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German Pages 271 [280] Year 1996
Astrid von der Lühe David Humes ästhetische Kritik
ASTRID
VON
DER
Davıd Humes ästhetische Kritik
LÜHE
STUDIEN ZUM ACHTZEHNTEN JAHRHUNDERT Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts Band 20
FELIX MEINER VERLAG
- HAMBURG
ASTRID VON DER LÜHE Davıd Humes ästhetische Krıtik
FELIX MEINER VERLAG - HAMBURG
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INHALT
Vorbemerkung
.........eeeeeessenessesssneeenenesennensnnne
VO
........22222ceesseeseeesessesseenenensenenn nenne
1
Erster Teil - Kunstkritik und Wissenschaft ..........cceecccee...
15
Einleitung
I. Das wissenschaftliche Fundament der ästhetischen Kritik ım
Treatise of Human Nature .........222sceseeeseeeeeeennnnn 1. Verstand und dichterische Einbildungskraft ...............
DD 17
a) Ideenassoziation und Einheit des Kunstwerks .......... b) Kausalität ......222cecceeeeeneeeeeneesenerseenenene c) »Fiction« und »beliefs ..... 2.2.22 e2ceeeeeeeeeeeeenene
21 26 30
2. Die Vergnügungen der Einbildungskraft .................. a) Das gesellschaftliche Wesen des Menschen .............
35 40
Das Selbst .......222222cesceeeeeeeseeeesnneserenenee Der Andere .........22c2ceeeseeeeeeeeeeeeesesneenne b) Das Wesen der Schönheit ..........2222seeeeeeeeeeene 3. »Tastes and sentiments« ......2 2.2 ceceeeeeeeeeeseeeenenenne
40 48 055 69
a) Das Verhältnis von Verstand und Empfindung ..........
71
b) Gesellschaft
........222ceseeeeeeseseeseeesererernen
85
c) »Moral beauty« und »moral taste« ........222cceeeenn
93
II. Schiffbruch der Philosophie? Die Wende von der Systematik der menschlichen Natur zur Essayistik ............ 1. Zwischen Anatomie und Malerei .........222222e2cerenc.
102 104
2. Zwischen Einsamkeit und Geselligkeit ....................
110
3.
120
Die neue Wissenschaft
.......2.2222cceeseeeeeseesennene
Zweiter Teil - Kunstkritik und Gesellschaft
...........2.22222...
131
I. Kultur der Urteilskraft: Die Essays, Moral, Political, and Literary ....2222eeesseeeneeeeeeseneeneneneenenenenennenne
134
1. Die Aufgabe der Essays: Bildung des Geschmacks durch Konversation .....2.222ceeeeeeeenensesesenenennne 2. Die gesellschaftlichen Bedingungen der Konversation:
Die politischen Essays
........222222cceeeseeeeeennnennn
139
144
vI
Inhalt
3. Elemente der Kunstkritik: Die ästhetischen Essays ......... a) »Eloquence«: Antike »sublimity« und moderne »mediocrity« .22cseeeseneeeeeseserenseesenernennenee b) »Conversation«: Der Aufstieg einer modernen Kunstform c) Ästhetische Erziehung und das Glück des Menschen: Die vier »>Philosophenessays< ..........22222eseeenccc.
165 173
d) »La belle nature«: Der konversationale Stil .............
188
e) »Conversion of passions« Von der Lust an tragischen Gegenständen ........:2ccseeeeeeseseensnenennnnnnen
197
II. Der Maßstab des Geschmacks: Humes ästhetische Kritik ...... 1. Skeptische Zweifel am Geschmacksurteil .................. 2. Die Kriterien des guten Geschmacks .............2ce2.2... 3. Die Allgemeinheit des Geschmacksurteils ................. 4. Der Philosoph als Ästhet: Die Komposition der Essays .....
207 209 216 228 235
Schluß ......2.222c2cceeeeeseeeeseesesnsseneesesnerneesernenn
243
Literaturverzeichnis
.......2222cceeeseeseesenensenenenenenenne
251
.......2cc2ceeeeeeeeeseneeneeeseeneeneenenennene
251
I. Quellen
I. Forschungsliteratur Register I.
165
180
.......222ooccceeeeeeeeeeneeeenennnennn
254
......222ecceeseeeesessseeserssenesnesesnensenennenene
265
Namen
.........22escceeeseeeeeseseesenenereneeensnnnenne
II. Begriffe .......222ccccceeeeeeeseeeeeeensessssnssnnnnnnn III. Werke Humes .......2coo20ecseeeeeeeeee es eeeneen nennen
269
267 270
VORBEMERKUNG
David Humes viel zu wenig beachtete ästhetische Kritik ist nicht nur aus philosophiehistorischen Gründen neu zu bedenken. Ihr ıimpliziter Gegenstand ist die Meinungsbildung, die Stärkung der Urteilskraft im geselligen Austausch. Deshalb präsentiert Hume sie auch in der offenen, subjektiven Form des Essays, eines literarischen Genres, dem gerade heute nach dem Abschied der geschlossenen philosophischen Systeme eine besondere Bedeutung beigemessen wird — nıcht zuletzt, seitdem die Postmoderne es als ihre eigenste literarische Gattung beansprucht hat. Bezeichnenderweise wird dabei eher an die skeptisch-ichbezogene Essayistik Montaignes gedacht und nicht an die der Konversation verpflichtete Essayistik Humes, obwohl gerade sie aus einer analogen Erfahrung des Scheiterns (seines systematischen Anspruchs ım Treatise of Human Nature) hervorgeht. In ihr spiegelt sich freilich ein Denken, das sich, um mit Jean-Frangois Lyotard zu sprechen, »dem Trost der guten Formen [...] dem Konsensus eines Geschmacks« nicht verweigert hat, sondern darauf vertrauen konnte, daß die
Menschen bei aller Verschiedenheit der Meinungen natürlicherweise immer nach einem Maßstab ihres Urteilens suchen. Die vorliegende Arbeit wurde im Frühjahr 1993 als Dissertation beim Fachbereich für Philosophie und Sozialwissenschaften der TU Braunschweig eingereicht. Mein ganz besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Claus-Artur Scheier, der in zahlreichen anregenden Gesprächen mein Interesse an der Philosophie und Literatur gerade des 18. Jahrhundert geweckt und meine Arbeit stets gefördert hat. Herzlich danken möchte ich Prof. Dr. Günter Gawlick für seine freundliche Bestärkung. Dr. Reinhold Hülsewiesche, Katrin Grünepütt M.A. und Frank Böhling M.A. danke ich
für ihre kritische Lektüre. Ferner bin ich der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 18. Jahrhunderts für die Aufnahme der Arbeit ın die Reihe ihrer Studien und der Johanna und Fritz Buch-Gedächtnisstiftung, Hamburg, für die großzügige Gewährung eines Druckkostenzuschusses zu Dank verpflichtet. Berlin, im Frühjahr 1996
EINLEITUNG
Obwohl Humes ästhetische Überlegungen zu Geschmack, Tragödie oder Stil bei seinen Zeitgenossen keine geringe Resonanz erfahren haben, wurden sie in der Forschung bisher nur wenig berücksichtigt,! konzentrierte sich doch deren Interesse überwiegend auf seine Erkenntnistheorie oder seine Religionskritik. In Deutschland fand seine Philosophie ohnehin lange Zeit kaum Beachtung, und ihre Bedeutung reduzierte sich vornehmlich darauf, Kant aus dem »dogmatischen Schlummers«? geweckt zu haben. Erst in jüngerer Zeit wird ıhr auch hier, nicht zuletzt aufgrund eines wachsenden Interesses an der Philosophie des 18. Jahrhunderts überhaupt und an derjenigen zwischen Leibniz und Kant ım besonderen, größere Aufmerksamkeit zuteil.” Davon blieben Humes ästhetische Betrachtungen jedoch bis! Die erste große Studie lieferte T. Brunius: David Hume on Criticism. Stockholm 1952, der die Hauptthemen der Ästhetik Humes herausarbeitet und zum Ganzen der Humeschen Philosophie in Beziehung setzt. Eine umfassende Darstellung findet sich beı O. Brunet: Philosophie et Esthetique chez David Hume. Paris 1965. Die angelsächsische Forschung widmete bisher der Ästhetik Humes überwiegend einzelne Aufsätze, so z.B. E. C. Mossner: »Hume’s >Of Criticism««. In: Studies ın Criticism and Aesthetics, 1660-1800.
Essays in Honour of $. Holt Monk. Hrsg. von H. Anderson/]. $S. Shea. Minneapolis 1967, der auf zwei unveröffentlichte Dissertationen zu Humes Ästhetik verweist: Ch. Noyes: Aesthetic Theory and Literary Criticism in the Works of David Hume (1950) und R. Cohen: The critical theory of David Hume (1952); letzterer hat einige Kapitel seiner Arbeit als Aufsätze veröffentlicht, vgl. Lit.-Verz. Vgl. außerdem J. Noxon: »Hume’s Opinion of Critics«. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 20 (1961) und R. Bouveresse: L’Esthetique experimentale et son origine philosophique chez Hume. (Diss.) Dijon 1974. Zentrale Berücksichtigung findet Humes Ästhetik bei P. Jones, der vor allem ihre Beeinflussung durch die französische Kunstkritik herausarbeitet, besonders ın: Hume’s Sentiments. Their Ciceronian and French Context. Edinburgh 1982. 21. Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. In: Kants gesammelte Schriften. Hrsg. von der königlichen preussischen Akademie der Wissenschaften. Berlin 1911. AA IV, S. 260.
? Vgl. beispielsweise in jüngerer Zeit R. Brandt: Einführung in David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur. Hamburg 1973. J. Rohbeck: Egoismus und Sympathie. Davıd Humes
Gesellschafts- und Erkenntnistheorie. Frankfurt, New York 1978. E. To-
pitsch und G. Streminger: Hume. Darmstadt 1981. L. Kreimendahl: Humes verborgener Rationalismus. Berlin, New York 1982. G. Streminger: David Hume. Reinbek 1986. G. Gawlick und L. Kreimendahl: Hume in der deutschen Aufklärung. Umrisse einer Rezeptionsgeschichte. Stuttgart-Bad Cannstatt 1987. J. Kulenkampff: David Hume. München 1989. R. Lüthe: David Hume. Historiker und Philosoph. Freiburg, München 1991.
2
Einleitung
lang ausgeschlossen,* wiewohl ihre Relevanz im Zuge einer verstärkten Hinwendung zu seiner praktischen Philosophie zunehmend erkannt wird.” Diese Vernachlässigung ist um so erstaunlicher, als Hume selber bis zuletzt in der kurz vor seinem Tod verfaßten Autobiographie gerade seine Leidenschaft für die schöne Literatur betont, sie sogar als »the ruling Passion«® seines Lebens bezeichnet. Mit der Neigung für Dichtung verbindet sich für ihn aber von Anfang an auch das Interesse an der Möglichkeit ihrer treffenden Beurteilung. Dies zeigt sich bereits in einem Brief an den schottischen Arzt Dr. John Arbuthnot aus dem Jahr 1734,” in dem Hume rück-
blickend vom Beginn seiner philosophischen Entwicklung berichtet. In diesem Brief, der im allgemeinen als das erste aufschlußreiche Dokument gilt, in welchem er überhaupt seine Position zum zeitgenössischen Denken reflektiert,® liefert er zugleich einen ersten Entwurf? seines philosophischen Gedankens, ın dem »criticism«, die literarische Kritik, einen besonderen Stellenwert erhält: »[...] I was [...] left to my own Choice in my Reading,
& found it encline me almost equally to Books of Reasoning & Philosophy, & to Poetry & the polite Authors. Every one, who is acquainted either with the Philosophers or Critics, knows that there is nothing yet establisht ın either of these two Sciences, & that they contain little more than endless Disputes, even in the most fundamental Articles. Upon Examination of these, I found a certain Boldness of Temper, growing in me, which was not
enclin’d to submit to any Authority ın these Subjects, but led me to seek out some new Medium, by which Truth might be establisht.«!? »Criticism«
* Abgesehen von der Untersuchung H. Salcherts: David Humes Verhältnis zur Literatur. (Diss. Masch.) Freiburg 1950. ° Vgl. beispielsweise bei D. Bachmann-Medick: Die ästhetische Ordnung des Handelns. Moralphilosophie und Asthetik in der Popularphilosophie des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1989, S. 244 f., und bei B. Gräfrath: Moral Sense und praktische Vernunft. David Humes Ethik und Rechtsphilosophie. Stuttgart 1991, S. 22 ff. °My own Life (18. April 1776). In: The Letters of David Hume. Hrsg. von J. Y. T. Greig. Oxford, London, New York 1932. Nachdruck New York, London 1983. L I, S. 1.
’L1,S.12ff. - Dieser Brief ist nicht, wie von J. H. Burton und ]J. Y. T. Greig vermutet, an Dr. George Cheyne, sondern höchstwahrscheinlich an Dr. John Arbuthnot gerichtet. Vgl. E. C. Mossner: »Hume’s Epistle to Dr. Arbuthnot, 1734: the Biographical Significance«. In: Huntington Library Quarterly 7 (1944), S. 135-152. ® Vgl. N. Kemp Smith: The Philosophy of David Hume. London 1941, S.14 ff. E. C. Mossner: The Life of David Hume. 1st Edition London 1954. 2nd Edition. Oxford 1970,
S.73 ff. Ch. W. Hendel: Studies in the Philosophy of David Hume. S. 20 ff.
? Vgl. Kemp Smith: The Philosophy ..., a.a.O., S. 16. 071],5.13.
Princeton 1925,
Einleitung
3
wird hier parallel zur »Philosophy« aufgeführt und erscheint deshalb von durchaus gleichrangiger Bedeutung, auch wenn beide unterschiedlich bestimmt sınd: Während Hume »Philosophy« auf »Reasoning« bezieht und damit offenbar die Vernunfterkenntnis realer Gegenstände meint, ordnet er »criticism« der »Poetry« zu, faßt also die Kritik als Betrachtung literarischer Fiktion auf. Dabei spricht er »criticism« in gleicher Weise wie der Philosophie die Möglichkeit von Wissenschaftlichkeit zu. Dies ist bemerkenswert, bedeutet doch »criticism« noch beı Bacon, der mit seiner Instauratio magna (1605-1627) das System moderner Wissen-
schaften begründet, die korrekte Edition, Kommentierung und Bewertung alter Texte und fungiert dort als eine Art »Hilfstätigkeit< bei der Wiederherstellung der Wissenschaften.'' Und auch wenn sich die Bedeutung von »criticism« später auf die Prüfung und Beurteilung literarischer Werke nach den Kriterien der Aristotelischen Poetik einengt,'* so ist damit keine eigenständige Wissenschaft, sondern lediglich die Anwendung bestehender Regeln gemeint. Allerdings beginnt der Ruf nach einer allgemeinen Grundlage für »criticism« schon gegen Ende des 17. Jahrhunderts laut zu werden,’ als der aristotelische Maßstab, nicht zuletzt durch die Auseinandersetzung um den Vorrang antiker oder moderner Autoren, fragwürdig wird. Resultat dieser von Frankreich ausgehenden Querelle des Anciens et des Modernes ist nämlich die Einsicht, daß neben dem zeitlos Schönen, das dıe Partei der
Anciens ın der antiken Kunst vollkommen vorgebildet findet, auch ein zeitbedingtes, vom jeweiligen Zeitgeschmack abhängiges Schönes anzuerkennen ist, das sich nicht nach dem Maßstab der Antike beurteilen läßt.!* Dar-
aus entspringt erstmals die Not, die Kriterien eines sicheren Geschmacks bestimmen zu müssen. Denn ohne die klassischen Normen scheint das Kunstwerk, auch das literarische, nun zunächst ganz der willkürlichen Be-
!! „There remain two appendices touching the tradition of knowledge, the one Critical, the other Pedantical. For all knowledge is either delivered by teachers, or attained by men’s proper endeavours [...].« Francis Bacon: Of the Advancement of Learning, II. In: The Works of Francis Bacon. Faksimile-Neudruck der Ausgabe von Spedding, Ellis und Heath. London 1857-1874. Nachdruck Stuttgart-Bad Cannstatt 1961-1963. Bd. III, $. 413. 12 „Criticism, as ’twas first instituted by Aristotle, was meant a Standard of Judging
well. The chiefest part of which, is to observe those Excellencies which should delight a reasonable Reader.« John Dryden: Preface to The State of Innocence (1674). In: The Comedies, Tragedies and Operas. London 1701, S. 590.
3 Dieses Bemühen wird an der Fülle kunstkritischer Schriften deutlich, die in England und Frankreich um 1700 erscheinen. “Vgl. H.R. Jauß: Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a.M. 1970, S. 31 f.
4
Einleitung
urteilung einzelner »Critics« ausgesetzt zu sein: »"Tis with our Judgments as our Watches, none/Go just alıke, yet each believes his own. [...] Authors are partial to their Wit, ’tis true,/But are not Criticks to their Judgment
too%, so beklagt der von Hume überaus geschätzte Pope den Verlust des kunstkritischen Maßstabs zu Beginn seines Essay on Criticism (1711).'° Er führt dort auch Kriterien eines korrekten kunstkritischen Urteils auf, ver-
sucht aber doch bloß, das althergebrachte aristotelische und horazische Vorbild zu erneuern. Insofern spricht Hume, der sich schon früh mit der Querelle auseinandersetzt,!° mit seiner Klage über die fundamentale Ungewißheit in der lıterarıschen Kritik einen Mangel an, wie er seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts Autoren und Kritiker gleichermaßen beunruhigt. Diese Erfahrung bewegt ıhn allerdings dazu, hier nun jede Autorität abzulehnen und nach einem neuen Medium zu suchen, durch das »criticism« befähigt werden könnte, zu gesicherten Erkenntnissen zu gelangen. Wenn er dabei das Problem der Kritik ins Verhältnis zur gleichfalls bestehenden Ungewißheit innerhalb der Philosophie setzt, so zeigt sich daran, daß eine endgültige Lösung für ihn nur in der wissenschaftlichen Fundierung von Kritik liegen kann.” Auf der Suche nach dem neuen Medium, die Hume im Brief an Arbuth-
not ausführlich schildert, verändert sich seine Auffassung von literarischer Kritik zwar nicht, wohl aber erfährt sein Interesse an der Philosophie eine
entscheidende Akzentuierung, die wiederum nicht ohne Folgen für die nähere Bestimmung der Kritik bleibt: Nicht nur die Selbstbeobachtung, daß die bloß spekulative Beschäftigung mit der Philosophie nichts weiter als übersteigerte Einbildungen hervorbringt, sondern vor allem eine Erfahrung mit der Moralphilosophie, deren Grundsätze ihm keinerlei Nutzen zu bringen scheinen, solange sie nicht in einem
»active Life« bestätigt werden,'?
15 Alexander Pope: An Essay on Criticism (1711), V. 9f. und 16 f. In: The Poems of Alexander Pope. Hrsg. von J. Butt. London 1963. Nachdruck 1977, S. 144. I Vgl. E. C. Mossner: »Hume and the Ancient-Modern Controversy, 1725-1752: A Study in Creative Scepticism«. In: The University of Texas. Studies in English 28 (1949), S. 139-153.
17 Damit steht er freilich nicht allein, da die Kunstkritik seit Beginn des 18. Jahrhunderts von der Methodik der Naturwissenschaft beeinflußt wird. Vgl. R. Omasreiter: Naturwissenschaft und Literaturkritik im England des 18. Jahrhunderts. Nürnberg 1971. 18 „These (sc. moralphilosophische Überlegungen) no doubt are exceeding useful, when join’d with an active Life; because the Occasion being presented along with the Reflection, works it into the Soul, & makes it take a deep Impression, but in Solitude they serve to little other Purpose, than to waste the Spirits, the Force of the Mind meeting with no
Einleitung
5
wird für ihn zum Schlüsselerlebnis, das ihm zunächst grundsätzlich klar macht, daß wissenschaftliche Erkenntnis überhaupt auf Erfahrung beruht. Für die Moralphilosophie bedeutet dies unmittelbar, daß sie für ihre wissenschaftliche Fundierung auf die Beobachtung der Natur des menschlichen Geistes zurückgreifen muß. Hume konzentriert sich somit fortan auf eine empirisch genaue Philosophie des menschlichen Geistes (»moral Philosophy«'?): »I found that the moral Philosophy transmitted to us by Antiquity, labor’d under the same Inconvenience that has been found in their natural Philosophy, of being entirely Hypothetical, & depending more upon Invention than Experience. Every one consulted his Fancy in erecting Schemes of Virtue & of Happiness, without regarding human Nature, upon which every moral Conclusion must depend.«?° In der Auseinandersetzung mit der Moralphilosophie hat sich für Hume die nähere Bestimmung des gesuchten Mediums also konkretisiert: Es ıst zum einen ein neues Medium ım Sinne der Methode, die sich nicht mehr auf unbewiesene Voraussetzun-
gen stützen will, sondern auf empirisch fundierte Erkenntnis; zum anderen im Sinne der Sache, nämlich des Mittelpunkts aller Philosophie, der die menschliche Natur ist. Und das gilt für die Kunstkritik nicht weniger als für die Moralphilosophie: »This therefore I resolved to make my principle Study, & the Source from which I would derive every Truth in Criticism as well as Morality.«?! Hatte Hume zuvor Philosophie und Kunstkritik nebeneinander aufgeführt, um so überhaupt festzuhalten, daß die Beurteilung von Literatur oder Kunst gerade wie die Philosophie Wissenschaftlichkeit beanspruchen muß, will sie die Kontroversen um das korrekte Urteil beenden, so erscheint sie nun parallel zur Moralphilosophie und ist wie diese als eine Wissenschaft bestimmt, die von einem voraufgehenden philosophischen »principle Study« der menschlichen Natur erst abzuleiten ıst. Daß Hume darüber hinaus auch einen engen inhaltlichen Zusammenhang zwischen Kritik und Moralphilosophie sieht, dokumentiert seine wohl früheste Arbeit, »An Historical Essay on Chivalry and Modern Honours, die Resistance, but wasting
itself in the Aır, like our Arm
when
it misses its Aim.
This
however I did not learn but by Experience, & till I had already ruin’d my Health, tho’ I was not sensible of it.« L I, S. 14.
19 „Moral Philosophy« bildet hier den Gegenbegriff zur »natural Philosophy«, der Naturwissenschaft, und ist von »morals«, der Moralphilosophie oder Ethik, noch zu unterscheiden. Vgl. hierzu ausführlich R. Specht: »Moralphilosophie< und »Metaphysik« in den ersten Absätzen von Humes Enquiries«. In: C. Cesa, N. Hinske (Hrsg.): Kant und sein Jahrhundert. Gedenkschrift für Giorgio Tonelli. Frankfurt a.M. u.a. 1993, S. 51-68. ®L],S.16.
2! Ebd.
6
Einleitung
vermutlich in dieser Gärungsphase seiner Philosophie entsteht,” aber von ihm nıe veröffentlicht wird.” In diesem Essay gibt Hume eine kritische Analyse der mittelalterlichen Sitten sowie des »gotischen« Stils, die sich in ihrer Argumentation bereits auf die »necessary Operations of the Principles of Human Nature«?* beruft. Daß sie jedoch ein Fragment bleibt, zeugt bereits von der im Brief an Arbuthnot formulierten Einsicht, daß eine aus-
führliche Untersuchung jener Prinzipien der menschlichen Natur aller moralischen wie kunstkritischen Wissenschaft vorausgehen muß. Das Ergebnis dieses Vorsatzes ist Humes erstes Werk, der Treatise of Human Nature, den er jedoch erst 1739/40 veröffentlicht. Allerdings beweist der Treatise ein wesentlich umfangreicheres Anliegen, als der Brief an Arbuthnot festhielt, indem er eine umfassende »science of human nature« vorstellt, die das Wesen des Geistes dadurch zu bestimmen sucht, daß sie
nach dem Vorbild der Naturwissenschaften erstmals eine vollständige Darstellung seiner Vermögen und deren Operationen und Prinzipien liefert.” In der Einleitung unterteilt Hume diese Wissenschaft vom Menschen in vier
Disziplinen mit spezifischen the principles and operations ideas: morals and criticism consider men as united in
Aufgaben: »The sole end of logic is to explain of our reasoning faculty, and the nature of our regard our tastes and sentiments: and politics society, and dependent on each other.«?° Im
22 Auf diese Periode datiert Greig den Essay (vgl. J. Y. T. Greig: David Hume. London 1931, S. 84). Mossner dagegen setzt seine Entstehung auf die Jahre 1725/26 an (vgl. E.C. Mossner: »David Hume’s »An Historical Essay on Chivalry and Modern Honour««. In: Modern Philology 45 (1947), S. 54-60), was m. E. wegen Humes versteckter Anspielung auf seine persönliche Krise, die er im Brief an Arbuthnot beschreibt, sowie der Rückbe-
ziehung seiner Argumentation auf die Beobachtungen der menschlichen Natur eher unwahrscheinlich ist. ® Das Manuskript wurde von Hume sorgfältig aufbewahrt und gelangte erst durch Mossner vollständig zur Veröffentlichung. Vgl. Mossner: »David Hume’s »An Historical Essay ...««, a.2.O., S. 54.
2 „An Historical Essay ...«. In: Mossner, a.a.O., S. 57. ® Der ausführliche Titel lautet: A 'TREATISE of Human Nature: Being An ATTEMPT to introduce the experimental Method of Reasoning into MoRAL SUBJECTS. Hume faßt den Treatise als »Versuch« auf, die experimentelle Methode der Naturwissenschaft auf den menschlichen Geist anzuwenden und nach dem Vorbild Newtons und Bacons eine Wissenschaft vom Menschen zu begründen. In der Einleitung äußert sich Hume ausführlich über Anlaß und Vorgehensweise seines Unternehmens, wobei er noch einmal deutlich an die ım Brief an Arbuthnot herausgestellte Bedeutung einer solchen Wissenschaft vom Menschen erinnert: »There is no question of importance, whose decision ıs not compriz’d in the science of man; and there is none, which can be decided with any certainty, before we become acquainted with that science.« T Introd; SB, S. XVI. 2° T Introd.; SB, S.XV. - Vgl. auch An Abstract of a Book lately Published; SB, S. 646.
