt es Hinweise, dass die medikamentöse Therapie nach MINS bei Fehlen von Kontraindikationen Statin, β-Rezeptoren-Blocker, ACE-Hemmer und ASS beinhalten sollte [10]. Die kardioprotektive Therapie der vorgestellten Patientin könnte also um einen β-RezeptorenBlocker ergänzt werden. Schlüsselwörter. Anästhesie · Koronare Herzkrankheit · Perioperatives Risiko · Perioperative Medikation · Troponin
Korrespondenzadresse Dr. J. Larmann, PhD Klinik für Anästhesiologie, Universitätsklinikum Heidelberg Im Neuenheimer Feld 110, 69120 Heidelberg, Deutschland [email protected]
Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. M. Monnard und J. Larmann geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor. The supplement containing this article is not sponsored by industry.
Literatur 1. International Surgical Outcomes Study g (2016) Global patient outcomes after elective surgery: prospective cohort study in 27 low-, middle- and high-income countries. Br J Anaesth 117(5):601–609 2. Thomas KN, Cotter JD, Williams MJ, van Rij AM (2016) Diagnosis, incidence, and clinical implications of Perioperative myocardial injury in vascular surgery. Vasc Endovascular Surg 50(4):247–255 3. Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI), Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM), Deutsche Gesellschaft für Chirurgie (DGCH) et al (2017) Präoperative Evaluation erwachsener Patienten vor elektiven, nicht Herz-Thorax-chirurgischen Eingriffen. Gemeinsame Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin, der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie und der Deutschen Gesellschaft für Innere Medi-
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zin. Anaesthesist 66:442–458. https://doi.org/10. 1007/s00101-017-0321-5 4. van Diepen S, Bakal JA, McAlister FA, Ezekowitz JA (2011) Mortality and readmission of patients with heart failure, atrial fibrillation, or coronary artery disease undergoing noncardiac surgery: an analysis of 38 047 patients. Circulation 124(3):289–296 5. Deutsche Gesellschaft für Anasthesiologie, Deutsche Gesellschaft fur Innere M, Deutsche Gesellschaft fur C, Zwissler B (2017) Preoperative evaluation of adult patients before elective, noncardiothoracic surgery: joint recommendation of the German Society of Anesthesiology and Intensive Care Medicine, the German Society of Surgery, and the German Society of Internal Medicine. Anaesthesist. https://doi.org/10.19224/ ai2017.349 6. DeHertS,StaenderS,FritschG,HinkelbeinJ,Afshari A, Bettelli G et al (2018) Pre-operative evaluation of adults undergoing elective noncardiac surgery: Updated guideline from the European Society of Anaesthesiology.EurJAnaesthesiol35(6):407–465 7. www.qxmd.com/calculate-online/cardiology/ gupta-perioperative-cardiac-risk 8. Kristensen SD, Knuuti J, Saraste A, Anker S, Botker HE, De Hert S et al (2014) 2014 ESC/ESA Guidelines on non-cardiac surgery: cardiovascular assessment and management: the Joint Task Force onnon-cardiacsurgery:cardiovascularassessment and management of the European Society of Cardiology (ESC) and the European Society of Anaesthesiology (ESA). Eur J Anaesthesiol 35:2383. https://doi.org/10.1093/eurheartj/ehu282 9. Stapelfeldt WH, Yuan H, Dryden JK, Strehl KE, Cywinski JB, Ehrenfeld JM et al (2017) The SLUscore: a novel method for detecting hazardous hypotension in adult patients undergoing noncardiac surgical procedures. Anesth Analg 124(4):1135–1152 10. Foucrier A, Rodseth R, Aissaoui M, Ibanes C, Goarin JP, Landais P et al (2014) The long-term impact of early cardiovascular therapy intensification for postoperative troponin elevation after major vascular surgery. Anesth Analg 119(5):1053–1063
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K
Der Anaesthesist Facharzt-Training Anaesthesist 2019 · 68 (Suppl 2):S95–S98 https://doi.org/10.1007/s00101-019-0564-4 © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Redaktion A. Heller, Augsburg G. Breuer, Coburg
M. Regner Klinik für Anästhesie und Intensivtherapie, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus, Dresden, Deutschland
37/w mit intrakranieller Blutung Vorbereitung auf die Facharztprüfung: Fall 4
Fallschilderung für den Prüfungskandidaten
Thematik 4 Rechtliche Grundlagen zum An-
Im Bereitschaftsdienst muss eine 37-jährige Patientin mit einer intrakraniellen Blutung notfallmäßig trepaniert werden. Da alle OP für den Bereitschaftsdienst belegt sind, muss ein regulärer OP genutzt werden. In diesem ist das Narkosegerät komplett ausgeschaltet und muss akut in Betrieb genommen werden. Dies erfolgt durch den Anästhesisten, weil die pflegenden Mitarbeiter anderweitig gebunden sind. Der integrierte Selbsttest im Gerät erzeugt verschiedene Fehlermeldungen, die der Anästhesist nicht beheben kann. Letztendlich muss mit großem Zeitverlust in einen anderen OP ausgewichen werden.
wenden von Narkosegeräten bzw. anderen Medizinprodukten 4 Anforderungen an die Funktionsprüfung von Narkosegeräten vor dem Einsatz am Patienten 4 Verantwortlichkeiten für die korrekte Funktionsprüfung von Narkosegeräten 4 Notfallmäßige Funktionsprüfung eines Narkosegeräts
Prüfungsfragen 4 Darf grundsätzlich jeder approbierte
4 4 4 4
Arzt (Anästhesist) ein Narkosegerät eigenverantwortlich an einen Patienten anschließen? Was ist bei Funktionsprüfung eines Narkosegeräts zu beachten? Gibt es spezifische Anforderungen an eine notfallmäßige Funktionsprüfung von Narkosegeräten? Wer ist für die Funktionsprüfung eines Narkosegeräts verantwortlich? Was ist zu tun, wenn das Narkosegerät nicht funktioniert?
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Facharzt-Training D Antworten ? Darf grundsätzlich jeder approbierte Arzt (Anästhesist) ein Narkosegerät eigenverantwortlich an einen Patienten anschließen? In Deutschland wird der Verkehr von Medizinprodukten durch das Medizinproduktegesetz [1] geregelt. Anforderungen an das Betreiben und Anwenden, also den Einsatz von Medizinprodukten am Patienten, werden in der Medizinprodukte-Betreiberverordnung (MPBetreibV)[2] definiert. In der MPBetreibV wird u. a. gefordert, dass nur die Personen Medizinprodukte anwenden oder betreiben dürfen, die über eine erforderliche Ausbildung oder Kenntnis und Erfahrung verfügen. Für bestimmte Medizinprodukte mit etwas höherem Gefährdungspotenzial gelten erweiterte Forderungen. Diese Medizinprodukte werden in der Anlage 1 der MPBetreibV (. Tab. 1) aufgeführt. Für diese „Medizinprodukte der Anlage 1“ gelten auch sehr dezidierte Forderungen an die Einweisung. Ein Anwender darf demnach ein Medizinprodukt nur eigenverantwortlich an einem Patienten anwenden, wenn er zuvor durch den Hersteller oder eine vom Betreiber beauftragte Person in dieses Medizinprodukt eingewiesen wurde. Mit dieser Forderung will man eine dauerhaft hohe Qualität sichern. Es weisen immer die gleichen beauftragten Personen, die vom Hersteller spezifisch geschult werden, andere Anwender in definierte Medizinprodukte ein. Diese Personen werden vom Betreiber, also vom Dienstvorgesetzten explizit beauftragt. Im vorgestellten Fall muss eine oder müssen mehrere Personen damit beauftragt werden, Anwender der Organisationseinheit (in der Regel alle in der Anästhesie tätigen approbierten Ärzte und pflegende Mitarbeiter) in Narkosegeräte einzuweisen. Die Einweisungen der beauftragten Personen und der Anwender müssen dokumentiert werden. ? Was ist bei Funktionsprüfung eines Narkosegeräts zu beachten? In der MPBetreibV wird gefordert, dass sich der Anwender vor dem Einsatz eines Medizinprodukts von der Funktionsfä-
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higkeit und dem ordnungsgemäßen Zustand des Medizinprodukts (im vorliegenden Fall eines Narkosegeräts) überzeugen muss. Für die Funktionsprüfung eines Narkosegeräts liefert der Hersteller des Geräts eine Handlungsanleitung. Diese ist in der obligatorischen Gebrauchsanweisung für dieses Medizinprodukt detailliert beschrieben. Die Funktionsprüfung des Narkosegeräts durch den Anwender muss Bestandteil der Einweisung gemäß der MPBetreibV sein. Jeder Anwender, egal, ob Arzt oder Pflegekraft, muss diese Funktionsprüfung sicher beherrschen. Einweisungsinhalte zur Funktionsprüfung sollten übliche Fehlermeldungen während des Selbsttests und deren Behebung sein. Grundsätzlich muss unterschieden werden zwischen einer „elektiven“ Funktionsprüfung vor dem Beginn des regulären OP-Programms und einer kurzen und schnellen Funktionsprüfung, die im Notfall und zwischen aufeinanderfolgenden Operationen im Tagesprogramm durchgeführt werden sollte. Für beide Funktionsprüfungen hat die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) herstellerunabhängige Empfehlungen [3] formuliert. Für die „elektive“ Funktionsprüfung den „Gerätecheck nach MPBetreibV“, für die Funktionsprüfung im Notfall bzw. zwischen zwei Patienten den „GeräteKURZcheck“. Der GeräteKURZcheck ersetzt jetzt die in den vorherigen Empfehlungen als Gerätecheck N (Notfall) und Gerätecheck W (zwischen 2 aufeinanderfolgenden Patienten) bezeichneten Tests. Diese Empfehlungen zur Funktionsprüfung gehen partiell über die Anleitungen der Hersteller bzw. über integrierte Selbsttest hinaus. Sie berücksichtigen Themen, die aus praktischer Erfahrung relevant sind (korrekter Anschluss der Patientenschläuche, Konnektion und Zustand des CO2-Absorberbehälters, Gasartenkontrolle). Für die „elektiven“ Prüfungen, also die Prüfungen vor dem OP-Programm, werden folgende Schritte empfohlen:
4 Sichtprüfung, 4 Prüfung der Komponenten (Gas-
versorgung, CO2-Absorber, Anästhesiemittelverdunster, separater Handbeatmungsbeutel, Sekretabsaugung), 4 automatischer Selbsttest (wenn vorhanden), 4 manuelle Prüfung (wenn kein automatischer Selbsttest vorhanden). Der detailliert beschriebene Test findet sich in den Empfehlungen der DGAI. ? Gibt es spezifische Anforderungen an eine notfallmäßige Funktionsprüfung von Narkosegeräten? Auch die notfallmäßige Funktionsprüfung eines Narkosegeräts muss sowohl Bestandteil der Einweisungen als auch der Gebrauchsanweisung des Herstellers sein. Von der notfallmäßigen Funktionsprüfung eines Narkosegeräts wird dann gesprochen, wenn die mittlerweile nahezu in allen marktüblichen Narkosegeräten integrierten Selbsttests aus Zeitgründen nicht durchgeführt werden können. Diese integrierten Selbsttests können durchaus mehrere Minuten in Anspruch nehmen. In Notsituationen ist dies nicht tolerabel, und der Anwender muss wissen, wie der integrierte Selbsttest unterbrochen werden kann, wie schnell das Narkosegerät nach Unterbrechung des Selbsttests funktionsfähig ist und mit welchen Konsequenzen nach Abbruch eines Selbsttests zu rechnen ist. Der GeräteKURZcheck der DGAI stellt eine sehr gute Handlungsanweisung für die notfallmäßige Funktionsprüfung eines Narkosegeräts dar. Die folgenden Prüfschritte sollten demnach abgearbeitet werden: 1. orientierende Prüfung der funktionellen Integrität des Atemsystems, also korrekte Montage und keine größeren Leckagen oder Widerstände; 2. Prüfung, ob das farb- und geruchlose Gasgemisch, das dem Patienten zugeführt wird, genug Sauerstoff enthält (Messung der inspiratorischen Sauerstofffraktion [FIO2]),
Tab. 1 Anlage 1 der Medizinprodukte-Betreiberverordnung [2] Nr. Art der Medizinprodukte Beispiele 1 1.1
1.2
Nichtimplantierbare aktive Medizinprodukte zur ... Erzeugung und Anwendung elektrischer Energie zur unmittelbaren Beeinflussung der Funktion von Nerven und/oder Muskeln beziehungsweise der Herztätigkeit einschließlich Defibrillatoren
Externer Defibrillator Externer Herzschrittmacher Muskelstimulator Nervenstimulator
intrakardialen Messung elektrischer Größen oder Messung anderer Größen unter Verwendung elektrisch betriebener Messsonden in Blutgefäßen beziehungsweise an freigelegten Blutgefäßen Erzeugung und Anwendung jeglicher Energie zur unmittelbaren Koagulation, Gewebezerstörung oder Zertrümmerung von Ablagerungen in Organen unmittelbaren Einbringung von Substanzen und Flüssigkeiten in den Blutkreislauf unter potenziellem Druckaufbau, wobei die Substanzen und Flüssigkeiten auch aufbereitete oder speziell behandelte körpereigene sein können, deren Einbringen mit einer Entnahmefunktion direkt gekoppelt ist
Invasives Blutdruckmessgerät
1.5
maschinellen Beatmung mit oder ohne Anästhesie
–
1.6
Diagnose mit bildgebenden Verfahren nach dem Prinzip der Kernspinresonanz
–
1.7
Therapie mit Druckkammern
–
1.8
Therapie mittels Hypothermie
–
2
Säuglingsinkubatoren
3
externe aktive Komponenten aktiver Implantate
1.3
1.4
Herzzeitvolumen(HZV)-Messgerät Multiparametermodul mit invasiven Messfunktionen Hochfrequenzchirurgiegerät Laserchirurgiegerät Ultraschallchirurgiegerät Autotransfusionsgerät Hämodialysegerät Hämofiltrationsgerät Volumetrische Infusionspumpe Infusionsspritzenpumpe
geschlossen werden. Die Gründe dafür können vielfältig sein. In dem Fall werden klare Strategien für das Vorgehen benötigt, um die Sicherheit eines Patienten gewährleisten zu können. Wenn möglich, sollten stets Austauschgeräte vorgehalten werden, die einen schnellen Wechsel erlauben. Da allerdings auch diese Wechsel von Narkosegeräten im OP geraume Zeit in Anspruch nehmen, sollte nach Empfehlung der DGAI [4] zwingend ein Handbeatmungsbeutel („Ambu-Beutel“) an jedem Narkosearbeitsplatz verfügbar sein. Dieser Handbeatmungsbeutel sollte zudem über einen Anschluss an ein Sauerstoffreservoir verfügen. Anwender eines Narkosegeräts müssen die Handhabung des Handbeatmungsbeutels, einschließlich Anschluss an eine Sauerstoffquelle, sicher beherrschen. Mit der Nutzung des Handbeatmungsbeutels verfügt der Anästhesist über eine Rückfall- bzw. Sicherheitsebene, die unabhängig vom Zustand des Narkosegeräts die Ventilation des Patienten sicherstellt. Schlüsselwörter. Medizinprodukte · Medizinprodukte-Betreiberverordnung · Funktionsprüfung · Professionelle Delegation · Patientensicherheit
Korrespondenzadresse 3. Prüfung, ob eine Ventilation der Lungen erfolgt (Kapnometrie). Diese Prüfung ist nichtdelegierbar; sie muss vom Anästhesisten, der das Gerät an einen Patienten anschließt, selbst durchgeführt werden. ? Wer ist für die Funktionsprüfung eines Narkosegeräts verantwortlich? In letzter Konsequenz ist der Anästhesist, der ein Narkosegerät an einen Patienten anschließt und diesen damit beatmet, verantwortlich. Die „elektive“ Funktionsprüfung (Gerätecheck nach MPBetreibV) kann nach Empfehlungen der DGAI delegiert werden. Üblicherweise wird die „elektive“ Funktionsprüfung des Narkosegeräts am Morgen von Pflegekräften durchgeführt. Wird dies so organisiert, muss abgewogen werden, ob es für die Durchführung des Tests eine Dokumentation ge-
ben soll. Hier kann notiert werden, wer die Funktionsprüfung zu welcher Zeit und mit welchem Ergebnis durchgeführt hat. Da der Gerätecheck der Fachgesellschaften an einigen Stellen über die integrierten Selbsttests hinausgeht, muss überlegt werden, ob und wie dies dokumentiert wird. Eine gesetzliche Grundlage dafür besteht nicht; eine Verfahrensanweisung des Krankenhauses könnte hier erarbeitet werden. Die Delegation entbindet letztendlich den Anwender (Anästhesist) nicht von seiner grundsätzlichen Verantwortung beim Einsatz eines Narkosegeräts am Patienten. ?
Was ist zu tun, wenn das Narkosegerät nicht funktioniert?
Obwohl moderne Narkosegeräte über eine Vielzahl von elektronischen und mechanischen Sicherheitselementen verfügen, kanneinpartiellerodervollständiger Ausfall eines Narkosegeräts nie ganz aus-
M. Regner Klinik für Anästhesie und Intensivtherapie, Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Fetscherstr. 74, 01307 Dresden, Deutschland [email protected]
Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. M. Regner gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor. The supplement containing this article is not sponsored by industry.
Literatur 1. Medizinproduktegesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. August 2002 (BGBl. I S. 3146), das zuletzt durch Artikel 7 des Gesetzes
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Facharzt-Training vom 18. Juli 2017 (BGBl. I S. 2757) geändert worden ist 2. Medizinprodukte-Betreiberverordnung in der Fassung der Bekanntmachung vom 21. August 2002 (BGBl. I S. 3396), die zuletzt durch Artikel 9 der Verordnung vom 29. November 2018 (BGBl. I S. 2034) geändert worden ist 3. Funktionsprüfung des Narkosegerätes zur Gewährleistung der Patientensicherheit, Empfehlung der Kommission für Normung und technische SicherheitderDGAI, Anästhesie&Intensivmedizin, 2019;60:75–83, Aktiv Druck & Verlag GmbH 4. Mindestanforderungen an den anästhesiologischen Arbeitsplatz, Kommission Normung und technische Sicherheit der DGAI, Anästhesie & Intensivmedizin, 2013;54:1–4, Aktiv Druck & Verlag GmbH
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Meine Notizen!
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Der Anaesthesist Facharzt-Training Anaesthesist 2019 · 68 (Suppl 2):S99–S102 https://doi.org/10.1007/s00101-019-0549-3 © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Redaktion A. Heller, Augsburg G. Breuer, Coburg
H. Ilper Abteilung für Anästhesie, Intensiv- und Rettungsmedizin, Zentrum für Schmerztherapie, BG-Klinikum Hamburg, akademisches Lehrkrankenhaus der Universitäten Hamburg und Lübeck, Hamburg, Deutschland
56/m zur Panendoskopie bei HNO-Tumor und erfolgter Radiotherapie Vorbereitung auf die Facharztprüfung: Fall 5 Fallschilderung für den Prüfungskandidaten (Teil 1) Bei einem 56-jährigen Patienten soll eine Panendoskopie zur Kontrolle seines Plattenepithelkarzinoms im Hals nach Abschluss der Strahlentherapie durchgeführt werden. Darüber hinaus ist der Patient kardiopulmonal stabil; ein arterieller Hypertonus wird seit Jahren problemlos durch einen Angiotensinkonversionsenzym(ACE)-Hemmer therapiert. Der Patient ist normgewichtig und kooperativ; es sind keine Allergien bekannt. Er gibt einen seit der Diagnosestellung beendeten Nikotinabusus und einen weiterhin bestehenden, regelmäßigen Alkoholkonsum (ca. 0,5 l Weinbrand/Tag) an. Er wird bei Ihnen zum Prämedikationsgespräch vorstellig.
beatmung und der schwierigen Laryngoskopie herangezogen werden können 4 Verfahren, die bei erwartet schwierigem Atemweg zur Anwendung kommen können
Prüfungsfragen 4 Für welches Narkoseverfahren entschei4 4
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Thematik 4 Anästhesierelevante Folgen medi-
zinischer Eingriffe, insbesondere in Form des erschwerten AirwayManagements 4 Reduktion des Anästhesierisikos durch das präoperative Einholen notwendiger Informationen/Sichten der Patientenakte und präoperative Untersuchungen des Patienten 4 Scores und Strategien, die zur Vorhersage der schwierigen Masken-
4
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den Sie sich aufgrund des bevorstehenden Eingriffs? Welche anästhesierelevanten Folgen kann eine Strahlentherapie des HNO-Bereichs, v. a. der Kehlkopfregion, haben? Kennen Sie weitere Operationen oder Interventionen, die vergleichbare Folgen (erschwertes Airway-Management) haben können? Welche Informationen aus der Patientenakte können Sie zur Reduzierung des Anästhesierisikos nutzen? Welche körperlichen Untersuchungen können Sie durchführen, um den Schwierigkeitsgrad des Airway-Managements im vorliegenden Fall vorherzusagen? Welche Scores und Strategien zur Vorhersage der a) schwierigen Maskenbeatmung und b) der schwierigen Laryngoskopie kennen Sie? Welche Verfahren stehen Ihnen für das Management des erwartet schwierigen Atemwegs zur Verfügung? Nach der Evaluation: Für welches Vorgehen entscheiden Sie sich?
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Facharzt-Training D Antworten ? Für welches Narkoseverfahren entscheiden Sie sich aufgrund des bevorstehenden Eingriffs? Die Panendoskopie mit der damit verbundenen maximalen Reklination und Mundöffnung, den Schmerzen und der möglichen Blutung bei einer Biopsie erfordert eine Allgemeinanästhesie mit endotrachealer Intubation. Der Weg (oral oder nasal) ist nicht relevant, da auch der oral eingelegte Tubus das Einführen des Endoskops nicht behindert. Cave: Allerdings ist dann auf ein mögliches Abknicken des Tubus bei Öffnung des Endoskops zu achten. Der nasal eingeführte Tubus kann Komplikationen wie Schleimhautschäden oder Blutungen zur Folge haben, daher sollte der orale Weg bevorzugt werden. Falls die Mundöffnung des Patienten sehr klein ist, kann in Rücksprache mit dem Operateur eine nasale Intubation erfolgen (Cave: umfangreichere Aufklärung erforderlich). ? Welche anästhesierelevanten Folgen kann eine Strahlentherapie des HNO-Bereichs, v. a. der Kehlkopfregion, haben? Nach einer Strahlentherapie neigt das Gewebe zum „Verkleben“. Daher ist die regionale Beweglichkeit reduziert; dies kann beim Kehlkopf bis zu einer Fixierung führen. Die reduzierte Verschieblichkeit behindert die Laryngoskopie und erschwert die Intubation, die für die Panendoskopie erforderlich ist. Der durchführende Anästhesistmuss aufdiesenFall vorbereitet sein und geeignetes Material bereithalten. Dies sollte z. B. auf einem Wagen unmittelbar verfügbar sein, und der Aufenthaltsort des Wagens sollte allen Mitarbeitern bekannt sein. ? Kennen Sie weitere Operationen oder Interventionen, die vergleichbare Folgen (erschwertes Airway-Management) haben können? Hierzu zählen alle Operationen, durch die eine „echte“ Verringerung der Mundöffnung (Abstand zwischen den Zahnreihen bzw. Mundwinkeln) entsteht (Kiefergelenkoperationen, Verschraubun-
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gen der Kieferknochen nach Frakturen, Zungenteilresektionen, große Weichteildefekte mit Narbenbildung bis in den Mundbereich). Davon zu unterscheiden sind die „unechten“, „nichtanatomischen“ Einschränkungen der Mundöffnung, z. B. bei Patienten mit Kieferfrakturen, die schmerzbedingt den Mund nicht öffnen, was aber nach ausreichender Analgesie (z. B. in Narkose) problemlos gelingt. Darüber hinaus alle Operationen, die eine verringerte Reklination zur Folge haben: Stabilisierungen der Halswirbelsäule, anliegende Halofixateure. Vorangegangene Tracheotomien können Stenosen durch Wucherungen an der Kanülierungsstelle verursachen und damit (subglottische) Hindernisse erzeugt haben, die in der laryngoskopischen Einstellung unsichtbar bleiben. ?
Welche Informationen aus der Patientenakte können Sie zur Reduzierung des Anästhesierisikos nutzen?
Die größte Sicherheit bietet Ihnen eine erfolgreich nach der Radiatio durchgeführte Intubation. (Hatte der Patient nach der Radiatio schon eine Narkose mit Beatmung?) Falls dies die erste Kontrolle ist, steht Ihnen diese Information zwar nicht zur Verfügung; der HNO-Arzt sollte aber bereits eine indirekte Laryngoskopie („Spiegelbefund“) durchgeführt haben, die eine Aussage über die Sicht auf die Stimmbändererlaubt. Falls diese noch nicht erfolgt ist, sollten Sie diesen Befund abwarten und erst danach das Prozedere für den Patienten festlegen. Eine kurze Rücksprache mit den behandelnden HNO-Kollegen mit Hinweis auf das Problem hilft sehr häufig weiter. Falls es sich um einen großen Tumor gehandelt hat, könnte dieser auch bei vorangegangenen Panendoskopien oder Narkosen mit Atemwegssicherung Probleme bereitet haben. Gibt es alte Narkoseunterlagen (papiergebunden, digital oder aus anderen Krankenhäusern)? Existiert ein gelber Anästhesieausweis mit entscheidenden Hinweisen für den Anästhesisten? Falls das alles nicht der Fall ist, bleibt Ihnen noch die radiologische bildgebende
Untersuchung: CT oder MRT. Wurde eine solche Untersuchung nach der Radiatio durchgeführt, können Sie diese entweder selbst befunden oder (sinnvoller) den Befund des Radiologen lesen. Bestehen noch immer Unklarheiten, helfen Ihnen die Kollegen (in diesem Fall der Radiologie) sicher gern weiter. ?
Welche körperlichen Untersuchungen können Sie durchführen, um den Schwierigkeitsgrad des Airway-Managements im vorliegenden Fall vorherzusagen? Von zentraler Bedeutung ist die Verschieblichkeit des Kehlkopfes nach links und rechts sowie nach kranial und kaudal. Vergleichen Sie diese mit der eigenen! Bewegt sich der Kehlkopf beim Schlucken? Fühlt sich der Kehlkopf des Patienten wie „festgebacken“ an, ist von einer erschwerten Laryngoskopie auszugehen! Auch andere Gewebe können „verkleben“, daher sind Reklination und Beweglichkeit der Halswirbelsäule zu prüfen. Spricht der Patient heiser? Dies deutet auf eine Beeinträchtigung der Stimmbänder hin (diese sind dann bei der Intubation noch mehr gefährdet) oder einen Nervenschaden (z. B. N. laryngeus recurrens, auch nach Schilddrüsenoperationen). Beachte: Heiserkeit immer dokumentieren. Bedenken Sie auch die vermehrte Verletzlichkeit von bestrahltem Gewebe, die sich in vermehrter Blutungsneigung äußern kann! Zusätzlich gelten die Hinweise des folgenden Abschnitts. ? Welche Scores und Strategien zur Vorhersage der a) schwierigen Maskenbeatmung und b) der schwierigen Laryngoskopie kennen Sie? a) Eine erschwerte Maskenbeatmung findet man bei: 4 Narben, Tumoren, Entzündungen, Verletzungen von Lippe und Gesicht, Vollbart, 4 pathologischen Veränderungen von Pharynx, Larynx und Trachea, 4 Makroglossie und anderen Veränderungen der Zunge,
4 desolatem Zahnstatus, langjährigem
4 Vorgeschichte einer erschwerten
Tragen von Vollprothesen, 4 männlichem Geschlecht,
Intubation in der Anamnese, 4 pathologische Veränderung, die mit
4 Patientenalter >55 Jahre, 4 vorangegangener Strahlentherapie
der Halsregion oder Tumor in diesem Bereich, in der Anamnese erhobener Schlafapnoe oder starkem Schnarchen, Mallampati-Grad III oder IV, Body-Mass-Index >30 kg/m2, „thyromental distance“ (Patil-Zeichen) 0,9, idealerweise 1,0, wird von ausreichender neuromuskulärer Erholung gesprochen. Es gilt jedoch zu beachten, dass noch ein Großteil der ACh-Rezeptoren an der Endplatte mit Relaxans besetzt sind. Ausreichende neuromuskuläre Erholung darf nicht mit vollständiger neuromuskulärer Erholung verwechselt werden [4].
Zur Antagonisierung der neuromuskulären Blockade stehen zwei Substanzklassen mit vollkommen unterschiedlichem Wirkmechanismus zur Verfügung: Cholinesterasehemmer und Zyklodextrine.
Ausgeprägte neuromuskuläre Restblockade (TOF-Ratio ≤0,6). Obwohl dieses Ausmaß der Einschränkung der neuromuskulären Übertragung weder mit klinischen Zeichen noch unter Zuhilfenahme eines einfachen Nervenstimulators erkannt werden kann, sind dennoch wesentliche Variablen der respiratorischen Funktion nachhaltig beeinträchtigt: Während Tidalvolumenund Atemfrequenz unauffällig sind, bestehen immer noch erhebliche Beeinträchtigungen der forcierten Vitalkapazität, der pharyngealen Funktion, der Integrität des oberen Atemwegs und der hypoxischen Atemantwort [3]. Minimale neuromuskuläre Restblockade (TOF-Ratio 0,7–0,9). Bei diesem Ausmaß der neuromuskulären Erholung haben forcierte Vitalkapazität, maximaler exspiratorischer Flow und hypoxische Atemantwort wieder ihre Ausgangswerte vor Gabe des Muskelrelaxans erreicht; es besteht jedoch weiterhin eine Dysfunktion des oberen Atemwegs. Diese Dysfunktion zeigt sich in Form von inspiratorischer Atemgasflussminderung, Verminderung der Volumina des oberen Atemwegs, Schluckstörungen und beeinträchtigter Funktion des den Atemweg dilatierenden M. genioglossus. Selbst eine „minimale“ neuromuskuläre Blockade beim extubierten Patienten erhöht daher das Aspirationsrisiko. Eine neuromuskuläre Erholung entsprechend einer TOF-Ratio 0,4) genügen 20 μg/kgKG Neostigmin (plus 15 μg/kgKG Atropin; [4]). Sugammadex. Die Substanz schließt steroidale Muskelrelaxanziendirektim Plasma ein; der resultierende Komplex ist pharmakologisch inaktiv und wird renal eliminiert. Die Reversierung findet binnen Minuten statt; Spontanerholung ist nicht notwendig; es kommt auch nicht zu autonomen Nebenwirkungen. Liegen mindestens 2 TOF-Antworten vor, genügen 2 mg/kgKG; tiefere Blockaden benötigen 4 mg/kgKG Sugammadex. Als „rescue dose“ in einer Can’t-ventilate-can’tintubate-Situation nach Gabe von 1,2 mg/ kgKG Rocuronium werden 16 mg/kgKG empfohlen [4]. Sugammadex antagoni-
siert weder die Wirkung von Succinylcholin noch die von Benzylisochinolinen wie Atracurium, Cisatracurium oder Mivacurium. Schlüsselwörter. Neuromuskuläre depolarisierende Agenzien · Neuromuskuläre nichtdepolarisierende Agenzien · Neuromuskuläres Monitoring · Neostigmin · Sugammadex
Korrespondenzadresse Univ. Prof. Dr. T. Fuchs-Buder Departement d’Anesthésiologie-Réanimation, Hopitaux de Brabois, Centre Hospitalier Régional Universitaire de Nancy 4, Rue du Morvan, Nancy, Frankreich [email protected]
Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. T. Fuchs-Buder hat Vortagshonorare von MSD erhalten. Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor. The supplement containing this article is not sponsored by industry.
Literatur 1. Mencke T, Echternach M, Kleinschmidt S et al (2003) Laryngeal morbidity and quality of tracheal intubation: a randomized controlled trial. Anesthesiology 98:1049–1056 2. Blobner M, Frick CG, Stäuble RB et al (2015) Neuromuscular blockade improves surgical conditions (NISCO). Surg Endosc 29:627–636 3. Schreiber JU, Fuchs-Buder T (2018) Muskelrelaxanzien und Relaxometrie. In: Wilhelm W (Hrsg) Praxis der Anästhesiologie. Springer, Berlin Heidelberg 4. Hunter JM, Fuchs-Buder T (2017) Neuromuscular blockade and reversal. In: Hardman JG, Hopkins PM, Struys MMRF (Hrsg) Oxford Textbook of Anaesthesia. Oxford University Press, Oxford 5. FuchsBuderT(2008)NeuromuskuläresMonitoring in Klinik und Forschung. Springer, Heidelberg. ISBN 978-3540785699
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Der Anaesthesist Facharzt-Training Anaesthesist 2019 · 68 (Suppl 2):S118–S122 https://doi.org/10.1007/s00101-019-0553-7 © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Redaktion A. Heller, Augsburg G. Breuer, Coburg
J. Raps · P. Groene · M. Rehm · K. Hofmann-Kiefer Klinik für Anaesthesiologie, Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität, München, Deutschland
52/w mit versteckter Hypovolämie Vorbereitung auf die Facharztprüfung: Fall 9
Fallschilderung für den Prüfungskandidaten
4 Diagnose der Hypovolämie
Bei einer 58-jährigen Patientin mit Ovarialkarzinom wird eine Explorativlaparotomie durchgeführt. Die Patientin (Körperlänge 169 cm; Körpergewicht 69 kg) ist kardiovaskulär gesund. Der Anästhesist versucht intraoperativ, die Normovolämie aufrechtzuerhalten. Der mittlere arterielle Druck (MAD) wird unter Einsatz von Noradrenalin (Maximaldosis 1,5 mg/h) bei >60 mm Hg gehalten. Postoperativ wird die Patientin extubiert und mit 0,7 mg/h Noradrenalin auf die Intensivstation verlegt. Dort entwickelt sie eine Oligo-/Anurie mit steigenden Retentionsparametern. Es wird ein Nierenersatzverfahren begonnen und 3 Tage fortgeführt. Danach normalisiert sich die Nierenfunktion, und die Patientin kann nach 7 Tagen auf die Normalstation verlegt werden. Die perioperative Flüssigkeitsbilanz fasst . Tab. 1 zusammen. Der Blutverlust wurde geschätzt, die stündliche Perspiratio ist mit 1 ml/kgKG angenommen [1]. Postoperativ betragen der Hämoglobin(Hb)-Wert 7,9 g/dl und der Hämatokrit(HKT)-Wert 25,3 %.
4 Spezielle Einsatzsituationen – Hyper-
4 Aktuelle Konzepte zum Volumener-
satz
Thematik
kaliämie 4 Beurteilung des vorgestellten Falls
Prüfungsfragen 4 Beschreiben Sie die Flüssigkeitszusam-
4
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4 4
4 Physiologische Grundlagen der
Volumentherapie 4 Pharmakologische Eigenschaften der
wichtigsten Volumentherapeutika 4 Nebenwirkungen der Volumentherapeutika
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mensetzung des menschlichen Körpers. Wie ist das im Körper vorhandene Wasser auf die Körperkompartimente verteilt? Benennen Sie die wichtigsten Gruppen der heute eingesetzten Volumentherapeutika und beschreiben Sie deren pharmakologische Eigenschaften, insbesondere die unterschiedlichen Volumeneffekte. Welche Nebenwirkungen entstehen bei der Therapie mit Kristalloiden (balanciert vs. nichtbalanciert), welche bei der Therapie mit Hydroxyethylstärke (HES), Gelatine und Albumin? Welche Methoden und Techniken kennen Sie, um eine Hypovolämie im OP und auf der Intensivstation zu diagnostizieren bzw. Ihren Verdacht zu verifizieren? Welche aktuellen Konzepte zum Volumenersatz kennen Sie? Inwieweit sind diese Konzepte bereits evidenzbasiert? Die Patientin entwickelt im Rahmen ihres akuten Nierenversagens eine Hyperkaliämie mit Werten bis 6,4 mmol/l. Welches Kristalloid würden Sie zur Volumentherapie verwenden und warum? Beurteilen Sie den vorgestellten Fall. Nennen Sie Gründe dafür, warum die Patientin ein akutes Nierenversagen entwickelt hat.
Tab. 1 Perioperative Flüssigkeitsbilanz Ausfuhr
Einfuhr
Urin
700 ml
Kristalloide
6000 ml
Blut
3000 ml
Erythrozytenkonzentrate
1200 ml
Perspiratio insensibilis
335 ml
Fresh Frozen Plasma
1500 ml
Summe
4035 ml
Summe
8700 ml
Bilanz
+4665 ml
D Antworten ? Beschreiben Sie die Flüssigkeitszusammensetzung des menschlichen Körpers. Wie ist das im Körper vorhandene Wasser auf die Körperkompartimente verteilt? Der menschliche Körper besteht zu zwei Dritteln aus Wasser, wobei der Gesamtwassergehalt beim älteren Menschen (50–60 %) niedriger ist als bei Jugendlichen (70–75 %). Der Wassergehalt des männlichen Körpers ist in jedem Alter ca. 5 % höher als der des weiblichen. Circa zwei Drittel des Wassers befinden sich im Intrazellulärraum (IZR), ca. ein Drittel extrazellulär (EZR). Intravasal sind etwa 20 % des extrazellulären Volumens, der Rest im Interstitium zu finden. ? Benennen Sie die wichtigsten Gruppen der heute eingesetzten Volumentherapeutika und beschreiben Sie deren pharmakologische Eigenschaften, insbesondere die unterschiedlichen Volumeneffekte. Kristalloide Infusionslösungen. Klassische Kristalloide wie 0,9 %ige NaClLösung müssen von sog. balancierten Elektrolytlösungen unterschieden werden. Balancierte Lösungen enthalten metabolisierbare Anionen wie z. B. Lactat, um den Chloridanteil senken und an physiologische Konzentrationen angleichen zu können. Entsprechend dem Stewart-Säure-Basen-Modell weisen sie eine „strong ion difference“ (SID) zwischen 24 mmol/l und 36 mmol/l auf, während bei klassischen Infusionslösungen die SID 0 beträgt. Sämtliche Kristalloide passieren die Gefäßwand frei und verteilen sich gleichmäßig im EZR. Da der intravasale Anteil des EZR etwa 20 % beträgt, ist auch
der Volumeneffekt infundierter Kristalloide lediglich mit ca. 18 % zu beziffern [2]. Kristalloide Lösungen eignen sich zur Substitution des basalen Flüssigkeitsbedarfs sowie zum Ausgleich vorbestehender Flüssigkeitsdefizite und von Verlusten durch Urinausscheidung und Perspiratio insensibilis. Kolloidale Infusionslösungen: Hydroxyethylstärke, Gelatine, Albumin. Hydroxyethylstärke(HES)-Lösungen enthalten Makromoleküle aus pflanzlicher Stärke. Sie können aufgrund ihrer Größe die Gefäßwand nicht frei passieren und erzeugen dadurch einen kolloidosmotischen Druck, der die Extravasation verhindert und einen hohen Volumeneffekt bedingt. Aktuell im Gebrauch befindliche HES-Lösungen der 3. Generation enthalten Moleküle mit einem Gewicht (MG) von 130.000 und deutlich weniger Hydroxylgruppen als ältere Präparate. Sie haben eine Plasmahalbwertszeit von ca. 3h. Im Vergleich zu Erstgenerationspräparaten ist ihr Nebenwirkungsprofil deutlich günstiger. Unter Normbedingungen erzielen HES-130/0,4-Präparate einen Volumeneffekt von nahezu 100 %. Zur Herstellung gelatinehaltiger Infusionslösungen wird bovines kollagenes Bindegewebe verwendet. In Deutschland sind Präparate in 4 %iger Lösung im Einsatz. Die Größenverteilung der enthaltenen Gelatinemoleküle ist heterogen und beträgt im Schnitt etwa MG 30.000. Die größeren Bestandteile sind für den eigentlichen Volumeneffekt verantwortlich, der zwischen 50 % und ca. 100 % beträgt und 2–3 h anhält. Humanalbumin ist ein Protein mit einem MG von 66.000, dem größte Bedeutung bei der Aufrechterhaltung des
kolloidosmotischen Drucks zukommt. Maßgeblich dafür ist der intravasale Konzentrationsgradient an der endothelialen Glykokalyx. Humanalbuminlösungen werden aus Spenderplasma hergestellt und unterliegen der Chargendokumentationspflicht. Sie gelten durch Testung auf verschiedene nachweisbare Erreger, Hitzeinaktivierungsverfahren sowie strenge Sicherheitsstandards als virussicher. Parvovirus B19 wird allerdings nicht inaktiviert. Zur Verfügung stehen derzeit 5 %ige und 20 %ige Humanalbuminlösungen. Durch die hohe Wasserbindungsfähigkeit von 18 ml/g werden Volumeneffekte von 85 % bei 5 %igen und 185 % bei 20 %igen Humanalbuminlösungen erzielt. Bei intakter Gefäßbarriere hält der Volumeneffekt etwa 4 h an. ?
Welche Nebenwirkungen entstehen bei der Therapie mit Kristalloiden (balanciert vs. nichtbalanciert), welche bei der Therapie mit Hydroxyethylstärke, Gelatine und Albumin? Kristalloide. Klassische Infusionslösungen enthalten gleiche Mengen an Kationen und Anionen (SID = 0) und führen unabhängig von ihrer genauen Zusammensetzung immerzu einerhyperchlorämischen Acidose. Mittlerweile existieren Daten aus großen Patientenkollektiven, die darauf hinweisen, dass die Infusion großer Mengen nichtbalancierter Lösungen mit einer erhöhten Letalität assoziiert ist (z. B. 0,9 %ige NaCl-Lösung, [7]). Balancierte kristalloide Lösungen beeinflussen den Säure-Basen-Haushalt nicht und können deshalb auch zum Ersatz größerer Flüssigkeitsverluste verwendet werden. Sie sind z. T. hypoDer Anaesthesist · Suppl 2 · 2019
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Facharzt-Training osmolar und eignen sich daher nicht für Patienten mit erhöhten Hirndruck. Bei allen kristalloiden Lösungen muss der geringe Volumeneffekt beachtet werden. Hydroxyethylstärke. Wie bei allen kolloidalen Lösungen besteht beim Einsatz von HES das Risiko allergischer Reaktionen. Die HES-spezifischen Antikörper kommen mit einer Häufigkeit von 0,3 % jedoch sehr selten vor. Häufigste Nebenwirkung ist ein protrahierter, therapieresistenter Pruritus (29 %). Alle HES-Lösungen beeinflussen die Blutgerinnung. Für große HES-Moleküle ist eine Bindung und Sequestrierung des Von-Willebrand-Faktors beschrieben. Auch das Fibrinogensystem kann beeinträchtigt sein, wobei Präparate der 3. Generation am wenigsten interferieren. Die Risiko-Nutzen-Abwägung von HES wird aktuell intensiv diskutiert. Große Studien konnten eine erhöhte Inzidenz von Nierenversagen und teilweise eine erhöhte Letalität nach Gabe von HES bei kritisch kranken, septischen Patienten beobachten. Dabei wurden teilweise ältere HES-Präparationen in einer hohen kumulativen Gesamtdosis verabreicht. Gegen den Einsatz im OP bei nierengesunden Patienten sprechen bisher keine belastbaren Daten [5]. Gelatine. Der Effekt von Gelatine auf die Blutgerinnung ist, im Vergleich zu HES, vermutlich geringer ausgeprägt. Für Gelatine sind dagegen die höchsten Raten an anaphylaktischenReaktionenallerKolloide beschrieben. Theoretisch ist aufgrund des bovinen Ursprungs eine Übertragung der Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung möglich. In den USA sind keine gelatinehaltigen Infusionslösungen mehr zugelassen; in Deutschland wird eine Chargendokumentation diskutiert. Zu den Nebenwirkungen von Gelatine gibt es bislang nur wenige Studienergebnisse. Analog zu HES ist eine kumulative Gabe von Gelatine aber mit einer erhöhten Rate an Nierenversagen assoziiert. Humanalbumin. Auch Humanalbumin kann (sehr selten) anaphylaktische Reaktionen hervorrufen (Inzidenz 0,1 %). Eine wenig bekannte Nebenwirkung ist das hypotensive Syndrom, das nach schnel-
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ler Infusion von Humanalbumin auftreten kann. Zugrunde liegt eine (unbeabsichtigte) Aktivierung des Komplementsystems bei der Herstellung. Dies verursacht bei schneller Infusion Hypotension und Bradykardien. Serumkonzentrationen, unterhalb derer eine Substitution generell sinnvoll ist, konnten bislang nicht definiert werden. Bei Intensivpatienten wurde der (potenzielle) Nutzen der Albumingabe in großen Studien untersucht, die Studienergebnisse sind jedoch widersprüchlich. Eindeutige Aussagen bezüglich der „Outcome-Relevanz“ der Albuminsubstitution konnten bislang nicht getroffen werden [5]. Für die perioperative Verwendung existieren deutlich weniger, ebenfalls widersprüchliche Daten. ?
Welche Methoden und Techniken kennen Sie, um eine Hypovolämie im OP und auf der Intensivstation zu diagnostizieren bzw. Ihren Verdacht zu verifizieren?
Für eine adäquate Volumentherapie ist es essenziell, Volumenmangelzustände frühzeitig zu erkennen. Neben den Messparametern Blutdruck und Herzfrequenz gibt es weitere (sensitivere) hämodynamische Messwerte, die zur Bewältigung dieser Aufgabe geeignet sind. Sie werden in volumenbasierte und dynamische Parameter unterteilt. Zur Messung sind semiinvasive Messtechniken notwendig (z. B. Pulskonturanalyse, transthorakale oder transösophageale Echokardiographie). Zu den volumenbasierten Parametern zählen das globale enddiastolische Volumen sowie das intrathorakale Blutvolumen, während die Schlagvolumenvariation (SVV) oder die Pulsdruckvariation (PPV) dynamische Parameter darstellen. Entsprechend der S3-Leitlinie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) sollte zur Abschätzung des Volumenstatus den dynamischen Parametern der Vorzug gegeben werden („grade of recommendation“ [GoR] A; [3]). Einige dieser Parameter sind allerdings nur beim beatmeten Patienten mit Sinusrhythmus messbar. Außerdem werden in der Leitlinie für den spontan atmenden Patienten Lagerungsmanöver zur Autotransfusion empfohlen (Trendelenburg-
Manöver; GoR B), um dopplerechokardiographisch das Schlagvolumen zur Abschätzung der Volumenreagibilität bestimmen zu können. Der zentrale Venendruck (ZVD) eignet sich dagegen nicht zur Bestimmung des Volumenstatus. Ein Volumenmangel kann durch wiederholte Boli kristalloider (oder kolloidaler) Lösungen mit konsekutiver Bestimmung der beschriebenen Messparameter verifiziert und korrigiert werden. ?
Welche aktuellen Konzepte zum Volumenersatz kennen Sie? Inwieweit sind diese Konzepte bereits evidenzbasiert? Ziel aller modernen Konzepte der Volumentherapie ist die Aufrechterhaltung der Isovolämie. Traditionelle Regime propagierten hierzu ein liberales Flüssigkeitsmanagement und berücksichtigten ein (in der Realität nichtvorhandenes) Nüchternheitsdefizit beim operativen Patienten. Diese Regime führen fast immer zur Hypervolämie. Sie sind daher nur bei Low-risk-Patienten und Eingriffen von kurzer bis mittlerer Dauer vertretbar. Verschiedene Publikationen zeigten die Vorteile eines restriktiveren Managements (stündlich 3–5 ml/kgKG), besonders bei abdominalchirurgischen Eingriffen auf. Durch restriktive Flüssigkeitsgabe konnte die Inzidenz von Anastomoseninsuffizienzen, Lungenödemen und Gerinnungsstörungen gesenkt werden [5]. Dabei wird auch eine transiente Oligurie bewusst in Kauf genommen. Die Begriffe „liberal“ und „restriktiv“ werden in der Literatur jedoch nicht standardisiert verwendet, sodass eine umfassende Beurteilung dieses Konzepts schwierig ist [5]. Seine Anwendung ist am ehesten für mittelgroße Eingriffe an Patienten mit moderatem Operationsrisiko sinnvoll. Welche Menge an Flüssigkeit im Einzelfall tatsächlich notwendig ist, wurde in den letzten Jahren intensiv diskutiert. Breite Akzeptanz fand zunächst das 2001 von Rivers entwickelte Konzept der „early goal-directed therapy“. Dabei findet ein fester Algorithmus Anwendung, der auf dem ZVD, dem MAP und der zentralvenösen Sauerstoffsättigung basiert [6]. Nachfolgende Studien (ARISE, ProCESS,
Infobox 1 Berechnung des intraoperativen Blutverlusts. (Nach Rehm et al. [5]) Der aktuelle Blutverlust errechnet sich zu jedem Zeitpunkt der Operation aus den Veränderungen des Blutvolumens (BV), des Erythrozytenvolumens (EV) und des Hämatokrit(HKT)-Werts: Aktueller Blutverlust =
Veränderung des EV mittlerer HKT
Veränderung des EV = EVpräop − EVaktuell Mittlerer HKT =
Summer aller gemessenen HKT Anzahl aller gemessenen HKT
EVpräop = BlutvolumenNormovolämie(präop) ×HKTpräop EVaktuell = BlutvolumenNormovolämie(präop) ×HKTaktuell BV bei Normovolämie = Körperoberfläche × 2245 ml/m2 oder 60 ml/kgKG.
PRoMISe) konnten aber die Effizienz dieses Ansatzes nicht bestätigen. Somit hat ein Vorgehen entsprechend der RiversStudie derzeit keinen Evidenzcharakter [4]. Aktuelle Konzepte propagieren ein zeitnahes Erkennen eines Volumenmangels und den bedarfsgerechten Ausgleich mithilfe der oben beschriebenen hämodynamischen Größen (SVV). Die Studienlage ist allerdings auch hier noch nicht eindeutig, da qualitativ gute Studien zur Effektivität des Konzepts noch nicht in ausreichender Zahl vorliegen. Bei der Volumentherapie ist ebenfalls zu berücksichtigen, dass Flüssigkeitsverluste durch Urin und Perspiratio von Plasma- oder Proteinverlusten (Blutung) unterschieden werden müssen. Verluste unterschiedlichen „Typs“ werden jeweils mit dem „adäquaten“ Volumentherapeutikum ausgeglichen [1]. Zur Frage, ab wann zusätzlich zur Zufuhr von Kristalloiden eine Therapie mit Kolloiden begonnen werden sollte, existieren bisher keine Studienergebnisse. In der Klinik der Autoren des vorliegenden Beitrags hat sich eine Therapie mit Kolloiden ab einem Blutverlust von etwa 20 % des Gesamtblutvolumens bewährt. Bei großen Blutverlusten sollten zusätzlich bedarfsgerecht Blutprodukte zugeführt werden [5].
?
Die Patientin entwickelt im Rahmen ihres akuten Nierenversagens eine Hyperkaliämie mit Werten bis 6,4 mmol/l. Welches Kristalloid würden Sie zur Volumentherapie verwenden und warum?
Der Grundsatz, dass bei Hyperkaliämie nur kaliumfreie Lösungen infundiert werden sollten, ist mittlerweile widerlegt. Die Infusion kaliumfreier, nichtbalancierter Lösungen wie 0,9 %iger NaClLösung (SID = 0) führt zur Entwicklung einer hyperchlorämischen Acidose (s. Abschn. Kristalloide). Bei acidotischer Stoffwechsellage wird im Austausch mit Protonen aber vermehrt Kalium nach intravasal verschoben. Balancierte Lösungen haben meist einen Kaliumgehalt von etwa 4 mmol/l. Durch ihre Infusion ändert sich der Gesamtbestand des Körper-Kalium-Spiegels nur sehr wenig, dagegen wird der intravasal erhöhte Kaliumwert(6,4 mmol/l) durch Verdünnung leicht gesenkt. Eine zusätzliche Ansäuerung wird vermieden, sodass kein weiteres Kalium in den intravasalen Raum verschoben wird. Dieser Effekt konnte u. a. bei nierentransplantierten Patienten beobachtet werden [8]. ? Beurteilen Sie den vorgestellten Fall. Nennen Sie Gründe dafür, warum die Patientin ein akutes Nierenversagen entwickelt hat.
ration unterzieht. Trotz augenscheinlich großer Volumenzufuhr sind intraoperativ hohe Katecholamindosen notwendig. Der geschätzte Blutverlust beträgt 3 l. Anhand der Normwerte des Blutvolumens und des intraoperativen HKT-Verlaufs kann der Blutverlust aber sehr exakt berechnet werden (. Infobox 1). Diese Art der Quantifizierung des Blutverlusts wurde bereits in ein Patientendatenmanagementsystem integriert [5]. Er beträgt real 4956 ml. Zum Ende der Operation ist der Hb-Wert der Patientin demzufolge deutlich unter dem Normbereich. Entscheidend im vorliegenden Fall ist, dass die positive Bilanz hauptsächlich aus der Gabe von Kristalloiden resultiert. Entsprechend dem oben angesprochenen Konzept können aber nur die Perspiratio und die Urinausfuhr 1:1 durch Kristalloide ersetzt werden (1035 ml). Es resultiert ein „Überschuss“ von 4965 ml an kristalloider Einfuhr. Bei einem Volumeneffekt von etwa 20 % können davon lediglich 993 ml zum Ausgleich des Blutverlusts angerechnet werden. Es verbleiben 3963 ml Blutverlust. Postuliert man für die transfundierten Blutprodukte (2700 ml) einen Volumeneffekt von 100 %, errechnet sich eine intravasale Bilanz von –1263 ml und damit eine relevante Hypovolämie [5]. Die Gabe von Kolloiden – bei Reduktion der Menge an Kristalloiden – wäre sinnvoll gewesen. Das offensichtlich prärenale Nierenversagen ist möglicherweise durch die hohe Katecholaminzufuhr und den damit verbundenen verminderten renalen Blutfluss aggraviert worden. Schlüsselwörter. Oligo-/Anurie · Volumentherapie · Kristalloide · Kolloide · Schlagvolumenvariation
Korrespondenzadresse PD Dr. K. Hofmann-Kiefer Klinik für Anaesthesiologie, Klinikum der Ludwig-Maximilians-Universität Nussbaumstr. 20, 80336 München, Deutschland [email protected]
Im vorliegenden Fall wird eine leistungsfähige 58-jährige Patientin beschrieben, die sich einer abdominellen TumoropeDer Anaesthesist · Suppl 2 · 2019
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Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. J. Raps, P. Groene, M. Rehm und K. Hofmann-Kiefer geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor. The supplement containing this article is not sponsored by industry.
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Der Anaesthesist Facharzt-Training Anaesthesist 2019 · 68 (Suppl 2):S123–S126 https://doi.org/10.1007/s00101-018-0467-9 © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019
A. R. Heller Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin, Medizinische Fakultät der Universität Augsburg, Augsburg, Deutschland
83/w nach anästhesiebedingter Hepatitis Vorbereitung auf die Facharztprüfung: Fall 10 Fallschilderung für den Prüfungskandidaten
Prüfungsfragen 4 Definieren Sie den Begriff Inhalationsan-
Eine 83-jährige Frau, 165 cm/80 kg, kommt zur Entfernung eines ZenkerDivertikels. Abgesehen von dem wechselnden Fremdkörpergefühl im unteren Halsbereich ist sie alters- und konstitutionsentsprechend kardiopulmonal belastbar. Im Rahmen der jährlichen Check-ups beim Allgemeinarzt sind nie anästhesierelevante Nebenerkrankungen aufgefallen. Sie berichtet allerdings, dass ihr nach einer Gallenoperation in den 1970er-Jahren mitgeteilt wurde, dass sie von einem Narkosegas eine Leberentzündung bekommen habe. Sie habe davon aber nichts mitbekommen; nach zwei Wochen seien die Leberwerte wieder in Ordnung gewesen.
ästhetika! 4 Welche Anforderungen sind an ein ideales
Inhalationsanästhetikum zu stellen? 4 Beschreiben Sie die Wirkweise der
Inhalationsanästhetika! 4 Welche Maßzahlen eignen sich zur
Beschreibung der physikalischen Eigenschaften und der biologischen Wirksamkeit volatiler Anästhetika? 4 Wie erfolgt die Dosierung volatiler Anästhetika? 4 Wie sind die Hepatitis und andere Nebenwirkungen im Zusammenhang mit der Anwendung eines volatilen Anästhetikums zu erklären? 4 Wie erhalten Sie im vorliegenden Fall die Narkose während der Operation aufrecht?
Thematik Der folgende Fragenkomplex bezieht sich auf: 4 die Definition der Substanzklasse der Inhalationsanästhetika, 4 die Anforderungen an ein ideales Inhalationsanästhetikum, 4 die Wirkweise der Inhalationsanästhetika, 4 die beschreibenden Maßzahlen volatiler Anästhetika und abgeleitete Konsequenzen, 4 die Dosierungseinrichtungen für volatile Anästhetika, 4 die Nebenwirkungen volatiler Anästhetika.
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Facharzt-Training D Antworten ? Definieren Sie den Begriff Inhalationsanästhetika! Inhalative Anästhetika sind seit mehr als 150 Jahren bis heute Teil der klinischen Anästhesie. Der Begriff Inhalationsanästhetika schließt „volatile“ Anästhetika ein. Dabei bezieht sich „volatil“ auf Anästhetika, deren Aggregatzustand bei Raumtemperatur und Umgebungsdruck flüssig ist, die aber zur inhalativen Anwendung mithilfe eines Verdunsters verdampft werden (Sevofluran, Isofluran, Desfluran etc.). Sprachlich unterschieden werden hiervon Anästhetika, deren Siedetemperatur bei Umgebungsdruck deutlich unter der Raumtemperatur liegt und die somit bereits gasförmig sind (Lachgas, Xenon). ? Welche Anforderungen sind an ein ideales Inhalationsanästhetikum zu stellen? Alle in der Klinik eingeführten Inhalationsanästhetika erfüllen die Anforderungen an das ideale inhalative Anästhetikum (. Tab. 1) nur zum Teil. Halothan ist physikalisch instabil, bedarf der Zugabe von Stabilisatoren und kann bei erhöhten Katecholaminspiegeln Herzrhythmusstörungen hervorrufen. Keine Substanz hat eine dem Äther vergleichbare große therapeutische Breite. Alle mit Ausnahme des Lachgases verfügen über gute relaxierende Eigenschaften, allerdings wirken jene bereits im the-
rapeutischen Bereich kardiodepressiv (außer Xenon) und vasodilatatorisch. Sevofluran reizt die Luftwege bei Konzentrationen bis 2 MAC nicht (MAC: minimale alveoläre Konzentration) und kann auch bei Kindern in hoher inspiratorischer Konzentration zur Anästhesieeinleitung verwendet werden. Xenon, Sevofluran und Desfluran fluten infolge ihrer geringen Blutlöslichkeit schnell an. Isofluran und Desfluran werden nur minimal, Xenon wird nicht metabolisiert. Mit Ausnahme von Lachgas und Xenon können alle Inhalationsanästhetika bei entsprechender Prädisposition eine maligne Hyperthermie triggern. ?
Beschreiben Sie die Wirkweise der Inhalationsanästhetika!
Molekularbiologische Untersuchungen beschreiben einzelne teilweise dämpfende, z. T. exzitatorische, aber auch indifferente Effekte volatiler Anästhetika auf verschiedenste spannungsabhängige und „Ligand-gated“-Ionenkanäle. Hieraus ist aber trotz klarer Einzelhinweise noch kein umfassendes Modell ableitbar. Ein wesentlicher Grund hierfür liegt in der hohen Komplexität und Redundanz des Gehirns und den noch wenig verstandenen biochemischen und physiologischen Hintergründen für das Bewusstsein. Die vereinfachte Annahme, dass Anästhesie durch eine Tonusreduktion des aufsteigenden retikulären Systems ARAS
Tab. 1 Anforderungen an das ideale Inhalationsanästhetikum Gute Steuerbarkeit durch niedrigen Blut/Gas-Verteilungskoeffizienten Geringe Fettlöslichkeit Hohe Wirkungsstärke Vorhersagbar verdampfbar Zusatzwirkungen z. B. Relaxierung, Analgesie Keine Reaktion mit Atemkalk Kostengünstig Keine Biotransformation Umweltneutral (FCKW/„global warming potential“) Nichtentzündlich/nichtexplosiv Chemisch/physikalisch stabil Minimale Nebenwirkungen bei hoher therapeutischer Breite (Arrhythmien, MH, Hämodynamik) Angenehmer Geruch FCKW Fluorchlorkohlenwasserstoffe, MH maligne Hyperthermie
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als Ort der Bewusstseinsmodulation wirkt, wird der Beobachtung differenzierter exzitatorischer, indifferenter oder dämpfender Wirkungen auf dezidierte Bereiche dieses Hirnstammabschnitts nicht gerecht. Es konnte gezeigt werden, dass volatile Anästhetika die Informationsübermittlung im ZNS sowohl am Kortex als auch am Hippocampus modulieren. Auch der thalamokortikale Transfer sensorischer Informationen wird beeinflusst. Dabei kann einerseits die direkte Dämpfung, aber auch die Exzitation inhibitorischer Neurone eine Rolle spielen. Entsprechend zeigt eine Reihe volatiler Anästhetika im Hippocampus eine Verlängerung der GABAinduzierten Dämpfung. Dabei wird auch eine Vielzahl von Neuroregulatoren wie Acetylcholin, Katecholamine, GABA, Glycin etc. in unterschiedlichen Regionen des Nervensystems prä- und postsynaptisch moduliert. ?
Welche Maßzahlen eignen sich zur Beschreibung der physikalischen Eigenschaften und der biologischen Wirksamkeit volatiler Anästhetika? Zur Beschreibung der Eigenschaften eines inhalativen Anästhetikums wurden verschiedene Begriffe eingeführt, deren Kenntnis für den klinischen Alltag unabdingbar ist. Der Blut/Gas-Verteilungskoeffizient stellt ein quantitatives Maß für die Löslichkeit eines Anästhetikums im Blut dar und wird definiert als das Verhältnis zwischen der Konzentration eines im Blut gelösten Gases und der Konzentration in der Gasphase des Anästhetikums, bei gleichen Partialdrücken. So hat z. B. Sevofluran einen Blut/Gas-Verteilungskoeffizienten von 0,65. Die Konzentration an Sevofluran im Blut beträgt also nur zwei Drittel der Konzentration in der Alveole bei ausgeglichenem Partialdruck in beiden Kompartimenten. Für die Praxis bedeutet dies, dass der Partialdruck bei Anästhetika mit niedrigem Blut/Gas-Verteilungskoeffizienten im ZNS schneller ansteigt, weil weniger Substanz in das Blut aufgenommen werden kann (. Tab. 2).