Einleitung
7
Unterschied zum Brief an Arbuthnot erscheint »criticism« hier nicht mehr als eine abgeleitete Wissenschaft, sondern selber als ein konstituierender Teil jenes »principle Study« von der menschlichen Natur. Das bedeutet, daß »criticism« für Hume nun nicht mehr, wie noch der Essay »On Chivalry and Modern Honour« belegt, die konkrete Bewertung einzelner Werke oder künstlerischer Stile meint, sondern sich mit dem diesen Urteilen zu-
grundeliegenden Geschmacks- und Empfindungsvermögen befaßt und deshalb am besten mit ästhetische Kritik bezeichnet werden kann. Das Verhältnis zwischen »criticism« als angewandter Kunstkritik und »criticism« als grundlegender Erforschung der »tastes and sentiments« ließe sich sonach in etwa mit der Kantschen Unterscheidung von philosophischer Doktrin und der ihr voraufgehenden Kritik vergleichen, welche zuvor den Umfang und die Prinzipien möglicher Erkenntnis bestimmt. Auch als Teile der Wissenschaft vom Menschen sind ästhetische Kritik und Moralphilosophie, wie schon im Brief an Arbuthnot, analog gesetzt, denn letztere hat ebenfalls die »tastes and sentiments« zum Gegenstand, nämlich insofern sie das moralische Urteil begründen. In dieser Analyse der Gefühlskräfte besteht die ım Brief beabsichtigte Rücksicht auf die menschliche Natur, die der Grundlegung beider Wissenschaften dienen sollte. Dieses zuvor eingeschränkte Interesse an der menschlichen Natur hat sich im Treatise ım Vergleich zu Humes ursprünglichem Vorsatz zu einer
systematischen Erforschung des ganzen Umfangs des menschlichen Geistes erweitert.” Die Erweiterung des »principle Study« der menschlichen Natur besteht nun zum einen in der Logik, die das andere Vermögen des Geistes, den Verstand, untersucht, und zum anderen ın der Politik, die erstaunli-
cherweise zunächst kein eigenständiges Vermögen des Geistes aufnimmt, sondern den Menschen innerhalb der konkreten gesellschaftlichen Verhältnisse betrachtet. Der entscheidende Fortschritt, den der Treatise ın Hinsicht
auf die ästhetische Kritik macht, beruht also darin, sie in ein System philosophischer Disziplinen einzuordnen und somit auch durch ihre Verflechtung mit den übrigen Wissenschaften zu bestimmen: Innerhalb dieses Systems ist sie zum einen mit der Moralphilosophie zusammenzusehen, insofern beide Wissenschaften von den »tastes and sentiments« sind; zum an-
deren geht ihr nicht nur die Darstellung des Verstandesvermögens, sondern 7 Dabei bleibt festzuhalten, daß der Anlaß dieses »principle Study« in der geplanten Fundierung von Kritik und Moralphilosophie lag und somit die Frage nach dem Gefühlsvermögen als der eigentliche Ursprung seiner Philosophie anzusehen ist. Vgl. R. Brandt: »The Beginnings of Hume’s Philosophy«. In: David Hume: Bicentenary Papers. Hrsg. von G. P. Morice. Edinburgh 1977, S. 117-127.
8
Einleitung
unmittelbar auch die der Politik vorauf, so daß die Vermutung naheliegt, die Analyse der »tastes and sentiments« komme nicht ohne diejenige des Verstandes und der Politik aus.” Allerdings entspricht die reale Gliederung des Treatise dieser Unterteilung in der Einleitung nicht ganz: Hume beginnt zwar im ersten Buch »Of the Understanding« mit der Analyse des Verstandes, geht aber im zweiten Buch »Of the Passions« zu einer Untersuchung der Affekte über, um erst danach in einem dritten Teil »Of Morals«
die Prinzipien der Moral zu
klären, mit dem die Abhandlung schließt, ohne Politik und Kritik zu behandeln. Das System der Wissenschaften, wie es die Einleitung zum Treatise entwirft, gelangt also in diesem Werk nicht vollständig zur Ausführung; ein Buch »Of Criticism« ist nicht erschienen.
Die Ursache für diesen Abbruch mag darin liegen, daß sowohl die beiden ersten Bücher des Treatise, die 1739 zusammen veröffentlicht wurden, als
auch das ein Jahr später erscheinende dritte Buch ein publizistischer Mißerfolg waren.”” Hume, dessen Bemühen um literarische Anerkennung bereits im Brief an Arbuthnot zum Ausdruck kommt,” sieht sich daraufhin veranlaßt, in erster Linie seine Darstellungsweise zu überdenken, denn ihm
scheint von Anfang an klar, »that my want of Success, in publishing the Treatise of human Nature, had proceeded more from the manner than the matter.«°' Das systematische Abhandeln des Geistes nach dem Vorbild der Naturwissenschaften hatte sich offenbar nicht nur in Hinsicht auf literarischen Erfolg als unzureichend, sondern auch als der Sache selbst, nämlich
der Beschreibung der Prinzipien der menschlichen Natur, unangemessen erwiesen. Die Konsequenz, die Hume
aus diesem Scheitern zieht, ist die
Wende zu einer populäreren Darstellungsweise in Form von Essays, in denen er die für den Treatise geplanten Abteilungen Politik und ästhetische Kritik in lockerer Folge aufnehmen wird. 28 In der Anzeige zu den ersten beiden Büchern des Treatise findet sich eine andere Reihenfolge der Wissenschaften als die in der Einleitung: Hume kündigt dort an, nach der Untersuchung des Verstandes mit der »examination of morals, politics, and criticism« (T;
SB, S. XII) fortzufahren, so daß also »criticism« den Abschluß des geplanten Systems der Wissenschaften bilden sollte. 2? Hume bemerkt dazu lakonisch in seiner Autobiographie: »Never literary Attempt was more unfortunate than my Treatise of human Nature. It fell dead-born from the Press; without reaching such distinction as even to excite a Murmur among the Zealots.« MOL;
LL]JS.2.
3° Hume gibt dort als einen weiteren Grund für die Krise seiner philosophischen Entwicklung an, daß er lange Zeit keine Hoffnung hatte »of delivering my Opinions with such Elegance & Neatness, as to draw to me the Attention of the World, & I wou’d rather
live & dye in Obscurity than produce them maim’d & imperfect.« L 1, S. 17. 31 MOL;L 1, S. 3. — Hervorhebungen d. Verf.
Einleitung
9
Gerade weil Hume also trotz des Mißerfolgs seinen Plan, eine ästhetische Kritik zu verfassen, keineswegs aufgibt, sondern ihn nur modifiziert, gewinnt die Tatsache, daß der Treatise mıt dem zweiten Buch auch noch eine
Affektenlehre liefert, besondere Bedeutung für die systematische Bestimmung des »criticism«. Diese Affektenlehre führt Hume merkwürdigerweise weder in der Einleitung noch in der anonym erschienenen Selbstrezension des Treatise, An Abstract of A Book lately Published (1740), als eigenständige Wissenschaft auf. Dennoch lassen sich einige Hinweise auf ihre Funktion innerhalb des Systems der einzelnen Wissenschaften vom Menschen finden, aufgrund deren die Aufgabe der ästhetischen Kritik in einem noch deutlicheren Licht erscheint: Das zweite Buch »Of the Passions« beschreibt die Entstehung der »secondary impressions« oder »impressions of reflexion«, die im Unterschied zu den »original impressions«, den Sinneswahrnehmungen, die Selbstwahrnehmungen des Geistes darstellen und »passions« genannt werden.” Insofern bildet die Affektenlehre zusammen mit der Logik, die mit den »ideas« die zweite Gattung der Perzeptionen des Geistes behandelt und die Prinzipien des darauf aufbauenden Verstandesurteils analysiert, eine geschlossene Abteilung. Auf diese Zusammengehörigkeit von Logik und Affektenlehre verweist Hume direkt in einer Anzeige zum Treatise.”* Dadurch ergibt sich aber zugleich eine andere Abteilung aus Moral, Politik und Kritik, die auf der Basis jener »abstract reasonings«” hinsichtlich der Prinzipien von Verstand und Affekten diejenigen Themen aufnimmt, »where we consider not the abstract relations of ideas, but their real connexions and existence«.”
Alle drei beziehen sich ın je unterschiedlicher Weise auf die wirkliche Welt und sind deshalb für den Menschen von besonderem Interesse.” Diese Trennung zwischen abstrakter Analyse der Perzeptionen einerseits und konkreter Beziehung auf die reale Welt andererseits bestätigt auch der 92 Abstract; SB, S. 646. 3 „Secondary, or reflective impressions are such as proceed from some of these original ones, either immediately or by the interposition of ıts idea. Of the fırst kind are all the impressions of the senses, and all bodily pains and pleasures: Of the second are the passions, and other emotions resembling them.« T II, 1, 1; SB, S. 275.
# „The subjects of the understanding and passions make a compleat chain of reasoning by themselves [...].« (Advertisement zu den ersten beiden Büchern des Treatise). Indirekt verweist Hume auf diese Zusammengehörigkeit noch einmal in einer Anzeige zu Buch III, in der er dessen Unabhängigkeit von den beiden vorangegangenen Teilen betont. > Advertisement zu Buch IIl. 3 T II, 3, 10; SB, S. 453.
37 Vgl,
TII, 1,1; SB, S. 455 f.
10
Einleitung
Abstract des Treatise, ın dem Hume die Affektenlehre als »Grundlegung« (foundation??) für die noch folgenden Teile Moral, Politik und ästhetische
Kritik bestimmt. Die Affektenlehre erscheint hier aber auch noch von der Untersuchung des Verstandes unterschieden, insofern sie nicht wie diese eine Wissenschaft, sondern eben nur Grundlegung der noch folgenden Wissenschaften ist. Anders als die Logik behandelt die Affektenlehre nämlich kein Vermögen, das Unterscheidungen begründet, sondern die Natur und Entstehung der »passions«. Erst als »tastes and sentiments« sind die Affekte eine Art von Urteilsvermögen des Geistes und somit Gegenstand einer Disziplin der Wissenschaft vom Menschen, nämlich der Moral und Kritik.” Innerhalb der Gefühlskräfte des menschlichen Geistes differenziert Hume also zwischen den »passions« und einer Sonderform, den »tastes and sentiments«, die allein ein Urteilsvermögen parallel zum Verstand bilden. Fundament für Moral und Kritik ist die Affektenlehre deswegen, weil sie im Zusammenhang mit der allgemeinen Entstehung der »passions« auch die affektive Reaktion auf Tugend und Schönheit berücksichtigt, in der die moralische und ästhetische Beurteilung gründet.” Für das besondere Verhältnis von Affektenlehre und ästhetischer Kritik bedeutet dies, daß Hume schon mit dem zweiten Buch implizit eine Art Ästhetik vorstellt, in der er zunächst auf die Wahrnehmung und damit die Bedingungen einer subjektiven Bewertung des Schönen ım Betrachter eingeht.*! Das geplante Buch »Of Criticism« setzt also die Ästhetik bereits voraus und muß im Unterschied dazu die Beurteilung des Schönen, den Geschmack, zum Gegenstand haben. Humes ästhetische Betrachtungen, soweit sie im Treatise zur Ausführung gelangen bzw. später in den Essays vorgenommen werden, umfassen daher zum einen die Analyse des Schönen und der ästhetischen oder affektiven
38 „The author has finished what regards logic, and has laid the foundation of the other parts in his account of the passions.« Abstract; SB, S. 646. 3” Deshalb gehört die Affektenlehre auch nicht implizit zum System der Wissenschaften, wie Kreimendahl meint. Vgl. L. Kreimendahl: »Einheit des Werkes durch Vielfalt der Form. Über die Verflechtung von Stil und Ziel im CEuvre David Humes«. In: Zeitschrift für philosophische Forschung 43 (1989), S.8. — Die Politik behandelt zwar auch kein eigenständiges Urteilsvermögen, hat aber gleichwohl, wıe sich noch zeigen wird, eine Art von Urteilen zum Gegenstand und wird deswegen von Hume als Wissenschaft aufgeführt. #0 Daß die Affektenlehre tatsächlich »nur< Fundament von Moral und Kritik im Sinne einer Art von Prolegomenon ist, zeigt sich schon rein äußerlich darin, daß allein das erste und das dritte Buch des Treatise mit einer »Conclusion« enden, das zweite Buch über die
Affekte also gleichsam ın das Buch über die Moral übergeht. + TII,1, 8: »Of beauty and deformity«.
Einleitung
11
Reaktion auf das Schöne, zum anderen die Theorie des Geschmacksurteils
auf der Basis dieser ästhetischen Reaktion oder die Prinzipien der ästhetischen Kritik und schließlich auch noch die Untersuchung besonderer Schönheiten, an der sıch die Sicherheit des Geschmacksurteils beweist. An
dieser angewandten Kunstkritik verliert Hume bis zuletzt nicht das Interesse.
»Criticism« selbst, wie er als Teil des Treatise geplant war, meint die Theorie des Geschmacks und ist daher nicht, wie oft behauptet, »Ästhetik«
im umfassenden Sinn.“ Dieser Begriff, in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland von Baumgarten geprägt, wird in England ın der Bedeutung von »criticism of taste« bzw. »theory of beauty« ohnehin erst nach 1830 geläufig.*” Auch wenn »Ästhetik« der Sache nach bereits seit Beginn des 18. Jahrhunderts da ist,** insofern hier erstmals die Reaktion des Individuums auf das Schöne thematisch wird,* bleibt doch festzuhalten, daß es Hume
offenbar weniger um die ästhetische Wahrnehmung oder eine Theorie der Schönheit, sondern zentral — wie nachmals Kant - um die Bestimmung des
ästhetischen Urteilens geht.“ Zusammen mit der Moralphilosophie bildet »criticism« somit den zweiten Teil einer geschlossenen Darstellung des gesamten menschlichen Urteilsvermögens, der sich auf diese Weise notwendig auf die Logik zurückbezieht: Nach der Begründung des theoretischen Verstandesurteils wendet Hume sıch in diesem Teil der Frage nach den Prinzipien und dem Kriterium der Werturteile zu.
* In der Hume-Forschung wird der Terminus »criticism«, wo er überhaupt diskutiert wird, soweit ich sehe, kurzerhand mit » Ästhetik« gleichgesetzt. Vgl. T. Brunius: David Hume on Criticism, a.a.O., S. 11.
# Vgl. Oxford English Dictionary. Second Edition. Oxford 1989, Vol. I, S. 206. “ Vgl. W. Tatarkiewicz: » Aesthetic Experience: The Early History of the Concept«. In: Dialectics and Humanısm $ (1973), S. 27. #5 R.Wellek: Geschichte der Literaturkritik 1750-1950. Darmstadt 1979, Band I, S. 132.
*# Mossner versucht eine differenziertere Interpretation des Begriffs »criticism« bei Hume, wonach der Terminus zum einen »the study of beauty (aesthetics)«, also die allgemeine Theorie des Schönen und ihrer Wahrnehmung, zum anderen »the study of beauty in art (criticism in modern usage)«, nämlich die Beurteilung existierender Kunstwerke oder angewandte Kunstkritik, bedeute; er läßt dabei aber »criticism« in der Bedeutung einer Theorie des ästhetischen Unterscheidens außer acht. Vgl. E. C. Mossner: »Hume’s >Of Criticism««, a.a.O., S. 236 f. Dagegen bestimmt Jessop »criticism« zutreffend als »the investigation of the standards of aesthetic judgment«. T. E. Jessop: »Some Misunderstandings of Hume«. In: Modern Studies in Philosophy. Hume. Hrsg. von V. C. Chappell. London u.a. 1966, S. 40.
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Einleitung
Mit dieser Differenzierung des menschlichen Urteilsvermögens in theoretische Erkenntnis, d.ı. »understanding« oder »reason« einerseits und moralische wie ästhetische Bewertung durch »tastes and sentiments« andererseits knüpft Hume an eine Unterscheidung an, die vor ihm bereits Hutcheson vorgenommen hatte und mit der sich Hume nicht nur vor und während seiner Arbeit am Treatise intensiv auseinandersetzt,” sondern auf
die er sich Hutcheson von einem stanzen für
noch in den frühen Auflagen seiner ersten Enguiry beruft.” selber spricht weniger von »tastes and sentiments« als vielmehr »moral sense« bzw. einem »sense of beauty«, den wahren Inwertende Entscheidungen innerhalb des menschlichen Geistes,
um in Analogie zu den äußeren Sinnen (external senses) dessen natürliche,
unmittelbar fühlende Wahrnehmung von Tugend wie von Schönheit festzuhalten. Mit dieser Darstellung schließt er sich freilich seinerseits an Shaftesburys Entdeckung eines natürlichen »Sense of Order and Proportion« in der Seele an. Hume weist Shaftesbury und Hutcheson in der Theorie des Gefühls eine
zentrale Position zu: In seiner Einleitung zum Treatise führt er sie deswegen unter denjenigen neueren Philosophen Englands auf, »who have begun to put the science of man on a new footing«® und deren Nachfolge er angetreten habe. Zugleich macht er damit deutlich, daß beide mit ihrer jeweiligen Lehre von einem »internal sense«”’ eben nur einen Anfang gemacht haben, die seine eigene Darstellung der »tastes and sentiments« erst vollenden wird. Die Entdeckung und Darstellung des »internal sense« durch Shaftesbury und Hutcheson gehört deshalb zur Vorgeschichte der ästhetischen Kritik Humes. Diese Vorgeschichte kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit allerdings
nicht in aller Ausführlichkeit entwickelt werden.”' Sie wird lediglich dort * Vgl. Kemp Smiths Kapitel über »Hutcheson’s teaching and its influence on Hume«. Kemp Smith: The Philosophy ..., a.a.O., S. 23 ff. *# „That Faculty, by which we discern Truth and Falshood, and that by which we perceive Vice and Virtue had long been confounded with each other, and all Morality was suppos’d to be built on eternal and immutable Relations, which, to every intelligent Mind, were equally invarıable as any Proposition concerning Quantity and Number. But a late Philosopher (Anm.: Mr. Hutcheson) has taught us, by the most convincing Arguments, that Morality is nothing in the abstract Nature of Things, but is entirely relative to the Sentiment or mental Taste of each particular Being; in the same Manner as the Distinctions of sweet and bitter, hot and cold, arise from the particular feeling of each Sense or
Organ. Moral Perceptions therefore, ought not to be class’d with the Operations of the Understanding, but with the Tastes or Sentiments.« HU ”T Introd., SB, S. XVII. PM 1; SB, S. 170.
1; GG IV, S. 10 Anm.
51 Eine geschlossene Darstellung der moral-sense-Theoretiker Shaftesbury, Mandewville,
Einleitung
13
herangezogen, wo es darauf ankommt, die eigentümlich Humesche Bestimmung der wertenden Empfindung herauszustellen. Dabei gebührt der Posıtion Shaftesburys besondere Aufmerksamkeit, weil mit ihm die nach-rationalistische Philosophie einsetzt,” die ihre Eigenständigkeit und Geschlossenheit darın beweist, daß sie jene unmittelbar unterscheidende Empfindung nicht nur entdeckt, sondern auch ihre spezifische Aufgabe darin sieht, sie zur Klärung zu bringen.” Deswegen läßt sich diese Phase auch die Philosophie der Empfindsamkeit nennen.’”* Humes Gedanke bildet insofern deren Höhepunkt, als er auf die genuine Problematik eines solchen Empfindungsurteils stößt und es zu rechtfertigen sucht. Hutcheson soll in dieser Hinsicht nur als verbindendes Glied zwischen dem Anfang und dem Höhepunkt der Empfindsamkeit Erwähnung finden. Im Zentrum steht jedoch die Herausarbeitung der ästhetischen Kritik Humes, innerhalb deren nicht nur die erwähnte Problematik thematisiert,
sondern auch die Form des Empfindungsurteils paradigmatisch vorgestellt wird. Sie nımmt deshalb eine Schlüsselstellung in seinem philosophischen Werk ein. Auf diese systematische Position richtet sich folglich das Hauptaugenmerk der vorliegenden Arbeit, während ihre geschichtliche Einordnung hier nur am Rande berücksichtigt werden wird.” Da die ästhetische Kritik durch Hume keine in sich zusammenhängende Darstellung erfährt, ist es erforderlich, zunächst ihre Beziehung zu den übrigen Teilen des von Hume entworfenen Systems der philosophischen Disziplinen zu verdeutlichen, durch die sie ursprünglich vorbereitet werden sollte, um anschließend zu verfolgen, auf welche Weise sie in den Essays realisiert wird. Nur Hutcheson, Butler und Hume gibt W. H. Schrader: Ethik und Anthropologie. Der Wandel der moral-sense-Theorie von Shaftesbury bis Hume. Hamburg 1984. 52 Mag sich Shaftesbury damit auch seinerseits auf die Cambridger Platoniker zurückbeziehen (vgl. E. Cassırer: Die platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge. Leipzig, Berlin 1932), so zeigt sich die Originalität seiner Position doch daran, daß er seinen Gedanken
in einer »empfindsamen«, von einem enthusiastischen Ton
durchdrungenen Gestalt präsentiert, die dem neuen Gegenstand dieser Philosophie entspricht. 5? Damit soll keinesfalls eine Homogenität ihrer Lehren unterstellt werden, die im Gegenteil teilweise kontrovers aufeinander bezogen sind. Vgl. Schrader: Ethik und Anthropologie ..., a.a.O., S. XIII; außerdem G. Sauder: »Spielarten der Empfindsamkeit in England, Frankreich und Deutschland«. In: Europäische Aufklärung(en). Einheit und nationale Vielfalt. Hrsg. von S. Jüttner und J. Schlobach. Hamburg 1992, S. 112. 5 Sie ist damit als eine Tendenz der neuzeitlichen Vernunft selber zu verstehen, nach der Aufklärung des Verstandes (Rationalismus) nun auch diejenige des Gefühls zu erbringen. 55 Sie findet sich ausführlich bei Brunet: Philosophie et Esthetique ..., a.a.O.
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Einleitung
ım sukzessiven Nach-Denken des Treatise und der Essays, Moral, Political,
and Literary wird erkennbar, daß dem scheinbar zufälligen Aufgreifen ästhetischer Themen eine Ordnung zugrunde liegt, die der besonderen Aufgabe entspringt, die die ästhetische Kritik für Humes Philosophie ım ganzen erfüllt.
ERSTER TEIL KUNSTKRITIK UND WISSENSCHAFT
I. Das wissenschaftliche Fundament der ästhetischen Kritik im Treatise of Human Nature Der Entwurf, den Hume in der Einleitung seines Treatise von seiner Wissenschaft des Menschen vorlegt, sieht »criticism« als eine ihrer Disziplinen vor. Die Lehre von den Prinzipien des ästhetischen Urteilens soll damit Teil einer vollkommen neuen Grundlage werden, auf der anschließend »a compleat system of the sciences«! errichtet werden kann, in dem endlich auch eine wissenschaftlich fundierte Kunstkritik ıhren Platz hätte. Dabei ist Hume geradezu militant optimistisch, was den Erfolg seines Unternehmens anlangt: »[...] instead of taking now and then a castle or village on the frontier, [we] march up directly to the capital or center of these sciences, to human nature itself; which being once masters of, we may every where else hope for an easy victory. From this station we may extend our conquests over all those sciences, which more intimately concern human life.«’ Mit diesem notwendigen Rückgriff auf die Philosophie nimmt er zunächst Abschied von seiner Leidenschaft für die angewandte Kunstkritik.? Die angestrebte Gewißheit des »criticism« beabsichtigt Hume durch eine empirische Untersuchung ihrer Prinzipien zu ermöglichen, auf der die Methode der Wissenschaft vom Menschen überhaupt beruht. Wie in den Naturwissenschaften, so sollen auch hier die eigentümlichen Wirkungen, die
der Geist unter »different circumstances and situations«* zutage treten läßt, experimentell analysiert werden, um schließlich induktiv zu den einfachen
IT Introd.; SB, S. XVI.
? Ebd. ? Die Einschätzung, wie Hume das Verhältnis von Philosophie und »criticism« auffaßt, bleibt bei Greig und Mossner unbestimmt, wenn sie Humes gleichgewichtiges Interesse für beide Gebiete lediglich biographisch konstatieren: »He could hardly think of them apart«, schreibt Greig (Greig: David Hume,
a.a.O., S. 77), ohne dafür einen Grund an-
zugeben. »Hume was always the man of letters, scholar as well as philosopher«, hält Mossner fest (Mossner: »Hume and the Ancient-Modern Controversy«, a.a.O., S. 141). Warum Hume aber doch der Philosophie den Primat vor der Kritik einräumen muß, nämlich um »criticism« erst begründen zu können, macht bereits der Brief an Arbuthnot deutlich. * T Introd.; SB, S. XVII.
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Erster Teil - Kunstkritik und Wissenschaft
Prinzipien vorzudringen, die jenen Wirkungen zugrunde liegen. Da mit der menschlichen Natur allerdings keine Experimente gemacht werden können, gewinnt Hume die einschlägigen Erfahrungen »from a cautious observation of human life«°, nimmt sıe also so auf, wie sie »ın the common course of the
world, by men’s behaviour in company, ın affairs, and in their pleasures«® erscheint. Ein weiterer Schritt zur wissenschaftlichen Fundierung der ästhetischen Kritik besteht darin, daß sie nunmehr in ein System von Disziplinen eingebunden ist, innerhalb dessen die Prinzipien der menschlichen Natur umfassend untersucht werden. Hier erhält sie insofern eine theoretische Grundlage, als Hume in den ersten beiden Büchern des Treatise damit beginnt, die Inhalte des menschlichen Geistes, die Perzeptionen (perceptions), von Grund auf darzustellen. Auf diesen Wahrnehmungen beruhen die unterschiedlichen Operationen (operations) des Geistes und somit auch das Unterscheiden von Schönheit und Häßlichkeit als eine Weise des Urteilens überhaupt: »[...] nothing ıs ever present to the mind but its perceptions; and all the actions of seeing, hearing, judging, loving, hating, and thinking, fall under this denomination.«’ Die Perzeptionen unterscheiden sich wiederum in zwei Arten, nämlich in Vorstellungen (ideas) und Eindrücke (im-
pressions). Die abstrakte Analyse des Wahrnehmungsmaterials und der darauf aufbauenden mentalen Operationen in den ersten beiden Büchern des Treatise bereitet die folgenden Teile vor, die der Fundierung der praktischen Wissenschaften Moral, Politik und Kritik dienen.
Eine Analyse der ästhetischen Kritik Humes hat dieser Struktur der Wissenschaft vom Menschen Rechnung zu tragen. Auch wenn Hume nach dem Mißerfolg des Treatise den ursprünglichen Plan einer systematischen Darstellung der Kritik verwirft und lediglich Einzelprobleme in einer Reihe von Essays behandelt oder gar in Anmerkungen anscheinend verstreut zur
Sprache bringt, können diese Ausführungen nicht isoliert betrachtet werden, sondern lassen sich nur vor dem Hintergrund der im Treatise entwikkelten Teile seiner Prinzipienwissenschaft verstehen. Es bedarf daher zum einen einer Untersuchung der Prinzipien des Verstandes und der Leidenschaften, die Hume in der Logik und in der Affektenlehre entwickelt, und einer Klärung der Frage, warum beide als theoretische Grundlage von Moral, Politik und Kritik dienen, aber nur die Affektenlehre zu deren eigent-
lichem Fundament wird. Zum anderen sind die moralischen Unterschei> T Introd.; SB, S. XIX.
* Ebd. ’TII, 1,1; SB, S. 456.
Das wissenschaftliche Fundament der ästhetischen Kritik
17
dungen zu bedenken, zu denen sich die ästhetischen analog verhalten, und schließlich ist nach ihrem Verhältnis zu dem in der Logik behandelten Erkenntnisurteil zu fragen. 1. Verstand und dichterische Einbildungskraft Humes ausführliche Beschreibung der Perzeptionen im allgemeinen sowie der Vorstellungen im besonderen, die das »Material< der Verstandestätigkeiten ausmachen, dient vor allem der Beantwortung einer Frage: welche gesicherte Erkenntnis dem Verstand im Umgang mit seinem Material möglich ist. Um so erstaunlicher erscheint es, daß Hume seine Erkenntnistheorie oft
an Beispielen der Dichtkunst erläutert. Diese eigentümliche Nähe zwischen Erkenntnis und Dichtung wird erst aus Humes Analyse der Verstandesoperation verständlich. Die Beschaffenheit der Vorstellungen bestimmt sich von ihrem Unterschied zu den Eindrücken her, der zum einen in der Herkunft liegt: Während die Eindrücke die ersten, originären Gegebenheiten sind, die der Geist
entweder aus den äußeren oder aus den inneren Sinneswahrnehmungen erhält,® entspringen die Vorstellungen aus Eindrücken und sind deren Abbilder. Daraus folgt der andere wesentliche Unterschied zwischen beiden Perzeptionsarten: Während die Eindrücke gewissermaßen als unmittelbare Erfahrungstatsachen dem Geist lebhaft und stark gegenwärtig sind, bedeuten die Vorstellungen nur deren erneute Vergegenwärtigung und sind deshalb entsprechend schwächer oder blasser. Die unterschiedlichen Tätigkeiten, die auf der jeweiligen Klasse von Wahrnehmungen beruhen, konstituieren die Vermögen des Geistes, die gemäß der dichotomischen Einteilung der Perzeptionen nur zwei sind, nämlich Denken und Fühlen: »Those perceptions, which enter wıth most force and violence, we may name impressions; and under this name I comprehend all our sensations, passions and emotions, as they make their first appearance in the soul. By zdeas I mean the
faint images of these in thinking and reasoning [...].«’ Aus dem Vergleich
8 Der Ursprung der »impressions« selber bleibt dem menschlichen Geist verborgen: »As to those impressions, which arıse from the senses, their ultimate cause is, in my opinion, perfectly inexplicable by human reason, and ’twill always be impossible to decide with certainty, whether they arise immediately from the object, or are produc’d by the creative power of the mind, or are deriv’d from the author of our being. Nor is such a question any way material to our present purpose.« T I, 3, 5; SB, S. 84.
° Vgl.
TI, 1,1; SB, S.1.
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Erster Teil - Kunstkritik und Wissenschaft
der beiden Perzeptionsarten gewinnt Hume eine erste prinzipielle Erkenntnis: »[...] all our simple ideas in their first appearance are deriv’d from simple impressions, which are correspondent to them, and which they exactly represent.«!® Eine bündigere Formulierung dieses Satzes, die Hume in der späteren Umarbeitung des ersten Buches, der Enguiry concerning Human Understanding, gibt, macht zugleich deutlich, welche Konsequenz sich daraus für das Verhältnis der beiden Vermögen Denken und Fühlen ergibt: »[...] all our ideas are nothing but copies of our impressions, or, in other words, [...] it is impossible for us to think of any thing, which we have not antecedently felt [...].«'!' Dieses Prinzip ist von fundamentaler Bedeutung für die Wissenschaft vom Menschen:!? Indem Hume die Vorstellung in ıhrer Abhängigkeit vom Eindruck her begreift, muß für ıhn »thinking and reasoning« seine Grundlage im Fühlen haben, das selber keine Repräsentation von etwas ist, sondern ursprüngliche Wirklichkeit. Die Wahrheit eines Vorstellungsgehalts macht sich somit einzig an der ihr voraufgehenden Impression fest. Um sie zu erkennen, bedarf es einer einfachen Handlung: »[...] we need but enquire, from what impression ıs that supposed idea derived?«!? Diese Handlung ist das »empiristische Prinzip«!* des Humeschen Erkenntnisakts, das im ersten Buch des Treatise vollständig entfaltet wird. Hinsichtlich derjenigen Denkoperation, »by which we repeat our impressions in the first manner«!?” und die Hume Erinnerung (memory) nennt, besteht dabei keine Schwierigkeit: Die Vorstellung hat hier einen unmittel-
°T1,1,1;
SB, S.4. - Da Hume
selbst die prinzipielle Gleichheit der Lehren
des
Treatise und der Enquiries betont, ist es zulässig, den Gedankengang des Treatise gelegentlich durch die oftmals prägnanteren Ausführungen der Enquiries zu erhellen. "HU
7; SB, S. 62.
12 „This then is the first principle I establish in the science of human nature [...].« TI, 1,1; SB, S. 7. B HU 2; SB, S. 22.
# Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung. Hrsg. von R. Bubner. Bd. 4: »Empirismus«. Hrsg. von G. Gawlick. Stuttgart 1980, S. 141. — Die sich auf dieses Prinzip gründende Erfahrungsphilosophie Humes ist somit kein reiner »Datenempirismus« (R. A. Mall: Der operative Begriff des Geistes. Locke, Berkeley, Hume. Freiburg 1984, S. 167),
der sich auf Sensualismus gründet. Für Hume ist die Impression die erste unmittelbare Gegebenheit des Geistes, die nicht als Abbild eines vom Geist unabhängigen äußeren Daseins steht. Alle Erkenntnistätigkeiten richten sich ausschließlich auf die Beziehungen zwischen den Perzeptionen selbst: »We may draw inferences from the coherence of our perceptions, whether they be true or false; whether they represent nature justly, or be mere ıllusions of the senses.« T I, 3, 5; SB, S. 84. 5T],1,3; SB, S. 8.
Das wissenschaftliche Fundament der ästhetischen Kritik
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baren Bezug zu den Eindrücken, wiederholt genau die Reihenfolge ihres Auftretens und erhält dadurch eine derartige Lebhaftigkeit oder Gegenwart ım Geist, die ihre Wahrheit evident macht, wıe sich etwa an der Geschichts-
schreibung verdeutlichen läßt. Anders steht es mit der zweiten möglichen Operation, der Einbildungskraft (imagination), die Eindrücke nicht als Ideen reproduziert, sondern das Vermögen ist, »to transpose and change its ıdeas«!°, also unabhängig von der Form oder Reihenfolge der Eindrücke mit dem »reinen< oder abstrakten Ideenmaterial umgeht und durch Zusammensetzung oder Verknüpfung andere, deutlich schwächere Ideen hervorbringt. Zwar ist die Einbildungskraft kein Vermögen, das Ideen a priori bildet, sondern beschränkt sich lediglich auf das Zusammensetzen von einfachen zu komplexen Ideen, doch ist die Freiheit ihrer Verbindungen scheinbar grenzenlos. Um dies zu belegen, greift Hume zum ersten Mal auf ein Beispiel aus der Dichtkunst zurück: Die dort produzierten »winged horses, fiery dragons, and monstrous giants«”, für die es keinen Eindruck der äußeren oder inneren Sinneswahrnehmung gibt, sind beliebig aus verschiedenen einfachen Ideen zusammengesetzt und werden lediglich durch Vergrößerung oder Verkleinerung verändert. Indem Hume das Vermögen der Einbildungskraft hier an der Dichtkunst veranschaulicht, deren fingierende Tätigkeit er in einen Gegensatz zur memorierenden und deshalb wahrheitsgetreuen Geschichtsschreibung setzt, scheint er darunter bloß das phantasierende Denken zu verstehen. Hier wäre die Frage nach der Wahrheit des Vorstellungsinhalts allerdings überflüssig, will sie doch nichts anderes sein als Fiktion. Tatsächlich bedeutet
»imagination« für ıhn jedoch allgemein das freie Operieren mit den durch Abstraktion
schon vom
Eindruck
entfernten, schwächeren
Ideen. Diese
Operation kann einerseits willkürlich vor sich gehen, wie im Falle der dichterischen Einbildungskraft, und Phantasiegebilde hervorbringen; andererseits kann sie sich aber auch nach bestimmten Regeln der Zusammensetzung oder Assoziation vollziehen und Erkenntnis ermöglichen: Dann meint Einbildungskraft nichts anderes als »understanding« oder »reason«.!? Nur
in diesem Zusammenhang muß nach der Gültigkeit dieser durch Verknüpfung gewonnenen Vorstellungen gefragt werden. T
1,1, 3; SB, S. 10.
1 Ebd. 18 Zu Humes synonymem Gebrauch von »Einbildungskraft< und »Verstand« vgl. DP 1; GG IV, 5. 140: »[...] imagination or understanding, call it which you please [...]«. Aber auch im Treatise finden sich viele Hinweise auf die Gleichsetzung beider; vgl. vor allem T I, 4, 7; SB, S. 267, wo »understanding« als »the general and more establish’d properties of the imagination« aufgefaßt wird.
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Erster Teil - Kunstkritik und Wissenschaft
Der Begriff der Einbildungskraft führt noch für die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht zuletzt seit Lockes Assoziationstheorie eine negative Konnotation mit sich: Locke spricht zwar von einer »natural correspondence and connexion« von Ideen,!? versteht unter Assoziation aber in erster Linie diejenige Ideenverbindung, die auf »chance or custom«?® beruht, zu
»wanton fancies«?! führt und eine wesentliche Quelle von Märchen, Irrtümern und Aberglaube ist. Wenn Hume hier seinen erweiterten Begriff von »imagination« am extremen Beispiel der Dichtkunst einführt, dann erinnert er zunächst an diese kritische Bewertung der Einbildungskraft: Denn für ihn läuft die Verstandestätigkeit als eine Funktion der Einbildungskraft Gefahr, ähnlich wie die dichterische Phantasie Ideen hervorzubringen, die abstrus sind und keinerlei Anhalt mehr an einem Eindruck haben, die sıe in
diesem Fall aber dennoch für wahr hält. Als solche ist sie metaphysisches Denken, das Hume gelegentlich als »fancy« auffaßt.?? Gerade gegen diese Überhebung versucht er jedoch im Treatise, die Regeln der Assoziation von Ideen herauszuarbeiten, aufgrund deren ein wissenschaftliches Denken möglich ist.” Schon hier kündigt sich an, inwiefern die Untersuchung des Verstandes zugleich zu einer theoretischen Grundlegung des »criticism« beitragen kann: Wenn Hume »imagination« in ihrem Unterschied zur reproduzierenden Erinnerung als das produktive Vermögen des Geistes auffaßt und Ver? John Locke: An Essay on Human Understanding II, 33, $ 5; Works. London 1823. Nachdruck Aalen 1963, II, S. 150.
2 Ebd.
21 A.2.0.,$7; WL IL S. 151. 22 Vgl. z.B. Humes Kritik an der zeitgenössischen Philosophie im Brief an Arbuthnot: »Every one consulted his Fancy in erecting Schemes of Virtue & Happiness, without regarding human Nature [...].« L I, S. 16. Hume macht zwar keine präzise Unterscheidung zwischen »imagination« und »fancy« (vgl. ©. Quast: Der Begriff des Belief bei David Hume. Halle a. S. 1903. Nachdruck Hildesheim 1980, S. 83), gelegentlich legt der jeweilige Zusammenhang, in dem der Begriff »fancy« gebraucht wird, jedoch nahe, daß damit eher die willkürlich verknüpfende Einbildungskraft gemeint ist. Darauf weist zumindest implizit auch Vietta hin: »Es ist bezeichnend, daß Hume [...] den Begriff der »imagination< dem der »fancy< vorzieht.« (S. Vietta: Literarische Phantasie: Theorie und Geschichte. Bd. 1: Barock und Aufklärung. Stuttgart 1986, $S. 38). Eine negative Konnotatıion hat »fancy« bereits im elisabethanischen Englisch. Die Aufwertung des >imaginationSelbst< oder die Identität seines Staates auftritt. MI Vgl. Humes Auffassung von den Regierungsformen im Essay »That Politics may be reduced to a science«. GG
III, S. 99.
Das wissenschaftliche Fundament der ästhetischen Kritik
45
but also by an original property.«!** Daß Stolz und Kleinmut aufgrund einer natürlichen Eigenschaft des Geistes das Selbst zum Objekt haben, zeigt sich daran, daß beide konstant von der Idee des Selbst begleitet werden.'* Zugleich bezeichnet Hume diese Eigenschaft aber auch als eine wrsprüngliche Qualität, weil die Idee des Selbst das spezifische Merkmal gerade dieser Affekte ist, das sie aus einem »primary impulse«!* des Geistes selbst erhalten. Mit dieser Unterscheidung zwischen »natural« und »original properties«!*? geht Hume über die theoretische Bestimmung der Idee des Selbst im ersten Buch hinaus: Dort erwies sie sich nämlich gerade als das Resultat einer natürlichen Neigung des Geistes, eine solche Vorstellung, der kein ursprünglicher Eindruck voraufgehen kann, gewohnheitsmäßig zu fingieren; hier erscheint die Idee des Selbst nun als originale Qualität des Geistes, »most inseparable from the soul«'!*, nämlich als Objekt von Stolz und Kleinmut, als deren notwendige Komponente es auftritt. Mit anderen
Worten: Die Seele kann nur dann die auf das Selbst gerichteten Affekte Stolz und Kleinmut fühlen, wenn sie an sich selbst die Richtung auf eine
Idee des Selbst aufweist. Daß diese Affekte aber als einfache Eindrücke in jedermanns Seele tatsächlich existieren, ist unbestreitbar.'” Kann der Verstand die Idee des Selbst auch nicht auf einen originalen Eindruck zurückführen und deshalb nicht einsehen, im Affekt des Stolzes bzw. Kleinmuts
ist der Seele die Idee des Selbst jedenfalls präsent. Nur weil das Selbst als notwendige Voraussetzung dieser indirekten Affekte zu denken ist, kann Hume nun in seiner Affektenlehre von einem unmittelbaren Bewußtsein (consciousness) des Selbst ausgehen. Dieses Bewußtsein ist nicht mehr bloß
der durch die Einbildungskraft (theoretisch) erzeugte Glaube an das Selbst, sondern, weil den indirekten Affekten inhärent, lebhaftes Gefühl: »’Tis evident, that the idea, or rather the impression of ourselves ıs always intimately present with us, and that our consciousness gives us so lively a conception
of our own person, that ’tis not possible to imagine, that any thing can in 42T ]], 1, 3; SB, S. 280.
13 „’Tis always self, which is the object of pride and humility; and whenever the passions look beyond, ’tis still with a view to ourselves, nor can any person or object otherwise have any influence upon us.« T II, 1, 3; SB, S. 280.
1 Ebd. 145 Aus der Unterscheidung von »natürlich< und »ursprünglich« ergibt sich bei Hume eine ganz neue Auffassung von »Natur«, auf die später noch einzugehen ist. #'T II, 1, 3; SB, S. 280.
147 „[...] as these words, pride and humility, are of general use, and the impressions they represent the most common of any, every one, of himself, will be able to form a just idea of them, wıthout any danger of mistake.« T II, 1, 2; SB, S. 277.
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Erster Teil - Kunstkritik und Wissenschaft
this particular go beyond it.«!* Die Untersuchung der indirekten Affekte knüpft somit direkt an das Ende des ersten Buchs an!” und bildet den ersten Schritt, mit dem das zuvor in seine Perzeptionen zerfallene Selbst gleichsam restauriert wird und als fühlendes Ich wiederersteht.!”” Schon deshalb mußte Hume in einer Umkehrung der systematischen Reihenfolge
die indirekten Affekte vor den direkten abhandeln.'”! Daran zeigt sich noch einmal, wie Hume erst mit der Untersuchung der »passions« in das eigentliche Zentrum seiner Wissenschaft von der menschlichen Natur eintritt. Hatte Hume zunächst die Vorstellung des Objekts der indirekten Affekte von derjenigen ihrer Ursachen und deren angenehmen bzw. unangenehmen Eigenschaften unterschieden und als das notwendige Konstituens dieser Affekte bestimmt, so kann er nun zeigen, wie aus ihrem Zusammenhang der
indirekte Affekt mit mechanischer Gesetzmäßigkeit entsteht: “'T
]J, 1, 11; SB, S. 317. Hervorhebung
d. Verf. -— Die Rede vom
Bewußtsein
des
>Selbst< ist bei Hume problematisch: Einerseits spricht Hume selbst von einer »idea of self«, die somit zum Material des Verstandes zu gehören scheint. Andererseits erweist sich diese Idee — bloß theoretisch betrachtet — als eine Fiktion der Einbildungskraft, der nur eine gewisse Lebhaftigkeit anhängt. Volle Überzeugungskraft hat diese Idee offenbar erst als Objekt des Stolzes und des Kleinmuts. Sie wäre dann eigentlich ein Selbstgefähl. 9 Und zwar nicht nur inhaltlich, sondern auch kompositorisch: Die Frage nach der personalen Identität beschließt die »examination of the several systems of philosophy« (T II, 4, 6; SB, S. 263), ın der Hume im vierten Teil die Ergebnisse seiner kritischen Verstan-
desanalyse anwendet, und beendet damit gewissermaßen auch das erste Buch des Treatise. Denn die folgende »Conclusion« ist eher ein Innehalten in der Untersuchung der menschlichen Natur, »before I launch out into those immense depths of philosophy, which lie before me« (T 1, 4, 7; SB, $. 263), und ein skeptisches Resümee der Verstandesanalyse, auf
das noch einzugehen ist. 150 Metz gebührt das Verdienst, zuerst entschieden auf diese »Weiterverfolgung der Ichlehre in der praktischen Philosophie« Humes und demzuvor in seiner Affektenlehre hingewiesen zu haben. Vgl. R. Metz: David Hume. Leben und Philosophie. Stuttgart 1929. Nachdruck Stuttgart-Bad Cannstatt 1968, S. 226. I5l Darauf verweist Schrader in seiner vorzüglichen Darstellung der Humeschen Affektenlehre, die belegt, daß die »Theorie der indirekten Leidenschaften zu recht als ein Beitrag zur Auflösung des Problems der persönlichen Identität gedeutet werden kann« (Schrader: Ethik und Anthropologie ..., a.a.O., S. 148). Daß sich diese Schrittfolge nur am spezifischen Gedankengang des Treatise festmacht, belegt die Tatsache, daß Hume in seiner späteren Wiederaufnahme der Affektenlehre innerhalb der Dissertation of the Passions systematisch vorgeht und die direkten vor den indirekten Affekten behandelt (vgl. Schrader, a.a.O., S. 148 Anm. 49). Die vorgezogene Darstellung der indirekten Affekte im Treatise bewirkt zugleich, daß die anschließende Behandlung des Willens und der direkten Affekte bereits die Moralphilosophie ım dritten Buch vorbereitet, so daß also die einzelnen Bücher keine isolierten Einheiten bilden, sondern in ihrer Darstellung so miteinander verschränkt werden, daß sie zusammen geradezu das Gefüge des menschlichen Gemüts abbilden.
Das wissenschaftliche Fundament der ästhetischen Kritik
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Das erste Moment dieses Mechanismus’ ist der Gegenstand als die Ursache des Affekts, z.B. ein Haus. An ihm lassen sich zwei Eigentümlichkeiten unterscheiden, nämlich »that the gualities produce a separate pain or pleasure, and that the szbjects, on which the qualities are plac’d, are related to self«,'?? so daß also zweitens die Eigenschaften des Gegenstandes noch vor dem indirekten Affekt ein Lust-/Unlust-Gefühl, also einen direkten
Affekt verursachen: Die Schönheit sich eine angenehme Empfindung. der Eigenschaften die Vorstellung hung zum Selbst: Das Haus gehört
des Hauses beispielsweise erzeugt für Drittens ruft der Gegenstand als Träger des Objekts hervor, kraft einer Beziemır.
Damit haben sich zwei Beziehungen ergeben: A. Die Beziehung zwi-
schen der Ursache und dem Objekt ist eine »association of ideas«, die eine Operation des Verstandes ist, insofern nur er die Tatsache erkennt, daß das
Haus mein Haus ist. B. Die Beziehung zwischen dem Gegenstand und dem von ihm erzeugten Lust-/Unlustgefühl ist eine kausale, ohne daß sie ım Mechanismus der Affekte als Beziehung vorgestellt wird. Dieser ganze Zusammenhang der bisherigen Momente erzeugt nun viertens den indirekten Affekt - in unserem Beispiel den Stolz auf mein schönes Haus -, der wie jede »impression« eine Modifikation des Lust-/Unlustgefühls ist. Korrespondierend zum Gegenstand eröffnet auch der indirekte Affekt zwei Beziehungen: C. Aufgrund der Ähnlichkeit zwischen dem Lust-/Unlust-Gefühl und dem Stolz bzw. dem Kleinmut als einer Modifikation von Lust und Unlust ergibt sich auch eine »association of impressions«!”, also eine im Mechanismus empfundene Operation der Seele, die der Verstandesoperation analog ist. D. Der indirekte Affekt erzeugt nun seinerseits die Vorstellung des Objekts, ohne daß diese Wirkung jedoch im Mechanismus eigens vorgestellt wird.'”* Während einerseits der Zusammenhang von Gegenstand, Lust-/Unlustgefühl und Objekt den indirekten Affekt hervorbringt, bewirkt der indirekte Affekt andererseits seinen Zusammenhang mit 52T ]I, 1, 5; SB, S. 285.
153 „The second property I shall observe in the human mind (sc. neben derjenigen der association of ideas«) is a like association of Impressions. All resembling impressions are connected together, and no sooner one arises than the rest immediately follow.« T II, 1, 4;
SB, 5. 283.
15 Nur so ist zu verstehen, warum das Selbst einerseits als Voraussetzung des Stolzes gedacht wird, andererseits als dessen Produkt: »To this emotion she (sc. nature) has assign’d a certain idea, viz. that of self, which it never fails to produce.« T II, 1, 5; SB, S. 287.
Schrader löst diesen scheinbaren Widerspruch auf und macht überzeugend klar, daß mit diesem Produzieren der Übergang vom Stolz zur Vorstellung des Selbst gemeint ist. Vgl. Schrader: Ethik und Anthropologie ..., a.a.O., S. 153 ff.
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Erster Teil - Kunstkritik und Wissenschaft
dem Objekt und dem direkten Affekt. Für den Affekt Stolz bedeutet dies: »Any thing, that gives a pleasant sensation, and is related to self, excites the passıon of pride, which ıs also agreeable, and has self for its object.«!” Damit stellt sich der Mechanismus der indirekten Affekte als eine »double relation between the ideas and impressions«!” dar, durch die die Seele einen verstärkten Impuls erfährt, die Assoziation der Affekte um so leichter zu vollziehen. Aufgrund dieser Beziehung entstehen Stolz und Kleinmut, ähnlich wıe der Glaube bei der Verstandesoperation, unweigerlich in der Seele, so daß also die Beziehung der indirekten Affekte zum Lust-/Unlustgefühl und mehr noch zum Objekt als die eigentümliche Tätigkeit der Seele analog zu derjenigen des Verstandes anzusehen ist. Der Andere Schien die theoretische Analyse die Idee eines Selbst wo doch zu einer bloßen Fiktion herabgewürdigt zu haben, tersuchung der indirekten Affekte eigens darauf angelegt Selbst ım Stolz und ım Kleinmut unmittelbar als präsent
nicht zerstört, so so ist Humes Unzu zeigen, daß das erfahren wird. Im
Stolz fühlt sich aber nicht nur das Selbst, sondern darüber hinaus tritt ihm dıe Welt nun nicht mehr als zu erkennende Welt der Tatsachen, sondern als
Welt der Werte entgegen: Denn die affızierenden Gegenstände rufen die indirekten Affekte aufgrund ihrer lust- bzw. unlusterzeugenden Vortrefflichkeiten oder Mängel hervor, zu denen Hume näher Tugend und Laster, Schönheit und Häßlichkeit, äußerliche Vorzüge oder Mängel, Besitz und
Reichtümer zählt.!”” Diese Gegenstände bzw. ihre Eigenschaften werden zwar schon über ihre bloße Annehmlichkeit als wertvoll empfunden, aber nur über den Affekt des Stolzes auch als Werte bewußt.! Mit der Analyse des zweiten indirekten Affektenpaares Liebe und Haß
unterscheidet sich die affızierende Welt dann noch einmal in die Dinge und die anderen Personen: Denn das unmittelbare Objekt dieser beiden Affekte
ist nicht wie bei Stolz und Kleinmut das »self or that identical person, of whose thoughts, actions, and sensations we are intimately conscious«, son-
15T I], 1,5; SB, S. 288. 156 T II, 1, 5; SB, S. 289.
157 Hume geht sie der Reihe nach durch, um sie auf ihre Beteiligung bei der Verursachung von Stolz und Kleinmut hin zu überprüfen und dabei zugleich die zuvor herausgearbeitete Theorie von der »double relation of ideas and impressions« zu bestätigen. Vgl. T II, 1,7 bis 10. 158 Damit geht jedoch, wie Hume ausdrücklich betont, noch keine Beurteilung dieser Affekte einher, die erst Thema der Moralphilosophie ıst. T II, 1, 7; SB, S. 298.
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dern »some other person, of whose thoughts, actions, and sensations we are
not conscious«.!”” Im Affekt der Liebe bzw. des Hasses wird sich das Ich nun des anderen, ebenfalls denkenden und fühlenden Wesens bewußt: »Our
love and hatred are always directed to some sensible being external to us [...].«1%°
Auch bei diesen Affekten gibt es eine vom Objekt unterschiedene Ursache, die wiederum in die angenehmen bzw. unangenehmen Eigenschaften und das Subjekt als Träger der Eigenschaften zerfällt, so daß Hume bei ihrer Verursachung ebenfalls von einem doppelten Zusammenhang von Vorstellungen und Eindrücken ausgehen kann, ohne sie noch einmal beweisen zu müssen. Vielmehr macht Hume hier eine Beobachtung, die das Verhältnis beider indirekter Affektenpaare zueinander betrifft: Zwischen Stolz/Kleinmut und Liebe/Haß besteht ebenfalls ein doppelter Zusammenhang von
Vorstellungen und Eindrücken, insofern einerseits das erste Paar durch die Vorstellung des Selbst zusammengehört bzw. das zweite durch die Vorstellung der anderen Person, andererseits Liebe und Stolz als eine Modifikation der Lust bzw. Haß und Kleinmut als eine Modifikation der Unlust
erscheinen. Die vier indirekten Affekte bilden also in ihrer Beziehung zueinander ein Quadrat,!®! das die wechselseitige Erzeugung und Veränderung durch die jeweiligen Vorstellungen und umgekehrt wiederum die Erzeugung von Vorstellungen durch die Affekte veranschaulicht, wie Hume in einem Gedankenexperiment ausführlich belegen kann.!® Diese Überprü-
19'T II, 2, 1; SB, S. 329.