Tab. 2 Physikochemische und biologische Maßzahlen zur Beschreibung volatiler Anästhetika. MAC-Werte volatiler Anästhetika bei 40-Jährigen und Fentanyldosierung zur MAC-Reduktion auf 50 % Siedetempera- Blut/Gas-Ver MetaboMAC (in MAC (in MACawake Fentanylplastur (°C) teilungskoeffizient lisierung (%) 100 % O2) 70 % N2O) makonz. (ng/ml) Sevofluran
58,5
0,65
3–5
2,05
1,1
0,70
1,8
Desfluran
22,8
0,45
–0,02
5–6
2,8
2,04
0,78
Isofluran
48,5
1,40
–0,2
1,15
0,5
0,44
1,67
MAC Minimale alveoläre Konzentration, O2 Sauerstoff, N2O Lachgas
Als Standardmaß der analgetischen Potenz eines Inhalationsanästhetikums hat sich die MAC etabliert. Die MAC ist definiert als die geringste alveolare Konzentration eines Inhalationsanästhetikums, bei der 50 % der Versuchspersonen keine motorische Abwehrreaktion auf einen definierten Schmerzreiz zeigen. Allerdings ist zu beachten, dass die MAC auch die spinal verschaltete motorische Antwort auf einen Schmerzreiz widerspiegelt und nicht ausschließlich ein Maß der zerebralen Narkosetiefe darstellt. Neben der klassischen MAC-Definition existieren mehrere Modifikationen des MAC-Werts. Der MAC95 beschreibt diejenige alveoläre Konzentration, bei der 95 % der Probanden keine motorische Antwort auf einen Schmerzreiz zeigen. Beim MAC-Intubation wird dem Schmerzreiz die endotracheale Intubation gleichgesetzt und beim MACawake öffnen 50 % der Probanden auf Ansprache die Augen. Der MAC-Wert steigt bei Fieber, Säuglingen, erhöhten Katecholaminspiegeln und chronischem Alkoholabusus. Umgekehrt reduziert sich der MACWert u. a. in höherem Lebensalter, bei Schwangeren, Hypothermie, Hypotension, Anämie sowie durch andere zentral wirksame Medikamente (z. B. Sedativa, Opioide etc.) und auch bei Regionalanästhesieverfahren. ? Wie erfolgt die Dosierung volatiler Anästhetika? Aus der Verschiedenheit der Siedetemperaturen der Inhalationsanästhetika und den hieraus bei gegebener Umgebungstemperatur folgenden unterschiedlichen Sättigungskonzentrationen ergibt sich die Notwendigkeit, für jedes volatile Anästhetikum konstruktiv variierte Narkosemittelverdampfer (Vaporen) einzusetzen. Bei den üblichen Bypass-Vaporen bestimmt ein variabel
einstellbarer Anteil des Frischgasflusses den Einstrom in die Verdunsterkammer und damit substanzspezifisch die zugemischte Konzentration des volatilen Anästhetikums. Die Verwendung von volatilen Anästhetika in Vaporen, die nicht für dieses Anästhetikum konstruiert sind, wird mechanisch durch entsprechend codierte Einfüllstutzen ausgeschlossen. Zuvor kam es immer wieder zu tödlichen Überdosierungen durch Verwechslung der Verdampfer. Für Desfluran, dessen Siedepunkt in der Nähe der Raumtemperatur liegt, muss ein konstruktiv erweiterter Verdampfer eingesetzt werden, der den gasförmigen Aggregatzustand durch aktive Beheizung sicherstellt. Alle anderen Inhalationsanästhetika können aufgrund ihrer Siedepunkte um 50 °C in Bypass-Vaporen verwendet werden. Neben den BypassVerdunstern finden zunehmend auch Einspritzsysteme Verwendung. ?
Wie sind die Hepatitis und andere Nebenwirkungen im Zusammenhang mit der Anwendung eines volatilen Anästhetikums zu erklären?
Herz-Kreislauf-System. Für alle fluorierten Ethylmethylether ist neben einer atemdepressiven auch eine konzentrationsabhängige negative kardiale Inotropie beschrieben. Es kommt sowohl zu einer Verminderung des Kalziumeinstroms in den Intrazellularraum als auch zu einer Funktionseinschränkung des sarkoplasmatischen Retikulums. Dabei besitzt Halothan den stärksten negativ-inotropen Effekt. Isofluran dagegen verändert die kardiale Inotropie nur leicht, senkt aber den mittleren arteriellen Blutdruck über eine Erniedrigung des peripheren Widerstands am meisten.
Obwohl aus heutiger Sicht die Bedeutung des „Coronary-steal“-Phänomens im klinischen Alltag nicht gezeigt werde konnte, stand Isofluran aufgrund tierexperimenteller Befund lange im Verdacht, durch ausgeprägte Dilatation gesunder Widerstandsgefäße eine Umverteilung des Blutvolumens, zuungunsten atherosklerotischer Koronararterien, zu bewirken. Herzfrequenzanstiege bis hin zu Tachykardien können bei Desfluran und z. T. auch bei Isofluran beobachtet werden. Desfluraninduzierte Tachykardien sind aber v. a. bei schnellen Konzentrationsanstiegen dieses Gases zu beobachten und sind wohl am ehesten sympathikusvermittelt. Auch eine Verlängerung der QT-Zeit wird für Sevofluran, Desfluran und Isofluran beschrieben; eine durchaus relevante EKG-Veränderung, die zu ventrikulären Tachykardien vom Torsades-de-pointes-Typ führen kann. Für alle bekannten volatilen Anästhetika werden im Rahmen der anästhetikainduzierten Konditionierung protektive Effekte beschrieben. Lunge. Eine konzentrationsabhängige atemdepressive Wirkung wird für alle fluorierten Ethylmethlyether beschrieben, da sowohl der Hypoxie- als auch der CO2-induzierte Atemantrieb bereits ab einem MAC-Wert von 0,1 gehemmt werden. Diese Atemlähmung wird v. a. durch eine Hemmung peripherer motorischer Nerven (z. B. Nn. phrenici) sowie der sauerstoffsensitiven Chemorezeptoren am Glomus caroticum vermittelt. Allerdings wird in höheren Dosierungen auch eine generalisierte, durch die Medulla oblongata vermittelte Atemlähmung beobachtet. Des Weiteren sind halogenierte Ethylmethylether in der Lage, den Atemwegswiderstand bei obstruktiven Lungenerkrankungen zu erniedrigen, allerdings zeigen diese Gase Der Anaesthesist · Suppl 2 · 2019
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Facharzt-Training keine bronchodilatatorische Wirkung bei Lungengesunden. Außerdem reizen Enfluran, Isofluran und Desfluran die Atemwege, bis hin zum Laryngospasmus. Damit eignen sich diese Gase nicht zur inhalativen Narkoseeinleitung. Sevofluran hat diese Eigenschaft nicht, weswegen es zur inhalativen Narkoseeinleitung eingesetzt werden kann. Leber. Neben der dosisabhängigen Verminderung des portal-venösen Blutflusses und einem Widerstandsverlust des arteriellen Lebergefäßbetts durch Inhalationsanästhetika werden v. a. zwei Hepatitiden unterschiedlichen Verlaufs, insbesondere nach Halothananwendung, beschrieben. Daher spricht man auch von Typ-I- und Typ-II-Halothanhepatitis. Dabei ist die toxische Wirkung v. a. auf die hepatische Biotransformation über das Zytochrom-P450-System zurückzuführen. Die Typ-I-Halothanhepatitis zeigt sich in einem asymptomatischen Transaminasenanstieg. Diese Transaminasenerhöhung kann bis zu 2 Wochen anhalten und verschwindet ohne jegliche Therapie. Sehr wahrscheinlich liegt ihr die Freisetzung freier Radikale beim Abbau von Halothan zugrunde. Diese Radikale sollen wiederum einen Abbau hepatischer Zellmembranen, und somit einen Anstieg der Transaminasen, bewirken. Weitaus besser verstanden ist der Pathomechanismus der Typ-IIHalothanhepatitis. Sie gilt als Prototyp einer medikamenteninduzierten Hepatitis. Klinisch imponieren diese Patienten durch Fieber, Gelenkschmerzen oder Hautausschlag. Ein Ikterus kann noch bis zu einen Monat nach Halothankontakt auftreten. Außerdem haben diese Patienten meist eine sensibilisierende Halothannarkose in ihrer Anamnese mit nachfolgender Autoimmunreaktion gegen Hepatozyten. Beim oxidativen Abbau von Halothan über das hepatische Zytrochrom-P450 2E1 entsteht u. a. Trifluoressigsäure. Nach der Bindung von Trifluoressigsäure an zelluläre Bestandteile von Hepatozyten werden diese als Antigen erkannt und setzen eine komplexe immunologische Antwort in Gang, was einen Zelluntergang zur Folge hat.
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Muskulatur. Als maligne Hyperthermie wird eine erbliche Erkrankung der Muskulatur bezeichnet, die eine Stoffwechselentgleisung der Skelettmuskulatur durch den Kontakt mit Trigger-Substanzen auslöst. Als Trigger-Substanzen sind neben dem Muskelrelaxans Succinylcholin, mit Ausnahme von Lachgas und Xenon, auch alle Inhalationsanästhetika beschrieben. Klinisch kommt es zu einem gesteigerten Metabolismus mit Hyperthermie, erhöhtem O2-Umsatz und CO2Anfall. Außerdem imponieren Tachykardie, Muskelrigidität und -zelluntergang sowie Störungen im Säure-BasenHaushalt. Im Endstadium einer fulminanten malignen Hyperthermie stehen Multiorgan- und Kreislaufversagen. Die Letalität beträgt bei frühzeitiger Therapie mit Dantrolen ca. 10 %. Als auslösender Mechanismus gilt eine unlimitierte und unkontrollierte sarkoplasmatische Ca2+Freisetzung. ? Wie erhalten Sie im vorliegenden Fall die Narkose während der Operation aufrecht? Nach durchgemachter Halothanhepatitis dürfen wegen nichtauszuschließender Kreuzreaktionen oder Antikörperbildung keine halogenierten Inhalationsanästhetika mehr angewendet werden. Bei der Patientin erfolgt die Narkoseaufrechterhaltung als totale intravenöse Anästhesie (TIVA). Schlüsselwörter. Volatile Anästhetika · Minimale alveoläre Konzentration · Molekulare Mechanismen · Blut/Gas-Verteilungskoeffizient · Nebenwirkungen
Korrespondenzadresse Prof. Dr. A. R. Heller, DEAA MBA Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin, Medizinische Fakultät der Universität Augsburg Stenglinstraße 2, 86156 Augsburg, Deutschland [email protected]
Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. A.R. Heller gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren.
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Der Anaesthesist Facharzt-Training Anaesthesist 2019 · 68 (Suppl 2):S127–S130 https://doi.org/10.1007/s00101-019-0565-3 © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Redaktion A. Heller, Augsburg G. Breuer, Coburg
T. Piegeler Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie, Universitätsklinikum Leipzig, Leipzig, Deutschland
37/m mit Radiusfraktur nach Fahrradunfall Vorbereitung auf die Facharztprüfung: Fall 11 Fallschilderung für den Prüfungskandidaten
Thematik 4 Pharmakodynamik und -kinetik der
Sie anästhesieren einen 37-jährigen Patienten (Körperlänge 185 cm, Körpergewicht 81 kg) mit einer distalen Radiusfraktur des rechten Arms, die er sich 3 Tage zuvor bei einem Sturz mit dem Rennrad zugezogen hat. Der Patient ist gesund, treibt regelmäßig Ausdauersport, nimmt keine Medikamente ein und leidet unter keinerlei Allergien. Geplant ist eine Osteosynthese des rechtsseitigen Radius. Im Aufklärungsgespräch hat sich der Patient für eine Regionalanästhesie im Sinne einer axillären Plexusblockade entschieden, die Sie unter Ultraschallkontrolle durchführen. Nach kumulativer Injektion von 40 ml 0,5 %igem Ropivacain klagt der Patient über ein Taubheitsgefühl der Zunge und wird unruhig. Wenige Sekunden später erleidet er einen generalisierten Krampfanfall. Das EKG zeigt Kammerflimmern.
Lokalanästhetika 4 Physikalisch-chemische Eigenschaf-
ten der Lokalanästhetika und deren Bedeutung 4 Einsatz von Adjuvanzien im klinischen Alltag 4 Potenzielle Nebenwirkungen der Lokalanästhetika 4 Behandlung der systemischen Lokalanästhetikatoxizität
Prüfungsfragen 4 Beschreiben Sie den Wirkmechanismus
der Lokalanästhetika! 4 Nennen Sie wichtige physikalisch-chemi4 4 4 4 4
sche Eigenschaften der Lokalanästhetika und erläutern Sie deren Relevanz! Wie lassen sich die Lokalanästhetika einteilen? Beschreiben Sie die Pharmakokinetik der Lokalanästhetika! Welche Adjuvanzien kommen klinisch häufig zum Einsatz, und wie ist deren Wirkmechanismus? Was sind die potenziellen Nebenwirkungen der Lokalanästhetika? Wie gehen Sie in dem konkreten Fall weiter vor?
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Facharzt-Training D Antworten ? Beschreiben Sie den Wirkmechanismus der Lokalanästhetika! Lokalanästhetika werden klinisch v. a. aufgrund ihrer effektiven Ausschaltung des Schmerzempfindens eingesetzt. Sie hemmen reversibel den spannungsabhängigen Natriumkanal der Nervenzelle, wodurch die Membran nicht mehr depolarisiert werden kann. Die Fortleitung des Aktionspotenzials ist unterbrochen; die Weiterleitung afferenter Signale, beispielsweise von Schmerzreizen aus der Peripherie, findet nicht statt. Erst bei sehr hohen Konzentrationen sind neben dem Natriumkanal auch andere Ionenkanäle (z. B. Kalium- und Kalziumkanäle) von der Blockade betroffen. Der spannungsabhängige Natriumkanal besteht aus 4 Domänen mit jeweils 6 membranspannenden α-Helices. Generell sind 3 verschiedene Zustände der Pore beschrieben (. Abb. 1), die während einer Depolarisation nacheinander durchlaufen werden: geschlossen, offen und inaktiviert. Die folgende Hyperpolarisation führt zur erneuten Rückkehr in den geschlossenen Zustand. Die Bindungsstelle für die Lokalanästhetika liegt im Segment 6 der Domäne 4. Durch die Bindung wird der inaktivierte Zustand stabilisiert und eine erneute Aktivierung verhindert. Es liegt zudem eine erhöhte Affinität der Lokalanästhetika zur Bindung an den inaktivierten Zustand vor. Eine wiederholte Depolarisation – und somit eine vermehrte Wahrscheinlichkeit des Vorhandenseins des inaktiviertenZustands – resultiert in einer höheren Rate an gebundenem Lokalanästhetikum und in vermehrter Wirkung. Dieses Phänomen wird als „use dependence“ beschrieben. Die Effektivität der Nervenblockade hängt neben den individuellen Stoffeigenschaften vom Durchmesser und vom Myelinisierungsgrad der zu inhibierenden Nervenfaser ab. Fasern mit höherem Durchmesser und stärkerer Myelinisierung werden deutlich schlechter blockiert als dünnere Fasern ohne Myelinscheide. Dies erklärt, warum klinisch häufig eine suffiziente sensible Blockade des Schmerzes und des Temperatur-
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empfindens (Aδ- und C-Fasern) erreicht wird, während gleichzeitig Motorik (AαFasern) und Berührungsempfinden (Aβ Fasern) noch erhalten sein können [1]. ? Nennen Sie wichtige physikalisch-chemische Eigenschaften der Lokalanästhetika und erläutern Sie deren Relevanz! Lokalanästhetika sind bis aufwenige Ausnahmentertiäre Amine und somitschwache Basen. Abhängig von pH und pKa der einzelnen Substanz liegt daher immer ein Gleichgewicht zwischen der positiv geladenen Säure (BH+) und der unprotonierten Form (B) vor. Dieses Verhältnis lässt sich durch die Henderson-Hasselbalch-Gleichung beschreiben: +
pH = pKa + log([B]/[BH ]) Die unprotonierte Form besitzt eine deutlich höhere Lipidlöslichkeit, kann sich daher in der Zellmembran anreichern und so überhaupt erst zum eigentlichen Wirkort am Natriumkanal gelangen (. Abb. 1). Je niedriger also der pKa, desto mehr unprotoniertes Lokalanästhetikum liegt unter physiologischen Bedingungen (pH 7,4) vor und desto schneller ist der zu erwartende Wirkeintritt. Gleichzeitig ist aber auch ersichtlich, warum Lokalanästhetika in Umgebungen mit niedrigem pH-Wert, z. B. in entzündlich verändertem Gewebe, weniger gut wirksam sind: Die pH-Veränderung bewirkt eine Verschiebung des Gleichgewichts zwischen B und BH+ hin zur protonierten Form, sodass im Verhältnis sehr viel weniger Substanz in den Nerv eindringen kann. Die bereits erwähnte Bindungsstelle innerhalb der Pore ist grundsätzlich über zwei mögliche Wege zu erreichen: 1) vom Inneren der Pore aus, wobei der Zugang nur von intrazellulär erfolgen kann oder 2) aus der Lipidmembran heraus von lateral. Für den intrazellulären Zugang wiederum ist Voraussetzung, dass sich das Pharmakon im protonierten Zustand befindet (. Abb. 1). Dies wird durch ein erneut einsetzendes Gleichgewicht zwischen B und BH+ innerhalb der Zelle erreicht.
Eine weitere relevante Stoffeigenschaft der Lokalanästhetika stellt die Proteinbindung dar. Diese bestimmt maßgeblich die Dauer der Wirkung der einzelnen Substanzen. Lokalanästhetika mit einer hohen Proteinaffinität sind dementsprechend länger an die Nervenmembran gebunden und können dort auch länger wirken als Substanzen mit einer niedrigen Proteinbindung bzw. -affinität [2]. ? Wie lassen sich die Lokalanästhetika einteilen? Anhand ihrer chemischen Struktur lassen sich Lokalanästhetika in Substanzen vom Ester- oder Amidtyp einteilen. Diese Klassifizierung basiert auf der unterschiedlichen Verbindung des Phenylrings (lipophiler Anteil) mit dem tertiären Amin als Ester- oder Amidverbindung. Beispiele für Lokalanästhetika vom Estertyp sind die Substanzen Kokain, Procain oder Tetracain. Lidocain, Ropivacain und Bupivacain wiederum stellen prominente Vertreter der Amidlokalanästhetika dar. Eine weitere klinische Klassifizierung der Lokalanästhetika lässt sich anhand ihrer Wirkdauer vornehmen. Hier wird zwischen kurz (z. B. Procain), mittellang (z. B. Lidocain oder Prilocain) und lang wirksamen Substanzen (z. B. Bupivacain) unterschieden. ? Beschreiben Sie die Pharmakokinetik der Lokalanästhetika! Nach Injektion in das Zielgewebe werden die Lokalanästhetika zunächst auch in den Blutkreislauf aufgenommen. Diese Absorption der Substanzen hängt außer von den physikalisch-chemischen Eigenschaften und der Dosis der injizierten Substanz maßgeblich von der lokalen Durchblutung des Injektionsortes ab. Eine Injektion in ein gut durchblutetes Gebiet, wie z. B. den Interkostalbereich, kann daher rasch zu deutlich höheren Plasmakonzentrationen führen als eine Injektion in weniger gut vaskularisierte Gebiete. Die anschließende Distribution des Lokalanästhetikums wird i. Allg. als Zweikompartimentmodell beschrieben.
BH+
pH/pKa
B + H+
Na+ extrazellulär
B
B BH+
intrazellulär
H+ + B geschlossen
offen
Es kommt zunächst zu einer schnellen Phase der Aufnahme und des Erreichens eines Äquilibriums in stark durchbluteten Organen wie den Lungen, bevor dann die weniger gut perfundierten Gewebe in einer langsameren Phase der Äquilibrierung mit Lokalanästhetikum gesättigt werden. Bezüglich des Metabolismus unterscheiden sich die Ester- und die Amidlokalanästhetika deutlich voneinander. Die Ester werden mit Ausnahme des Kokains (hepatischer Abbau) bereits unmittelbar nach Aufnahme ins Blut durch die Plasmacholinesterase gespalten. Die entstehenden Metaboliten haben keine lokalanästhetische Wirkung mehr. Die während des Abbaus entstehende Paraaminobenzoesäure kann jedoch allergische Reaktionen auslösen. Die Amidlokalanästhetika werden in der Leber zunächst durch Monooxygenasen desalkyliert/hydroxyliert und anschließend durch die Carboxylesterase hydrolisiert. Die gebildeten Metaboliten werden renal eliminiert. Als Besonderheit soll erwähnt sein, dass bei der Hydrolyse von Prilocain der Metabolit o-Toluidin entsteht, der in höheren Konzentrationen und/oder bei verringerter Aktivität der Glukose-6-Phosphat-Dehydrogenase zur vermehrten Bildung von Methämoglobin führen kann. ? Welche Adjuvanzien kommen klinisch häufig zum Einsatz, und wie ist deren Wirkmechanismus? Adrenalin. Neben dem Einsatz als Indikator beispielsweise für die intravasale Lage eines epiduralen Katheters kommt Adrenalin auch mit dem Ziel der
pH/pKa
BH+ inaktiviert
Abb. 1 9 Schema des spannungsabhängigen Natriumkanals in den 3 verschiedenen Zuständen der Pore. B unprotonierte Form der Lokalanästhetikums, BH+ positiv geladene, protonierte Form des Lokalanästhetikums, Na+ Natriumionen
Verlängerung und/oder Intensivierung einer peripheren Nervenblockade zum Einsatz. Hierbei macht man sich die vasokonstriktorischen Eigenschaft der Substanz zunutze: Es kommt zu einer lokalen Vasokonstriktion, folglich zur verringerten Aufnahme des Lokalanästhetikums in den Kreislauf (ca. 20–50 %) und damit zu einer höheren Konzentration der Substanz am Ort der gewünschten Wirkung. Kontraindikationen für den Zusatz von Adrenalin beinhalten das Vorliegen kardiovaskulärer Risikofaktoren oder peripherer Durchblutungsstörungen insbesondere bei Eingriffen an den Akren und bestehen außerdem für Patientinnen im letzten Drittel einer Schwangerschaft. Natriumbikarbonat und Kohlenstoffdioxid. Diese Substanzen können zur Beschleunigung des Wirkeintritts angewendet werden. Hierbei wird die bereits beschriebene pH-Abhängigkeit des Verhältnisses der ionisierten zur nichtionisierten Form der Lokalanästhetika ausgenutzt. Durch die Erhöhung des extrazellulären pH- bzw. des pH-Werts der Lokalanästhetikalösung kommt es zu einer Verschiebung hin zum vermehrten Vorliegen der unprotonierten Form, die dann leichter in die Nervenmembran eindringen und dort wirken kann. Gleichzeitig verschiebt sich der intrazelluläre pH-Wert durch den Einstrom des Kohlenstoffdioxids (CO2), sodass das bereits hierhin vorgedrungene Lokalanästhetikum eher in der protonierten und damit intrazellulär wirksameren Form in entsprechend höherer Konzentration vorliegt.
α2-Agonisten. Die am häufigsten verwendeten Substanzen sind Clonidin und Dexmedetomidin. Beide verlängern die Dauer der Nervenblockade und die damit einhergehende Analgesie signifikant. Der genaue Wirkmechanismus ist jedoch noch unklar. Möglich ist eine lokale vasokonstriktorische Wirkung, die ähnlich wie beim Adrenalin für die Wirkverlängerung ursächlich sein könnte. Experimentelle Untersuchungen deuten zudem auf eine mögliche Rolle einer Verlängerung der Hyperpolarisation durch Interaktion der Substanzen mit Kationenkanälen hin. Gleichzeitig ist bekannt, dass auch durch Interaktion der Substanzen mit spinalen und supraspinalen Adrenorezeptoren eine Modulation des Schmerzempfindens erreicht wird. Opioide. Die Evidenz für den Zusatz von Opioiden bei peripheren Nervenblockaden ist eher gering, und die adjuvante Gabe wird daher auch nur äußerst selten praktiziert. Hingegen ist eine verbesserte Analgesie nach intrathekaler oder periduraler Verabreichung dieser Substanzen durch Interaktion mit den entsprechenden Opioidrezeptoren gut belegt. Es ist jedoch schwierig abzugrenzen, ob es sich bei den beobachteten Effekten um systemische oder lokale Phänomene handelt. In Deutschland sind grundsätzlich nur Morphin und Sufentanil zur neuroaxialen Anwendung zugelassen, wenngleich auch Fentanyl häufig verwendet wird. Hierbei handelt es sich aber formell um einen „off-label use“. Steroide. Die Gabe von Dexamethason kann die Wirkdauer einer peripheren Nervenblockade signifikant verlängern. Interessanterweise scheint es keinen Unterschied zu machen, ob die Substanz lokal oder systemisch verabreicht wurde. Der genaue Wirkmechanismus ist weiterhin unklar, da die beobachteten Effekte nicht durch die alleinige Reduktion der Prostaglandinsynthese o. Ä. zu erklären sind, zumal diese Steroideffekte erst deutlich später auftreten. Neueste Untersuchungen deuten jedoch darauf hin, dass Steroide die Aktivität von Schmerzafferenzen modulieren und somit analgetisch wirken könnten [3].
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Facharzt-Training ? Was sind die potenziellen Nebenwirkungen der Lokalanästhetika? Systemische Wirkungen. Bei akzidenteller intravasaler oder zu schneller Injektion kann es aufgrund der Hemmung der spannungsabhängigen Natriumkanäle v. a. im Zentralnervensystem und am Herzen zu potenziell lebensbedrohlichen Nebenwirkungen kommen. Vorboten einer möglichen toxischen Wirkung können Übelkeit, Schwindel, Unruhe oder auch ein periorales Kribbeln oder ein Taubheitsgefühl der Zunge sein. Hierauf kann es zu tonisch-klonischen Krampfanfällen, dem Verlust des Bewusstseins und einem Atemstillstand kommen. Die Hemmung der Reizweiterleitung inhibitorischer Nervenzellen ist v. a. als ursächlich anzunehmen. Eine respiratorische Azidose kann die toxischen Effekte durch eine Herabsetzung der Proteinbindung und eine zerebrale Vasodilatation noch weiterverstärken. Durch Hemmung der Natriumkanäle am Reizleitungssystem des Herzens entstehen eine negative Chronotropie und Dromotropie, was in einen Herzstillstand münden kann. Gleichzeitig wirken die Lokalanästhetika durch eine Reduktion des myokardialen Kalziumeinstroms direkt kardiodepressiv und negativ inotrop. Die zudem bestehende Vasodilatation verstärkt die negativen Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf-System zusätzlich. Direkte Neurotoxizität. Eine direkte toxische Wirkung auf neuronales Gewebe ist v. a. nach intrathekaler Gabe von Lidocain als sog. transitorisches neurologisches Syndrom („transient neurologic symptoms“, TNS) beschrieben worden. Die Symptomatik ist durch Hyperalgesie oder Dysästhesie im Gesäß und der unteren Extremität gekennzeichnet, jedoch ohne Nachweis einer motorischen Einschränkung. Das TNS ist ohne permanente neurologische Einschränkung innerhalb weniger Tage regredient. Symptomatisch können nichtsteroidale Antirheumatika verabreicht werden. Allergische Reaktionen. Allergische Reaktionen auf Lokalanästhetika treten auf-
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grund der während des enzymatischen Abbaus entstehenden Paraaminobenzoesäure häufiger bei den Esterpräparaten auf, sind aber insgesamt selten. Die in der Vergangenheit öfter beobachteten Unverträglichkeitsreaktionen waren zumeist auf den Zusatz von Konservierungsmitteln, wie z. B. Methylparaben oder Natriumdisulfit, zurückzuführen. ?
Wie gehen Sie im konkreten Fall weiter vor?
Der Patient im Fallbeispiel hat einen Kreislaufstillstand mit Kammerflimmern erlitten. Somit muss unabhängig von der Ursache unmittelbar mit erweiterten Maßnahmen zur Reanimation entsprechend der gültigen Leitlinien begonnen werden. Ursächlich kommt bei diesem Patienten am ehesten eine systemische Toxizität der Lokalanästhetika in Betracht. Die Leitlinien des European Resuscitation Council von 2015 geben für einen Kreislaufstillstand durch Lokalanästhetikaintoxikation den Hinweis, dass Patienten in dieser Situation trotz aktuell inadäquater Datenlage von der Gabe einer 20 %igen Lipidemulsion profitieren könnten [4]. Die neuesten Handlungsanweisungen der American Society of Regional Anesthesia (ASRA) und der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) empfehlen einen Bolus von 1,5 ml/kgKG (maximal 100 ml) einer 20 %igen Lipidemulsion über 2–3 min, gefolgt von einer kontinuierlichen Infusion mit 0,25 ml/ kgKG und min (ASRA) bzw. 0,1–0,5 ml/ kgKG und min (DGAI) [5, 6]. Der Bolus kann zudem wiederholt werden, maximal sollten jedoch nicht mehr als 12 ml/ kgKG verabreicht werden. Im Gegensatz zur europäischen Leitlinie empfiehlt die ASRA zudem die Reduktion der Adrenalindosis während der erweiterten Reanimationsmaßnahmen auf 5 Tage: Kontrolle Thrombozyten
Therapie
2–3 h
i.v. 4–6 h s.c. 8–12 h
1h
aPTT, ACT, Thrombozyten
Prophylaxe
4–6 h; $
12 h
4h
Bei Gabe >5 Tage: Kontrolle Thrombozyten
Therapie
Heparin, niedermolekular
–
24 h
4h
Thrombozyten, Anti-Xa-Spiegel
Fondaparinux (1-mal 2,5 mg/Tag)
15–20 h; $
36–42 h
6–12 h
Anti-Xa-Spiegel
Danaparoid (2-mal 750 I.E s.c./Tag)
22–24 h; $
48 h
3–4 h
Anti-Xa-Spiegel
Desirudin
120 min; $$
8–10 h
6h
aPTT, ECT
Bivalirudina
25 min; $$
4h
8h
ACT
Argatroban (Prophylaxe)c
35–45 min
4h
5–7 h
aPTT, ECT, ACT
1-mal 150–220 mg/Tag
14–17 h; $
28–34 h
6h
aPTT+, ECT, TT++
2-mal 150 mg/Tagd
14–17 h; $
56–85 h
6h
aPTT+, ECT, TT++
1-mal 10 mg/Tag
11–13 h; ($)
22–26 h
4–5,5 h
PT+, kalibrierte Anti-Xa-Spiegel
2-mal 15 mg/Tag 1-mal 20 mg/Tagd
11–13 h; ($)
44–65 h
4–5,5 h
PT+, kalibrierte Anti-Xa-Spiegel
2-mal 2,5 mg/Tag
10–15 h; ($)
26–30 h
5–7 h
PT+, kalibrierte Anti-Xa-Spiegel
2-mal 5 mg/Tag
10–15 h; ($)
40–75 h
5–7 h
PT+, kalibrierte Anti-Xa-Spiegel
1-mal 30 mg
10–14 h; $
20–28 h
6–7 h
Kalibrierte Anti-Xa-Spiegel
1-mal 60 mg
10–14 h; $
40–60 h
6–7 h
Kalibrierte Anti-Xa-Spiegel
Vitamin-K-Antagonisten
Tage
INR Th3 einher. Sie äußert sich durch Kribbelparästhesien der Hände, Atemnot (Hemmung der Interkostalmuskulatur) und einer kompletten Sympathikolyse. Mit Progredienz der Symptomatik sind Intubation, Beatmung und die Therapie des Herz-Kreislauf-Versagens nötig. Geht eine hohe SPA in eine totale SPA über, kommt es durch Minderperfusion der Medulla oblongata zum Atem- und zum Herz-KreislaufStillstand. Aufgrund der zentralen Para-
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sympathikolyse tritt eine Pupillendilatation auf. Bei der SPA kommt es mit einer Inzidenz von 0–4,8:10.000 [4] zu neurologischen Komplikationen. Sie basieren meist auf der Kompression des Rückenmarks oder der Cauda equina (Abszess/ Hämatom). Selten ist ein „tethered cord“ (Fixierung der Cauda equina durch eine Meningomyelozele oder Verwachsung) bedeutsam [5]. Im Rahmen des „tethered cord“ ist eine schmerzhafte intramedulläre Injektion möglich. ?
Wie sind die Mindestvoraussetzungen an die Blutgerinnung vor Anlage einer Spinalanästhesie?
Zur Vermeidung eines epiduralen/ spinalen Hämatoms mit möglicher Querschnittssymptomatik sollten folgende Werte eingehalten werden: QuickWert > 50 %, partielle Thromboplastinzeit (PTT) < 45 s und Thrombozyten > 80.000. ?
Kennen Sie die Richtlinien bzgl. des Absetzens der Antikoagulation vor Durchführung einer SPA?
Die Richtlinien sind in der S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) festgelegt (. Tab. 1, [6]).
?
Welche klinischen Zeichen sprechen für eine Intoxikation mit Lokalanästhestika? Die akute LA-Toxizität betrifft das zentrale Nervensystem und das kardiale Reizleitungssystem. Typische zerebrale Symptome sind: metallischer Geschmack, „Klingeln im Ohr“, periorales Kribbeln, Doppelbildersehen und Nystagmus. Bei zunehmender Intoxikation kommt es zu Verwirrtheit, Unruhe, Tremor, tonisch-klonischen Krampfanfällen und ggf. auch zum Koma. Kardiale Symptome sind brady- und tachykarde Herzrhythmusstörungen, QT-Verlängerungen, atrioventrikulärer (AV-)Block, Kammerflimmern oder Asystolie. Zudem wirken LA negativ-inotrop. ? Wie behandeln Sie eine Intoxikation mit Lokalanästhestika? Die Toxizität eines LA korreliert mit seinerLipophilie (Bupivacain > Ropivacain). Bei der SPA werden niedrige LA-Dosen (Bupivacain: Erwachsener: 0,1–0,2 mg/ kgKG, ehemaliges Frühchen < 5 kg: 1 mg/ kgKG) appliziert. Daher ist, verglichen mit der peripheren Regionalanästhesie, selbst bei akzidentiell intravasaler LA-Gabe die Gefahr der Intoxikation gering. Nichtsdestotrotz sollten dem Anwender von LA die notwendigen Maßnahmen zur Therapie der LA-Intoxikation vertraut sein. Grundsätzlich
erfordert die LA-Intoxikation eine multimodale Therapie. Zerebrale Krampfanfälle müssen mithilfe der Gabe von Lorazepam, Midazolam oder Thiopental durchbrochen werden. Bei kardialem Versagen muss eine leitliniengerechte Reanimation durchgeführt werden. Parallel müssen die Oxygenierung und der Atemweg gesichert werden sowie eine LipidRescueTM-Therapie (unklarer Mechanismus, aber keine intrathekale Wirkung) mit 20 %igem Intralipid, i.v. verabreicht, durchgeführt werden. Initial werden als Bolus 1,5 ml/kg/KG 20 %ige Intralipidlösung infundiert, danach werden kontinuierlich 0,25 ml/ kgKG und min appliziert. Der Bolus wird alle 3–5 min wiederholt. Maximal sollten 8 ml/kgKG gegeben werden. Bei protrahierter Reanimation muss der Anschluss an eine venoarterielle extrakorporale Membranoxygenierung (v.a.ECMO) erwogen werden. Schlüsselwörter. Spinalanästhesie · Lokalanästhestika · Indikation · Antikoagulation · Intoxikation
Korrespondenzadresse PD Dr. med. A. D. Rieg Klinik für Anästhesiologie, Universitätsklinikum der RWTH Aachen Pauwelsstr. 30, 52074 Aachen, Deutschland [email protected]
Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. A.D. Rieg gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor. The supplement containing this article is not sponsored by industry.
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K
Der Anaesthesist Facharzt-Training Anaesthesist 2019 · 68 (Suppl 2):S136–S139 https://doi.org/10.1007/s00101-019-0552-8 © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Redaktion A. Heller, Augsburg G. Breuer, Coburg
M. Schlipköter Universitätsklinikum Augsburg A.ö.R., Augsburg, Deutschland
63/m mit Pankreaskopftumor zur Whipple-Operation in kombinierter Allgemein- und Periduralanästhesie Vorbereitung auf die Facharztprüfung: Fall 13 Fallschilderung für den Prüfungskandidaten Bei einem 63-jährigen Patienten mit einem Pankreaskopftumor ohne Metastasierung soll eine Operation nach Whipple durchgeführt werden. An Vorerkrankungen sind bekannt: arterieller Hypertonus, koronare Herzerkrankung, Nikotinabusus, „chronic obstructive pulmonary disease“ (COPD) im GOLD(Global Initiative For Chronic Obstructive Lung Disease)-Stadium II, periphere arterielle Verschlusskrankheit (pAVK) und Adipositas mit einem Body-Mass-Index (BMI) von 32 kg/m2. Als Dauermedikation werden eingenommen: Bisoprolol, Ramipril HCT, Torasemid, Acetylsalicylsäure (ASS), Atorvastatin, Formoterolfumaratdihydrat, Ipratropiumbromid- und Salbutamolspray bei Bedarf. Präoperativ wurde eine Thromboembolieprophylaxe mit 40 mg Enoxaparin pro Tag seit 3 Tagen begonnen. Für den Patienten wird eine Allgemeinanästhesie in Kombination mit einer Periduralanästhesie (PDA) über einen Katheter vorgeschlagen.
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Thematik 4 Nutzen von neuroaxialem Verfahren
4 4 4 4
in Kombination mit Allgemeinanästhesie Risiken und Kontraindikationen bei neuroaxialem Verfahren Management präoperativ bestehender Medikation vor Anlage der PDA Vorgehen bei schwerwiegenden Komplikationen Voraussetzungen auf der peripheren Station für postoperative Schmerztherapie mithilfe der PDA
Prüfungsfragen 4 Bewerten Sie das neuroaxiale Verfahren 4 4 4 4 4
und die Kombination von Allgemein- und Periduralanästhesie. Was sind Kontraindikationen für eine Periduralanästhesie? Wie würden Sie die Medikation für den präoperativen und den Operationstag planen? Welche Risiken gibt es? Wie sollte bei schwerwiegenden Komplikationen gehandelt werden? Welche Medikamente werden bei der Periduralanästhesie genutzt? Welche Voraussetzungen müssen für die postoperative Schmerztherapie mithilfe der Periduralanästhesie auf der Normalstation etabliert sein?
D Antworten ? Bewerten Sie das neuroaxiale Verfahren und die Kombination von Allgemein- und Periduralanästhesie. In Abhängigkeit vom Operationsgebiet wird eine PDA bei ausgedehnteren Operationen in Kombination mit der Allgemeinanästhesie eingesetzt. Um die optimale Wirkung zu erzielen, sollte die Anlage der PDA in der Segmenthöhe erfolgen, dessen zugehöriges Dermatom sich im Zentrum des operativen Eingriffs befindet. In den meisten Fällen wird somit die PDA im thorakalen Bereich der Wirbelsäule platziert, bei besonderen Indikationen auch lumbal (Operationen im tiefen Becken/perineal, ausgedehnte Versorgung unterer Extremitäten, Perfusionsverbesserung, Geburtshilfe). Neben der Sympathikolyse kommt es intraoperativ zu einer Unterdrückung afferenter Reize und somit auch Dämpfung der adrenergen Antwort auf das chirurgische Trauma. So wird eine Reduktion der postchirurgischen Stressantwort bewirkt und nach großen Operationen resultieren die schnellere Normalisierung der gastrointestinalen Motilität, die bessere pulmonale Funktion, eine geringere Inzidenz kardiovaskulärer Komplikationen und eine raschere Mobilisierbarkeit. Die PDA wird für die Schmerztherapie intraund postoperativ kontinuierlich genutzt; die Verweilzeiten im Aufwachraum können verkürzt und postoperativ eine suffiziente Analgesie etabliert werden. In multiplen Studien konnte beim Gebrauch der PDA eine Verringerung der postoperativen Morbidität nachgewiesen werden, allerdings wurden auch diverse prospektive, kontrollierte und randomisierte Studien veröffentlicht, die keinen signifikanten Vorteil fanden. Zudem existieren Fallberichte, in denen Komplikationen beschrieben werden mit teils gravierenden Folgen. Deshalb werden zu Recht kontroverse Diskussionen über Nutzen und Risiko des Verfahrens geführt [1–3]. Gestützt durch Metaanalysen, Übersichtsarbeiten und retrospektive Analysen wurde in den letzten Jahren aber eine Senkung der Mortalität bei Anwendung der
thorakalen PDA postuliert [4, 5]; dies ist v. a. bei Patienten mit gravierenden Komorbiditäten sinnvoll. Nachdem zu Beginn der 2000er-Jahre im Zusammenhang mit der „enhanced recovery after surgery“ (ERAS) mit großer Euphorie der intra- und postoperative Nutzen der PDA postuliert wurde, würde heute eine einfache Hemikolektomie aufgrund der Nutzen-Risiko-Abwägung nicht mehr mithilfe einer PDA durchgeführt werden. Retrospektive Studien lassen einen positiven Effekt auf die Tumorrezidivrate bei intra- und postoperativem Einsatz von neuroaxialen Verfahren vermuten, valide Aussagen sind bisher jedoch ohne prospektive Studien nicht möglich. ?
Was sind Kontraindikationen für eine Periduralanästhesie?
Absolute Kontraindikationen für eine PDA sind die Ablehnung durch den Patienten, eine klinisch relevante Hämorrhagie oder therapeutische Antikoagulation, Allergie gegen Material oder Medikamente, erhöhter intrakranieller Druck (Gefahr der medullären Herniation bei Duraperforation), signifikante Aortenstenose, lokale Infektion der Punktionsstelle und unbehandelte Bakteriämie bzw. Sepsis. Relative Kontraindikationen mit individueller Nutzen-Risiko-Abschätzung für eine PDA sind akute oder bestehende neurologische Erkrankungen mit Ausfallsymptomen (diese müssen bei Durchführung der PDA genauestens dokumentiert sein, z. B. durch ein neurologisches Konsil), psychiatrische Erkrankungen, unkooperative und psycholabile Patienten, Herzvitium mit Rechtslinks-Shunt und pulmonaler Hypertonie, schwierige anatomische Gegebenheiten (z. B. M. Bechterew), Bakteriämie nach Beginn der Antibiotikatherapie und Immuninkompetenz.
?
Wie würden Sie die Medikation für den präoperativen und den Operationstag planen? Antihypertensive Medikation. Wegen einer Imbalance des autonomen Nervensystems durch eine PDA mit Überwiegen des Vagotonus bei Sympathikolyse kann es intraoperativ zu Hypotension und Bradykardie kommen, die bei hochthorakal wirkender PDA verstärkt sein kann. Bei intraoperativen Volumenveränderungen (z. B. höherem Blutverlust) sind somit Regulationsmechanismen nicht mehr gegeben; das Pausieren von antihypertensiver Medikation am Operationstag wird deshalb grundsätzlich empfohlen. Bei dem oben genannten Patienten, dessen arterielle Hypertonie mithilfe der Gaben mehrerer Antihypertensiva therapiert wird, sollte die Bisoprololgabe jedoch fortgesetzt werden, da die β1selektive Wirkung das Risiko für perioperative Myokardischämien durch Vermeidung einer Tachykardie bei koronarer Herzkrankheit reduziert. Angiotensinkonversionsenzym(ACE)-Hemmer und Angiotensinrezeptorantagonisten sollten wegen der langen Halbwertszeit (HWZ) dieser Medikamente ggf. schon am Tag vor dem Operationstag pausiert werden, da diese Substanzen die Senkung des totalen peripheren Widerstands bei Kombination von Allgemeinanästhesie und PDA drastisch verstärken können. Thromboembolieprophylaxe mit Acetylsalicylsäure und niedermolekularem Heparin. Bei Patienten mit antithrombotischer Therapie ohne Niereninsuffizienz wird ein Abstand von 2 HWZ der spezifischen Substanz von der letzten Gabe zur PDA-Anlage empfohlen. Unter gleichzeitiger Einnahme von Acetylsalicylsäure (ASS) sollten 4–5 HWZ pausiert werden; dies ist auch bei therapeutischer Dosierung zu beachten. Aktuell wird eine neuroaxiale Blockade unter ASS-Therapie nur bei prophylaktischer Applikation von niedermolekularem Heparin (NMH), unfraktioniertem Heparin (UFH) oder Fondaparinux mit entsprechenden Pausen als sicher angeDer Anaesthesist · Suppl 2 · 2019
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Facharzt-Training sehen. Alle übrigen Antikoagulanzien erfordern eine individuelle Nutzen-Risiko-Abschätzung. Unter Einhaltung der substanzabhängigen Pausen vor der Punktion und vor Manipulation scheint sich eine neuroaxiale Blutung seltener zu entwickeln. Im Fall der eingeschränkten Nierenfunktion kann es bei diversen Substanzen zu Kumulation und damit zu verlängerter Wirkung kommen; in diesem Fall sollten vor dem geplanten Prozedere spezifische Tests durchgeführt werden. Details und Besonderheiten bei zur Thromboembolieprophylaxe eingesetzten Substanzen müssen beachtet werden; dazu wird auf die S1-Leitlinie „Rückenmarksnahe Regionalanästhesien und Thromboembolieprophylaxe/ antithrombotische Medikation“ der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF, [6]) vom Juli 2014 verwiesen. Da die gleiche Inzidenz für neuroaxiale Hämatome bei epiduraler Punktion, Kathetermanipulation und das Entfernen des Katheters besteht, sollen die angegebenen Zeitintervalle für jede dieser Maßnahmen eingehalten werden. Medikation zur Therapie der „chronic obstructive pulmonary disease“ bzw. Prämedikation. Die Medikation zur Therapie der COPD sollte fortgesetzt werden. Die Verordnung von Sedativa zur Prämedikation bei COPD sollte zurückhaltend erfolgen bzw. im Fall von Hypoxämie und Hyperkapnie generell unterlassen werden. ? Welche Risiken gibt es? Wie sollte bei schwerwiegenden Komplikationen gehandelt werden? Als Nebenwirkungen des neuroaxialen Verfahrens können Hypotension (Sympathikolyse durch Wirkung der Lokalanästhetika [LA] an den sympathischen Ganglien des Grenzstrangs), Harnretention (Paralyse des sakralen Anteils des Parasympathikus), Pruritus (durch Einsatz von Opioiden) und Postpunktionskopfschmerz nach Duraverletzung („post-dural puncture headache“, PDPH)auftreten. Gefürchtete, schwerwiegende Komplikationen sind Infektionen wie epidurale Abszesse, Meningitis oder Enzephalitis, durch Medikamente verursachte
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oder direkte, punktionsbedingte neuronale Schäden und das Auftreten von rückenmarknahen Hämatomen. Das Risiko für das Auftreten von epiduralen Abszessen kann bisher nicht valide beurteilt werden, wird aber in neueren Studien mit 0,9: Mindestmaß an neuromuskulärer Erholung vor der Extubation. Cave: Eine klinische Beeinträchtigung der Muskelkraft ist dennoch nicht komplett ausgeschlossen
Double burst stimulation (DBS)
Post-tetanic count (PTC)
Abgabe von 2 kurzen tetanischen Salven → Abgabe von 2 stärkeren Muskelkontraktionen Tetanische Reizung (50 Hz für 5 s) und Nachweis der Anzahl der Einzelreizungen im Anschluss
führen, kann der Vergleich von PetCO2 und PaCO2 wichtig sein. Unter diesen pathologischen Bedingungen resultiert häufig ein Anstieg der PaCO2-PetCO2Differenz als Ausdruck der Zunahme des funktionellen Totraums. Auch die Anlage eines Kapnoperitoneums kann eine Zunahme des funktionellen Totraums bedingen und somit detektiert werden. Neben der Überwachung der Ventilation liefert der PetCO2 auch Informationen über die pulmonale Perfusion und das Herzzeitvolumen [3]. Ein plötzlicher Abfall des PetCO2 ohne ventilatorische Ursache kann eine drastische Verschlechterung der Herzleistung des kardial vorerkrankten Patienten widerspiegeln oder sollte an die Möglichkeit einer CO2-Embolie im Rahmen des Kapnoperitoneums denken lassen. Aber auch der Anstieg des endexspiratorischen Kohlenstoffdioxidpartialdrucks bei gleichbleibender Ventilation kann wertvolle Hinweise liefern. Eine zu flache Narkose mit vegetativer Entgleisung im Rahmen einer Awareness oder eine hypermetabolische Entgleisung, wie sie bei der malignen Hyperthermie anzutreffen ist, kann hierfür ursächlich sein.
Verbesserung der taktilen Beurteilung der Ermüdungsreaktion, falls kein quantitatives Messverfahren verfügbar ist
Nutzen einer posttetanischen Potenzierung Beurteilung einer sehr tiefen Blockade, wenn kein TOF nachweisbar ist
? Was versteht man unter dem Begriff des neuromuskulären Monitorings? Grundsätzlich erfolgt durch ein neuromuskuläres Monitoring eine Überwachung des Ausmaßes einer neuromuskulären Blockade. Dies kann notwendig sein, um einen ausreichenden Relaxierungsgrad für die endotracheale Intubation oder für verbesserte intraoperative Bedingungen nachzuweisen. Auch der sichere Ausschluss einer noch bestehenden neuromuskulären Restblockade vor Extubation oder der intraoperativen Durchführung eines Neuromonitorings ist eine wichtige Indikation. Ein Beispiel stellt das Neuromonitoring des N. laryngeus recurrens in der Schilddrüsenchirurgie dar. Der Vollständigkeit halber soll ebenfalls auf die intraoperative Überwachung der muskulären Reserve bei Erkrankungsbildern wie der Myasthenia gravis hingewiesen werden. ?
Beschreiben Sie kurz die Funktionsweise einer Relaxometrie und wie sich qualitative von quantitativen neuromuskulären Messverfahren unterscheiden!
Bei der Relaxometrie erfolgen die Stimulation eines peripheren Nervs und die Registrierung der Reizantwort an dem entsprechenden Kennmuskel. Sehr häufig werden die Elektroden über dem N. ul-
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naris platziert, und dieser wird durch spezielle Reizmuster supramaximal erregt. Die muskuläre Antwort wird über dem M. adductor pollicis abgeleitet. Alternativ kann der N. facialis stimuliert und die Reizantwort über dem M. orbicularis oculi registriert werden. Die in . Tab. 1 aufgeführten Stimulationsmodi sind klinisch relevant. Von einer qualitativen Beurteilung der neuromuskulären Blockade wird gesprochen, wenn der Untersucher selbst eine subjektive Einschätzung der neuromuskulären Blockade vornimmt. Dies kann mithilfe klinischer Tests geschehen, bei denen der Patient aufgefordert wird, den Kopf länger als 5 s von der Unterlage anzuheben oder kräftig auf einen Zungenspatel zu beißen. Auch die visuelle oder taktile Beurteilung der Ermüdungsreaktion („fading“) bei der Train-of-four(TOF)-Stimulation zählt zu den qualitativen Messverfahren. Viele Untersuchungen haben gezeigt, dass Menschen durch ihre Sinne maximal ein Fading bis zu einer TOF-Ratio von 0,4 wahrnehmen können [4]. Im Rahmen der quantitativen Beurteilung wird mithilfe spezieller technischer Verfahren das Ausmaß der Blockade objektiviert, indem die motorische Reizantwort des Kennmuskels auf elektische Stimuation gemessen wird [4]. Nur ein quantitatives Messverfahren kann eine ausreichende neuromuskuläre Erholung (TOF-Ratio >0,9) vor einer Extubation nachweisen. Ein häufig angewendetes quantitatives Testverfahren ist die Akzeleromyographie. ? Bewerten Sie die Notwendigkeit einer Überwachung der neuromuskulären Blockade! Eine noch bestehende Restblockade nach der Extubation führt zu einer deutlichen Zunahme der perioperativen Morbidität und Mortalität durch pulmonale Komplikationen. Häufig sind die Pharmakokinetik und die pharmakodynamischen Auswirkungen der Muskelrelaxanzien einer hohen Varianz unterworfen. Multimorbide Patienten zeigen durch eine protrahierte Wirkdauer bei verminderter Clearance ein besonderes Risikoprofil. Genetische Komponenten, wie das Vorliegen
Tab. 2 Korrelation zwischen BispektralIndex und Bewusstseinszustand [6] Bispektral- Narkosetiefe Index 100
Wachheit, normale Reaktion auf Ansprache
80
Leichte/mittlere Sedierung
60
Vollnarkose
40
Tiefe Hypnose
20
„Burst suppression“
0
Isoelektrisches EEG
EEG Elektroenzephalogramm
atypischer Plasmacholinesterasen beim Einsatz von Succinylcholin oder Mivacurium, können ebenfalls für sonst gesunde Patienten eine deutliche Bedrohung darstellen. Um im Sinne der Patientensicherheit eine bestehende Restblockade sicher identifizieren zu können, sollte ein quantitatives neuromuskuläres Monitoring immer erfolgen, wenn Muskelrelaxanzien verabreicht werden. Vor der Extubation sollte der Nachweis einer TOF-Ratio >0,9 gelingen, oder es sollten die entsprechenden therapeutischen Schritte eingeleitet werden, um diese bei noch bestehender Restblockade zu erreichen. Diese Notwendigkeit wird durch die Empfehlungen der Fachgesellschaften für die Mindestanforderung an den anästhesiologischen Arbeitsplatz unterstrichen. Die Verfügbarkeit eines Relaxometers wird als essenziell eingeordnet, wann immer Muskelrelaxanzien eingesetzt werden. Dieser Sicherheitsanspruch an die Patientenversorgung steht allerdings noch zu oft im Gegensatz zu der ungenügenden Verwendung eines neuromuskulären Monitorings im klinischen Alltag. ? Kennen Sie ein technisches Verfahren, um die Narkosetiefe zu überwachen? Ein weit verbreitetes Verfahren, um die Narkosetiefe zu überwachen, ist das Monitoring des aus dem EEG abgeleiteten sog. Bispektral-Index. Über frontal platzierte Gelelektroden wird die elektrische Aktivität des Gehirns in Form von Spannungsschwankungen registriert. Die einzelnen Spannungsschwankungen besitzen eine spezifische Amplitude und auch Frequenz. Im Wachheitszustand
findet sich z. B. ein hoher Anteil an hochfrequenten Schwankungen mit kleiner Amplitude. Mit Hilfe der „fast Fourier transformation“ werden die komplexen Aufzeichnungen in die einzelnen Frequenzkomponenten differenziert und der relative Anteil und zeitliche Verlauf sichtbar gemacht [5]. Über einen speziellen Algorithmus wurden die spezifischen EEG-Veränderungen mit den Messwerten vieler Testpersonen korreliert. Hierdurch wurde die „bispectral index scale“ (BIS) entwickelt, die einen numerischen Wert zwischen 100 (wacher Patient) und 0 (isoelektrisches EEG) darstellt ([6]; . Tab. 2). Wichtig ist, dass es bei der Ableitung der elektrischen Hirnaktivität zu Interferenzendurchdie Aufzeichnung vonMuskelpotenzialen (EMG) oder auch durch technische Störquellen (Elektrokauter bei derOperation)kommenkann. Diese Einschränkungen gilt es bei der Beurteilung des Bispektral-Index zu berücksichtigen. ? Warum würden Sie für den oben genannten Patienten ein Bispektral-Index-Monitoring einsetzen? Der Patient besitzt ein deutlich erhöhtes Risiko für eine intraoperative Awareness. Neben dem notwendigen Einsatz von Muskelrelaxanzien erhöht die eingeschränkte kardiale Funktion des Patienten das Risiko einer Awareness. Vegetative Reaktionen als Zeichen einer zu flachen Narkose können deutlich abgeschwächt sein, und die eingeschränkte Pumpfunktion kann dazu führen, dass Narkotika zu vorsichtig dosiert werden [7]. Aufgrund der Awareness-Anamnese sollten alle Maßnahmen und Vorkehrungen getroffen werden, um das erneute Auftreten zu verhindern.
Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. R. Weichsel gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor. The supplement containing this article is not sponsored by industry.
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Schlüsselwörter. Hämodynamik · Kapnometrie · Blutgas-Monitoring · Neuromuskuläre Blockade · Bispektraler Index
Korrespondenzadresse R. Weichsel Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin, REGIOMED Klinikum Coburg Ketschendorferstr. 33, 96450 Coburg, Deutschland [email protected]
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Der Anaesthesist Facharzt-Training P. Deetjen
Anaesthesist 2019 · 68 (Suppl 2):S154–S157 https://doi.org/10.1007/s00101-019-0542-x
Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin, Medizinische Fakultät, Universität Augsburg, Augsburg, Deutschland
© Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019
72/m mit bekannter COPD und Laktatazidose
Redaktion A. Heller, Augsburg G. Breuer, Coburg
Vorbereitung auf die Facharztprüfung: Fall 17 Fallschilderung für den Prüfungskandidaten Ein 72-jähriger Patient mit bekannter chronisch obstruktiver Lungenerkrankung („chronic obstructive pulmonary disease“, COPD) und Vorhofflimmern stürzt beim Schneeschippen vor seinem Haus. Die Tochter findet ihn und alarmiert den Rettungsdienst. Im Rettungswagen wird eine Körperkerntemperatur des Patienten von 34 °C gemessen. Im Krankenhaus wird eine komplexe Femurfraktur festgestellt, die sofort operiert werden muss. Nach Narkoseeinleitung wird eine erste arterielle Blutprobe zur Blutgasanalyse abgenommen (BGA, . Tab. 1). Da der Patient unter Therapie mit einem direkten oralen Antikoagulans steht, kommt es im Verlauf der Operation zum erhöhten Blutverlust. Vorübergehend benötigt der Patient
Noradrenalin. Eine zweite BGA-Probe (. Tab. 1) wird aus einem inzwischen angelegten zentralen Venenkatheter abgenommen. Nach Gabe von Blut- und Gerinnungsprodukten gelingt es dem Chirurgen und dem Anästhesisten, die Blutung zu kontrollieren, und der Patient kann nahezu katecholaminfrei auf die Intensivstation verlegt werden.
4 Anwendung der Anionenlücke
Thematik
4
4 4 4
zum Unterscheiden von Ursachen metabolischer Störungen Entstehung und Bedeutung einer Laktatazidose Anwendung von α-stat- und pH-statVerfahren bei Hypothermie zentralvenöse Sauerstoffsättigung (SzvO2) als wichtigen Parameter im Schock Problematik der Pufferung von Laktatazidosen mit Natriumbikarbonat
4 Interpretation von Störungen im
Säure-Basen-Haushalt 4 Unterschiede zwischen primären
Störungen im Säure-Basen-Haushalt und sekundären Kompensationsmechanismen 4 Theoretischen Ansätze zur Interpretation von Störungen im SäureBasen-Haushalt
Prüfungsfragen Tab. 1 zuvor
Blutgasanalysen (BGA) nach Narkoseeinleitung, während der Operation und einige Tage
Parameter
Arterielle BGA-Probe nach Narkoseeinleitung
Zentralvenöse BGA-Probe während der Blutung
Arterielle BGA-Probe in der Praxis, ein paar Tage zuvor
7,50
7,29
7,37
38
43
55
HCO3 (mmol/l)
28,8
20,1
30,9
SBE (mmol/l)
+5,4
–6,5
+5,4
Na (mmol/l)
138
140
–
Cl– (mmol/l)
97
98
–
Lactat– (mmol/l)
0,5
10
–
AG (Na – Cl– – HCO3–) (mmol/l)
138 – 97 – 29 = 12
140 – 98 – 20 = 22
–
SzvO2
–
55
–
pH pCO2 (mm Hg) –
+
AG Anionenlücke („anion gap“), Cl– Chloridionen, HCO3– Bikarbonat, Na+ Natriumionen, pCO2 Kohlenstoffdioxidpartialdruck, SBE „standard base excess“, SzvO2 zentralvenöse Sättigung
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Der Anaesthesist · Suppl 2 · 2019
4 Wie kann man den alkalischen pH-Wert in der ersten Blutgasanalyse (. Tab. 1,
Spalte 2) erklären?
4 Welche Ansätze gibt es zur Interpretation 4 4 4
4 4
des Säure-Basen-Haushalts, und welche Rolle spielt hier der „base excess“? Welche Bedeutung haben die erhöhten Lactatwerte in der zweiten Blutgasanalyse (. Tab. 1, Spalte 3)? Welche Störungen können ebenfalls eine metabolische Acidose hervorrufen, und wie kann die Anionenlücke helfen? Was muss man bei Messungen des pH-Werts und des Kohlenstoffdioxidpartialdrucks an Patienten mit erniedrigten Temperaturen beachten? Welche Faktoren beeinflussen die zentralvenöse Sauerstoffsättigung? Ist die Gabe von Natriumbikarbonat bei Laktatazidosen sinnvoll?
D Antworten ? Wie kann man den alkalischen pH-Wert in der ersten Blutgasanalyse (. Tab. 1, Spalte 2) erklären? Bei der Diagnostik von pathologischen Veränderungen im Säure-Basen-Haushalt lassen sich 4 verschiedene primäre Störungen unterscheiden. Acidose und Alkalose können sowohl metabolisch als auch respiratorisch als primäre Störung entstehen (. Tab. 2). Die respiratorischen Störungen lassen sich noch in chronische und akute Veränderungen unterteilen. Jede primäre Störung ruft sekundäre, im Organismus angelegte Kompensationsmechanismen hervor, die entweder durch die Puffereigenschaften des Blutes bedingt sind oder durch aktive Maßnahmen des Körpers im Bereich der Atmung oder durch die Niere entstehen. Gelegentlich sind diese primären Störungen mit ihren Kompensationsantworten nicht auf den ersten Blick zu erkennen, da zusätzliche, sich überlagernde Störungen im SäureBasen-Haushalt vorliegen. Im vorliegenden Fall hat der Patient eine bekannte COPD, die meist mit einer chronischen Hyperkapnie einhergeht. Auf diese chronische respiratorische Acidose reagiert der Körper oder in diesem Fall die Nieren mit einem kompensatorischen Anstieg der Bikarbonat(HCO3–)-Konzentration, was sich auch im positiven Wert des „standard base excess“ (SBE) widerspiegelt. Wenn unter Beatmung nach Narkosebeginn der Kohlenstoffdioxidpartialdruck (pCO2) akut gesenkt wird, bleibt die metabolische Komponente
erhalten, da die Nieren nur langsam, innerhalb von einigen Tagen auf den neuen pCO2-Wert reagieren können. ?
Welche Ansätze gibt es zur Interpretation des Säure-BasenHaushalts, und welche Rolle spielt hier der „base excess“?
Heutzutage gibt es im Wesentlichen 3 verschiedene Ansätze zur Interpretation von Störungen im Säure-Basen-Haushalt [1]. Der sog. physiologische, in Boston entwickelte Ansatz [2] betrachtet in erster Linie die 3 Größen der HendersonHasselbalch-Gleichung pH, pCO2 und HCO3– (. Abb. 1) und definiert hiermit die primäre Störung. Lungen und Nieren reagieren auf vorhersehbare Weise mit sekundären Veränderungen, die sich in zusätzlichen Änderungen von pCO2 und HCO3– äußern und in einem an Probanden empirisch erfassten Kompensationsregelwerk beschrieben werden können (. Tab. 2). Der Stewart-Ansatz befasst sich weniger mit Kompensationsvorgängen, sondern versucht, konzeptionell abweichend von den beiden anderen Ansätzen die Ursachen einer Störung als Veränderungen von pCO2, starken Ionen und schwachen Säuren wie Albumin zu interpretieren [1]. Die dritte Methode ist der in Kopenhagen entwickelte Base-excess-Ansatz [3]. Der SBE wird von den meisten BGA-Geräten automatisch berechnet und scheint im Vergleich zu anderen Base-excess-Formen die In-vivo-Situation besser widerzuspiegeln. Er erfasst die metabolische Kom-
Tab. 2 Primäre Störungen im Säure-Basen-Haushalt und ihre sekundären Kompensationsantwortena Primäre Störung
Sekundäre Kompensationsantwort von . . . pCO2 und SBE
pCO2 und HCO3–
Akute respiratorische Acidose
SBE = 0
Δ[HCO3–] = 0,1 ⋅ ΔpCO2
Akute respiratorische Alkalose
SBE = 0
Δ[HCO3–] = 0,2 ⋅ ΔpCO2
Chronische respiratorische Acidose
SBE = 0,4 ⋅ (pCO2 – 40)
Δ[HCO3–] = 0,45 ⋅ ΔpCO2
Chronische respiratorische Alkalose
SBE = 0,4 ⋅ (pCO2 – 40)
Δ[HCO3–] = 0,45 ⋅ ΔpCO2
Metabolische Acidose
ΔpCO2 = SBE
pCO2 = 1,5 ⋅ [HCO3–] + 8
Metabolische Alkalose
ΔpCO2 = 0,6 ⋅ SBE
pCO2= HCO3– + 15 mm Hg
–
HCO3 Bikarbonat, pCO2 Kohlenstoffdioxidpartialdruck, SBE „standard base excess“ a Dargestellt in Bezug auf den „standard base excess“ (SBE, mittlere Spalte) und in Bezug auf HCO3– (rechte Spalte)
ponente einer Störung unabhängig vom pCO2. Alleinige Änderungen des pCO2 führen aufgrund der Zusammensetzung des Blutes auch zu kleinen Änderungen des HCO3–. Diese Änderungen werden im SBE „herausgerechnet“, sodass nur die metabolisch bedingten Veränderungen des HCO3– eingehen. Die Kompensationsregeln des physiologischen Ansatzes lassen sich auch mit dem SBE nachvollziehen (. Tab. 2). Im Fall des Beispielpatienten wäre es denkbar, dass vor seinem Unfall und seiner Operation eine BGA in der pneumologischen Praxis, in der er wegen seiner COPD in Behandlung ist, abgenommen wurde (. Tab. 1, Spalte 4). Hier zeigt sich die chronische Hyperkapnie mit einem pCO2-Wert von beispielsweise 55 mm Hg – adäquat metabolisch durch die Nieren kompensiert, wie man an dem SBE-Wert von 5,4 mmol/l erkennen kann (SBE = 0,4 ⋅ (pCO2 – 40) = 0,4 ⋅ 15 = 6). Neben der Differenzierung von Säure-Basen-Störungen hat der Base excess auch eine prognostische Bedeutung. Insbesondere im Bereich der akuten Traumaversorgung scheint die Höhe des Base excess mit der Schwere der Erkrankung und den Folgen zu korrelieren [3]. ? Welche Bedeutung haben die erhöhten Lactatwerte in der zweiten Blutgasanalyse (. Tab. 1, Spalte 3)? Der Patient entwickelt im Lauf der Operation erhöhte Lactatwerte. Die Auswirkungen auf den pH-Wert sind allerdings nicht so gravierend, wie man es vielleicht bei einem Lactatwert von 10 mmol/l erwarten würde. Dies lässt sich durch die gleichzeitig noch vorbestehende alkalische Komponente, die im Rahmen der Kompensation der COPD entstanden ist, erklären. Ein Beispiel dafür, dass bei der Interpretation des Säure-Basen-Haushalts häufig der Verlauf oder die Anamnese weiterhilft, um auch komplexere, sich überlagernde Störungen zu verstehen. Der Anstieg des Lactatwerts lässt sich durch den intraoperativ entstandenen hämorrhagischen Schock erklären. Lactat– ist ein MoleDer Anaesthesist · Suppl 2 · 2019
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Abb. 1 8 Henderson-Hasselbalch-Formel, die die Beziehung zwischen pH, Kohlenstoffdioxidpartialdruck (pCO2) und Bikarbonat (HCO3–) beschreibt
Abb. 2 8 Zentralvenöse Sauerstoffsättigung (SzvO2), die von der Funktion der Lungen (arterielle Sauerstoffsättigung, SaO2), vom Metabolismus mit entsprechendem Sauerstoffverbrauch (VO2), von der hämodynamischen Situation mit entsprechendem Herzzeitvolumen (HZV) und von der Kapazität des Sauerstoffträgers (Hämoglobin, Hb) abhängt. (Gattinoni et al. [6])
kül, das nicht nur als Marker für die Gewebehypoxie herangezogen werden kann, sondern auch im Rahmen einer aeroben Glykolyse als Stressantwort auf ein Schockgeschehen vermehrt gebildet werden kann [4]. Lactat– ist das Anion der Milchsäure. Die Anwesenheit dieser Säure führt zu einer metabolischen Acidose. Greift man auf den StewartAnsatz als Erklärung zurück, so nimmt Lactat– als starke Säure im Säure-BasenHaushalt den Platz eines starken Ions ein. Erhöhte Lactatwerte im Schock sind mit einer erhöhten Letalität assoziiert.
als die Veränderung des HCO3–-Werts oder des SBE [2], wie man es bei dem Beispielpatienten sieht, der eine AG-Abweichung um 10 mmol/l, ausgehend von einem abgeschätzten Normalwert von 12 mmol/l (22 – 12 = 10), und gleichzeitig einen SBE von nur –6,5 mmol/l aufweist (. Tab. 1), ist dies ein Hinweis auf die zusätzlich vorliegende metabolische Alkalose. In diesem Fall könnte es sich, wie in der vorhergehenden Frage schon angedeutet, um die vorbestehende metabolische Kompensation der chronischen Hyperkapnie handeln.
? Welche Störungen können ebenfalls eine metabolische Acidose hervorrufen, und wie kann die Anionenlücke helfen?
?
Um der Ursache einer metabolischen Acidose auf den Grund zu gehen, kann man das Hilfsmittel der Anionenlücke („anion gap“ [AG]; Na+ – Cl– – HCO3–) verwenden. Eine vergrößerte AG mit einem Wert von deutlich mehr als 12 mmol/l ist ein indirekter Hinweis auf pathologische Säuren, die als Anionen im Plasma vorliegen, wodurch die HCO3–-Konzentration vermindert wird [2]. Beispiele für eine metabolische Acidose mit vergrößerter AG sind Laktatazidose, bei der man das Anion Lactat– natürlich bestimmen kann, Ketoacidose, ein Zellzerfall bei Rhabdomyolyse, Acidose im fortgeschrittenen Nierenversagen sowie Medikamenten- und Alkoholintoxikationen. Bei einer Acidose mit nichtvergrößerter AG ist meist die Chloridkonzentration erhöht und dafür der HCO3–-Wert vermindert. Ursachen können gastrointestinale Verluste von HCO3– sein, iatrogene Zufuhr von kochsalzhaltigen Lösungen oder als selteneres Beispiel Störungen der renalen Säureexkretion wie renale tubuläre Acidosen. Ist die Veränderung der AG deutlich größer
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Was muss man bei Messungen des pH-Werts und des Kohlenstoffdioxidpartialdrucks an Patienten mit erniedrigten Temperaturen beachten?
Unter Hypothermie ergeben sich Veränderungen im Säure-Basen-Haushalt, die bei der Rettung und der Therapie schwer unterkühlter Patienten, aber auch bei Patienten mit therapeutisch induzierter Hypothermie oder bei Patienten im hypothermen Kreislaufstillstand in der Aortenbogenchirurgie eine Rolle spielen können. Die Löslichkeit von Gasen wie CO2 nimmt in der Hypothermie zu. Bei gleichbleibendem CO2-Gehalt im Blut bedeutet dies, dass der pCO2 abfällt und der pH-Wert ansteigt. Zur Steuerung des pCO2 unter Hypothermie existieren 2 verschiedene Messstrategien. Beim α-stat-Verfahren werden pH und pCO2 bei 37 °C gemessen und nicht auf die aktuelle Körpertemperatur des Patienten korrigiert. Der Patient, bei dem im BGA-Gerät ein auf 37 °C korrigierter pH-Wert von 7,4 und ein pCO2-Wert von 40 mm Hg gemessen sowie dessen Beatmung entsprechend eingestellt wird, hat tatsächlich bei einer Körpertemperatur von beispielsweise 34 °C einen pHWert von 7,44 und einen pCO2-Wert von
34,6 mm Hg. Das pH-stat-Verfahren orientiert sich im Gegensatz dazu an den auf die aktuelle Körpertemperatur korrigierten Werten, was zur Folge haben kann, dass der Patient über die temperaturbedingte Stoffwechselreduktion hinaus hypoventiliert werden müsste. Heutzutage wird meist das α-stat-Verfahren angewendet. Ein eindeutiger Vorteil hinsichtlich des neurologischen Outcome oder der Letalität ist für keines der beiden Verfahren belegt [5]. Der Patient im Beispiel hat nur eine milde Hypothermie und atmet spontan. Hauptziel ist hier natürlich die Wiedererwärmung. Korrekturen in der pH-Steuerung spielen in der Situation des Patienten, auch wenn man sie grundsätzlich für notwendig erachten würde, eher keine Rolle. ? Welche Faktoren beeinflussen die zentralvenöse Sauerstoffsättigung? Die SzvO2 ist ein einfach zu bestimmender Parameter, der Auskunft über die Sauerstoffausschöpfung des Organismus gibt. Dargestellt als Formel (. Abb. 2) erkennt man, dass die SzvO2 Einblick in die respiratorische, metabolische und hämodynamische Situation des Patienten gewährt [6]. Ein Abfall des SzvO2-Werts kann durch eine Hypoxie (arterielle Sauerstoffsättigung, SaO2), verstärkten Sauerstoffverbrauch (VO2), Anämie (Hämoglobin, Hb) oder einen Abfall des Herzzeitvolumens (HZV) hervorgerufen werden. Auch wenn die SzvO2 nicht differenziert, welcher Parameter ursächlich ist, ist sie dennoch ein sensibler Wert im Erfassen von akuten Veränderungen. Die SzvO2 ist unter physiologischen Bedingungen etwas niedriger als die gemischtvenöse Sauerstoffsättigung, scheint aber ein adäquater Ersatz zu sein. Bei dem Patienten des Beispiels fällt die SzvO2 im hämorrhagischen Schock mit kompromittier-
tem HZV und sinkenden Hb-Werten ab (. Tab. 2) und ist somit zusammen mit der steigenden Lactatkonzentration ein guter Indikator für eine manifeste Minderperfusion. ? Ist die Gabe von Natriumbikarbonat bei Laktatazidosen sinnvoll? BeischwerenmetabolischenAcidosenim Rahmen von Schockzuständen mit einem pH-Wert 20. SSW, Blutdruckwerte >140/90 mm Hg ohne Proteinurie), 4 Präeklampsie (Gestationshypertonie und Proteinurie [≥300 mg/24 h im Sammelurin oder >30 mg/mmol Protein-Kreatinin-Ratio im Spontanurin], die nach der abgeschlossenen 20. SSW aufgetreten sind), 4 Eklampsie (tonisch-klonische Krampfanfälle während der Schwangerschaft, auch ohne begleitende Hypertonie oder Proteinurie), 4 HELLP-Syndrom („haemolysis“ [Hämolyse], „elevated liver enzyme levels“ [Leberenzymerhöhung], „low platelet count“ [Thrombozytopenie 20. SSW). Erkrankungen, die den Uterus betreffen, sind eine Zervixinsuffizienz (schmerzfreie Erweichung und Verkürzung des Gebärmutterhalses) oder eine partielle oder vollständige Ablösung der Plazenta (plötzlich einsetzende starke uterine Schmerzen) mit den Gefahren eines Spätaborts oder einer Frühgeburt [2, 7, S. 231]. ? Welche analgetischen Verfahren zur Spontangeburt kennen Sie? Was ist der Goldstandard? Es gibt sowohl neuroaxiale Verfahren als auch nichtneuroaxiale Verfahren. Zu den neuroaxialen Verfahren gehören die PDA oder die kombinierte Spinal- und Epiduralanalgesie („combined spinal and epidural anesthesia“, CSE). Goldstandard zur Erleichterung des Wehenschmerzes ist die PDA. Die Punktion (z. B. mittels Tuohy-Nadel) erfolgt unterhalb von L2. Die Widerstandverlustmethode mit 0,9 %iger NaCl-Lösung ist der Methode des hängenden Tropfens überDer Anaesthesist · Suppl 2 · 2019
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Facharzt-Training Tab. 1
Intravasale Fehllage; LA-Intoxikation
Unruhe, Metallgeschmack, periorales Taubheitsgefühl, Arrhythmien, Bradykardien, Herz-Kreislauf-Stillstand
Stopp der LA-Zufuhr, Reanimationsmaßnahmen, Lipid-Rescue-Therapie
Motorische Blockade
–
Bettruhe, Abklingen abwarten, engmaschig kontrollieren
Intrathekale Fehllage (PDA) hohe Spinalanästhesie
Apnoe, Hypotension und Apnoe mit Hypoxie
Reanimation, Oxygenierung und Intubation, Kreislaufstabilisierung
Duraperforation
Postpunktioneller Kopfschmerz
Flüssigkeit, Coffein, NSAID, Paracatamol, epiduraler Blutpatch (nicht zu spät empfehlen!)
Fetale Bradykardien
CTG
Atropin; Ephedrin
nach Entfernen der Spinalnadel über die Tuohy-Nadel eingebracht. Vorteile einer CSE sind die fehlende motorische Blockade bei der Applikation einer reinen intrathekalen Opioidanalgesie (z. B. 7,5 μg Sufentanil) und das Fehlen einer bei der PDA oft beschriebenen Wehenpause. Nebenwirkungen bei Applikation von Opioiden sind oftmals ein Pruritus sowie eine temporäre fetale Bradykardie. Bei Vorliegen von Kontraindikationen für ein neuroaxiales Verfahren oder bei Problemen, ein solches anzulegen, existiert die Möglichkeit, ein nichtneuroaxiales Verfahren anzuwenden. Hier stehen die systemisch verabreichten Opioide zur Verfügung (Fentanyl, Pethidin, Meptazinol), die „patient controlled intravenous analgesia“ mit Remifentanil (RemifentanilPCIA) oder inhalative Verfahren wie z. B. Lachgas (z. B. in einer fixen Kombination mit Luft). Im geburtshilflichen Kontext ist v. a. Remifentanil zu nennen, das einen raschen Wirkeintritt zeigt; die kurze Wirkdauer und die kindlicherseits rasche Clearance zum inaktiven Metaboliten machen es attraktiv [10].
Abszess, Hämatom
Blasen- und Mastdarmstörungen, motorische und sensible Defizite der unteren Extremität
Entlastung ohne Zeitverzug (innerhalb von 6 h)
?
Neuroaxiale Verfahren
Diverse Lokalanästhetika, Opioid über PDK/CSE
Nebenwirkung/ Risiken
Symptome
Therapie
Maternale Hypotension
Blutdruckabfall, Schwindel
Volumenzufuhr, Linksseitenlage wegen Vena-Cava-Kompressionssyndrom, Vasopressor (z. B. fraktionierte Gabe von Akrinor 0,5 ml-weise, eine 2-ml-Amp. enthält 200 mg Cafedrinhydrochlorid und 10 mg Theodrenalinhydrochlorid) oder Phenylephrin 100 μg
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Tab. 2
Nicht-neuroaxiale Verfahren Nebenwirkung/ Risiken
Symptome
Therapie
Opioide systemisch
Hypoxie des Neugeborenen
Dyspnoe, Zyanose
Oxygenierung der Patientin bzw. des Neugeborenen, Naloxon
Maternale Bradypnoe/Apnoe
Bewusstlosigkeit, Apnoe
Zufuhr unterbrechen, taktile Stimulation, Naloxon
Übelkeit, Erbrechen, Sedierung, Hypoxie
Übelkeit, Erbrechen, Dyspnoe, Zyanose
Antiemetische Therapie, Oxygenierung
legen. Nach Gabe einer Testdosis wird die Wirkdosis appliziert oder diese primär fraktioniert verabreicht, sofern die erste Bolusdosis einer Testdosis entspricht (empfohlen von der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin [DGAI] und Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe [DGGG] ist die fraktionierte Applikation einer Kombination eines niedrigdosierten Lokalanästhetikums und Opio-
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Nebenwirkungen, deren Symptome und Therapien sind in . Tab. 1 und 2 zusammengefasst.
Substanz
Lachgas
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Welche Nebenwirkungen und Komplikationen kennen Sie zu den genannten Verfahren?
ids, z. B. 8 ml 0,2 %iges Ropivacain und 10 μg [2 ml] Sufentanil). Bei der CSE wird nach Punktion des Epiduralraums die Spinalnadel durch die Tuohy-Nadel vorgeschoben. Bei sichtbarem Liquor wird ein Opioid (z. B. 7,5 μg Sufentanil), eine Kombination eines Opioids mit einem Lokalanästhetikum oder nur eine geringe Menge eines Lokalanästhetikums (z. B. 1 ml 0,25 %iges Bupivacain) verabreicht. Der Periduralkatheter wird im Nachgang
? Warum entscheidet sich der Anästhesist gegen die Anlage eines neuroaxialen Verfahrens? Nach der Applikation von Antikoagulanzien gibt es für die spinale oder epidurale Punktionen empfohlene Zeitintervalle, die zwischen Einnahme und Punktion eingehalten werden sollten. In dem dargestellten Fall liegt die Empfehlung bei 12 h des zeitlichen Abstands zwischen der s.c.-Gabe von niedermolekularem Heparin (Prophylaxe) und epiduraler/spinaler Punktion (bei therapeutischer Dosierung beträgt das empfohlene Zeitintervall 24 h). Bei i.v.Applikation von unfraktioniertem Heparin beträgt der Abstand 4 h (Prophylaxe, ~400 IE/h) bzw. 4–6 h (Therapie), zudem ist die Wirkung unfraktionierter Heparine einfach via PTT zu moni-
toren. Direkte orale Antikoagulanzien sind in der Schwangerschaft kontraindiziert und werden nicht eingesetzt; für Phenprocoumon existieren dezidierte Empfehlungen zum Einsatz bzw. zum Umgang bei anstehender bzw. geplanter Geburt [8]. Nach der Einnahme von Acetylsalicylsäure (ASS; z. B. 100 mg/Tag bei Präeklampsie ohne weitere Heparingabe) wird keine Pause verlangt, sofern keine Kombination mit einem niedermolekularen Heparin vorliegt. Bezüglich der „non-steroidal anti-inflammatory drugs“ (NSAID), werden Karenzzeiten kontrovers diskutiert (Abstand zur spinalen bzw. epiduralen Punktion; [10]). NSAIDs sind jedoch im 3. Trimenon wegen der Gefahr eines vorzeitigen Verschlusses des Ductus arteriosus nicht indiziert. ?
Welche Indikationen für eine Sectio caesarea kennen Sie, und welche anästhesiologischen Verfahren setzen Sie jeweils ein? Im Jahr 2015 betrug die Rate an Schnittentbindungen 31,8 %. Grundsätzlich muss zwischen mütterlichen und kindlichen Indikationen sowie zwischen absoluten und relativen Indikationen unterschieden werden. Absolute Indikationen stellen z. B. das HELLP-Syndrom, (Prä-)Eklampsie, Uterusruptur, Plazenta praevia, vorzeitige Plazentalösung, Nabelschnurprolaps oder fetale Acidose dar. Als relative Indikation können mütterliche Erschöpfung, Z. n. vorheriger Sectio, Beckenendlage, Makrosomie und ein pathologischer Kardiotokographie(CTG)-Befund angesehen werden. Besonders für das anästhesiologische Verfahren wichtig sind die zeitlichen Einteilungen der Sectio, die die Entschluss-Entwicklung-Zeit beinhaltet. Bei der Not-Sectio sollte diese Zeit maximal 20 Minuten betragen (mitunter ist gleichwohl eine erheblich schnellere Entbindung geboten), bei der eiligen Sectio ca. 15–30 min sowie bei der Sectio mit aufgeschobener Dringlichkeit 30–120 min, und die elektive Sectio ist langfristig planbar. Jenseits dieser (nicht immer einheitlich definierten) zeitlichen Vorgaben wird international häufig eine Einteilung gemäß dem bestehenden
Gefährdungsmoment vorgenommen, z. B.: 4 Unmittelbare Lebensbedrohung für die Mutter oder das Kind/die Kinder: Diese Kategorie beinhaltet u. a. eine akute, schwere fetale Bradykardie, einen Nabelschnurvorfall, eine Uterusruptur sowie einen pHWert unter 7,20 als Ergebnis einer Fetalblutanalyse. 4 Mittelbare Gefährdung für die Mutter oder das Kind/die Kinder. Hier liegt die Dringlichkeit der Geburtsbeendigung vor, um eine Verschlechterung des Outcome für Mutter und/oder Kind(er) durch eine bestehende pathologische Störung zu vermeiden. Hierzu gehören beispielsweise Blutungen oder ein Geburtsstillstand, der mit einer sich bereits abzeichnenden mütterlichen oder kindlichen Gefährdung verbunden ist. 4 Keine mütterliche oder kindliche Gefährdung, aber die Notwendigkeit einer vorzeitigen Geburtsbeendigung. Aufgrund mangelnder Vorlaufzeit werden bei der Not-Sectio vielfach die Allgemeinanästhesie als Methode und die Durchführung einer RSI gewählt. Neuere Medikamente (z. B. Chloroprocain, 3 %ig) sowie Modifikationen der Lokalanästhesiemischung führen jedoch zu so rascher Erreichung einer chirurgischen Anästhesie, dass auch nach Aufspritzen der PDA in ca. 10 min die Sectio beginnen kann und eine „Notsectio“ unter PDA nicht ausgeschlossen sein muss. Bei weniger dringlicher Indikation kann bei bereits liegender PDA der Katheter mit einem Lokalanästhetikum und Opioid (z. B. 15–20 ml Ropivacain, 0,75 %ig, ggf. mit 10 μg Sufentanil) aufgespritzt werden. Sofern noch kein neuroaxiales Verfahren vorhanden ist oder bei geplanter Sectio, ist die Spinalanästhesie der Goldstandard (z. B. mit 1,6–2 ml 0,5 %igem hyperbarem Bupivacain und 5 μg Sufentanil oder 10 ml 0,1 %igem Bupivacain mit 5 μg Sufentanil). Sollten Kontraindikation vorliegen (Ablehnung durch die Patientin, Gerinnungsstörungen), wird eine ITN durchgeführt. Auch die vorher beschriebene CSE eignet sich unter dem Aspekt der postoperativen
Analgesie sehr gut als Verfahren zur Durchführung einer Schnittentbindung [3]. ? Welche Eingriffe im Kreißsaal kennen Sie noch? Kürettage bei Abort, Cerclage und Muttermundverschluss, fetalchirurgische Eingriffe, äußere Wendung bei Beckenendlage, Kürettage nach Geburt und Plazentaverhalt, Versorgung von Geburtsverletzungen [12]. ? Schildern Sie anhand des vorgestellten Falls, wie Sie in der Notfallsituation weiter vorgehen, was ihre Arbeitshypothese ist und wie der Fall weitergehen könnte. An welche weiteren Notfälle denken Sie in diesem Kontext? Bei vorliegendem Schockzustand der Patientin wird ein großlumiger peripherer i.v.-Zugang gelegt und mithilfe einer Druckinfusion Volumen verabreicht. Zeitgleich werden Blutproben für die Blutgasanalyse (BGA), Kreuzprobe und für Notfalllaborbestimmungen (einschließlich Gerinnung und Blutbild) abgenommen und 4 Erythrozytenkonzentrate (EK) bei der Blutbank angefordert. Die BGA ergibt einen Hb-Wert von 5,5 g/dl und einen „base excess“ von –9,0 mmol/l. Es werden die Vorbereitungen für eine RSI mit besonderem Augenmerk auf das hohe Aspirationsrisiko getroffen (30 ml 0,3-molares Natriumcitrat als sog. „Citratpuffer“, 50 mg Ranitidin i.v., 30°-Oberkörperhochlagerung, saugstarke und großlumige Absaugmöglichkeit). Es erfolgt zunächst eine Beatmung mit 100 %igem Sauerstoff. Eine aktive Wärmezufuhr wird über Wärmedecken und Infusionswärmung gewährleistet. Bei weiteranhaltender vaginaler Blutung werden 2 g Tranexamsäure und 2 g Fibrinogen verabreicht. Es wird eine invasive Blutdruckmessung etabliert, und weitere großlumige i.v.-Zugänge werden gelegt. Bei unkontrollierter starker Blutungssituation erfolgt die Transfusion von 2 Konserven (Blutgruppe „0 Rh-negativ“), die im Kreißsaal vorgehalten werden. Da auch nach Kürettage der Uterustonus nicht ausreichend ist, wird die Gabe von Oxytocin gestoppt (bisher 23 IE) und die Der Anaesthesist · Suppl 2 · 2019
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Gabe von Sulproston (Nalador ) gestartet. Eine zwischenzeitlich durchgeführte Point-of-care-Diagnostik (ROTEM ) zeigt einen Fibrinogenmangel, sodass zusätzlich weitere 2 g Fibrinogen und 2000 IE Prothrombinkonzentrat (PPSP) verabreicht werden. Da sich die Patientin in einem Haus der Maximalversorgung befindet, sind neben den angeforderten EK auch die „fresh frozen plasmas“ (FFP) zeitnah verfügbar. Bei weiterbestehender Blutung sollte in einem Haus der Grundund Regelversorgung nun mit dem Geburtshelfer über eine evtl. Verlegung in ein Zentrum für Gynäkologie und Geburtshilfe mit entsprechend ausgestatteter Blutbank und weitergehenden Versorgungsmöglichkeiten gesprochen werden. Eine sofortige Verfügbarkeit einer Transfusion von EK („0 Rh-negativ“) ist in jedem Kreißsaal zu gewährleisten. Insgesamt werden 6 FFP aufgetaut und transfundiert, ebenso 2 g Kalzium verabreicht. Bei einem Hb-Wert von 3,5 g/dl werden weitere 4 EK transfundiert. Die Blutungssituation scheint sich langsam zu stabilisieren, sodass die Rate von Sulproston reduziert werden kann. Die Gerinnungsparameter der initial abgenommenen Blutprobe ergeben eine Thrombozytopenie von 80.000/μl, eine PTT von 50 s und einen Quick-Wert von 65 %, sodass weitere 1000 IE PPSP sowie ein TK verabreicht werden. Die Patientin stabilisiert sich zunehmend hämodynamisch bei guter Uteruskontraktion, sodass der Transport auf die Intensivstation vorbereitet werden kann. Nachdem die Patientin extubiert und voll orientiert war, wurde sie ausführlich über das Geschehene aufgeklärt. Es wurde über die erfolgte Transfusion informiert, und ggf. weitere infektiologische Untersuchungen in 3 Monaten wurden angeboten. Bei erneuter Schwangerschaft soll sie sich in der Gerinnungsambulanz vorstellen und mit den Kollegen der Anästhesie vor Entbindung das Prozedere zur Antikoagulation besprechen. Weitere Notfälle im Kreißsaal sind Fruchtwasserembolie oder Reanimation des Neugeborenen.
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Worauf müssen Sie bei der Anästhesie im 5. Schwangerschaftsmonat achten?
Die Narkoseeinleitung soll abder20. SSW als RSI erfolgen (Cave: Aspirationsrisiko) mit langer Präoxygenierung bei reduzierter funktioneller Residualkapazität (Cave: Hypoxiegefahr). Als Induktionshypnotikum sind Thiopental oder Propofol möglich. Die in der Anästhesie gebräuchlichen Opioide sind unbedenklich. Bei der Verwendung von Muskelrelaxantien muss an die verminderte Cholinesteraseaktivität gedacht werden. Zur Narkoseaufrechterhaltung dienen Sevofluran oder Desfluran. Auch eine totale intravenöse Anästhesie (TIVA) unter Einsatz von Propofol ist möglich. Wegen der Uterusrelaxation wird im Zuge der Entbindung eine „minimum alveolar concentration“ (MAC) 100 mm Hg betragen, um eine gute Uterusdurchblutung zu gewährleisten. Als Nichtopioidanalgetikum wird Paracetamol empfohlen und Ibuprofen bis etwa zur 28. Woche (Cave: Duktusverschluss). Risiken bei Eingriffen während der Schwangerschaft sind fetale/maternale Hypoxie und drohende Frühgeburt [9]. Weiterführende Information zu den thematisierten und anderen Aspekten im Kontext geburtshilflich-anästhesiologischer Erwägungen finden sich in Lehrbuchkapiteln [13] und Monografien [6] zum Thema. Schlüsselwörter. Geburtshilfliche Anästhesie · Peripartale Blutung · Schwangerschaft · Epiduralanalgesie · Sectio caesarea · Spinalanästhesie
Korrespondenzadresse Univ.-Prof. Dr. P. Kranke, MBA Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie, Universitätsklinikum Würzburg Oberdürrbacher Str. 6, 97080 Würzburg, Deutschland [email protected]
Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. P. Kranke ist Autor und Herausgeber von Schriften zum Thema der geburtshilflichen Anästhesie und zweiter Sprecher des Arbeitskreises geburtshilfliche Anästhesie. Er ist Mitglied im Steering Committee der Hypotens-Studie und hielt Vorträge für die Firmen CSL Behring, Ratiopharm und FreseniusKabi. S. Brück und E. Kranke geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren. The supplement containing this article is not sponsored by industry.
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Meine Notizen! 11. Waurick K, Riess H, Van Aken H, Kessler P, Gogarten W, Volk T (2014) S1-Leitlinie, Rückenmarksnahe Regionalanästhesien und Thrombembolienprophylaxe/antithrombotische Medikation, 3. überarbeitete Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin. Anästh Intensivmed 55:464–492 12. Weber S (2018) Sonstige Eingriffe vor, während und nach der Geburt. In: Kranke P (Hrsg) Die geburtshilfliche Anästhesie. Springer, Berlin Heidelberg, S 341–352 13. Wilhelm W (2018) Praxis der Anästhesiologie. Springer, Berlin Heidelberg
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Der Anaesthesist · Suppl 2 · 2019
S163
Der Anaesthesist Facharzt-Training Anaesthesist 2019 · 68 (Suppl 2):S164–S169 https://doi.org/10.1007/s00101-019-0581-3 © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Redaktion A. Heller, Augsburg G. Breuer, Coburg
K. Engelhard Klinik für Anästhesiologie, Universitätsklinikum Mainz, Mainz, Deutschland
54/w mit plötzlich einsetzenden unerträglichen Kopfschmerzen im häuslichen Umfeld Vorbereitung auf die Facharztprüfung: Fall 19 Fallschilderung für den Prüfungskandidaten Der Ehemann einer 54-jährigen Patientin hat den Notarzt alarmiert, da seine Frau über plötzlich auftretende unerträgliche Kopfschmerzen klagte, die von Erbrechen und Schweißausbruch begleitet waren. Beim Eintreffen des Notarztes in der Wohnung der Patientin war diese bereits komatös und respiratorisch insuffizient. Die Pupillen der Patientin waren etwas erweitert und reagierten verlangsamt auf Licht. Die erreichte Punktzahl in der Glasgow-Koma-Skala betrug 7. Die Patientin hatte bis auf eine arterielle Hypertonie, die medikamentös gut eingestellt war, keine weiteren Erkrankungen.
Thematik 4 Differenzialdiagnostik von akuten
starken Kopfschmerzen 4 Definition des Krankheitsbildes der
4 4
4 4
Aneurysmaruptur und Subarachnoidalblutung (SAB) Initiale Akutversorgung einer Aneurysmaruptur und SAB Anästhesieführung während der operativen Versorgung einer Aneurysmaruptur und SAB Intensivmedizinische Betreuung nach Aneurysmaruptur und SAB Mögliche Komplikationen bzw. Folgen einer Aneurysmaruptur und SAB
Prüfungsfragen 4 Beschreiben Sie die typischen Symptome
einer Subarachnoidalblutung. 4 Welche Differenzialdiagnosen sind
wahrscheinlich? 4 Was ist die Glasgow-Koma-Skala? 4 Welche initiale Therapie sollte vom Notarzt
begonnen werden? 4 Welche Diagnostik sollte durchgeführt
werden? 4 Definieren Sie das Krankheitsbild
„zerebrales Aneurysma“. 4 Wie kann ein Aneurysma operativ
behandelt werden? 4 Was ist bei der Narkoseführung zur
Versorgung des Aneurysmas zu beachten? 4 Welche Systeme werden durch eine
Subarachnoidalblutung häufig noch verändert? 4 Welche Therapie sollte auf der Intensivstation durchgeführt werden?
S164
Der Anaesthesist · Suppl 2 · 2019
D Antworten ? Beschreiben Sie die typischen Symptome einer Subarachnoidalblutung. Das Leitsymptom ist der sog. Vernichtungskopfschmerz, der mit Nackensteifigkeit, Vigilanzminderung und/oder Bewusstseinsstörungen bis zum Koma einhergeht. Dazu kommen vegetative Symptome wie Übelkeit, Erbrechen oder Schweißausbruch. Die Dreißigtageletalität beträgt ca. 35 % [1]. Weitere neurologische Symptome (z. B. Hemiparese, hirnorganisches Psychosyndrom, Aphasie, Okulomotoriusparese etc.) richten sich v. a. nach der Lokalisation der Blutung resp. der Lokalisation bei einem raumfordernden Aneurysma. Aufgrund einer akuten Liquorabflussstörung und später einer zusätzlichen Liquorresorptionsstörung kann sich ein akuter Hydrozephalus entwickeln. Vigilanz und Kognition können zunehmend beeinträchtigt sein. Zusätzlich können aufgrund einer zentralen autonomen Dysregulation kardiopulmonale Probleme auftreten.
?
Welche Differenzialdiagnosen sind wahrscheinlich?
? Welche initiale Therapie sollte vom Notarzt begonnen werden?
Das plötzliche Auftreten stärkster Kopfschmerzen ist nahezu pathognomonisch für eine SAB, diese müssen aber nicht bei jeder SAB in dieser Intensität auftreten. Sind die Kopfschmerzen weniger stark oder langsam progredient, kann es sich um eine intrazerebrale Blutung, eine zerebrale Sinus- oder Venenthrombose oder eine Meningitis handeln.
Nach kurzer klinischer Untersuchung nach dem ABCDE-Schema, Anlage des Standardmonitorings und Etablierung eines venösen Zugangs, sollte ein Patient mit einem GCS-Wert 2 indiziert). Der ICP sollte während der intensivmedizinischen Behandlung unter 22 mm Hg gehalten werden. Neben der Routineüberwachung sollten postoperativ engmaschig der neurologische Status (wacher Patient) bzw. die Pupillenweite (analgosedierter und beatmeter Patient) überprüft werden. Jegliche neu aufgetretene Symptomatik muss sofort mit dem Neurochirurgen/Neuroradiologen kommuniziert werden. Die intraoperative Kontrolle und ggf. Therapie der Homöostase aller physiologischen Parameter muss auf der Intensivstation weitergeführt werden. Insbesondere müssen eine Hyper-/Hypoglykämie, eine Hyponatriämie, eine Hypoxie und Hyper-/ Hypokapnie und eine Hyperthermie vermieden werden. Zwischen dem 4. und 14. Tag nach SAB kann sich in 30–70 % der Fälle ein zerebraler Vasospasmus entwickeln, der eine DCI auslösen kann. Der Vasospasmus geht häufig mit einer Natriurese, Hyponatriämie und Hypovolämie einher. Die Entwicklung eines Vasospasmus sollte täglich mithilfe klinischer Untersuchungen und transkranieller Dopplersonographie überwacht und bei Verdacht im MRT oder im CT nachgewiesen werden. Zur Prophylaxe ist für die p.o.-Gabe des Kalziumantagonisten Nimodipin eine Wirkung nachgewiesen [15]. Für die i.v.-Gabe von Nimodipin über Perfusor gibt es bisher keine Evidenz, diese wird aber aufgrund der schlechten Verfügbarkeit oral zu verabreichenden Nimodipins in Deutschland häufig durchgeführt. Unter dieser Therapie ist in jedem Fall auf einen adäquaten zerebralen Perfusionsdruck zu achten. Ein manifester Vasospasmus kann durch die intraarterielle Gabe von Papaverin/ Nimodipin (nur kurzer Effekt) oder mithilfe der Katheterangioplastie be-
handelt werden, wobei die Evidenz für diese Therapie bisher nicht erbracht worden ist. Eine weitere Therapieoption bei Auftreten eines Vasospasmus war die hämodynamisch-augmentierende TripleH-Therapie (Kombination aus Hypertension, Hypervolämie, Hämodilution). Sie hatte das Ziel, einen hohen inneren Gefäßdurchsatz zu ermöglichen. Da die Wirksamkeit von Triple H weder zur Prophylaxe noch für die Therapie nachgewiesen werden konnte, wird sie heute nicht mehr durchgeführt [16]. Nur die milde arterielle Hypertonie (arterieller Mitteldruck bei maximal 90 mm Hg) kann in Phasen zerebraler Minderdurchblutung zur Optimierung der Blutversorgung über Kollateralen angewendet werden. Ungeeignet für die Therapie eines Vasospasmus ist die Gabe von Glukokortikoiden, Thrombozytenaggregationshemmern, Tirilazad, Magnesiumsulfat, Erythropoetin und Clazosentan (Endothelin-Rezeptorantagonist; [16–21]). Schlüsselwörter. Subarachnoidalblutung · Intrakraniales Aneurysma · Vasopasmus · Intrakranieller Druck · Aneurysma-Clipping · Aneurysma-Coiling
Korrespondenzadresse Prof. Dr. K. Engelhard Klinik für Anästhesiologie, Universitätsklinikum Mainz Langenbeck Str. 1, 55101 Mainz, Deutschland [email protected]
Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. K. Engelhard gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Für diesen Beitrag wurden vom Autor keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/ oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor. The supplement containing this article is not sponsored by industry.
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Der Anaesthesist · Suppl 2 · 2019
S169
Der Anaesthesist Facharzt-Training Anaesthesist 2019 · 68 (Suppl 2):S170–S174 https://doi.org/10.1007/s00101-019-0568-0 © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Redaktion A. Heller, Augsburg G. Breuer, Coburg
T. Kammerer Institut für Anästhesiologie und Schmerztherapie, Herz- und Diabeteszentrum NRW, Ruhr-Universität Bochum, Bad Oeynhausen, Deutschland
63/m mit Rundherd im linken Oberlappen Vorbereitung auf die Facharztprüfung: Fall 20 Fallschilderung für den Prüfungskandidaten
Thematik 4 Präoperative Planung einer Einlun-
Ein 63-jähriger Mann (Körperlänge 178 cm, Körpergewicht 76 kg) soll eine atypische Resektion eines pulmonalen Rundherds im linken Lungenoberlappen erhalten. Der Patient berichtet über eine zunehmende Dyspnoe bei persistierendem Nikotinabusus (40 „pack years“) sowie eine Gewichtsabnahme von etwa 5 kg in den letzten 3 Monaten. Kardiopulmonal ist der Patient so weit belastbar, dass er 2 Stockwerke ohne Pause oder einschränkende Dyspnoe bewältigen kann. Im Rahmen einer Röntgenuntersuchung der Lungen sei eine Raumforderung aufgefallen. Die präoperative Lungenfunktionsdiagnostik ergibt bis auf eine reversible obstruktive Komponente normale Lungenvolumina.
genventilation 4 Verschiedene Möglichkeiten der
Lungenseparation 4 Kenntnisse der aktuell zur Verfügung
stehenden Doppellumentuben und Bronchusblocker 4 Pathophysiologische Veränderungen unter Einlungenventilation 4 Prophylaktische und therapeutische Möglichkeiten bei intraoperativer Hypoxämie
Prüfungsfragen 4 Nennen Sie Indikationen für eine
seitengetrennte Beatmung! 4 Nennen Sie Vor- und Nachteile eines 4 4 4 4 4
S170
Der Anaesthesist · Suppl 2 · 2019
Doppellumentubus gegenüber einem Bronchusblocker! Nennen Sie Parameter, die für die Einlungenventilation mit einem Doppellumentubus wichtig sind! Beschreiben Sie das Vorgehen und die Lagekontrolle bei Anwendung eines Doppellumentubus! Welche unterschiedlichen Modelle eines Bronchusblockers kennen Sie, und wann kommen diese zur Anwendung? Nennen Sie Risikofaktoren einer intraoperativen Hypoxämie unter Einlungenventilation! Beschreiben Sie prophylaktische und therapeutische Maßnahmen in Bezug auf eine intraoperative Hypoxämie unter Einlungenventilation!
D Antworten ? Nennen Sie Indikationen für eine seitengetrennte Beatmung! Die früher gängige Unterscheidung in absolute und relative Indikationen zur Seitentrennung ist nicht mehr zeitgemäß. Vielmehr ergeben sich chirurgische und patientenbezogene Kriterien. Aus chirurgischer Sicht sind alle Lungenparenchymresektionen, Bronchusoder Ösophagusresektionen, Thorakoskopien, Lungentransplantationen, thorakoabdominellen Gefäßoperationen oder anterioren Wirbelsäuleneingriffe sinnvolle Indikationen für eine Einlungenventilation (ELV). Darüber hinaus gibt es patientenbezogene Kriterien wie Hämoptysen, einseitige Lungenabszesse oder bronchopleurale Fisteln, die die seitengetrennte Beatmung notwendig machen. ? Nennen Sie Vor- und Nachteile eines Doppellumentubus gegenüber einem Bronchusblocker! Der Doppellumentubus (DLT) wird am häufigsten zur temporären seitengetrennten Beatmung angewandt. Gegenüber dem Bronchusblocker (BB) bietet der DLT zahlreiche Vorteile: Bei regelmäßiger Anwendung lässt er sich zügig und korrekt positionieren; die Lungenflügel können rasch ent- und belüftet werden; es kann eine Sekretabsaugung und Lavage beider Seiten durchgeführt sowie problemlos zwischen links- und rechtsseitiger Ventilation gewechselt werden. Allerdings kommt es im Vergleich zum BB signifikant häufiger zu Atemwegsverletzungen, Heiserkeit und Schluckstörungen [1]. Bei postoperativer Nachbeatmung muss außerdem auf
einen konventionellen Tubus umintubiert werden. Zusätzlich ist der kleinste verfügbare DLT (26 F) erst bei Patienten ab dem Schulkindalter anwendbar. Limitationen ergeben sich außerdem beim schwierigen Atemweg. ?
Nennen Sie Parameter, die Ihnen bei der Planung einer Einlungenventilation und der Auswahl des Doppellumentubus wichtige Informationen geben!
Vor operativen Eingriffen, die eine Lungenseparation erforderlich machen, ist die körperliche Untersuchung im Hinblick auf den Atemweg von entscheidender Bedeutung. Hinweise auf eine erschwerte Intubation beeinflussen das weitere Vorgehen bezüglich der ELV. Dabei muss zunächst geklärt werden, ob generelle Beatmungs- und/oder Intubationsschwierigkeiten zu erwarten sind. Ist dies geklärt, sollte die weitere Strategie der Lungenseparation geplant werden. Insbesondere vor Anwendung eines DLT gibt das meist vorhandene CTBild wichtige Informationen. Die Diameter von Trachea und Hauptbronchus korrelieren signifikant mit der korrekten Größe des DLT. Größenempfehlungen finden sich in . Tab. 1. In den allermeisten Fällen kann, unabhängig von der operativen Seite, ein linksläufiger DLT angewandt werden. Dieser ist gegenüber dem rechtsläufigen DLT, der über eine zusätzliche Öffnung für den rechten Oberlappen verfügt, deutlich einfacher zu positionieren. Lediglich bei linksseitigen Pneumonektomien, Manschettenresektionen oder karinanahen Bronchusresektionen kann ein rechtsseitiger DLT
Tab. 1 Größenempfehlung für Doppellumentuben (DLT). (Nach Loop und Spaeth [4]) Trachealer DLT Frauen Männer Durchmesser (F) Körpergröße DLT Körpergröße DLT (cm) (cm) (F) (cm) (F) 180
35–37 39
>170 >180
37–39 41
15
35
16
37–39
18
39–41
indiziert sein. In diesem Fall muss obligat die fiberoptische Darstellung des rechten Oberlappenbronchus erfolgen. Merke. Die präoperative CT-Diagnostik gibt dem Anästhesisten wichtige Informationen zur Strategie der Lungenseparation und der korrekten Größe des Doppellumentubus. ? Beschreiben Sie das Vorgehen und die Lagekontrolle bei Anwendung eines Doppellumentubus! Nach Induktion der Narkose und ausreichender Relaxierung erfolgt zunächst die Laryngoskopie. Eine modifizierte Jackson-Position ist von Vorteil, da der DLT deutlich weniger flexibel ist als ein konventioneller Endotrachealtubus und es bei Passage der Zahnreihe leicht zu Verletzungen des trachealen Cuffs kommen kann. Der DLT wird zunächst mit der bronchialen Öffnung nach ventral eingeführt und der Führungsstab unmittelbar nach Passage der Stimmbänder zurückgezogen. Nun wird der Tubus um 90 Grad nach links bzw. rechts gedreht und bis zur kalkulierten Einführtiefe vorgeschoben. Bei einer Körpergröße des Patienten von 170 cm beträgt die Einführtiefe ca. 29 cm. Nach Blockung des trachealen Cuffs und Etablierung der maschinellen Beatmung erfolgt die fiberoptische Lagekontrolle über das tracheale Lumen. Hierbei sollte der bronchiale Cuff im linken Hauptbronchus darstellbar sein, ohne in die Trachea zu hernieren. Ist dies nicht der Fall oder ist die bronchiale Lage unklar, kann das Fiberskop in den bronchialen Anteil eingeführt und der Tubus unter Sicht zurückgezogen werden, bis die Carina dargestellt werden kann. Das Fiberskop wird nun in den linken Hauptbronchus eingeführt und der Tubus nachgeschoben. Danach wird die erneute Lagekontrolle über das tracheale Lumen vorgenommen. Bei Anwendung eines rechtsläufigen DLT muss außerdem obligat der Abgang des rechten Oberlappens dargestellt werden, um eine Verlegung auszuschließen. Nach Umlagerung des Patienten soll eine erneute fiberoptische Lagekontrolle durchgeführt werden. Der Anaesthesist · Suppl 2 · 2019
S171
Facharzt-Training Tab. 2 Eigenschaften von Bronchusblockern. (Nach Müller et al. [5]) Charakteristikum Arndt-Blocker Cohen-Blocker Uniblocker
EZ-Blocker™
Größe (F)
5, 7, 9
9
5, 9
7
Ballon
Sphärisch
Birnenförmig
Sphärisch
Kugelig
Platzierungsmechanismus Cuff-Volumen (ml)
Nylonschleife
Drehrad
Geformte Spitze
Distales Y-Stück
5 F: 0,5–2
5–8
5 F: 0,5–2 9 F: 5–8
1 „minimum alveolar concentration“ [MAC]) und die Anwendung von i.v.Vasodilatatoren.
?
? Beschreiben Sie prophylaktische und therapeutische Maßnahmen in Bezug auf eine intraoperative Hypoxämie unter Einlungenventilation!
Funktionelle Untersuchungen wie die Spiroergometrie oder die Messung der Diffusionskapazität geben nicht nur wichtige Informationen bezüglich der Operabilität des Patienten, sondern auch im Hinblick auf das Auftreten einer Hy-
Eine arterielle Sauerstoffsättigung (SaO2) >92 % unter ELV wird allgemein als ausreichend betrachtet. Die inspiratorische O2-Konzentration sollte daher möglichst reduziert werden (0,4–0,8). Ausnahmen bilden z. B. Patienten mit einer koronaren Herzkrankheit. Kommt es intraoperativ zu einer Hypoxämie mit einer SaO2
Nennen Sie Risikofaktoren einer intraoperativen Hypoxämie unter Einlungenventilation!
QS / QT S
— V
O2
paO2
Niedrig
Normal
Erhöht
HZV
Abb. 2 9 Zusammenhänge zwischen Herzzeitvolumen (HZV), intrapulmonaler Shunt-Fraktion ˙ QT) ˙ und arteri(Qs/ ellem Sauerstoffpartialdruck (paO2). SO2 gemischtvenöse Sauerstoffsättigung. (Modifiziert nach Lumb und Slinger [6])
Abb. 1 8 Bronchusblocker nach Arndt
85 %). Vordrucke zu dieser Gerinnungsanamnese sind von verschiedenen Anbietern erhältlich. Die enthaltenen Fragen lassen sich auf folgende 4 Bereiche zusammenführen: 4 Nasenbluten ≥1–2/Monat und Zahnfleischblutung (Differenzialdiagnose: Parodontose bei ca. einem Drittel der Bevölkerung),
Aktuelle Definitionen der Massivtransfusion. (Lier et al. [6])
Massivtransfusion „Traditionell“
≥10 EK/24 h
„Modern“
≥10 EK/6 h ≥4 EK/1 h Verlust ≥50 % des Blutvolumens/3 h
Bedeutsame Blutung („substantial bleeding“)
1. ≥1 EK innerhalb von 2 h plus 2. ≥5 EK oder blutungsbedingter Tod innerhalb von 4 h
Wiederbelebungsintensität („resuscitation intensity“)
Anzahl an Einheiten innerhalb von 30 min nach Aufnahme ≥3 Einheiten: ↑Mortalität (1 Einheit = 1 l Kristalloid, 0,5 l Kolloid, 1 EK, 1 GFP oder 1 Pool-/Apherese-TK)
„Critical-administrationthreshold“(CAT)-positiv
≥3 EK innerhalb irgendeiner Stunde innerhalb von 24 h
EK Erythrozytenkonzentrat, GFP gefrorenes Frischplasma, TK Thrombozytenkonzentrat Tab. 2 Perioperative Indikationen der „damage control resuscitation“. (Lier et al. [6]) Physiologische Persistierender SAP 2/Monat ohne entsprechendes Trauma, 4 Familien-/Blutungs- und Medikamentenanamnese, 4 bei Frauen: Monatsblutung regelmäßig länger als 5 (bis 7) Tage und/oder >6 Pads bzw. Tampons/Tag (ohne Einnahme der „Pille“). Nur wenn diese Gerinnungsanamnese positiv ist, erfolgt eine zielgerichtete erweiterte Labordiagnostik. Zusätzlich sollte eine organbezogene Labordiagnostik bei Funktionseinschränkung der jeweiligen Organe durchgeführt werden. ? Wie kann man eine „schwere Blutung mit vitaler Bedrohung“ definieren? Die Problematik einer vital bedrohlichen Blutung ergibt sich aus der Kombination von persistierendem Transfusionsbedarf und/oder hämodynamischer Instabilität (Abfall des systolischen Blutdruckwerts um 20 % im Vergleich zum Ausgangsblutdruckwert oder Katecholaminpflichtigkeit) sowie der Lokalisation (intrazerebral, intraspinal, präformierte Körperhöhle [Pleura, Abdomen], drohender Organausfall, Kompartment). Mögliche Definitionen für den Begriff „Massivtransfusion“ listet . Tab. 1 auf. ? Welche Gründe für intraoperative Blutungen kennen Sie? Etwa die Hälfte aller perioperativen Blutungen ist chirurgisch bedingt (z. B. Gefäßverletzung, Organeinriss, Beckenringfraktur, Atonie). Eine chirurgische Blutung kann nicht hämostaseologisch gestillt, muss aber anästhesiologischhämostaseologisch supportiv versorgt werden. Gelingt es nicht, eine chirurgische Blutung zeitnah zu kontrollieren, wird immer eine zusätzliche Koagulopathie auftreten. Vor allem durch zelluläre Hypoxie, aber auch durch Verletzung von bzw. Operation an bestimmten Organen oder aus anderen Ursachen kann es zu einer Störung des „Organsystems Gerinnung“ (Koagulopathie) kommen (. Abb. 1).
Hemmkörper
Medikamente
oder andere Ursachen
Koagulopathie = Störung des „Organsystems Gerinnung“ INR >1,5 häufig als Hinweis genutzt, aber nicht „evidence-based“ Operation an / Verletzung von :
Gewebehypoxie Pulmo
Pankreas
Plazenta
Prostata
Gehirn
Leber
Tumor
„4P“
Abb. 1 8 Mögliche Auslöser einer Koagulopathie. INR International Normalized Ratio
? Welche Diagnostik zur Abklärung intraoperativer Blutungen ist sinnvoll? Eine Koagulopathie lässt sich am einfachsten visuell diagnostizieren: nichtchirurgische, diffuse Blutungen aus Schleimhaut, Serosa und Wundflächen. Typisch sind auch erneute Blutungen aus ursprünglich trockenen Wundrändern, Blutungen aus den Einstichstellen intravasaler Katheter sowie aus liegenden Blasenkathetern oder Magensonden. Zur Basisdiagnostik von starken Blutungen sollen frühzeitig und wiederholt Blutgasanalysen (BGA) sowie Messungen von Quick-Wert (Prothrombinzeit, PT), aPTT, Fibrinogen und Thrombozytenzahl durchgeführt werden, ebenfalls wird die Blutgruppe des Patienten bestimmt. Die Aussagekraft der Standardlaborbestimmungen (Quick-Wert, aPTT, Thrombozytenzahl) ist sehr eingeschränkt, scheint aber besser, als nichts zu messen [3]. Spätestens bei V. a. eine Koagulopathie sollte der frühzeitige Einsatz viskoelastischer Testverfahren (VET, z. B. Thrombelastographie Rotationsthromboelastome[TEG ], trie [ROTEM ]) plus die Abklärung der Thrombozytenfunktion (Multiplate , ROTEM platelet) erfolgen. Die Thrombozytenfunktionsdiagnostik ermöglicht eine Aussage über die primäre Hämostase (d. h. die Wechselwirkung der Thrombozyten untereinander und mit dem Endothel). Die VET untersuchen die sekundäre Hämostase (d. h. die plas-
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matische Gerinnung, einschließlich der [Hyper-]Fibrinolyse; [5]). ?
Welche therapeutischen Optionen bei intraoperativer massiver Blutung kennen Sie?
Das primäre Ziel jeder perioperativen Gerinnungstherapie ist die Vermeidung einer Koagulopathie. Sowohl prophylaktisch als auch therapeutisch hat sich ein eskalierendes Vorgehen nach den Prinzipien der „damage control resuscitation (DCR)“ bewährt [1]. Hinweise auf perioperative Indikationen der DCR gibt . Tab. 2. Rahmenbedingungen. Die Auskühlung des Patienten sollte mit geeigneten Maßnahmen vermieden (warme Infusionen, Hotline o. Ä., Minirin [1-Desamino-8D-Arginin-Vasopressin, DDAVP]) und Normothermie angestrebt werden. Eine Acidämie sollte vermieden und durch eine geeignete Schocktherapie behandelt werden. Die endgültige Korrektur ist nur durch Wiederherstellung der (Mikro-)Perfusion und nicht durch Gabe von Puffern möglich, Puffern ist aber vor der Verabreichung von Gerinnungspräparaten sinnvoll. Eine Hypokalzämie –6 mmol/l; Lactat 40 %) assoziiert sind. Diese Teilmenge der Patienten mit septischem Schock kann über das klinische Konstrukt des Zusammenkommens von 1) einer Sepsis mit 2) einem Katecholaminbedarf zur Erhaltung eines mittleren arteriellen Drucks (MAP) ≥65 mm Hg trotz adäquater Volumensubstitution und 3) einem Serumlactatwert >2 mmol/l (>18 mg/dl) erfasst werden.
related Organ Failure Assessment (qSOFA) Score bestimmt werden, der aus 3 schnell erfassbaren Parametern besteht (. Infobox 1). Erfüllt ein Patient infolge einer Infektion mindestens 2 dieser 3 Kriterien, besteht der hochgradige Verdacht auf eine Sepsis, und es resultiert die unmittelbare Behandlungspflichtigkeit. Der im Fallbeispiel beschriebene Patient erfüllt alle 3 Kriterien des qSOFA.
?
? Welche Behandlungsschritte sollten Sie ohne Zeitverzug in die Wege leiten?
Wahrscheinlich nicht. Der SOFA-Score ist ein Instrument, das für die Verwendung auf Intensivstationen vorgesehen ist. Vier seiner 6 Parameter beruhen auf Laborwerten, sodass seine Eignung für die Anwendung in Akutsituationen (v. a. in Nichtüberwachungsbereichen) stark infrage gestellt werden muss. Stattdessen kann im Bereich außerhalb von Intensivstationen (z. B. auf Normalstationen, in Ambulanzen oder im Rettungsdienst) der sog. Quick Sequential Sepsis-
Bei der Behandlung der Sepsis sind die möglichst rasche antiinfektive Therapie und die umgehende hämodynamische Stabilisierung entscheidend für die erfolgreiche Therapie [10]. Dementsprechend sollten die Abnahme von Blutkulturen und die Gabe eines Breitbandantibiotikums ohne Zeitverzug initiiert werden [2, 9]. Falls in der klinischen Untersuchung ein spezifischer Fokus wahrscheinlich erscheint, sollte dies bei der Auswahl des Breitbandantibiotikums berücksichtigt werden. Allerdings darf die Fokussuche (z. B. aufwendige bildgebende Untersuchungen) den Beginn der anti-
Würde Ihnen der Sequential Sepsis-related Organ Failure Assessment Score in der geschilderten Akutsituation helfen?
Tab. 1 Sequential Sepsis-related Organ Failure Assessment Score. (Modifiziert nach Vincent et al. [13]) Parameter Score 0
1
2
3
4
Atmung
paO2/FIO2
>400
≤400
≤300
≤200 und Atemunterstützung
≤100 und Atemunterstützung
Gerinnung
Thrombozyten (⋅ 103/mm3)
>150
≤150
≤100
≤50
≤20
Leber
Bilirubin (mg/dl)
12,0
Bilirubin (μmol/l)
204
Herz-Kreislauf
Hypotension bzw. Katecholaminpflicht
Keine Hypotension
MAP 5 μg kgKG–1 min–1 oder Adrenalin ≤0,1 μg kgKG–1 min–1 oder Noradrenalin ≤0,1 μg kgKG–1 min–1
Dopamin >15 μg kgKG–1 min–1 oder Adrenalin >0,1 μg kgKG–1 min–1 oder Noradrenalin >0,1 μg kgKG–1 min–1
Zentralnervensystem Nieren
Glasgow Coma Scale
15
13–14
10–12
6–9
20mmHg
• Mottling Score < 4 • V. cava inferior sonographisch > 22mmHg
• Atemvariabilität der Pulsdruckkurve
• ≥ 3 B-Linien in der Lungensonographie • Fehlende Atemvariabilität der Pulsdruckkurve
Abb. 1 8 Parameter zu Abschätzung des Volumenbedarfs bei hypotensiven Patienten (modifiziert aus Schmochet al.[10]).DerMottlingScore beschreibt denGradderHautmarmourierungderBeine [1]. B-Linien sind vertikale Wiederholungsartefakte, die an Grenzflächen, wie beispielsweise zwischen Flüssigkeit- und Luft-gefüllten Alveolen, entstehen [5]. Sie sind vermehrt im Lungengewebe zu sehen, wenn das Gewebe ödematös ist
luftgefüllten Alveolen, entstehen [5]. Sie sind vermehrt im Lungengewebe zu sehen, wenn das Gewebe ödematös ist. Katecholamintherapie. Im septischen Schock ist Noradrenalin der Vasopressor der 1. Wahl für die Therapie der Vasoplegie, da es im Vergleich zu den verfügbaren Alternativen wahrscheinlich das günstigste Nebenwirkung-Nutzen-Profil aufweist. Benötigt ein Patient trotz ausreichender Volumensubstitution weiterhin hohe Noradrenalindosen (≥0,3–0,5 μg kgKG–1 min–1), kann die Gabe von Glukokortikoiden erwogen werden. Auch der Einsatz von Vasopressin kann in diesen Fällen zu einer Stabilisierung beitragen. Ist die ventrikuläre Pumpfunktion vorbestehend oder im Rahmen einer septischen Kardiomyopathie eingeschränkt, können auch Inotropika wie z. B. Dobutamin oder Adrenalin eingesetzt werden. In diesen Fällen sollte (sofern verfügbar) die bettseitige transthorakale Echokardiographie zur Therapiesteuerung eingesetzt werden.
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?
Welche Beatmungsstrategie würden Sie bei dem Patienten wählen?