160 Ebd. 16! Vgl. TII, 2, 2; SB, S. 333. - Zum Affektenquadrat vgl. ausführlich P. J. Dietl: »Hume on the Passions«. In: Philosophy and Phenomenological Research 28 (1968), S. 554-566. 162 „I choose an object, such as virtue, that causes a separate satisfaction: On this object I bestow a relation to self; and find, that from thıs disposition of affairs, there immediately arıses a passion. But what passion? That very one of pride, to which this object bears a double relation. Its idea is related to that of self, the object of the passion: The sensation it causes resembles the sensation of the passion. [...] I suppose the virtue to belong to my companion [...]. I immediately perceive the affections to wheel about, and leaving pride, where there is only one relation, viz. of impressions, fall to the side of love, where they are attracted by the double relation of ideas and impressions. [...] Vice, when plac’d to another, excites by means of its double relations, the passion of hatred [...]. Ichange anew the relations of ideas, and suppose the vice to belong to myself. What follows? What ıs usual. A subsequent change of the passion from hatred to humility. [...] I alter the object; and instead of vice and virtue, make the trial upon beauty and deformity, riches and poverty, power and servitude. Each of these objects runs the circle of the passions in the same manner, by change of their relations.« T II, 2, 2; SB, S. 336 f. -— »Object« steht ın
diesem Beispiel für den Gegenstand, der die Ursache der Affekte ıst.
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Erster Teil - Kunstkritik und Wissenschaft
fung macht zum einen deutlich, daß die indirekten Affekte ein in sich geschlossenes System darstellen, innerhalb dessen sich ıhr Entstehen zwar spontan, doch in dieser Spontaneität nicht willkürlich, sondern nachweisbar gesetzmäßig vollzieht. Darüber hinaus zeigt sie vor allem, wie über diese
Verbindung der Affekte die Vorstellung des Selbst aufs engste und natürlichste auf diejenige der anderen Person bezogen ist. Die sich fühlende Seele ist sich in den Affekten Stolz und Kleinmut ihres Selbst schon unbestimmt bewußt, aber erst in den ihnen korrespondierenden Affekten Liebe und Haß wird sie sich ıhrer selbst als gesellschaftliches Ich inne. Wie sehr die Vorstellung des anderen mit der des Selbst verbunden ist, konnte Hume aber bereits vor der Analyse der Affekte Liebe und Haß im Zusammenhang mit der Verursachung der selbstbezogenen Affekte Stolz und Kleinmut klarmachen: Schon um den Stolz vom Geruch der bloßen Selbstliebe im Sinne Mandewvilles zu befreien, bestimmt Hume ıhn näher als
eine »love of fame«!*, in der die Vorstellung des anderen eine entscheidende Rolle spielt. Stolz und Kleinmut werden nämlich weniger durch eine direkte Beziehung zum Gegenstand und also über den Mechanismus der doppelten Beziehung von Vorstellung und Eindrücken verursacht, als vielmehr
indirekt durch eine Miteinbeziehung der Affekte und Meinungen anderer Menschen'‘: »[...] virtue, beauty and riches; have little influence, when not
seconded by the opinions and sentiments of others.«!°° Diese Rücksicht auf die Anerkennung anderer geschieht nicht durch Reflexion, sondern beruht auf einer in der menschlichen Natur ursprünglich vorhandenen »propensity [...] to sympathize with others«!%, aufgrund deren uns die Gefühle anderer Menschen unmittelbar mitgeteilt werden. Als sekundäre Ursache von Stolz und Kleinmut bezeichnet Hume diese Form der »communication«!® aber nur deshalb, weil der doppelte Zusammenhang von Vorstellungen und Eindrücken der Sache nach, nämlich ın der abstrakten Analyse der Affekte, an erster Stelle steht. In der konkreten
15T 1], 1, 11; SB, S. 316.
164 Durch diese Berücksichtigung der Meinung anderer über die »sympathy« verliert der Stolz bei Hume endgültig den Charakter der Eigenliebe und verwandelt sich in Selbstachtung (self-esteem), die auf einer angemessenen Kenntnis und Wertschätzung des eigenen »rank and station in the world, whether it be fix’d by our bırth, fortune, employments,
talents or reputation« (T III, 3, 2; SB, S. 599) beruht und deshalb immer auch für andere angenehm ist. Deshalb können auch Stolz und Kleinmut wie Liebe und Haß als »soziale« Affekte gelten. 165 °T ]], 1, 11; SB, S. 316.
166 Ebd. 167 Ebd.
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Erfahrung des gewöhnlichen Lebens zeigt sich jedoch, daß »sympathy« für uns die primäre Ursache nicht nur dieser indirekten Affekte, sondern auch von Liebe und Haß, ja sogar aller Affekte ist, weil sich, wie Humes Bei-
spiele belegen, der Mensch ım »common life« immer schon in Gesellschaft seiner Mitmenschen befindet, deren Gefühle er teilt: »A good-natur’d man finds himself in an instant of the same humour with his company [...]. A
chearful countenance infuses a sensible complacency and serenity into my mind; as an angry or sorrowful one throws a sudden damp upon me. Hatred, resentment, esteem, love, courage, mirth and melancholy; all these
passions I feel more from communication than from my own natural temper and disposition.«!°® Wenn auch die »sympathy« als ein Vermögen gelten muß, Affekte unmittelbar mitzuempfinden, so erweist sie sich doch in der Humeschen Analyse, der hier nur kurz nachgegangen werden soll, als eine ebenso mechanische Kooperation von Einbildungskraft und Affekten wie der doppelte Zusammenhang von Vorstellungen und Eindrücken: Zunächst werden nur die äußeren Anzeichen der Affekte anderer Menschen ın Rede oder Mienenspiel wahrgenommen, die als Vorstellungen perzipiert werden, »as we conceive any other matter of fact«.!°” Aufgrund der Erinnerung an eigene früher gemachte Erfahrungen wird die Einbildungskraft von diesen wahrnehmbaren Affektwirkungen zu deren Ursachen geleitet, so daß wir dadurch zunächst zu der Überzeugung von der Wirklichkeit des fremden Affekts gelangen. Diese Erinnerung an eigene Erfahrungen drängt sıch deshalb immer auf, weil uns zum einen, wie Hume bereits zei-
gen konnte, die Vorstellung des Selbst stets lebhaft gegenwärtig ist; zum anderen, weil wir an den beobachteten Personen eine Ähnlichkeit mit uns
selbst feststellen, die uns zu allen ihren Affekten eine entsprechende Parallele in uns selbst finden läßt. Diese grundsätzliche Beziehung der Ähnlichkeit zwischen Menschen kann noch verstärkt werden durch die der raumzeitlichen Berührung oder der Kausalität,'”° so daß in der Akkumulation aller drei Beziehungen die Lebhaftigkeit der Idee des Selbst schließlich auf die Vorstellung des fremden Affekts übertragen wird. Letztere erhält da-
durch selbst eine solche Stärke, daß sie sich in einen originären Affekt verwandelt,'”! was nur deshalb möglich ist, weil Idee und Eindruck sich gemäß der Humeschen
Definition nicht substantiell, sondern nur hinsichtlich des
1687 ]], 1, 11; SB, S. 317. 19T ]], 1, 11; SB, S. 319.
' Im Falle der Zugehörigkeit zu einer Nation oder der Blutsverwandtschaft. 1! Und zwar über die Assoziation der Eindrücke, die über die Beziehung der Ahnlichkeit zustande kommt, wie Hume bereits aufgezeigt hatte. Vgl. T II, 1, 4.
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Erster Teil - Kunstkritik und Wissenschaft
Grads ihrer Lebhaftigkeit unterscheiden: »[...] the ideas of the affections of
others are converted into the very impressions they represent, and [...] the passions arise in conformity to the images we form of them.«'’? Anders als beim doppelten Zusammenhang der Vorstellungen und Eindrücke spielt die Einbildungskraft im Mechanismus der Sympathie eine wesentlich größere Rolle. Durch ihren Einfluß wird der erzeugte Affekt zugleich intensiviert: Stolz oder Kleinmut werden deutlich stärker empfunden, sobald wir an anderen die Zeichen der Bewunderung wahrnehmen und ihre Lustgefühle die unseren noch vermehren. Sympathie erweist sich somit analog zum Glauben als ein Prinzip des Geistes, eine Vorstellung lebhaft zu konzipieren.’? Allerdings geht sie dabei noch über die Konzeptionsweise des Glaubens hinaus, der nur ein Produkt der Einbildungskraft ist, während bei der
Sympathie nicht nur Einbildungskraft und Affekte zusammengehen, sondern darüber hinaus auch eine Beziehung zum Selbst gegeben ist, die die Verwandlung in einen echten Eindruck erst ermöglicht. Dennoch darf die Sympathie ebensowenig wie der Glaube selbst als ein Eindruck angesehen werden.'’”* Sie ist nicht, wie der Begriff nahelegen könnte, ein Mitgefühl im Sinne des Mitleidens, das Hume als einen echten Affekt noch von der Sympathie unterscheidet.'”” Es kommt Hume gerade bei diesem Prinzip ganz darauf an, es eben nicht als unmittelbaren Gefühlszustand, sondern wie den Glauben als eine »propensity« und damit als einen beständigen, weil gesetzmäßigen Faktor in der natürlichen Struktur des Geistes wissenschaftlich nachzuweisen. Die Überzeugung von Tatsachen und die Miteinbeziehung der Affekte anderer Menschen sind, obwohl subjektiv, nicht beliebig, sondern beruhen auf Tätigkeiten der Seele, die sich
mit strenger Gleichförmigkeit vollziehen, »as the laws of motion, optics, hydrostatics, or any part of natural philosophy «.!”® Das entscheidende Moment ın dieser Umwandlung der Vorstellung fremder Affekte in eigene war die Beziehung der Ähnlichkeit, durch die sich das
Ich mit der anderen Person verbunden findet. Doch daß diese Beziehung nicht bloß emotionslos
als Tatsache konstatiert wird, sondern zu einem
sympathetischen »Miterleben« führt, beruht auf einer Voraussetzung, durch
'2'T ]I, 1, 11; SB, S. 319.
17? „Let us compare all these circumstances, and we shall find, that sympathy is exactly correspondent to the operations of our understanding [...].« T II, 1, 11; SB, S. 320.
17% Zum Verhältnis von »belief« und »sympathy« vgl. Mall: Der operative Begriff des Geistes ..., a.2.O., S. 187 ff.
13 Vel. TI, 2, 7: »Of compassion«. 176 DP 6; GG IV, S. 166.
Das wissenschaftliche Fundament der ästhetischen Krıtik
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die der Vorgang der Sympathie erst vollständig einsichtig wird: Für Hume ist der menschliche Geist (in Anlehnung an Dubos'’”) von Natur aus darauf angelegt, allem, was außer ıhm ıst, Aufmerksamkeit zu schenken. Jegliche Bewegtheit empfindet er als angenehme Lebendigkeit überhaupt und zieht sie dem indifferenten Zustand grundsätzlich vor: »[...] Iown the mind to
be insufficient, of itself, to its own entertainment, [...] ıt naturally seeks after foreign objects, which may produce a lively sensation, and agitate the spirits.«!7® Für sıch selbst ungenügend, wird der Geist erst durch die Wahrnehmung äußerer Objekte in Bewegung gebracht, und zwar über die Affekte. Zuhöchst bewegt wird er dabei durch ein Objekt, das ebenfalls affıziert und ıhm darin ähnlich ist, nämlich durch ein lebendiges, d.h. denkendes und empfindendes Wesen.'”” Folglich hat der menschliche Geist von sich aus ein »remarkable desire of company«'°°, denn in der Geselligkeit kann sich die Sympathie als Austausch der Affekte realisieren und ermöglicht dem Geist ım höchsten Maße, sich selbst zu fühlen.'®! Gerade deshalb
darf die Verursachung der Affekte über die Affekte anderer nicht bloß als eine alternative Weise der Affekterzeugung zur »double relation« angesehen werden, sondern sie ist das konkrete Prinzip des Fühlens überhaupt.!?
7 Zur Bedeutung Dubos’ für Hume vgl. P. Jones: Hume’s Sentiments. Edinburgh 1982, S. 93 ff.
17T ]], 2,4; SB, S. 352 f.
'7 „Every human creature resembles ourselves, and by that means has an advantage above any other object, in operating on the imagination.« T II, 2, 5; SB, S. 359. 180T' ]], 2, 5; SB, S. 363.
1#1 Nur aus diesem Grund bezeichnet Hume die Sympathie wie einen Affekt gelegentlich als angenehm, doch sie erzeugt diese Lust nur dadurch, daß sie die Seele durch die
Kommunikation der Affekte überhaupt in Bewegung bringt: »[...] a sympathy with others is agreeable only by giving an emotion to the spiırits [...].« T II, 2, 4; SB, S. 354. 182 Brandt hält dagegen die Affektverursachung durch »double relation« bzw. durch die »sympathy« für »zwei verschiedene, miteinander konkurrierende Konzeptionen« (R. Brandt: Einführung in David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur. Hrsg. von R. Brandt. Hamburg 1973, S. XXX VI). Mit der Sympathie-Lehre, die ıhren Ursprung in der Behandlung des Mitleids habe, sei »offensichtlich post festum eine neue Systematik eingeführt« (ebd., S.XXXVI). Die vermeintlich »undisponierte Verwirrung« (ebd., S.XXXVI) der Humeschen Affektenlehre verliert sich aber, wenn man bedenkt, daß der Treatise im ganzen darauf angelegt ist, den Menschen letztlich aufzunehmen, wie er ım konkreten »common life« erscheint: Vor diesem Hintergrund erweist sich die »double relation« als der abstrakte Mechanismus der Affekte, wie er der »natural temper and disposition« (T II, 1, 11; SB, S. 317) des einzelnen Geistes zugrunde liegt, während die
»sympathy« das Prinzip der Affektenverursachung im konkreten gesellschaftlichen Zusammenhang darstellt.
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Erst im Prinzip der »sympathy« erweist sich die Idee des anderen nicht nur als eine natürliche, sondern zugleich als ursprüngliche Eigenschaft des menschlichen Geistes, die den Menschen seiner Natur nach als gesellschaftliches Wesen bestimmt: »We can form no wish, which has no reference to
society. A perfect solitude is, perhaps, the greatest punishment we can suffer. [...] Let all the powers and elements of nature conspire to serve and
obey one man: Let the sun rise and set at his command: The sea and rivers roll as he pleases, and the earth furnish spontaneously whatever may be useful or agreeable to him: He will still be miserable, till you give him some one person at least, with whom he may share his happiness, and whose esteem and friendship he may enjoy.«'?° In der Gegenwart anderer werden nämlich nicht nur deren Affekte auf den Betrachter übertragen, sondern auch die eigenen Empfindungen mehrfach zurückgeworfen. Die ursprüngliche Lust an den Dingen, die man für sich selbst wertschätzt, wird dadurch
erst verstärkt und bestätigt, bis sie sich schließlich im Hin- und Herreflektieren abschwächt und zu einer allgemeinen Anerkennung eines Wertes überhaupt beruhigt: »[...] the minds of men are mirrors to one another, not
only because they reflect each others emotions, but also because those rays of passions, sentiments and opinions may be often reverberated, and may
decay away by insensible degrees.«!”* Die Sympathie ermöglicht das SichSpiegeln im anderen und bildet dadurch das »Band«, das das Wechselverhältnis aller Menschen zueinander konstituiert. Ist damit zunächst auch nur abstrakt die Neigung zur Geselligkeit (company) und nicht zu einer polıtisch verfaßten Gesellschaft (society) begründet, so ist es Hume doch gelungen, mit seiner Affektenlehre eine Theorie des gesellschaftlichen Wesens des Menschen aufzustellen, die anders als die seiner Vorgänger Hobbes und Mandeville nicht vom Eigeninteresse des Menschen ausgeht, sondern von seiner prinzipiellen Bezogenheit auf die Gesellschaft.'?° Im praktischen Leben, also im Horizont der Gesellschaft von »Selbstenalten< Theorie des Kunstwerks
zur »modernen« Ästhetik. Vorbereitet wird sie durch Shaftesbury und Hutcheson,?°! die erstmals zeigen, wie Schönheit und Tugend auf einem »immediate feeling and finer internal sense«? beruhen, und in deren Nachfolge Hume sich ausdrücklich stellt. Shaftesbury
entdeckt zuerst, daß das Wahre,
Gute, Schöne
— von ıhm
umfassend als die Natur bestimmt und unter diesem Begriff als miteinander
17T 11, 1, 8; SB, S. 301. 198 Festigkeit, Ausdehnung, Bewegung oder Ruhe, Zahl und Gestalt. Locke: Essay II, 8, $ 9; WLI,S.119£.
19 A.a.0., $ 10; WL I, S. 120.
20 „[,..] beauty ıs nothing but a form, which produces pleasure, as deformity ıs a structure of parts, which conveys pain [...].« T I, 1, 8; SB, S. 299.
21 Vgl. Tatarkiewicz: » Aesthetic Experience ...«, a.2.O., S. 26 f. 222 PM 1; SB, S. 170.
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identisch aufgefaßt — nicht durch die Vernunft erkannt, sondern von einer eigenständigen Instanz, dem »Sense of Order and Proportion«?”, der nichts anderes als die empfindsame Seele selbst ist, ästhetisch wahrgenommen und beurteilt wird. Die Philosophie der Empfindsamkeit beginnt also damit, die Vernunft im Sinne der ratio naturalis des 17. Jahrhunderts als oberstes Ver-
mögen des Geistes zu entthronen und zugleich zu zeigen, daß die Empfindung für sich selbst »vernünftig« ist, nämlich geordnet und angemessen reagiert. Schönheit bleibt jedoch ebenso wie das Wahre und das Gute objektive Wesenheit: Denn sie bestimmt sich zuhöchst als dasjenige, »which forms not only such as we call mere Forms, but even the Forms which forms, nämlich als Gott, der somit als »Principle, Source, and Fountain«?”% aller
erscheinenden Schönheit ontologisch zugrunde liegt. Schön ıst demnach alles, was an sich eine Form aufweist, an der die Einheit und Übereinstim-
mung aller Teile zu einem System zur Anschauung kommt, und darin den Schöpfer der wohlgeordneten Natur abbildet. Diese Urschönheit »erkennt« der »Sense of Order and Proportion« in der sichtbaren Schönheit enthusiastisch wieder. In diesem Augenblick des Enthusiasmus ist die Seele liebend auf die Natur bzw. das Schöne, Wahre, Gute ausgerichtet und damit selber Abbild dieses Prinzips: nämlich die schöne, weil aufrichtige und tugendhafte Seele.?® Im Enthusiasmus wird sich die fühlende Seele somit ihrer selbst unmittelbar inne. Hatte Shaftesbury jedoch den »sense of Order« noch als eine »connatural ıdea« ın der Seele des Menschen begriffen und damit ihre ursprünglich tugendhafte bzw. schöne »Prägung« gemeint, deren apriorisches Wissen um das Gute und Schöne »at such or such a time, sooner or later (no matter
when) [...] infallibly, inevitably, necessarily«?® in ihr aufspringt, so bestimmt sein Nachfolger Hutcheson den »internal sense« analog zu den Sinnen als ein »Organ«, Tugend bzw. Schönheit zu perzipieren, und differen-
ziert darüber hinaus zwischen dem »sense of beauty« und dem noch höherstehenden »moral sense«.?” Damit definiert sich Schönheit für ihn als 20° Anthony Ashley Cooper Lord Shaftesbury: The Moralists II, 4; Standard Edition. Hrsg. von G. Hemmerich, W. Benda u.a. Stuttgart-Bad Cannstatt 1981 ff., II.1, S. 164. 2 The Moralists III, 2; SE IL1, S. 336.
255 Wenn es der Empfindsamkeit überhaupt um die Entdeckung und Entfaltung des vernünftigen Gefühls geht, dann müssen Wahrheit und Tugend ästhetisch, also als Schönheit gedacht werden. 2% Brief an Michael Ainsworth (3. Juni 1709). In: Several Letters Written by a Noble Lord to a Young Man at the University (1716). 207 Wobei Hutcheson aber in der Behandlung beider »senses« keinen Unterschied macht: Der erste bezieht sich auf »the Beauty of Regularıty, Order, Harmony«, der andere auf
Das wissenschaftliche Fundament der ästhetischen Kritik
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»the Idea rais’d in us« und der »Sense of Beauty« als »our Power of receiving this Idea«.?°%® Schönheit scheint für Hutcheson somit ebenfalls eine objektive Qualität zu sein, denn der Idee muß eine reale Eigenschaft des Körpers entsprechen.” Diese Qualität ist die »Uniformity amidst Variety«?'), allerdings nicht, wie bei Shaftesbury, als Widerschein eines göttlichen formenden Prinzips, sondern die erfahrbare formale Regelmäßigkeit der Körper oder regelmäßige Relation aller Teile zueinander, wie Hutcheson am Beispiel geometrischer Figuren verdeutlicht: Die Vielfalt der Seiten an einem regelmäßigen geometrischen Körper vergrößere seine Schönheit; so sei ein Quadrat schöner als ein regelmäßiges Dreieck, ein regelmäßiges Sechseck wiederum schöner als ein Quadrat. Umgekehrt sei Einförmigkeit von größerer Schönheit bei gleicher Vielfalt, so etwa das Quadrat schöner als ein Rhombus oder Trapez.?!! Der »Sense of Beauty« erweist sich somit als eine »passive Power of receiving Ideas of Beauty from all Objects in which there is Uniformity amidst Variety.«?!? Andererseits deutet schon Hutcheson zumindest an einer Stelle an, daß Schönheit nicht als eine Eigenschaft eines
Körpers selbst angesehen werden kann.?!? Allerdings wird dieses Verhältnis von ihm nicht eigens bedacht.?'* Hume verlegt die Schönheit nun ganz ins Subjektive. Dabei scheint er sich ın seiner Begründung implizit auf Hutchesons Schönheitsbestimmung zu beziehen und ihr Eindeutigkeit zu verleihen: Bestünde die Schönheit in der objektiven Relation der Teile zueinander, dann wäre sie letztlich auch durch die »relations of ideas«, also durch die Verstandestätigkeit einzusedie »Affections, Actions, or Characters of rational Agents, which we Francis Hutcheson: An Inquiry into the Original of our Ideas of Preface; Collected Works. Facsimile Edition prepared by Bernhard Hildesheim 1969-1971, I, S. VI. 28 Inquiry I, 1,9; CW 1, S. 6. 20 „Since it is certain that we have Ideas of Beauty and Harmony,
call virtuous [...].« Beauty and Virtue, Fabian. Nachdruck
let us examine what
Quality in Objects excites these Ideas [...].« Inquiry I, 2,1; CW1,S.14f.
210 Inquiry I, 2,3; CW LS. 15. A Inquiry I, 2, 3; CW 1, $. 16 f. 12 Inquiry I, 6, 10; CW 1, S. 75. 25 Inquiry I, 4, 1; CW
I, S. 35.
214 Hutcheson trifft, wie Kivy bemerkt, mit diesem Changieren zwischen Objektivität und Subjektivität des Schönen gerade das Charakteristische der ästhetischen Wahrnehmung: »[...] Hutcheson is saying [...] that the judgment >X is beautifuk is neither purely subjective, nor purely objective, but something betwixt and between, a position that has seemed attractive to many contemporary philosophers [...].« P. Kivy: Einleitung zu Francis Hutcheson,
1973, 5.15.
An
Inquiry
concerning
Beauty,
Order,
Harmony,
Design.
Den
Haag
60
Erster Teil - Kunstkritik und Wissenschaft
hen: »It is on the proportion, relation, and position of parts, that all natural
beauty depends; but ıt would be absurd thence to infer, that the perception of beauty, like that of truth in geometrical problems, consists wholly in the perception of relations, and was performed entirely by the understanding or intellectual faculties.«?'° Tatsächlich ist aber die Wahrnehmung der Regelmäßigkeit eines Körpers etwas anderes als die ästhetische Lust: »T'he beauty
is not a quality of the circle. It lies not in any part of the line, whose parts are equally distant from a common centre. It is only the effect which that figure produces upon the mind, whose peculiar fabric or structure renders it susceptible of such sentiments.«?!° Hume trennt also im Unterschied zu seinen Vorgängern ausdrücklich die (subjektiven) ästhetischen Wahrnehmungen von den (objektiven) Verstandesurteilen und vermag auf diese Weise, die Schönheit in ıhrer Inkommensurabilität zu verstehen.
Doch nicht nur in der radikalen Subjektivierung des Schönen unterscheidet sich Hume von seinen Vorgängern: Während Shaftesbury und Hutcheson den »internal sense« als eine subjektive, aber gleichwohl «niversale und immer interesselose Instanz?!’ in der »particular fabric and constitution of the human species«?!? auffassen, die stets gleichförmig auf das Schöne reagiert und nur zufällig durch falsche Gewohnheiten oder Assoziationen der Einbildungskraft an ihrer notwendigen Aktion gestört werden kann,?'” so zeigt sich an der Humeschen Schönheitsdefinition, daß er
die menschliche Natur und damit auch die ästhetische Erfahrung in sich 415 PM Appendix I; SB, S. 291. 216 A.a.O., S. 291 f.
217 Vgl, W. Strube: »Interesselosigkeit«. Zur Geschichte eines Grundbegriffs der Ästhetik«. In: Archiv für Begriffsgeschichte 23 (1979), S. 154 f. 28 PM 1; SB, S. 170.
9 Für Shaftesbury wie für Hutcheson ist der »internal sense« eine ursprüngliche Instanz ın der menschlichen Natur, die allen Menschen prinzipiell gemein ıst. Daß er auch versagen kann und so ein unangemessenes Gefühl hervorgerufen wird, ist für Shaftesbury nicht auf Unwirksamkeit oder gar Unvollkommenheit dieses Sinns zurückzuführen. Die »connatural ıdeas« des Guten und Schönen können weder zerstört noch unwirksam werden, denn das hieße nichts anderes, als daß der Mensch »originally [...] ıll-constituted, and unnatural« sei (Shaftesbury: An Inquiry concerning Virtue, or Merit I, 3, 1; SE II.2, S. 90). Laster oder eine verkehrte ästhetische Empfindung erfolgt nur durch eine Störung
der natürlichen Begriffe durch falsche Ideen, die sich der Mensch durch einen verkehrten Gebrauch seiner Vernunft bzw. Einbildungskraft erwirbt und durch Gewohnheit etabliert. Solche Ideen sind nicht nur Vorurteile der Gesellschaft, sondern vor allem die zum
Aberglauben pervertierte Religion, wird doch in ıhr die falsche Auffassung von einem höchsten Wesen kultiviert. Auch für Hutcheson folgt die Unwirksamkeit der natürlichen Wahrnehmung von Schönheit und Tugend dem Einfluß von Ideenverknüpfung und falscher Auffassung. Vgl. Hutcheson: Inquiry II, 4 passım.