Sollte der Patient beatmungspflichtig werden, sollten die Grundsätze der lungenprotektiven Beatmung berücksichtigt werden [4]. (1) Es sollte mit einem Tidalvolumen von 6 ml/kg Idealgewicht (abschätzbar mit der Faustformel: Körpergröße [cm] – 100) und mit einem positiven endexspiratorischen Druck (PEEP) beatmet werden. Dabei sollten (2) der Plateaudruck 200 mm Hg ≤ 300 mm Hg), j moderates ARDS (paO2/FIO2 > 100 mm Hg ≤ 200 mm Hg), j schweres ARDS (paO2/FIO2 < 100 mm Hg). ? In welche Stadien kann diese Erkrankung differenziert werden? Im Krankheitsverlauf des ARDS können eine akute exsudative, eine proliferative und eine chronisch fibrotische Phase unterschieden werden, wobei zeitliche Überlappungen zwischen diesen Krankheitsphasen typisch sind. Der fibrotische Umbau des Lungenparenchyms kann bleibende Einschränkungen der Lungenfunktion bei Überlebenden dieser Erkrankung bedingen [7]. ? Nach welchen generellen Prinzipien wird die schweregradadaptierte Therapie des „acute respiratory distress syndrome“ durchgeführt? Schlüsselelemente der Therapie des ARDS stellen die konsequente Behandlung der zugrunde liegenden Erkrankung, eine schweregradadaptierte Behandlung der respiratorischen Insuffizienz und die supportive Intensivtherapie dar. Die lungenprotektive Beatmung repräsentiert das wichtigste Instrument zur Unterstützung der Lungenfunktion. Sie kann bei milden Verlaufsformen als nichtinvasive Beatmung durchgeführt werden. Mit zunehmendem Schweregrad kann eine Steigerung der Beatmungsinvasivität, insbesondere eine Erhöhung des PEEP erforderlich sein. Sofern die kardiozirkulatorische Situation es erlaubt, sollte ein restriktives Flüssigkeitsmanagement etabliert werden. Bei schweren Verlaufsformen sollte eine Bauchlagerungstherapie durchgeführt werden, der Einsatz eines extrakorporaDer Anaesthesist · Suppl 2 · 2019
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Facharzt-Training
Abb. 1 9 Stufentherapie des „acute respiratory distress syndrome“ (ARDS). ECCO2-R extrakorporale Kohlenstoffdioxidelimination, ECMO extrakorporale Membranoxygenierung, FIO2 inspiratorische Sauerstofffraktion, NIV „noninvasive ventilation“ (nichtinvasive Beatmung), paO2 arterieller Sauerstoffpartialdruck, PEEP „positive endexpiratory pressure“ (positiver endexspiratorischer Druck)
len Verfahrens zur Lungenunterstützung erwogen sowie die Verlegung des Patienten in ein spezialisiertes Zentrum angestrebt werden. Beispielhaft zeigt . Abb. 1 einen Therapiealgorithmus zur schweregradadaptierten Therapie des ARDS [7]. ? Wie sollten Patienten mit „acute respiratory distress syndrome“ beatmet werden? Obwohl die Beatmung für viele Patienten eine häufig lebensrettende Intervention darstellt, kann sie auch selbst eine Schädigung der Lungen induzieren bzw. aggravieren; ein Phänomen, das als beatmungsinduzierte Lungenschädigung („ventilator-induced lung injury“, VILI) bezeichnet wird. Hohe Atemzugvolumina (Volutrauma) und hohe Beatmungsdrücke (Barotrauma) können durch das Erzeugen von „stress“ (transpulmonaler Druck) und „strain“ (Dehnung der Lungen über ihr Volumen in Atemruhelage) zu einer Schädigung des Lungenparenchyms führen. Ein Atelektrauma kann durch das Auftreten von zyklischem Kollaps/Wiedereröffnung atelektatischer Lungenareale begünstigt werden. Baro-, Volu- und Atelektrauma triggern proinflammatorische Reaktionen im Lungen-
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parenchym. Dieses sog. Biotrauma führt häufig zu einer systemischen inflammatorischen Reaktion, die letztlich in ein Multiorganversagen mit entsprechend hoher Letalität münden kann. Mangels zielgerichteter Therapieoptionen kommen supportiven Therapieansätzen wie z. B. der lungenprotektiven Beatmung ein hoher Stellenwert zu. Zentrale Elemente einer lungenprotektiven Beatmungsstrategie sind die Anwendung niedriger Atemzugvolumina (6 ml/kg „predicted body weight“) sowie die Begrenzung des inspiratorischen Plateaudrucks ( 0,9 kann ein extrakorporaler Lungenersatz in Erwägung gezogen werden
Keine
Invasive Beatmung (FIO2 > 0,9, inspiratorische Plateaudrücke > 30 cm H2O > 7 Tage)
Bei paO2/FIO2 < 80 mm Hg unter FIO2 > 0,9 sollte ein extrakorporaler Lungenersatz in Erwägung gezogen werden
–
Pharmakologische Immunsuppression
Inspiratorische Plateaudrücke > 30 cm H2O
–
Kurz zurückliegende, neue oder zunehmende intrakranielle Blutung
CO2-Retention > 80 mm Hg
–
Kontraindikation zur Antikoagulation
Schwere bronchiale/pulmonale Fisteln
–
–
FIO2 inspiratorische Sauerstofffraktion, paO2 arterieller Sauerstoffpartialdruck
auf 16–18h/Tag auszudehnen. Für diese Strategie konnte eine signifikante Reduktion der Sterblichkeit bei Patienten mit einem paO2/FIO2 < 150 mm Hg nachgewiesen werden. Der positive Effekt der Bauchlage lässt sich in erster Linie durch eine Rekrutierung dorsaler, atelektatischer Lungenareale erklären. Die Rekrutierung selbst ist Folge der Entlastung dieser Lungenareale vom Gewicht der ventralen Lungenanteile und des Herzens sowie vom Druck der abdominellen Organe im Vergleich zur Rückenlage, die zu einem Abfall des intrapleuralen mit konsekutivem Anstieg des wirksamen transpulmonalen Drucks führt. Es resultiert eine Zunahme des endexspiratorischen Lungenvolumens, die nicht nur eine Verbesserung des Gasaustausches, sondern auch eine Reduktion von VILI durch Verminderung des Strain zur Folge hat [6]. ? Welche adjuvanten Maßnahmen finden in der evidenzbasierten Therapie des „acute respiratory distress syndrome“ Anwendung? Für die kontinuierliche Muskelrelaxation mit Cisatracurium konnte bei Anwendung im schweren ARDS innerhalb der ersten 48 h eine Reduktion der Neunzigtagemortalität sowie der Gesamtbeatmungsdauer nachgewiesen werden. Ursache dieses Effekts könnte die Reduktion von VILI durch Vermeidung hoher transpulmonaler Drücke während nichtunterdrückter Spontanatmung sein. Substanzspezifische antiin-
flammatorische Effekte können ebenfalls nicht ausgeschlossen werden. Im Vergleich zu einem liberalen Management kann eine restriktive Flüssigkeitstherapie zu einer Reduktion der Sterblichkeit sowie der Anzahl der Beatmungstage beitragen und sollte daher angestrebt werden. Die inhalative Anwendung von Stickstoffmonoxid (iNO) kann bei ausgewählten Patienten durch eine Optimierung des Ventilation-Perfusion-Verhältnisses eine Verbesserung der Oxygenierung bewirken, ein positiver Einfluss auf die Sterblichkeit bei ARDS konnte bisher jedoch nicht nachgewiesen werden. Ein positives Ansprechen kann innerhalb der ersten Minuten nach Therapiebeginn bei Konzentrationen zwischen 5 und 15 ppm iNO erwartet werden. Der Anteil der Nonresponder ist allerdings hoch. Aufgrund einer erhöhten Rate an Nierenversagen wird die Routineanwendung von iNO aktuell nicht empfohlen. Zahlreiche weitere, insbesondere pharmakotherapeutische Maßnahmen wurden bereits in klinischen Studien untersucht. Für die Anwendung von Surfactant, Kortikosteroiden, β-Agonisten, Statinen, Lysofillin, Ibuprofen, Ketoconazol, N-Acetylcystein, Antithrombin, aktiviertem Protein C, Prostazyklin, inhalativem Insulin und Heliox kann aufgrund fehlender positiver Effekte in der Therapie des ARDS derzeit keine Empfehlung ausgesprochen werden [5].
?
Wann werden welche extrakorporalen Verfahren zur Lungenunterstützung eingesetzt? Extrakorporale Verfahren zur Lungenunterstützung können als „Rescue“Maßnahmen bei therapierefraktärer Hypoxämie oder respiratorischer Acidose eingesetzt werden, wenn unter lungenprotektiver Beatmung und Ausschöpfung konservativer Therapiemaßnahmen kein adäquater Gasaustausch gewährleistet werden kann. Da sie Ultima-Ratio-Therapieoptionen darstellen, bestehen für extrakorporale Verfahren keine absoluten Kontraindikation. In . Tab. 2 sind Indikationen und relative Kontraindikation gemäß den Leitlinien der Extracorporeal Life Support Organization (ELSO) dargestellt [2]. Bei der Indikationsstellung sollten darüber hinaus auch immer patientenspezifische Besonderheiten wie Alter und bestehende Komorbiditäten beachtet werden und eine individuelle Risiko-Nutzenabwägung erfolgen. Bei Patienten mit schwerer kombinierter Gasaustauschstörung ohne begleitende kardiale Funktionseinschränkung stellt die venovenöse extrakorporale Membranoxygenierung (v.v.-ECMO) den klinischen Standard dar. Besteht eine ausgeprägte Einschränkung der kardialen Funktion, kann der Einsatz einer venoarteriellen (v.a.-ECMO) oder einer Hybridanwendung im Sinne einer venovenösarteriellen (v.v.a.-ECMO) erwogen werden. Isolierte Störungen der CO2-Elimination können ausreichend mithilfe eines pumpenlosen arteriovenösen Systems („interventional lung assist“, iLA) sowie venovenöser „Low-flow“-Systeme behandelt werden. Mit diesen Verfahren lassen sich ultraprotektive Beatmungseinstellungen mit Atemzugvolumina deutlich kleiner als 6 ml/kgKG realisieren. Für diese Therapiestrategie konnte allerdings bisher kein Überlebensvorteil nachgewiesen werden; ihr Stellenwert in der Behandlung des ARDS bleibt daher bisher unklar [7]. Schlüsselwörter. Intensivmedizin · Beatmung, künstlich · Positivdruckbeatmung · Bauchlage · Extrakorporale Membranoxygenierung
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Facharzt-Training
Meine Notizen!
Platz für noch mehr Wissen Korrespondenzadresse Prof. Dr. P. Spieth, MSc Klinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie, Universitätsklinikum Dresden Fetscherstr. 74, 01307 Dresden, Deutschland [email protected]
Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. A. Güldner und P. Spieth geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag beinhaltet keine von den Autoren durchgeführten Studien an Menschen oder Tieren. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor. The supplement containing this article is not sponsored by industry.
Literatur 1. Bellani G, Laffey JG, Pham T, Fan E, Brochard L, Esteban A, Gattinoni L, van Haren F, Larsson A, McAuley DF et al (2016) Epidemiology, Patterns of Care, and Mortality for Patients With Acute Respiratory Distress Syndrome in Intensive Care Units in 50 Countries. JAMA 315(8):788–800 2. ELSO Guidelines for Cardiopulmonary Extracorporeal Life Support Extracorporeal Life Support Organization, Version 1.4 August 2017 Ann Arbor, MI, USA http://www.elso.org 3. Fan E, Del Sorbo L, Goligher EC et al (2017) An Official American Thoracic Society/European Society of Intensive Care Medicine/Society of Critical Care Medicine Clinical Practice Guideline: mechanical ventilation in adult patients with acute respiratorydistresssyndrome. AmJRespirCritCare Med 195:1253–1263 4. Fan E, Brodie D, Slutsky AS (2018) Acute respiratory distress syndrome: advances in diagnosis and treatment. JAMA 319:698–710 5. Hecker M, Weigand MA, Mayer K (2017) Adjunctive pharmacotherapy for acute respiratory distress syndrome. Dtsch Med Wochenschr 142:96–101 6. Scholten EL, Beitler JR, Prisk GK et al (2017) Treatment of ARDS with prone positioning. Chest 151:215–224 7. Spieth PM, Guldner A, Gama de Abreu M (2017) Acute respiratory distress syndrome: basic principles and treatment. Anaesthesist 66:539–552
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Der Anaesthesist · Suppl 2 · 2019
Der Anaesthesist Facharzt-Training Anaesthesist https://doi.org/10.1007/s00101-019-00658-9 © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Redaktion A. Heller, Augsburg G. Breuer, Coburg
W. Hölz · S. Ackermann · T. Zinsmeister · A. R. Heller Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin, Universitätsklinikum Augsburg, Augsburg, Deutschland
82/w mit periprothetischer Femurfraktur und postoperativem Überwachungsbedarf Vorbereitung auf die Facharztprüfung: Fall 26
Fallschilderung für den Prüfungskandidaten Eine 82-jährige Patientin (Körperlänge 156 cm, Körpergewicht 42 kg) ist in ihrer Wohnung über eine Teppichkante gestürzt. Aufgrund einer periprothetischen Femurfraktur wird ein Femurschaftwechsel indiziert. Der Eingriff dauert ca. 2,5h; der erwartete Blutverlust beträgt 500–1000 ml. Die Patientin weist eine hypertensive Herzerkrankung mit hypertensiver Nephropathie (SerumKreatinin-Konzentration 2,4 mg/dl) auf. Eine langjährige chronische obstruktive Lungenerkrankung (COPD), derzeit Stadium 3B im Global Initiative for Chronic Obstructive Lung Disease (GOLD) System, erlaubt ihr nur noch eingeschränkte Aktivitäten in ihrer Wohnung. Der Weg von der Haustür in den ersten Stock führt zu leichter Dyspnoe. Ihre Beinödeme sind seit Einleitung einer diuretischen Therapie geringer. Die orientierte Patientin wünscht in jedem Fall, operiert zu werden, um ihre Restmobilität zu erhalten. Der prämedizierende Anästhesist hält die Patientin nach Sichtung der Befunde für medikamentös gut eingestellt und nicht weiter verbesserbar. Angesichts der Morbidität und des großen Eingriffs hält er eine erweiterte post-
operative Überwachung für angebracht. Aufgrund knapper Überwachungskapazitäten (Pflegepersonalmangel) war die Operation der Patientin seitens der Unfallchirurgie bereits einen Tag zurückgestellt worden. Die betreffende Klinik hält einen Aufwachraum, eine „Intermediate-care“(IMC)-Station und eine operative Intensivstation vor. Wird ein Intensivbett benötigt, könnte die Operation erneut ausfallen.
Thematik Der folgende Fragenkomplex bezieht sich auf: 4 die Risikobewertung für eine betagte Patientin, 4 den Einfluss von Operation, operationsimmanenten Risiken (Blutverlust, Fettembolie) und Morbidität auf das Gesamtrisiko, 4 den Einfluss der Anästhesie und des Zeitpunkts der Operation auf das Gesamtrisiko, 4 die postoperative Überwachung: Unterscheidung zwischen Aufwachraum, IMC- und Intensivstation, 4 das Spannungsfeld der Entscheidung bei begrenzten Ressourcen, 4 die Übergabe an wichtigen Schnittstellen.
Prüfungsfragen 4 Welche Faktoren haben Einfluss auf das
perioperative Risiko dieser Patientin? 4 Welche Anästhesie und welche Überwa-
4
4
4
4
chung würden Sie wählen, und haben diese Auswirkungen auf die postoperative Überwachung? Worin unterscheiden sich die Überwachung in einem Aufwachraum, einer Intermediate-care- und einer Intensivstation für erwachsene Patienten? Nennen Sie Scoring-Systeme zur Beurteilung der Krankheitsschwere und des Pflegeaufwands von Intensivpatienten, und bewerten Sie den Nutzen für den Klinikalltag. Würden Sie die Operation der Patientin weiterverschieben, um eine höherwertige postoperative Überwachung zu gewährleisten? Welche Inhalte sollte die Übergabe an den Aufwachraum, die Intermediate-careoder die Intensivstation umfassen? Kennen Sie Merkhilfen für eine vollständige Übergabe?
Der Anaesthesist
Facharzt-Training D Antworten ? Welche Faktoren haben Einfluss auf das perioperative Risiko dieser Patientin? Betagte Patienten haben verminderte physiologische Reserven. Die Patientin ist mit einem Body-Mass-Index von 17,7 kg/m2 untergewichtig [1]. Der Abbau von Muskelmasse (Sarkopenie) trägt zu Stürzen im Alter bei. Die Gebrechlichkeit alter Patienten wird im Englischen als „frailty“ bezeichnet. Ein relevanter Abfall der Körpertemperatur und Lagerungsschäden treten häufiger auf. Noch wichtiger für das perioperative Risiko ist jedoch die Morbidität, in diesem Fall die arterielle Hypertonie mit Nephropathie und die COPD mit Zeichen der Rechtsherzinsuffizienz [2]. Durch die frakturbedingte Immobilität droht eine infektionsbedingte Exazerbation der COPD. Bisher besteht nach der GOLD-Einteilung ein COPD-Stadium 3B mit einer Reduktion der exspiratorischen Einsekundenkapazität (FEV1) auf weniger als 30 %, starken Beschwerden und 0 bis einem vorangegangenen Krankenhausaufenthalt [2]. Anzustreben sind eine zügige Operation und postoperative Mobilisierung [3]. Die Hospitalisierung begünstigt die Entwicklung eines postoperativen De-
Tab. 1
lirs und einer postoperativen kognitiven Dysfunktion (POCD,[4]). Kommt es perioperativ zu hypotensiven Phasen, droht die Verschlechterung der Nierenfunktion [5]. Mit dazu beitragen kann ein relevanter Blutverlust mit Transfusion. Embolien beim Einbringen der Prothese können zum Rechtsherzversagen bei schon vorbestehender Rechtsherzinsuffizienz führen [6]. ? Welche Anästhesie und welche Überwachung würden Sie wählen, und haben diese Auswirkungen auf die postoperative Überwachung? Prinzipiell möglich sind eine Allgemeinanästhesie, periphere Nervenblockaden und eine rückenmarknahe Anästhesie. Während die pulmonale Vorerkrankung für eine Spinalanästhesie mit Analgosedierung spricht, wird angesichts der Operationsdauer, der in diesem Fall praktizierten Seitenlagerung auf der Vakuummatratze und des zu erwartenden hohen Blutverlusts eine Allgemeinanästhesie bevorzugt. Zur postoperativen Schmerztherapie ist eine Kombination mit peripheren Nervenblockaden möglich. Bisher konnte nicht schlüssig gezeigt werden, dass die Anwendung von reiner Regional-
Aldrete-Score. (Aldrete und Kroulik [10])
Vitalparameter
Beschreibung
Score
Atmung
Patient atmet tief, hustet ausreichend
2
Luftnot oder eingeschränkte Atmung
1
Apnoe
0
Blutdruck ±20 % des Ausgangswerts
2
Blutdruck ±21–49 % des Ausgangswerts
1
Blutdruck ±50 % des Ausgangswerts
0
Patient ist wach
2
Patient durch Ansprache/Anrufen erweckbar
1
Patient reagiert nicht
0
Bewegt alle Extremitäten spontan/nach Aufforderung
2
Bewegt 2 Extremitäten spontan/nach Aufforderung
1
Bewegt keine Extremitäten
0
O2-Sättigung >92 % bei Raumluft
2
O2-Sättigung >90 % nur mit O2-Substitution
1
O2-Sättigung 1,0 MAC bewirkt nur eine geringe Veränderung. Nach Gabe eines weiteren Fentanylbo-
C. Jurth · F. von Dincklage Klinik für Anästhesiologie mit Schwerpunkt operative Intensivmedizin, Campus Charité Mitte und Virchow Klinikum, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland
56/w zur Hüfttotalendoprothese Vorbereitung auf die Facharztprüfung: Fall 29 lus von 0,2 mg fallen Herzfrequenz und Blutdruck in den hochnormalen Bereich. Kurz vor der Narkoseausleitung erfolgen die Gaben von 2 g Metamizol und 5 mg Piritramid zur postoperativen Analgesie. Dennoch gibt die Patientin bei Ankunft im Aufwachraum massive Schmerzen an der Operationsstelle an.
Thematik Der folgende Fragenkomplex bezieht sich auf: 4 die Differenzialdiagnostik des geschilderten klinischen Verlaufs, 4 die Abgrenzung zwischen den Begriffen Anästhesietiefe, Hypnosetiefe und Analgesietiefe, 4 die Abgrenzung zwischen den Begriffen Schmerz und Nozizeption, 4 die klinischen Folgen einer Überoder Unterdosierung von Analgetika während Allgemeinanästhesie, 4 das klinische Vorgehen zur Dosierung von Analgetika während einer Allgemeinanästhesie, 4 die Einflussfaktoren auf akute postoperative Schmerzen, 4 das klinische Vorgehen bei der Dosierung von Analgetika zur Akutschmerztherapie im Aufwachraum.
Prüfungsfragen 4 Wie würden Sie das intraoperative
4
4
4 4
4
Ereignis und die massiven postoperativen Schmerzen in dem geschilderten Fall erklären? Welche klinischen Folgen können Überoder Unterdosierungen von Analgetika während einer Allgemeinanästhesie haben? Nach welchen klinischen oder apparativen Kriterien kann sich die Dosierung von Analgetika während einer Allgemeinanästhesie richten? Welche Faktoren des Patienten und der Operation beeinflussen das Ausmaß der akuten postoperativen Schmerzen? Wie könnte ein Behandlungsschema akuter postoperativer Schmerzen nach einer Hüfttotalendoprothese unter Allgemeinanästhesie aussehen? Welche Vorteile in Bezug auf intraoperative Nozizeption und postoperative Schmerztherapie könnten Verfahren der Regionalanästhesie aufweisen?
Der Anaesthesist
Facharzt-Training D Antworten
? Wie würden Sie das intraoperative Ereignis und die massiven postoperativen Schmerzen in dem geschilderten Fall erklären?
?
Die intraoperative Tachykardie und Hypertonie, insbesondere kurz nach einer Zunahme der operativen Stimulationsintensität, sprechen für eine Stressreaktion durch eine zu flache Anästhesietiefe. Die Anästhesietiefe, also die durch Medikamente herbeigeführte Wahrscheinlichkeit von Reaktionslosigkeit auf äußere Stimuli, ergibt sich aus den zwei Komponenten Hypnosetiefe und Analgesietiefe [1]. Mit der Hypnosetiefe wird das Ausmaß der Ausschaltung des Bewusstseins durch Medikamente wie Propofol oder inhalative Anästhetika bezeichnet, während die Analgesietiefe das Ausmaß der Ausschaltung der spinalen und zerebralen Verarbeitung von im Wachzustand als schmerzhaft empfundenen Reizenbezeichnet, beispielsweise durchOpioide. Im hier geschilderten Fall liegt am ehesten eine zu flache Analgesietiefe vor, da die Vertiefung der Hypnosekomponente durch Erhöhung der endtidalen Sevoflurankonzentration zu keiner Verbesserung der Situation führte. Daraus, dass die Analgesietiefe trotz eines 0,3 mg Fentanylbolus so flach ist, dass bereits der Hautschnitt zu einer starken Reaktion führt, lässt sich schlussfolgern, dass bei dieser Patientin die Opioidempfindlichkeit herabgesetzt ist. Ursachen hierfür könnten die seit 6 Monaten erfolgende regelmäßige Einnahme von Opioiden und der zu dieser Schmerzmitteleinnahme führende chronische Schmerz, der eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Schmerzreizen bedingen kann, sein. In Anbetracht der reduzierten Opioidempfindlichkeit erscheint die Gabe von 5 mg Piritramid zur präemptiven Analgesie vor der Narkoseausleitung als deutlich zu gering, und der massive Schmerz im Aufwachraum ist die Konsequenz.
Die Gabe von Analgetika im Wachzustand erfolgt üblicherweise zur Behandlung von Schmerzen. Da Schmerz per Definition jedoch ein bewusstes Erlebnis darstellt, kann unter suffizienter Allgemeinanästhesie, die ja wiederum per Definition die Bewusstlosigkeit einschließt, kein Schmerz stattfinden. Was jedoch auch ohne bewusstes Erleben weiterhin stattfinden kann, ist die neuronale Verarbeitung von im Wachzustand als schmerzhaft empfundenen Reizen in peripheren Nerven, Rückenmark und Gehirn, die unter dem Begriff „Nozizeption“ zusammengefasst wird [2]. Eine Unterdosierung von Analgetika zur Allgemeinanästhesie kann also zu einem Übermaß intraoperativer Nozizeption führen, die eine Vielzahl körperlicher Reaktionen auslösen kann. Klinisch sichtbare Reaktionen umfassen beispielsweise Bewegungsreaktionen, Anstiege von Herzfrequenz oder Blutdruck sowie Zunahme von Schweißproduktion oder Tränenfluss. Klinisch nichtsichtbare neuroendokrine und metabolische Reaktionen können beispielsweise zu Störungen von Immunfunktion und Wundheilung, Gerinnungsstörungen und Darmatonie führen. Des Weiteren können klinisch ebenfalls nichtsichtbare direkte neuronale Effekte zur Ausbildung eines postoperativen Delirs beitragen sowie über neuronale Lernmechanismen („Schmerzgedächtnis“) verstärkte akute und chronische postoperativen Schmerzen auslösen. Eine Überdosierung von Analgetika zur Allgemeinanästhesie kann jedoch ebenfalls negative Folgen haben, die sich aus den verstärkten Wirkungen und Nebenwirkungen der jeweils eingesetzten Substanzen ergeben. Bei den weitverbreitet eingesetzten Opioiden umfassen diese negativen Folgen einer Überdosierung einerseits direkt auftretende Effekte wie Kreislaufdepression und Bradykardie. Andererseits werden einige Effekte erst
Der Anaesthesist
Welche klinischen Folgen können Über- oder Unterdosierungen von Analgetika während einer Allgemeinanästhesie haben?
mit dem Aufwachen aus der Allgemeinanästhesie relevant, wie eine verlängerte Aufwachzeit und Atemdepression, eine Verstärkung von Übelkeit und Erbrechen sowie eine geringe Verstärkung akuter postoperativer Schmerzen. Diese auch als „opioidinduzierte Hyperalgesie“ bezeichnete Verstärkung postoperativer Schmerzen tritt überwiegend nach Gabe kurz wirksamer Opioide wie Remifentanil auf. Sie äußert sich in ihrem Maximum in den ersten Stunden nach Beendigung der Opioidgabe in Form eines Schmerzempfindens, das um etwas weniger als einen Punkt auf einer numerischen Schmerzskala von 0 bis 10 gesteigert ist [3]. ?
Nach welchen klinischen oder apparativen Kriterien kann sich die Dosierung von Analgetika während einer Allgemeinanästhesie richten? Die Dosierung von Analgetika zur Allgemeinanästhesie erfolgt zunächst über die Einschätzung des situationsspezifischen individuellen Bedarfs. Dieser Bedarf ergibt sich aus einer Einschätzung des Ausmaßes der durch den geplanten Eingriff ausgelösten intraoperativen Nozizeption (Thorakotomie > abdominelle Exploration > oberflächlicher Eingriff an der Haut) sowie einer Einschätzung der individuellen Empfindlichkeit gegenüber Schmerzreizen und Analgetika. Die optimale Analgesie zur Allgemeinanästhesie zeichnet sich durch eine möglichst genaue Balance zwischen dem Ausmaß der intraoperativen Nozizeption, korrigiert durch die individuelle Empfindlichkeit gegenüber Schmerzreizen, auf der einen Seite und der Analgetikadosierung, korrigiert durch die individuelle Analgetikaempfindlichkeit, auf der anderen Seite aus. Mangels genauerer Messverfahren kann in der klinischen Praxis diese Einschätzung jedoch meist nur mit grober Genauigkeit erfolgen. Dementsprechend ist häufig eine intraoperative Anpassung der Analgetikadosierung anhand der bereits beschriebenen klinischen Zeichen notwendig. Bewegungsreaktionen, Herzfre-
quenz- und Blutdruckanstiege können Anzeichen einer überschießenden Nozizeption und einer zu geringen Analgetikadosierung sein, während bei Verwendung von Opioiden Kreislaufdepression und Bradykardie Zeichen einer zu hohen Analgetikadosierung sein können. Eine apparative Unterstützung bei der Dosierung von Analgetika zur Allgemeinanästhesie können die in den letzten Jahren zunehmend von den Herstellern beworbenen Nozizeptions- und Analgesiemonitore bieten [2]. Nozizeptionsmonitore messen durch Nozizeption verursachte Veränderungen an verschiedenen Organen und übersetzen diese in eine Zahl, die dem Ausmaß der stattfindenden Nozizeption entsprechen soll. Analgesiemonitore verabreichen zusätzlich zum Nozizeptionsmonitoring Teststimuli verschiedener Stärke und messen gezielt die dadurch ausgelösten Veränderungen, um anschließend einen Wert auszugeben, der dem Ausmaß der vorliegenden Analgesie entsprechen soll. Zum aktuellen Zeitpunkt gibt es jedoch noch keinen ausreichenden wissenschaftlichen Beleg dafür, einen der Monitore für den klinischen Routineeinsatz zu empfehlen, da bisher kein valider Nachweis des tatsächlichen klinischen Nutzens erbracht werden konnte. Dieses könnte sich aufgrund der Vielzahl an aktuell durchgeführten Studien und dem zunehmenden Interesse verschiedener Hersteller an diesem Bereich jedoch bereits in naher Zukunft ändern. ? Welche Faktoren des Patienten und der Operation beeinflussen das Ausmaß der akuten postoperativen Schmerzen? Der wichtigste operationsbezogene Einflussfaktor auf das Ausmaß des akuten postoperativen Schmerzes ist die Art der Operation. Orthopädische Operationen gehen häufig mit einem besonders hohen Maß an akuten postoperativen Schmerzen einher, ebenso wie offene Bauchund Thoraxeingriffe. Darüber hinaus sind jedoch auch einige der als geringer invasiv wahrgenommenen Eingriffe wie Hernienoperationen, Hämorrhoidektomien und Tonsillektomien mit überdurchschnittlich starken Schmerzen in der akuten postoperativen Phase
verbunden [4]. Weitere operationsbezogene Einflussfaktoren auf den akuten postoperativen Schmerz sind intraoperative Nervenverletzungen sowie das räumliche Ausmaß und die Dauer der Operation. Als wichtigste patientenbezogene Faktoren beeinflussen ein bereits präoperativ bestehender Schmerz und eine bereits präoperativ bestehende regelmäßige Einnahme von Schmerzmitteln den akuten postoperativen Schmerz am stärksten. Darüber hinaus besteht ein starker Einfluss durch eine Vielzahl psychologischer Faktoren wie Depression, Angst, Schmerzkatastrophisierung und die generelle Erwartung. Einen deutlich geringeren Einfluss weisen Faktoren wie Geschlecht, Alter, Body-Mass-Index oder der Raucherstatus des Patienten auf [5]. ?
Wie könnte ein Behandlungsschema akuter postoperativer Schmerzen nach einer Hüfttotalendoprothese unter Allgemeinanästhesie aussehen?
Die Therapie akuter postoperativer Schmerzen beginnt bereits intraoperativ. Die Vermeidung überschießender intraoperativer Nozizeption durch eine suffiziente intraoperative Analgetikadosierung vermeidet neuronale Lernmechanismen, die akute postoperative Schmerzen verstärken können. Des Weiteren sollte vor der Ausleitung aus der Allgemeinanästhesie eine suffiziente Dosis lang wirksamer Analgetika verabreicht werden, um präemptiv das Auftreten akuter postoperativer Schmerzen zu vermeiden. Insbesondere bei intraoperativer Verwendung kurz wirksamer Opioide muss genau darauf geachtet werden, dass die Gabe lang wirksamer Analgetika rechtzeitig erfolgt. Letztere müssen zur Ausleitung aus der Allgemeinanästhesie die volle Wirkung entfalten, und die Dosierung muss, unter Berücksichtigung des Phänomens des verstärkten Schmerzempfindens nach Beendigung der Gabe kurz wirksamer Opioide („opioidinduzierte Hyperalgesie“) auch tatsächlich ausreichen. Die weitere postoperative Schmerztherapie richtet sich nach dem subjektiven Schmerzempfinden der Patienten. Nur durch wiederholte, regelmäßige Er-
fassung der Schmerzintensität kann eine individuell angepasste, bedarfsgerechte Schmerztherapie durchgeführt werden. Die quantitative Erfassung der subjektiven Schmerzintensität bei wachen und selbstauskunftsfähigen Patienten sollte durch Selbsteinschätzung der Patienten anhand validierter Skalen erfolgen (z. B. numerische Rating-Skala [NRS], verbale Rating-Skala [VRS], visuelle Analogskala [VAS]). Für nicht wache oder nicht selbstauskunftsfähige Patienten stehen Skalen zur Fremdeinschätzung durch das medizinische Personal zur Verfügung (z. B. Behavior Pain Scale [BPS], Beurteilung von Schmerzen bei Demenz [BESD]) [7]. Bei allen Instrumenten ist es sinnvoll, den Schmerz unter unterschiedlichen Bedingungen zu erfassen (z. B. in Ruhe und unter Belastung oder in Ruhe und beim hustenden Patienten) sowie, wenn möglich, neben der reinen Schmerzintensität auch die Schmerzakzeptanz und die schmerzbedingte Funktionseinschränkung zu erheben. Entsprechend der mithilfe der beschriebenen Instrumente regelmäßig erfassten Schmerzintensität erfolgt die individuelle multimodale Schmerztherapie, orientiert am WHO-Stufenschema [6]. Als Grundstufe der Therapie dienen Nichtopioidanalgetika („non-steroidal anti-inflammatory drugs“ [NSAID], Zyklooxygenase[COX]-2-Hemmer, Metamizol, Paracetamol), deren Einsatz sich v. a. nach der Wirkstärke und den Nebenwirkungen richtet und deren Kombination möglich ist. Bei moderaten bis starken Schmerzen erfolgt die zusätzliche Gabe von Opioiden. In Deutschland ist die i.v.-titrierte Gabe von Piritramid weit verbreitet. Die orale Gabe ist der i.v.-Applikation jedoch sowohl bei Nichtopioidanalgetika als auch bei Opioiden nicht unterlegen und ermöglicht die kontinuierliche Fortsetzung der Schmerztherapie auch nach Verlegung der Patienten auf die Normalstation. Eine besondere Möglichkeit der i.v.Opioid-Therapie (aber auch der sublingualen oder transdermalen Opioidtherapie) stellt die patientenkontrollierte Analgesie („patient controlled analgesia“, PCA) dar, die es den Patienten mithilfe technischer Systeme („Schmerzpumpe“) erlaubt, die analgetische BedarfsmeDer Anaesthesist
Facharzt-Training dikation selbstständig zu applizieren. Vorteile solcher Systeme sind die hohe Qualität der erreichten Schmerztherapie, eine Reduktion von Analgesielücken und eine hohe Patientenzufriedenheit. Nachteile sind in erster Linie der erhöhte apparative und personelle Aufwand. Beispiel für ein Medikamentenregime (Erwachsener nach Hüfttotalendoprothese, 80 kgKG) 4 intraoperativ: 30 min vor Extubation 12 mg Piritramid (0,15 mg/ kgKG) + 2 g Metamizol, 4 postoperativ nach Bedarf: 1 g Paracetamol, 4 4 mg Piritramid (0,05 mg/kgKG) wiederholt gemäß NRS-Wert. ?
Welche Vorteile in Bezug auf intraoperative Nozizeption und postoperative Schmerztherapie könnten Verfahren der Regionalanästhesie aufweisen? Obwohl im beschriebenen Fall die intra- und die postoperative Analgesie bei alleiniger Allgemeinanästhesie im Fokus stehen, bedarf es zumindest der kurzen Erwähnung der Regionalanästhesie. Mithilfe von Regionalverfahren kann generell eine stärkere Unterdrückung der intraoperativen Nozizeption erreicht werden als durch eine i.v.-Analgesie; deshalb ist eine Regionalanästhesie für Risikogruppen häufig zu empfehlen. Auch bei der postoperativen Schmerztherapie bieten Regionalverfahren einige Vorteile, wie die Möglichkeit der nahtlosen intra- und postoperativen Analgesie bis auf die Verlegung auf die Normalstation. Es sollte daher stets die Möglichkeit der Anwendung von Regionalanästhesieverfahren geprüft werden; hierbei müssen die Vorteile gegenüber den spezifischen Risiken und Kontraindikationen der einzelnen Verfahren abgewogen werden. Schlüsselwörter. Nozizeption · Analgesie · Akuter postoperativer Schmerz · Hyperalgesie · Schmerztherapie
Der Anaesthesist
Korrespondenzadresse Priv.-Doz. Dr. med. F. von Dincklage, M. Sc. Klinik für Anästhesiologie mit Schwerpunkt operative Intensivmedizin, Campus Charité Mitte und Virchow Klinikum, Charité – Universitätsmedizin Berlin Charitéplatz 1, 10117 Berlin, Deutschland [email protected]
Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. C. Jurth und F. von Dincklage geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor. The supplement containing this article is not sponsored by industry.
Literatur 1. Shafer SL, Stanski DR (2008) Defining depth of anesthesia. In: Schüttler J, Schwilden H (Hrsg) modern anesthetics. Handbook of experimental pharmacology, 182. Aufl. Springer-Verlag, Berlin Heidelberg, S 409–423 2. von Dincklage F (2015) Monitoring von Schmerz, Nozizeption und Analgesie unter Allgemeinanästhesie. Anästhesist 64:758–764 3. Fletcher D, Martinez V (2014) Opioid-induced hyperalgesia in patients after surgery: a systematic review and a meta-analysis. Br J Anaesth 112(6):991–1004 4. Gerbershagen HJ, Aduckathil S, van Wijck AJM et al (2013) Pain intensity on the first day of surgery. Anesthesiology 118:934–944 5. Yang MMH, Hartley RL, Leung AA et al (2019) Preoperative predictors of poor acute postoperative pain control: a systematic review and metaanalysis. BMJ Open 9:e25091 6. Chou R, Gordon DB, de Leon-Casasola OA et al (2016) Guidelines on the Management of Postoperative Pain. J Pain 17(2):131–157 7. DAS-Taskforce(2015)S3-LeitlinieAnalgesie,SedierungundDelirmanagementinderIntensivmedizin (DAS-Leitlinie 2015), Stand 08/2015. http://www. awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/001-012l_ S3_Analgesie_Sedierung_Delirmanagement_ Intensivmedizin_2015-08_01.pdf
Der Anaesthesist Facharzt-Training Anaesthesist 2019 · 68 (Suppl 3):S221–S225 https://doi.org/10.1007/s00101-019-00680-x Online publiziert: 27. November 2019 © Der/die Autor(en) 2019 Redaktion A. Heller, Augsburg G. Breuer, Coburg
E. Biermann Nürnberg, Deutschland
3 Wochen/m nach verwirklichtem schweren Anästhesierisiko und fraglicher Aufklärungspflichtverletzung Vorbereitung auf die Facharztprüfung: Fall 30
Fallschilderung für den Prüfungskandidaten Bei einem 3 Wochen alten Kind soll in einem Kreiskrankenhaus eine Leistenhernienoperation durchgeführt werden. Die Eltern suchen den Operateur im Behandlungszimmer auf. Dort führt der Operateur mit der Mutter ein Aufklärungsgespräch. Der Vater befindet sich im Wartezimmer. Er hat ein Aufklärungsformular über die geplante Operation erhalten. Dieses füllt er aus und unterzeichnete es – ebenso wie später seine Ehefrau. Der Anästhesist führt 2 Tage vor dem geplanten Eingriff mit dem Vater des kleinen Patienten ein Telefonat über die bevorstehende Operation. In diesem ca. 15 min dauernden Gespräch klärt der Anästhesist den Vater über die Risiken der Anästhesie auf, insbesondere über Atemstörungen, Beatmungs-, HerzKreislauf-Probleme und Querschnittslähmung. Der Anästhesist besteht darauf, dass am Eingriffstag beide Elternteile anwesend sind. Dies geschieht. Den Eltern wird am Eingriffstag nochmals Gelegenheit gegeben, Fragen zu stellen. Sie erteilen sodann ihr Einverständnis zur Operation und zum begleitenden Anästhesieverfahren. Bei der Operation kommt es zu atemwegsbezogenen Komplikationen; Dr. iur. Biermann ist Justitiar des Berufsverbandes Deutscher Anästhesisten (BDA).
die Sauerstoffsättigung fällt ab, es treten eine Kreislaufdestabilisierung und eine Bradykardie auf. Der kleine Patient muss auf die Intensivstation eines Kinderkrankenhauses verlegt werden. Er erleidet schwere zentralmotorische Störungen; seine Koordinations- und Artikulationsfähigkeit sind beeinträchtigt (spastische Tetraparese).
Thematik 4 Rechtliche Grundlagen der „Selbst-
bestimmungsaufklärung“ 4 Unterschied zur thearapeutischen
„Aufklärung“ 4 Einwilligung und Einwilligungsfä-
higkeit 4 Besondere Situation bei Kindern und
Jugendlichen 4 Der Aufklärungsfehler im Haftungs-
prozess
Prüfungsfragen 4 Warum müssen Patienten aufgeklärt
werden? 4 Gibt es gesetzliche Regelungen zu 4 4 4 4 4 4 4 4 4
Einwilligung und Aufklärung? Wer erteilt die Einwilligung? Wer muss aufklären? Zu welchem Zeitpunkt ist aufzuklären? Wie umfangreich muss aufgeklärt werden? Wie unterscheidet sich die „therapeutische Aufklärung/Sicherungsaufklärung“ von der „Selbstbestimmungsaufklärung“? Muss die Aufklärung schriftlich erfolgen? Darf auch fernmündlich aufklärt werden? Wer muss die Aufklärung beweisen? Welche Bedeutung hat eine Aufklärungspflichtverletzung in einem Haftpflichtprozess? Der Anaesthesist · Suppl 3 · 2019
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Facharzt-Training D Antworten ? Warum müssen Patienten aufgeklärt werden? Die Rechtsprechung geht seit mehr als 100 Jahren davon aus, dass jeder invasive ärztliche Eingriff eine tatbestandsmäßige Körperverletzung darstellt, die zu ihrer Rechtfertigung neben der Indikation und der fachgerechten Durchführung der Einwilligung des informierten Patienten bedarf. Die Einwilligung kann ausdrücklich oder auch mutmaßlich erteilt sein („informed consent“). Wirksam ist die Einwilligung aber nur, wenn der Patient weiß, was er mit der Behandlung auf sich nimmt. Sofern der Patient nicht bereits das notwendige Wissen hat, ist eine Aufklärung vor dem Eingriff unerlässlich, soweit der Patient nicht auf nähere Aufklärung verzichtet hat („Selbstbestimmungsaufklärung“). ? Gibt es gesetzliche Regelungen zu Einwilligung und Aufklärung? Durch das Patientenrechtegesetz vom Februar2013 wurdenindas Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) 8 Paragrafen eingefügt, die den bisher gesetzlich nichtnormierten medizinischen Behandlungsvertrag regeln, mit dem Ziel der Schaffung transparenter gesetzlicher Vorschriften. Dabei transformiert das Gesetz im Wesentlichen die Grundsätze, die die Rechtsprechung bislang schon zur Arzthaftung, insbesondere zur Einwilligung nach Aufklärung („informed consent“) entwickelt hatte. Weitere spezialgesetzliche Regelungen finden sich z. B. im Transfusionsoder Transplantationsgesetz, um nur zwei Beispiele zu nennen. ?
Wer erteilt die Einwilligung?
Ansprechpartnerim Hinblickaufdie Einwilligung in den Eingriff ist zunächst der Patient selbst (§ 630d BGB). Das bedeutet, dass der volljährige, willensund einsichtsfähige Patient selbst in die Behandlung einwilligt. Der Patient muss aber nicht einwilligen, er muss entscheiden: Er kann auch eine vital indizierte, dringende Behandlung ablehnen, selbst wenn dies aus religiösen oder weltan-
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schaulichen Gründen geschieht, die für den Arzt nicht nachvollziehbar sind. Ist der Patient selbst nicht fähig, eine valide Entscheidung zu treffen, etwa weil er nicht ansprechbar oder nicht einwilligungsfähig ist, müssen an seiner Stelle andere entscheiden; das Gesetz verlangt dann die Einwilligung des „Berechtigten“ (§ 630d Abs. 1 Satz 2 BGB). Berechtigt, für einen nicht einwilligungsfähigen Patienten zu entscheiden, sind bei einem volljährigen Patienten entweder der oder die vom Patienten beauftragten Bevollmächtigten („Vorsorgevollmacht/ Gesundheitsvollmacht“), der vom Gericht bestellte Betreuer, die Eltern oder in Eilfällen das Gericht selbst (bei Volljährigen das Betreuungsgericht/bei Kindern und Jugendlichen das Familiengericht). Die Einwilligungsfähigkeit hängt weder von der zivilrechtlichen Geschäftsfähigkeit, die unbeschränkt mit Vollendung des 18. Lebensjahres einsetzt, noch von der strafrechtlichen Schuldfähigkeit (Kinder unter 14 Jahren sind schuldunfähig) ab. Die „natürliche Einsichts- und Entschlussfähigkeit“ ist das entscheidende Merkmal, das von den beteiligten Ärzten ggf. zu prüfen ist. Bei Kindern und Minderjährigen ist zu unterscheiden: Kinder unter 14 Jahren gelten grundsätzlich als nicht einsichtsfähig; bei den 14- bis 18-jährigen Patienten ist die Einwilligungsfähigkeit im Einzelfall vom Arzt zu prüfen. Wenn der Minderjährige die „psychosoziale Reife“ hat, die für und gegen den Eingriff sprechenden Gründe zu verstehen, sachgerecht abzuwägen und auf der Basis eigenverantwortlich zu entscheiden, kommt es auf seine Entscheidung an. Die Rechtsprechung ist allerdings nicht einheitlich, sodass die rechtliche Stellung des Minderjährigen bezüglich seiner „Einwilligungskompetenz“ auch nach Inkrafttreten des Patientenrechtegesetzes als nicht eindeutig geklärt angesehen werden muss. Ein Teil der Rechtsprechung lässt die Einwilligung des einwilligungsfähigen Minderjährigen ausreichen. Die Auffassung des Bundesgerichtshofes (BGH) in Zivilsachen tendiert aber dahin, ein Alleinentschei-
dungsrecht eines Minderjährigen nur bei dringend indizierten Eingriffen zuzulassen, vorausgesetzt, die gesetzlichen Vertreter (d. h. überwiegend die Eltern) sind nicht erreichbar. Die Begründung: Das Recht der Eltern zur Personensorge soll ihnen auch die Befugnis zur Einwilligung geben. Andererseits wird dem Minderjährigen bei relativ indizierten Eingriffen ein Vetorecht zugesprochen; vorausgesetzt, dass dieser eine „ausreichende Urteilsfähigkeit“ besitzt. Daraus folgt für die Praxis: Sowohl die Minderjährigen als auch die Eltern sind aufzuklären, wenn der Minderjährige nichts dagegen hat. Im Konfliktfall ist das Familiengericht einzuschalten. BeinichteinsichtsfähigenKindern, also solchen unter 14 Jahren, sind die Eltern zur Entscheidung berufen. Im Grundsatz bedarf es der Einwilligung beider Elternteile. Doch hat der BGH hierzu die folgende „Drei-Stufen-Theorie“ aufgestellt: 4 Bei alltäglichen, nicht gefährlichen Eingriffen und bei Notfällen reicht die Einwilligung des erschienenen Elternteils aus. Begründung: Nach der Lebenserfahrung darf davon ausgegangen werden, dass dieser berechtigt ist, auch für den nicht erschienenen Elternteil zu entscheiden. 4 Bei Eingriffen schwererer Art verlangt die Rechtsprechung, dass der Arzt sich durch Rückfragen beim erschienenen Elternteil vergewissert, ob dieser ermächtigt ist, auch für den nicht erschienenen Elternteil zu handeln. 4 Bei schwierigen und weitreichenden Eingriffen muss der Arzt sich darüber hinaus aber Gewissheit vom Einverständnis des nicht erschienenen Elternteils verschaffen; unter Umständen muss er mit beiden Eltern Kontakt aufnehmen. Wenn die Eltern aber bereits in den operativen Eingriff eingewilligt haben, werden sie das dazu erforderliche Anästhesieverfahren zur Schmerzausschaltung voraussetzen. Dies entbindet nicht von der Verpflichtung zur Aufklärung,
aber der Anästhesist darf darauf vertrauen, dass der erschienene Elternteil für den anderen mitentscheiden darf. Kann die Einwilligung der Eltern bzw. eines Elternteils nicht rechtzeitig eingeholt werden und bleibt noch Zeit, sollte das Familiengericht (Amtsgericht) eingeschaltet werden; bei zeitlich dringlichen Maßnahmen kann/können und darf/dürfen der Arzt/die Ärzte nach den Grundsätzen der „mutmaßlichen Einwilligung“ die notwendigen Behandlungsmaßnahmen ergreifen (§ 630d Abs. 1 Satz 4 BGB). Verweigert der Berechtigte die Einwilligung in ärztliche Maßnahmen, ist zu prüfen, ob und inwieweit diese Weigerung ein Fehlgebrauch der ihm eingeräumten Kompetenz bzw. bei Eltern des ihnen eingeräumten Sorgerechts ist. In Zweifelsfällen ist das Gericht (Betreuungs-/Familiengericht) anzurufen. Diejenige Person, die über die Vornahme oder Nichtvornahme des Eingriffs zu entscheiden hat, ist auch diejenige, die vom Arzt aufzuklären ist. ?
Wer muss aufklären?
Die Aufklärung ist eine ärztliche Aufgabe, die nicht an das Pflegepersonal delegiert werden darf (§ 630e Abs. 2 Ziff. 1 BGB). Eine Delegation der Aufklärung innerhalb der Fachabteilung ist üblich und zulässig. Es muss aber sichergestellt sein, dass der Arzt, der aufklärt, die Methoden, Techniken und Verfahren kennt, um auch mögliche Alternativen mit dem Patienten zu erörtern und dessen Fragen zu beantworten. Auch im Rahmen der Aufklärung ist der „Facharztstandard“ zu beachten. Ist die Aufklärung innerhalb der Fachabteilung durch kontrollierte Dienstanweisung standardisiert, darf der Anästhesist, der am nächsten Tag den Patienten betreut, darauf vertrauen, dass seine Kollegin/sein Kollege am Vortag den Patienten adäquat „prämediziert“ und aufgeklärt hat; es sei denn, es drängen sich gegenteilige Anhaltspunkte auf. In der interdisziplinären Kooperation mit anderen Fachvertretern gilt der Grundsatz: Jeder an der Behandlung des Patienten beteiligte Fachvertreter klärt den Patienten jeweils aus der Sicht seines Fachgebiets auf.
Das schließt nicht aus, dass ein fremder Fachvertreter die anästhesiologische Aufklärung übernimmt oder umgekehrt, doch setzt dies konkrete Absprachen mit klaren, u. U. stichprobenhaft kontrollierten Anweisungen voraus. Der Facharztstandard setzt einer solchen fachübergreifenden Aufklärung Grenzen. ?
Zu welchem Zeitpunkt ist aufzuklären?
So früh wie möglich ist der Patient zu informieren, denn es soll ihm genügend Zeit bleiben, über das Für und Wider des Eingriffs zu entscheiden und sich ggf. noch mit Angehörigen bzw. seinem Hausarzt zu besprechen (§ 630e Abs. 2 Satz 1 Ziff. 2 BGB). Die Rechtsprechung unterscheidet zwischen der stationären und der ambulanten Durchführung. Weil der stationär untergebrachte Patient mit seiner Eingliederung in den Krankenhausbetrieb u. U. eine „psychische Schranke“ aufgebaut hat, die seine freie Entscheidung beeinflussen kann, verlangt die Rechtsprechung, dass über den operativen Eingriff spätestens am Vortag aufzuklären ist. Die Aufklärung über die Anästhesie ist noch am Vorabend des Eingriffs ausreichend. Anders mag es dann sein, wenn das Anästhesierisiko das eigentliche Eingriffsrisiko darstellt. Bei ambulanten Eingriffen können die Einwilligung und, ihr vorausgegangen, die Aufklärung auch noch am Tag des Eingriffs erfolgen, jedenfalls dann, wenn es sich um normale, nichtschwerwiegende Eingriffe handelt. Aber auch dann verlangt die Rechtsprechung, dass dem Patienten noch ausreichend Zeit zur Abwägung bleibt. Konkrete Fristen hat die Rechtsprechung nicht definiert. Aber auch der ausdrückliche Wunsch des Patienten zum Zeitpunkt der Durchführung des Eingriffs ist zu berücksichtigen. Die Rechtsprechung hat anerkannt, dass es einem Arzt nicht zugemutet werden kann, einen schon zum Eingriff entschlossenen Patienten gegen dessen Willen wegzuschicken, nur um eine von diesem gar nicht gewünschte Frist zur Überlegung einzuhalten. Sichergestellt sein muss nur, dass Aufklärung und Einwilligung nicht so unmittelbar vor dem Eingriff erfolgen, dass der Patient
den Eindruck hat, sich aus dem bereits in Gang gesetzten Geschehensablauf nicht mehr lösen zu können. Die Grundsätze gelten sinngemäß auch dann, wenn nicht der Patient, sondern andere „Berechtigte“ für ihn entscheiden. ?
Wie umfangreich muss aufgeklärt werden? Die Absätze 1 und 2 des § 630d BGB verlangen, dass der Patient über Wesen, Bedeutung und Tragweite der ärztlichen Maßnahmen aufzuklären ist; er soll über Art und Bedeutung des Eingriffs informiert werden, Nebeneingriffe eingeschlossen, sowie über Nebenwirkungen und Risiken, über die Heilungschancen und über ohne den Eingriff zu erwartende gesundheitliche Folgen, das alles in einer laienverständlichen Sprache. Handelt es sich um Patienten, die der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig sind, dann muss dafür gesorgt werden, dass eine sprachkundige Person hinzugezogen werden kann. Es muss sich nicht um einen „vereidigten“ Dolmetscher handeln. Über Alternativen ist der Patient dann aufzuklären, wenn im konkreten Fall mehrere gleich indizierte Maßnahmen mit unterschiedlicher Belastung und unterschiedlichen Risiken ernsthaft zur Auswahl stehen – aber auch nur dann –, es sei denn, dass der Patient ausdrücklich nach Alternativen fragt (§ 630e Abs. 1 Satz 3 BGB). Werden Präparate „off label“ eingesetzt, wird darüber aufzuklären sein, zumindest dann, wenn es sich um einen noch nicht etablierten Off label use handelt. Von besonderer Bedeutung ist die Risikoaufklärung. Die Rechtsprechung unterscheidet zwischen den allgemeinen und den eingriffsspezifischen, typischen Risiken. Zudem hängt der Umfang der Risikoaufklärung von der Notwendigkeit und zeitlichen Dringlichkeit des Eingriffs ab. Die Rechtsprechung geht davon aus, dass der Patient bei operativen Eingriffen allgemeine Risiken in Rechnung stellt, etwa Infektionen, Thrombosen, Narbenbrüche, auch die Gefahr einer Nachblutung. Strenger sind die Anforderung der Rechtsprechung an die Aufklärung über die eingriffsspeziDer Anaesthesist · Suppl 3 · 2019
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Facharzt-Training fischen typischen Risiken, wenn diese dem Patienten unbekannt sind, und wenn sie, falls sie sich verwirklichen, ihn in seiner Lebensführung nachhaltig beeinträchtigen. Über diese Risiken ist aufzuklären, soweit der Patient nicht auf nähere Aufklärung verzichtet hat – mögen sie auch sehr selten sein. Je weniger zeitlich dringlich der Eingriff, umso detaillierter die Information. Bei zeitlich dringlichen Eingriffen steht der Umfang der Aufklärung im umgekehrten Verhältnis zur Dringlichkeit. Strengste Aufklärungspflichten, auch soweit es die Anästhesie betrifft, bestehen bei rein ästhetischen Eingriffen. Der Patient ist Herr des Aufklärungsgespräches. Er kann eine über die Rechtsprechungsgrundsätze hinausgehende, detaillierte Information einfordern, er kann aber auch – und dies regelt das Gesetz nun auch ausdrücklich – auf nähere Aufklärung verzichten, soweit er diesen Verzicht ausdrücklich erklärt (§ 630e Abs. 3 BGB). Einen wissenden, also einen bereits aufgeklärten oder sonst informierten Patienten muss der Arzt nicht oder nicht noch einmal aufklären. Hat der Patient im Rahmen der Aufklärung, etwa bei wiederholten Verbandwechseln, schon in die möglichen Folgeeingriffe eingewilligt (antizipierte Einwilligung), muss er nicht jedes Mal erneut aufgeklärt werden; vorausgesetzt, dass sich das Risikospektrum für den Patienten in der Zwischenzeit nicht verändert hat. Nichtabschließend entschieden hat die Rechtsprechung, wann eine Aufklärung „entaktualisiert“ ist. Vorsicht ist jedenfalls geboten, wenn die Aufklärung schon einige Monate zurückliegt. Immer muss aber geprüft werden, ob sich in der Zwischenzeit das Risikospektrum für den Patienten geändert hat – dann ist in jedem Fall eine erneute Aufklärung erforderlich. ? Wie unterscheidet sich die „therapeutische Aufklärung/ Sicherungsaufklärung“ von der „Selbstbestimmungsaufklärung“? Von den Aufklärungspflichten, die Voraussetzung für eine wirksame Einwilligung sind, ist die sog. Sicherheits- oder therapeutische Information zu unter-
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scheiden (jetzt § 630c Abs. 2 BGB). Bei diesen therapeutischen Informationen geht es um Hinweise, Anweisungen, Empfehlungen und Verhaltensmaßregeln, die erforderlich sind, um den Therapieverlauf zu ermöglichen und insbesondere Komplikationen zu vermeiden (also etwa Hinweise auf die Fristgebundenheit einer weiteren Behandlung, auf Probleme, wenn der Patient das Krankenhaus vorzeitig verlassen will, Beratung zur Hygiene oder zur Mobilisation bei Entlassung nach ambulanten Eingriffen etc.). Auch der Hinweis, sich bei andauernden Kopfschmerzen nach einer Spinalanästhesie rechtzeitig an einen Arzt zu wenden, damit eine erfolgreiche Therapie eingeleitet werden kann, gehört zur „therapeutischen“ Aufklärung.
genommen1. Er ließ die fernmündliche Einwilligung bei „Routineeingriffen“ wie dem oben dargestellten genügen, vorausgesetzt, dass der aufklärungspflichtige Arzt dafür gesorgt hatte, dass der Patient – bzw. die Eltern, wenn diese für das Kind entscheiden – rechtzeitig schriftliche Vorinformationen erhalten. Wird dann das angekündigte Ferngespräch durchgeführt – und dokumentiert er den Inhalt des Gespräches – ist weitere Voraussetzung, dass den Patienten/den Eltern angeboten wird, über evtl. weitere Fragen am Eingriffstag noch sprechen zu können. Grundsätzlich bleibt aber zu befürchten, dass die Rechtsprechung derzeit noch allen technisch machbaren Möglichkeiten der „Teleaufklärung“ skeptisch gegenübersteht.
?
Muss die Aufklärung schriftlich erfolgen?
? Wer muss die Aufklärung beweisen?
Wichtig zu wissen: Die Aufklärung hat in jedem Fall mündlich durch einen Arzt zu erfolgen (§ 630e Abs. 2 Satz 1 Ziff. 1 BGB). Das Gespräch ist also obligat. Die bekannten gewerblichen Aufklärungs- und Anamnesebogen unterstützen den Arzt bei der Dokumentation der Anamnese und den Inhalten der Aufklärung, sie können aber in keinem Fall das Gespräch mit dem Patienten ersetzen. Dabei gilt: Je individueller die dokumentierte Aufklärung, desto leichter fällt in einem möglichen Arzthaftungsprozess der Nachweis des Aufklärungsgespräches und seiner Inhalte. Wenn dazu einige individuelle, handschriftliche Hinweise empfohlen werden, bedeutet dies aber nicht, dass sämtliche im Bogen schon enthaltenen Risiken noch einmal handschriftlich aufgeführt werden müssten.
Da die wirksame Einwilligung nach adäquater Aufklärung ein Element der Rechtfertigung des ärztlichen Eingriffs ist, muss nach den Spielregeln des zivilrechtlichen Haftungsprozesses der Arzt beweisen, dass der Patient wirksam eingewilligt hat. Dazu wird er auch darlegen müssen, dass, wann, wie und inwieweit er den Patienten aufgeklärt hat.
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Darf auch fernmündlich aufklärt werden?
Da die mündliche Aufklärung gefordert ist, stellt sich die Frage, wie es mit der fernmündlichen Aufklärung aussieht. Das Gesetz regelt die Frage weder positiv noch negativ. Anlässlich des oben beschriebenen Sachverhalts hat im Anschluss an ein Urteil des Oberlandesgerichtes (OLG) München der Bundesgerichtshof (BGH) Stellung
? Welche Bedeutung hat eine Aufklärungspflichtverletzung in einem Haftpflichtprozess? Üblicherweise beginnt ein zivilrechtlicher Haftpflichtprozess, in dem der Patient, vertreten durch einen Anwalt, Schadensersatz, einschließlich Schmerzensgeld, einklagt, mit der Behauptung, der Patient habe einen Behandlungsfehler erlitten und daraus resultiere ein Schaden. Verteidigt der Arzt sich nun damit, es liege kein schuldhafter Behandlungsfehler vor, sondern es habe sich um ein schicksalhaftes, auch mit größter ärztlicher Sorgfalt nicht sicher beherrschbares Risiko gehandelt, gibt er damit dem Patienten/dem Rechtsanwalt das Stichwort zur „Aufklärungsrüge“. Der Patient/der Anwalt wird nun vortragen, dass über dieses Risiko hätte aufgeklärt werden müssen. Dagegen 1 BGH, MedR 2010, 857; dazu Weis E, Gaibler T [1].
kann der Arzt sich nur so verteidigen, dass er entweder behauptet, das Risiko sei nicht aufklärungspflichtig gewesen – angesichts der differenzierten Rechtsprechung eine höchst unsichere Verteidigung – oder er trägt vor, dass er den Patienten über dieses Risiko aufgeklärt hat, dies muss er dann aber beweisen. In einem evtl. Strafverfahren ist die Ausgangslage anders. Hier müssen dem Arzt Mängel der Aufklärung nicht nachgewiesen werden. Doch steht der Patient als „Kronzeuge“ zur Verfügung und erleichtert insoweit den Nachweis von angeblichen Aufklärungsmängeln erheblich. Deshalb sind Aufzeichnungen über den Inhalt der Aufklärung, zeitgerecht gefertigt, aus forensischen Gründen dringend empfohlen, obwohl die Einwilligung und die Aufklärung grundsätzlich auch mündlich wirksam, aber u. U. schwer beweisbar sind.
Zur Lösung des vorliegenden Falls Auch hier forderten die Eltern Schadensersatz und behaupteten zunächst Behandlungsfehler, die sich aber nicht beweisen ließen. Daraufhin wurde die Unwirksamkeit der Einwilligung der Eltern mangels ordnungsgemäßer Aufklärung gerügt. Hinsichtlich des Operateurs hatte dieser Einwand keinen Erfolg. Der Operateur jedenfalls hatte die Mutter adäquat aufgeklärt. Angesichts des „Bagatelleingriffs“ reichte die Aufklärung der Mutter. Auf die Problematik, ob der Vater, der nur den Aufklärungsbogen unterzeichnet hatte und mit dem kein Gespräch geführt wurde, wirksam eingewilligt hat, kam es insoweit gar nicht mehr an. Bezüglich des Anästhesisten hielt der Bundesgerichtshof (BGH) im konkreten Fall bei dem geplanten „Bagatelleingriff “ die telefonische Aufklärung des Vaters, die durch Übergabe der entsprechenden Aufklärungsbogen vorbereitet war, mit dem Angebot, über evtl. Fragen noch am Eingriffstag sprechen zu können, für ausreichend. Die Klage des Kindes, vertreten durch die Eltern, auf Schadensersatz wurde deshalb abgewiesen.
Schlüsselwörter. Intraoperative Komplikationen · Behandlungsfehler · Schadenersatz · Patientenrechte · „Informed consent“ · Arztpflichten
Korrespondenzadresse Dr. iur. E. Biermann Roritzerstr. 27, 90419 Nürnberg, Deutschland [email protected]
Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. E. Biermann gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Für diesen Beitrag wurden vom Autor keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/ oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor. The supplement containing this article is not sponsored by industry.
Literatur Verwendete Literatur 1. Weis E, Gaibler T (2010) BGH: Telefonische Aufklärung bei „Routineeingriffen zulässig/ Einwilligung bei minderjährigen Patienten, BDAktuell JUS-Letter September. Anästh Intensivmed 2010(51):503–505
Weiterführende Literatur 2. Biermann E. In Kretz F-J et al, Anästhesie bei Kindern, 3. Aufl. Thieme 2017, Kapitel 11 3. Biermann E. In Ulsenheimer K, Arztstrafrecht in der Praxis, 5. Auflage C F Müller 2015, Kapitel 1 Teil 1 V (Neuauflage in Vorbereitung) 4. Biermann E, Weissauer W. In Rossaint R et al, Die Anästhesiologie, 4. Auflage, Springer 2019, Kapitel 163 5. Biermann E, Wilhelm W. In Wilhelm W, Praxis der Anästhesiologie, Springer 2018, Kapitel 62.2 6. Landesärztekammer Baden-Württemberg Merkblatt Die Aufklärungs- und Informationspflichten des Arztes
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Der Anaesthesist Facharzt-Training Anaesthesist 2019 · 68 (Suppl 3):S226–S229 https://doi.org/10.1007/s00101-019-00688-3 Online publiziert: 28. November 2019 © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019
J. Claußen1 · G. Breuer2
Redaktion A. Heller, Augsburg G. Breuer, Coburg
75/m mit Pankreaskarzinom für Whipple-Operation
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Fakultät für Soziale Arbeit und Gesundheit, Hochschule Coburg, Coburg, Deutschland Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin, Regiomed Klinikum Coburg, Lehrkrankenhaus, Universität Split, Coburg, Deutschland
Vorbereitung auf die Facharztprüfung: Fall 31 Fallschilderung für den Prüfungskandidaten Sie sind in der Allgemeinchirurgie für eine Operation nach Whipple bei einem Patienten mit bekanntem Pankreaskarzinom eingeteilt. Die Anlage des thorakalen Periduralkatheters für den 75jährigen Patienten (Körperlänge 170 cm, Körpergewicht 90 kg) auf Höhe von Th9 gestaltet sich aufgrund einer vorbekannten Skoliose schwierig, gelingt Ihnen jedoch schließlich mithilfe einer paramedianen Punktionstechnik. Der Operateur betritt während der problemlosen Intubation erneut den Einleitungsraum und beklagt sich über die deutlich fortgeschrittene Zeit. Für die Anlage der invasiven Blutdruckmessung in der A. radialis aufgrund schwieriger Punktionsverhältnisse benötigen Sie das Ultraschallgerät, was den Operateur wiederum zu der Aussage verleitet, dass dies doch alle anderen Anästhesisten schneller und ohne Sonographie können würden. Sie reagieren gereizt, als es intraoperativ zu EKG-Veränderungen, vermehrten ventrikulären Extrasystolen und einer hämodynamischen Verschlechterung beim Patienten kommt. Sie sprechen den Operateur auf diesen Umstand hin mit den Worten an: „Na, das war ja klar, dass während der Operation mit Ihnen noch andere Probleme auftreten.“
Thematik Der folgende Fragenkomplex bezieht sich auf: 4 die Kommunikation als wichtigen Bestandteil der Patientensicherheit, 4 Fehlermöglichkeiten und Risiken mangelnder Kommunikation, 4 Lösungen für eine bessere perioperative Kommunikation.
Prüfungsfragen 4 Warum ist es auch im anästhesiologischen
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Umfeld wichtig, bewusst zu kommunizieren, und was sind die verschiedenen Ebenen der Kommunikation? Was sind Barrieren für eine erfolgreiche kommunikative Zusammenarbeit, und wie können diese abgebaut werden? Was versteht man unter „debriefing“? Warum lohnt es sich, in eine vertrauensvolle Beziehung zu seinem Team zu investieren? Wie können vertrauensvolle Beziehungen zu den Teampartnern aktiv gestaltet werden? Wie entstehen Missverständnisse, und warum müssen sie verhindert werden? Wie kann unmissverständlicher kommuniziert werden?
D Antworten ? Warum ist es auch im anästhesiologischen Umfeld wichtig, bewusst zu kommunizieren, und was sind die verschiedenen Ebenen der Kommunikation? Eine gestörte Kommunikation oder Beziehungsebene ist keine Bagatelle, sondern stört in hohem Maße die professionelle Zusammenarbeit in Teams und führt schlussendlich zu einer Beeinträchtigung der Patientenversorgung [7]. In dem vielfältigen Aufgabenfeld des Anästhesisten lohnt es daher, sich mit derartigen Aspekten auseinanderzusetzen. Dabei gilt immer: „Man kann nicht nicht kommunizieren“ [5]. Mit diesem 1. Axiom von Watzlawick wird deutlich gemacht, dass überall, wo sich Menschen befinden, kommuniziert wird, egal, ob es beabsichtigt ist oder nicht [5]. In Gruppen oder Teams, die Leistung erbringen müssen und gemeinsam Ziele erreichen wollen, ist es deshalb von großer Bedeutung, zwischenmenschliche Kommunikation nicht zufällig passieren zu lassen. Nur, wenn die Teammitglieder bewusst miteinander kommunizieren, kann ein Team funktionieren und hohe Leistung erbringen [1]. Mangelnde Kommunikation oder Fehlkommunikation fördert Missverständnisse, die im klinischen Alltag denkbar leicht zu gefährlichen und schwerwiegenden Fehlern führen und zusätzlich sowohl finanzielle als auch persönliche Ressourcen kosten könnten. Es lohnt sich also in jedem Fall, sich selbst in Bezug auf seine Kommunikationsmuster zu reflektieren und Schritte hin zu einer bewussteren Kommunikation zu gehen. Watzlawick unterscheidet des Weiteren in seinem 2. Axiom zwischen der Sachund der Beziehungsebene einer Aussage [5]. Dies bedeutet, dass es sich nicht nur um eine reine Informationsübermittlung handelt, sondern der emotionale Beziehungsaspekt ebenso eine entscheidende Rolle spielt. Auf dieser Ebene macht der Sender die Beschaffenheit der Beziehung deutlich, und wie er verstanden werden möchte. Der Aspekt der Beziehungsdefinition verliert an Relevanz, wenn diese stabil, gesund und vertrauensvoll ist.
Ist sie jedoch vorbelastet, wird die Beziehungsebene einer Aussage verstärkt wahrgenommen und beispielsweise eher als Angriff oder Rechtfertigungsversuch verstanden. Schulz van Thun fügt diesen zwei Ebenen noch die Ebenen der „Selbstoffenbarung“ und die des „Appells“ hinzu. Eine Nachricht kann demnach vier Botschaften enthalten. Welche Seite der Nachricht dominant ist, hängt davon ab, was der Sender dem Empfänger mitteilen möchte. Genauso ist es aber vom Empfänger abhängig, welche Botschaft er hört bzw. mit welchem „Ohr“ er die Nachricht zu verstehen versucht [4]. ?
Was sind Barrieren für eine erfolgreiche kommunikative Zusammenarbeit, und wie können diese abgebaut werden?
Barrieren für eine erfolgreiche kommunikative Zusammenarbeit sind oft multifaktoriell. Vorurteile oder feindselige Einstellungen gegenüber bestimmten Personen oder Gruppen blockieren Kommunikation. Die Haltung, mit seinen Teammitgliedern in einem „konfrontativen Wettbewerb“ zu stehen, erschwert eine konstruktive Zusammenarbeit im Team und schafft einen Nährboden für Kommunikationsfehler und Missverständnisse [6]. Genauso können Hierarchie- und Statusdenken sowie Ängste und Unsicherheiten einen erfolgreichen Kommunikationsfluss stören [6]. Welche „Kultur“ innerhalb eines Teams oder einer Organisation herrscht, gestalten nicht nur die Führungskräfte, sondern alle beteiligten und handelnden Personen mit [6]. Es hilft, sich bewusst zu werden, dass die Barrieren, die die interpersonelle Kommunikation blockieren, von Menschen gemacht wurden und deshalb auch von Menschen entfernt werden können [6]. Hierfür ist es wichtig, diese zunächst zu identifizieren und zu benennen. Indem gemeinsam „in den Helikopter gestiegen“ und die interpersonelle Kommunikation auf der Metaebene analysiert wird, können diese Barrieren erkannt, reflektiert und anschließend abgebaut werden. Dies setzt jedoch vo-
raus, dass die Kooperationspartner die Bereitschaft zeigen, ihre Gewohnheiten und verfestigten Strukturen zu überdenken und zu verändern. Es kann hilfreich sein, bewusst Gelegenheiten zu schaffen, in denen Metakommunikation möglich ist [2]. Das „debriefing“ bietet hierfür solche Gelegenheiten. ? Was versteht man unter einem Debriefing? Debriefing ist eine Methode, eine Situation oder Erfahrung strukturiert mit allen Teammitgliedern nachzubesprechen, die diese Situation erlebt haben. Mithilfe eines Debriefing können sämtliche Erfahrungen, gleich, ob diese positiv oder negativ sind, eingeordnet und reflektiert werden. Solche Debriefings sollten mindestens nach jeder kritischen und belastenden Situation erfolgen, können aber auch niederschwelliger nach beispielsweise jeder Operation durchgeführt werden. Folgende Elemente sollten besprochen werden: 4 subjektive Wahrnehmungen über den gesamten Zeitraum der einzelnen Teammitglieder. 4 Was war gut, und was war nicht optimal (sowohl fachliche Aspekte, aber auch Verhalten und Kommunikation)? 4 Welche Verbesserungen und Notwendigkeiten lassen sich hieraus für die Zukunft ableiten (konstruktiver Ausblick)? ? Warum lohnt es sich, in eine vertrauensvolle Beziehung zu seinem Team zu investieren? Freundlichkeit und Vertrauen gelten als ausgesprochen wichtige Faktoren für eine gelingende Zusammenarbeit von Menschen. Verhalten sich Menschen miteinander freundlich, humorvoll und positiv, wird die Arbeit i. Allg. als leichter und angenehmer empfunden [6, 7]. Aber nicht nur mit Blick auf das persönliche Erleben der Zusammenarbeit hat ein vertrauensvolles Miteinander einen enormen Wert. Kooperationspartner, die ein vertrauensvolles Verhältnis zueinander Der Anaesthesist · Suppl 3 · 2019
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Facharzt-Training Tab. 1 Zusammenfassung einer guten Kommunikation, insbesondere in kritischen Situationen. (Nach St. Pierre et al. [8]) Kongruent kommunizieren
Kongruenz zwischen Botschaft der Sprache und nonverbaler Begleitkommunikation
Gleiche Aspekte einer Botschaft selektieren
Steht eine Sachbotschaft im Mittelpunkt, sollte auch der Empfänger mit dem „Sach-Ohr“ hören
Störungen der Kommunikation zum richtigen Zeitpunkt ansprechen
Manchmal scheitert Kommunikation daran, dass eine Beziehungsstörung auf der Sachebene ausgetragen oder eine Auseinandersetzung auf Beziehungsebene vermieden wird, indem man vorgibt, es gäbe nur eine sachliche Kommunikation
Eine klare Sprache sprechen
Mehrdeutigkeit vermeiden und Probleme laut vortragen
Kommunikationsschleife schließen
Beim „read back“ wiederholt der Empfänger das von ihm Verstandene laut und verständlich
Teammitglieder einweisen/„briefen“
Dies kann vor einer besonderen Maßnahme, Operation, Prozedur oder während Phasen geringerer Arbeitsbelastung erfolgen (z. B. „OP-Team-Time-Out“)
Informationen aktiv suchen
Nachfragen ist selbst bei nur geringem Zweifel oder Missverständnis wichtig, auch wenn es als unangenehm empfunden wird (z. B. Anfänger, die naturgemäß häufiger nachfragen müssen). Es gilt auch, aktiv nach Informationen zu suchen, die die eigenen Annahmen/Diagnosen widerlegen
Positionen vertreten
Es ist für eine gemeinsame Lösung wichtig, eigene Standpunkte zu vertreten. Ziel ist es, dass jeder seinen Standpunkt sorgfältig überdenken soll, bevor gemeinsam Entscheidungen getroffen werden
Bedenken äußern
Auch entgegen einem möglichen „Hierarchiegefälle“ müssen alle Bedenken geäußert und gehört werden („speaking up“)
Aktives Zuhören und Bei aktivem Zuhören akzeptiere ich die Person des Sprechers und trage Unterstützen von selbst dafür die Verantwortung, mein Gegenüber verstanden zu haben Teammitgliedern
entwickelt haben, kommen gemeinsam schneller zum Ziel und weisen eine erhöhte Flexibilität auf [6]. Vertrauen führt Menschenzusammen, was auchdazu beiträgt, dass die Arbeitsbeziehung Herausforderungen und Krisen besser aushalten kann [6]. Daraus lässt sich schließen, dass für Teams, die den Anspruch haben, maximale Qualität in extremen Situationen zu erreichen, ein vertrauensvoller und freundlicher Umgang unabdingbar ist. ? Wie können vertrauensvolle Beziehungen zu den Teampartnern aktiv gestaltet werden? Eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung aufzubauen, bedeutet Arbeit und Investition. Vertrauen ist nicht statisch. Menschen analysieren ständig ihre Umwelt und kalkulieren, ob sie den Personen, die sie umgeben, vertrauen können [1]. Vertrauen aufzubauen setzt Empathie voraus und die Bereitschaft, sich selbst zurückzunehmen [1]. Gemeinsam vulnerabel zu sein und Fehler zugeben zu können,
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ist die Basis für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit, die zu Hochleistung fähig ist [1]. Hierfür ist es zunächst wichtig, sich überhaupt als Menschen und nicht nur als Funktionsträger wahrzunehmen und miteinander ins Gespräch zu kommen [6]. „Die freundliche Bemerkung, der kurze Plausch, eine persönliche Nachfrage sind in diesem Sinne keine Zeitverschwendung, sondern vertrauensbildende Maßnahmen“ [6]. Auch direkter Augenkontakt sowie ein fröhlicher und freundlicher Blick können die Arbeitsbeziehung bereichern. Außerdem hat es einen positiven Effekt auf die Vertrauenswürdigkeit eines Menschen, wenn er die „Sprache des Vertrauens“ [6] spricht, aber auch sich selbst vertrauenswürdig verhält. Das bedeutet, Anonymität zu reduzieren, Verschwiegenheit und Ehrlichkeit zu praktizieren sowie seine Zusagen und Versprechen einzuhalten. Menschen fällt es leichter, anderen zu vertrauen, wenn Hintergründe für das eigene Verhalten offengelegt
werden und die Bereitschaft gezeigt wird, die andere Person verstehen zu wollen [6]. Ebenso sind direkte Kommunikation, Zuhörenkönnen, Berechenbarkeit, Mut zu unpopulären Entscheidungen und das Eingestehen eigener Fehler Eigenschaften, die eine vertrauensvolle Zusammenarbeit fördern. Andererseits wird das Vertrauen beispielsweise durch abwertende Äußerungen, mangelndes Lob, manipulatives Einsetzen von Informationen oder das Weitererzählen vertraulicher Informationen zerstört [6]. ?
Wie entstehen Missverständnisse, und warum müssen sie verhindert werden? Missverständnisse können beispielsweise unter ungünstigen Bedingungen (Stress, Lärm, Ablenkung etc.) durch sprachliche Mehrdeutigkeit entstehen. So sind Sätze wie „Gib bitte nochmals einen Bolus von 0,1 mg Epinephrin“ klarer verständlich als „Gib nochmal was Supra . . . .“. Tatsächlich können Sätze wie „Es gibt noch ’ne Notsectio“ als „Es gibt noch ’ne Sectio“ missverstanden werden (beachte: wahre Begebenheit). Die klare Formulierung und besonders das „read back“, also das Wiederholen des Empfängers („o.k., ich gebe nochmals 0,1 mg Epinephrin“) hilft, die Kommunikationsschleife zu schließen. Gerade bei Berufsanfängern, Wiedereinsteigern, berufsgruppenübergreifender Kommunikation, aber auch durch die zunehmende Zahl von Kolleginnen und Kollegen, die Deutsch nicht als Muttersprache gelernt haben, ist dieses Read back ein wichtiger Sicherheitsaspekt. Interpersonelle Kommunikation bedeutet das In-Beziehung-Treten von Sender und Empfänger, sodass eine Möglichkeit zur direkten Verständigung entsteht [2]. Auf dem Weg der Informationsvermittlung können Informationen ganz oder teilweise verloren gehen, und die Aussage kann dadurch in verfälschter Art und Weise bei dem Empfänger ankommen. So werden vom Empfänger beispielsweise nur bestimmte Informationen ausgewählt, Teile der Aussage unterschiedlich stark gewertet, Informationsteile ignoriert und Informationslücken ausgefüllt, die nicht zu der eigenen Interpretation passen [3]. Um es mit den
Worten des österreichischen Verhaltensforschers Konrad Lorenz (1903–1989) zu sagen: „Gedacht ist nicht immer gesagt, gesagt ist nicht immer richtig gehört, gehört heißt nicht immer richtig verstanden, und verstanden heißt nicht immer einverstanden, einverstanden heißt nicht immer angewendet, angewendet heißt noch lange nicht beibehalten“. Bis eine gemeinte Information beim Empfänger ankommt und von ihm verstanden und umgesetzt wurde, gibt es also viele Kommunikationsschritte, in denen ein Missverständnis entstehen kann. Gerade in Settings, in denen Missverständnisse ein Leben kosten können, wie es im Fach Anästhesiologie der Fall ist, müssen diese unbedingt vermieden werden. ? Wie kann unmissverständlicher kommuniziert werden? Um Missverständnisse zu vermeiden, ist es notwendig, sich als Sender einer Nachricht bewusst zu werden, dass man zunächst selbst dafür verantwortlich ist, verstanden zu werden [3]. Fühlt sich der Sender missverstanden, liegt es primär in seiner Hand, diese Kommunikationsfehler zu erkennen und zu beheben. Er kann nachfragen und anschließend so kommunizieren, dass die gemeinte Nachricht beim Empfänger ankommt [3]. Aber auch als Empfänger ist es von großer Bedeutung nachzufragen, wenn vermutet wird, dass die Nachricht des Senders nicht korrekt verstanden wurde. Ängste oder Stolz können beispielsweise verhindern, dass sich der Sender oder der Empfänger nicht traut, Rückfragen zu stellen. Hierbei kann es helfen, seine eigenen Ängste oder seinen Stolz zu reflektieren und sich bewusst zu machen, welche Gefahren im klinischen Alltag von einer missverstandenen Informationsübertragung ausgehen können. Es können jedoch u. a. folgende Aspekte beachtet werden, um unmissverständlicher zu kommunizieren: Ein Aspekt betrifft die Art und die Menge an Informationen. Das bedeutet gerade in Notfallsituationen, Fachbegriffe zu reduzieren sowie Aussagen einfacher zu formulieren und auf das Wesentliche zu kürzen [3]. Auch auf die Anschaulichkeit und Strukturierung einer Aussage kann geachtet werden. Aussagen können bei
Bedarf mit Beispielen und Vergleichen verständlicher gemacht und sollten vom Allgemeinen zum Speziellen strukturiert werden. Generell ist es wichtig, sich auf seinen Gesprächspartner mit seinem Wissen, seiner Erfahrung und seiner Persönlichkeit einzustellen und dies bei der Informationsübertragung zu beachten [3]. Als Folge einer gestörten Kommunikation entstehen unterschiedliche „mentale Modelle“, wenn Teammitglieder ihre Beobachtungen, Bewertungen und Erwartungen bezüglich des weiteren Verlaufs einer Situation nicht mitteilen [8]. Ein Team ist dann zwar noch am gleichen Patienten tätig, es werden aber teils völlig unterschiedliche Probleme behandelt. Hier hilft v. a. in unübersichtlichen Situationen eine Art „Teampause“, die einen Austausch über aktuelle Beobachtungen und das weitere Prozedere ermöglicht (z. B. „10 s for 10 min“ oder „OP-Team-Time-Out“). Einen Überblick über wichtige Aspekte der Kommunikation, insbesondere in kritischen und unübersichtlichen Situationen, gibt . Tab. 1. Auch für den anästhesiologischen Alltag gilt also: Je stärker das Vertrauen und je positiver die Beziehung zwischen den Gesprächspartnern, desto geringer ist die Gefahr, dass Missverständnisse entstehen [6, 7]. Beziehungsarbeit zwischen den Gesprächspartnern ist also eine lohnenswerte Investition hin zu einer unmissverständlicheren Kommunikation.
Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor. The supplement containing this article is not sponsored by industry.
Literatur Verwendete Literatur 1. Coyle D (2018) The culture code. Bantam Books, New York 2. Frey D, Bierhoff H-W (2011) Sozialpsychologie – Interaktion und Gruppen. Hogrefe, Göttingen 3. Meier R (2012) Kommunikation, 4. Aufl. Gabal Verlag, Offenbach am Main 4. Schulz van Thun F (1999) Miteinander Reden Bd. 1–3. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 5. Wazlawick P (2000) Menschliche Kommunikation. Huber, Bern 6. Wiek U (2015) Zusammenarbeit fördern. Springer, Berlin, Heidelberg 7. Katz D, Blasius K, Isaak R et al (2019) Exposure to incivility hinders clinical performance in a simulated operative crisis. BMJ Qual Saf 28:750–757 8. St.PierreMetal(2011)Notfallmanagement,2.Aufl. Springer, Berlin/Heidelberg
Weiterführende Literatur 9. Blanz M, Florack A, Piontkowski U (2014) Kommunikation – Eine interdisziplinäre Einführung. Kohlhammer, Stuttgart 10. Newberg A, Waldman MR (2013) Die Kraft der mitfühlenden Kommunikation. Kailash, München
Schlüsselwörter. Perioperative Versorgung · Kommunikation · Kooperation · „Critical incident stress debriefing“ · Patientensicherheit
Korrespondenzadresse PD Dr. G. Breuer Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin, Regiomed Klinikum Coburg, Lehrkrankenhaus, Universität Split Ketschendorfer Str. 33, 96450 Coburg, Deutschland [email protected]
Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. J. Claußen und G. Breuer geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
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Der Anaesthesist Facharzt-Training Anaesthesist https://doi.org/10.1007/s00101-019-00696-3 © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Redaktion A. Heller, Augsburg G. Breuer, Coburg
C. Neuhaus1 · E. Falla2 · G. Breuer2 1
Klinik für Anästhesiologie, AG Patientensicherheit & Simulation, Universitätsklinikum Heidelberg, Heidelberg, Deutschland 2 Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin, Regiomed Klinikum Coburg, Lehrkrankenhaus der Universität Split, Coburg, Deutschland
76/m Totalendoprothese der Hüfte Vorbereitung auf die Facharztprüfung: Fall 32 Fallschilderung für den Prüfungskandidaten Sie betreuen einen Patienten (Alter 76 Jahre, Körpergewicht 74 kg) bei einer Totalendoprothese der Hüfte in Allgemeinanästhesie. Etwa 5 min nach Zementierung der Prothese und Reposition der Hüfte, zu der die Anästhesiepflegekraft zum Gegenzug am Oberkörper aufgefordert wurde, bemerken Sie bei dem Patienten einen schnellen und gravierenden Sauerstoffsättigungsabfall unter 30 % mit deutlicher Zyanose. Die Kontrolle mithilfe der Kapnographie zeigt ebenfalls keinen normalen Kurvenverlauf und endtidale Werte unter 10 mm Hg ohne Atemvariabilität. Sie informieren umgehend den zuständigen Oberarzt und rufen ihm bereits in der Türe Ihre Arbeitsdiagnose zu: „Wir haben eine Palacos-Reaktion nach Zementapplikation!“. Dies hatten Sie kürzlich in einem Weiterbildungsbeitrag von Der Anästhesist gelesen. Der Oberarzt kommentiert dies nach einem prüfenden Blick auf den Monitor mit einem knappen „da bin ich mir nicht so sicher“ und verlangt umgehend nach einem Laryngoskop.
Thematik Der folgende Fragenkomplex bezieht sich auf: 4 das „crew resource management“ (CRM), 4 die Patientensicherheit und die Abgrenzung zum Risikomanagement, 4 den Umgang mit Fehlermöglichkeiten im anästhesiologischen Umfeld, 4 Lösungen bezüglich einer besseren Aufmerksamkeit im perioperativen Setting, 4 „anaesthetists’ non-technical skills“ (ANTS).
Prüfungsfragen 4 Wie gehen Sie in der Situation der obigen
Fallbeschreibung weiter vor? 4 Wie vermeiden Sie sog. Fokussierungsfeh-
ler wie im obigen Beispiel? 4 Was verstehen Sie unter dem Begriff
Patientensicherheit? 4 Kennen Sie die Inhalte der „Deklaration
von Helsinki“? 4 Kennen Sie ein Modell zur Klassifizierung
von menschlichem Verhalten und lassen sich hiermit Fehler „analysieren“? 4 Man spricht auch von Anaesthetists’ non-technical skills. Was stellen Sie sich hierunter vor? 4 Warum sind Checklisten hilfreich und nicht nur in der Luftfahrt wichtig anzuwenden? Der Anaesthesist
Facharzt-Training D Antworten ? Wie gehen Sie in der Situation der obigen Fallbeschreibung weiter vor? Bei mittlerweile tiefem Sauerstoffsättigungsabfall und ausgeprägter Zyanose des Patienten ist ein rasches und strukturiertes Vorgehen erforderlich. Die Oxygenierung des Patienten muss umgehend wiederhergestellt werden, um einen hypoxischen Kreislaufstillstand zu vermeiden. Das fehlende endtidale Kohlenstoffdioxid (etCO2) ohne Atemvariablität legt eine Tubusdislokation nahe. Neben der Abarbeitung verschiedener Differenzialdiagnosen muss bei einer drohenden Hypoxie immer umgehend die Tubuslage verifiziert werden, idealerweise mithilfe der direkten Laryngoskopie. Die reine Auskultation ist kein sicheres Untersuchungsverfahren, da auch bei einer pharyngealen oder ösophagealen Dislokation atemsynchrone Geräusche erzeugt werden können. Zum weiteren, strukturierten Abarbeiten bei einer Beatmungsbzw. Oxygenierungsproblematik eignet sich das Akronym „DOPES“; dieses hilft, „Fokussierungsfehler“ zu vermeiden: 4 Ausschluss einer Dislokation, Diskonnexion, 4 Ausschluss von Obstruktion (Sekretverhalt, Abknicken von Tubus/ Beatmungsschläuchen), 4 Ausschluss pulmonaler Ursachen (Pneumothorax, Broncho-/ Laryngospasmus, Lungenembolie), 4 Überprüfung des Equipments (Sauerstoffversorgung, Beatmungsgerät, Schlauchsystem),
Schadenseintritt
4 Ausschluss einer Mageninsufflation,
-überblähung: „stomach“ (insbesondere bei Kindern). Der entscheidende zweite Schritt nach Überprüfung der korrekten Tubuslage ist die manuelle Beatmung mithilfe eines Handbeatmungsbeutels ohne Filter. Hierdurch kann in kürzester Zeit erfasst werden, ob das Problem „patientenseitig“ oder im Bereich des Beatmungsgeräts/Equipments liegt. Bessert sich die Oxygenierung, können Beatmungsgerät, Schlauchsystem und Filter auf mögliche Ursachen (Obstruktion, Fehlfunktion, Abknicken etc.) untersucht werden. Besteht das Problem weiterhin, können die möglichen patientenseitigen Differenzialdiagnosen eingegrenzt werden. Im konkreten Fall kam es vermutlich durch den Zug am Oberkörper zur Dislokation des Tubus. Der Patient muss schnellstmöglich oxygeniert (Cave: nicht intubiert) werden. Da die Vorbereitung einer Reintubation oft zu viel Zeit in Anspruch nimmt, geschieht dies am besten durch Maskenbeatmung mit einem hohen Sauerstoff-Flow. Alternativ kann initial auf eine Larynxmaske zurückgegriffen werden. Im weiteren Verlauf muss der Atemweg wieder definitiv gesichert werden. ?
Wie vermeiden Sie sog. Fokussierungsfehler wie im obigen Beispiel?
Das Wiedererkennen von Mustern und Situationen spielt eine zentrale Rolle in der Funktionsweise unseres Ge-
unerwünschtes Ereignis
CRITICAL INCIDENT
Beinaheschaden
Der Anaesthesist
„near miss“
Abb. 1 9 Kritische Ereignisse inderMedizin
hirns (sog. Heuristiken). Im oben genannten Fall hat die Kombination aus „Hüftzementierung“ und „Sauerstoffsättigungsabfall“ sofort und ohne bewusstes Nachdenken zur – durchaus möglichen – Arbeitsdiagnose „Palacos -Reaktion“ geführt. Im Gegensatz zu einem langsamen, bewussten Denkprozess mit Abwägung von Argumenten (pro und kontra) gewährleistet dieser intuitive Vorgang eine relativ schnelle Informationsverarbeitung, nimmt aber eine gewisse Fehleranfälligkeit in Kauf. Die Gefahr besteht darin, sich zu schnell sicher in der Arbeitsdiagnose zu sein, dass alle möglichen Alternativen ausgeblendet und nicht weiterverfolgt werden; man fokussiert sich also auf die plausibelste Erklärung. Folgende Strategien können eingesetzt werden, um diesen Fokussierungsfehler zu vermeiden: 4 Einbeziehen aller Informationen: Bevor eine Verdachtsdiagnose formuliert wird, sollten alle möglichen Informationen gesammelt werden; so kann das Bild der vorliegenden Situation vervollständigt werden. 4 Einbinden des Teams: Die aktive Kommunikation mit anderen Teammitgliedern („Ich vermute eine Palacos -Reaktion, aber was denkt Ihr? Fällt Euch eine Alternative ein?“) integriert verschiedene Sichtweisen, Wissensstände und Erfahrungen und reduziert die Wahrscheinlichkeit eines Fokussierungsfehlers. 4 Advocatus Diaboli: Nach Festlegung auf eine Arbeitsdiagnose einmal bewusst überlegen, was gegen dieses Diagnose sprechen würde. 4 Engmaschige Reevaluation: Je akuter die Situation ist, desto schneller handeln Menschen trotz inkompletter Informationen. Umso wichtiger ist es, in kurzen Zeitabständen die Situation zu reevaluieren und das eigene Handeln zu überprüfen. Optimalerweise sollte das gesamte Behandlungsteam kurz gemeinsam überlegen, ob die Verdachtsdiagnose noch plausibel erscheint und das weitere Handeln koordinieren. Hierfür
®
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Tab. 1
Deklaration von Helsinki [3]
1.
Alle Einrichtungen, die an der perioperativen, anästhesiologischen Versorgung von Patienten in Europa beteiligt sind, sollen den Minimalstandard für die Sicherheit und Qualität in der Anästhesie, wie er vom European Board of Anesthesiology für Operationseinheiten und Aufwachräume empfohlen wird, einhalten
2.
All diese Einrichtungen sollen über die Handlungsanweisungen und Voraussetzungen verfügen, um Folgendes zu beherrschen – Überprüfung von Geräten und Medikamenten
(Mensch und Mensch, Mensch und Maschine, Maschine und Maschine) berücksichtigt werden. Dies verdeutlicht, dass nicht nur die Technik, sondern v. a. die Prozesse und damit der „Faktor Mensch“ („human factors“) auch bei der Definition „Patientensicherheit“ eine entscheidende Rolle spielen.
– Präoperative Untersuchung und Vorbereitung – Aufkleber zur Kennzeichnung von Spritzen – Schwierige bzw. misslungene/unmögliche Intubation – Maligne Hyperthermie – Anaphylaxie – Intoxikation durch Lokalanästhetika – Massive Blutungen – Infektionskontrolle/Hygiene – Postoperative Überwachung, einschließlich Schmerztherapie 3.
Alle Einrichtungen, die Sedierungen von Patienten durchführen, müssen die von der Anästhesiologie anerkannten Standards für sichere Sedierungsmaßnahmen erfüllen
4.
Alle Einrichtungen sollen die Kampagne der Weltgesundheitsorganisation (WHO) „Safe Surgery Saves Lives“ (Sichere Chirurgie schützt Leben) unterstützen und die entsprechende WHO-Checkliste anwenden
5.
Alle Anästhesieabteilungen in Europa müssen in der Lage sein, einen jährlichen Bericht über die ergriffenen Maßnahmen und deren Ergebnisse zur Erhöhung der Patientensicherheit abzugeben
6.
Alle Anästhesieabteilungen müssen die verfügbaren Daten zu Patientenmorbidität und -mortalität erheben und hierüber jährlich berichten
7.
Alle Einrichtungen müssen die anerkannten nationalen oder andere wichtige Patientensicherheits- und Fehlermeldungssysteme („critical incidence reporting systems“, CIRS) anwenden. Die entsprechenden Ressourcen müssen zur Verfügung gestellt werden
kann ein kurzes „briefing“ („10-for10“) durchgeführt werden. ?
Was verstehen Sie unter dem Begriff Patientensicherheit? Unter dem Begriff „Patientensicherheit“ werden alle Prozesse zusammengefasst, die mit der Prävention und der Vermeidung sog. unerwünschter Ereignisse (UE [„adverse events“, AE]) in der Patientenversorgung im Zusammenhang stehen. Tritt ein Zwischenfall in einer Gefährdungssituation auf, wird dies als kritisches Ereignis („critical incident“) bezeichnet. Folgt daraus ein (Patienten-)Schaden, spricht man von einem UE; bleibt der Zwischenfall ohne Schaden von einem Beinaheschaden („near miss“). Diese können vermeidbar und unvermeidbar sein . Abb. 1). Als Risiko bezeichnet man das Produkt aus der Eintrittswahrscheinlichkeit und dem Ausmaß (Schweregrad)
eines Schadens. Trotz thematischer Überschneidungen ist der Begriff der Patientensicherheit klar von dem der „Versorgungsqualität“ abzugrenzen. Die Versorgungsqualität beschäftigt sich mit der Erbringung der Leistungen in der Patientenversorgung in einer konstanten Güte und fokussiert damit auf den Routinebetrieb [1], unter dem Begriff „Patientensicherheit“ subsumierte Anstrengungen fokussieren auf die Vermeidung von Gefährdungen und Zwischenfällen [2] sowie die Vermeidung oder Minimierung von Risiken. Das Ziel liegt im Design eines adaptiven und intelligenten Versorgungssystems, das neu auftretende Risiken erkennen und durch Maßnahmen zur Risikobeherrschung negative Konsequenzen für die Patienten vermeiden oder zumindest abmildern kann. Immer müssen das gesamte soziotechnische System, also alle beteiligten Personen, die zu verwendende Technik und deren Interaktionen
?
Kennen Sie die Inhalte der „Deklaration von Helsinki“? Durch die European Society of Anaesthesiology (ESA) [3] wurden 2010 mit der Deklaration von Helsinki für den Bereich der perioperativen Medizin, Intensiv- und Notfallmedizin sowie der Schmerztherapie Empfehlungen und Ziele zur Etablierung einer Sicherheitskultur definiert (. Tab. 1). Mittlerweile existieren eine Vielzahl von Theorien, Modellen, Methoden und Werkzeugen, die die fehlerfreie und sicherheitsorientierte Patientenversorgung ermöglichen bzw. erleichtern sollen. Die Herausforderung liegt darin, all diese zu einem funktionierenden, synergistischen Risikomanagementkonzept zusammenzufügen, das die jeweiligen Stärken und Schwächen der einzelnen Elemente kennt und berücksichtigt. ? Kennen Sie ein „Fehlermodell“ und lassen sich hiermit Fehler „analysieren“? Das in der Medizin bekannteste und am häufigsten angeführte Fehlermodell ist das bildlich als „Schweizer Käse“ bezeichnete Modell des Psychologen Reason [4]. Das Modell basiert auf der Annahme, dass in komplexen Systemen mehrere Faktoren zusammentreffen müssen, bevor ein Ereignis zu einem Schaden führt. Hierin werden 4 aufeinander aufbauende Ebenen der Fehlerentstehung beschrieben (. Abb. 2). Charakteristisch ist die Unterscheidung in aktive Fehler (die durch den primären Akteur, z. B. Arzt, Pflegekraft etc., begangene sicherheitsrelevante Handlung) und latente Fehler, die auf persönlichen, organisatorischen oder hierarchischen Ebenen schlummern und bei der primären Zwischenfallanalyse häufig übersehen werden. Diese multiplen Faktoren bilden Schwachstellen in Sicherheitsebenen, die bildlich mit „Löchern in Käsescheiben“ verglichen Der Anaesthesist
Facharzt-Training
Organisatorische Einflüsse
Sicherheitsrelevantes Führungsverhalten
Voraussetzung für sicherheitsrelevante Handlung
Sicherheitsrelevante Handlung
• Ressourcenmanagement
• Unzureichende Führung
• Umgebungsbedingungen
• Fehler
• Abteilungs-/Organisationsklima
• Kalkuliert ungünstiger Arbeitsablauf
• Zustand des Personals
• Verstöße
• Operationeller Prozess
• Persönliche Faktoren • Bekanntes unkorrigiertes Problem • Bewusster Regelverstoß
Abb. 2 9 Fehlermodell nach Reason. (Aus Neuhaus [15])
werden. Bei einer ungünstigen Kombination mehrerer derartiger Schwachstellen kann ein Fehler ein komplexes System erst durchdringen, ohne dass eine der Sicherheitsebenen greift. Obwohl Reason mit seinem Modell das klassische Fehlerverständnis revolutionierte, eignet sich die Theorie nicht zur Analyse realer Zwischenfälle. Den theoretischen Lücken im System muss hierfür zunächst ein Katalog realer Sicherheitsrisiken zugeordnet werden, damit in der Praxis ablaufende Prozesse untersucht werden können. Aus diesem Grund entwickelten Shappell und Wiegmann das darauf aufbauende „Human Factors Analysis and Classification System“ (HFACS, [5]). Dieses ursprünglich für die Analyse von Flugunfällen konzipierte Werkzeug untersucht alle 4 von Reason beschriebenen Ebenen der Fehlerentstehung anhand fester Kategorien und Unterkategorien und ermöglicht somit eine strukturierte sowie weitestgehend standardisierte Zwischenfallanalyse. Das HFACS ist heute in allen Bereichen der Fliegerei als Werkzeug etabliert (militärisch/zivil, [6–9]) und wurde auch bereits in anderen Hochrisikoindustrien angewandt (Bergbau, Schifffahrt, [10–12]). Eine mögliche Adaptation auf medizinische Zwischenfälle wird aktuell geprüft [13, 14].
Der Anaesthesist
? Man spricht auch von Anaesthetists’ non-technical skills. Was stellen Sie sich hierunter vor? Menschliche Faktoren spielen eine große Rolle bei der sicheren Patientenversorgung. Diese betreffen den so wichtigen Teamgedanken im anästhesiologischen Umfeld sowie das richtige Handeln in kritischen und komplexen Situationen. Dies muss genauso gelernt und geübt werden wie „klassische“ anästhesiologische Fertigkeiten, beispielsweise die Intubation oder die Gefäßpunktionen. In „Crew-resource-management“(CRM)Trainings werden Schulungen zusammengefasst, in denen nicht nur diese technisch, manuelle Fähigkeiten, sondern auch Anaesthetists’ non-technical skills (ANTS) adressiert werden [16]. Diese zum Themenkomplex der Human factors gehörenden Fertigkeiten erfordern das aktive Einbinden aller beteiligten Personen im klinischen Alltag. Das CRM ist ein Führungs- und Arbeitsmodell der Luftfahrt, das bereits vor über 50 Jahren in der Annahme etabliert wurde, dass die Ursachen für Flugunfälle nicht nur technische Ausfälle oder Fehler von Einzelnen sind, sondern dass die Zusammenarbeit der gesamten Crew und bestimmte menschliche Faktoren eine Rolle spielen. Ziel ist es, alle Ressourcen optimal zu nutzen, Aufgaben klar zu definieren und optimal miteinander zu kommunizieren sowie
eine Stressreduktion und -bewältigung zu erzielen. Einen Überblick über die ANTS gibt . Tab. 2. ? Warum sind Checklisten hilfreich und nicht nur in der Luftfahrt wichtig anzuwenden? Seit der Einführung der „Safe Surgery Checklist“ durch die WHO 2009 hat sich die Nutzung von Checklisten in der Medizin immer mehr etabliert [17]. Groß angelegte Studien konnten mittlerweile eindrücklich den Einfluss von Checklisten auf die Patientensicherheit, insbesondere unter dem Aspekt der Reduktion von UE sowie einer verbesserten Einhaltung von Standards und Guidelines zeigen [18–20]. Daten zur Reduktion von Mortalität und Morbidität sind nach wie vor uneinheitlich. Die Inzidenz von Zwischenfällen und Komplikationen (z. B. Wundinfektionen, Blutverlust) kann insbesondere bei komplexen Prozeduren durch den Einsatz von „bundles“ signifikant reduziert werden [21, 22]. Durch die Zuhilfenahme von Checklisten konnte auch eine signifikante Verbesserung im Management perioperativer Zwischenfälle, gemessen an der Durchführung vorher definierter kritischer Arbeitsschritte, erreicht werden. Während ohne Checklisten bis zu 23 % der kritischen Arbeitsschritte vergessen wurden, reduzierte sich dieser Anteil auf 6 %, was einer 75 %igen Risikoreduktion ent-
Tab. 2 Hauptkategorien der „anaesthetists’non-technical skills“(ANTS).(NachNeuhaus [15]) Kategorien
Elemente
Aufgabenmanagement
Planung und Vorbereitung Priorisierung Einhalten von Standards Einsatz von Ressourcen
Teamwork
Koordination mit anderen Teammitgliedern Austausch von Informationen Einsatz von Autorität Einschätzen von Fähigkeiten Unterstützung anderer Teammitglieder
Situationsbewusstsein
Zusammentragen von Informationen Erkennen und Verstehen Vorausschauendes Handeln
Entscheidungsfindung
Identifizieren verschiedener Optionen Risikoabwägung und Verfahrensauswahl Reevaluation
spricht [23–25]. Dies setzt jedoch einen aufwendigen Schulungsprozess der Anwender und deren profundes Verständnis einer sicherheitsorientierten Arbeitskultur voraus [24]. Das formelle Abarbeiten einer Checkliste generiert zwar mit wenig Aufwand ein hohes Maß an Prozessqualität; eine Gleichstellung mit erhöhter Patientensicherheit wäre allerdings falsch [26]. In der Medizin werden Checklisten als Synonym für eine Vielzahl von Kontrollmechanismen verwendet, die nicht nur im perioperativen Betrieb, sondern auch auf der Station, bei der Patientenaufnahme oder bei Prozeduren (Katheteranlage etc.) in schriftlicher Form dokumentiert werden und damit einen Anspruch des Qualitätsmanagements erfüllen. Beim Verweis auf die Luftfahrt als Beispiel für die erfolgreiche Implementierung von Checklisten wird häufig übersehen, dass dort keinerlei Dokumentation stattfindet, dafür aber der Einsatz von Checklisten an genau definierte und streng reglementierte Prozesse geknüpft ist. Ein Flug ist in mehrere Segmente unterteilt (Start, Steigflug, Reiseflug etc.), wobei der Übergang zwischen diesen an viele unterschiedliche Prozeduren im Cockpit geknüpft ist. Nach dem Abarbeiten dieser (ein-
studierten) Arbeitsschritte wird anhand einer Checkliste überprüft, dass keine sicherheitsrelevanten Schritte vergessen wurden. Für besonders kritische Arbeitsschritte, insbesondere im Notfall (z. B. das Abschalten eines Triebwerks), existieren „do lists“; eine Unterscheidung, die in der Medizin weitestgehend unbekannt ist. Die einzelnen Arbeitsschritte werden gemäß der Do list abgearbeitet, wobei ein Pilot die jeweils nächste Handlung vorliest, die dann von einem anderen Besatzungsmitglied ausgeführt wird [27]. Für die Anästhesie wurden erste Notfallchecklisten erstellt, die in kritischen Situationen relevante Arbeitsschritte auflisten und priorisieren [28]. Der prozedurale Einsatz(Anwendung allein/im Team. Wer liest vor? Wann wird die Checkliste eingesetzt? Etc.) ist allerdings bisher nicht genau definiert und bleibt dem Anwender überlassen. Das im OP praktizierte „Team-Time-Out“ stellthäufig eine Kombination aus Checkliste und Briefing dar. Eine wesentliche Funktion dieser Checkliste liegt in der gezielten Veränderung von Kommunikationsstrukturen. Schlüsselwörter. „Crew resource management“ · Patientensicherheit · Deklaration von Helsinki · „Skills“ · Checkliste
Korrespondenzadresse Dr. C. Neuhaus, M.Sc. Klinik für Anästhesiologie, AG Patientensicherheit & Simulation, Universitätsklinikum Heidelberg Im Neuenheimer Feld 110, 69120 Heidelberg, Deutschland [email protected]
Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. C. Neuhaus, E. Falla und G. Breuer geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor. The supplement containing this article is not sponsored by industry.
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Der Anaesthesist
Der Anaesthesist Facharzt-Training Anaesthesist https://doi.org/10.1007/s00101-019-00660-1
F. Schuler1 · S. Kampmeier2 · C. Lanckohr2,3 1
Institut für Medizinische Mikrobiologie, Universitätsklinikum Münster, Münster, Deutschland Institut für Hygiene, Universitätsklinikum Münster, Münster, Deutschland 3 Antibiotic Stewardship Team, Universitätsklinikum Münster, Münster, Deutschland 2
© Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Redaktion A. Heller, Augsburg G. Breuer, Coburg
63/m mit positiver VREAnamnese, elektiver Operationsindikation und im Verlauf VRE-Bakteriämie Vorbereitung auf die Facharztprüfung: Fall 33
Fallschilderung für den Prüfungskandidaten Bei einem 63-jährigen Patienten soll eine Hüftkopfnekrose mithilfe einer Totalendoprothese versorgt werden. Bei dem Patienten besteht eine chronisch lymphatische Leukämie, die unter Chemotherapie ein adäquates Ansprechen zeigt. Zusätzlich findet sich eine Besiedlung mit Vancomycin-resistenten Enterokokken (VRE), die letztmalig vor 3 Monaten im Rektalabstrich bestätigt wurde. Während der Operation erleidet der Patient einen hämorrhagischen Schock und muss nach notfallmäßiger Anlage eines großlumigen zentralen Venenzugangs („Schleuse“) massentransfundiert werden. Postoperativ wird er auf die Observationsstation übernommen. Nach initial stabilem Verlauf entwickelt der Patient am 4. postoperativen Tag Fieber (39,0 °C) und steigende Infektionsparameter. Kulturen der entnommenen Blutproben vor Beginn der kalkulierten Antibiotikatherapie erbringen den VRENachweis.
Thematik Der folgende Fragenkomplex bezieht sich auf: 4 die Übertragungsmechanismen von VRE, 4 die VRE-Kolonisation vs. VREInfektion, 4 allgemeine Hygienemaßnahmen bei VRE-positiven Patienten im OP und auf der Bettenstation, 4 die perioperative Antibiotikaprophylaxe bei VRE, 4 Isolationsmaßnahmen von VREpositiven Patienten, 4 die Diagnostik der VRE-Bakteriämie, 4 VRE-wirksame Antibiotika.
Prüfungsfragen 4 Welche sind die Hauptübertragungswege 4
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von Vancomycin-resistenten Enterokokken? Entwickeln Sie anhand der Fallvignette die Definition der Begriffe VRE-Kolonisation und VRE-Infektion und geben Sie an, ob eine Therapieindikation vorliegt. Welche Hygienemaßnahmen sind im OP zu berücksichtigen? Ist eine Kolonisation mit VRE bei der Substanzwahl der perioperativen Antibiotikaprophylaxe zu berücksichtigen? Sollten Sie den Patienten auf der Observationsstation als isolationspflichtig ankündigen? Der Patient liegt in einer Klinik, in der die Isolierung Teil des Maßnahmenbündels bei Nachweis von VRE ist. Welche Isolationsmaßnahmen sind sinnvoll? Wann kann der Patient entisoliert werden? Welche möglichen Eintrittspforten für die VRE-Bakteriämie sehen Sie bei diesem Patienten? Bei der Fokussuche der VRE-Bakteriämie wollen Sie eine mit dem zentralen Venenkatheter assoziierte Infektion von einer Infektion anderen Ursprungs abgrenzen. Wie gehen Sie diagnostisch vor? Nennen Sie Antibiotika mit Wirksamkeit gegen Vancomycin-resistenten Enterokokken. Welche Substanz würden Sie im vorliegenden Fall bevorzugen?
Der Anaesthesist
Facharzt-Training D Antworten ? Welche sind die Hauptübertragungswege von Vancomycinresistenten Enterokokken? Vancomycin-resistente Enterokokken werden hauptsächlich über den direkten und indirekten Kontakt, die sog. Schmierinfektion, weiterverbreitet. Die direkte Kontaktinfektion beschreibt eine Verbreitung über Haut-Haut-Kontakt (insbesondere der Hände), die indirekte eine Verbreitung über Haut-FlächenKontakt. Als kontaminierte Flächen kommen handnahe Oberflächen wie z. B. Nachttische, Oberflächen im Sanitärbereich oder Gegenstände wie z. B. Thermometer, Blutdruckmanschetten und Beatmungsschläuche infrage. ? Entwickeln Sie anhand der Fallvignette die Definition der Begriffe VRE-Kolonisation und VRE-Infektion, und geben Sie an, ob eine Therapieindikation vorliegt. Als Kolonisation bezeichnet man die (meist) gastrointestinale Besiedelung mit VRE ohne Krankheitswert, die z. B. durch einen Nachweis im Rektalabstrich verifiziert werden kann. Zu den Risikopopulationen zählen Früh- und Neugeborene, Patienten mit schwerer Komorbidität wie Immunsuppression und hämatologischen Erkrankungen und Patienten mit vorausgegangener Antibiotikatherapie. Bei Abnahme des Selektionsdrucks kann es zum spontanen Verlust der antibiotikaresistenten Enterokokkenpopulation kommen. Die Dauer der VRE-Besiedlung wurde zwischen mehreren Wochen bis zu mehr als 3 Jahren beschrieben [1]. Ein Sanierungsschema – wie bei einer Besiedlung mit Methicillin-resistentem Staphylococcus aureus (MRSA) – bzw. eine Therapieindikation besteht nicht. Bei klinischen Symptomen einer Infektion und dem Nachweis von VRE im klinischen Untersuchungsmaterial (Blutkultur, Gewebe etc.) spricht man von einer VRE-Infektion. Eine Therapieindikation ist dann gegeben.
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Welche Hygienemaßnahmen sind im OP zu berücksichtigen?
Hinsichtlich ihrer Empfindlichkeit gegenüber Desinfektionsmitteln unterscheiden sich VRE und andere multiresistente Erreger (MRE) nicht von sensiblen Keimen. Deshalb können besiedelte Patienten unter strikter Einhaltung der Flächen- und Händehygienemaßnahmen sowie korrekter Aufbereitung von Medizinprodukten [2] im üblichen OP operiert werden. Aus hygienischer Sicht müssen diese Operationen nicht ans Ende des Tagesprogramms gelegt werden [3]. Weitere Isolationsmaßnahmen im OP-Trakt müssen den strukturellen und personellen Gegebenheiten in der jeweiligen Klinik angepasst werden. Da häufig keine Isolationsmöglichkeiten für Patienten mit VRE-Anamnese im Aufwachraum bestehen, sollten sie diesen dann nicht passieren. Eine Möglichkeit ist die direkte Verlegung dieser Patienten im Anschluss an die Operation auf die Station. Auch bezüglich des Umgangs mit Medikamenten, der Aufbereitung von Geräten und Material [3] sowie der Prävention von gefäßkatheterassoziierter Infektionen [4] sind bei Operationen von MRE-Patienten – unter Einhaltung der Hygienestandards – keine besonderen Maßnahmen notwendig. ? Ist eine Kolonisation mit VRE bei der Substanzwahl der perioperativen Antibiotikaprophylaxe zu berücksichtigen? Das natürliche Habitat von Enterokokken und VRE ist der Darm, sodass eine erweiterte antibiotische Prophylaxe v. a. bei Eröffnung des Darms und der Gefahr einer intraabdominellen VRE-Infektion (z. B. bei postoperativen Anastomoseninsuffizienzen) eine Rolle spielen kann. Letztlich bleibt die Spektrumerweiterung der perioperativen Antibiotikaprophylaxe (PAP) eine Einzelfallentscheidung, die derzeit unzureichend durch Evidenz und Leitlinienempfehlungen untermauert ist. Im konkreten Fall (Hüftendoprothetik) spielen Enterokokken als mögliche Erreger einer Wundinfektion sehr wahrscheinlich eine untergeordnete Rolle. Da-
her ist die Gabe eines VRE-wirksamen Antibiotikums im Rahmen der PAP verzichtbar. ?
Sollten Sie den Patienten auf der Observationsstation als isolationspflichtig ankündigen? Für die Isolation von Patienten mit VRENachweis gibt es keine klaren Wirksamkeitsbelege, dass allein dadurch Übertragungen von VRE vermieden werden. Nach Vorgaben der Kommission für Krankenhaushygiene und Infektionsprävention am Robert Koch-Institut (KRINKO, [1]) soll in Abhängigkeit von der epidemiologischen Situation und dem Risikoprofil des Patientenkollektivs entschieden werden, ob erweiterte Hygienemaßnahmen bei positivem VRENachweis getroffen werden müssen. In einer Population mit hoher Prävalenz der VRE-Kolonisation und einer oder mehrauftretendenantibiotisch-therapiebedürftigen Infektionen – beides trifft für Patienten mit hämatoonkologischer Grunderkrankung zu – wird ein sog. Maßnahmenbündel empfohlen. Dieses besteht aus mindestens 2 der folgenden Aspekte: Screening, Isolierung, antiseptisches Waschen, Einbeziehung der Patienten in Hygienemaßnahmen oder intensivierte Reinigung und Desinfektion der Umgebung. Die jeweilige Klinik wählt die Aspekte, die in das Maßnahmenbündel aufgenommen werden, und hält sie im Hygieneplan fest. ? Der Patient liegt in einer Klinik, in der die Isolierung Teil des Maßnahmenbündels bei Nachweis von VRE ist. Welche Isolationsmaßnahmen sind sinnvoll? Ist die Isolierung als Teil des Maßnahmenbündels ausgewählt worden, sollte der Patient einzelzimmerisoliert werden. Ein Betreten des Zimmers wird mit persönlicher Schutzausrüstung empfohlen, die üblicherweise aus Handschuhen und Schutzkittel besteht. Auf Mundschutz und Haube kann bei diesem über Schmierinfektion weitergetragenen Erreger verzichtet werden. Eine Kohortierung mit anderen VRE-Trägern ist
auch möglich – nicht jedoch mit MRSATrägern oder Patienten mit anderen multiresistenten Erregern [1]. ? Wann kann der Patient entisoliert werden? Falls Screeningstrategien Bestandteil des VRE-Prävention-Maßnahmenbündels sind, empfiehlt die KRINKO zum Ausschluss einer fortbestehenden VREBesiedlung, mindestens 3 Proben zu nehmen, zwischen denen ein längerer Zeitabstand (z. B. eine Woche) liegen soll. Als Screeningmethode der Wahl wird der Rektalabstrich empfohlen. Nach 3 negativen Abstrichen kann der Patient theoretisch entisoliert werden. Der Verlust der VRE-Besiedlung ist in der vorliegenden Fallvignette u. a. aufgrund von Komorbidität und Antibiotikatherapie jedoch unwahrscheinlich. ? Welche möglichen Eintrittspforten für die VRE-Bakteriämie sehen Sie bei diesem Patienten? Die VRE-Bakteriämie im vorliegenden Fall ist als nosokomial zu klassifizieren. Im Vordergrund steht der Verdacht auf eine „Device-assoziierte“-Infektion, die beispielsweise durch unsauberes Arbeiten an Venenzugängen (v. a. zentrale Venenkatheter [ZVK]) ausgelöst werden kann. Als zusätzlicher Risikofaktor ist eine onkologische Grunderkrankung anzusehen. Ein weiterer möglicher Eintrittsort ist der Harntrakt, auch hier meist in Verbindung mit einliegendem Fremdmaterial. Im Rahmen der infektiologischen Diagnostik sind daher die Gewinnung einer Urinprobe zur Kultivierung und ggf. der empirische Wechsel eines Blasendauerkatheters sinnvoll. Als mögliche Eintrittspforte für Enterokokken bei onkologischen Patienten können Schädigungen der gastrointestinalen Schleimhäute infrage kommen, wie sie bei Mukositis oder einer intestinalen „graft-versus-host disease“ nach Stammzelltransplantation auftreten können.
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Bei der Fokussuche der VREBakteriämie wollen Sie eine mit dem zentralen Venenkatheter assoziierte Infektion von einer Infektion anderen Ursprungs abgrenzen. Wie gehen Sie diagnostisch vor?
Die Berechnung der „differential time to positivity“ (DTP) zwischen einer über den ZVK entnommenen und einer peripher entnommenen Blutkultur erleichtert die Diagnose einer katheterassoziierten Infektion in vivo. Dafür sollen beide Blutkulturpärchen simultan abgenommen werden. Meldet der Blutkulturautomat im mikrobiologischen Labor bei der Kulturflasche mit zentral entnommener Blutprobe im Vergleich zur Kulturflasche mit peripher entnommener Blutprobe >120 min früher ein Bakterienwachstum, spricht dies für eine katheterassoziierte Infektion [5]. Auf dem mikrobiologischen Anforderungsbogen führt die Angabe einer positiven VRE-Anamnese zu einer zielgerichteten (und schnelleren) Diagnostik. ? Nennen Sie Antibiotika mit Wirksamkeit gegen Vancomycinresistente Enterokokken. Welche Substanz würden Sie im vorliegenden Fall bevorzugen? Antibiotika mit erwartbarer Wirksamkeit gegen VRE sind Linezolid, Daptomycin und Tigecyclin. Im Fall eines Resistenzmechanismus vom Typ VanB ist das Glykopeptidantibiotikum Teicoplanin eine weitere Option. Wünschenswert ist bei einer VRE-Bakteriämie die ausreichende Konzentration des Antibiotikums im Blutstrom. Aufgrund ihrer sehr guten Gewebepenetration ist der Stellenwert von Linezolid und Tigecyclin in dieser Indikation daher umstritten. Ob der eher bakteriostatische Wirkmechanismus dieser Substanzen ein zusätzlicher Nachteil ist, bleibt ebenso unklar. Daptomycin scheint nach derzeitiger Kenntnis als rasch bakterizides Antibiotikum bei ausreichender Dosierung (10–12 mg/kgKG) Vorteile bei Blutstrominfektionen zu besitzen, was allerdings im Moment für diese Indikation noch eine Anwendung außerhalb der Zulassung darstellt.
Schlüsselwörter. Multiresistente Erreger · Vancomycin-resistente Enterokokken · Perioperatives Hygienemanagement · Isolationsmaßnahmen · Antibiotika
Korrespondenzadresse Dr. med. F. Schuler Institut für Medizinische Mikrobiologie, Universitätsklinikum Münster Domagkstr. 10, 48149 Münster, Deutschland [email protected]
Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. F. Schuler gibt an, dass kein finanzieller Interessenkonflikt besteht. Nichtfinanzielle Interessen: Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie (DGI). C. Lanckohr: Finanzielle Interessen: Referentenhonorar/Reisekostenerstattung als passiver Teilnehmer; Vortragshonorare der Firmen Astellas undMSD. NichtfinanzielleInteressen: Mitgliedschaftin der DGAI, BDA, PEG, ESICM. S. Kampmeier: Finanzielle Interessen: Vortragshonorare der Firmen 3M und MSD. Nichtfinanzielle Interessen: Mitgliedschaft in DGHM und ESCMID. Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor. The supplement containing this article is not sponsored by industry.
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Der Anaesthesist
Der Anaesthesist Facharzt-Training Anaesthesist https://doi.org/10.1007/s00101-019-00650-3
M. Michael1 · O. Picker1 · M. Bernhard2 1 2
© Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Redaktion A. Heller, Augsburg G. Breuer, Coburg
Klinik für Anästhesiologie, Universitätsklinikum Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland Zentrale Notaufnahme, Universitätsklinikum Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland
36/m nach Motoradunfall mit Hochrasanztrauma Vorbereitung auf die Facharztprüfung: Fall 34
Fallschilderung für den Prüfungskandidaten Für den Traumaschockraum eines überregionalen Traumazentrums wird ein 36-jähriger männlicher Patient nach einem Hochrasanztrauma durch einen Motorradunfall angemeldet. In dem „Arzt-Arzt-Gespräch“ der telefonischen Voranmeldung wird dem Notfallkoordinator durch die Notärztin der Status des Patienten übermittelt: „Motorradunfall bei ca. 70 km/h. A: unauffällig, B: stabil, C-Problem: Hypotension, D-Problem: Glasgow Coma Scale (GCS) 10 Punkte. Prähospitale Verdachtsdiagnosen: Schädel-Hirn-Trauma, Thoraxtrauma, Beckenfraktur. Eintreffzeit in 10 min“.
Thematik Der folgende Fragenkomplex bezieht sich auf: 4 traumatologisches Schockraummanagement, 4 Priorisierung gemäß dem ABCDESchema, 4 Blutungs- und Gerinnungsmanagement beim Schwerverletzten, 4 „basics“ des „crew resource management“.
Prüfungsfragen 4 Welche Prozesse und Informationsflüsse 4
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müssen vor und während des Erstkontakts mit dem Patienten organisiert sein? Welche Maßnahmen sind insbesondere für das Anästhesieteam im Rahmen des „primary survey“ der Schockraumversorgung relevant? Welche Priorisierung der Maßnahmen ist im beschriebenen Fall sinnvoll? Welche Besonderheiten sind bei der Narkoseeinleitung eines Traumapatienten im Schockraum zu beachten? Welche diagnostischen Maßnahmen sind im Rahmen des Schockraummanagements angezeigt? Welche pathophysiologischen Besonderheiten sind bei der traumainduzierten Koagulopathie bedeutsam? Welche Maßnahmen zu Prophylaxe und Therapie der traumainduzierten Koagulopathie können Sie im Schockraum durchführen? Wie lassen sich Teamkommunikation und „crew resource management“ für die optimale Schockraumversorgung praktisch umsetzen?