Das wissenschaftliche Fundament der ästhetischen Kritik
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differenziert: »[...] beauty is such an order and construction of parts, as either by the primary constitution of our nature, by custom, or by caprice, is fitted to give a pleasure and satisfaction to the soul.«””° Mit dieser Differenzierung der ästhetischen Wahrnehmung bedenkt Hume erstmals eigens die Vielfalt ihrer möglichen Erscheinungsformen.*' Im Unterschied zu Shaftesbury und Hutcheson hängt sie für Hume also offenbar nicht allein von der ursprünglichen Beschaffenheit der menschlichen Natur, sondern daneben noch vom erworbenen Prinzip der Gewohnheit- und von zufälligen Einflüssen wie etwa der momentanen Stimmung und dem individuellen Temperament ab. Humes eigene Rede von »sense of beauty« wie auch diejenige von »moral sense« wird aus diesem Grund eine für die Philosophie der Empfindsamkeit entscheidende Neubestimmung enthalten. Da die beiden ersten Bücher des Treatise mit ihrer Untersuchung der Perzeptionen sowie der darauf aufbauenden Operationen des Geistes dessen ursprüngliche Verfaßtheit beschreiben, ist klar, daß die Affektenlehre
ım wesentlichen die ästhetische Wahrnehmung »by the primary constitution of our nature« vorstellt und deren konkrete Auswirkungen, wenn auch nur gelegentlich, aufzeigt. Die Gewohnheit und ihr Einfluß auf Lust und Unlust wird hingegen hier nur am Rande thematisch,??? weil sie zwar ein natürliches, aber eben kein primäres Prinzip des Geistes ist.??” Diejenige ästhetische Reaktion jedoch, die einer Laune entspringt, beruht wie alles Zufällige auf einer »secret operation of contrary causes«?** und kann von der Wissenschaft des Geistes lediglich konstatiert, aber nicht weiter begründet werden. Da die Affektenlehre die sich gegenseitig befördernde Beziehung von Ideen und Affekten und die Sympathie als die zwei möglichen Prinzipien der Affektenverursachung in der »primary constitution« des Geistes entdeckt, ist zu erwarten, daß Hume ebenfalls zwei ursprüngliche Weisen, äs-
22° T ]]J, 1, 8; SB, S. 299.
22! Hume muß die Verschiedenheit zum Thema machen, weil sie bei der empirischen Beobachtung des Menschen im »common life« nicht zu übersehen ist und dem Gedanken einer universalen Instanz für moralische und ästhetische Wertungen zu widersprechen scheint. 222 Vgl. T II, 3, 5: »Of the effects of custom«.
23 Während die erste unmittelbare ästhetische Reaktion auf der »primary constitution« beruht, bildet sich die Gewohnheit erst durch wiederholte Erfahrung, also ım ständigen
Umgang mit Schönheit in der konkreten Sphäre des »common life« aus. Als entscheidender Faktor bei der Geschmacksbildung ist sie folglich erst der Gegenstand der ästhetischen Kritik. 224 HU
8; SB, S. 87.
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Erster Teil - Kunstkritik und Wissenschaft
thetische Lust-/Unlustgefühle zu erzeugen, unterscheidet. Wurde Lust bzw. Unlust zuvor als das Wesen der Schönheit und Häßlichkeit überhaupt bestimmt, dann ergibt sich schon aus systematischen Gründen, daß es auch zwei Grundarten von Schönheit geben muß, die den beiden Prinzipien der Affektenverursachung entsprechen. In der Tat läßt sich eine solche innere Differenzierung der Schönheit in eine Schönheit der Erscheinung oder Form (figure and appearance?”), der ein bestimmter Zusammenhang der Teile zugrunde liegt, und einer Schönheit des Interesses (beauty of interest??°), die durch eine »idea of convenience and utility«?” hervorgerufen wird, ausmachen: »[...] the beauty of all visible objects causes a pleasure pretty much the same, tho’ ıt be sometimes deriv’d from the mere species and appearance of the objects; sometimes from sympathy, and an idea of their utility.«22° Schönheit der Form beruht auf der Beziehung von Ideen- und Affektas-
soziation, die allerdings, anders als bei der Erzeugung der indirekten Affekte, eine einfache Beziehung beider Assoziationsarten ist. Beide Prinzipien operieren hier zusammen und geben der Seele dadurch den »double impulse«??, einen besonders lebhaften Affekt zu fühlen. Daß Hume diese Beziehung von Einbildungskraft und Affekten als eine Ursache gerade der ästhetischen Lust ansieht, belegt das einzige Beispiel, das er im Tyeatise für ihre Veranschaulichung gibt: Er zitiert dabei nicht zufällig aus Addisons Essays über die Pleasures of the Imagination (1712), die richtungsweisend für das neuaufkommende Interesse des 18. Jahrhunderts an der ästhetischen
Reaktion im Subjekt sind. Addison beschreibt dort das Zusammengehen von Einbildungskraft und Sinnen zu einer gesteigerten ästhetischen Erfahrung, ohne freilich wie Hume ein theoretisches Konzept dieser wechselsei25T ]], 1, 8; SB, S. 299. 226 T ]I, 2, 5; SB, S. 364. 77°T ]], 1, 8; SB, S. 299.
2238 'T III, 3, 5; SB, S. 617. — Jones findet dagegen bei Hume drei Arten von Schönheit: »beauty of »form«, which would contribute to the >intrinsic worth and value< of something; beauty of >interest> 'T II, 2, 8; SB, S. 379.
23? „An heroic and burlesque design, united in one picture, wou’d be monstrous; tho’ we place two pictures of so opposite a character in the same chamber [...].« T II, 2, 8; SB, $. 380.
235 „The same rule takes place ın dramatic poetry; nor is it ever permitted, in a regular composition, to introduce an actor, who has no connexion, or but a small one, with the principal personages of the fable.« HU 3; GG IV, S.21 Anm.
236° T ]], 1, 8; SB, S. 299.
237'T ]], 2, 5; SB, S. 363. Vgl. T II, 1, 8; SB, $.299. — Zur Bedeutung der »beauty of
utility« für Humes Ästhetik vgl. auch C. W. Korsmeyer: »Hume and the Foundations of Taste«. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 35 (1976), S. 207 ff.
Das wissenschaftliche Fundament der ästhetischen Kritik
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diese Schönheit begründet, beruht nicht auf der Beziehung aller Teile eines Objekts zu einem gemeinsamen »design«, sondern auf dem Nutzen, den es erfüllt und kraft dessen es als angenehm erscheint. Hume nennt sie deshalb in Absetzung von der Schönheit der Form die »beauty of interest«. Es muß
zunächst merkwürdig anmuten, daß er überhaupt zwei Arten der Schönheit aufführt und dabei der »convenience and utility« eine so große Bedeutung beimißt. Darin unterscheidet er sich deutlich von Shaftesbury und Hutcheson, für die Schönheit wesentlich ın der Einheit der Vielheit bestand und
die die Nützlichkeit gerade vom Schönen ausgeschlossen wissen wollten, um so dıe Uninteressiertheit des ästhetischen Zustandes festzuhalten. Es scheint so, als wollte Hume den praktischen Nutzen zum Kriterium des Schönen überhaupt machen.?”° Mit »convenience« greift Hume jedoch auf einen ästhetischen Begriff der Renaissance zurück?” und meint zunächst nichts weiter als das Zusammenstimmen aller Teile eines Gegenstandes zu einem Ganzen, der sich näher als
Zweck bestimmt: So gefällt beispielsweise die Gestalt eines Schiffes, wenn alle seine Teile seiner objektiven Funktion, schnell und sicher zu segeln, entsprechen.?*° Im Abschnitt »Of personal identity« hatte Hume gerade am Beispiel des Schiffs gezeigt, daß es der gemeinsame Zweck aller Teile eines Dinges ist, der uns dazu führt, ihm Identität zuzuschreiben, so daß die
»convenience« ım Unterschied zur bloßen Gestalt gleichsam als die beseelte Schönheit gelten kann. Dieser Zweck ist wiederum nützlich für den Benutzer dieses Schiffes und erzeugt deswegen Wohlgefallen, das allerdings nicht bloß dann eintritt, wenn ich selbst der Nutzer bin und mein privates Interesse befriedigt wird, wie Hume immer wieder betont.?*! Den Nutzen kann durchaus ein anderer oder der Träger dieser Schönheit selbst haben. So 238 Hume wurde nicht selten vorgeworfen, Schönheit auf bloße Nützlichkeit und Funktionalıtät zu reduzieren. So meinte Adam Ferguson, die Haltlosigkeit des vermeintlich Humeschen Standpunktes zu entlarven, wenn er aus dem Gedanken der »beauty of interest« die absurde Konsequenz zog: »Utility wherever found should have the same Effect, And a Dunghill be more admired than the Pantheon of Agrippa or the Dome of St Peters.Of Criticism««, a.a.O., S. 241.
239 Die »convenienza« ist bei Alberti das erste Gesetz der Komposition und meint das gute Zusammenstimmen der Glieder in Größe, Funktion, Art und Farbe zu einer Schön-
heit. Vgl. Leone Battista Alberti: Drei Bücher über die Malerei. Florenz 1436. In: Leone Battista Alberti’s Kleinere kunsttheoretische Schriften. Hrsg. von H. Janitschek. Wien
1877, 5.111.
#0 Vgl. PM 5; SB, S. 212.
241 „The observation of convenience gives pleasure, since convenience ıs a beauty. But after what manner does it give pleasure? ”Tis certain our own interest is not ın the least concern’d [...].« T II, 2, 5; SB, S. 364.
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Erster Teil - Kunstkritik und Wissenschaft
erscheint uns etwa der kräftige oder bewegliche Körperbau eines Tieres als schön, weil wir uns qua Sympathie in dessen Nützlichkeit und in die daraus resultierende Annehmlichkeit für das Tier selbst einfühlen.?*? Das Interesse,
das dabei berücksichtigt wird, ist nicht das je eigene oder das einer bestimmten Person, sondern das des empfindenden Wesens überhaupt, in dessen Gefühle wir uns stets hineinversetzen: »[...] tho’ our first object be some senseless inanımate piece of matter, ’tis seldom we rest there, and carry not our view to its influence on sensible and rational creatures.«?* Alle Schönheiten des Interesses werden in ihrer Beziehung auf ihre Nützlichkeit für den Menschen als solchen aufgefaßt: Deshalb wird ein Haus, dessen Türen quadratisch sind, als häßlich empfunden, weil ihre Funktion der Proportion der menschlichen Gestalt entgegensteht, sie also, auf den Menschen und seine Zwecke hin betrachtet, nicht konvenieren. Aufgrund des Prinzips der Sympathie verwandeln wir jede angenehme Wirkung eines Objektes auf den Menschen in unsere eigene Empfindung. Die breite Wirksamkeit der Sympathie im Bereich der ästhetischen Erfahrung kann Hume an einer Reihe von Beispielen demonstrieren, die ihm nicht nur erneut dazu dienen, bereits bestehende Regeln der Kunst zu rechtfertigen, sondern vor allem auch das eigentümliche Interesse zu charakterisieren, das wir an dieser Art von Schönheit nehmen. So fordert etwa
die Säulenordnung in der Architektur, »[...] that the top of a pillar shou’d be more slender than its base, and that because such a figure conveys to us the idea of security, which ıs pleasant; whereas the contrary form gives us the apprehension of danger, which is uneasy.«?* Ähnliches gilt für die Malerei: »There is no rule in painting more reasonable than that of ballancing the figures, and placing them with the greatest exactness on their proper centers of gravity. A figure, which is not justly ballanc’d, ıs disagreeable; and that because it conveys the ideas of its fall, of harm, ideas are painful, when by sympathy they acquire any vivacity.«?® Die Vorstellung der Sicherheit, die durch Säule oder das Gleichgewicht der Figuren auf einem
and of pain: Which degree of force and die Verjüngung der Gemälde vermittelt
wird, entspricht der »idea of convenience and utility«: Über das Prinzip der Sympathie fühlen wir gleichsam die Standfestigkeit der Säule oder der Figuren selbst. Gerade an diesen Beispielen wird aber deutlich, daß Hume mit »convenience« und »utility« weitaus mehr verbindet als den bloß materia-
22 Vgl. TI, 1, 8; SB, S. 299. 23T ]I, 2,5; SB, S. 363. 24T ]], 1, 8; SB, S. 299. 25T ]], 2, 5; SB, S. 364 f. — Vgl. auch PM 5; SB, $. 224.
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len, praktischen Nutzen. »Utility« meint vielmehr die Zweckmäßigkeit für das Empfinden der Lust eines jeden Betrachters. Diese subjektive Zweckmäßigkeit ist mithin keine private, sondern eine allgemeine, weil durch das
Prinzip der Sympathie vermittelt. Auch wenn Humes Rede von den »kinds of beauty« und ihre Unterscheidung in die Schönheit der Form und die des Interesses nahelegt, daß es sich dabei um zwei unabhängige Arten der Schönheit handelt, dann zeigt sich an diesen Beispielen, daß beide zusammengehören und Hume die Schönheit gewissermaßen nur von verschiedenen Standpunkten aus betrachtet. Denn gerade an der Architektur wird deutlich, daß in einem Bau-
werk proportionierte äußere Gestalt und Zweckmäßigkeit miteinander verbunden sind: »The order and convenience of a palace are no less essential to its beauty, than its mere figure and appearance.«?* Eine solche perspektivische Betrachtung hatte sich schon bei der Analyse des Selbst gezeigt und sich bei der Untersuchung der indirekten Affekte fortgesetzt: Hatte Hume innerhalb des ersten Buches des Treatise das Selbst als die Einheit der Perzeptionen gleichsam abstrakt als eine Fiktion der Einbildungskraft erklärt, so erwies es sich erst ım Gefühl, nämlıch als Konstituens der Affekte Stolz
und Kleinmut, als eine konkrete Tatsache. Während aber mit dem doppelten Zusammenhang der Vorstellungen und Eindrücke wiederum nur der formale Vorgang, wie die Idee des Selbst durch den Affekt des Stolzes hervorgebracht wird, gleichsam aus der Perspektive des abstrakten Verstandes beschrieben wurde, so wird dieses Selbst erst mit dem Prinzip der Sympathie als konkretes Selbst gedacht, weil es sich erst im Austausch mit den Affekten anderer bestimmt als gesellschaftliches Selbst fühlt. Ebenso wird die Wirkung der Schönheit durch die sich wechselseitig fördernde Beziehung zwischen Ideen und Eindrücken zunächst nur abstrakt als Schönheit der Form erklärt, deren Einheit auf der Assoziation der Einbildungskraft und dem gleichmäßigen Übergang der Affekte beruht.?” In der Schönheit des Interesses wird diese Einheit nun konkret, nämlich als Zweckmäßigkeit aufgefaßt: Die »convenience« meint die Schicklichkeit aller Teile zu einem
gemeinsamen Zweck, und dieser ist als »utility« bezogen auf die »sensible and rational creature« überhaupt, die diese schöne Einheit nun nicht mehr »von außen« abstrakt begreift, sondern über die Sympathie gleichsam »von
innen«, nämlich empfindend, faßt. Erst als »convenience and utility« ist die 24T ]]J, 1, 8; SB, S. 299. 247 Mit ihr erinnert Hume
an Hutchesons Theorie der Schönheit, die er hier wissen-
schaftlich vertieft. Vgl. hierzu P. Kivy: »Hume’s Neighbour’s Wife: An Essay on the Evolution of Hume’s Aesthetics«. In: British Journal of Aesthetics 23 (1983), S. 201.
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Erster Teil - Kunstkritik und Wissenschaft
Schönheit als gesellschaftlicher Wert gedacht: Nicht nur, weil sie, wo sie einem Menschen anhängt, zu den Ursachen der sozialen Affekte Stolz und Liebe gehört, sondern weil sie überhaupt aus dem Prinzip der Sympathie abgeleitet ist. Jede Schönheit des Interesses bietet Anlaß, die Wirksamkeit der Sympathie und darüber sich selbst und die anderen in einem gesellschaftlichen Konnex zu erfahren.’* Die stärkste Wirkung der Schönheit ergibt sich jedoch dort, wo sich das Objekt selbst durch Affekte bewegt zeigt und auf einfache Weise deren Übertragung auf den Betrachter ermöglicht. Schon von daher ist zu erwarten, daß für Hume diejenigen Künste von vornehmlichem Interesse sein müssen, die die Affekte zum eigentlichen Thema haben und sie ästhetisch gestalten, nämlich die Malerei und die Dichtkunst. In der Tat konzentrieren sich Humes ästhetische Untersuchungen auf die Literatur; die Malerei wird nirgendwo ausführlich behandelt, dient aber gelegentlich dazu, die ästhetische Wirkung zu veranschaulichen.?*” Bemerkungen zu anderen Künsten sind spärlich, manche werden gar nicht berücksichtigt. Die persönliche 248 Daraus erhellt zugleich, warum für Hume das Erhabene, die zweite ästhetische Ka-
tegorie neben dem Schönen, nur eine untergeordnete Rolle spielt, obwohl die knappe Analyse, die er im Treatise gibt, nicht ohne Bedeutung für die Diskussion des Erhabenen im 18. Jahrhundert geblieben ist (vgl. Kallıch: »The Associationist Criticism ...«, a.a.O., S. 659). Für Hume beruht das Gefühl der Erhabenheit nicht auf »sympathy« und hat deshalb — wie für das 18. Jahrhundert überhaupt — unmittelbar keine soziale Qualität. Vielmehr ıst Erhabenheit das Resultat eines Einflusses der raum-zeitlichen Beziehung auf die Einbildungskraft: Eine große räumliche bzw. zeitliche Entfernung bewirkt verstärkte Bewunderung und Wertschätzung eines Objekts und verleiht ihm für uns Erhabenheit: »[...] the mere view and contemplation of any greatness, whether successive or extended, enlarges the soul, and [gives] it a sensible delight and pleasure. A wide plain, the ocean, eternity, a succession of several ages; all these are entertaining objects, and excel every thing, however beautiful, which accompanies not its beauty with a suitable greatness.« Die Einbildungskraft assoziiert bei der Vorstellung eines erhabenen Gegenstandes noch diejenige seines großen Alters oder seiner Entfernung dazu, wodurch die durch ihn erzeugte Lust verstärkt wird. Interessant ıst dabei, daß Hume der räumlichen Ausdehnung eine geringere Wirksamkeit als der zeitlichen Entfernung zuschreibt: »Antient busts and inscriptions are more valu’d than Japan tables: And not to mention the Greeks and Romans, ’tis certain we regard with more veneration the old Chaldeans and Egyptians, than the modern Chinese and Persians [...].« (T II, 3, 8; SB, S. 432 f.) Dieses Beispiel zeigt, daß für
Hume das Erhabene weniger ein Moment der schönen Kunst, als vielmehr der Geschichte ist und sich in seiner Darstellung erhabener Charaktere innerhalb seiner eigenen History of England niederschlägt (vgl. hierzu auch D. T. Siebert: »The sentimental sublime ın Hume’s »History of England«. In: The Review of English Studies 40 (1989), S. 352-372). 29 Vgl. »Of Tragedy«. GG III, S. 265. - Vgl. P. Jones: »Hume and the Beginnings of Modern Aesthetics«. In: The >Science of Man« in the Scottish Enlightenment. Hrsg. von P. Jones. Edinburgh 1989, S. 59.
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Vorliebe Humes für die Literatur kam schon im Brief an Arbuthnot zum Ausdruck, doch nach der Untersuchung der ersten beiden Bücher des Treatise läßt sich nun auch eine sachliche Erklärung dafür finden, warum er seine ästhetischen Ausführungen gerade am Paradigma der Literatur entwickelt: Die Dichtkunst präsentiert »all kinds of passion«°”°, ohne dabei an ein äußerlich-sinnliches Material gebunden zu sein. Einbildungskraft und Affekte sind hier zugleich in hohem Maße beschäftigt, und die beiden »propensities« des Geistes, Glaube und Sympathie, operieren wie in keiner anderen Kunst zusammen, besteht doch die Aufgabe der Dichtkunst für Hume darin, »to bring every affection near to us by lıvely ımagery and representation, and make it look like truth and reality: A certain proof, that, wherever that reality ıs found, our minds are disposed to be strongly affected by it.«?!
3. »Tastes and sentiments« Nachdem die beiden ersten Bücher des Treatise die Inhalte des Geistes vollständig beschrieben und die Prinzipien des Verstandes- und Gefühlsvermögens aufgezeigt haben, tritt Hume mit dem dritten Buch »Of Morals« nun in die konkrete Sphäre des »common lıfe« ein: Dienten die Logik und die Affektenlehre dazu, auf das Zentrum aller Wissenschaften »loszumar-
schieren< und die menschliche Natur in ihrer prinzipiellen Ausrichtung auf Geselligkeit zu zeigen, so gehört die Moralphilosophie bereits zu denjenigen Wissenschaften, »which more intimately concern human life«?” und die von dem gewonnenen Standpunkt aus sicher >erobert< werden können. Die Ergebnisse der vorangegangenen Untersuchungen gelangen jetzt zur Anwendung. Damit erreicht die Wissenschaft vom Menschen gewissermaßen eine qualitativ neue Stufe: Die »abstract reasonings« sind beendet, die Erkenntnisse der Moralphilosophie betreffen die wirkliche Welt und sind daher mehr noch als die der abstrakten Wissenschaften dazu angetan, die
»curiosity, or the love of truth«?” zu erregen. Nicht umsonst behandelt Hume diesen »besonderen«?”* Affekt — gleichsam außerhalb seines vorher 50 PM 7; SB, S. 259. 1 PM 5; SB, S. 222 f.
32T Introd.; SB, S. XVI.
253 T II, 3, 10; SB, S. 448. 254 „’Tis an affection of so peculiar a kind, that ’twoud have been impossible to have treated it under any of those heads, which we have examin’d, without danger of obscurity and confusion.« Ebd.
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Erster Teil - Kunstkritik und Wissenschaft
aufgestellten Systems der Leidenschaften — am Schluß seiner Affektenlehre und leitet mit ihm zur Moral über. Die Liebe zur Wahrheit oder die PrııLOSOPHIA ist für Hume dort entzündet, wo die Wahrheit auch einen Nut-
zen oder Wert hat und deshalb von Interesse ist: »The truth we discover must also be of some importance.«?” Daher hat die Humesche Philosophie auch erst mit der Moralphilosophie ihre »true and proper province«?” erreicht, denn, wie Hume gleich zu Beginn festhält, »Morality is a subject that interests us above all others: We fancy the peace of society to be at stake in every decision concerning it [...].«?” Hier hat er bereits das Kriterium des
Werts der Moralphilosophie ausgesprochen: der Frieden in der Gesellschaft. Ist damit auch zunächst nur der besondere Zweck gerade dieser Wissen-
schaft genannt, die dieses Werts wegen ım System der Wissenschaften an oberster Stelle steht, so sind doch auch die übrigen praktischen Wissenschaften, die Hume im Treatise anschließend abzuhandeln gedenkt, in unterschiedlicher Weise darauf bezogen. Ästhetische Kritik und Politik befassen sich ebenfalls mit Bereichen des »human life« und greifen wie die Moralphilosophie den Menschen an seiner gesellschaftlichen Konkretion, als »sociable [...] being«?”° auf.
Auch wenn Hume in einer Anzeige die Unabhängigkeit des dritten Buchs von den beiden vorangegangenen Büchern betont, so zeigt doch dessen erster Teil, daß die Moralphilosophie auf die Untersuchung des Verstandes und die Affektenlehre wie auf zwei Säulen aufbaut:”” Da moralische Unterscheidungen wie alle Tätigkeiten des Geistes auf Perzeptionen beruhen, die beiden Perzeptionsarten »ideas« und »impressions« innerhalb der Logik und Affektenlehre aber bereits untersucht worden sind, bringt die Moralphilosophie kein neues Vermögen in den Blick, sondern stellt die Frage: »Whether ’tis by means of our ideas or impressions we distinguish betwixt vice and virtue, and pronounce an action blameable or praise-wort-
hy ?«?%° Weil auch das Geschmacksurteil nichts anderes als eine Perzeption 35T II, 3, 10; 36 HU 8; SB, 37T III, 1, 1; 358 HU 1; SB,
SB, $. 449. S. 103. SB, S. 455. S. 8.
3° Die Anzeige zum dritten Buch kann als eine captatıo benevolentiae gelten, mit der Hume nach dem Mißerfolg der ersten beiden Bücher versucht, den Verkauf der Fortsetzung zu sichern (vgl. Ardal: Passion and Value ..., a.a.O., S. 4). Keinesfalls ist es jedoch so, daß Moralphilosophie und politische Theorie gesondert betrachtet werden »müssen«, wie Kulenkampff meint, weil »kaum eines ıhrer Argumente gewinnt oder verliert aus dem Zusammenhang mit den ersten beiden Büchern des Traktats.« Kulenkampff: David Hume, a.a.0., $. 93.
26T ]]I, 1,1; SB, S. 456.
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des Geistes ist und Hume von Anfang an »criticiısm« in Analogie zur Moralphilosophie auffaßt, so stellt sich die gleiche Frage auch für die Beurteilung des Schönen. Das belegen nicht zuletzt die zahlreichen Verweise auf die ästhetische Wahrnehmung, die Hume immer wieder zur Unterstützung und Illustration seiner Ausführungen zum moralischen Urteil heranzieht. So trägt das dritte Buch dazu bei, Aufschlüsse über die ästhetische Kritik zu geben, die von Hume ja innerhalb des Treatise nicht mehr geschrieben werden sollte, zumal es in der Beantwortung jener Frage das für beide Urteilsvermögen gleichermaßen bedeutsame Verhältnis von Verstand und Empfindung klären und das ihnen zugrundeliegende Prinzip der Sympathie konkretisieren wird. a) Das Verhältnis von Verstand und Empfindung Die beiden Kapitel des ersten Teils geben bereits an ihren Überschriften Humes deutliche Antwort zu erkennen: »Moral Distinctions not deriv’d from Reason« — »Moral distinctions deriv’d from a moral sense«.?*! Damit greift Hume explizit ein in die zeitgenössische Kontroverse zwischen den Rationalisten wıe Clarke und Wollaston, die in der Tugend eine von den durch
Vernunft
demonstrierbaren
»eternal
fitnesses
and
unfitnesses
of
things«?% sehen, und den Philosophen der Empfindsamkeit, Shaftesbury und Hutcheson, für die die Unterscheidung der Tugend auf einem unmittelbaren »feeling or sentiment«?® beruht und denen sich Hume hier anschließt.?°* Der Terminus »sentiment« oder Empfindung, den er im folgen24T III, 1, 1 und 2. - Zum ersten Teil von »Of Morals« und seinem geschichtlichen Hintergrund vgl. R. D. Broiles: The Moral Philosophy of Davıd Hume. Den Haag 1964. 262 T ]]I, 1, 1; SB, S. 456. 25T III, 1, 2; SB, S. 470.