Der Anaesthesist
Facharzt-Training D Antworten ? Welche Prozesse und Informationsflüsse müssen vor und während des Erstkontakts mit dem Patienten organisiert sein? Nach Alarmierung trifft das interdisziplinäre Schockraumbasisteam in der zentralen Notaufnahme ein. Der „Trauma-Leader“ führt ein „team-time-out“ durch und informiert alle Teammitglieder über den angekündigten potenziell schwer verletzten Patienten. Im Anschluss werden in den verbleibenden Minuten das Narkosegerät, das Equipment zur Atemwegssicherung, die Notfallmedikation und die weitere Notfallausrüstung überprüft und die persönliche Schutzausrüstung angelegt. Beim Eintreffen des Patienten im Schockraum führtdie begleitende Notärztin nach einer „5 seconds round“ durch den Trauma-Leader die strukturierte Übergabe durch und fasst die Hauptprobleme zusammen. Bei Aufnahme im Schockraum imponieren ein „CProblem“ mit Schocksymptomatik und ein „D-Problem“ mit progredienter Vigilanzminderung und aktuellem SummenScore auf der Glasgow Coma Scale (GCS) von 7 Punkten. Prähospital wurden eine Immobilisation mithilfe einer Halswirbelsäulen(HWS)-Immobilisationsschiene und des „spineboard“ durchgeführt, eine Beckenschlinge angelegt, eine Analgosedierung mit 2 mg Midazolam und 20 mg Ketamin i.v. appliziert und zur Volumentherapie 750 ml kristalline Infusionslösung infundiert. Die SAMPLERAnamnese (S: Symptome, A: Allergien, M: Medikation, P: „past medical history“ [Vorerkrankungen], L: „last meal“, E: „events“ [Ereignisse], R: Risikofaktoren, z. B. Nikotinabusus) ergab, soweit beurteilbar, keine Besonderheiten. ? Welche Maßnahmen sind insbesondere für das Anästhesieteam im Rahmen des „primary survey“ der Schockraumversorgung relevant? Im Rahmen des Primary survey wird die rasche Untersuchung des potenziell kritisch kranken Patienten nach dem ABCDE-Schema (A: „airway“, B: „breathing“, Der Anaesthesist
C: „circulation“, D: „disability“, E: „environment/exposure“) vorgenommen. Hierbei werden kritische Beeinträchtigungen der Vitalfunktionen strukturiert detektiert und unmittelbar behoben. Alle Beteiligten sollten die Abläufe kennen und jedes Teammitglied seine Aufgaben übernehmen sowie die Befunde klar kommunizieren. Die Evaluation des Patienten erfolgt parallelisiert im interdisziplinären Team [5]. Das Anästhesieteam (Arzt und Pflegekraft, ggf. noch ein Fach-/Oberarzt) ist üblicherweise für die Stufen „A“, „B“ und „C“ zuständig. Diese umfassen die diagnostischen und die therapeutischen Maßnahmen im Bereich der primären Atemwegssicherung, der Beatmung, ggf. die Entlastung eines Spannungspneumothorax, die Anlage großlumiger Gefäßzugänge sowie das Volumen-, Gerinnungs- und nichtchirurgische Blutungsmanagement. ?
Welche Priorisierung der Maßnahmen ist im beschriebenen Fall sinnvoll?
Im geschilderten Fall liegen mehrere potenziell lebensbedrohliche Verletzungen im Sinne eines schwer verletzten Patienten vor, wobei der Atemweg (A und B) als zunächst stabil anzusehen ist. Bei hämodynamischer Instabilität sind vor der weiteren Diagnostik die Identifizierung und die Behebung einer „catastrophic bleeding“ (kritisches „“) des ABCDE-Schemas notwendig [1]. Im vorliegenden Fall ließen sich keine spritzenden Blutungen detektieren. Anschließend erfolgen die Prüfung der Atemwege und der (Be-)Atmung (Ausschluss eines Spannungspneumothorax) und dann des „C-Problems“ (z. B. durch blutstillende Maßnahmen: Anlage eines Tourniquets und/oder einer Beckenschlinge) sowie die Anlage großlumiger Gefäßzugänge samt Volumentherapie [2–4]. Im genannten Fall liegt ergänzend ein „D-Problem“ vor: Der Patient ist vigilanzgemindert (GCS 7 Punkte) und damit potenziell aspirationsgefährdet (drohendes A-Problem). Trotz der dringlichen Indikation zur Durchführung einer kraniellen Computertomo-
graphie (CCT bzw. Traumaspirale) bei V. a. Schädel-Hirn-Trauma (SHT) ist zunächst die definitive Atemwegssicherung in Form der endotrachealen Intubation indiziert. Da beim Schockraummanagement grundsätzlich zeitgleich mehrere Interventionen parallel erfolgen können, sind die klare Kommunikation und Priorisierung (in Absprache mit dem Team-Leader) wichtig. Im vorliegenden Fallbeispiel wäre initial also die Stabilisierung von „C“ angezeigt und danach zeitnah eine endotracheale Intubation indiziert, bevor die weitere Diagnostik erfolgt. ? Welche Besonderheiten sind bei der Narkoseeinleitung eines Traumapatienten im Schockraum zu beachten? Grundsätzlich gilt jeder Notfallpatient als nichtnüchtern. Daher werden bei Traumapatienten immer die Grundsätze der „rapid sequence induction“ (RSI) angewendet. Bei vorliegender respiratorischer Insuffizienz (arterielle Sauerstoffsättigung [SaO2] < 94 %) muss dennoch überbrückend eine patientenadaptierte (ggf. assistierte bzw. drucklimitierte) Beutel-Maske-Beatmung zur Vermeidung einer Hypoxie durchgeführt werden, ohne die RSI zu verzögern. Die Indikation zur notfallmäßigen Atemwegssicherung sollte im Rahmen des Primary survey evaluiert und im Gesamtkontext abgewogen bzw. priorisiert werden. Bei immobilisierten Patienten ist während der endotrachealen Intubation an eine manuelle „In-line“-Stabilisierung (MILS) zu denken; hierbei fixiert ein Helfer während der Atemwegssicherung manuell die Halswirbelsäule (HWS) und den Kopf des Patienten bei geöffneter HWS-Immobilisationsschiene. Ein Intubationsversuch bei geschlossener HWS-Immobilisationsschiene kann die Intubation deutlich erschweren. Die Erfolgsrate der endotrachealen Intubation im ersten Versuch („first-pass intubation success“) kann durch den Einsatz eines Videolaryngoskops verbessert werden, zumal von einer geringeren Manipulation der HWS auszugehen ist. Weiterhin
sind gerade bei der Narkoseinduktion am hypovolämischen Patienten die ausreichende Volumenzufuhr, eine Katecholamininfusion und ggf. eine Modifikation der Narkotika zu beachten, um eine ausgeprägte Hypotonie zu vermeiden. Hierfür eignet sich beispielsweise Ketamin (0,5 mg/kgKG) oder S-Ketamin (0,25 mg/kgKG). Die kapnographische Sicherung der korrekten Tubuslage ist obligat. ? Welche diagnostischen Maßnahmen sind im Rahmen des Schockraummanagements angezeigt? Nach initialer Stabilisierung im Rahmen des Primary survey erfolgt meist eine erweiterte notfallsonographische Untersuchung (extended Focussed Sonography for Trauma Patients, eFAST) von Thorax und Abdomen durch einen der interdisziplinären Partner bei der Schockraumversorgung [5]. Die Blutentnahme für Laborbestimmungen, einschließlich Kreuzprobe und einer Blutgasanalyse, erfolgt parallel. Je nach Unfallmechanismus schließt sich im weiteren Verlauf schnellstmöglich eine CT-Diagnostik an; hier hat sich im Fall eines relevanten Traumas die Ganzkörper-Computertomographie (Traumaspirale) etabliert. So lassen sich in kurzer Zeit Verletzungen und entsprechende Konsequenzen (z. B. eine akute Operationsindikation) detektieren. Die Blutgasanalyse liefert weitere wichtige Hinweise hinsichtlich der Oxygenierung (arterieller Sauerstoffpartialdruck, paO2), der Ventilation (arterieller Kohlendioxidpartialdruck, paCO2) und der Blutungssituation (Hämoglobin, Lactat, Basenüberschuss). ? Welche pathophysiologischen Besonderheiten sind bei der traumainduzierten Koagulopathie bedeutsam? BeipolytraumatisiertenPatientenkommt es häufig zu einer generalisierten Gerinnungsaktivierung [2–4]: Ein akuter Blutverlust fördert die traumainduzierte Koagulopathie (TIK), und eine kritische Hypovolämie und Zentralisation können sich entwickeln. Hypothermie, Acidose und eine Hypokalzämie können zusätzlich die TIK begünstigen („tödliche
Trias“). Insbesondere die Hypothermie gilt es, frühzeitig zu behandeln bzw. zu vermeiden, da ein Abfall der Körperkerntemperatur die Gerinnungsaktivität deutlich reduzieren kann. Weiterhin kann bei polytraumatisierten Patienten eine Hyperfibrinolyse induziert werden. Eine „Point-of-care“-Gerinnungsdiagnostik kann frühzeitig Hinweise geben. ?
Welche Maßnahmen zu Prophylaxe und Therapie der traumainduzierten Koagulopathie können Sie im Schockraum durchführen?
Schon bei der Vorbereitung der Schockraumversorgung sollte ein Wärmemanagement bereitgestellt werden, um das weitere Auskühlen des Patienten zu vermeiden. Neben der Volumentherapie mit gewärmten Infusionslösungen ist frühzeitig ein Blutungs- und Gerinnungsmanagement zu etablieren. Bei aktiver Blutung sollte eine Notfalltransfusion (0, Rh-negative Erythrozytenkonzentrate) erwogen werden, um den Hämoglobin(Hb)-Wert zwischen 7 und 9 g/dl zu halten. Die Indikation zur Transfusion bei einem aktiv blutenden Patienten ist immer individuell nach klinischen Kriterien, dem Verletzungsgrad, dem Ausmaß des Blutverlusts, der Kreislaufsituation und der Oxygenierung zu stellen [4]. Ebenso sind bei einer Massivtransfusion die Gaben von Plasma- und Thrombozytenkonzentraten indiziert. Hier sollte in jedem Krankenhaus ein Massivtransfusionsprotokoll vorliegen. Die Rahmenbedingungen zur Vermeidung einer Koagulopathie müssen zunächst aggressiv hergestellt sowie eine Normothermie, Normokalzämie und ein Acidoseausgleich angestrebt werden. Zur Behandlung einer Hyperfibrinolyse ist die Infusion von Tranexamsäure (z. B. 1000 mg i.v.) im Rahmen des Schockraummanagements angezeigt [2–4]. ? Wie lassen sich Teamkommunikation und „crew resource management“ für die optimale Schockraumversorgung praktisch umsetzen? Im Rahmen der Schockraumversorgung sind fest zugewiesene Rollen bzw. Arbeitsbereiche definiert, und jedes
Teammitglied sollte seine Umgebung, das Material und den Ablauf der Versorgung kennen [5]. Ein Team-time-out vor Eintreffen des Patienten bringt alle Beteiligten auf den gleichen Kenntnisstand, und Besonderheiten (z. B. Hinweise auf einen schwierigen Atemweg) können antizipiert werden. Der Teamleiter sollte die Schockraumversorgung koordinieren. Einige Grundsätze des Crew resource management (CRM) sind weiterhin, sicher und effektiv zu kommunizieren, die Arbeitsbelastung zu verteilen oder Fixierungsfehler zu vermeiden. Die ständige Reevaluation ist gerade während der Schockraumversorgung essenziell. Hier kann das kurzzeitige Team-timeout nach dem Motto „10 seconds for 10 minutes“ eine kurze Zusammenfassung durch den Teamleiter bieten, um allen Teammitglieder übereinstimmende Informationen mitzuteilen und weitere Schritte abzustimmen. Ziel ist es, die Schockraumversorgung so kurz wie möglich zu halten und den Patienten zeitnah einer adäquaten Diagnostik und ggf. chirurgischen oder interventionellen Therapieoptionen zuzuführen. Schlüsselwörter. Polytrauma · Schockraumversorgung · Gerinnungs- und Blutungsmanagement · „Healthcare crisis resource management“ · Kommunikation
Korrespondenzadresse PD Dr. M. Bernhard, MHBA Zentrale Notaufnahme, Universitätsklinikum Düsseldorf Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf, Deutschland [email protected]
Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. M. Michael, O. PickerundM. Bernhard geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. The supplement containing this article is not sponsored by industry.
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Der Anaesthesist
Facharzt-Training
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Der Anaesthesist
Der Anaesthesist Facharzt-Training Anaesthesist https://doi.org/10.1007/s00101-019-00663-y © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Redaktion A. Heller, Augsburg G. Breuer, Coburg
J. Schimpf · C. Dietrich Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin, Universitätsklinikum Augsburg, Augsburg, Deutschland
4/w, distale Radiusfraktur Vorbereitung auf die Facharztprüfung: Fall 35 Fallschilderung für den Prüfungskandidaten Ein 4-jähriges Mädchen (Körperlänge 100 cm, Körpergewicht 15 kg) wird nach einem Sturz vom Trampolin von seiner Mutter in die Notaufnahme gebracht. Dort wird eine linksseitige distale Radiusfraktur diagnostiziert. Vor 2 Wochen war das Kind stark erkältet. Bis auf die abklingenden Erkältungssymptome ist es gesund; es hat seit einigen Tagen kein Fieber mehr. Der Auskultationsbefund der Lungen ist unauffällig. Das Mädchen nimmt keinerlei Medikamente ein und hat keine Allergien. Vor 2 h hat es zuletzt gegessen; der Unfall liegt ungefähr 1 h zurück. Der Chirurg erkundigt sich, ob unbedingt die Nüchternheit abgewartet werden müsse. Die Mutter fragt, ob das alles überhaupt sein müsse. Sie habe gelesen, dass Narkosen für Kinder gefährlich seien.
Thematik Der folgende Fragenkomplex bezieht sich auf: 4 die Besonderheiten der Narkoseeinleitung beim nichtnüchternen Kind, 4 das perioperative Vorgehen bei akuter Infektion der oberen Atemwege („upper respiratory tract infection“, URTI), 4 die perioperative Infusionstherapie, 4 die Neurotoxizität durch Anästhetika.
Prüfungsfragen 4 Würden Sie bei diesem Kind die Nüchtern-
heit abwarten? 4 Hat die abklingende Infektion der oberen
Atemwege Einfluss auf Ihr perioperatives Vorgehen? 4 Beschreiben Sie den Ablauf der Narkoseinduktion beim nichtnüchternen Kind. 4 Erläutern Sie die Grundzüge der perioperativen Infusionstherapie bei Kindern. 4 Ist Narkose schädlich für Kinder? Was würden Sie der Mutter zum Thema Neurotoxizität von Anästhetika antworten? Der Anaesthesist
Facharzt-Training D Antworten ? Würden Sie bei diesem Kind die Nüchternheit abwarten? Kinder mit Trauma gelten grundsätzlich als nichtnüchtern. In Abhängigkeit vom Ausmaß des Traumas, bedingt durch Schmerzen und den damit verbundenen Stress, kommt es zu einer Magenentleerungsstörung. Das Abwarten der 6-hGrenze führt bei diesen Kindern daher nicht zu einer Reduktion des Aspirationsrisikos. Die dringliche operative Versorgung kann bei gleichem Risiko mithilfe einer „rapid sequence induction“ (RSI; . Infobox 1) sofort durchgeführt werden. Zur Abschätzung des Aspirationsrisikos ist die Zeitspanne zwischen letzter Nahrungsaufnahme und Trauma entscheidender als die zwischen Trauma und Narkoseeinleitung.
?
Hat die abklingende Infektion der oberen Atemwege Einfluss auf Ihr perioperatives Vorgehen?
Narkosen bei Kindern mit einer URTI führen zu höherer Inzidenz von Atemwegskomplikationen als Laryngo- oder Bronchospasmus. Das gilt auch für Atemwegsinfektionen innerhalb der letzten 2 Wochen. Es wird unterschieden zwischen 4 milder URTI (trockener Husten, klare Rhinorrhö), 4 moderater URTI (trockener oder milder produktiver Husten, eitrige Rhinorrhö) und 4 schwerer URTI (schwerer produktiver Husten, eitrige Rhinorrhö, Fieber, eingeschränkter Allgemeinzustand [AZ]). Bei einer schweren URTI sollte der Eingriff, wenn möglich, um mindestens 2 Wochen verschoben werden. Bei mode-
Infobox 1. Vorgehen bei einer Rapid sequence induction am nichtnüchternen Kind 4 Patienten mit einer intestinalen Passagestörung sollten bereits auf der Station eine Magensonde
4
4 4 4
4 4
4
erhalten. Die Magensonde wird nach dem Absaugen unmittelbar vor der Narkoseinduktion gezogen. Das Absaugen fester Nahrungsbestandteile (typische Situation bei dringlicher Operationsindikation mit fehlender Nahrungskarenz – wie im vorliegenden Fall) über eine Magensonde ist technisch nicht möglich. Die Positionierung des Kindes zur RSI ist die neutrale Rückenlage, da die hydrostatische Druckdifferenz zwischen Kardia und Pharynx bei Kindern unbedeutend ist und eine Oberkörperhochlagerung deshalb keine Vorteile bringt. Entscheidend für die Positionierung sind gute Intubationsbedingungen. Ein Kind kann bei Erbrechen jederzeit schnell auf die Seite gedreht werden. Eine gute Präoxygenierung im Sinne einer Denitrogenisierung ist immer sinnvoll, aber beim nichtkooperativen Kind nicht immer möglich. Die Narkoseeinleitung erfolgt i.v. oder in Ausnahmefällen i.o. Eine Maskeneinleitung beim aspirationsgefährdeten Kind ist absolut kontraindiziert. Es sollte die Substanz verwendet werden, mit der die meiste Erfahrung vorliegt. Zur Relaxierung eignen sich mittellang wirksame, nichtdepolarisierende Muskelrelaxanzien. Das Ziel ist, innerhalb kurzer Zeit eine ausreichende Narkosetiefe ohne Pressen, Husten oder Würgen zu erreichen. Succinylcholin sollte bei Kindern nicht verwendet werden. Bei Verabreichung von Succinylcholin in altersentsprechender Dosierung erfolgt die Rückkehr zur Spontanatmung erst nach ca. 7 min. Der Einsatz des Krikoiddrucks wird nicht empfohlen. Die korrekte Anwendung ist schwierig; schwerwiegende Nebenwirkungen sind beschrieben. Bei Bedarf kann „backward, upward and rightward pressure“ (BURP) zur Verbesserung der Sichtbedingungen angewandt werden. Die Oxygenierung hat, wie oben erwähnt, oberste Priorität. Deshalb werden Kinder während einer RSI zwischenbeatmet. Bei einer Drucklimitierung von 10–12 mbar kommt es nicht zur Insufflation von Luft in den Magen. Die Drucklimitierung kann z. B. mithilfe der druckkontrollierten Maskenbeatmung über das Beatmungsgerät erreicht werden. Zur Intubation sollten blockbare Kindertuben zum Einsatz kommen.Damit wird das Risiko eines nichtpassenden Tubus reduziert; gleichzeitig wird die Trachea sofort zuverlässig abgedichtet.
(Aus Schmidt et al. [2]). Der Anaesthesist
rater URTI wird die Entscheidung nach individueller Nutzen-Risiko-Abwägung getroffen. Dabei sprechen Faktoren wie Alter 43 cm bei Männern, >40 cm bei Frauen), 4 „gender“ (männliches Geschlecht),
Auswertung: 60 mm Implantation von 3 oder mehr Stents Bifurkations-Stenting „ST elevation myocardial infarction“ (STEMI) in der Vorgeschichte Diffuse Mehrgefäßerkrankung, v. a. bei Diabetespatienten Behandlung von 3 oder mehr Läsionen Chronische Niereninsuffizienz (Kreatinin Clearance [CrCl] 50 % gerechnet werden kann. Die perioperative Fortführung einer ASS-100-Monotherapie beim kardialen Risikopatienten wird mit Ausnahme weniger Kontraindikationen – z. B. intrakranielle Eingriffe – empfohlen. Dies gilt auch für die Durchführung einer neuroaxialen Blockade. Bei Clopidogrel ist vor Anlage einer neuroaxialen Blockade strikt auf die empfohlene Pausierung von 7 bis 10 Tagen zu achten. Einen Überblick über HWZ und die empfohlenen Zeitintervalle der Einzelsubstanzen vor und nach neuroaxialen Blockaden gibt . Tab. 1 Die oben genannten Empfehlungen für das Pausieren der DOAK müssen immer in Abhängigkeit von der aktuellen Nierenfunktion (meist berechnet als GFR nach der Cockcroft-Gault-Formel in ml/min) und der Komedikation der Patienten betrachtet werden [6]. ? Gibt es aus Ihrer Sicht im perioperativen Bereich Vorteile beim Einsatz von direkten oralen Antikoagulanzien im Vergleich mit Vitamin-K-Antagonisten? Die DOAK überzeugen perioperativ durch die sehr gute Vorhersagbarkeit ihrer Plasmakonzentration als Surrogat für ihre gerinnungshemmende Aktivität. Es konnte gezeigt werden, dass sich der Abfall der DOAK-Plasma-Konzentration sehr gut kalkulieren lässt. Unter Berücksichtigung der pharmakodynamischen und -kinetischen Eigenschaften sowie der patientenindividuellen Risikofaktoren (z. B. eingeschränkte Nierenfunktion) lassen sich die DOAK, ohne zusätzliche Interventionen, zu einem geplanten Operationstermin punktgenau „steuern“. Die zeitliche Empfehlung für die DOAK-Pausierung hängt vom Blutungsrisiko durch die Operation und von
Patienten mit Indikationen zur oralen Antikoagulation und PCI
Ischämisches Risiko höher als Blutungsrisiko
Triple-Therapie bis zu 6 Monate A+C+O
Triple-Therapie für 4 Wochen A+C+O
Duale Therapie bis zu 12 Monate A + O oder C + O OAK mono
Triple-Therapie für 4 Wochen A+C+O
Blutungsrisiko höher als ischämisches Risiko
Duale Therapie für 12 Monate A + O oder C + O
Duale Therapie für 12 Monate A + O oder C + O
Start
1 Monat
3 Monate
6 Monate
12 Monate
> 12 Monate
Abb. 1 8 Gerinnungshemmung unter Berücksichtigung patientenindividueller Risiken. A Acetylsalicylsäure, C Clopidogrel, O direkte orale Antikoagulanzien, PCI perkutane koronare Intervention. (Modifiziert nach Weferling et al. [12])
der Nierenfunktion des Patienten ab. Eine Überbrückung („bridging“) mit z. B. NMH ist ausdrücklich nicht vorgesehen [1]. Vorschläge für das perioperative Management der DOAK-Therapie der French Working Group on Perioperative Hemostasis (GIHP) und der Europäischen Gesellschaft für Anästhesiologie (ESA) fasst . Abb. 2 zusammen. Das häufig als klarer Vorteil gegenüber den VKA zitierte DOAK-Sicherheitsprofil – weniger Hirnblutung bei besserer Verhinderung thrombembolischer Komplikationen – wird nach Auswertung immer größerer „Real-life“-Daten aktuell kontrovers diskutiert [4]. ?
Nennen sie mögliche Vorteile der Vitamin-K-Antagonisten. Vitamin-K-Antagonisten hemmen die Vitamin-K-abhängigen Gerinnungsfaktoren II, VII, IX, X. Im Gegensatz zur den DOAK ist die Gerinnungshemmung andauernd. Die kontinuierliche Herabsetzung der plasmatischen Gerinnungsaktivität durch VKA ist obligat bei der Behandlung von Patienten mit mechanischen Herzklappen. Weitere Indikationen für VKA sind das Antiphospholipidsyndrom und die dauerhaft gerinnungshemmende Therapie bei Kindern. Mithilfe von Vitamin K, oral oder i.v., sowie Prothrombinkomplex (PPSB)
kann die Wirkung der VKA im Blutungsnotfall rasch aufgehoben werden. Die Medikamentenwirkung kann mithilfe der Bestimmung der International Normalized Ratio (INR) flächendeckend bestimmt werden. Die im Vergleich zu den DOAK kostengünstige VKA-Therapie kommt weltweit seit Jahren zur Anwendung. ?
Erstellen Sie für den oben genannten Patienten eine individuelle, periprozedurale Risikostratifizierung.
Der Patient wird seit 4 Monaten bei Z. n. ACS und DES-Implantation mit einer gerinnungshemmenden Triple-Therapie (DOAK und DPAH) behandelt. In Abhängigkeit von der Operationsdringlichkeit muss die DPAH bei erhöhter operativer Blutungsgefahr pausiert werden. Das Risiko der schwerwiegenden StentThrombose muss mit dem Risiko einer spontanen Aneurysmaruptur sorgfältig abgewogen und das Vorgehen in einem interdisziplinären Konsens (Kardiologe, Gefäßchirurg, Anästhesist) abgestimmt werden. Die aktuellen kardiologischen Leitlinien sehen bei den DES der 2. und v. a. 3. Generation einen Spielraum zum früheren Absetzen der DPAH. Trotzdem sollten elektive Operationen erst nach 12-monatiger Therapie mit einer DPAH
durchgeführt werden. Für die punktgenaue Pausierung der DOAK-Therapie zu einer geplanten Operation müssen folgende patientenindividuelle Fragen vorab beantwortet werden [6]: 4 Das thrombembolische und das Blutungsrisiko des Patienten mit der Bestimmung des CHA2DS2-VASC2 und des HAS-BLED Score (. Tab. 2). 4 Das periprozedurale Blutungsrisiko. Hierzu zählen neben der Einschätzung des operativen Blutungsrisikos auch spezielle anästhesiologische Maßnahmen (Anlage einer neuroaxialen Blockade, periphere Regionalanästhesie). 4 Möglichst genaue Einschätzung der DOAK-Eliminationshalbwertszeiten in Abhängigkeit von der aktuellen Nieren-, Leberfunktion und wirkungsverstärkender Komedikation. Verschiedene Medikamente (z. B. Erythromycin, Ketoconazol, Amiodaron), aber auch Nahrungsmittelinhaltsstoffe (z. B. Grapefruit) führen über die Hemmung des P-Glykoproteins und des ZytochromP450-Enzyms zu einer Wirkungsverstärkung der DOAK und somit zur verstärkten Blutungsneigung. Im Gegensatz dazu besteht durch die gleichzeitige Einnahme von Induktoren von Zytochrom-P450Der Anaesthesist
Facharzt-Training Tab. 1 Empfohlene Intervalle für die Gabe von Antikoagulanzien vor und nach Punktion/ Kathetermanipulation. (Modifiziert nach Waurick [11]) Substanz und Dosis HWZ Punktion/Katheterentfernung Vorher
Nachher
ASS, 100 mg/Tag
7–10 Tage
Keine
Keine
Clopidogrel, 75 mg/Tag
7–10 Tage
7–10 Tage
Nach Entfernung
Dabigatran, 2-mal 150 mg/Tag
14–17 h
56–85 h
6h
Rivaroxaban, einmal 20 mg/Tag
11–13
44–65 h
4–5,5 h
Apixaban, 2-mal 5 mg/Tag
10–15
40–75 h
5–7 h
Edoxaban, einmal 60 mg/Tag
10–14
40–60 h
6–7 h
ASS Acetylsalicylsäure, HWZ Halbwertszeit Tab. 2 Schlaganfallrisikoabschätzung bei Patienten mit Vorhofflimmern nach dem CHA2DS2VASc-Score (maximal 9 Punkte) und dem HAS-BLED Score zur Einschätzung des Blutungsrisikos vor Beginn einer Antikoagulation (maximal 9 Punkte) Akronym Parameter Punkte Akronym Parameter Punkte C H
Chronische Herzinsuffizienz Arterielle Hypertonie
1
H
Arterielle Hypertonie 1
1
A
Pathologische Nierenfunktion
1
Pathologische Leber- 1 funktion A2
Alter ≥75 Jahre
2
S
Schlaganfall
1
D
Diabetes mellitus
1
B
Blutung
1
S2
Vorangegangener Schlaganfall, transitorische ischämische Attacke, Embolie
2
L
Instabiler Wert in der International Normalized Ratio
1
V
Periphere Verschlusskrankheit
1
E
Alter ≥65 Jahre
1
A
Alter 65 bis 74 Jahre
1
D
Je 1
Sc
Weibliches Geschlecht
1
Medikamente oder Alkohol
≥2 Punkte hohes Schlaganfallrisiko: orale Antikoagulation empfohlen 1 Punkt orale Antikoagulation empfohlen, 2. Wahl Acetylsalicylsäure (ASS) 100 mg
Enzym und P-Glykoprotein (z. B. Carbamazepin, Rifampicin, Phenytoin und Johanniskraut) ein erhöhtes thrombotisches Risiko durch die Wirkungsabschwächung der DOAK. 4 Handelt es sich um einen Hochrisikopatienten (mechanische Herzklappe, Lungenarterienembolie [LAE] 4 Monaten) eingeschätzt. Deshalb sind das zeitgerechte Absetzen von Clopidogrel (>7 Tage präoperativ) und die Fortführung der ASS-100-Monotherapie gerechtfertigt. Die reduzierte Rivaroxabandosierung, 15 mg/Tag, muss unter Berücksichtigung der aktu-
Vor
Niedriges Blutungsrisiko
Moderates bis hohes Blutungsrisiko
Keine DOAK-Einnahme ein Tag vor bzw. am Morgen vor dem Eingriff
Rivaroxaban Apixaban Edoxaban
GFR =30ml/min
Letzte Einnahme D-3
Dabigatran
GFR =50ml/min
Letzte Einnahme D-4
GFR =30–49ml/min
Letzte Einnahme D-5
Kein Bridging
Nach
Orale DOAK-Einnahme 6h nach dem Eingriff
Antikoagulation „prophylaktische Dosis" 6 h nach Operation bei benötigter venöser Thromboseprophylaxe Antikoagulation in „therapeutischer Dosierung" nach chirurgischer Blutstillung (zwischen 24 und 72 h)
ellen Nierenfunktion >72 h präoperativ ohne Bridging abgesetzt werden. Die Anlage einer neuroaxialen Blockade unter 100 mg ASS und einem rechtzeitig (≥5 HWZ) pausierten DOAK wird wegen „fehlender Daten“ in einer Übersichtsarbeit „nicht empfohlen“ [11]. Unter strikter Beachtung der Einhaltung der geforderten Zeitintervalle, der patientenindividuellen Risikofaktoren und, damit verbunden, der guten pharmakokinetischen Einschätzung der DOAK sollte nach Meinung der Autoren die Anlage einer thorakalen Periduralanästhesie bei diesem Patienten sicher durchführbar sein. Spezielle Laboruntersuchungen sind nicht notwendig (Anti-Xa-Spiegel, Thrombozytenfunktionstestung; [1]). Zur Vermeidung von Falsch- und/oder Überdosierungen (z. B. zusätzliche s.c.NMH-Gabe in der Pausierungsphase) muss dieses Therapieregime allen medizinisch und pflegerisch an der Patientenversorgung beteiligten Mitarbeitern kommuniziert werden. Postoperativ gilt: Die postoperative Thromboembolieprophylaxe mit einem DOAK wird bei liegendem Katheter nicht empfohlen. Die empfohlenen Zeitabstände beim Ziehen des Periduralkatheters sind strikt einzuhalten [11]. Entsprechend muss
die vorgesehene Antikoagulation zwischen Anästhesist und Gefäßchirurg so abgestimmt werden, dass ein Zeitfenster für die Entfernung des PDK besteht. Die DOAK-Therapie soll erst nach PDK-Entfernung und bei stabilen postoperativen Verhältnissen (Blutung, paralytischer Ileus) fortgeführt werden. Die gerinnungshemmende Therapie erfolgt in Abhängigkeit von der klinischen Situation bis zu diesem Zeitraum mit unfraktioniertem, besser aber niedermolekularem Heparin. ? Welche Möglichkeiten der schnellen Aufhebung der gerinnungshemmenden Therapie stehen Ihnen bei der Notfallversorgung des oben genannten Patienten – z. B. gedeckte Ruptur des Bauchaortenaneurysmas – zur Verfügung? Bei einer Notoperation unter TripleTherapie ist die Kenntnis der letzten Medikamenteneinnahme essenziell. Liegt diese weniger als 6 h zurück, kann bei den DOAK durch die orale Einnahme von Aktivkohle versucht werden, die Resorption zu verhindern und damit die gerinnungshemmende Wirkung zu vermindern [6]. Im Fall einer intra-
Abb. 2 9 Vorschlag der French Working Group on Perioperative Hemostasis und Europäischen Gesellschaft für Anästhesiologie zum perioperativen Management der direkten oralen Antikoagulanzien bei geplanten Operationen D Tag. (Modifiziert nach Albaladejo et al. [1])
operativen Massenblutung und DOAKbedingten Koagulopathie steht neben der Aufrechterhaltung der Hämostase (ausgeglichener Säure-Base-Haushalt, ionisiertes Kalzium >0,9 mmol/l, Wärmeerhalt) und der Gabe von Tranexamsäure Prothrombinkomplex zur Verfügung (PPSB, [5]). Real-life-Registerdaten von Patienten mit stattgehabten kritischen Blutungen (z. B. intrakraniell) zeigen die Wirksamkeit von zeitnah verabreichtem PPSB. Die Dosierungsempfehlungen sind uneinheitlich. Vermutet wird derzeit, dass für die optimale Wirkung die PPSB-Dosis an die Konzentration der DOAK angepasst werden muss. Als allgemein akzeptierte Dosierung gelten 25–50 IE PPSB/kgKG. Entsprechend der klinischen Blutungsneigung kann ein zweite PPSB-Dosis verabreicht werden [8]. Für die DOAK stehen mit Idarucizumab (350-mal höhere Bindungsaffinität an den Thrombinrezeptor im Vergleich zu Dabigatran) und Andexanet alfa (kompetitive Hemmung für direkte Xa-Inhibitoren) spezifische Therapiemöglichkeiten zur Verfügung [3]. Ihr Einsatz bleibt u. a. auch wegen ihrer enormen Kosten im klinischen Alltag speziellen, anders nichtbeherrschbaren Situationen vorbehalten. Die durch die Der Anaesthesist
Facharzt-Training DPAH verursachte primäre Hämostasestörung kann mithilfe der Gabe von Thrombozytenkonzentraten behoben werden. In Abhängigkeit von der klinischen Blutungssituation müssen diese in ausreichender Dosierung verabreicht werden. Ticagrelor hemmt wegen seiner reversiblen Bindungseigenschaft an den ADP-Rezeptor auch die frisch transfundierten Thrombozyten. Insbesondere 90 %. Zur Kontrolle der Maskendichte sollte die Kapnographie eingesetzt werden. Bei kooperativen Patienten kann die Zeit für die Präoxygenierung durch 8 Atemzüge mit dem Volumen der Vitalkapazität auf ca. 1 min verkürzt werden. Einleitung. Es erfolgen die Gabe einer Kombination aus Hypnotikum, Opioid (Ausnahme bei Sectio) und Relaxans sowie die Intubation durch direkte Laryngoskopie (alternativ mithilfe des Videolaryngoskops) ohne Zwischenbeatmung. Bei erwartet schwierigem Atemweg ist die fiberoptische Wachintubation Mittel der Wahl. Bei unerwartet schwierigem Atemweg erfolgt das Vorgehen gemäß der geltenden S1-Leitlinie [4]. Bei drohender Hypoxie kann eine drucklimitierte (20 mbar) Zwischenbeatmung erwogen werden [4].
Krikoiddruck. Die Anwendung des Krikoiddrucks ist umstritten. Hierbei soll durch manuellen Druck auf Ringknorpel und Kehlkopf eine Regurgitation vermieden werden. Allerdings wird bei der häufig vorkommenden falschen Anwendung der Technik der Ösophagus nicht zuverlässig abgedichtet und der Tonus des unteren Ösophagussphinkters herabgesetzt. Dies kann die Maskenbeatmung und die Laryngoskopie erschweren. Aufgrund der fehlenden Evidenz für eine Reduktion der Aspiration und aufgrund der möglichen schädlichen Folgen sollte der Krikoiddruck nicht angewandt werden. Extubation. Etwa ein Drittel aller Aspirationen findet während der Extubation statt. Deshalb sollte die Extubation wie die Einleitung bei dem in Oberkörperhochlage positionierten Patienten erst nach dem Absaugen mithilfe der Magensonde erfolgen. Das Wiedererlangen einer ausreichenden Spontanatmung und suffizienter Schutzreflexe ebenso wie Kreislaufstabilität und Normothermie sind wie bei jeder anderen Narkoseausleitung selbstverständliche Voraussetzungen. Eine neuromuskuläre Restblockade muss in jedem Fall ausgeschlossen werden. ? Was versteht man unter einer „controlled rapid sequence induction and intubation“, und wie und bei welchen Patientengruppen wird sie durchgeführt? Eine cRSII sollte immer dann durchgeführt werden, wenn das Risiko für eine Hypoxie höher eingeschätzt wird als das Risiko einer Aspiration. Hierbei wird nach Narkoseinduktion bis zum Erreichen der Wirkung eines nichtdepolarisierenden Relaxans eine vorsichtige Maskenbeatmung mit maximalen Beatmungsdrücken von 20 cm H2O durchgeführt (z. B. „pressure controlled ventilation“, PCV). Dieses Verfahren wird insbesondere bei Säuglingen und Kleinkindern angewandt, da aufgrund des erhöhten Sauerstoffverbrauchs, der verminderten FRC, der oft erschwerten Präoxygenierung (beachte: Kooperation) und des häufigeren schwierigen Atemwegs die Gefahr einer Hypoxie besonders hoch ist [2].
?
Welche Medikamente sollen bzw. können für die Narkoseeinleitung bei einer Rapid sequence induction and intubation verwendet werden?
Opioide. Es eignen sich Fentanyl, Sufentanil, Alfentanil und Remifentanil. Ein Opioid sollte mit Ausnahme der Sectio caesarea in jedem Fall verabreicht werden, da die benötigte Menge der potenziell kreislaufdepressiven Hypnotika zum Erreichen einer ausreichenden Narkosetiefe dadurch reduziert werden kann. Ebenso verbessert der Einsatz von Opioiden die Intubationsbedingungen. Remifentanil, Alfentanil und Sufentanil haben einen schnelleren Wirkeintritt als Fentanyl. Hypnotika. Infrage kommen Propofol (1–3 mg/kgKG) und Thiopental (2–5 mg/ kgKG). Propofol sollte bei kreislaufstabilen Patienten bevorzugt werden, da die Unterdrückung pharyngealer Reflexe erheblich stärker ist. Somit wird eine Aspiration besser vermieden, und es werden bessere Intubationsbedingungen geschaffen. Allerdings wirkt Propofol in der genannten Induktionsdosis stärker kreislaufdepressiv als Thiopental. Ist das kardiovaskuläre Risiko höher als das Aspirationsrisiko, sollte die Indikation zur RSII überdacht werden. Etomidat wird nicht empfohlen, da es eine Nebennierenrindensuppression auslöst. Relaxanzien. Traditionell ist Succinylcholin (1–1,5 mg/kgKG, bei Kindern 1,5–2 mg/kgKG) aufgrund des schnellen Wirkeintritts das Medikament der Wahl. Wegen der potenziell gefährlichen Nebenwirkungen und der zahlreichen Kontraindikationen wird zunehmend das nichtdepolarisierende Rocuronium (0,9–1,2 mg/kgKG) verabreicht. Bei 2- bis 3-facher ED95 (Effektivdosis, die zu einer 95 %igen neuromuskulären Blockade führt) besitzt es einen ähnlich schnellen Wirkeintritt wie Succinylcholin. Eine Präkurarisierung oder ein „priming“ ist obsolet. Ketamin kann zusätzlich oder statt eines Opioids bei kreislaufinstabilen Patienten eingesetzt werden.
? Welche weiteren diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen sind nach einer stattgehabten Aspiration sinnvoll? 4 Absaugen des Oropharynx, Kopftief-
4
4 4
4 4
4
lage, kein Krikoiddruck bei aktivem Erbrechen (Cave: Gefahr der Ösophagusruptur), Laryngoskopie und Absaugen unter Sicht, Intubation und blindes endotracheales Absaugen vor der ersten Beatmung, FIO2 und positiver endexspiratorischer Druck („positive endexpiratory pressure“, PEEP) nach Bedarf, ggf. Bronchoskopie, beachte: keine Lavage, bei schwerer Aspiration Operation nur durchführen, wenn diese nicht verschiebbar ist, beachte: keine Steroide, keine Antibiotika, ggf. Aufnahme auf die „intensive care unit“ (ICU)/„Intermediatecare“(IMC)-Station, wenn der Patient 2 h nach dem Ereignis symptomfrei ist (Sauerstoffsättigung, Thoraxröntgen), ist eine Intensivüberwachung verzichtbar [3].
? Welche präoperativen Maßnahmen können das Aspirationsrisiko senken? Hierzu zählt die pharmakologische Behandlung aspirationsgefährdeter Patienten mit H2-Blockern (z. B. Ranitidin 6–12 h präoperativ sowie 30 min präoperativ) oder mit Natriumzitrat, 0,3 M, 20–30 ml, bei hoher Aspirationsgefahr präoperativ sowie eine adäquate medikamentöse Prämedikation zu Anxiolyse und Analgesie. Es sind klare Absprachen der Abläufe unter den Beteiligten vor der Narkoseeinleitung zu treffen. Schlüsselwörter. Atemwegsmanagement · Aspiration · Hypoxie · Intubation · Extubation
Korrespondenzadresse A.-C. Kahan Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Universitätsklinikum Augsburg A.ö.R Stenglinstr. 2, 86156 Augsburg, Deutschland [email protected]
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Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. A.-C. Kahan und K. Ott geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor. The supplement containing this article is not sponsored by industry.
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Der Anaesthesist Facharzt-Training Anaesthesist https://doi.org/10.1007/s00101-019-00682-9 © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Redaktion A. Heller, Augsburg G. Breuer, Coburg
S. N. Knoth · B. Weber · L. H. J. Eberhart Klinik für Anästhesie und Intensivtherapie, Philipps-Universität, Marburg, Deutschland
54/w nach Reduktionsplastik der Brust in Allgemeinanästhesie Vorbereitung auf die Facharztprüfung: Fall 42 Fallbeschreibung Freitag, 18:00 Uhr. Sie werden als diensthabender Anästhesist zu einer 54-jährigen Patientin (Körperlänge 1,76 m, Körpergewicht 88 kg, Body-Mass-Index [BMI] 28,4 kg/m2) in den Aufwachraum (AWR) gerufen, bei der eine beidseitige Reduktionsplastik der Brust in Allgemeinanästhesie durchgeführt wurde. Sie finden eine blasse Patientin mit schweißbedeckter Stirn vor, die seit Ankunft im AWR vor 60 min kontinuierlich über Übelkeit klagt und bisher 2-mal erbrochen hat. Dem AWR-Protokoll können Sie entnehmen, dass die Patientin unmittelbar nach Eintreffen im AWR wegen starkem „shivering“ und starker Schmerzen in der Brustgegend 50 mg Pethidin erhalten hat. Aktuell läuft der Rest einer Infusion mit Kristalloidlösung ein, der 2,5 g Metamizol zugegeben wurden. Aktuelle Vitalparameter: der nicht-invasiv gemessene Blutdruck90/50 mm Hg, Herzfrequenz (HF) 110/min, unter Raumluft pulsoxymetrisch gemessene Sauerstoffsättigung (SpO2) 95 %. Gut lokalisierbare Schmerzen (numerische Rating-Skala [NRS] 6) beidseits in der Brustgegend ohne Ausstrahlung. Dauermedikation: 4 Valsartan + Hydrochlorothiazid (HCT) 160 mg + 12,5 mg, 4 Amlodipin 5 mg, 4 Latanoprostaugentropfen, 4 Fluoxetin 40 mg, 4 Acetylsalicylsäure (ASS) 100 mg, 4 bei Bedarf Ibuprofen 400 mg.
Auf Nachfrage erfahren Sie, dass die Patientin die Medikamente am Morgen desselben Tages zum letzten Mal eingenommen hat.
Thematik Der folgende Fragenkomplex bezieht sich auf: 4 das Beschwerdebild „postoperative nausea and vomiting“ (PONV, Übelkeit und Erbrechen nach Operationen) und Differenzialdiagnosen im AWR, 4 die Risikofaktoren und Risiko-Scores, 4 die Pathophysiologie, 4 die Komplikationen, 4 die pharmakologische sowie nichtpharmakologische Prophylaxe und Therapie des PONV.
Prüfungsfragen 4 Welche Ursachen können dem geschilder-
ten Zustand zugrunde liegen? 4 Welche Maßnahmen ergreifen Sie? 4 Erklären Sie das Beschwerdebild PONV
(„postoperative nausea and vomiting“). 4 Was sind Risikofaktoren für PONV ?
Benennen Sie Risiko-Scores. 4 Welche pathophysiologischen Phänome-
ne liegen PONV zugrunde? 4 Was sind mögliche Komplikationen von
PONV? 4 Welche Möglichkeiten der Prophylaxe und
Therapie von PONV gibt es? 4 Welche Möglichkeiten der medikamen-
tösen Prophylaxe und Therapie haben Sie? 4 Von welchen nichtpharmakologischen Interventionen können Patienten mit PONV profitieren? Der Anaesthesist
Facharzt-Training D Antworten ? Welche Ursachen können dem geschilderten Zustand zugrunde liegen? Der geschilderten, relativ unspezifischen Symptomatik können zahlreiche Differenzialdiagnosen zugeordnet werden. Diese reichen von vergleichsweise banalen, meist einfach zu therapierenden und recht häufig vorkommenden Zuständen wie PONV bis hin zu lebensbedrohlichen, aber eher unwahrscheinlichen Erkrankungen wie akutes Koronarsyndrom, Lungenembolie oder Hypoglykämie. Hier gilt es, ein pragmatisches Vorgehen zu präsentieren, das zügig die Symptome der Patientin therapiert, gleichzeitig aber schwere und bedrohliche Ursachen sukzessive ausschließt. Mögliche Ursachen der geschilderten Symptomatik sind grob in der Reihenfolge der absteigenden Wahrscheinlichkeit in . Infobox 1 aufgelistet. „Postoperative nausea and vomiting“ und postoperativer Schmerz. Die beschriebene Symptomatik lässt primär an fortbestehende Schmerzen in Kombination mit PONV denken. Diese Diagnosen lassen sich durch eine zielgerichtete Anamneseerhebung zügig eingrenzen. Beide Zustände sind postoperativ sehr häufig und können durch eine vegetative Begleitsymptomatik zu Kreislaufdysregulation, Blässe und Schwitzen führen.
Infobox 1 Differenzialdiagnosen zu Übelkeit und Erbrechen im Aufwachrauma 4 „Postoperative nausea and vomiting“ und 4 4 4 4 4 4 4 4
postoperativer Schmerz Hypovolämischer Schock/Nachblutung (Orthostatische) Kreislaufdysregulation Unerwünschte Arzneimittelwirkungen Akutes Koronarsyndrom Glaukomanfall Serotoninsyndrom Hypoglykämie Lungenembolie
a Reihenfolge in absteigender Wahrscheinlichkeit
Der Anaesthesist
Hypovolämischer Schock. Bei einer beidseitigen Reduktionsplastik entstehen große Wundflächen. Hinzu kommt, dass diese Operation am sitzenden Patienten durchgeführt wird und so intraoperative Hypotensionen begünstigt werden. Kleinere Blutungsquellen bleiben dadurch mitunter unerkannt, was wiederum das Risiko postoperativer Nachblutungen erhöht. Kreislaufdysregulation. Die in diesem Fall erfolgte Fortführung der gesamten antihypertensiven Medikation, evtl. gepaart mit einer restriktiven Flüssigkeitsgabe, kann eine arterielle Hypotension in der postoperativen Phase begünstigen. Diese kann wiederum – ähnlich wie der Blutdruckabfall bei Spinalanästhesien – Übelkeit auslösen bzw. aufrechterhalten. Medikamentennebenwirkung. Die i.v.Gabe von Metamizol löst nicht selten erhebliche Blutdruckabfälle aus, die auf einen direkt relaxierenden Effekt an der glatten Gefäßmuskulatur zurückzuführen sind. Im vorliegenden Fall ist ein plausibles Szenario, dass das Metamizol erst gegen Ende der Operation der „Restinfusion“ in sehr hoher Dosis zugegeben wurde, wodurch der blutdrucksenkende Effekt nicht zeitnah auffiel. Möglicherweise wurde die Infusion im AWR schnell appliziert, mit nachfolgender akuter Hypotension, einschließlich Reflextachykardie, und begleitender Übelkeit (s. oben). Dazu würde auch ein Schweißausbruch passen, der ebenfalls eine beschriebene Nebenwirkung v. a. bei fiebernden Patienten ist. Akutes Koronarsyndrom. Die bei der Patientin beschriebene Symptomkonstellation ist pathognomonisch für eine kardiale Ischämie. Die im Fall anamnestisch beschriebene arterielle Hypertension stellt immerhin einen Risikofaktor dar. Untypisch ist allerdings der Schmerz, der bilateral und von der Patientin gut lokalisierbar im Operationsbereich angegeben wird und keine Ausstrahlung zeigt.
Akuter Glaukomanfall. Hinweisend für das Vorliegen einer Glaukomerkrankung ist die Dauermedikation mit Prostaglandinaugentropfen (Latanoprost, ein Prostaglandin-F2α[PGF2α]-Analogon). Diese Medikation wird v. a. beim wesentlich häufiger auftretendem Offenwinkelglaukom verabreicht, dem – im Gegensatz zum Engwinkelglaukom – keine Verengung des Kammerwinkels zugrunde liegt. Vor allem durch anticholinerg wirkende Substanzen kann es beim Engwinkelglaukom zu einer akuten Blockade des Kammerwinkels mit konsekutiv krisenhaftem Anstieg des Augeninnendrucks kommen. Dies geht meist mit starken Schmerzen im Augen-/Kopfbereich einher – was auf die vorgestellte Patientin nicht zutrifft. Alle anderen Symptome passen durchaus zu einem akuten Glaukomanfall, insbesondere die vegetative Symptomatik. Serotoninsyndrom. Das Serotoninsyndrom ist meist durch eine Interaktion serotonerg wirkender Pharmaka bedingt (hier den selektiven SerotoninWiederaufnahmehemmer [SSRI] Fluoxetin). Für Pethidin, das zur Therapie von Shivering und Schmerzen im AWR in ungewöhnlich hoher Dosis appliziert wurde, besteht ein Warnhinweis für die Kombination mit Monoaminooxidase(MAO)-Hemmern, aber eben auch mit SSRI. Ebenso besteht nach Fentanylgabe das Risiko eines Serotoninsyndroms [3]. Neben kognitiven Symptomen (Delir, Ruhelosigkeit) kommt es zu gesteigerter Reflexaktivität, Schwitzen, Schüttelfrost und Tremor. Da die Patientin eine Kombination serotonerger Pharmaka erhalten hat und zudem einige der genannten Symptome zeigt, sollte das Serotoninsyndrom als Differenzialdiagnose berücksichtigt werden. Hypoglykämie. Durch die Aktivierung inflammatorischer Kaskaden ist der Blutzuckerspiegel postoperativ tendenziell eher erhöht als erniedrigt. Da eine Hypoglykämie mit unspezifischen Symptomen einhergeht, sollte diese Differenzialdiagnose bedacht werden, wenn
Tab. 1 Risikofaktoren für „postoperative nausea and vomiting“ (PONV) PatienWeibliches Geschlecht tenbe„Junges“ Alter dingt Nichtraucher PONV-Anamnese Kinetose Anästhesiebedingt
Gabe von volatilen Anästhetika Gabe von Distickstoffmonoxid („Lachgas“) Postoperative Opioidgabe (Hochdosierte Antagonisierung der neuromuskulären Blockade)
Operationsbedingt
Tab. 2 Für Erwachsene validierte RisikoScores für „postoperative nausea and vomiting“ (PONV) Apfel- Weibliches Geschlecht Score Anamnese von PONV oder Kinetose [2] Nichtraucherstatus Postoperative Opioidgabe Koivu- Weibliches Geschlecht ranta- Anamnese von PONV Score Kinetose [8] Nichtraucherstatus Operationsdauer >60 min Ein Punkt je vorliegendem Risikofaktor
Strabismusoperation bei Kindern
Lungenembolie. Eine Lungenembolie ist unmittelbar postoperativ ein eher seltenes Ereignis. Die Akutsymptome ähneln denen des akuten Koronarsyndroms. ? Welche Maßnahmen ergreifen Sie? Bestimmen aktueller Vitalparameter. Zeigen diese weiterhin hypotensive Kreislaufverhältnisse zusammen mit den Zeichen einer Mangelperfusion (Rekapillarisierungszeit testen) in Kombination mit einer Aktivierung des sympathikoadrenergen Systems (Tachykardie, Blässe, Kaltschweißigkeit), müssen vor dem Einleiten symptomatischer Maßnahmen weitere Differenzialdiagnosen (z. B. Hypovolämie/hämorrhagischer Schock) abgeklärt werden. Bilanz ziehen aus intra- und postoperativem Blutverlust sowie erfolgter Volumengabe. Verband- und Drainagen kontrollieren, um eine Nachblutung frühzeitig zu erkennen (Wichtig: Operateur informieren). Orientierenden „passive leg raise test“ durchführen. Therapie: Volumengabe, Kompressionsverband, Optimierung der Gerinnung, evtl. Gabe von Tranexamsäure, ggf. Blutentnahme zur Kreuzprobe und Anforderung von Blutprodukten.
Nichtopioidanalgesie (z. B. ergänzend zu Metamizol i.v.-Paracetamol, Parecoxib), ergänzende Therapie mit Opioid (Piritramid, Morphin, Oxycodon o. Ä.); 4 bei persistierenden Beschwerden Maßnahmen ausweiten: Troponinschnelltest, 12-Kanal-EKG, transthorakale Echokardiographie (TTE) zum Ausschluss eines Myokardinfarkts/einer Lungenembolie. Serotoninsyndrom behandeln. Das Serotoninsyndrom bleibt eine Ausschlussdiagnose und wird rein symptomatisch therapiert.
Operationsdauer
andere Therapien keine Besserung der Symptomatik bewirken.
4 Wundschmerz: Optimierung der
Nach sicherem Ausschluss einer Blutung die Beschwerden symptomatisch therapieren. 4 Hypotonie: Gabe von Akrinor / Ephedrin, ergänzende Flüssigkeitsgabe. 4 Übelkeit und Erbrechen: duale/ multimodale antiemetische Therapie. Hierzu eignen sich 5-Hydroxytryptamin-3(5HT3)-Antagonisten (Ondansetron, Granisetron), Droperidol (Cave: kann durch α1-antagonistische Effekte den Blutdruck bei Hypovolämie weiterabsenken) oder H1Antihistaminika (z. B. Dimenhydrinat). Da der antiemetische Effekt von Glukokortikoiden (z. B. Dexamethason) erst nach ca. 90 min eintritt, ist diese Intervention eher als Sekundärprophylaxe anzusehen. Sollte sich die Übelkeit nicht innerhalb der nächsten 10 min bessern, die Differenzialdiagnose „Glaukomanfall“ evaluieren (harter Bulbus? Kopfschmerzen? Sehminderung? Therapie: Acetazolamid i.v., β-Rezeptoren-Blocker-Augentropfen (z. B. Timolol), direkte CholinergikaAugentropfen (z.B. Pilocarpin).
®
Differenzierte Schmerzanamnese erheben. Stärke? Charakter? Ausstrahlung? Beispiel: kardialer Ischämieschmerz (schlecht lokalisierbar, ausstrahlend, vernichtend) vs. Wundschmerzen (oberflächlich, klar lokalisierbar, als pochend/ brennend beschrieben).
? Erklären Sie das Beschwerdebild „postoperative nausea and vomiting“. Übelkeit und Erbrechen nach Operationen (PONV) tritt ohne prophylaktische Maßnahmen nach balancierter Anästhesie bei etwa einem Drittel der Patienten auf und stellt somit neben postoperativen Schmerzen die häufigste Beschwerde im AWR dar. Bei Vorliegen mehrerer Risikofaktoren beträgt das PONV-Risiko ohne Prophylaxe bis zu etwa 80 % [2, 8]. Bei Anwendung neuroaxialer Narkoseverfahren ist die Inzidenz etwas niedriger, und PONV tritt häufig erst nach Abklingen der Anästhesie im AWR als Folge einer systemischen Opioidgabe auf. ? Was sind Risikofaktoren für „postoperative nausea and vomiting“? Benennen Sie Risiko-Scores. Die Risikofaktoren (. Tab. 1) lassen sich zu Risiko-Scores zusammenfassen, anhand derer präoperativ das PONV-Risiko abgeschätzt werden kann. Zwei gebräuchliche und validierte Scores für Erwachsene sind der Apfel- und der Koivuranta-Score ([2, 8]; . Tab. 2). Keiner der validierten Risiko-Scores weist eine wirklich überzeugende Diskriminationsfähigkeit auf [5]. Viele Autoren plädieren daher für eine eher liberale PONV-Prophylaxe, zumal die gängigen Antiemetika generisch und daher preiswert sind sowie ein ausgezeichnetes Wirkung-Nebenwirkung-Spektrum aufweisen.
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Facharzt-Training mittelt, die für die medikamentöse Therapie relevant sind. Die Lokalisation der jeweiligen Rezeptoren ist . Abb. 1 zu entnehmen.
Vestibularorgan
H1
? Was sind mögliche Komplikationen von „postoperative nausea and vomiting“?
M1
funktionelles Brechzentrum CTZ
NTS D2
NK1
H1
M1
H1
D2 M1
5HT3
5HT3
N. vagus
Blut-Hirn-Schranke
Tox
Blut
5HT3
? Welche pathophysiologischen Phänomene liegen „postoperative nausea and vomiting“ zugrunde? Erbrechen kann als Schutzreflex vor (enteralen) Vergiftungen betrachtet werden. Der Brechreflex wird vom funktionellen Brechzentrum (FBZ) im Hirnstamm gesteuert, an dem die Nuclei tractus solitarii (NTS), die Area postrema (AP) und weitere Kerngebiete der Formation reticularis beteiligt sind [11]. Das FBZ erhält Afferenzen verschiedener Erregungsbahnen. Dazu gehören 4 enterochromoaffine Zellen (ECZellen), die als Chemo- und Mechanorezeptoren in der Schleimhaut des Gastrointestinal(GI)-Trakts liegen. Bei Stimulation sezernieren die ECZellen Serotonin, das über 5HT3Rezeptoren vagale Fasern stimuliert, die zu den NTS projizieren; 4 allgemein viszerosensible Fasern des GI-Trakts, die z. B. durch Dehnung stimuliert werden und ebenfalls zu den NTS projizieren; Der Anaesthesist
Abb. 1 9 Pathophysiologie des „postoperative nausea and vomiting“. 5HT3 5-Hydroxytryptamin-3-Rezeptor, CTZ Chemorezeptor-Triggerzone, D2 Dopamin-2-Rezeptor, H1 Histamin-1-Rezeptor, M1 muskarinergerAcetylcholinrezeptor 1, NK1 Neurokinin-1-Rezeptor, NTS Nuclei tractus solitarii, Tox Toxin. (Nach Wiesmann et al. [11])
4 resorbierte (Gift-)Stoffe des GI-
Trakts, die über das Blut direkt zur Chemorezeptor-Triggerzone (CTZ) der AP gelangen; diese liegt als zirkumventrikuläres Organ funktionell außerhalb der Blut-Hirn-Schranke. Die in der CTZ detektierten Stoffe können über einen der zahlreichen Rezeptoren die CTZ direkt stimulieren. 4 Signale aus den Vestibularorganen. 4 Signale des limbischen Systems (antizipatorisches Erbrechen). Das FBZ steuert über verschiedene Efferenzen den 3-phasigen Brechakt, der sich zusammensetzt aus 4 Stase des oberen GI-Trakts, 4 jejunoduodenaler Retroperistaltik, 4 Kontraktionen quergestreifter Muskulatur des Zwerchfells und des Abdomens. „postoperative nausea and vomiting“ wird über verschiedene Rezeptoren ver-
Schwerwiegende Komplikation durch PONV sind selten (. Infobox 2; Kasuistiken, Fallserien [10]), aber potenziell lebensbedrohlich. Häufige Komplikationen sind die ungeplante stationäre Aufnahme ambulanter Patienten sowie eine fragliche Resorption oral eingenommener Medikamente. ? Welche Möglichkeiten der Prophylaxe und Therapie von „postoperative nausea and vomiting“ gibt es? Die antiemetische Strategie lässt sich in 3 Bereiche gliedern: pharmakologische und nichtpharmakologische Interventionen sowie die Modifikation des Anästhesieverfahrens mit dem Ziel, gesicherte emetogene Faktoren zu vermeiden (. Abb. 2). Die Entscheidung zur Modifikation des Anästhesieverfahrens muss bereits präoperativ getroffen werden, da sie im Verlauf nicht mehr nachgeholt werden kann. Die Effekte kombinierter Maßnahmen sind additiv [10], sodass v. a. Hochrisikopatienten von einer Mehrfachprophylaxe und im Bedarfsfall Mehrfachtherapie profitieren. Zu Prophylaxe und Therapie kommen Medikamente verschiedener pharmakologischer Gruppen zum Einsatz, die antagonistisch an den für PONV pathophysiologisch relevanten Rezeptoren wirken. Bei der PONV-Prophylaxe kann ein risikoadaptierter (. Abb. 3) von einem risikounabhängigen Ansatz unterschieden werden. Einerseits kann ein risikoadaptierter Ansatz Ressourcen einsparen; dagegen vermeidet ein risikounabhängiges Vorgehen Ungenauigkeiten der Risikoprädiktion. „Postoperative nausea and vomiting“ sollte unmittelbar therapiert werden, da ohne Therapie bei ca. zwei Drittel der Patienten mit rezidivierenden PONVEpisoden zu rechnen ist [4]. Therapeutisch werden grundsätzlich die gleichen
Infobox 2 Schwerwiegende Komplikationen von „postoperative nausea and vomiting“. (Rüsch et al. [10]) 4 4 4 4 4 4 4 4 4
Mallory-Weiss-/Boerhaave-Syndrom Nahtdehiszenzen Pneumothorax Koronarischämie Dehydratation (v. a. Kinder) Metabolische Entgleisung (v. a. Kinder) Hautemphysem Aspiration Glaskörperblutungen (nach Netzhautchirurgie) 4 Epifasziale Hämatome
Substanzen verwendet wie zur Prophylaxe. Zum Einsatz kommen primär Antiemetika pharmakologischer Gruppen, die noch nicht im Rahmen der Prophylaxe bzw. innerhalb der letzten 6 h appliziert wurden [6]. Bevorzugt sollten im AWR daher Antiemetika verabreicht werden, die auf den Stationen zurückhaltend angewandt werden. ? Welche Möglichkeiten der medikamentösen Prophylaxe und Therapie haben Sie? Anwendung finden Antagonisten an den für PONV pathophysiologisch relevanten Rezeptoren (Dopamin-2-Rezeptor [D2], Histamin-1-Rezeptor [H1], muskarinerger Acetylcholinrezeptor 1 [M1], 5HT3) sowie Glukokortikoide. Zur Gruppe der D2-Rezeptor-Antagonisten, die bei PONV eingesetzt werden, zählen die beiden Neuroleptika Droperidol und Metoclopramid (MCP), deren Gabe bei Patienten mit M. Parkinson kontraindiziert ist. Droperidol findet Anwendung bei Erwachsenen zu Prophylaxe und Therapie von PONV sowie als Zugabe zu Morphinderivaten im Rahmen der „patient-controlled analgesia“ (PCA). Neben der antiemetischen Wirkung reduziert Droperidol postoperative Kopfschmerzen und wirkt prokinetisch auf den GI-Trakt. Unter dem Einsatz von Droperidol kann sich die QTc-Zeit verlängern. Die Standarddosierung für Erwachsene beträgt 0,625–1,25 mg und liegt somit unterhalb der neuroleptisch wirksamen Dosis. Metoclopramid ist, genauso wie Droperidol, bei Patienten bis zum 2. Lebens-
jahr nicht indiziert. Bis zum 14. Lebensjahr darf es nur nach strenger Indikationsstellung eingesetzt werden. Selten kommt es unter der Anwendung von D2Antagonisten zu Sedierung und extrapyramidalmotorischen Störungen. Die mittlere i.v.-Dosierung für MCP beträgt 0,2–0,3 mg/kgKG. Dimenhydrinat ist ein H1-RezeptorAntagonist und entfaltet zudem eine anticholinerge Wirkung über M1 -Rezeptoren. Es wirkt antiemetisch und leicht sedierend. Kontraindiziert ist die Gabe bei Alkoholmissbrauch, zerebrovaskulärer Insuffizienz und einer Therapie mit Aminoglykosiden. Zu den wichtigsten Nebenwirkungen gehören Sehstörungen, Erhöhung des Augeninnendrucks, Miktionsstörungensowie verminderte Wirkungen von Heparin und Glukokortikoiden. Darüber hinaus kann es zu Verwirrtheitszuständen bis hin zum Delir kommen. Erwachsene erhalten 62 mg i.v. Bei Kleinkindern ist die Gabe als Suppositorium möglich. Die wichtigsten Vertreter der 5HT3Antagonisten, die bei Erwachsenen und Kindern im Alter ab 2 Jahren im Rahmen der PONV-Prophylaxe und -Therapie Anwendung finden, sind Ondansetron und Granisetron. Neben dem antiemetischen Effekt schwächen sie den Blutdruckabfall bei rückenmarknahen Leitungsanästhesien ab. Zu den typischen Nebenwirkungen zählen Kopfschmerzen, Schwindel, Obstipation und eine Verlängerung der QTc-Zeit. Die i.v.Standarddosierungen für Erwachsene betragen bei 4–8 mg Ondansetron und 1 mg Granisetron. Aus der Gruppe der Glukokortikoide kommt Dexamethason zum Einsatz. Neben der antiemetischen Wirkung zeigt es koanalgetische und antiödematöse Effekte und wirkt stimmungsaufhellend. Der Wirkmechanismus ist noch nicht vollständig geklärt. Der Wirkeintritt ist bis zu 2 h verzögert [1], weswegen es unmittelbar nach der Narkoseeinleitung appliziert werden sollte. Wird es beim wachen Patienten angewandt, ist auf die langsame Injektion zu achten, da Dexamethason Kribbelparästhesien auslösen kann. Eine Einmalgabe ist nebenwirkungsarm. Mitunter können Schlafstörungen auftreten. Kontraindiziert ist die Anwendung bei
florierenden Magen-Darm-Ulzera, akuten oder chronischen bakteriellen Infektionen, systemischen Mykosen oder Parasitosen, immunologischen Erkrankungen und schwerem Diabetes mellitus. Eine repetitive Gabe bei Wiederholungsnarkosen muss kritisch evaluiert werden. Die i.v.-Standarddosierung bei Erwachsenen beträgt 4–8 mg. Die NK1-Antagonisten Aprepitant und Fosaprepitant können off label zu PONV-Prophylaxe und -Therapie eingesetzt werden. Sie heben die zentral und peripher vermittelten Effekte von Substanz P – einem emetogen wirkenden Neuropeptid – auf. Aprepitant kann bei Hochrisikopatienten im Alter ab 12 Jahren in einer Dosierung von 80–125 mg als orale Prämedikation erwogen werden. Seit Kurzem ist der Patentschutz abgelaufen, wodurch das Kosten-NutzenVerhältnis deutlich günstiger ausfällt. Fosaprepitant hat sein Einsatzgebiet im Rahmen der PONV-Therapie, wenn andere Maßnahmen nicht zum Erfolg führten. Angewandt werden kann es ab einem Alter von 6 Monaten. Kontraindiziert ist die Gabe bei mechanischem Ileus. Erwachsene erhalten 150 mg i.v. ? Von welchen nichtpharmakologischen Interventionen können Patienten mit „postoperative nausea and vomiting“ profitieren? Die Stimulation des Akupunkturpunkts Pericardium 6 am Unterarm hat, verglichen mit einer einzelnen pharmakologischen antiemetischen Intervention, eine vergleichbare Effektivität [9]. Johns et al. konnten in einer retrospektiven Studie zur Gabe von Wassereis im AWR einen positiven Effekt hinsichtlich PONV und eine verminderte postoperative Gabe von Antiemetika zeigen [7]. Hinsichtlich weiterer nichtpharmakologischer Interventionen im AWR wie der Anwendung von Ingwerzubereitungen und Aromatherapie existiert keine eindeutige Evidenz. Schlüsselwörter. „Postoperative nausea and vomiting“ · Risikoassessment · Risiko-Scores · Antiemetika · Akupunktur
Der Anaesthesist
Facharzt-Training
präoperativ
intraoperativ Allgemeines
• Regional- statt Allgemeinanästhesie • Propofol statt volatile Anästhetika • Verzicht auf Lachgas
• Reduktion/Vermeiden von Opioiden pharmakologisch • Antagonisten: D2 / H1 / 5HT3 / NK1 • Glukokortikoid
pharmakologisch • NK1-Antagonist p.o. • Glukokortikoid p.o. • Reserve: Scopolamin
pharmakologisch Antagonisten: D2 / H1 / 5HT3 / NK1 (i.v.)
Therapie
Prophylaxe
Allgemeines
postoperativ
nichtpharmakologisch P6-Stimulation Wassereis
Standard-Prophylaxe
Risikofaktoren • weibliches Geschlecht • Nichtraucherstatus • Anamnese (PONV, Kinetose) • Opioid-Gabe / lange Operation
2 Maßnahmen
„step down“ niedrig
„step up“ Risiko ?
keine Maßnahmen
Abb. 2 9 Prophylaxe und Therapie von „postoperative nausea and vomiting“. 5HT3 5-Hydroxytryptamin-3-Rezeptor (z. B. Ondansetron, Granisetron), D2 Dopamin-2-Rezeptor (z. B. Droperidol, Haloperidol), H1 Histamin-1-Rezeptor (z. B. Dimenhydrinat), NK1 Neurokinin-1-Rezeptor (Fosaprepitant i.v., Aprepitant p.o.), P6 Pericardium 6
Maßnahmen • Propofol statt volatile Narkotika • pharmakologisch: Glukokortikoid, D2-, H1-, 5HT3-, NK1-Antagonist • nichtpharm.: P6-Stimulation
hoch
3-5 Maßnahmen
Abb. 3 8 Exemplarisches Vorgehen zur risikoadaptierten medikamentösen Prophylaxe von „postoperative nausea and vomiting“. Niedriges Risiko [10]: ≤1 Risikofaktor; hohes Risiko [10]: ≥3 Risikofaktoren. 5HT3 5-Hydroxytryptamin-3-Rezeptor, D2 Dopamin-2-Rezeptor, H1 Histamin-1-Rezeptor, nichtpharm. nichtpharmakologisch, NK1Neurokinin-1-Rezeptor, P6 Pericardium 6, PONV „postoperative nausea and vomiting“
Korrespondenzadresse Prof. Dr. L. H. J. Eberhart, MA Klinik für Anästhesie und Intensivtherapie, Philipps-Universität Baldingerstr. 1, 35033 Marburg, Deutschland eberhart@staff.uni-marburg.de
anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor. The supplement containing this article is not sponsored by industry.
Literatur Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. L. Eberhart erhielt in der Vergangenheit Berater- und Referentenhonorare durch folgende Firmen: Fresenius-Kabi Deutschland GmbH, Grünenthal GmbH, TEVA-ratiopharm GmbH. S.N. Knoth und B. Weber geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder
Der Anaesthesist
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Der Anaesthesist Facharzt-Training Anaesthesist https://doi.org/10.1007/s00101-019-00667-8 © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Redaktion A. Heller, Augsburg G. Breuer, Coburg
F. Dusse · T. Annecke Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin, Uniklinik Köln, Köln, Deutschland
68/m mit Somnolenz, Tachypnoe, Tachykardie und Hypotension drei Tage nach Duodenopankreatektomie Vorbereitung auf die Facharztprüfung: Fall 43
Fallschilderung für den Prüfungskandidaten Bei einem 68 Jahre alten Patienten wurde wegen einer Pankreasneoplasie eine Duodenopankreatektomie durchgeführt. An Vorerkrankungen sind eine koronare Herzkrankheit (KHK) und Vorhofflimmern bekannt. Intraoperativ wurden 8 Erythrozytenkonzentrate und 6 Frischplasmen substituiert. Am 3. postoperativen Tag erfolgte die Verlegung des Patienten von der Intensiv- auf eine chirurgische Normalstation. Am Abend erhielt er 1 g Metamizol i.v. zur Analgesie. Zwei Stunden später findet das Pflegepersonal den Patienten somnolent, kaltschweißig und tachypnoisch vor. Vitalwerte: Blutdruck 95/60 mm Hg, Herzfrequenz (HF) 135/min, pulsoxymetrisch gemessene Sauerstoffsättigung (SpO2) 91 %, Blutzucker (BZ) 152 mg/dl.
Thematik Der folgende Fragenkomplex bezieht sich auf: 4 Differenzialdiagnostik des geschilderten klinischen Verlaufs, 4 Klassifikation und Differenzierung unterschiedlicher Schockformen, 4 pathophysiologische Aspekte und Besonderheiten verschiedener Schockformen, 4 schockformspezifische therapeutische Ansätze.
Prüfungsfragen 4 Welches Krankheitsbild wird durch den
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typischen Symptomkomplex definiert, und wie ist dieses pathophysiologisch definiert? Welche zugrunde liegenden auslösenden Ursachen kommen in Betracht? Wie werden die verschiedenen Schockformen entsprechend ihrer Genese klassifiziert? Welche weitere Diagnostik erscheint zielführend? Welche Formen des hypovolämischen Schocks können unterschieden werden? Welche Ursachen und Symptome sind typisch für einen distributiven Schock? Welche Befunde würden für eine primär reduzierte kardiale Pumpleistung als Ursache sprechen? Welche therapeutischen Maßnahmen sind entsprechend der Schockform indiziert? Der Anaesthesist
Facharzt-Training D Antworten ? Welches Krankheitsbild wird durch den typischen Symptomkomplex definiert, und wie ist dieses pathophysiologisch definiert? Der Patient zeigt einen Symptomkomplex aus Bewusstseinsstörung, Tachypnoe, Tachykardie und akuter Hypotonie in Kombination mit Kaltschweißigkeit. Es handelt sich um die typischen Symptome eines Schocks. Pathophysiologisch gemeinsam ist allen Schockformen ein akutes Kreislaufversagen, das zu einem gravierenden Missverhältnis zwischen Sauerstoffangebot und -bedarf im Organismus führt [1]. ? Welche zugrunde liegenden auslösenden Ursachen kommen in Betracht? Als Schockauslöser kommen insbesondere folgende Ursachen in Betracht: Drei Tage nach einem ausgedehnten chirurgischen Eingriff können chirurgische Komplikationen wie Anastomoseninsuffizienzen auftreten und zum septischen Schock führen. Auch eine Pneumonie, intravasale Katheter und Harnwegsinfektionen müssen als möglicherseptischerFokus inBetrachtgezogen werden. Nach Pankreaschirurgie kann es darüber hinaus durch Arrosion von Blutgefäßen zu plötzlichen Hämorrhagien kommen. Bei vorbestehender KHK ist ebenso an ein akutes Koronarsyndrom zu denken. Das vorbestehende Vorhofflimmern, der Einsatz von Blutprodukten und die mehrtägige Immobilität lassen ein thrombembolisches Ereignis möglich erscheinen. Eine immunologisch-allergische Ursache der Symptome könnte in der Applikation von Medikamenten, hier z. B. Metamizol, begründet liegen. ? Wie werden die verschiedenen Schockformen entsprechend ihrer Genese klassifiziert? Gemeinsame Endstrecke allerSchockformen ist das Missverhältnis zwischen O2Bedarf und O2-Angebot mit der Gefahr des Multiorganversagens. Auf Grundlage ihrer Genese werden aktuell 4 Schockformen unterschieden, die sich jeweils in weitere Unterformen klassifizieren lasDer Anaesthesist
sen. Der hypovolämische Schock ist gekennzeichnet durch den Verlust intravasalen Volumens in Form von Vollblut, Plasma oderanderenKörperflüssigkeiten mit kritisch verminderter kardialer Vorlast. Es ist also primär das Flüssigkeitskompartiment betroffen. Beim distributiven Schock kommt es zur Verschiebung von intravasalem Volumen, bedingt durch Störungen des Gefäßtonus und/ oder der Gefäßpermeabilität mit relativer Verringerung des intravasalen Volumens. Betroffen ist also primär direkt das Gefäßsystem. Die Ursachen können septisch, anaphylaktisch oder anaphylaktoid sowie neurogen sein. Liegt der Schocksymptomatik eine kardiale Funktionsstörung mit Verminderung der Auswurfleistung durch Pumpversagen, Brady- oder Tachykardien oder akut dekompensierte Klappenvitien zugrunde, spricht man von einem kardiogenen Schock. Davon abzugrenzen ist der obstruktive Schock, der gekennzeichnet ist durch die extrakardiale Obstruktion großer Gefäße oder des Herzens selbst. Entsprechend den betroffenen Gefäßen kann sich dies besonders auf die rechtsventrikuläre Vorlast (z. B. Spannungspneumothorax, Perikardtamponade), die rechtsventrikuläre Nach- und die linksventrikulare Vorlast (z. B. Lungenarterienembolie) sowie auf die linksventrikuläre Nachlast auswirken (z. B. Aortendissektion, LericheSyndrom, Aortenklappenstenose). Auch kombinierte Formen sind möglich [1]. ?
Welche weitere Diagnostik erscheint zielführend?
Die äußeren Umstände geben maßgebliche Hinweise zur Differenzialdiagnostik. Ein initiales Vorgehen nach einem ABCDE-Schema (Atemwege, Beatmung, Circulation, Disability, Exposition) kann zur Festlegung von Behandlungsprioritäten empfohlen werden. Besondere Bedeutung kommt der körperlichen Untersuchung zu, die z. B. Hinweise auf Blutungssituationen oder einen Infektfokus bieten kann. Kontrollen des Lactatwerts und des Basenüberschusses geben Hinweise auf Perfusionsstörungen, und auch eine niedrige zentralvenöse Sauerstoff-
sättigung kann als Zeichen einer verstärkten Sauerstoffausschöpfung auf ein niedriges Herz-Zeit-Volumen hinweisen. Bei akuten schweren Blutungen bieten die Bestimmung von Hämoglobin(Hb)oder Hämatokrit(HKT)-Werten nur fälschliche Sicherheit, da initial Vollblut verloren geht und es somit erst verzögert zu einer Hb-Konzentration-Erniedrigung im Blut kommt. Der Notfallultraschalluntersuchung, durchgeführt z. B. gemäß dem Protokoll extended Focused Assessment with Sonography for Trauma (eFAST), kommt bei der Diagnostik von Schockzuständen und der Therapiesteuerung eine besondere Bedeutung zu: Die Echokardiographie gibt wichtige Informationen zur Differenzierung aller Schockformen. Flüssigkeit in freiem Thorax und freiem Abdomen kann mithilfe der Ultraschalldiagnostik dargestellt werden. Je nach Dynamik der Situation und des Patientenzustands kann ein CT mit Kontrastmittel (Angio-CT) Hinweise auf eine Blutungsquelle geben. Auch eine Gefäßobstruktion und ein möglicher septischer Fokus können mithilfe eines CT diagnostiziert werden. Zur Objektivierung einer infektiösen Ursache sollten frühzeitig mikrobiologischen Untersuchungen und die Bestimmung von Infektionsmarkern durchgeführt werden. Distributive Störungen können durch invasives hämodynamisches Monitoring objektiviert werden. Zum Nachweis einer kardiogenen Ursache ist die Anfertigung eines EKG obligat, aber auch die Quantifizierung herzspezifischer Enzyme im zeitlichen Verlauf ist sinnvoll [1]. ?
Welche Formen des hypovolämischen Schocks können unterschieden werden? Abhängig davon, ob eine wesentliche Gewebsläsion vorliegt, wird der hämorrhagische Schock, der durch eine primäre Verletzung großer Blutgefäße bedingt ist (z. B. gastrointestinale Blutungen, rupturiertes Aortenaneurysma, Blutungen in der Geburtshilfe) vom traumatisch-hämorrhagischen Schock, wie er beim Polytrauma auftreten kann, unter-
schieden. Während beide Schockformen durch einen akuten Blutverlust gekennzeichnet sind, wird der Schockzustand bei der traumatisch-hämorrhagischen Form durch das Gewebstrauma und der dadurch ausgelösten Inflammationsreaktion zusätzlich aggraviert. Darüber hinaus wirken sich eine assoziierte Hypothermie und Acidose negativ auf die Blutgerinnung aus und tragen zu traumaassoziierten Gerinnungsstörungen bei. Ist der Schockzustand eher durch extravasalen Flüssigkeitsverlust bedingt, handelt es sich um einen hypovolämischen Schock im engeren Sinne. Hierzu kann es kommen, wenn z. B. aufgrund von anhaltender Hyperthermie, Verlusten über den Gastrointestinaltrakt (Erbrechen, Diarrhöen), vermehrter renaler Ausscheidung (Diabetes insipidus) oder Sequestration abdomineller Flüssigkeit (Aszites bei Leberzirrhose) größere Mengen Flüssigkeit verloren gehen. Treten die extravasalen Flüssigkeitsverluste im Rahmen einer Gewebsläsion auf, spricht man vom traumatisch-hämorrhagischen Schock. Dieser ist typischerweise durch großflächige Verbrennung und Verätzungen der Haut bedingt. Pathophysiologische Folgen sind, ähnlich wie beim traumatisch-hämorrhagischen Schock, immunologische Reaktionen, Koagulopathie und persistierende Störungen der Mikrozirkulation [1, 2]. ? Welche Ursachen und Symptome sind typisch für einen distributiven Schock? Geht ein Schockgeschehen ohne absoluten Verlust von Körperflüssigkeiten einher, sondern ist, bedingt durch Störungen des Vasotonus oder der Permeabilität des Endothels, auf pathologische Umverteilungen im Gefäßsystem zurückzuführen, handelt es sich um einen distributiven Schock. Häufigste Ursache hierfür ist eine Sepsis. Es handelt sich gemäß der Sepsis-III-Definition um eine fehlregulierte Körperantwort auf eine Infektion, die mit lebensbedrohlichen Organdysfunktionen einhergeht. Diese werden über eine Zunahme des Sequential Organ Failure Assessment (SOFA) Score um mehr als 2 Punkte quantifiziert. Typische klinische Symptome
sind Bewusstseinsstörung, Tachypnoe und arterielle Hypotonie. Aus diesen 3 Symptomen zusammen kann der QuickSOFA Score (qSOFA) abgeleitet werden, der zum Screening auf Organdysfunktionen geeignet ist. Die Kombination aus pathologischem qSOFA Score, Infektionsverdacht und Lactatwert von >2 mmol/l lenkt den Verdacht auf einen septischen Schock. Das Krankheitsbild ist komplex und setzt sich aus mehreren pathologischen Veränderungen zusammen. Mit Störungen der endothelialen Funktion, des Gefäßtonus sowie der Mikro- und Makrozirkulation, einschließlich der Entwicklung eines „capillary leak“, sind oft Koagulopathien und myokardiale Funktionsstörungen vergesellschaftet. Patienten mit Immundefizienzen z. B. nach onkologischen Therapien sind besonders gefährdet [3]. Beim anaphylaktischen Schock, als weitererForm eines distributivenSchocks, tritt eine Immunglobulin(Ig)E-abhängige Hypersensitivitätsreaktionen auf, die über eine mastzellvermittelte Histaminliberation rasch zu einem gestörten Vasotonus und zum Capillary leak führt. Beim anaphylaktoiden Schock ist die Reaktion IgE-unabhängig. Symptome sind, je nach Ausprägung, Hauteffloreszenzen, Pruritus, Dyspnoe und Arrhythmien. Ein neurogener Schock entsteht durch eine Imbalance zwischen sympathischer und parasympathischer Regulation. Ursächlich sind direkte Schädigungen der zentralen Kreislaufzentren (z. B. durch Trauma, Ischämie), Alteration der afferenten Bahnen zum Kreislaufzentrum in der Medulla oblongata (z. B. durch Angst, Stress, Schmerz oder erhöhten Vagotonus) oder häufig traumatisch bedingte Unterbrechungen efferenter Bahnen des Rückenmarks. Symptome sind Bewusstseinstrübung, Abfall von Blutdruck und Herzfrequenz sowie Verlust spinaler Reflexe, wenn eine hohe spinale Schädigung zugrunde liegt [1]. ?
Welche Befunde würden für eine primär reduzierte kardiale Pumpleistung als Ursache sprechen?
Beim kardiogenen Schock ist durch myokardiale, rhythmologische oder mechanische Ursachen die Auswurfleistung des
Herzens kritisch reduziert. Klinische Zeichen sind Agitiertheit, Bewusstseinstrübung, kühle Extremitäten und Oligurie. Häufigste Ursache ist das akute Koronarsyndrom (ACS). Seltener sind idiopathische, infektiologische, toxische oder traumatische Ursachen sowie Klappenvitien, Thromben, Tumoren oder Rhythmusstörungen [1]. ?
Welche therapeutischen Maßnahmen sind entsprechend der Schockform indiziert? Ziel bei der Therapie aller Schockformen ist es, das bestehende Missverhältnis von O2-Angebot zu O2-Bedarf zeitnah auszugleichen, die Makro- und Mikrozirkulation zu verbessern sowie eine Schädigung von Organen zu vermeiden. Aufgrund der unterschiedlichen Genesen, die zu einem Schockzustand führen können, sind die therapeutischen Maßnahmen entsprechend der Schockform unterschiedlich. Beim hypovolämischen Schock haben die Beendigung des Flüssigkeitsverlustes und die Substitution von Volumen höchste Priorität. Bei Blutungen ist eine zeitnahe chirurgische Versorgung in Kombination mit der Infusion balancierter kristalloider Lösungen und ggf. Transfusionen Mittel der Wahl. Bei starken, u. U. initial nichtkontrollierbaren Blutungen sind frühzeitig ein Massivtransfusionsprotokoll sowie die Gabe von Erythrozytenkonzentraten, Plasma und Thrombozytenkonzentraten im Verhältnis 4:4:1 zu erwägen, genauso wie ein „Damage-control“-Ansatz in der chirurgischen Versorgung. Wichtig sind konsequenter Wärmerhalt, frühe Prophylaxe einer Koagulopathie mithilfe der Tranexamsäuregabe und differenzierte Therapie von Gerinnungsstörungen. Ist wegen einer primär unstillbaren Blutung kein physiologischer Blutdruckwert erreichbar, kann bis zur chirurgischen Versorgung eine permissive Hypotonie mit einem systolischen Blutdruckwert von 70–80 mm Hg toleriert werden, um den Blutverlust bis zur Blutstillung zu minimieren. Dies gilt unter der Voraussetzung, dass kein begleitendes SchädelHirn-Trauma vorliegt. Die Therapie des septischen Schocks ist komplex. Zum einen steht die Sanierung des Infektfokus in Kombination mit Der Anaesthesist
Facharzt-Training einer antibiotischen Therapie im Mittelpunkt, zum anderen sind Infusionslösungen und Vasopressoren zur hämodynamischen Stabilisierung notwendig. Organersatz- und Unterstützungsverfahren können darüber hinaus indiziert sein. Volumensubstitution und Adrenalinapplikation stehen beim anaphylaktischen Schock im Vordergrund, um den relativen Volumenmangel auszugleichen und die Mastzelldegranulation zu unterdrücken. Weiterhin sind die Gaben von Histaminantagonisten, Glukokortikoiden und häufig auch Bronchospasmolytika indiziert. Beim neurogenen Schock ist, neben der Behebung der Ursache, die Anwendung einer Volumen- und Vasopressortherapie erforderlich. Der obstruktive Schock umfasst eine sehr heterogene Gruppe von Ursachen, die oft sehr schnell durch Drainage und Entlastungsmaßnahmen therapiert werden müssen [4, 5]. Von der Therapie her grundsätzlich anders zu beherrschen ist der Schock aus kardiogener Ursache. Hier muss zunächst die pathophysiologische Ursache mithilfe der Echokardiographie, des invasiven Monitorings und/oder angiographischer Untersuchungen erfasst werden. Beim ACS ist/sind die zeitnahe Wiederherstellung der Koronarperfusion durch eine perkutane Koronarintervention (PCI), ggf. mit Stenting, oder chirurgische Maßnahmen erforderlich. Je nach Ursache und Symptomen kann eine medikamentöse Therapie u. a. mit Katecholaminen, Vasodilatatoren, Kalzium-Sensitizern, Phosphodiesterasehemmern und Antiarrhythmika sinnvoll sein. Die intraaortale Ballongegenpulsation (IABP), implantierbare ventrikuläre Unterstützungssysteme (VAD) oder die venoarterielle extrakorporale Membranoxygenierung (ECMO/„extracorporeal life support“ [ECLS]) stellen mechanische Möglichkeiten der Kreislaufunterstützung dar [1]. Schlüsselwörter. Schock · Hämorrhagie · Trauma · Sepsis · Anaphylaxie
Der Anaesthesist
Korrespondenzadresse Prof. Dr. T. Annecke Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin, Uniklinik Köln Kerpener Str. 62, 50937 Köln, Deutschland [email protected]
Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. F. Dusse und T. Annecke geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor. The supplement containing this article is not sponsored by industry.
Literatur 1. Standl T, Annecke T, Cascorbi I et al (2018) The nomenclature, definition and distinction of types of shock. Dtsch Arztebl Int 115:757–768 2. S3-Leitlinie Polytrauma/Schwerverletzten-Behandlung, AWMF Register-Nr. 012/019, Stand 7/2016 3. Annecke T, Hohn A, Böll B, Kochanek M (2018) Cancer patients in operative intensive care medicine. Anaesthesist 67:83–92 4. Drinhaus H, Annecke T, Hinkelbein J (2016) Chest decompression in emergency medicine and intensive care. Anaesthesist 65:768–775 5. Pich H, Heller AR (2015) Obstructive shock. Anaesthesist 64:403–419
Erratum O2-Brille 9,5 vs. 4,5 l/min; O2-Maske vs. O2-Verneblermaske 8,0 vs. 7,0 l/min). Dies ist eine mit dem/der Medizinproduktegesetz/-hygiene nichtkonforme Notlösung, die jedoch bei einem Massenanfall von Erkrankten mit Atemnot im Rahmen der COVID-19-Pandemie ggf. lebensrettend sein könnte, um die Sauerstoffversorgungsmöglichkeiten schnell zu steigern. Um einen gleichmäßigen Sauerstoff-Flow zu ermöglichen, sollten 2 identische Sauerstoffdistributionssysteme verwendet werden. Eine ausreichende Oxygenierung des Patienten ist vor diesem Hintergrund einer möglicherweise unterschiedlichen Sauerstoffgasverteilung pulsoxymetrisch zu kontrollieren. Diese Strategie ist nicht von Limitationen einer Überdruckbeatmung von 2 Patienten mit einem Beatmungsgerät betroffen [2], was von den Fachgesellschaften auch abgelehnt wird [3].
Anaesthesist 2020 · 69:360 https://doi.org/10.1007/s00101-020-00756-z Online publiziert: 20. März 2020 © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
C. Dumps · V. Umrath Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin, Universitätsklinikum Augsburg, Augsburg, Deutschland
Erratum zu: 58/m mit Sepsis nach Perforation eines Sigmadivertikels Vorbereitung auf die Facharztprüfung: Fall 44
Korrespondenzadresse Prof. Dr. V. Wenzel Klinik für Anästhesiologie, Intensivmedizin, Notfallmedizin und Schmerztherapie, Klinikum Friedrichshafen Röntgenstraße 2, 88048 Friedrichshafen, Deutschland [email protected]
Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. B. Kober, M. Dötsch, E. Götzelmann, M. Vogel, M. Eble und V. Wenzel geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien.
Literatur 1. Thomas-Rüddel D, Winning J, Dickmann P, Ouart D, Kortgen A, Janssens U, Bauer M (2020) Coronavirus disease 2019 (COVID-19): update for anesthesiologists. Anaesthesist. https://doi.org/ 10.1007/s00101-020-00760-3 2. Neyman G, Irvin CB (2006) A single ventilator for multiple simulated patients to meet disaster surge. Acad Emerg Med 11:1246–1249 3. Consensus Statement on Multiple Patients Per Ventilator. https://www.sccm.org/Disaster/JointStatement-on-Multiple-Patients-Per-Ventilator. Zugegriffen: 31.3.2020
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Der Anaesthesist 5 · 2020
Erratum zu: Der Anaesthesist 2019 https://doi.org/10.1007/s00101-01900662-z Im ursprünglich veröffentlichten Beitrag wurde eine Angabe zu den Adrenorezeptoren aus Versehen fehlerhaft dargestellt. Bitte beachten Sie, dass die β2-Adrenozeptoren die Bronchodilatation vermitteln. Die Autoren bitten den Fehler zu entschuldigen.
Korrespondenzadresse Dr. C. Dumps, DESA Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin, Universitätsklinikum Augsburg Stenglinstr. 2, 86156 Augsburg, Deutschland [email protected]
Die Online-Version des Originalartikels ist unter https://doi.org/10.1007/s00101-019-00662-z zu finden.
Der Anaesthesist Facharzt-Training Anaesthesist https://doi.org/10.1007/s00101-019-00651-2 © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Redaktion A. Heller, Augsburg G Breuer, Coburg
M. Princk · J. Wnent · H. Maurer1 1
Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck, Lübeck, Deutschland
72/m mit Herzrhythmusstörungen im OP Vorbereitung auf die Facharztprüfung: Fall 45 Fallschilderung Bei einem 72-jährigen Patienten (Körperlänge 180 cm, Körpergewicht 77 kg) stellt die diensthabende Oberärztin der Allgemeinchirurgie die Indikation zur notfallmäßigen explorativen Laparotomie (innerhalb von 6 h) aufgrund eines akuten Abdomens mit Ileussymptomatik. Im Rahmen des orientierenden Aufklärungsgesprächs fällt u. a. eine koronare Herzkrankheit (KHK) mit stattgehabtem Myokardinfarkt vor 16 Tagen auf; dieser wurde mithilfe der Koronarintervention und einer Stent-Implantation behandelt. Intraoperativ kommt es zu hämodynamischer Instabilität aufgrund einer neu aufgetretenen tachykarden Herzrhythmusstörung.
Prüfungsfragen 4 Nennen Sie eine deskriptive Einteilungs4
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Thematik Der folgende Fragenkomplex bezieht sich auf: 4 akute perioperative Herzrhythmusstörungen, 4 die Einteilung von Herzrhythmusstörungen, 4 das intraoperative Monitoring, 4 die intraoperativen Therapiemöglichkeiten der akuten Herzrhythmusstörungen, 4 die perioperative Risikoabschätzung.
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möglichkeit für tachykarde Herzrhythmusstörungen. Der beschriebene Patient entwickelt während der Laparotomie plötzlich eine Tachyarrhythmia absoluta mit Frequenzen bis 185/min. Darunter wird er zügig hämodynamisch instabil (arterieller Mitteldruck 47 mm Hg). Welche Notfallmaßnahmen ergreifen Sie? Diskutieren Sie die Therapiemöglichkeiten einer Tachyarrhythmia absoluta in diesem operativen Setting (Laparotomie)! Wie verändern sich die hämodynamischen Parameter unter einer Tachyarrhythmia absoluta? Trotz Ihrer begonnenen Therapie weist der Patient zunehmend auch ventrikuläre Extrasystolen auf, die schließlich in selbstlimitierende Episoden ventrikulärer Tachykardie von einigen Sekunden übergehen. Wie werten Sie diese Situation? Welche Ursachen halten Sie bei diesem Patienten für relevant, und wie behandeln Sie diese? Der Patient lässt sich schließlich unter Katecholamintherapie hinreichend stabilisieren, so dass die Operation zügig zu Ende geführt werden kann. Im Monitor-EKG finden sich nun deutliche ST-StreckenSenkungen. Welche Aspekte müssen Sie für die unmittelbare postoperative Weiterversorgung bedenken? Angenommen, der Patient aus dem Fallbeispiel hätte den Myokardinfarkt mit Stent-Versorgung vor 16 Tagen erlitten, aber es stünde eine weniger dringliche oder eine elektive Operation an. Welche Eingriffe sollten durchgeführt bzw. wie lange sollten operative Eingriffe verschoben werden?
Der Anaesthesist
Facharzt-Training D Antworten ? Nennen Sie eine deskriptive Einteilungsmöglichkeit für tachykarde Herzrhythmusstörungen. Ein tachykarder Herzrhythmus ist beim Erwachsenen durch eine Herzfrequenz über 100 Schläge/min gekennzeichnet. Die Einteilung der unterschiedlichen Arten einer tachykarden Herzrhythmusstörung (HRST) kann nach . Abb. 1 erfolgen. ? Der beschriebene Patient entwickelt während der Laparotomie plötzlich eine Tachyarrhythmia absoluta mit Frequenzen bis 185/min. Darunter wird er innerhalb weniger Minuten hämodynamisch instabil (arterieller Mitteldruck 47 mm Hg). Welche Notfallmaßnahmen ergreifen Sie? Es sollte umgehend eine Information des Operateurs über die Zustandsänderung des Patientenerfolgen. Im kollegialen Gespräch können sich bereits Hinweise auf die Ursache der HRST aufgrund des operativen Verlaufs ergeben. Zur Verbesserung der hämodynamischen Situation sollte eine Kombination aus Vorlast- und Nachlasterhöhung erwogen werden, mit dem Ziel, die systemische und zerebrale Perfusion zu verbessern. Zum Einsatz kommen balancierte kristalloide Infusionslösungen und Katecholamine wie z. B. Noradrenalin. Sofern noch nicht vorhanden, sollten großvolumige periphere Zugänge gelegt werden. Des Weiteren kann die Anlage eines zentralen Venenkatheters (ZVK) zur Katecholamintherapie notwendig werden. Die Überwachung des Patienten sollte in dieser kritischen Situation durch ein in-
vasives Monitoring in Form einer arteriellen Kanülierung ergänzt werden, sodass zusätzlich Blutgase und die Hämoglobinkonzentration bestimmt werden können [2]. Neben den symptomatischen Therapiemöglichkeiten steht in dieser Notfallsituation mit der elektrischen Kardioversion eine weitere Option zur Verfügung. Entscheidungshilfe bietet der Algorithmus des European Resuscitation Council (ERC) [1, 3]. Sind „bedrohliche Symptome“ wie Synkope, Schock, Myokardischämie oder Herzinsuffizienz aufgetreten und andere reversible Ursachen dieser Rhythmusstörung ausgeschlossen, lautet die klare Therapieempfehlung: Kardioversion. ? Diskutieren Sie die Therapiemöglichkeiten einer Tachyarrhythmia absoluta in diesem operativen Setting (Laparotomie)! Nach entsprechender Information des Teams, insbesondere des Operateurs, über die aktuelle Situation sollten bei vorliegender deutlicher hämodynamischer Instabilität sofortige Notfallmaßnahmen erfolgen. Die bereits erwähnte elektrische Kardioversion steht im Vordergrund. Es sollte, sofern möglich, zu einer Unterbrechung und – je nach Therapieerfolg – zu einer schnellstmöglichen Beendigung der Operation kommen. Eine Platzierung der Elektroden kann aufgrund des vollständig abgedeckten Patienten schwierig werden, stellt jedoch eine unumgängliche Maßnahme dar. Neben der typischen anterior-posterioren oder der (sonst bei einer Reanimation üblichen) rechtsparasternal-links-
Abb. 1 8 Einteilung tachykarder Herzrhythmusstörungen. (Modifiziert nach Soar et al. [1]) Der Anaesthesist
apikalen Elektrodenposition kann z. B. situationsabhängig eine links-rechtstransthorakale Variante gewählt werden. Die Kommunikation im Team hat u. a. aufgrund des Gefährdungspotenzials besondere Bedeutung. Zusätzlich sollte eine adjuvante antiarrhythmische Therapie in Form einer Optimierung der Elektrolyte (insbesondere Kalium, Magnesium) erfolgen [4, 5]. Medikamentös kann der Patient zudem, wenn seine Situation stabiler geworden ist und keine Kontraindikationen vorliegen, mit Amiodaron (oder als Alternativpräparat z. B. Lidocain) behandelt werden. β-Rezeptoren-Blocker wie Esmolol oder Landiolol sollten – bei vorliegender myokardialer Vorschädigung – sehr zurückhaltend angewendet werden und insbesondere nur bei (echokardiographisch) gesichertem ausreichenden Volumenstatus zur Anwendung kommen. Darüber hinaus sollte im weiteren Verlauf eine kardiologische Expertise eingeholt werden. ? Wie verändern sich die hämodynamischen Parameter unter einer Tachyarrhythmia absoluta? Es ist eine deutlich höhere Herzfrequenz mit unregelmäßigen Schlägen ableitbar. Häufig spielen Unregelmäßigkeiten in der Vorhoferregung oder akzessorische Erregungsherde eine Rolle. Daraus resultiert eine Reduktion des Herzzeitvolumens: Da die Füllungsphasen des Herzens nicht mehr synchron erfolgen, kommt es zu unterschiedlichen Füllungszuständen der Ventrikel und damit auch zu unterschiedlichen Ejektionsvolumina. Konsekutiv werden Vor- und Nachlast negativ beeinflusst. Dies kann in eine deutliche Reduktion des systemischen Perfusionsdrucks münden. Sollte der Perfusionsdruck unter die zerebrale Autoregulationsgrenze sinken, resultiert eine Sauerstoffunterversorgung im Gehirn, und eine Synkope wäre die Folge. Des Weiteren bedingt die deutliche Verkürzung der Diastole aufgrund des tachykarden Herzrhythmus eine Reduktion der Koronarperfusion. Da bereits
?
Der Patient lässt sich schließlich unter Katecholamintherapie hinreichend stabilisieren, so dass die Operation zügig zu Ende geführt werden kann. Im Monitor-EKG finden sich nun deutliche ST-StreckenSenkungen. Welche Aspekte müssen Sie für die unmittelbare postoperative Weiterversorgung bedenken?
Abb. 2 8 Perkutane koronare Intervention und Antikoagulation (präoperative Evaluation erwachsener Patienten vor elektiven, nicht-Herz-Thorax-chirurgischen Eingriffen). ASS Acetylsalicylsäure, BMS „bare metal stent“, DES „drug-eluting stent“, PCI perkutane koronare Intervention. (Gemeinsame Empfehlung der Deutschen Gesellschaften für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Chirurgie und Innere Medizin [9])
kurze hypotone Phasen das Outcome des Patienten negativ beeinflussen, ist die zügige Therapie, wie oben beschrieben, erforderlich [2, 6]. ? Trotz Ihrer begonnenen Therapie weist der Patient zunehmend auch ventrikuläre Extrasystolen auf, die schließlich in selbstlimitierende Episoden ventrikulärer Tachykardie von einigen Sekunden übergehen. Wie werten Sie diese Situation? Welche Ursachen halten Sie bei diesem Patienten für relevant, und wie behandeln Sie diese? Es handelt sich um eine kritische Situation. Die beschriebenen EKG-Veränderungen können kurzfristig in eine pulslose ventrikuläre Tachykardie münden. Es würde somit eine Reanimationssituation bestehen. Die entsprechende Kommunikation innerhalb des Teams ist unabdingbar, da eine gewohnte Beendigung der Operation unter diesen Umständen nicht möglich ist. Aus der Anamnese geht hervor, dass der Patient kürzlich einen Myokardinfarkt erlitten hat. Dadurch ist wahrscheinlich die Integrität des Herzmuskels sowie des Reizleitungssystems gestört worden. Dies stellt eine denkbare Ursache für die intraoperative Herzrhythmusstörung dar. Die Blutversorgung des Herzens ist zwar durch Implantation eines Koro-
nar-Stents wiederhergestellt worden. Aufgrund der aufgetretenen Herzrhythmusstörung kommt es aber zur Reduktion der Koronarperfusion mit entsprechender Sauerstoffunterversorgung des Myokards, trotz wiedereröffneter Koronargefäße. Es gilt, die Koronarperfusion zu verbessern sowie die Optimierung der Vor- und Nachlast und des Sauerstoffgehalts vorzunehmen. Die Ökonomisierung des Herzrhythmus und damit eine Verbesserung des Perfusionsdrucks führt zur verbesserten Koronardurchblutung. Eine Erhöhung der inspiratorischen Sauerstoffkonzentration verbessert den Sauerstoffgehalt. Zur Vor- und Nachlasterhöhung kann neben Volumengaben der Einsatz von Katecholaminen notwendig werden. Als hochpotentes direktes Sympathikomimetikum ist Noradrenalin Mittel der ersten Wahl zur Verbesserung des systemischen Perfusionsdrucks. Allerdings ist auf die proarrhythmogene Wirkung einiger Katecholamine, wie z. B. Adrenalin, hinzuweisen, sodass die Indikation kritisch überprüft und der Einsatz engmaschig überwacht werden sollten.
Aufgrund des intraoperativen Verlaufs und der Anamnese des Patienten ist die postoperative Überwachung auf der Intensivstation indiziert. Eine weitere kardiologische Diagnostik sollte sich unmittelbar postoperativ anschließen. Das schließt neben einer interdisziplinären Mitbeurteilung durch die kardiologischen Kollegen eine Labordiagnostik, ein 12-Kanal-EKG und eine mögliche Herzkatheteruntersuchung ein. Bei Patienten mit Zeichen einer hämodynamischen Instabilität besteht auch in der postoperativen Phase das Risiko der akuten Verschlechterung. Daher kann bis zur abschließenden Diagnostik erwogen werden, den Patienten vorerst in Narkose zu belassen. ? Angenommen, der Patient aus dem Fallbeispiel hätte den Myokardinfarkt mit Stent-Versorgung vor 16 Tagen erlitten, aber es stünde eine weniger dringliche oder eine elektive Operation an. Welche Eingriffe sollten durchgeführt bzw. wie lange sollten operative Eingriffe verschoben werden? Dringliche und Notfalleingriffe mit direkter Lebensgefahr, d. h. Operationen, die für ein Überleben des Patienten essenziell sind, sollten unabhängig von der stattgehabten Intervention erfolgen. Andernfalls kann anhand der Übersicht in . Abb. 2 die Entscheidung über den optimalen Zeitpunkt der Operation getroffen werden. Dabei sind neben der Notwendigkeit der Operation auf der einen Seite die Gefahren einer StentThrombose oder das Blutungsrisiko bedingt durch die gerinnungshemmende Medikation im Rahmen einer Operation auf der anderen Seite, zu berücksichtigen [7, 8].
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Facharzt-Training Je nach Einsatz der einzelnen Antikoagulanzien gelten hinsichtlich einer elektiven Operation unterschiedliche Zeiträume für die Pausierung dieser Substanzen, die berücksichtigt werden sollten [10]. Grundsätzlich sollten diese Medikamente etwa 4 bis 5 Halbwertzeiten vor einer geplanten Operation pausiert werden. Um das Risiko einer Stent-Thrombose zu reduzieren, besteht die Möglichkeit, ein medikamentöses Bridging mit (kurz wirksamen) Heparinen vorzunehmen. Intraoperativ aufgetretene Blutungskomplikationen können in diesem Fall leichter behandelt werden. Schlüsselwörter. Perioperative Periode · Tachyarrythmia absoluta · Ventrikuläre Tachykardie · Kardioversion · Hämodynamisches Monitoring
Korrespondenzadresse H. Maurer Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck Ratzeburger Allee 160, 23538 Lübeck, Deutschland [email protected]
Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. M. Princk, J. Wnent und H. Maurer geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor. The supplement containing this article is not sponsored by industry.
Literatur 1. Soar J et al (2017) Erweiterte Reanimationsmaßnahmen für Erwachsene („adult advanced life support“) Kapitel 3 der Leitlinien zur Reanimation 2015 des European Resuscitation Council. Notfall Rettungsmed 20(Suppl 1):25–88. https://doi.org/ 10.1007/s10049-017-0330-6 2. StriebelHW(2014)DieAnästhesieBd. I. Schattauer, Stuttgart 3. Soar J et al (2015) European Resuscitation Council Guidelines for Resuscitation 2015: Section 3. Adult advanced life support. Resuscitation 95:100–147
Der Anaesthesist
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Der Anaesthesist Facharzt-Training Anaesthesist https://doi.org/10.1007/s00101-019-00652-1 © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Redaktion A. Heller, Augsburg G. Breuer, Coburg
M. Forkmann II. Med. Klinik Kardiologie, Angiologie, Pneumologie, Coburg, Deutschland
70/m Herzschrittmacherpatient mit Reanimation bei Kammerflimmern nach „video assisted thoracoscopic surgery“ Vorbereitung auf die Facharztprüfung: Fall 46
Fallschilderung für den Prüfungskandidaten Ein 70-jähriger männlicher Patient mit Z. n. biologischem Aortenklappenersatz (bio-AKE) vor 15 Jahren soll aufgrund eines unklaren pulmonalen Knotens im Bereich der linken unteren Lunge eine elektive videoassistierte thorakoskopische Chirurgie („video assisted thoracoscopic surgery“, VATS) erhalten. Der Patient ist mit einem Herzschrittmacher versorgt, der bei atrioventrikulärem (AV-)Block III.° nach bio-AKE implantiert wurde. Im Rahmen einer kürzlich durchgeführten Herzschrittmacherabfrage fand sich ein ventrikulärer Stimulationsanteil von 98 % unter einer DDD 60–120 Programmierung. Es stellten sich ein Sinusrhythmus (SR) mit AV-Block III.° und ein Eigenrhythmus von 40/min dar. Die Batterielebensdauer betrug 7 Jahre. Im präoperativen EKG zeigte sich ein SR um 80/min und eine durchgehende ventrikuläre Stimulation. Die Narkoseeinleitung verlief problemlos. Bei Inzision mit dem Elektrokauter durch den Chirurgen kam es zu einem plötzlichen Blutdruckabfall auf 66/24 mm Hg und einem Herzfrequenzabfall auf 38/min. Nach sofortigem Stopp des Elektrokauters erholte sich der Blutdruck und die Herzfrequenz. Es erfolgte eine Magnetauflage; darunter stellte sich ein ventrikulär stimulierter Rhythmus mit 100/min ein. Die Operation konn-
te nun komplikationslos bis zum Ende fortgesetzt werden. Am Operationsende wurde der Magnet entfernt, und der Patient nach erfolgreicher Extubation in den Aufwachraum gebracht. Nach ca. 1 h klagte er über starke Schmerzen. Am Monitor war eine Herzfrequenz von 110/min mit intermittierenden atrialen und ventrikulären Stimulationsspikes auffällig. Ein plötzlich einsetzendes Kammerflimmern konnte mithilfe der externen Defibrillation erfolgreich terminiert werden.
Prüfungsfragen 4 Welche Arten von „cardiac implantable
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Thematik Der folgende Fragenkomplex bezieht sich auf: 4 die Funktionsweisen der verschiedenen „cardiac implantable electronic devices“ (CIED), 4 die Ursachen möglicher perioperativer Fehlfunktionen und deren Management, 4 die Reaktion der CIED auf die Magnetauflage, und wann diese perioperativ infrage kommt, 4 die präoperative Vorbereitung bei CIED-Trägern, 4 die Notwendigkeit einer prä- und einer postoperativen Abfrage.
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electronic devices“ (CIED) kennen Sie? Erläutern Sie den NBG-Schrittmachercode (NASPE/BPEG-Generic Pacemaker Code: North American Society of Pacing and Electrophysiology/British Pacing and Electrophysiology Group). Erläutern Sie den Unterschied zwischen synchronem und asynchronem Stimulationsmodus. Worauf ist beim asynchronen Stimulationsmodus zu achten? Was verstehen Sie unter einem „oversensing“, und was ist die häufigste intraoperative Ursache? Worauf ist hier beim Herzschrittmacher im Unterschied zu implantierbaren Kardiovertern/ Defibrillatoren zu achten? Wann ist die Wahrscheinlichkeit für die perioperative Detektion von elektromagnetischen Interferenzen durch ein Cardiac implantable electronic device am größten? Welche Maßnahmen können Sie ergreifen, um elektromagnetische Interferenzen am besten zu managen? Welchen Unterschied in der Magnetreaktion gibt es zwischen dem Herzschrittmacher und implantierbaren Kardiovertern/ Defibrillatoren? Wann sollte bei einem Cardiac implantable electronic device eine perioperative Magnetauflage erfolgen? Welche Aspekte sollten im Rahmen der präoperativen Vorbereitung beachtet werden? Wann sind eine prä- und eine postoperative Abfrage notwendig? Wie würden Sie einen Patienten mit einem Cardiac implantable electronic device außerhalb des Elektivprogramms in einer Notfallsituation managen? Wie erklären Sie sich den postoperativen Zwischenfall? Der Anaesthesist
Facharzt-Training D Antworten ? Welche Arten von „cardiac implantable electronic devices“ kennen Sie? Erläutern Sie den NBGSchrittmachercode. Cardiac implantable electronic devices (CIED) werden in 2 große Gruppen eingeteilt: Herzschrittmacher (HSM) und implantierbare Kardioverter/Defibrillatoren (ICD). Diese beiden Kategorien werden weiterhin unterteilt in Ein-, Zweiund Dreikammersysteme. Bei einem Einkammersystem kann eine Elektrode im rechten Atrium oder im rechten Ventrikel lokalisiert sein. Beim Zweikammersystem befindet sich jeweils eine Elektrode im rechten Atrium und im rechten Ventrikel. Beim Dreikammersystem handelt es sich um ein Zweikammersystem mit einer zusätzlichen linksventrikulären Sonde, die über den Sinus coronarius eingebracht wird, um die synchrone Stimulation von rechtem und linkem Ventrikel zu erreichen. Mit dem NBG-Schrittmachercode (NASPE/BPEG-Generic PacemakerCode: North American Society of Pacing and Electrophysiology/British Pacing and Electrophysiology Group) werden die Art des HSM und der programmierte Funktionsmodus beschrieben [1]: 4 Position I – stimulierte Kammer (0: keine, A: Atrium, V: Ventrikel, D: dual [A + V]), 4 Position II – wahrgenommene Kammer (0: keine, A: Atrium, V: Ventrikel, D: dual [A + V]), 4 Position III – Reaktion auf Wahrnehmung (0: keine, T: getriggert, I: inhibiert, D: dual [T + I]), 4 Position IV – Frequenzmodulation (0: keine, R: Frequenzadaptation), 4 Position V – „multisite pacing“ (0: keine, A: Atrium, V: Ventrikel, D: dual [A + V]). Im klinischen Alltag sind meistens nur die ersten 3 oder 4 Positionen gebräuchlich. Eine z. B. häufige Programmierung bei Patienten mit Bradyarrhythmia absoluta ist VVIR 60–120. Hier wird bei Kammerfrequenzen unter 60/min mit einer Frequenz von 60/min stimuliert, und bei ventrikulärer Eigenaktivität über 60/min Der Anaesthesist
inhibiert sich der HSM. Bei diesen Patienten besteht meistens eine chronotrope Inkompetenz. Durch Aktivierung der R-Funktion erhöht der HSM die Stimulationsfrequenz auf maximal 120/min, sobald eine körperliche Aktivität ohne entsprechenden Herzfrequenzanstieg durch das Aggregat detektiert wird. Für Patienten mit einem AV-Block III.° wird häufig eine DDD 60–120 Programmierung verwendet. Bei Herzfrequenzen über 60/min im rechten Vorhof wird die Impulsabgabe dort inhibiert. Bleibt im Ventrikel anschließend eine Eigenaktivität aus, wird eine Impulsabgabe für den rechten Ventrikel getriggert. Besteht jedoch im rechten Ventrikel eine Eigenaktivität über 60/min, wird die Impulsabgabe auch dort inhibiert. ?
Erläutern Sie den Unterschied zwischen synchronem und asynchronem Stimulationsmodus. Worauf ist beim asynchronen Stimulationsmodus zu achten?
Bei der synchronen Stimulation (Bedarfsstimulation) erfolgt die Stimulation in Abhängigkeit vom nativen Herzrhythmus, der in der wahrnehmenden Kammer detektiert wird (A, V oder D in Position II des NBG-Codes). Bei der asynchronen Stimulation erfolgt die Stimulation unabhängig vom natürlichen Rhythmus (A00, V00, D00). Im Fall der Umprogrammierung eines HSM in den asynchronen Modus bei Patienten mit einen kompetenten Eigenrhythmus besteht die seltene Gefahr eines R-auf-TPhänomens mit ventrikulären Arrhythmien [2]. ?
Was verstehen Sie unter einem „oversensing“, und was ist die häufigste intraoperative Ursache? Worauf ist hier beim Herzschrittmacher im Unterschied zu implantierbaren Kardiovertern/Defibrillatoren zu achten?
Beim Oversensing eines CIED wird ein extrinsischer Impuls als intrinsische elektrische Herzaktion detektiert, und resultierend aus der Programmierung kann es zu einem unerwünschten Ereignis kom-
men. Die häufigste Ursache für das intraoperative Auslösen von Oversensing ist das Auftreten elektromagnetischer Interferenzen (EMI) durch Verwendung eines monopolaren Elektrokauters. Bei HSM im AAI-, VVI- und DDDModus führt ein Oversensing zum Ausbleiben der eigentlich notwendigen Stimulation. Dies kann in eine Bradykardie sowie bei länger anhaltendem Oversensing und Herzschrittmacherabhängigkeit bis zur Asystolie führen [2]. Bei ICDs kann es durch Oversensing zu einer Fehldetektion von vermeintlichen ventrikulären Tachykardien mit inadäquaterTherapieabgabe (antitachykardes „pacing“, Schockabgabe) kommen. ? Wann ist die Wahrscheinlichkeit für die perioperative Detektion von elektromagnetischen Interferenzen durch ein Cardiac implantable electronic device am größten? Welche Maßnahmen können Sie ergreifen, um elektromagnetische Interferenzen am besten zu managen? Die Wahrscheinlichkeit der Detektion von elektromagnetischen Interferenzen (EMI) ist am größten bei Verwendung eines unipolaren Kauters innerhalb eines Abstands von 15 cm zum CIED, denn hier fließt der Strom zwischen dem Kauter und einer Neutralelektrode durch den Körper des Patienten. Um das Auftreten von EMI zu reduzieren, sollte nach Möglichkeit ein bipolarer Kauter – hier fließt der Strom zwischen Anode und Kathode in der Spitze des Elektrokauters – verwendet werden. Wenn ein unipolares Kautern erforderlich ist, sollte die Neutralelektrode so weit wie möglich weg vom Aggregat angebracht werden. Zudem sollten nur kurze „bursts“ mit einigen Sekunden Pause erfolgen, um ein Oversensing zu vermeiden. Bei Eingriffen unterhalb des Bauchnabels, wenn das Aggregat thorakal implantiert ist, kommt es generell zu keinen relevanten EMI [3–5].
? Welchen Unterschied bei der Magnetreaktion gibt es zwischen dem Herzschrittmacher und implantierbaren Kardiovertern/ Defibrillatoren? Wann sollte bei einem Cardiac implantable electronic device eine perioperative Magnetauflage erfolgen? Nach Auflage eines Magneten kommt es bei HSM zur Aktivierung des sog. HallSensors, der je nach Gerät, Hersteller und Programmierung verschiedene Funktionen und Programme aktiviert bzw. deaktiviert [6, 7]. In der Regel schaltet der HSM in einen asynchronen Modus (A00, V00 oder D00), wobei die Stimulationsfrequenz vom Hersteller und meist vom Ladezustand des Aggregates abhängig ist. Bei ICDs führt die Magnetauflage meist zur Deaktivierung der antitachykarden Funktion, herstellerabhängig kann auch ein Signalton ausgelöst werden. Die Stimulation wird im Gegensatz zum HSM nicht beeinflusst, d. h., der ICD schaltet nicht in einen asynchronen Modus [2, 7]. Wird der Magnet wieder entfernt, sollte das Gerät in den ursprünglichen programmierten Modus zurückkehren. Im oben aufgeführten Fall konnte der HSM wahrscheinlich aufgrund von physikalischen Störungen, die durch die Nähe zum Operationsfeld verursacht wurden, nicht zur synchronen Stimulation zurückkehren. Eine Magnetauflage bei HSM wird empfohlen, wenn der Patient herzschrittmacherabhängig ist, das Aggregat während der gesamten Prozedur zugänglich ist und das Aggregat in einen dauerhaften asynchronen Modus wechselt. Bei ICD wird eine Magnetauflage zur Deaktivierung der antitachykarden Funktion empfohlen, wenn das Aggregat während der gesamten Prozedur frei zugänglich ist. Falls der ICD-Patient herzschrittmacherabhängig ist, ist die aktive Umprogrammierung in den asynchronen Modus erforderlich [7]. ?
Welche Aspekte sollten im Rahmen der präoperativen Vorbereitung beachtet werden? Zuallererst ist es wichtig, einen CIEDTräger zu identifizieren. Dann sollte man sich unbedingt den CIED-Ausweis aushändigen lassen, denn hierdurch sollte
sich ein Großteil der folgenden Fragen beantworten lassen: 1. Welcher CIED wurde implantiert, ICD oder HSM? 2. Welcher Aggregattyp von welchem Hersteller wurde verwendet? 3. Welche Indikation hatte der Patient? 4. Wann waren der Implantationszeitpunkt und der Zeitpunkt der letzten Abfrage? 5. Ist der Patient HSM-abhängig: z. B. Anamnese (AV-Knoten-Ablation, HSM-Indikation bei AV-Block III.°, fehlende Eigenaktivität im EKG), Angaben im HSM-Ausweis (kein „sensing“ in der letzten Abfrage, Stimulationsanteil >95 %). 6. Ist eine Umprogrammierung oder Magnetauflage erforderlich (Operation oberhalb des Bauchnabels, Wahrscheinlichkeit des Auftretens von EMI, Schrittmacherabhängigkeit)? ?
Wann sind eine prä- und eine postoperative Abfrage notwendig?
Eine präoperative Abfrage ist notwendig, wenn die letzte Abfrage länger als 12 Monate zurückliegt. Wenn der CIED länger als 5 Jahre implantiert ist und die letzte Abfrage älter als 6 Monate ist, wird ebenfalls eine erneute Abfrage empfohlen [6]. Bei ICDs sollte, wenn die Wahrscheinlichkeit für EMI hoch und das Aggregat während der gesamten Operation nicht frei zugänglich ist, im Rahmen einer präoperativen Abfrage die Deaktivierung der antitachykarden Funktion erfolgen. Nach Deaktivierung besteht die Überwachungspflicht mit externer Defibrillationsbereitschaft. Ebenfalls ist bei HSM-abhängigen ICD-Patienten und intraoperativer Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von EMI die Umprogrammierung des Aggregats erforderlich. Eine postoperative CIED-Kontrolle ist nach thorakalem Kautereinsatz in CIEDNähe und unbedingt nach perioperativer Defibrillation, externem Pacing und Reanimation erforderlich [6]. Wenn eine präoperative Umprogrammierung durchgeführt wurde oder Hinweise auf eine HSM-Fehlfunktion vorliegen, ist die erneute Abfrage notwendig. Bis zur postoperativen Umprogrammierung besteht
die Überwachungspflicht. Bei unkompliziertem Verlauf sollte eine Abfrage einen Monat nach erfolgter Operation erfolgen [2]. ?
Wie würden Sie einen Patienten mit einem Cardiac implantable electronic device außerhalb des Elektivprogramms in einer Notfallsituation managen? Bei erschwerter oder nichtmöglicher Anamnese können Narben oder tastbare Geräte Hinweise auf einen CIED geben. Im EKG können Stimulationsspikes identifiziert werden. Ist das EKG überwiegend stimuliert, muss im Zweifel von einer HSM-Abhängigkeit ausgegangen werden [7]. Eine Röntgenaufnahme des Thorax kann weitere Aufschlüsse über den Typ des implantierten Geräts geben. Bei ICDs finden sich Sonden mit einer röntgendichten dickeren Schockspule im Vergleich zu HSM; auch sind die Aggregate größer als im Vergleich zu HSM. Weiterhin lässt sich mithilfe des Röntgens eine Aussage darüber treffen, ob es sich um ein Ein-, Zwei- oder Dreikammersystem handelt. ? Wie erklären Sie sich den postoperativen Zwischenfall? Nach Entfernung des Magneten blieb der HSM, wahrscheinlich aufgrund von physikalischen Störungen durch die Nähe zum Operationsfeld, im asynchronen Modus (DOO 100/min). Im postoperativen Verlauf entwickelte der Patient starke Schmerzen, und seine native Herzfrequenz stieg daraufhin auf über 100/min an. Durch die weiterhin durchgehende asynchrone Stimulation des HSM kam es zu einem R-auf-T-Phänomen mit Kammerflimmern. Schlüsselwörter. Implantierbare Defibrillatoren · Herzschrittmacher · Fehlfunktion · Magnetauflage · Perioperatives Management
Korrespondenzadresse Dr. M. Forkmann II. Med. Klinik Kardiologie, Angiologie, Pneumologie Ketschendorfer Str. 33, 96450 Coburg, Deutschland [email protected]
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Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. M. Forkmann gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor. The supplement containing this article is not sponsored by industry.