2% Vgl. Humes Verteidigung seines Treatise in A Letter from a Gentleman to His Friend in Edinburgh: »He (sc. der Autor, nämlich Hume selbst) hath indeed denied the eternal Difference of Right and Wrong in the Sense in which Clark and Woolaston maintained them, viz. That the Propositions of Morality were of the same Nature with the Truths of Mathematicks and the abstract Sciences, the Objects merely of Reason, not the Feelings of our internal Tastes and Sentiments. In this Opinion he concurs with all the antient Moralists, as well as with Mr. Hutchison [...].« (David Hume: A Letter from a Gentleman to His Friend in Edinburgh: containing Some Observations on A Specimen of the Principles concerning RELIGION and MoRALITY, said to be maintain’d in a Book lately publish’d, intituled, A Treatise of Human Nature, &c. Edinburgh 1745, S. 30). — In seiner Enquiry concerning the Principles of Morals, die mit einer ähnlichen Exposition wie das dritte Buch des Treatise beginnt, führt Hume Shaftesbury als Vertreter der »>Sentimentalisten« an. Vgl. PM
1; SB, S. 171.
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Erster Teil - Kunstkritik und Wissenschaft
den für das moralische Gefühl verwendet, aber auch später für die ästhetische Lust gebrauchen wird,?% zeigt an, daß er nun die zweite Art der refle-
xiven Eindrücke in den Blick nimmt, so daß die Moralphilosophie wie die ästhetische Kritik die Affektenlehre gleichsam vollenden. Daß Hume hier die Debatte um die allgemeine Grundlage der Moral zu Beginn des 18. Jahrhunderts so auffaßt, als ginge es von Anfang an um die Frage, ob sie »from Reason, or from Sentiment«?% abzuleiten sei, erscheint
zunächst als eine bloße Unterstellung. Was die Philosophie der Empfindsamkeit betrifft, deren Positionen uns hier allein interessieren sollen,
weil sie die Vorgeschichte des Humeschen Gedankens darstellen, zeigt sich nämlich, daß der Ausgangspunkt Shaftesburys eigentlich der Abstoß von der Religion ist: In seinem ersten Werk, der Inguiry concerning Virtue, or
Merit (1699),?° versucht er, das Verhältnis von Tugend und Religion systematisch zu bestimmen und dabeı zu klären, ob Moral mit einem »Belief
of a DeityY«*°® notwendig verbunden und durch diesen begründet sei. Freilich sei das Problem nicht neu, sondern, wie Shaftesbury selber einräumt,
bereits untersucht worden, wenn auch bisher nur von wenigen.?° Hierbei wird er vor allem Bayle im Blick haben,?”® den er 1698 während seines Aufenthaltes in Holland kennengelernt hatte und ın dessen Pensees diverses Ecrites a un docteur de sorbonne a l’occasion de la comete qui parut au mois de decembre 1680°?”! das Verhältnis von Religion und Moral zentral ist. Bayles kritische Auseinandersetzung mit dem Kometenaberglauben führt ihn nämlich zu der These, daß Gottesgläubige nicht notwendigerweise tugendhafter als Atheisten seien. Daraus, daß ein Atheist religiöse Grundsätze nicht anerkennt, folge nicht notwendig, daß er allen seinen Neigungen nachgibt und lasterhaft ist, wie schon die Erfahrung widerlege. Woher seine tugendhaften Prinzipien stammen und wie eine »id&e d’honnötete«”? unab-
265 Eine Interpretation des Begriffs »sentiment« wird an gegebener Stelle erfolgen. 26 PM
1; SB, S. 170.
267 Von John Toland unautorisiert veröffentlicht und von Shaftesbury gleich darauf zurückgezogen. 268 Shaftesbury: Inquiry I, 1, 1; SE 11.2, S. 29. 29 A,a.O.; SE 11.2, S. 30.
270 Vgl. P. Ziertmann: Einleitung zu Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend. Hrsg. von P. Ziertmann. Leipzig 1905, VI f., und Schrader: Ethik und Anthropologie ..., a.a.O.,
S.1f. 271 Pierre Bayle: Pensees diverses Ecrites A un docteur de sorbonne ä l’occasıon de la comete qui parut au mois de d&cembre 1680. Köln 1682. In: CEuvres diverses. Hrsg. von E. Labrousse. Nachdruck der Ausgabe Den Haag 1727-1731. Hildesheim 1964 ff., Bd. III. 272 Bayle: Pens£es diverses, $ 178, a.a.O., S. 114.
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hängig von der Religion möglich ist, zeigt Bayle an anderer Stelle””” und entwickelt dort, wie die Vernunft diesen Begriff eigenständig aus ihrer Idee eines höchsten, vollkommenen Seins und der Vortrefflichkeit seiner Natur entwickelt, so daß »[...] la Raison, sans la connaissance de Dieu [d.ı. die
Religion], peut quelquesfois persuader & l’homme, qu’il y a des choses honnetes, qu’il est beau & loüable de faire, non pas & cause de l’utilit& qui en revient, mais parce que cela est conforme ä& la Raison.«?”* Damit gehört Bayle noch in den Horizont jener Entwicklungsgeschichte des Rationalismus,?’? die — über Descartes, Spinoza und Leibniz — die Selbstbefreiung der
Vernunft vom Offenbarungsglauben erbringt und sıch ın diesem Prozeß der natürlichen Prinzipien dieser Vernunft inne wird;?’® sie ist somit die Geschichte der natürlichen Vernunft, »par la quelle tous les hommes comprenent la verit& des premiers principes de M&taphysique & de Morale«.?’’ Wenn Shaftesbury also das Baylesche 'Thema in seiner Inguiry noch einmal direkt aufgreift, dann ist für ihn offenbar Bayles Nachweis der Unabhängigkeit der Tugend von der Religion nicht ausreichend. Andererseits scheint das Verhältnis von Moral und Religion für Shaftesbury von eher sekundärem Interesse”? zu sein, aber den Anlaß für eine ihn weitaus be-
wegendere Frage zu liefern, die es seines Erachtens zuerst zu klären gilt, nämlich: »What FHonesty or VIRTUE is, consider’d by it-self [...]«.2”° Mit
dieser Frage, die auf eine grundsätzlich neue Bestimmung der Tugend zielt, zieht Shaftesbury nicht Bayles Nachweis der Unabhängigkeit der Tugend in Zweifel, sondern offenbar nur deren Begründung durch die Vernunft. In diesem Versuch, ein von der Religion und von der Vernunft unabhängiges Prinzip der Moral in der Natur des Menschen aufzuzeigen, beruht die eigentümliche Neuheit von Shaftesburys erstem Werk, mit dem er den Horizont der natürlichen Vernunft verläßt. Dabei entwickelt er in der Inguiry
273 Vgl. hierzu Bayle: Commentaire philosophique sur ces paroles de Jesus-Christ, contrain-les d’entrer (1686/87). In: CEuvres diverses, a.a.O., Bd. II. 27% Pensees diverses, $ 178, a.a.O., S. 114.
75 Wenn auch in der ihm eigentümlichen Skepsis, wie an dem »quelquefois« deutlich wird. 276 Vgl. hierzu ausführlich H. Boeder: Topologie der Metaphysik. Freiburg 1980. C.-A. Scheier: Die Selbstentfaltung der methodischen Reflexion als Prinzip der Neueren Philosophie. Von Descartes zu Hegel. Freiburg, München 1973. F. C. Copleston: A History of Philosophy. Vol. 4: Descartes to Leibniz. London 1958. 277 Bayle: Pens£es diverses, a.a.O., S. 114 f. 78 Er kommt darauf erst am Ende des ersten und im zweiten Buch der Inquiry zu sprechen. 279 Shaftesbury: Inquiry I, 1, 1; SE 11.2, S. 30.
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erstmals eine umfassende Theorie der empfindenden Seele, in deren Mittelpunkt der natürliche »Sense of Order and Proportion« steht, der für eine tugendhafte Balance der selbstischen und sozialen Affekte sorgt. Hutcheson dagegen setzt sich wohl auch mit den Argumenten Clarkes und Wollastons auseinander,?®° doch ist sein eigentlicher Gegner Mandeville,2#! wie er auf dem Titelblatt seines ersten Werks, der Inguiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue (1725) verkündet, in dem er die Prinzipien der Philosophie Shaftesburys gegen Mandevilles Angriff erläutern und verteidigen will.?%? Diese Verteidigung führt zu einer Differenzierung und Weiterentwicklung des Shaftesburyschen Gedankens vom »Sense of Order« bis hin zu einem System of Moral Philosophy.” Mandevilles Moralphilosophie steht im krassen Gegensatz zu Shaftesburys Begründung der Tugend in der Natur:?®* Tugend bestehe in Wirklichkeit gerade ın der Entsagung jeder natürlichen Neigung, die ausschließlich ın der Selbstliebe (Self-love?*’) gründe und auf Selbsterhaltung ausgerichtet sei. Allein Furcht und Sorge um die Erhaltung der eigenen Existenz lassen dem Menschen ein gesellschaftliches Leben überhaupt erstrebenswert erscheinen. Seine Selbstliebe ist aber ein so übermächtiges Prinzip, daß er noch nicht einmal aus sıch selbst heraus veranlaßt wird, sich zu zivilisieren:
Er wird vermittelst der Erziehung durch Politiker und Gesetzgeber, die seine unmittelbaren Bedürfnisse transformieren, zur Sozialisation gleichsam überredet. Dazu ist aber eine bereits ausgebildete Vernunft vonnöten, muß er doch seine »wahren« Interessen beurteilen können, um sich zur Tugend überreden zu lassen und sich so über seine eigentliche Natur selbst zu täuschen. Diese Vernunft ist die ratio naturalis ın ıhrer rechnenden Gestalt, wie sie zuerst bei Hobbes erscheint. Tugend entspringt für Mandeville also
letztlich der Selbstverleugnung (Self-denial?) aus zweckrationalistischen Erwägungen. Sie dient nur einer Regulierung der Selbstliebe, die erhalten
bleibt, ja paradoxerweise sogar gesellschaftstragend ist. Dagegen wendet 28° In der Schrift An Essay on the Nature and Conduct of the Passions and Affections with Illustrations on the Moral Sense (1728). 281 Vgl. Schrader: Ethik und Anthropologie ..., a.a.O., S. 170. 282 Francıs Hutcheson: An Inquiry into the Original of our Ideas of Beauty and Virtue; in Two Treatises. In which The Principles of the late Earl of Shaftesbury are Explain’d and Defended, against the Author of the Fable of the Bees [...]. London 1725. 285 Das erst posthum 1755 erscheint. 28 Vgl. hierzu ausführlich Schrader: Ethik und Anthropologie ..., a.a.O., S. 39 ff. 285 Bernard Mandeville: The Fable of the Bees: or, Private Vices, Publick Benefits. Hrsg. von F. B. Kaye. Oxford 1924. Neudruck New York 1957), II, S. 129. 286 A.a.O., S. 156.
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sich Hutcheson, der gegen die These Mandevilles, der Mensch befinde sich im Zustand der Tugend gleichsam in der Lüge und das Wissen um das Gute sei nicht ursprünglich, sondern Produkt einer geschickten Erziehung, eine Neubegründung und Sicherung des »moral sense« vornimmt, indem er ıhn analog zur sinnlichen Wahrnehmung als Perzeption bestimmt.” Beide, Shaftesbury und Hutcheson, vertreten also gegen eine je unterschiedliche Vernunft die Natürlichkeit der Tugend. Insofern hat Hume recht, wenn er die Kontroverse um die Grundlage der Moral auf die Positionen »reason« versus »sentiment« reduziert und sie damit auf den entscheidenden Punkt bringt. | Anders als Shaftesbury und Hutcheson kann Hume zur Verteidigung seiner Position auf eine systematische Untersuchung der Perzeptionen des Geistes innerhalb einer umfassenden Wissenschaft vom Menschen zurückgreifen. Die Antwort: »Moral Distinctions not deriv’d from Reason«, sondern »from a moral sense« folgt für ihn mit Notwendigkeit aus den Resultaten der Analyse des Verstandes und der Affekte. Ausschlaggebend für die Entscheidung der Frage ist, daß »moral distinctions« nicht bloß zwischen Gut und Böse differenzieren, sondern daß sie
zugleich aktiv Einfluß auf das Handeln nehmen und ein Motiv des Willens abgeben.?®® Die Logik hatte zunächst gezeigt, daß die Verstandestätigkeit einzig darin besteht, die Wahrheit bzw. Falschheit der Beziehung entweder zwischen Vorstellungen oder zwischen einer Vorstellung und einem primären Eindruck zu beurteilen: »Reason is the discovery of truth or falshood. Truth or falshood consists in an agreement or disagreement either to the real relations of ideas, or to real existence and matter of fact.«2°” Die
Affektenlehre bestimmte daraufhin in ihrer Analyse der direkten Affekte den Willen als »the internal impression we feel and are conscious of, when
we knowingly give rise to any new motion of our body, or new perception of our mind«?” und konnte zeigen, daß er immer dann erregt wird, »when either the good or the absence of the evil may be attain’d by any action of
the mind or body«.?”! Gut oder übel sind die Gegenstände aber nur in Beziehung auf die Affekte als Modifikationen von Lust und Unlust. Der
2897 Vgl. Schrader: Ethik und Anthropologie ..., a.a.O., $. 76. 288 „If morality had naturally no influence on human passions and actions, ’twere in vain to take such pains to inculcate it; and nothing wou’d be more fruitless than that multirude of rules and precepts, with which all moralists abound.« T III, 1, 1; SB, S. 457. 29 °T III, 1, 1; SB, S. 458. 0 T ]], 3, 1; SB, S. 399. PUT ]], 3, 9; SB, S. 439.
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Erster Teil - Kunstkritik und Wissenschaft
Wert oder Unwert eines Gegenstandes macht sich weder an einer Relation der Ideen fest, die nach dem Satz des Widerspruchs beurteilt wird, noch ist er eine objektive Eigenschaft eines Gegenstandes, die der Verstand völlig unabhängig von dieser Beziehung auf das fühlende Subjekt konstatieren kann, so daß also nur Affekte die Motive des Willens abgeben können. Daraus kann Hume den Schluß auf die völlige Passıvität des Verstandes ziehen: »[...] reason is perfectly inert, and can never either prevent or produce any action or affection.«?” Andererseits hatte aber schon das erste Buch gezeigt, daß der Verstand durchaus Einfluß auf die Affekte nehmen kann, allerdings nicht als »relations of ideas«, sondern ausschließlich als Tatsachenerkenntnis. Denn nur
das Prinzip des Glaubens, das dieser Verstandestätigkeit zugrunde liegt, verleiht der konzipierten Idee eine solche Lebhaftigkeit, daß sie nicht nur ästhetisches Wohlgefallen bewirken kann, sondern auch Affekte hervorruft, die zu Handlungsmotiven werden.?” Der »empirische< Verstand kann zum einen über die Existenz und die Natur eines Gegenstandes, zum anderen über die Beziehung von Ursache und Wirkung - auch über Umstände informieren, die mit ihm verbunden sind: Er belehrt folglich darüber, ob vom Gegenstand eine Lust oder Unlust zu erwarten ist bzw. welche Mittel angewandt werden müssen, um Lust zu erzeugen oder Unlust zu verhindern,
und nimmt auf diese Weise Einfluß auf die Motive des Willens. Immer ist es jedoch die Lust oder Unlust, die den Impuls zum Handeln gibt. Das Urteil des Verstandes begleitet also lediglich den Affekt und vermag ıhm eine bestimmte Richtung?” zu geben. Humes Urteil über die Passivität des Verstandes ist daher nicht so zu verstehen, daß er überhaupt keinen Einfluß, sondern so, daß er keinen »original influence«”” auf den Willen hat, also nur vermittelst einer Lust oder Unlust das Motiv bestimmen kann: »[...] reason alone can never produce any action, or give rise to volition [...].«?”°
Insofern der Verstand in praktischer Bedeutung immer auf den Affekt angewiesen bleibt, ist die alte Bestimmung der Tugend, die auf der Herrschaft der Vernunft über die blinden Affekte beruhte, aufgehoben:
Die
Rede vom »combat of passion and reason«?” erweist Hume als haltlos, weil
2?2T III, 1,1; SB, 5. 458. ®3 Vgl. T I, 3, 10: »Of the influence of belief«. 24 „[...] S. 414. 5 T ]I, ®6 T ]], 27'T ]1,
the impulse arises not from reason, but is only directed by ıt.« T II, 3, 3; SB, 3, 3; SB, S. 415. 3, 3; SB, S. 414. -— Hervorhebung d. Verf. 3, 3; SB, S. 413.
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prinzipiell gar kein Antagonısmus zwischen Vernunft und Gefühl besteht. Der Maßstab des Verstandes kann nicht für das Gefühl gelten, hatte Hume doch den Affekt als eine »original existence« ohne repräsentative Eigenschaften bestimmt. Affekte können deshalb nicht »unvernünftig< sein, sondern sind immer unmittelbar »richtig«.?”® Treten Verstand und Affekt jedoch in ein praktisches Verhaltnis, d.h. informiert der Verstand über Wirkungen eines Gegenstandes und beeinflußt so die Tendenz der Affekte, dann ist diese Beziehung nicht mehr das alte Herrschaftsverhältnis der Vernunft über das Gefühl, sondern gerade das Umgekehrte ist der Fall: »Reason is, and ought only to be the slave of the passions [...].«?” So ist der Verstand lediglich Instrument, um theoretische Erkenntnis für das Handeln nutzbar zu machen, dem nur die Lust bzw. Unlust als Motiv zugrunde liegt. In solch dienender Funktion ist er aber doch bei der Entstehung eines jeden Motivs und jeder, auch der tugendhaften Tat beteiligt und wirkt somit zuvor auch entscheidend bei der moralischen Urteilsbildung mit.’”® Im Trea28 „All sentiment is right; because sentiment has a reference to nothing beyond itself, and ıs always real, wherever a man is conscious of it. But all determinations of the understanding are not right; because they have a reference to something beyond themselves, to wit, real matter of fact; and are not always conformable to that standard«, wird
Hume später in seinem Essay »Of the Standard of Taste« schreiben. GG III, S. 268. 29T II, 3, 3; SB, $. 415.
0 Daß die Vernunft gewissermaßen dem Gefühl »dient«, ist schon bei Shaftesbury und Hutcheson zu sehen; Hume ist jedoch derjenige, der ihre Stellung systematisch untersucht und nach den Vorgaben, die die Logik ım System der Wissenschaften erbringt, die Notwendigkeit dieses Verhältnisses eigens begründen kann. — Wie Humes Vorgänger die Aufgabe der Vernunft bestimmen, läßt sich paradigmatisch bei Shaftesbury zeigen: Sie besteht darin, den Einfluß falscher, durch Gewohnheit fixierter Meinungen auf das Gemüt zu verhindern, um so die Aktivität des »Sense of Order and Proportion« zu sichern. Diejenige falsche Gewohnheit, die seine Wirksamkeit zutiefst bedroht, ist die zum Aberglauben pervertierte Religion, steigert sie doch die falschen Auffassungen selber zum fanatischen Affekt, in dem die Stimme des Herzens nicht mehr vernommen wird. Dieser
kritische Gebrauch der Vernunft wird näher dahingehend bestimmt, die »corrupt Opinion« durch die Probe des Lächerlichen (Test of Ridicule) (Shaftesbury: A Letter concerning Enthusiasm, 2; SE 1.1, S. 318) auf ihren wirklichen Charakter hin zu überprüfen und zu entlarven. Die Ironie zielt dabei auf das Gemüt des Fanatıkers, denn lächerlich ıst nicht der falsche Inhalt seiner Auffassung, sondern nur die Verblendung, mit der an ihr fest-
gehalten wird, offenbart sich daran doch das Ungeordnete, Unnatürliche seiner Seele. Der »Test of Ridicule« sorgt also für einen »good Humour« (a.a.O.; SE L1, S. 334), eine vorurteilsfreie Stimmung, in der nicht nur erst richtig gedacht werden kann, sondern die auch die Voraussetzung für den wahren Enthusiasmus ist, in dem sich die Seele ıhres »moral sense« als etwas Göttlichem inne wird. — Hutcheson schließt sich insofern an Shaftesbury an, als auch bei ihm die Vernunft dazu dient, die gebührende Wertschätzung der Tugend gegen falsche Auffassungen zu sichern, was ihr hier allerdings nicht durch
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Erster Teil - Kunstkritik und Wissenschaft
tise weist Hume
zwar vorsichtig, aber doch wiederholt darauf hin, daß
Tugend und Laster »not [...] merely by reason, or the comparison of ideas«?°! unterschieden werden, während er in der Enguiry concerning the Principles of Morals deutlich aussprechen wird, daß »[...] reason and sentiment concur in almost all moral determinations and conclusions.«”” Die Tätigkeit des Verstandes beruht dabei nicht darauf, wie Clarke und Wollaston meinen, Tugend und Laster als wahre bzw. falsche Beziehungen zu beurteilen, weil Tugend überhaupt nicht in einer Beziehung von Ideen oder in einer Tatsache besteht, sondern unmittelbar Einfluß auf die Affekte Lust
und Unlust nimmt und somit eine Beziehung auf das Subjekt ausdrückt. Vielmehr besteht die Beteiligung des Verstandes darin, die Zusammenhänge von Ursachen und Wirkungen, bestimmte Mittel oder Konsequenzen — kurz: die Umstände
einer Tat zu bedenken
oder Irrtümer aufzudecken,
wodurch die Tat zwar nicht tugendhafter wird,”” aber ın ihrer Moralität doch effektiver. Es läßt sich schon an dieser Stelle vermuten, daß ein ähn-
liches Zusammengehen von »reason« und »sentiment« auch bei der Beurteilung des Schönen stattfinden wird. Die Ergebnisse der beiden ersten Bücher des Treatise machen unmißverständlich klar, warum moralische Unterscheidungen nicht aufgrund von Vorstellungen gemacht werden können und somit nicht auf dem Verstand beruhen. Da es neben Vorstellungen und Eindrücken keine weiteren Perzeptionsarten gibt, können für die Begründung der Moral notwendiger-
weise nur die »impressions of reflection« in Frage kommen: »Morality, therefore, is more properly felt than judg’d of [...]«.”°* Die Existenz eines »moral sense«, von Shaftesbury enthusiastisch entdeckt und von Hutcheson systematisch dargestellt und verteidigt, kann von Hume im Rahmen seiner »science of human nature« wissenschaftlich abgeleitet werden. Seine Moralphilosophie knüpft damit direkt an diejenige Shaftesburys und insbeson-
dere Hutchesons an. Das wird auch deutlich, wenn er dazu übergeht, die Natur dieser moralischen Eindrücke näher zu bestimmen, und sich dabeı ım
wesentlichen auf seine Vorgänger bezieht.
Spott, sondern durch eine »mathematical Calculation« (Inquiry II, 3; CW I, S. 177) gelingt. >01 T III, 1, 2; SB, S. 470. — Hervorhebung d. Verf. 92 PM 1; SB, S. 172.
93 Weil ihre Sittlichkeit gänzlich vom Motiv abhängt. 3% T III, 1, 2; SB, S. 470. — Gleichzeitig wird deutlich, warum die Untersuchung des Verstandes und der Affekte zusammen als die theoretische Grundlage der Moral, Polıtik und Ästhetik dienen, aber nur die Affektenlehre ihre eigentliche »foundation« abgibt.
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Shaftesbury hatte den »moral sense« als ein Vermögen des sinnlichen und zugleich vernunftbegabten Geschöpfs bestimmt, sich seiner Affekte bewußt zu sein, d.h. die Lust oder Unlust an den äußeren Dingen auch zu reflektieren,’ indem sie selber zum Gegenstand von Affekten, nämlich eines neuen, ganz andersartigen »Liking or Dislike« werden.” Anders als die »primären< Affekte, die gewissermaßen durch die materiale Beschaffenheit äußerer Gegenstände erregt werden, ist der reflektierte Affekt des Gefallens oder Mißfallens aber die innere Wahrnehmung (Apprehension?”) eines Unterschieds der Form, nämlich ob die Affekte auf das allgemeine Interesse hingeordnet sind und dabei eine harmonische Balance zwischen »selfishness« und »natural affection« besteht. Der »reflected Sense« ist somit näher
ein »Sense of Order and Proportion«, der die Güte oder Schlechtigkeit der Affekte ım Sinne ihrer Regularıtät oder Irregularität als angenehm oder unangenehm empfindet. Shaftesbury faßt diesen Sinn weniger als ein »Organ« denn als ein natürliches Vorauswissen”® um das Gute und Schlechte auf, insofern die Natur den menschlichen Geist mit »Characters or Pictures
of Manners«”” gleichsam »geprägt< oder »geschwängert „There is no passion, therefore, capable of controlling the interested affection, but the
very affection itself, by an alteration of its direction. Now thıs alteration must necessarıly take place upon the least reflection [...].« T III, 2, 2; SB, S. 492.
>74 Shaftesbury: Inquiry 1, 2, 3; SE 11.2, S. 68/70. 5° T III, 2, 2; SB, S. 499 f.