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Der Anaesthesist
Der Anaesthesist Facharzt-Training Anaesthesist https://doi.org/10.1007/s00101-019-00668-7 © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Redaktion A. Heller, Augsburg G. Breuer, Coburg
R. Chackupurakal · F. Wappler · S. G. Sakka Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin, Klinikum der Universität Witten/Herdecke mit Sitz in Köln, Kliniken der Stadt Köln gGmbH, Krankenhaus Merheim, Köln, Deutschland
33/w mit postnarkotischer Bewusstlosigkeit, Tachykardie und überwärmter Haut Vorbereitung auf die Facharztprüfung: Fall 47
Fallschilderung für den Prüfungskandidaten Bei einer 33-jährigen Patientin (Körperlänge 170 cm, Körpergewicht 68 kg) wird eine rechtsseitige Kreuzbandruptur elektiv in Allgemeinanästhesie operativ versorgt. Bei der Patientin sind keine Vorerkrankungen bekannt und bisher auch keine operativen Eingriffe erfolgt. Zur Einleitung der Allgemeinanästhesie erhält die Patientin 20 μg Sufentanil und 200 mg Propofol i.v. Die Aufrechterhaltung der Narkose erfolgt als totale intravenöse Anästhesie mit Propofol (6 mg/ kgKG und h) sowie 10 μg Sufentanil zum Hautschnitt. Der intraoperative Verlauf gestaltet sich komplikationslos. Nach 35 min werden die Operation und die Propofolinfusion beendet. Auch 25 min nach Anästhesieende wird die Patientin nicht wach. Der Blutdruck liegt mit 125/74 mm Hg und die periphere Sauerstoffsättigung mit 98 % im Normbereich. Das EKG zeigt einen tachykarden Sinusrhythmus (125/min). Die Pupillen sind weit, rund und isokor.
Thematik Der folgende Fragenkomplex bezieht sich auf: 4 Differenzialdiagnosen für Bewusstlosigkeit nach Narkoseende, 4 Definition, Inzidenz, Pathomechanismen und Auslöser des zentralen anticholinergen Syndroms (ZAS), 4 klinische Symptome des ZAS, 4 Therapiemaßnahmen bei Verdacht auf ein ZAS, 4 Definition, Inzidenz, Pathomechanismen und Auslöser des malignen neuroleptischen Syndroms (MNS), 4 klinische Symptome des MNS, 4 Therapiemaßnahmen bei Verdacht auf ein MNS.
Prüfungsfragen 4 Welche möglichen Differenzialdiagnosen
passen zur geschilderten Kasuistik? 4 Erklären Sie das Krankheitsbild des
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zentralen anticholinergen Syndroms, und nennen Sie mögliche auslösende Faktoren. Welche Symptome treten bei einem zentralen anticholinergen Syndrom auf? Welche Therapiemaßnahmen ergreifen Sie bei Verdacht auf ein zentrales anticholinerges Syndrom? Erklären Sie das Krankheitsbild des malignen neuroleptischen Syndroms, und nennen Sie mögliche auslösende Faktoren. Welche Symptome treten bei einem malignen neuroleptischen Syndrom auf? Welche Therapiemaßnahmen ergreifen Sie bei Verdacht auf ein malignes neuroleptisches Syndrom? Der Anaesthesist
Facharzt-Training D Antworten ? Welche möglichen Differenzialdiagnosen passen zur geschilderten Kasuistik? Ursache einer postnarkotischen Bewusstlosigkeit kann ein Medikamentenüberhang durch Opioide, Anästhetika, Benzodiazepine oder Muskelrelaxanzien sein. Daneben kommen respiratorische Störungen (Hypoxie, Hyperkapnie), Störungen des Wasser-, Glucose- und Elektrolythaushalts, endokrine Störungen und eine Hypothermie infrage. Auch vorbestehende oder neu aufgetretene Störungen des zentralen Nervensystems (ZNS), wie z. B. ein ischämischer Insult, und psychiatrische Erkrankungen, wie ein dissoziativer Stupor, müssen in Betracht gezogen werden. Ebenso müssen das ZAS und das MNS als potenzielle Differenzialdiagnosen beachtet werden. ? Erklären Sie das Krankheitsbild des zentralen anticholinergen Syndroms, und nennen Sie mögliche auslösende Faktoren. Das ZAS ist eine Komplikation, die mit einer Inzidenz von 1–4 % nach operativen Eingriffen in Lokalanästhesie und 4–10 % nachAllgemeinanästhesie auftritt [1]. Verursacht wird das ZAS durch eine Blockade zentraler muskarincholinerger Neurone oder durch einen Acetylcholinmangel im ZNS [2]. Neben direkt anticholinerg wirkenden Substanzen wie Atropin und Scopolamin können zentralwirksame Substanzen mit indirekter anticholinerger Wirkung ein ZAS auslösen [1]. Hierunter fallen auch für die Anästhesie relevanten Substanzen, die insbesondere in Kombination das Risiko für ein ZAS erhöhen.
Zu diesen Trigger-Substanzen [1–3] zählen u. a.: 4 Opioide, 4 Propofol, 4 Barbiturate, 4 Inhalationsanästhetika, 4 Benzodiazepine, 4 Ketamin, 4 Lokalanästhetika, 4 Antihistaminika, 4 Antidepressiva, 4 Antiparkinsonmittel, 4 Neuroleptika und 4 Alkohol. ?
Welche Symptome treten bei einem zentralen anticholinergen Syndrom auf?
Man unterscheidet zwischen zentralen und peripheren Symptomen (. Tab. 1), wobei das ZAS in 2 Ausprägungen mit Zeichen einer zentralen Erregung einerseits und einer Vigilanzminderung andererseits auftreten kann. Bei Vorliegen von mindestens einem zentralen und 2 peripheren Symptomen kann die Verdachtsdiagnose gestellt werden. ?
Welche Therapiemaßnahmen ergreifen Sie bei Verdacht auf ein zentrales anticholinerges Syndrom? Das Medikament der Wahl ist Physostigmin. Als lipophiles tertiäres Amin ist Physostigmin liquorgängig und wirkt somit sowohl zentral als auch peripher [2]. Es entfaltet seine cholinerge bzw. parasympathikomimetische Wirkung durch eine reversible Hemmung der Acetylcholinesterase und somit über eine Erhöhung der Acetylcholinkonzentration
Tab. 1 Symptome des zentralen anticholinergen Syndroms [1–4] Zentrale Symptome Periphere Symptome Agitiertheit mit – Desorientiertheit – Halluzinationen – zerebralen Krampfanfällen – Schwindel/Ataxie Somnolenz/Koma mit – Amnesie – Kurzzeitgedächtnisstörungen Der Anaesthesist
Mydriasis Tachykardie, Herzrhythmusstörungen Rote überwärmte Haut Abnahme der Speichel-/ Schweißsekretion Harnretention
im synaptischen Spalt. Die empfohlene initiale Dosis beträgt 0,04 mg/kgKG (beim Erwachsenen mit einem Körpergewicht von 70 kg: 2 mg, [4]). Unter Beachtung der Kontraindikationen (koronare Herzkrankheit, Asthma bronchiale, geschlossenes Schädel-Hirn-Trauma und myotone Muskeldystrophien) sollte Physostigmin langsam i.v. verabreicht werden. Das Risiko für Nebenwirkungen (Bradykardie, atrioventrikulärer [AV-]Block, Bronchokonstriktion, zerebrale Krampfanfälle sowie Übelkeit und Erbrechen) kann somit reduziert werden. Aufgrund seiner relativ kurzen Halbwertszeit (20 min–2 h) kann eine erneute Bolusgabe (1 mg nach 20 min) und in einigen Fällen eine kontinuierliche Infusion (1–2 mg/h) erforderlich sein. In jedem Fall sollte eine verlängerte Überwachung im Aufwachraum über den Zeitraum der maximalen Halbwertszeit, d. h. über 2 h, erfolgen [1, 2]. ?
Erklären Sie das Krankheitsbild des malignen neuroleptischen Syndroms, und nennen Sie mögliche auslösende Faktoren. Das MNS ist eine potenziell letale Nebenwirkung verschiedener Medikamente, u. a. von Neuroleptika. Daneben kommen auch andere Wirkstoffe mit antidopaminergem Wirkmechanismus als mögliche Auslöser infrage. Hierzu zählen 4 Stimmungsstabilisatoren wie Lithium und Valproat, 4 trizyklische Antidepressiva und 4 Dopaminantagonisten wie Metoclopramid und Promethazin. Ein kürzlicher Beginn mit einer TriggerSubstanz, eine parenterale Applikation und schnelle Dosiserhöhung konnten als Risikofaktoren identifiziert werden. Zudem scheint das MNS häufiger bei geschwächten Personen und an Alkoholismus Erkrankten aufzutreten. Die Häufigkeit eines MNS bei Patienten unter der Therapie mit Dopaminantagonisten beträgt 0,5 %. Der genaue Pathomechanismus ist nicht vollständig geklärt. Es wird eine Störung der Neu-
Tab. 2 Kriterien des malignen neuroleptischen Syndroms (MNS) nach DSM-5. (American Psychiatric Association [6]) Kardinalsymptome
Rigor Hyperthermie Exposition mit Dopaminantagonisten innerhalb von 72 h vor Beginn des MNS
Häufige Begleitsymptome
Starkes Schwitzen Dysphagie Tremor Inkontinenz Bewusstseinsveränderungen Mutismus Tachykardie Erhöhter oder schwankender Blutdruck Leukozytose Laborchemische Hinweise auf Muskelschädigung (z. B. Erhöhung der CK-Aktivität [U/l])
Ausschluss
Die Symptome sind nicht auf andere Substanzen oder einen anderen medizinischen oder psychischen Krankheitsfaktor zurückzuführen
CK Kreatinkinase, DSM-5 Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, 5. Aufl. Tab. 3 Stadieneinteilung des malignen neuroleptischen Syndroms. (Nach Strawn et al. [7]) Stadium Ausprägung Beschreibung I+II
–
Medikamentös induziertes Parkinson-Syndrom und Katatonie
III
Leicht
Katatonie oder Verwirrtheit Körpertemperatur ≤38 °C Herzfrequenz ≤100/min
IV
Moderat
Moderater Rigor Katatonie oder Verwirrtheit Körpertemperatur 38–40 °C Herzfrequenz 100–120/min
V
Schwer
Schwerer Rigor Katatonie oder Koma Herzfrequenz ≥120/min
rotransmitter mit Blockade im dopaminergen System (u. a. subkortikaler Rezeptoren im Hypothalamus und den Basalganglien) als Grundlage angenommen. Die Hyperthermie wird durch eine gestörte Temperaturregulation im Hypothalamus erklärt. Des Weiteren wird eine Dysfunktion mit Hyperaktivität im sympathikikoadrenergen System vermutet. Demnach führt der Dopaminantagonismus auf Rückenmarkebene zu einer Störung der hemmenden Aktivität [5]. ?
Welche Symptome treten bei einem malignen neuroleptischen Syndrom auf? Die Kardinalsymptome des MNS sind: 4 schwerer Rigor und 4 Hyperthermie in Verbindung mit 4 Exposition mit Dopaminantagonisten innerhalb von 72 h vor Beginn des MNS.
Zusätzlich können die in . Tab. 2 aufgeführten Begleitsymptome auftreten. Während eine generalisierte Muskelrigidität und Hyperthermie auch für die maligne Hyperthermie (MH) kennzeichnend sind, sind anders als beim MNS volatile Inhalationsanästhestika und das depolarisierende Muskelrelaxans Succinylcholin Auslöser einer MH. Des Weiteren fehlt beim MNS der rasche Anstieg der endexspiratorischen Kohlenstoffdioxid(CO2 )-Konzentration; dieser stellt ein typisches Frühsymptom der MH dar. ? Welche Therapiemaßnahmen ergreifen Sie bei Verdacht auf ein malignes neuroleptisches Syndrom? Die Therapie richtet sich nach dem Schweregrad der Erkrankung (. Tab. 3). Während bei einer milden Form das
Absetzen der verantwortlichen Medikamente und die Behandlung der Risikofaktoren ausreichen, wird ab einer moderaten Krankheitsschwere eine intensivmedizinische Behandlung und in schweren Fällen zudem die Kühlung des Patienten notwendig. Die medikamentöse Therapie sollte in leichten Fällen mit Benzodiazepinen (z. B. Lorazepam 1–2 mg i.m. oder i.v. alle 4–6 h) beginnen und im folgenden Stadium zusätzlich Bromocriptin (2,5–5 mg enteral alle 8 h) oder Amantadin (100 mg enteral alle 8 h) beinhalten. Bei einer schweren Form mit Vorliegen von Bewusstlosigkeit wie in der oben genannten Kasuistik sollte Dantrolen (1–2,5 mg/kgKG alle 6 h über 48 h) zur Hemmung der Kalziumionenfreisetzung in den Muskelzellen und der daraus resultierenden Muskelentspannung verabreicht werden. Die Elektrokrampftherapie gilt als effektive Maßnahme, sollte aber aufgrund ihrer Risiken erst ab dem moderaten Stadium und nur bei Versagen der medikamentösen Therapie erwogen werden [5]. Schlüsselwörter. Allgemeinanästhesie · Zentralnervensystem · Zentrales anticholinerges Syndrom · Malignes neuroleptisches Syndrom · Pathophysiologie
Korrespondenzadresse Dr. R. Chackupurakal Klinik für Anästhesiologie und operative Intensivmedizin, Klinikum der Universität Witten/Herdecke mit Sitz in Köln, Kliniken der Stadt Köln gGmbH, Krankenhaus Merheim Ostmerheimerstr. 200, 51109 Köln, Deutschland [email protected]
Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. R. Chackupurakal, F. Wappler und S.G. Sakka geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor. The supplement containing this article is not sponsored by industry.
Der Anaesthesist
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Der Anaesthesist
Der Anaesthesist Facharzt-Training Anaesthesist https://doi.org/10.1007/s00101-019-00685-6 © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Redaktion A. Heller, Augsburg G. Breuer, Coburg
Jan Wallenborn Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin, HELIOS Klinikum Aue, Aue, Deutschland
51/w, Awareness mit posttraumatischer Belastungsstörung Vorbereitung auf die Facharztprüfung: Fall 48 Fallschilderung für den Prüfungskandidaten Eine 51-jährige Patientin wird wegen Gewichtszunahme und tastbaren intraabdominalen Tumoren in die Frauenklinik aufgenommen. Aufgrund großer beidseitiger Ovarialtumoren wird eine mehrstündige Operation mit Ovarektomie, Omentektomie, Entperitonealisierung und Lymphonodektomie geplant. Nebenerkrankungen werden nicht berichtet. Auf Nachfrage über potenzielle Probleme mit der Narkose gibt die Patientin an, dass dies ja der Grund sei, warum sie so spät ins Krankenhaus komme. Bei der Narkose sei sie wach gewesen, konnte sich nicht bewegen und hätte starke Schmerzen gefühlt. Die Patientin wird über Awareness und eine Anästhesie mit zusätzlichem Neuromonitoring aufgeklärt.
Thematik Der folgende Fragenkomplex bezieht sich auf: 4 die Wachheit in Narkose, Definition und Risikofaktoren, 4 die posttraumatische Belastungsstörung („posttraumatic stress disorder“, PTSD), 4 Strategien zur Vermeidung von Awareness, 4 das Vorgehen bei stattgehabter bzw. vermuteter intraoperativer Wachheit, 4 medikolegale Aspekte von Awareness.
Prüfungsfragen 4 Was versteht man unter „Awareness“? 4 Welche Risikofaktoren für Awareness
kennen Sie? 4 Wie äußert sich eine posttraumatische
Belastungsstörung? 4 Welche Strategien zur Vermeidung bzw.
zur Reduktion von Awareness kennen Sie? 4 Können EEG-basierte Hypnosetiefenmoni-
tore Awareness reduzieren? 4 Wie gehen Sie bei stattgehabter bzw.
vermuteter intraoperativer Wachheit vor? 4 Ist Awareness medikolegal relevant?
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Facharzt-Training D Antworten ? Was versteht man unter „Awareness“?
4 unbewusste Wachheit mit impliziter
Der Terminus Awareness steht für Phänomene intraoperativerWachheitmitErinnerung. Brice et al. beschrieben 1970 den Begriff „Awareness“ als die Fähigkeit des Patienten, spontan oder auf Nachfrage Ereignisse aus der intraoperativen Phase zu erinnern [1]. Nach Schwender et al. unterscheidet man [2]: 4 explizit erinnerbare bewusste Wachheit mit Schmerz, 4 explizit erinnerbare bewusste Wachheit ohne Schmerz, 4 bewusste Wachheit mit Amnesie,
Erinnerung, 4 keine Wachheit. Eine neuere Einteilung mit den Graden 0 bis 5 (. Tab. 1) findet sich in einem Cochrane-Review des Jahres 2016 [3]. Ursächlich für Awareness ist eine unzureichende Bewusstseinsausschaltung infolge inadäquater oder trotz scheinbar adäquater Anästhetikazufuhr. Awareness weist nach großen prospektiven Studien eine Häufigkeit von 0,1 % auf [4, 5]. Davon abgegrenzt werden müssen vom Patienten berichtete Träume mit einer
Tab. 1 Klassifikation intraoperativer Wachheitszustände. (Adaptiert nach Messina et al. [3]) Grad Bezeichnung Intraoperativ Unmittelbar Spät postoperapostoperativ tiv (>1 Monat) 0
Adäquate Anästhesie
Bewusstlos
Keine Zeichen
Keine Erinnerung
Keine Erinnerung
1
Intraoperative Wachheit mit ausgelöschter ex-/impliziter Erinnerung
Bei Bewusstsein
Zeichen leichter Anästhesie/Antwort auf Kommando
Keine Erinnerung
Keine Erinnerung oder Folgen
2
Intraoperative Wachheit mit impliziter Erinnerung
Bei Bewusstsein, verbale Stimuli präsentiert
Klinische Zeichen/Antwort auf Kommando
Keine Erinnerung
Keine explizite Erinnerung, implizite Erinnerung ohne Folgen
3
Intraoperative Wachheit mit impliziter emotionaler Erinnerung
Bei Bewusstsein
Klinische Zeichen/Antwort auf Kommando
Keine Erinnerung
Keine explizite Erinnerung, aber PTSD, Albträume
4
Intraoperative Wachheit, belastbarer Patient
Bei Bewusstsein
Klinische Zeichen/Antwort auf Kommando
Explizite Erinnerung mit oder ohne Schmerz
Explizite Erinnerung, keine emotionale Belastung
5
Intraoperative Wachheit mit emotionalem Schaden
Bei Bewusstsein
Klinische Zeichen/Antwort auf Kommando
Explizite Erinnerung, Leiden und/ oder Schmerz
Explizite Erinnerung, PTSD, Albträume
PTSD „posttraumatic stress disorder“ (posttraumatische Belastungsstörung) Tab. 2
Risikofaktoren für Awareness
Patient
Operation
Anästhesie
Awareness in Anamnese Alkohol-/Substanzabusus Drogenabhängigkeit Chronische Schmerzanamnese Aktuelle Opioidtherapie Erhöhtes Angstlevel Weibliches Geschlecht
Sectio caesarea Kardiochirurgie Akute Traumachirurgie Notfalleingriffe
Einsatz von Muskelrelaxanzien TIVA „Flache“ Narkose bei Kreislaufinstabilität Prolongierte Narkoseeinleitung Verzicht auf Benzodiazepine Opioidbetonte Anästhesie
TIVA totale intravenöse Anästhesie Der Anaesthesist
Häufigkeit von 6 % [5]. Warnsymptome können motorische Abwehrreaktionen (Bewegungen von Augen, Augenlidern, Kopf, Extremitäten sowie Schlucken, Husten und Grimassieren) oder Zeichen vegetativer Stimulation (Tachykardie, Hypertension, Schwitzen, Tränenfluss, Mydriasis) sein, diese müssen aber nicht auftreten. Intraoperative Wachheit geht nicht immer mit einer Erinnerung einher, da hierfür Wahrnehmungen im Gedächtnis gespeichert und später wieder abgerufen werden müssen. Am häufigsten werden auditive Wahrnehmungen, seltener Schmerz und visuelle Wahrnehmungen berichtet [4]. ? Welche Risikofaktoren für Awareness kennen Sie? Awareness ist häufiger bei Anästhesie mit neuromuskulärer Blockade (Cave: Warnsymptom Abwehrbewegung ausgeschaltet). Außerdem stellt eine totale intravenöse Anästhesie (TIVA) einen Risikofaktor dar. In . Tab. 2 werden patientenbezogene und operations- bzw. anästhesiebedingte Risikofaktoren zusammengefasst. Technische Mängel (defekter Vapor, defekte Spritzenpumpe) und Anwenderfehler (Dosierungsfehler, Medikamentenverwechslung, versehentliche Diskonnexion) sind vermeidbare Gründe für Awareness. Bei jeder prolongierten Narkoseeinleitung (z. B. bei schwieriger Intubation) muss an die zeitgerechte Nachapplikation hypnotisch wirkender Substanzen gedacht werden. Der Reduktion von Anästhetika bei kreislaufinstabilen Patienten sind Grenzen gesetzt, ggf. muss zum Vermeiden vonAwareness frühzeitig einVasopressor zur Kreislaufstabilisierung verabreicht werden. Bei einer Sectio caesarea gilt die Einleitung mit Thiopental und Ketamin als vorteilhaft. Vorbestehende Medikationen mit Opioiden, Benzodiazepinen, Neuroleptika oder Antidepressiva sowie Substanzabusus erhöhen den Bedarf an Anästhetika individuell [3, 6, 7].
? Wie äußert sich eine posttraumatische Belastungsstörung? Die unangenehmste intraoperative Wahrnehmung ist Schmerz, verbunden mit dem Gefühl, sich nicht bemerkbar machen zu können. Das Empfinden der Paralyse und die Unmöglichkeit, diesen Zustand aktiv zu ändern, führen zu Angst, Panik und Hilflosigkeit [7]. Patienten mit Awareness leiden oft postoperativ unter Angst und vegetativer Übererregbarkeit. Glücklicherweise entwickelt nur ein Fünftel der Patienten mit Awareness eine lang anhaltende Symptomatik mit z. B. Schlafstörungen, Albträumen, Konzentrationsstörungen, übertriebener Schreckhaftigkeit, Angstund Panikattacken [4]. Im ungünstigsten Fall tritt bei diesen Patienten eine posttraumatische Belastungsstörung („posttraumatic stress disorder“, PTSD) auf, die durch die Trias Wiedererleben (der Stresssituation), Vermeiden (im Extremfall jeglicher medizinischer Behandlungen oder Krankenhausbesuche) und Übererregbarkeit (übertriebene Schreckhaftigkeit, Angst- und Panikattacken) gekennzeichnet ist. Die Diagnosekriterien der PTSD werden durch den Code F43.1 in der ICD10 beschrieben: 4 verzögerte oder protrahierte Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde; 4 wiederholtes Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Albträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit auftreten; 4 Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit gegenüber der Umgebung, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten; 4 vegetative Übererregtheit mit Vigilanzsteigerung, übermäßiger Schreckhaftigkeit und Schlafstörung; Angst und Depression sind
häufig; Suizidgedanken sind nicht selten; 4 Beginn der PTSD folgt dem Trauma mit einer Latenz, die wenige Wochen bis Monate dauern kann; 4 der Verlauf der PTSD ist wechselhaft, in der Mehrzahl der Fälle kann jedoch eine Heilung erwartet werden. ?
Welche Strategien zur Vermeidung bzw. zur Reduktion von Awareness kennen Sie?
Eine Prämedikation mit Benzodiazepinen wirkt anxiolytisch und aufgrund der Amnesieeffekte präventiv gegen Awareness. Bei jeder prolongierten Anästhesieeinleitung oder schwierigen Intubation muss an die Nachgabe von Hypnotika gedacht werden. Der Einsatz volatiler Anästhetika ermöglicht über die Messung der endtidalen Konzentration eine Effektabschätzung der Anästhetikawirkung. Bezogen auf Awareness sollten 0,7 MAC auch bei Kreislaufdepression nicht unterschritten werden (MAC: „minimum alveolar concentration“). Höhere Dosierungen von volatilen Anästhetika reduzieren das Risiko für Awareness, verglichen mit niedrigeren Dosierungen [3]. Bei Einsatz einer TIVA sollten Applikationsfehler durch wiederholte Kontrolle von Perfusorleitungen, Dreiwegehahn und Lage des i.v.-Zugangs vermieden werden. Muskelrelaxanzien sollten nicht unkritisch eingesetzt werden. Bei Bewegungsreaktionen und vegetativen Zeichen zu flacher Narkose muss umgehend eine Analgesie-/ Hypnosevertiefung erfolgen. Die wachund aufmerksame Anästhesieführung durch gut ausgebildetes Personal hilft, Awareness zu reduzieren. Eine „guidance“ des National Institute for Health and Care Excellence (NICE) empfiehlt den Einsatz von EEG-basierten Anästhesietiefenmonitoren bei Patienten mit hohem Risiko und optional bei einer TIVA [8]. ? Können EEG-basierte Hypnosetiefenmonitore Awareness reduzieren? Derzeit verfügbare EEG-Monitore und dargestellte EEG-Indizes sind nicht 100 %ig zuverlässig für eine Awareness-
Detektion bzw. -Prävention. Sie bieten jedoch die einzige Möglichkeit, die individuelle Wirkung der Anästhetika am Gehirn, dem primären Zielorgan der Anästhesie, wenigstens ansatzweise zu erfassen [7]. Sie können bei einer TIVA helfen, Applikationsfehler rechtzeitig zu detektieren. Die NICE guidance empfiehlt Schulungen zum Umgang mit den eingesetzten EEG-Monitoren, um Limitationen und Fehlerquellen der Geräte zu kennen [8]. Werden bei Einsatz eines EEG-Index auch Roh-EEG-Signal und elektromyographische (EMG-)Aktivität am Monitor angezeigt, ermöglicht dies die direkte Beurteilung und Detektion potenzieller Artefakte und Störsignale. Ein standardmäßiger Einsatz ist zum jetzigen Zeitpunkt nicht gerechtfertigt; bei Hochrisikopatienten sind Vorteile erkennbar [3, 6–8]. Sinnvolle Indikationen für den Einsatz eines EEG-Monitors können sein: Patienten mit Awareness in der Anamnese, Patienten mit Angst vor Awareness bzw. Wunsch nach einem Neuromonitoring, sehr alte bzw. kreislaufinstabile oder multimorbide Patienten, Einsatz einer TIVA sowie chronische Schmerz- und Analgetikaanamnese, Medikamenten-, Alkohol- oder Drogenabusus. ? Wie gehen Sie bei stattgehabter bzw. vermuteter intraoperativer Wachheit vor? Bei beobachteter oder vermuteter intraoperativer Wachheit soll der Patient mit ruhiger Stimme angesprochen, ihm die Situation erklärt und ihm versichert werden, dass die Narkose wieder vertieft wird. Benzodiazepine sollen in diesem Fall nicht verabreicht werden, da sie negative psychische Folgen durch einen dissoziierten Amnesieprozess verstärken können [6]. Postoperativ sollen diese Patienten mehrfach visitiert und es soll das strukturierte Interview nach Brice [1] (z. B. am 1., 3. und 9. postoperativen Tag) durchgeführt werden. Ist ein Wachheitserleben gesichert, muss dies mit dem Patienten ruhig und erklärend besprochen werden. Wachheitserleben und Zusatzvisiten sind sorgfältig zu dokumentieren. Da nicht immer intraoperative Anzeichen für eine Wachheit vorliegen, ist es wichtig, dass auch die auf den StatioDer Anaesthesist
Facharzt-Training nen tätigen Kollegen über das Phänomen Awareness Bescheid wissen, den Patienten ernst nehmen und sofort einen Anästhesisten hinzuziehen. Bei Symptompersistenzistdem Patienteneine psychotraumatologische Mitbehandlung anzubieten und zu organisieren. Strukturiertes Interview nach Brice: 1. Was ist das Letzte, an das Sie sich erinnern, bevor Sie eingeschlafen sind? 2. Was ist das Erste, an das Sie sich erinnern, nachdem Sie wieder aufgewacht sind? 3. Erinnern Sie sich an etwas zwischen diesen Zeitpunkten? 4. Haben Sie während Ihrer Narkose geträumt? Wenn ja: angenehm oder unangenehm? 5. Was war das Unangenehmste im Rahmen der Operation? ? Ist Awareness medikolegal relevant? Awareness ist mit einer Häufigkeit von 0,1 % eine relevante, das Wohlbefinden des Patienten stark beeinträchtigende Komplikation einer Allgemeinanästhesie. Intraoperative Wachheit machte 5 % aller Schadensfälle der Norddeutschen Schlichtungsstelle in einem Fünfjahreszeitraum aus, von denen die Hälfte als schadensersatzpflichtig bewertet wurde [9]. Die Höhe der finanziellen Entschädigungen ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Ob über Awareness aufgeklärt werden sollte, wird in Deutschland noch kontrovers diskutiert. Einerseits sollte über alle kritischen und typischen Risiken aufgeklärt werden, andererseits kann das Hinweisen auf intraoperative Wachheit auch zu unerwünschten Angst- und Erwartungshaltungen führen. In Österreich hat der Oberste Gerichtshof Awareness als typische Komplikation einer Vollnarkose mit einer vorhandenen Alternative (Regionalanästhesie) eingestuft und damit Awareness als aufklärungspflichtig bewertet [6]. Die Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) empfiehlt, zumindest Patienten mit erhöhtem Risiko für Awareness präoperativ aufzuklären.
Der Anaesthesist
Schlüsselwörter. Intraoperative Wachheit · Schmerz · Risikofaktoren · Posttraumatische Belastungsstörung · Neuromonitoring
Korrespondenzadresse PD Dr. Jan Wallenborn Klinik für Anästhesie und Intensivmedizin, HELIOS Klinikum Aue Gartenstr. 6, 08280 Aue, Deutschland [email protected]
Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. J. Wallenborn gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor. The supplement containing this article is not sponsored by industry.
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Der Anaesthesist Facharzt-Training Anaesthesist https://doi.org/10.1007/s00101-019-00659-8 © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Redaktion A. Heller, Augsburg G. Breuer, Coburg
K. Radke1 · O. C. Radke1,2 1
Klinik für Anästhesie und operative Intensivmedizin, Klinikum Bremerhaven-Reinkenheide, Bremerhaven, Deutschland 2 Klinik und Poliklinik für Anästhesiologie und Intensivtherapie, Dresden, Deutschland
21/w mit Kopfschmerzen nach der Entbindung Vorbereitung auf die Facharztprüfung: Fall 49
Fallschilderung für den Prüfungskandidaten Sie sind in den frühen Abendstunden Ihres Bereitschaftsdienstes. Die übliche laparoskopische Appendektomie haben Sie abgearbeitet, und Sie haben auch schon eine Patientin mit Schenkelhalsfraktur versorgt. Gerade wollen Sie gemütlich die Beine hochlegen und Ihr Abendbrot essen, da kommteinRufvonderWöchnerinnenstation: Eine Patientin hätte Kopfschmerzen nach einer „Spinalanästhesie“. Sie essen schnell die Reste Ihrer Butterstulle auf und begeben sich auf die Wöchnerinnenstation. Frau A. ist 21 Jahre alt, 165 cm groß und wog vor der Entbindung 84 kg. Sie hat heute Morgen per normaler vaginaler Geburt ihr erstes Kind bekommen (SSW 39 + 5) und klagt
jetzt über starke Kopfschmerzen. Bei protrahiertem Geburtsverlauf war kurz nach Mitternacht ein Periduralkatheter (PDK) gelegt worden. Die Anlage sei (wohl wegen einer angeborenen leichten Skoliose) sehr schwierig gewesen; der Anästhesist habe mehrfach ansetzen müssen. Letztendlich habe die PDA aber super gewirkt; sie hatte keine Schmerzen mehr, dafür aber taube Beine, und anfangs seien die Beine auch sehr schwer gewesen, sodass sie nicht habe zur Toilette gehen können. Die Patientin liegt im verdunkelten Zimmer flach im Bett und hält die Augen geschlossen. Geräusche und Licht erträgt sie nicht. Der Kopfschmerz wird beim Aufsetzen schlimmer, und sie hat schon 2-mal erbrochen. Von den Gynäkologen wurden bisher 5 mg Oxycodon p.o. verordnet, dadurch wurde aber die Übelkeit bloß noch schlimmer.
Thematik Der folgende Fragenkomplex bezieht sich auf: 4 die Pathophysiologie und die klinischen Zeichen des „postdural puncture headache“ (PDPH), 4 die Risikofaktoren des PDPH, 4 die prophylaktischen Maßnahmen nach akzidentieller Durapunktion, 4 die konservativen Behandlungsmöglichkeiten, 4 Indikation, Durchführung, Nebenwirkungen und Erfolgsaussichten des epiduralen Blut-Patch (EBP).
Prüfungsfragen 4 Welcher Pathomechanismus steckt hinter
dem Postdural puncture headache? 4 Was sind die typischen Symptome des
Postdural puncture headache? 4 Welche Differenzialdiagnosen müssen Sie
ausschließen? 4 Worauf konzentrieren Sie sich bei der 4 4 4 4
4
Anamneseerhebung und der körperlichen Untersuchung? Welche Faktoren beeinflussen bei dieser Patientin das Risiko für einen Postdural puncture headache? Welche konservativen Therapiemaßnahmen sind indiziert? Wann würden Sie einen epiduralen BlutPatch durchführen? Was ist bei der Durchführung des epiduralen Blut-Patch an Nebenwirkungen und potenziellen Komplikationen zu erwarten? Muss die Patientin bei der nächsten Schwangerschaft etwas Besonderes beachten? Der Anaesthesist
Facharzt-Training D Antworten ? Welcher Pathomechanismus steckt hinter dem Postdural puncture headache? Bei einer absichtlichen Durapunktion im Rahmen einer Spinalanästhesie oder einer kombinierten Spinal-Epidural-Anästhesie („combined spinal-epidural anesthesia“, CSE) oder bei einer akzidentiellen Durapunktion im Rahmen einer schwierigen Periduralanästhesie wird die Dura mit einer Nadel verletzt. Wenn sich das Loch in der Dura nicht spontan verschließt, kommt es zum kontinuierlichen Austritt von Liquor aus dem persistierenden Duraleck. Außerdem wird vermutet, dass durch den Liquorverlust der Druck im zentralen Nervensystem sinkt. Wenn die Patientin sich hinsetzt oder aufsteht, kann der natürliche Auftrieb das im Liquor schwimmende Gehirn nicht mehr vollständig halten. Durch die Schwerkraft nach unten gezogen, kommt es zu einem Zug an den Meningen. Diese mechanische Belastung bewirkt die migräneähnlichen Symptome der Patientin: Übelkeit, Lichtempfindlichkeit und Schmerzen. Der Mechanismus erklärt auch, warum der PDPH meistens lageabhängig ist und sich im Liegen spontan bessert. Ein weiterer Pathomechanismus ist die durch den Unterdruck hervorgerufene Erweiterung der meningealen Blutgefäße, die ebenfalls die typischen Symptome hervorrufen kann [1]. ? Was sind die typischen Symptome des Postdural puncture headache? Die Kopfschmerzen nach einer Durapunktion treten typischerweise im Abstand von bis zu 24 h nach der Punktion auf, in Einzelfällen aber auch erst nach Tagen bis Wochen. Typisch sind migräneähnliche Symptome wie Übelkeit, Lichtempfindlichkeit und Erbrechen. Weitere Symptome können sein: Nackensteifigkeit, Tinnitus und Hypakusis. Die Schmerzen bessern sich meistens spontan, wenn die Patienten liegen.
?
Welche Differenzialdiagnosen müssen Sie ausschließen?
„Stick a Tuohy needle into the earth, and they’ll blame you for global warming.“ Kenneth Drasner, UCSF1 Bei Wöchnerinnen ist die Abklärung der Differenzialdiagnosen besonders wichtig. Es ist ein typischer Reflex, „Kopfschmerzen nach Rückenmarknarkosen“ immer der Anästhesie anzulasten. Tatsächlich sind aber neurologische Komplikationen nach Geburten unabhängig von der Anästhesie nicht selten, und sie sind teilweise potenziell lebensbedrohlich. Diese Differenzialdiagnosen müssen daher berücksichtigt sowie durch eine gezielte Anamneseerhebung und körperliche Untersuchung ausgeschlossen werden [2]. Tatsächlich haben rund 40 % aller Frauen nach einer Geburt Kopfschmerzen und Schulter- und/oder Nackensteifigkeit – diese sind dann aber selten lageabhängig. Da hier die initiale Behandlung identisch ist, ist die Differenzierung zunächst nicht ganz so wichtig. Seltener, aber natürlich deutlich relevanter sind schwere Komplikationen wie eine Sinusvenenthrombose oder subdurale Hämatome, die beide durch das Pressen bei den Wehen hervorgerufen werden können. Solche Blutungen werden allerdings üblicherweise erst nach 3 Tagen symptomatisch, während der PDPH eher in den ersten 24 h auftritt. Auch eine Präeklampsie kann noch postpartal durch Kopfschmerzen imponieren. ? Worauf konzentrieren Sie sich bei der Anamneseerhebung und der körperlichen Untersuchung? Der erste Schritt ist immer ein Blick ins Narkoseprotokoll. Hier hat der Nachtdienst hoffentlich genau dokumentiert, wie die PDK-Anlage gelaufen ist, und ob es zu einer akzidentiellen Durapunktion kam (die aber oft auch nicht erkannt wird, wenn nicht sofort Liquor austritt).
1
Mündliche Mitteilung; https://anesthesia. ucsf.edu/people/kenneth-drasner.
Der Anaesthesist
Auf die Angaben der Geburtshilfe darf man sich zu den Details oft nicht verlassen; hier werden nicht selten SPA, PDA und CSE durcheinandergeworfen. Der nächste Schritt ist eine symptomorientierte Befragung der Patientin. Die PDPH-Schmerzen sind typischerweise dumpf oder pulsierend, oft mit Ausstrahlung in Nacken und Schultern. Aufsetzen, Husten, Niesen und Pressen verschlimmern den Schmerz. Schwindel, Tinnitus, Hörstörungen und Doppelbildersehen sind beschrieben – bei diesen selteneren Symptomen und spätestens bei peripheren neurologischen Symptomen ist unbedingt ein neurologisches Konsil, ggf. mit bildgebender Untersuchung, einzufordern, um intrakranielle Blutungen auszuschließen [2, 3]. ? Welche Faktoren beeinflussen bei dieser Patientin das Risiko für einen Postdural puncture headache? Einer der wichtigsten Prädiktoren für den PDPH ist die Dicke der Punktionsnadel. Die Anwendung moderner dünner Nadeln (25 G oder dünner) ist mit einem PDPH-Risiko unter 10 % verbunden, dies gilt v. a. für die nichtschneidenden Whitacre- (Vygon, Aachen, Deutschland), Sprotte- (PAJUNK GmbH Medizintechnologie, Geisingen, Deutschland) oder Atraucan-Kanülen (Atraucan , B. Braun Melsungen AG, Melsungen, Deutschland). Bei einer akzidentiellen Durapunktion im Rahmen einer PDKAnlage mit einer 17-G- oder 18-G-Tuohy-Nadel dagegen ist der PDPH mit einem Risiko von 80 % eigentlich schon vorprogrammiert. Dazu kommt, dass die Risikoverteilung für einen PDPH altersabhängig ist und die Patientin mit ihrem Alter von Anfang 20 genau zur maximal gefährdeten Gruppe gehört [4]. Wird die PDA von einem müden und/ oder eher unerfahrenen Anästhesisten im Nachtdienst durchgeführt, steigt das Risiko für einen PDPH ebenfalls weiter an [5]. Im Nachhinein meist nicht zu eruieren, aber doch ein relevanter Faktor ist die Tatsache, ob bei der „Loss-of-resist-
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®
ance“(LOR)-Technik Luft in der Spritze war – auch das erhöht das Risiko für eine akzidentielle Punktion durch erschwerte Detektion des LOR, und in den Spinalkanal injizierte Luft bedeutet unabhängig vom Liquorverlust eine zusätzliche Reizung des Zentralnervensystems (ZNS). Auch die Orientierung der Tuohy-Nadel spielt eine Rolle – ist die Öffnung bei der Punktion zur Seite gedreht, ist das Risiko für PDPH geringer. ? Welche konservativen Therapiemaßnahmen sind indiziert? Obwohl Liegen die PDPH-Symptome bessert, ist Bettruhe nicht indiziert, da sie den Verlauf des PDPH nicht beeinflusst. Wichtig dagegen ist eine adäquate Flüssigkeitszufuhr (Cave: keine Hyperhydratation), da die Patienten wegen der Übelkeit meist unzureichend trinken. Das Anlegen einer Bauchbinde bringt einigen Patienten symptomatische Linderung, kann aber nicht generell empfohlen werden. Medikamentös steht eine adäquate Analgesie mit Nichtopioiden an erster Stelle, da Opioide die Übelkeit verstärken und in der Stillzeit nur mit Vorsicht einzusetzen sind. Unproblematisch dagegen sind Nichtopioide wie Paracetamol und Ibuprofen, die auch kombiniert eingesetzt werden können. Auch Metamizol kann verschrieben werden. Erst, wenn diese Medikamente nicht wirken, kann der Einsatz von Opioiden wie z. B. Oxycodon versucht werden. Die Datenlage zu anderen Medikamenten ist erstaunlich dünn. Koffein und Theophyllin schwächen die Erweiterung der intrakraniellen Blutgefäße ab und reduzieren dadurch den Kopfschmerz. Die empfohlene Dosis Koffein beträgt 300–500 mg ein- bis 2-täglich (eine Tasse Kaffee hat 30–129 mg Koffein). Gabapentin (300 mg 3 -mal täglich) ist effektiv gegen die Schmerzen und die Übelkeit, wirkt aber erst nach 2 bis 3 Tagen. Auch Hydrokortison (100 mg intravenös 3-mal täglich) reduziert die Kopfschmerzen. ? Wann würden Sie einen epiduralen Blut-Patch durchführen? Der PDPH hat normalerweise eine hohe Spontanheilungsrate: Nach 4 Tagen ist über die Hälfte der Patienten symptom-
frei, nach einer Woche sind es ca. drei Viertel [4]. Wohl aufgrund der hohen Spontanheilungsrate ist die Effektivität des EBP im Vergleich zur konservativen Behandlung in den ersten 24 h gering. Auch aus rein praktischen Erwägungen empfiehlt es sich, zwar umgehend über den EBP aufzuklären, dann aber erst über Nacht einen konservativen Therapieversuch zu machen. In der Nacht liegen die Patienten sowieso, die Symptomatik ist vielleicht schon durch die Medikamentengabe in den Griff zu bekommen, und die Patienten haben genügend Bedenkzeit vor der Einwilligung in die invasive Maßnahme. Erst, wenn nach 24–48 h noch eine so starke Symptomatik vorliegt, dass die Patientin trotz maximaler medikamentöser Therapie stark beeinträchtigt ist und sich nicht um ihr Kind kümmern kann, sollte der EBP in Ruhe im Tagesprogramm durchgeführt werden. ?
Was ist bei der Durchführung des epiduralen Blut-Patch an Nebenwirkungen und potenziellen Komplikationen zu erwarten?
Bei der Anlage eines EBP werden typischerweise 15–20 ml Blut injiziert. Dabei treten regelhaft Rückenschmerzen und Übelkeit auf; auch Reizungen der Spinalnerven sind häufig [1]. Im Regelfall verschwinden diese Symptome nach 30–60 min. Der Kopfschmerz dagegen verschwindet normalerweise bereits während der Injektion des Blutes. Die Erfolgsrate des EBP ist mit rund 90 % sehr hoch, nur selten muss nach wenigen Tagen ein zweites Mal injiziert werden, weil der Kopfschmerz wiedergekommen ist.
Schlüsselwörter. Postspinaler Kopfschmerz · Geburtshilfe · Epiduraler Blut-Patch · Schwangerschaft · Periduralanästhesie
Korrespondenzadresse PD Dr. O. C. Radke, DEAA MHBA Klinik für Anästhesie und operative Intensivmedizin, Klinikum BremerhavenReinkenheide Postbrookstr. 103, 27574 Bremerhaven, Deutschland [email protected]
Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. K. Radke und O.C. Radke geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor. The supplement containing this article is not sponsored by industry.
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?
Muss die Patientin bei der nächsten Schwangerschaft etwas Besonderes beachten?
Bei Patienten, die bereits einmal einen PDPH hatten, besteht ein erhöhtes Risiko für ein erneutes Auftreten, z. B. bei einer zukünftigen Spinalanästhesie. Sollte die Patientin für ihr nächstes Kind wieder eine PDA für den Geburtsschmerz wünschen, kann diese wie immer durchgeführt werden. In Einzelfällen kann es zu einer unvollständigen Ausbreitung kommen.
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Der Anaesthesist Facharzt-Training Anaesthesist https://doi.org/10.1007/s00101-019-00669-6 © Springer Medizin Verlag GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Redaktion A. Heller, Augsburg G. Breuer, Coburg
S. Shmygalev Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin, Uniklinikum Augsburg, Augsburg, Deutschland
59/m zu einer Wirbelsäulenoperation Vorbereitung auf die Facharztprüfung: Fall 50 Fallschilderung für den Prüfungskandidaten Ein männlicher übergewichtiger 59-jähriger Patient unterzieht sich einer dorsalen Wirbelsäulenstabilisierung. Die Operation erfolgt in Bauchlage. Intraoperativ kommt es zu einem Blutverlust von ca. 1000 ml; dieser wird durch die Gabe von 3000 ml kristalloider Vollelektrolytlösung kompensiert. Aufgrund eines Blutdruckabfalls bis 70/40 mm Hg erfolgt eine Gabe von 12 mg Ephedrin, und es wird ein Noradrenalinperfusor mit maximaler Dosierung bis 0,1 μg/ kgKG und min angeschlossen. Die Narkose kann problemlos ausgeleitet werden; der Patient wird katecholaminfrei in den Aufwachraum (AWR) verlegt. Im AWR beklagt er ein verschwommenes Sehen; die Pflegekraft begründet dies durch die präoperativ verwendete Augenschutzsalbe und beruhigt den Patienten. Er wird wach und kreislaufstabil nach 1 h auf die Normalstation verlegt. Circa 1 h nach der Verlegung berichtet die Station dem AWR-Arzt telefonisch, dass der Patient weiterhin ein sehr verschwommenes Sehen beklagt, und fragt nach einer Empfehlung zum weiteren Vorgehen.
Thematik Der folgende Fragenkomplex bezieht sich auf: 4 Differenzialdiagnostik der perioperativen Sehstörungen bei nichtophthalmologischen Eingriffen, 4 Ursachen und Risikofaktoren für die perioperative Erblindung/ Sehstörungen („perioperative visual loss“, POVL), 4 Prävention und Behandlungsoptionen des POVL.
Prüfungsfragen 4 Was ist ein POVL? Wie schätzen Sie die 4 4
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Prävalenz des POVL bei nichtophthalmologischen Eingriffen ein? Benennen Sie mögliche Differenzialdiagnosen im beschriebenen Fall. Beschreiben Sie die Besonderheiten der Blutversorgung des N. opticus und ihren möglichen Zusammenhang mit einem POVL. Welche Risikofaktoren sind für den POVL bekannt? Wie schätzen Sie die Prognose bei vorliegendem POVL, und welche Therapieoptionen kennen Sie? Was müssen Sie bei den Eingriffen mit hohem Risiko für einen POVL als Anästhesist beachten? Der Anaesthesist
Facharzt-Training D Antworten ? Was ist ein POVL? Wie schätzen Sie die Prävalenz des POVL bei nichtophthalmologischen Eingriffen ein? Unter einem POVL versteht man eine anhaltende Einschränkung des Sehvermögens oder einen kompletten Visusverlust im Zusammenhang mit einer Operation in Allgemeinanästhesie [1]. Die Prävalenz des POVL variiert je nach Datenbank/Patientenkollektiv sehr stark und beträgt 0,001–0,02 % mit höchstem Risiko in der Wirbelsäulen- und Kardiochirurgie, gefolgt von orthopädischen und laparoskopischen Eingriffen.
Die ION ist die führende Ursache postoperativer Erblindung, insbesondere nach Wirbelsäuleneingriffen, und entsteht durch vielseitige Faktoren, die zu Minderperfusion des N. opticus führen. Der häufigste Mechanismus der Sehbahnschäden ist eine Ischämie aufgrund eines embolischen Hirninfarkts, meistens von der A. cerebri posterior ausgehend. Andere Mechanismen schließen Ischämien in Grenzgebieten der Aa. cerebri media et posterior, globale Hirnischämie, Rindennekrose bei globaler Anoxie, Dissektion der zervikalen Arterien und Halswirbelsäulen(HWS)-Trauma bei der Intubation ein.
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Benennen Sie mögliche Differenzialdiagnosen im beschriebenen Fall. Die Ursachen perioperativer Sehstörungen sind vielseitig; sie können im Wesentlichen in mechanische sowie ischämische Schäden (retinale Ischämie, ischämische optische Neuropathie [ION] und Sehbahnischämie) aufgeteilt werden. Mechanische Schäden. Diese betreffen meist das vordere Segment (Hornhautverletzungen) und sind aber sehr selten eine direkte Ursache der perioperativen Erblindung. Nichtdestotrotz können sie die ischämischen Schäden verursachen bzw. begünstigen. Ischämische Schäden. Ischämische Schäden sind im Vergleich zu mechanischen Schäden mit einem viel höheren Risiko der postoperativen Erblindung und schlechterer Prognose verbunden. Die retinale Ischämie in der perioperativen Phase wird am häufigsten durch unsachgemäße Positionierung des Patienten und externe Kompression des Auges verursacht. Der Druck innerhalb des Orbita kann auch aufgrund von retrobulbären Blutungen bei Gefäßverletzungen während Sinus- oder Nasenoperationen erhöht sein. Retinale Mikroembolien während Operationen am offenen Herzen stellen eine weitere potenzielle Ursache dar.
Der Anaesthesist
Beschreiben Sie die Besonderheiten der Blutversorgung des N. opticus und deren möglichen Zusammenhang mit einem POVL.
Der Sehnerv erstreckt sich von der Rückseite des Auges bis zum Chiasma opticum (. Abb. 1); er gliedert sich in einen intrabulbären, intraorbitalen und intrakraniellen Teil. Der intrabulbäre Teil des Sehnervs ist ophthalmoskopisch als Papilla nervi optici sichtbar und wird durch 3 kleine Äste der hinteren Ziliararterien und nicht wie die Netzhaut durch die Zentralarterie versorgt. Verschließt oder verschließen sich einer oder mehrere dieser Ziliararterienäste, entsteht ein sektorieller oder kompletter ischämischer Infarkt der Papille. Da alle Nervenfasern der Ganglienzellen durch die Papille laufen, verursacht ein solcher Infarkt eine hochgradige Sehstörung oder Erblindung des betroffenen Auges. Der intraorbitale Teil des Sehnervs beginnt nach Durchtritt durch eine siebförmige sklerale Bindegewebeplatte, die Lamina cribrosa. Dieser Teil wird nur durch piale Gefäße versorgt. Aufgrund der relativen Armut der Gefäßversorgung ist der intraorbitale Sehnerv am meisten durch eine Ischämie gefährdet. Nach Durchtritt durch den Canalis opticus beginnt der kurze intrakranielle Teil des Sehnervs bis zum Chiasma opticum. Der Sehnerv ist intraorbital und intrakranial wie das Gehirn von Dura
mater, Pia mater und Arachnoidea umhüllt. Die Blutversorgung wird durch Gefäße der Pia mater sichergestellt. Der venöse Abfluss erfolgt hauptsächlich über die Zentralvene und in geringerem Maß in kleine Orbitalvenen. In der prälaminären Region finden sich retinoziliäre Kollateralen, die im Fall der zentralen Retinavenenthrombose den venösen Blutfluss ermöglichen. Der Blutfluss im Sehnerv hängt vom Perfusionsdruck, vom Strömungswiderstand, von der Anwesenheit der Autoregulation und von den rheologischen Eigenschaften des Blutes ab. Die Autoregulation im Auge ähnelt der Autoregulation im Gehirn. Der Perfusionsdruck in den Gefäßen des Sehnervs resultiert analog dem zerebralen Perfusionsdruck aus der Differenz zwischen arteriellem Blutdruck und Venendruck oder Augeninnendruck (AID). Wenn der AID den venösen Druck überschreitet, bestimmt dieser den Blutfluss. Ähnlich wie bei der zerebralen Autoregulation existiert auch am Auge ein Druckbereich, in dem die Autoregulation funktioniert. Ober- und unterhalb dieses Druckbereichs sind die vasomotorischen Anpassungsmöglichkeiten erschöpft, und die Durchblutung steht in linearem Zusammenhang mit dem Perfusionsdruck. Klinisch kann die Erhöhung des intraokulären Drucks bei erniedrigtem systemischen Blutdruck den intraokulären Perfusionsdruck deutlich unter den kritischen Punkt absenken, sodass die Autoregulation dies nicht mehr kompensieren kann. Außerdem ist das Wissen über mögliche pharmakologische Einflüsse auf den okulären Blutfluss äußerst begrenzt, gerade auch, was den Einsatz von Vasopressoren angeht. ? Welche Risikofaktoren sind für den POVL bekannt? Aufgrund der relativ geringen Inzidenz der ION und des Nichtvorhandenseins ganz eindeutiger ätiologischer Faktoren beschäftigt sich die Literatur mit der Identifikation von Risikofaktoren für ION [1, 3, 4]. Hierzu zählen die im Folgenden aufgeführten.
Chiasma optimum A. carotis interna Nervus opticus A. ciliaris posterior lateralis A. ciliaris posterior longa lateralis A. centralis retinae
A. ciliaris posterior brevis
A. ophthalmica
Circulus arteriosus Zinnii
A. ciliaris posterior medialis Kollaterale der A. centralis retinae A. centralis retinae A. ciliaris posterior longa medialis Sclera
Abb. 1 8 Sehnerv
Bauchlage. Die Bauchlage, insbesondere bei Wirbelsäuleneingriffen, wird als wichtigster Risikofaktor für einen POVL und u. a. für die ION betrachtet. Das erhöhte Risiko der ION in Bauchlage lässt sich durch unterschiedliche Faktoren erklären: direkter Druck auf das Auge, Anstieg des intraokulären Drucks, Beeinträchtigung des venösen Abflusses in der Kopftieflage sowie erhöhter intraabdomineller Druck und oft eine systemische Hypotension.
Infusionstherapieregime. Es ist bekannt, dass kristalloide Lösungen relativ schnell den intravasalen Raum verlassen; dies führt in Bauchlage bzw. bei der Trendelenburg-Lagerung zum Ödem im Gesicht bis hin zum Kompartmentsyndrom des Auges. Eine massive Infusionstherapie kann ebenfalls zum Anstieg des intraokulären Drucks beitragen. Valide Daten zu den Flüssigkeitsmengen und -arten, die das ION-Risiko eindeutig erhöhen, existieren jedoch bislang nicht.
Operationsdauer. Die Operationsdauer über 6 h wird von den meisten Autoren als ein relevanter Risikofaktor angesehen.
Patientenbezogene Risikofaktoren. Männliches Geschlecht, eine präoperativ bestehende Anämie, arterielle Hypertonie, Diabetes mellitus, periphere arterielle Verschlusskrankheit, koronare Herzkrankheit, Apoplex in der Anamnese, Karotisstenose, Adipositas und Nikotinabusus gehören zu den patientenbezogenen Risikofaktoren.
Hypotonie. Betreffend die arterielle Hypotonie als Risikofaktor von POVL und ION ist die Literatur uneinheitlich. Insbesondere ergibt sich aus der Literatur kein belastbarer Hypotonieschwellenwert. Anämie, Blutverlust und Hämodilution. Ein großer Blutverlust mit resultierender hypovolämischer Hypotonie und Anämie stellt einen wichtigen Risikofaktor für ION und POVL dar, jedoch kann eine kritische Hämoglobingrenze bisher nicht eindeutig definiert werden. Außerdem können Hämodilution und präoperative Eigenblutspende zur Anämie führen.
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Wie schätzen Sie die Prognose bei vorliegendem POVL, und welche Therapieoptionen kennen Sie?
Die Prognose bei POVL ist von der Lokalisation der Läsion abhängig: Die meisten der hinter dem Chiasma opticum gelegenen Läsionen haben eine gute Prognose. Dagegen ist in den Fällen von ION die Prognose überwiegend schlecht [3]. Derzeit besteht keine effektive kurative Therapieoption. Entscheidend sind
die schnelle Diagnosestellung und Dokumentation. Zur Verbesserung der Situation tragen Stabilisierung der Hämodynamik, Behandlung der Anämie, Oberkörperhochlage, Senkung des AID und Diuresekontrolle bei. Da eine patientenindividuelle präoperative Vorhersage aufgrund der unscharfen Risikofaktoren nicht möglich und auch die genaue Pathogenese dieser Erkrankung noch immer unklar ist, bleiben Präventivmaßnahmen schwer fassbar. Angesichts der Seltenheit der Komplikation haben die globalen Empfehlungen für alle Patienten das Potenzial, in der Gesamtpopulation mehr Schaden als Nutzen zu verursachen. Ein intraoperativ erhöhter Blutdruck bei Wirbelsäuleneingriffen kann Blutungen im Operationsgebiet begünstigen, wodurch der Blutverlust steigen und der Eingriff länger dauern kann. Blutverlust und Operationsdauer stellen jedoch die wichtigsten Risikofaktoren des POVL dar. Damit bleibt der Erhalt der Hämodynamik in einem Korridor ±20 % der Ausgangswerte die günstigste Option bei gleichzeitigem Erhalt des Sauerstoffangebots (Hämoglobin, pulsoxymetrisch gemessene Sauerstoffsättigung). ? Was müssen Sie bei den Eingriffen mit hohem Risiko für ein POVL als Anästhesist beachten? Präventionsempfehlungen. 4 Präoperative Evaluation der Risikofaktoren und sorgfältige Dokumentation des Visusstatus. Sorgfältige Patientenpositionierung mit regelmäßiger Kontrolle. 4 Kontrolle der Positionierung (Druck auf Augen, Prävention der Thrombose der Retinaarterie); Kopf auf der Höhe oder höher als der Körper, Rotation nach Möglichkeit vermeiden. 4 Vermeiden der perioperativen Hypotension, keine „kontrollierte“ Hypotension bei Patienten mit arterieller Hypertonie; ggf. invasives Blutdruck-, Blutzucker-Monitoring. Erhalt der Hämodynamik in einem Korridor ±20 % der Ausgangswerte. Die Gabe von hochdosierten α-Adrenomimetika scheint die Perfusion des Sehnervs reduzieren zu können, Der Anaesthesist
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dafür existiert jedoch keine systematische Evidenz. Aus diesem Grund muss die Entscheidung individuell („case by case“) getroffen werden; dies gilt insbesondere beim gleichzeitigen Vorhandensein anderer Risikofaktoren. Vermeiden perioperativer Anämie. Eine Transfusionsschwelle zur Minderung des Risikos für einen perioperativen Sehverlust kann allerdings zurzeit nicht definiert werden. Adäquate verlustorientierte Infusionstherapie unter Diuresekontrolle, bei Notwendigkeit Kombination von kolloiden und kristalloiden Lösungen unter Beachtung der Kontraindikationen, Monitoring des Volumenstatus, kontinuierliche Messung des zentralen Venendrucks (ZVD) bei langen und komplexen Eingriffen. Normoventilation, v. a. Vermeidung einer Hyperventilation. Operationsdauer so kurz wie möglich, ggf. Aufteilung großer Wirbelsäuleneingriffe (länger als 8 h) in kleinere Schritte. Sorgfältige Dokumentation des Anästhesieverlaufs für weitere Evaluierung der POVL-Ursachen (Cave: Beweislastumkehr). Postoperativ möglichst schnelle Visuskontrolle bei Hochrisikopatienten. Die Nachuntersuchung des Patienten auf der Intensivstation muss zeitnah dokumentiert werden, da die Visusminderung bei vorhandenem Gesichtsödem oder Nichtvorhandensein der Sehhilfe des Patienten leicht übersehen werden kann.
(Nach American Society of Anesthesiologists Task Force on Perioperative Visual Loss, North American Neuro-Ophthalmology Society, and the Society for Neuroscience in Anesthesiology and Critical Care [1], Lee et al. [2], Shmygalev und Heller [5]) Schlüsselwörter. Postoperative Komplikationen · Hypotension · Ischämische optische Neuropathie · Blutverlust, chirurgisch · Wirbelsäulenchirurgie
Der Anaesthesist
Korrespondenzadresse Dr. S. Shmygalev Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin, Uniklinikum Augsburg Stenglinstr. 2, 86156 Augsburg, Deutschland [email protected]
Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. S. Shmygalev gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Für diesen Beitrag wurden von den Autoren keine Studien an Menschen oder Tieren durchgeführt. Für die aufgeführten Studien gelten die jeweils dort angegebenen ethischen Richtlinien. Für Bildmaterial oder anderweitige Angaben innerhalb des Manuskripts, über die Patienten zu identifizieren sind, liegt von ihnen und/oder ihren gesetzlichen Vertretern eine schriftliche Einwilligung vor. The supplement containing this article is not sponsored by industry.
Literatur 1. Practice Advisory for Perioperative Visual Loss Associated with Spine Surgery 2019: An Updated Report by the American Society of Anesthesiologists Task Force on Perioperative Visual Loss, the North American Neuro-Ophthalmology Society, and the Society for Neuroscience in Anesthesiology and Critical Care. Anesthesiology 130:12–30 2. Kitaba A, Martin DP, Gopalakrishnan S et al (2013) Perioperative visual loss after nonocular surgery. J Anesth 27:919–926 3. Lee LA, Roth S, Posner KL et al (2006) The American Society of Anesthesiologists Postoperative Visual Loss Registry: analysis of 93 spine surgery cases with postoperative visual loss. Anesthesiology 105:652–659 (quiz 867–658) 4. Postoperative Visual Loss Study G (2012) Risk factors associated with ischemic optic neuropathy after spinal fusion surgery. Anesthesiology 116:15–24 5. Shmygalev S, Heller AR (2011) Perioperative visual loss after nonocular surgery. Anaesthesist 60:683–694