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die Affekte der Mitmenschen zu teilen, zur je eigenen Lust. Umgekehrt wird jedes Leid, das ein anderer durch einen Rechtsbruch erfährt, als eigene Unlust mitempfunden. Die Sympathie also läßt mich jeden Verstoß gegen die Rechtsordnung als Verstoß gegen die Gemeinschaft der Menschen und damit als Laster beurteilen, auch wenn mein persönliches Interesse dadurch unmittelbar keinen Schaden nimmt. Damit ist das in der Affektenlehre nur als möglich gedachte Prinzip des Austauschs von Affekten in seiner Wirklichkeit erwiesen. Bemerkenswerterweise erscheint diese moralische Anerkennung der »justice« aufgrund der Sympathie gleichsam als das Ergebnis eines natürlıchen »progress of the sentiments«”® und steht für Hume am Ende des Zivilisierungsprozesses: Wenn die Gemeinschaft zu einer Nation angewachsen ist, rückt das Interesse für das Allgemeinwohl in die Ferne, und die
Verletzungen der Regeln haben dann nicht so spürbar unangenehme Folgen für den Einzelnen wie in einer engen Gemeinschaft.”” Die Natur sorgt nun gewissermaßen für Ersatz für die verblassende Beziehung auf das Allgemeinwohl: Um die Verbindung zwischen den einzelnen Gliedern der großen Gemeinschaft zu festigen, rückt die Sympathie für den Zweck an die Stelle des Bewußtseins um den »common interest«. Erst wenn sich der Begriff des Nutzens so in das Gefühl verinnerlicht hat und zur Tugend wird, ist die Zweckgemeinschaft zur realen Gesellschaft geworden. Damit scheint sich zunächst ein Widerspruch zur Affektenlehre aufzutun, die doch das Wesen des Menschen gerade deswegen als gesellschaftlich bestimmte, weil in ihm die Sympathie als das Prinzip der Affektverursachung überhaupt nachgewiesen werden konnte. Der Affektenlehre aber ging es, wie gesagt, nur um den möglichen Nachweis dieser Operation der Seele überhaupt. In der Realität des gesellschaftlichen Lebens zeigt sich nun, daß die Sympathie erst durch Erfahrungen im Umgang mit anderen
Menschen zur vollen Wirksamkeit gelangt.””® 376 T ]]I, 2, 2; SB, S. 500.
377 Vgl. T III, 2, 2; SB, S. 499. 378 Insofern ist der Gedanke der Auswirkung des sozialen Kontakts auf die »moral sentiments«, entgegen Stremingers Auffassung, im Ansatz auch schon im Treatise zu finden (vgl. G. Streminger: Einleitung zu David Hume, Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral. Hrsg. von G. Streminger. Stuttgart 1984, 21). Dennoch
wird Hume
diesen Gedanken erst in seiner zweiten Enquiry voll entfalten, zumal es ihm hier nicht mehr, wie noch im Treatise, um eine »Anatomie« (vgl. T III, 3, 6; SB, S. 621) des mensch-
lichen Geistes und seiner Prinzipien geht, sondern um eine »gesellschaftlichere« Präsentation seiner Moralphilosophie. Dieser veränderte Standpunkt erklärt auch, warum Hume in diesem späteren Werk weniger von »sympathy« als vielmehr von »humanity or a
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So wird erneut die Parallelität von Glaube und Sympathie als Prinzipien des Verstandes bzw. des Gefühls deutlich:””” Wie der Verstand aus der Erfahrung vieler Einzelfälle im Geist eine Neigung ausbildet, von einer »Ursache: zu der sie gewöhnlich begleitenden »Wirkung« überzugehen, und zum Glauben an die regelmäßige Verbindung beider gelangt, so ist auch die Sympathie eine Neigung des Geistes analog zum Glauben: Innerhalb des konkreten Umgangs in der gesellschaftlichen Welt nımmt der Geist die Gewohnheit an, von der ihm unmittelbar präsenten Idee des Selbst direkt zu der des anderen und seiner Situation überzugehen, die Gefühle anderer »regelmäßig< mitzuteilen und schließlich auf die Gesellschaft zu erweitern.”*° Sympathie in dieser extensiven Bedeutung ist wie der Glaube kein ursprüngliches Prinzip, sondern eine natürliche Eigenschaft der menschlichen Spezies, die sie im praktischen Miteinanderumgehen herausbildet. Beide Prinzipien liegen dem natürlichen Verhalten des Geistes zugrunde, so wie es im konkreten »common life« zur Erscheinung kommt. c) »Moral beauty« und »moral taste« Auf die Parallelität von Moralphilosophie und ästhetischer Kritik hatte Hume bereits in der Einleitung des Treatise hingewiesen. Ein Zusammenhang beider Disziplinen zeigt sich deshalb auch zwischen der Rechtslehre und der Ästhetik: Innerhalb der Affektenlehre hatte Hume den »chief part of beauty«®' als Schicklichkeit aller Teile zu einem Zweck bestimmt, der wiederum auf die Annehmlichkeit des Menschen bezogen war und dem Betrachter qua Sympathie gefällt: »Thus the conveniency of a house, the fertility of a field, the strength of a horse, the capacity, security, and swift-
sailing of a vessel, form the principal beauty of these several objects. Here the object [...] pleases only by its tendency to produce a certain effect. That
fellow-feeling with others« (PM 5; SB, S. 219 Anm.) spricht: Hier hat Hume, anders als
noch im dritten Buch des Treatise, nicht mehr die anfängliche, sondern die bereits kultivierte Gesellschaft zum Gegenstand, in der die »sympathy« das Mechanistische, das ihr im Treatise noch anhaftet, vollständig abgestreift hat. >? Vgl. Kemp Smith: The Philosophy of David Hume, a.a.O., S. 148 f. 380 TJas bedeutet nicht, daß die »sympathy« ein Produkt der Gesellschaft oder eine späte Erscheinung der menschlichen Entwicklung wäre. Die Existenz des Menschen ist für Hume ja ohnehin immer durch eine gewisse Gesellschaftlichkeit bestimmt, auch wenn diese Gesellschaft zunächst nur die Familıe ist. Insofern ist das Prinzip der Sympathie also von Anfang an wirksam, aber eben nicht im umfassenden Sinn auf die Gesellschaft bezogen.
ss T II, 2, 5; SB, S. 364.
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effect is the pleasure or advantage of some other person.«?® Die Rechtsordnung der Gesellschaft, deren Ursprung auf Kunst und Erfindung beruht, erscheint sozusagen selber als ein »Kunstwerk«. Ihre einzelnen Regeln, die nicht aus Vernunft deduziert werden, sondern aus der Erfahrung des Umgangs heraus entstehen, sind auf den einen gemeinsamen Nutzen hin konzipiert, in den sich die Seele sympathetisch einfühlen kann. Noch vor der ästhetischen Kritik wird an der künstlichen Rechtsordnung nicht nur exemplarisch deutlich, wie und woraufhin Regeln »erfunden< werden, sondern
auch, in welcher Weise sie veränderlich sind und wie die Regelmäßigkeit empfindsam beurteilt wird. Die enge Verbindung zwischen Moralphilosophie und ästhetischer Kritik wird aber noch deutlicher, wenn Hume
im Anschluß an die Rechtslehre
den Ursprung der übrigen Tugenden untersucht und dabei einen vollständigen Tugendkatalog entwirft: Hatte sich die Sympathie als das Prinzip der sittlichen Beurteilung der künstlichen Tugenden herausgestellt, so ergibt sich daraus von selbst, daß sie auch das Prinzip aller natürlichen Tugenden ist. Denn diese Tugenden, zu denen Hume unter anderen die Großmut, Milde und Nächstenliebe”? zählt, entspringen einem ursprünglichen Instinkt des Wohlwollens anderen gegenüber und haben bereits deshalb eine direkte Tendenz auf das Wohl der Gemeinschaft.”* Die Annehmlichkeit,
die sie anderen bereiten, weckt ebenfalls über die Mitteilung der Affekte die Zustimmung des Betrachters. Gerade weil sich die Sympathie nun als das Prinzip moralischer Beurteilung überhaupt erweist, kann Hume den Begriff der Tugend ım Vergleich zu seinen Vorgängern entscheidend erweitern: Die Eigenschaften, die keinen Nutzen haben, sondern ihrem Besitzer selbst unmittelbar angenehm sind, wıe z.B. Heiterkeit, sind ebenfalls Tugenden, weil sie über das Prinzip der Sympathie anderen Wohlgefallen bereiten.”®° Ebenso faßt Hume Eigen3822 T' ]]I, 3, 1; SB, S. 576. >83 T I]I, 3, 1; SB, S. 578. 38 Hume nennt sie deswegen auch »social virtues« (T III, 3, 1; SB, S. 578). -— Da er
bereits in der Rechtslehre zeigen konnte, daß die auf das Wohl der Gemeinschaft zielende Tendenz von Eigenschaften der einzige Grund für moralische Billigung durch die Sympathie ıst, kann er nun dieses Prinzip für alle anderen Tugenden annehmen: »And where that principle may take place, and the quality approv’d of ıs really beneficial to society, a true philosopher will never require any other principle to account for the strongest approbation and esteem.«
(T III, 3, 1; SB, S.578). Auch
von dieser Argumentation
her
rechtfertigt sich die Umkehrung der Reihenfolge der untersuchten Tugenden. 385 „Their immediate sensation, to the person possessed of them, ıs agreeable. Others enter into the same humour, and catch the sentiment, by a contagion or natural sympathy [...].« PM 7; SB, S. 250 f.
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schaften, die anderen unmittelbar angenehm sind, wie Witz, Höflichkeit
oder andere Talente,?®® unter den Begriff der Tugend, weil auch hier die Vorstellung ihrer angenehmen Wirkung auf die Gesellschaft ein Gefühl der Zustimmung entstehen läßt.””” Tugend ist damit überhaupt definiert als der Besitz von Eigenschaften, die sich unmittelbar über den Nutzen oder mittelbar, indem sie der Sympathie entsprechen, auf die Gesellschaft beziehen. Alle vier »Tugendklassen< umfassen die Eigenschaften, »which [...] render a man a proper member of society«.”® Die Gesellschaft allein setzt somit den Maßstab dafür, was lobens- und was tadelnswert ist. Ziel der Tugend ist es,
allgemein »pleasure« zu erzeugen und damit noch über den politischen Frieden hinaus, den die Rechtsordnung stiftet, das Glück der Menschen zu fördern. Von daher wird Humes Rede von »moral beauty« in Analogie zur »natural beauty«°° verständlich: Besteht das Wesen der Schönheit zuhöchst im Zusammenstimmen aller Teile zu einem Zweck, so ist auch der Charak-
ter, in dem alle Eigenschaften auf dieses eine Ziel der Gesellschaft hin konvenieren, nicht anders als schön zu nennen.”” Gleichzeitig wird erneut deutlich, daß die »schöne Seele< bei Hume ihr Prinzip eben nicht mehr, wie bei Shaftesbury zu sehen ist, in der ursprünglichen Natur hat und deren harmonische Ordnung widerspiegelt, sondern den Maßstab ihrer Ordnung in der gesellschaftlichen Welt findet. Schon jetzt zeigt sich, daß »sympathy« somit nicht nur das Prinzip der moralischen, sondern immer auch der ästhetischen Empfindung ist und damit als das Analogon zum »moral sense« bzw. »sense of beauty« bei Shaftesbury und Hutcheson auftritt. Nur so kann Hume zu Beginn der Affektenlehre die Klasse der »tastes and sentiments« zusammenfassend den »# Im vierten Anhang zur Enquiry concerning the Principles of Morals rechtfertigt Hume eigens diese erweiterte Tugendauffassung. PM App. IV; SB, S. 312 ff. 97 „We approve of another, because of his wit, politeness, modesty, decency, or any
agreeable quality which he possesses; although he be not of our acquaintance, nor has ever given us any entertainment, by means of these accomplishments. The idea, which we form of their effect on his acquaintance, has an agreeable influence on our imagination, and gives us the sentiment of approbation.« PM 8; SB, S. 267. 388 T' ]]], 3, 1; SB, S. 578. 39T II, 1, 8; SB, S. 300.
3% Umfaßt der »Tugendkatalog« alle Merkmale des Charakters, die moralische Zustimmung erregen, so kann in Analogie zu ihm nun auch ein Merkmalskatalog des Schönen erstellt werden: Wie schon die Affektenlehre andeutete, wird ästhetisches Wohlgefallen dann erzeugt, wenn der Gegenstand »Eigenschaften« aufweist, die entweder nützlich oder angenehm für das Objekt selbst oder für seine Betrachter sind. Vgl. W. H. Halberstadt: »A Problem in Hume’s Aesthetics«. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 30 (1971), S. 209-214.
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»sense of beauty and deformity in action, composition, and external ob-
jects«””! nennen oder die moralische Empfindung umgekehrt als einen »moral taste”? auffassen. Über dieses gemeinsame Prinzip, das beiden Lustund Unlustgefühlen zugrunde liegt, erscheinen Moral und Ästhetik miteinander verknüpft.” Doch mit der Mitteilung von Affekten ist bisher nur das Prinzip der Verursachung moralischer wie ästhetischer Empfindungen gefunden. Hume muß noch eigens ihren verbindlichen Urteilscharakter rechtfertigen und zeigen, daß die sympathetisch erzeugten Empfindungen auch allgemein und universal sein können. Dies erscheint um so notwendiger, als das Mitempfinden zunächst auf Bedingungen beruht, die es für die Begründung eines Empfindungsurteils eher ungeeignet erscheinen lassen: Denn in der Affektenlehre wurde die Sympathie als das Prinzip der Verursachung eines Affekts aus einem gegenwärtig beobachteten Affekt eines anderen Menschen bestimmt. Aber schon hier konnte Hume zeigen, daß sie als »extensive sympathy«°” auch ohne einzelne Erfahrungen die Situationen und Gefühle anderer überhaupt vermittelt” und somit Ausdruck des Interesses an den Mitmenschen schlechthin ist. Nur deshalb ist es möglich, daß sie bei zunehmender Zivilisierung den »sense of common interest« ersetzt und sich auf die Gesellschaft ausdehnen kann. Ä Dennoch bleibt der Mechanismus der Affektübertragung bei aller Regelmäßigkeit Beeinflussungen ausgesetzt, die zu Veränderungen der moraliıschen Empfindungen führen können. Zu diesen Faktoren zählt zum einen der Vergleich (comparison’”), der nicht nur auf ein theoretisches Urteil einwirkt, sondern auch einen Affekt verstärken oder vermindern, ja sogar in
seinem Charakter verändern kann:”” So kann der Anblick des Leidens eines ®1T II, 1, 1; SB, S. 276. 392 'T' ]]I, 2, 8; SB, S. 547 Anm.
9 Vgl. auch Bachmann-Medick: Die ästhetische Ordnung ..., a.a.O., S. 255. > T ]], 2, 9; SB, S. 386.
395 „[...] ’tis evident, that, in considering the future possible or probable condition of any person, we may enter into it with so vivid a conception as to make it our own concern
(«TIL 2, 9; SB, S. 386. »% T ]], 2, 8; SB, S. 372.
397 Die Dimensionen eines Gegenstandes können uns einmal als klein, ein andermal als riesig erscheinen, je nachdem, in welchem Verhältnis er zu einem anderen Gegenstand steht. Hume sieht den Grund für eine derartig veränderliche Perzeption darin, daß jedes Objekt von einem seiner Größe entsprechenden Gefühl begleitet ıst, dessen Wirkung sich durch den Vergleich verändert: Folgt ein starkes Gefühl auf ein schwaches, so wird es dadurch stärker und übersteigt sein gewöhnliches Maß. Was für die Ausdehnung eines Objektes gilt, trifft auch für Tugend, Schönheit, Besitz, Glück und anderes zu, deren
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anderen durchaus auch Schadenfreude verursachen, wenn der Betrachter
dabei seine eigene Situation im Vergleich zu der des Leidenden als glücklicher empfindet; umgekehrt wird das Glück eines anderen nicht immer geteilt, sondern ruft gelegentlich Neid hervor, sobald ich mich selbst in einer ungünstigeren Position weiß. Das Vergleichen operiert also »directly contrary to sympathy«”” und vermag deshalb, ein desinteressiertes und allgemeingültiges moralisches Urteil zu verhindern. Ein anderer Faktor ist der Einfluß von Nähe und Ferne (contiguity, and
distance””’): Während die nahen Gegenstände kraft der engen Beziehung zu uns selbst den Affekt, den sie hervorrufen, noch verstärken, wırken die
fernen Gegenstände weniger lebhaft auf unsere Gefühle.“ Das Mitempfinden paßt sich in der Tat dieser jeweiligen Distanz an: Das Leid, das unsere engsten Freunde durch Unrecht erfahren, berührt uns heftiger als dasjenige, das ein geknechtetes Volk in weiter Ferne erdulden muß. Die Sympathie scheint somit noch nicht wie der »internal sense« bei Shaftesbury eine gleichmäßige und allgemeine Beurteilung der Tugend und damit auch des Schönen gewährleisten zu können. Diese Modifikationen der Affekte, die durch die Beeinflussung der Sympathie tatsächlich auftreten, bleiben jedoch ohne Folgen für unser moralisches Urteil: »In order [...] to prevent those continual contradictions, and
arrıve at a more stable judgment of things, we fix on some steady and general points of view; and always, in our thoughts, place ourselves in them, whatever may be our present situation.«° In ähnlicher Weise wie der Verstand auf die schädliche Tendenz des Eigeninteresses reflektiert und es auf das entferntere Allgemeininteresse ausrichten kann, reflektiert er hier auf den jeweiligen Affektzustand und die Position des Urteilenden, d.h. er macht diesem seinen Privatstandpunkt als solchen überhaupt bewußt und läßt ıhn sich davon distanzieren — »reason and sentiment concur in almost all moral determinations and conclusions«*”, wie Hume von Anfang an festgehalten hatte. Diese Verstandestätigkeit ist nun aber nicht mehr auf die Opposition der unmittelbaren Affekte bezogen und mit einer Kalkulation
des Nutzens verbunden. Vielmehr richtet sie sich auf den Mechanismus der
Wahrnehmung und Bewertung sich je nach Vergleich verändern kann. Vgl. T II, 2, 8; SB,
S. 373 ff.
38 T III, 3, 2, SB, S. 593.
39T II, 3, 7; SB, S. 427. +0 T ]], 3, 7; SB, S. 428 f. #1 T III, 1, 1; SB, S. 581 £. #2 PM 1; SB, S. 172.
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Sympathie selbst, der bereits an die Stelle des »sense of common interest«
getreten war und gleichsam dessen Verinnerlichung darstellte. Urteilen wir moralisch, dann nehmen wir stets diesen im Prozeß der Kultivierung gewonnenen, allgemeinen Standpunkt der Gesellschaft, der Menschheit überhaupt ein: Gegen die eigene subjektive Parteilichkeit empfinden wir uns im Moment des Urteilens als Teil der »party of humankind against vice or disorder, its common enemy«.'® Die Reflexion auf die Sympathie ist deshalb auch nicht mehr Verstandestätigkeit im eigentlichen Sinne, sondern »a general calm determination of the.passions, founded on some distant view or reflexion«.*”* Sie ist die Unterscheidung des unmittelbaren Affekts (pas-
sion) von sich selbst zu einer urteilenden Empfindung (sentiment).*” Entscheidend ist jedoch, daß die Reflexion auf das unmittelbare Gefühl nicht bloß ım urteilenden Subjekt je für sıch stattfindet, sondern selber wiederum als ein Austausch innerhalb des alltäglichen Umgangs mit anderen Menschen erscheint: »When we form our judgments of persons [...] we find so many contradictions to our sentiments in society and conversation, and such an uncertainty from the incessant changes of our situation, that we seek some other standard of merit and demerit, which may not admit of so
great variation. Being thus loosen’d from our first station, we cannot afterwards fix ourselves so commodiously by any means as by a sympathy with those, who have any commerce with the person we consider.«*% Denn der unmittelbaren Mitteilung der Affekte qua Sympathie folgt sofort ihre sprachliche Kommunikation innerhalb der gesellschaftlichen Konversation: Was wır angesichts eines bestimmten Charakters oder einer Tat subjektiv fühlen, bringen wir zum Ausdruck. Gleichzeitig hören wir von den Gefühlen und Meinungen anderer, erhalten neue Informationen über Umstände und Zusammenhänge seiner Tat und korrigieren daraufhin, wenn nötig, unseren ersten subjektiven Eindruck, um so schließlich den Standpunkt der
Allgemeinheit zu erreichen. Dieser Standpunkt manifestiert sich in den sprachlichen Wendungen, mit denen moralische Urteile formuliert werden: Wenn wir eine Person als »wohlwollend« oder »gerecht« bezeichnen, dann ist in diesen Begriffen der individuelle Grad der Lebhaftigkeit des moralischen
13 PM 9; SB, S. 275. #9 T III, 3, 1; SB, S. 583.
405 Die Interesselosigkeit des Zustandes, den diese Unterscheidung bewirkt, kennzeichnet auch die ästhetische Kontemplation: Die Schönheit einer feindlichen Festung könne durchaus bewundert werden, obwohl wir uns gleichzeitig wünschen, sie zu zerstören. Vgl. T III, 3, 1; SB, S. 586 f.
*T III, 3, 1; SB, S. 583.
Das wissenschaftliche Fundament der ästhetischen Kritik
99
Gefühls bereits gänzlich zum Verschwinden gebracht. Die Prädikate des moralischen Urteils bedeuten für die gesamte Sprachgemeinschaft dasselbe, nämlich allgemeine Achtung. Nur deshalb können wir uns mit anderen über Tugend verständigen.?” Die Sympathie wurde schon in der Affektenlehre mit dem Sich-Spiegeln im anderen verglichen: »[...] the minds of men are mirrors to one another,
not only because they reflect each others emotions, but also because those rays of passions, sentiments and opinions may be often reverberated, and may decay away by insensible degrees.«*° Doch erst jetzt, in der konkreten Sphäre des gesellschaftlichen Lebens, gewinnt dieses Bild seine eigentliche Klarheit: Reflexion des eigenen Standpunktes meint hier nichts anderes als das Sich-Spiegeln der Gesinnungen in der gesellschaftlichen Konversation, die sich so lange fortsetzt, bis sich das unmittelbare, private Gefühl zu einer ruhigen und d.h. allgemeinen Empfindung geläutert hat: »This constant habit of surveying ourselves, as it were, in reflection, keeps alıve all the sentiments of right and wrong [...].«Moral« - nicht bloß einfach thematisiert, sondern zugleich lebendig vorgeführt, so daß dem Leser, ähnlich wie im Theater, die Erkenntnis über eine Identifizierung
mit den Figuren möglich ist. Denn in den Charakteren und ihren Leidenschaften wird das Allgemeine in der Gestalt eines sinnlichen Individuums vorgestellt und der Leser so auf die eigenen »Bilder«, auf die »connatural Ideas« in seinem Inneren verwiesen: »We might here, therefore, as ın a Looking-Glaß, discover our-selves, and see our minutest Features nıcely delineated, and suted to our own Apprehension and Cognizance. No one who was ever so little a while an Inspector, cou’d fail of becoming acquainted with his own Heart [...].« (Soliloquy I, 3; SE 11, S. 94). Durch diese Spiegelung an den poetischen Charakteren wird sich der Leser der Aktivität seines eigenen »reflected Sense« inne, die Erkenntnis der Tugend also poetisch, nämlich gerade so wie im Drama über die Sinnlichkeit und die Leidenschaften des Lesers bzw. Zuschauers unmittelbar hervorgebracht. Von dieser ersten Unmittelbarkeit sowohl der Entdeckung als auch der Darstellung des »internal sense« hat sich schon Hutcheson entfernt; bei Hume ist sie vollends in die wissenschaft-
liche (bzw. später gesellschaftliche) Reflexion aufgehoben.
Von der Systematik der menschlichen Natur zur Essayistik
107
kung« Shaftesburys geht, so gehört es doch auch zu seiner Absicht, seinen Schriften »a certain Warmth in the Cause of Virtue«!! zu verleihen und dadurch seine Leser für die Tugend einzunehmen.'? Gerade gegen den mit der moralistischen Absicht verbundenen poetischrhetorischen Ton ın der Philosophie der Empfindsamkeit wendet sich Hume in der Einleitung des Treatise, da er dazu beitrage, die mangelnde Gewißheit in den philosophischen Wissenschaften zu verdecken,'” die nur durch die nüchterne empirisch-exakte Beobachtung der Prinzipien der menschlichen Natur behoben werden könne. Denn mag auch die Moralistik wie die Malerei die schöne Gestalt der Seele in anmutiger oder erhabener
Bewegung zeigen, eine wahrhaftige, überzeugende Darstellung ist ihr letztlich nur dann möglich, wenn sie wie diese eine genaue Kenntnis der ihr voraufgehenden »anatomischen< Wissenschaft besitzt: »An anatomist, however, is admirably fitted to give advice to a painter; and ’tis even impracticable to excel ın the latter art, without the assıstance of the former. We must have an exact knowledge of the parts, their situation and connexion, before
we can design with any elegance or correctness. And thus the most abstract speculations concerning human nature, however cold and unentertaining, become subservient to practical morality; and may render this latter science more correct in its precepts, and more persuasive in its exhortations.«!* Erst
die abstrakte Wissenschaft gibt also der eingängigen Moralistik ihr theoretisches Fundament, das notwendige Wissen darum, wie die angestrebten Wirkungen auf die Gefühle erreicht werden können, und damit überhaupt die Möglichkeit eines praktischen Einflusses.'? Daß Hutcheson eın solches Bestreben hat und gerade diese Wärme an Humes Moralphilosophie vermißt, geht aus einem Brief Humes an Hutcheson hervor: »What affected me most in your Remarks is your observing, that there wants a certain Warmth in the Cause of Virtue, which, you think, all good Men wou’d
relish, & cou’d not displease
amidst abstract Enquirys.« L 1, S. 32. 12 Vgl. Schrader: Ethik und Anthropologie ..., a.a.O., S. 125. „Disputes are multiplied, as if every thing was uncertain; and these disputes are managed with the greatest warmth, as ıf every thing was certain. Amidst all thıs bustle ’tis not reason, which carries the prize, but eloquence [...].« T Introd.; SB, S. XIV. - Die
Kritik am Enthusiasmus als einer Quelle des Irrtums mag eine Folge von Humes eigenen »higher Flights of Genius« (L I, 15) sein, die ıhn, wie im Brief an Arbuthnot beschrieben, in eine tiefe Krise gestürzt hatten, aus der herauszukommen ihm letztlich der Entschluß verhalf, eine empirische Wissenschaft vom Menschen zu begründen. Vgl. Brandt: »The Beginnings of Hume’s Philosophy,« a.a.O., S. 118 f. “T III, 3, 6; SB, S. 621.
15 Auch im einleitenden Abschnitt der Enquiry concerning Human Understanding wird er mit derselben Metapher auf den Primat jenes abstrakt-wissenschaftlichen Vorgehens vor dem populärwissenschaftlichen verweisen. HU 1; SB, S. 9 f.
108
Erster Teil - Kunstkritik und Wissenschaft
Mit dem nüchternen »Sezieren« des Geistes innerhalb der Wissenschaft vom Menschen ist freilich eine Tiefe und Kompliziertheit ihrer Argumentation verbunden, die eine gewisse Unverständlichkeit ın der Darstellung zur Folge hat. Hume nimmt diese Dunkelheit durchaus ın Kauf, hängt sie doch mit der Schwierigkeit der Sache selbst, nämlich mit der Verborgenheit der Prinzipien zusammen: »[...] if truth be at all within the reach of human capacity, ’tis certain it must lie very deep and abstruse [...].«!° Eine einfache und einleuchtende Darstellungsweise verträgt sich nicht mit dieser Abstraktheit des Gegenstandes.' Jeder Anspruch, auf diesem Gebiet »easy and obvious«'? sein zu wollen, wäre von vornherein verfehlt, denn er ginge auf Kosten der Exaktheit der Methode und damit auf Kosten der Wahrheit. Um dieser wissenschaftlich-exakten Fundierung willen, die Hume im Treatise anstrebt, muß er sich
entschieden von allen zeitgenössischen Bemühungen um Popularität absetzen, eine Haltung, die er ın dieser Zeit auch in einem Brief gegenüber Hutcheson vertritt, wobei er noch einmal auf die Metapher der Anatomie und der Malerei zurückgreift: »There are different ways of examining the Mind as well as the Body. One may consider it either as an Anatomist or as a Painter; either to discover its most secret Springs & Principles or to describe the Grace & Beauty of ıts Actions. I imagine it impossible to conjoin these two Views.«!? Allerdings deutet sich in diesem Brief bereits eine Wende an. Einerseits hebt Hume zwar noch auf das geradezu disjunktive Verhältnis von Wissenschaft und Moralistik ab - »Any warm Sentiment of Morals, I am afraid,
wou’d have the Air of Declamation amidst abstract Reasonings, & wou’d be esteem’d contrary to good Taste«?? —, andererseits kündigt er aber gleich darauf eine Änderung seiner Darstellungsweise an: »And tho’ Iam much more ambitious of being esteem’d a Friend to Virtue, than a Writer of Taste; yet I must always carry the latter in my Eye, otherwise I must despair of ever being servicable to Virtue. I hope these Reasons will satisfy you; tho at the same time, I intend to make a new TIryal, if it be possible to make the Moralist
& Metaphysician agree a little better.Enquiry«. In: Tradition und Innovation. XII. Deutscher Kongreß für Philosophie. Hrsg. von W. Kluxen. Hamburg 1988, S. 170). Die skeptische » Aufzehrung« (Lüthe, a.a.O., S. 171), der unendliche Regreß in der Beurteilung unserer Urteile, führt schließlich zu der »total extinction of belief and evidence« (T I, 4, 1; SB, S. 183), die
Hume bereits im 1. und 2. Abschnitt des vierten Teils erörtert hat und hier noch einmal dramatisch in Szene setzt. “'T],4, 7; SB, S. 269.
#5T ],4,1; SB, S. 183. * Vgl. Lüthe: »Skeptisches Paradoxon ...«, a.a.O., S. 172. ”'T],4, 7, SB, S. 269.
116
Erster Teil - Kunstkritik und Wissenschaft
theoretische Lösung seines skeptischen Zweifels ergäbe; diese Möglichkeit wurde ja bereits ausgeschlossen. Die Beruhigung wird zunächst nur durch
eine therapeutische Lösung erreicht, indem das Gemüt durch »amusement«* von seiner Melancholie geheilt wird. Die unmittelbare Erfahrung der Gesellschaft von Menschen eröffnet Hume jedoch allmählich einen neuen Blick auf die menschliche Natur als Sache seines Denkens: Im »common life« erweist sich der radıkale Zweifel zunächst selbst als dogmatisch, denn de facto wird gehandelt, geredet, geurteilt, ohne daß der theoretische Mangel des Verstandes als problematisch empfunden wird. Die Natur läßt den Menschen ganz sorglos und instinktiv mit der Welt umgehen und nötigt schließlich auch den Philosophen »to live, and talk, and act like other people in the common affairs of life«.*” Wie andere auch empfindet er eine natürliche Neigung zu einem sozialen, aktiven Leben und geht mit den Dingen um, ohne theoretisch nach ihrer wahren Existenz zu fragen. Innerhalb der Gesellschaft erfährt Hume also die Natur des Menschen als primär gesellschaftlich-praktisch bestimmt. Gegenüber dieser Neigung des Geistes zu einem »indolent belief«”°, zu einem naiven Glauben an die eigenen Urteile, erscheint der skeptische Zweifel des Verstandes als vollkommen un-
natürlich, weil in seiner Wirkung unangenehm und für das aktive gesellschaftliche Leben darüber hinaus nutzlos. Unnatürlich und in seiner Destruktivität sogar gefährlich, weil das Gemüt des Menschen paralysierend, ist er jedoch nur als zweifelnder Verstand, der losgelöst von der konkreten, sinnlichen Erfahrung des gewöhnlichen Lebens operiert: »[...] the understanding, when it acts alone, and according to its most general principles, entirely subverts itself, and leaves not the lowest degree of evidence in any proposition [...].«”' Erst vor dem Hintergrund dieser möglichen Bedrohung der gesellschaftlich-praktischen Bestimmung des Menschen durch den sich selbst überlassenen Verstand läßt sich erklären, warum Hume ıhn in der Affektenlehre nicht nur einfach als Instrument der Affekte beschreibt,
sondern sogar in aller Schärfe seine Unterwerfung unter die Natur fordern wird: »Reason is, and ought only to be the slave of the passions [...].«”* Humes Wende zum »Naturalismus«” eröffnet ihm also einen Weg aus der Aporie, in die der Treatise geraten ist: Die Wirkung der Gesellschaft auf 8 Ebd. Ebd. » Ebd.
st T 1,4, 7, SB, S. 267. 32T II, 3, 3; SB, S. 415.
53 Vgl. N. Kemp Smith: »The Naturalism of Hume«. In: Mind 14 (1905), S. 149-173 und S. 335-347.
Von der Systematik der menschlichen Natur zur Essayıstik
117
das Gemüt des Philosophen, seine Rückkehr zu einer »serious good humour’d disposition«”* ermöglicht zugleich die Rückkehr zur Philosophie, hat ihn doch die Selbsterfahrung als handelndes, redendes, denkendes Wesen im Horizont der Gesellschaft auf dasjenige Prinzip der menschlichen Natur gebracht, das mächtiger ıst als der Verstand: auf die natürliche Ne:gung des Gemüts zum Urteilen, aber auch zum Handeln.”” Diese Natur steht nun ım Mittelpunkt einer Philosophie, die fortan die Bedeutung des Verstandes überhaupt und damit auch diejenige des alten rationalen Gewißheitspostulats gering einstuft:”° »Where reason is lively, and mixes itself with some propensity, it ought to be assented to. Where it does not, it never can have any title to operate upon us.«” In dieser Beschränkung ist der Verstand nurmehr scommon sense, also gesunder Menschenverstand, der
seine Rückbeziehung auf die Natur bzw. die deutlichen Eindrücke des »common life« nicht verliert. Auf diese Weise wird. die radıkale Skepsis zu einer kritischen Haltung gemäßigt,” die bereits den Boden für ein neues philosophisches Programm bereitet. Doch die Einsicht in die eigentliche Aufgabe seiner Philosophie kommt Hume nur durch die Erfahrung der Geselligkeit, nicht innerhalb der Gesellschaft selbst, die ja nur eine Zerstreuung des radikalen Zweifels bewirkte, indem sie ıhm das indolente, naive Bewußtsein vergegenwärtigte. Für
diese Besinnung muß sich der Philosoph aus der Menge erneut in die Einsamkeit zurückziehen: »At the time, therefore, that I am tır’d with amu-
sement and company, and have ındulg’d a reverie in my chamber, or in a solitary walk by a river-side, I feel my mind all collected within itself [...].«°° Dieser Rückzug in die Einsamkeit ist jedoch keine Rückkehr in die ursprüngliche Einsamkeit des abstrakten Verstandes und der theoretischen Anatomie. Schon das Hinzutreten der freien Natur als Korrelat der Seele zeigt an, daß die Einsamkeit hier eine andere ist, weil Hume einen Weg
”*'T ],4,7; SB, S. 270.
> Zuvor bestimmt als der Glaube. >° Vgl. Lüthe: »Skeptisches Paradoxon ...«, a.a.O., S. 173. ” T 1,4, 7, SB, S. 270.
5® So wird der Verstand zwar erst im ersten Enquiry bestimmt werden (vgl. Lüthe: »Skeptisches Paradoxon ...«, a.a.O., S. 176), diese Bestimmung ist aber ihrem sachlichen »Keim« nach bereits im Schlußkapitel des ersten Buchs des Treatise da. 5° Hume nennt diese Haltung in der ersten Enquiry »[...] mitigated scepticism or academical philosophy, which may be both durable and useful, and which may, in part, be the result of this Pyrrhonism, or excessive scepticism, when its undistinguished doubits are, in some measure, corrected by common sense and reflection.« HU
60T 1,4, 7; SB, S. 270.
12; SB, S. 161.
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Erster Teil - Kunstkritik und Wissenschaft
vollendet hat, der ihn zur Erkenntnis der primär gesellschaftlichen Bestimmung des Menschen führte. Der Bekenntnischarakter dieser Einsicht, der hohe Ton des Enthusiasmus, die Heilung von der Melancholie, die Rück-
kehr zu einer »serious good-humour’d disposition« und schließlich der »solitary walk by a river-side« zeigen an, daß die Humesche Philosophie — über Shaftesbury und seinen Nachfolger Hutcheson hinausgehend — ım gesellschaftlichen Wesen die eigentliche Natur des Menschen begreift und sich in dieser Überwindung der Krise zugleich ihres empfindsamen Ursprungs innegeworden ist.°! Freilich bedeutet die deutliche Reminiszenz an Shaftesbury nicht, daß Hume in die Moralistik zurückfallen wird, sondern lediglich, daß seine Philosophie einem empfindsamen Impetus entspringt, die ihm nun eine neue Perspektive auf seine Sache eröffnet: »I cannot forbear having a curiosity to be acquainted with the principles of moral good and evil, the nature and foundation of government, and the cause of those several passions and inclinations, which actuate and govern me. I am uneasy to think I approve of one object, and disapprove of another; call one thing beautiful, and another deform’d; decide concerning truth and falsehood,
reason and folly, without knowing upon what principles I proceed. I am concern’d for the condition of the learned world, which lies under such
a deplorable ignorance in all these particulars. I feel an ambition to arise in me of contributing to the instruction of mankind, and of acquiring a name by my inventions and discoveries. These sentiments spring up naturally in my present disposition; and shou’d I endeavour to banish them, by attachıng myself to any other business or diversion, I feel I shou’d be a loser ın point of pleasure; and this is the origin of my philosophy.«°2 An diesem erneuten Bekenntnis wırd deutlich, daß nıcht nur der radıkale Zweifel durch die natürliche »curiosity« überwunden, sondern daß die Wißbegierde selber durch die Reflexion auf die Erfahrung in der Gesellschaft >»korrigiert< worden ist, hängt sie doch nun nicht mehr unbeantwortbaren metaphysischen Fragen hinterher, sondern ist ausschließlich von der
natürlichen Neigung zu den Gegenständen bewegt, die von gesellschaftlichem Interesse und Nutzen sind: Der Philosoph fühlt nur noch Verlangen nach der Kenntnis der Bereiche des »common life«, der Moral, der Politik,
der ästhetischen Kritik sowie der Tatsachenerkenntnis, und zwar genauer 6! Nur so ist überhaupt zu verstehen, warum Hume die Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus und seine Überwindung noch einmal »poetisch« gestaltet, denn eine ausführliche inhaltliche Kritik erfolgte ja bereits im 1. und 2. Abschnitt des vierten Teils. 62'T 1,4, 7, SB, S. 270 f.
Von der Systematik der menschlichen Natur zur Essayistik
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nach den Prinzipien der Urteile und Unterscheidungen des gesellschaftlichen Menschen, in denen sich die Natur des Menschen überhaupt manifestiert. Diese beruhigte und sich selbst beschränkende Wißbegierde begründet ein Philosophieren in »[a] careless manner«*°, das sich in Anlehnung an das alltägliche indolente Verhalten vom radıkalen Zweifel nicht überwältigen läßt, gleichzeitig aber seine kritische Position allen Auffassungen gegenüber bewahrt. Damit ist der Kreis zum Ausgangspunkt des Treatise geschlossen. Die Option der Einleitung des Treatise bleibt ım Schlußkapitel des ersten Buches bestehen; nach wıe vor hält Hume daran fest: »Human Nature ıs the
only science of man [...].«°* Aber die Untersuchung des Verstandes und die darauf folgende Krise seiner Philosophie hat ihn erst mit dem eigentümlich empfindsamen Charakter dieser Natur bekanntgemacht, so daß sich daran auch eine Revision des wissenschaftlichen Programms anschließen müßte. Dennoch bleibt der Treatise in den folgenden Büchern eine abstrakte Anatomie des menschlichen Geistes und verwandelt sich nicht etwa in Popularphilosophie. Zusammenfassend kommt dem Schlußkapitel des ersten Buchs innerhalb des Treatise also keine programmatische, wohl aber eine entscheidende kompositorische Bedeutung zu: Nicht zufällig schließt sich der »Schiffbruch« des Verstandes direkt an den Abschnitt »Of personal Identity« an, in dem Hume die theoretische Auflösung des substantiellen Selbst vorgeführt hatte. Dort stand das Bild des Schiffs für die Identitätsvorstellung, die wir im Blick auf den Zweck eines Gegenstandes gewinnen. Der Schiffbruch steht somit nicht nur für die Begrenztheit des Verstandes als Instrument exakter Wissenschaft, sondern auch für den Verlust des (ra-
tionalen) Selbst, den Hume durch seine kritische Erkenntnisanalyse provoziert hat” und der nun erst wieder behoben werden muß. Das Schiffbruch-Szenario dient innerhalb der Komposition des Treatise dazu, die Restaurierung des Selbst als fühlendes Selbst vorzubereiten, indem sich nämlich zunächst der Philosoph seiner fühlenden Natur bewußt wird. Somit stellt das Schlußkapitel, wie schon der deutliche Rückbezug auf die Einlei-
tung belegt, im Grunde eine zweite Einleitung mit der Hume zur Affektenlehre übergeht, um bauend in der Moralphilosophie die konkret Menschen zu beschreiben. Kant hat in seinen
innerhalb des Treatise dar, auf diesem Fundament aufgesellschaftliche Natur des Prolegomena recht gehabt,
%T ],4,7, SB, S. 273. Ebd. 65 Damit inszeniert Hume den Untergang nicht nur des Rationalismus, sondern auch des rationalistischen Empirismus.
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Erster Teil - Kunstkritik und Wissenschaft
wenn er bemerkt, daß Hume mit der Untersuchung des Verstandes »sein Schiff, um
es in Sicherheit zu bringen, auf den Strand (den Scepticism)
setzte, da es denn liegen und verfaulen mag«° - und er selbst wird ja genau dieses Scheitern der Humeschen Wissenschaft fruchtbar machen, liefert es ihm doch den Anstoß zu einer »ganz neue[n] Wissenschaft«°, die als Me-
taphysik »wird auftreten können«. Aber mit seiner Einschätzung trifft er bezeichnenderweise nur die Erkenntnistheorie Humes, der sein »Schiff« auf andere Weise flottmachen konnte und mit ihm die Welt (des »common lıfe«)
umsegelt. 3. Die neue Wissenschaft Wird auch im Schlußkapitel des ersten Buches des Treatise die Diskrepanz zwischen wissenschaftlicher Gelehrsamkeit und der Gesellschaft des »com-
mon life« thematisch und mit ihr bereits der hohe Anspruch absolut gewisser Erkenntnis herabgestimmt, so versichert es sich doch nur der Entdeckung dieses Problems, ohne daraus unmittelbar Konsequenzen für die Wissenschaft vom Menschen zu ziehen.°® Dennoch ist es wohl die Initial-
zündung für die Modifizierung des Wissenschaftsprogramms, die Hume mit der Umarbeitung der einzelnen Bücher des Treatise vornehmen wird: In der Enquiry concerning Human Understanding wird er die Krise der Wissenschaft vom Menschen wirklich überwinden, indem er zu einer »pragmatische[n] Wissenschaftsbegründung«“ findet. Von der naturwissenschaft-
6 Kant: Prolegomena; AA IV, S. 262. 9 Ebd. 68 Es ]äßt sich aber noch ein anderer, wenn auch äußerer Grund dafür anführen, daß
Hume nach dem »Schiffbruch«< der exakten Wissenschaft scheinbar unverdrossen mit seiner Anatomie fortfährt: Kemp Smith konnte nachweisen, daß Buch II und III bereits konzipiert und zu großen Teilen geschrieben waren, bevor Hume mit seiner Arbeit am ersten Buch begann (vgl. Kemp Smith: The Philosophy of David Hume, a.a.O., S. 159 f.). Das könnte eine Erklärung dafür sein, warum ın der Affektenlehre und Moralphilosophie von den Folgen dieser Wissenschaftskrise nichts zu bemerken ist. Kemp Smiths Theorie gibt damit auch einen historischen Anhalt dafür, die »Schiffbruch«Malerei< und »Anatomie«, einan-
der gegenüberstellt. Beide Arten von »moral philosophy«’? kann er in ihrer Nützlichkeit würdigen, um ihnen nun jedoch zugleich eine gewisse Einseitigkeit vorzuwerfen: Betrachtet die eine den Menschen »chiefly as born for action«’°, so reduziert ihn die andere zum »reasonable [...] being«.’” In
ihrer abstrakt-systematischen Untersuchung ging die ım Treatise ausgebildete Wissenschaft vom Menschen also an dessen eigentlichem Wesen vorbei, das sie ja selbst als ursprünglich fühlend erwies. Überdies hatte die Teilnahme an der gesellschaftlichen Welt dem Philosophen klar gemacht, HU A HU
1; SB, S.8. 8; SB, S. 83.
’2 Zu diesem Wandel der Humeschen Methode vgl. ausführlich Lüthe: David Hume, a.a.O., S. 101 ff. HU 1; SB, S. 8.
”* Vgl. hierzu auch D. Barnouw: »Skepticism as a Literary Mode: David Hume and Robert Musil«. In: Modern Language Notes 93 (1978), S. 855 f. >HU
1; SB, $.5.
76 Ebd. 7 HU 1; SB, $.6: »They regard human nature as a subject of speculation; and with narrow scrutiny examine it, in order to find those principles, which regulate our understanding, excite our sentiments, and make us approve or blame any particular object, action, or behaviour. They think it a reproach to all literature, that philosophy should not yet have fixed, beyond controversy, the foundations of morals, reasoning, and criticism [...]«, womit Hume fast wörtlich das Programm des Treatise zitiert.
122
Erster Teil - Kunstkritik und Wissenschaft
daß die Reflexionen des Verstandes auf sich selbst im konkreten Leben keinerlei Relevanz besitzen, sondern nur ın ıhrer dienenden Funktion im
Sinne von Nützlichkeitserwägungen interessieren, ja sogar, daß sie ın ihrer Absolutheit zuhöchst schädlich sind als Ausdruck eines ungeselligen, melancholischen, passiven — kurz: denaturierten Gemüts.’® Daraus folgt die Einsicht, daß »nature has pointed out a mixed kind of life as most suitable to human race«,’ und dieser »gemischten< Natur wird Hume erst nach dem Treatise gerecht: »Man is a reasonable being; and as such, receives from science his proper food and nourishment: But so narrow are the bounds of human understanding, that little satisfaction can be hoped for in this particular, either from the extent or security of his acquisitions. Man is a sociable, no less than a reasonable being: But neither can he always enjoy company agreeable and amusing, or preserve the proper relish for them. Man is also an active being; and from that disposition, as well as from the
various necessities of human life, must submit to business and occupation: But the mind requires some relaxation, and cannot always support its bent to care and industry.«°° Die vernünftige und die tätige Seite erscheinen hier durch ein Drittes, durch die Geselligkeit des Menschen verbunden, die mit-
telalterliche Trennung der Lebensformen in die vita contemplativa und activa damit aufgehoben in eine umfassend gesellschaftliche. Der Philosoph ist nunmehr Weltmann, der alle drei Seiten des Menschen berücksichtigt, »re-
taining an equal ability and taste for books, company, and business«.?! Damit ist, wie sich zeigt, das ehemalige Spektrum der philosophischen Wissenschaft — Logik, Moral und ästhetische Kritik, Politik — immer noch maßgeblich, ihre Disziplinen werden jedoch nun nicht mehr in streng sy-
stematischer Weise abgehandelt: Zum einen sind sie auf die Interessen der gesellschaftlichen Natur des Menschen zugeschnitten,” zum anderen »mischen« sie sich gewissermaßen untereinander, insofern etwa die Verstandes-
tätigkeit immer auch in bezug auf die konkrete Welt betrachtet wird und umgekehrt die Beschreibung der geselligen Welt immer auch belehrend ist, 78 Hume charakterisiert sich selbst in seiner Einsamkeit folgendermaßen: »I am first affrighted and confounded with that forelorn solitude, in which I am plac’d in my philosophy, and fancy myself some strange uncouth monster, who not being able to mingle and ? ° S
unite HU HU HU
in society [...].« T I, 4, 7; SB, S. 264. 1; SB, S. 9. 1; SB, S. $f. 1; SB, S. 8.
#2 Ein Vergleich des Treatise mit der ersten Enquiry zeigt, daß Hume etwa die Erörterung der »ideas of space and time« ganz fallengelassen hat und die gelehrte Kritik der philosophischen Systeme auf die bedeutendste, die des Skeptizismus, beschränkt.
Von der Systematik der menschlichen Natur zur Essayıstik
123
d.h. Aufschluß über die Prinzipien der menschlichen Natur gibt. Die »science of human nature« erscheint somit ın verwandelter Gestalt als eine der
menschlichen Natur entsprechende »human science«.®° Die Sache der Humeschen Philosophie als solche hat sich zwar somit letzten Endes nıcht verändert, aber einen entschieden neuen Akzent erhal-
ten. Auch die Methode, die Beobachtung der menschlichen Natur induktiv auszuwerten, bleibt dieselbe, ist nur »corrected by common sense and reflection.«®* Die Menschlichkeit oder besser Gesellschaftlichkeit dieser
neukonzipierten Wissenschaft macht sich aber am deutlichsten an der neuartigen Darstellungsweise geltend: Denn mit der Einsicht in die gesellschaftliche Natur des Menschen erhebt Hume nun auch den Anspruch auf breitere Leserschaft. Die Philosophie des »common life« muß auch für den Menschen des »common life« geschrieben werden. Diese Überlegungen kommen ıhm bereits während der Arbeit am Treatise, wie der Abstract beweist, der sich darum bemüht, den schwer verständlichen Gedanken vor-
nehmlich des ersten Buchs zu vermitteln. Doch auch ner »ruling passion« zur Arbuthnot angekündigte noch
knapp und »illustrated by some few examples«®° das Schiffbruch-Kapitel zeigt ihn schon von seiLiteratur beflügelt. Das von Hume im Brief an »neue Medium« der Philosophie hat sich also
einmal fortbestimmt:
Es bezeichnet nun nicht nur die Sache, die
menschliche Natur als Mitte der Wissenschaften, und die empirische Methode, sondern auch noch die (ästhetische) Vermittlung des Gedankens. Konsequenterweise gibt Hume die diskursive Gattung des Traktats auf und wählt die Form des Essays. Zu ıhr findet er jedoch nicht erst in der ersten Enguiry. Vielmehr müssen die unmittelbar nach dem Treatise erscheinenden Essays, Moral and Political (1741/42)? als erstes Experimentie-
ren mit der neuen Darstellungsweise gelten,” nennt Hume sie doch im
# „Indulge your passion for science, [...] but let your science be human, and such as may have a direct reference to action and society.« HU 1; SB, S.9. — Kreimendahl sieht deutlich, daß Hume über die neue Ausdrucksform versucht, »den ursprünglichen Plan, den er als junger Mann gefaßt hatte, doch noch modifiziert ins Werk zu setzen: die Konsolidierung des nicht durch die Naturwissenschaften gedeckten Wissens durch Verankerung in der Basiswissenschaft vom Menschen.« Vgl. Kreimendahl: »Einheit des Werkes ...«, a.a.O., S. 31. * HU 12; SB, S. 161.
85 Abstract, Pref.; SB, S. 643. 86 Die von 1758 an überarbeitet unter dem Titel Essays, Moral, Politicai, and Literary erscheinen. 7 Vgl. N. Smith: »Hume’s »Rejected« Essays«. In: Forum for Modern Language Studies
8 (1972), S. 356.
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Erster Teil - Kunstkritik und Wissenschaft
Vorwort der Erstausgabe einen »Irial of my Talents of Writing, before I ventur’d upon any more serious Composition [...]«.” Von dieser unterhaltsamen Präsentation erhofft er sich eine breitere Wirkung seiner Philosophie, wie er zur gleichen Zeit an Henry Home Lord Kames schreibt: »They may prove like dung with marl, and bring forward the rest of my Philosophy, which ıs of a more durable, though of a harder and more stubborn nature.«®” Der Erfolg wird ihm recht geben: Die Essays sınd nach kurzer Zeit vergriffen und werden in den folgenden Jahren mehrfach neuaufgelegt.”° Auch die später in essayıstische Enguiries umgearbeiteten Teile des Treatise werden zu Humes
großer Befriedigung mit Interesse aufge-
nommen.” Inwiefern kann nun der Essay eine Synthese von Wissenschaftlichkeit und Geselligkeit darstellen und so zur adäquaten Form von Humes Philosophie werden? Ein kurzer Blick auf die Intention und Geschichte dieses Genres” zeigt, daß der Essay formal das Gegenstück zum methodischen Traktat bildet, erhebt er doch nicht wie dieser den Anspruch, eine Sache vollständig und systematisch darzustellen, sondern ist seinem Begriff nach lediglich ein »Versuch«, einen Gegenstand undogmatisch aufzunehmen, und somit gerade ein unsystematischer Ansatz der Betrachtung. Deshalb ist das Aufkommen dieser literarischen Form symptomatisch für die Zeit des Umbruchs von der Scholastık zur modernen Naturwissenschaft:?”’ Bacon,
der neben Montaigne als Begründer der Essayistik gilt,’* nutzt die kurze, prägnante Darstellungsweise nicht nur dafür, seine wissenschaftlichen Erkenntnisse auch einem breiteren Publikum verständlich zu machen,” son#Th. H. Green/Th. H. Grose (Hrsg.): Essays, Moral, Political, and Literary by David Hume. History of the Editions. GG III, S. 41. 9711,S.43. ” Vgl. Green/Grose, a.a.O., S. 40 f.
9 Vgl. MOL; LI], S.3. . ?2 Ausführliche Darstellungen finden sich bei M. Bense: »Über den Essay und seine Prosa«. In: Merkur 1 (1947), S. 414-424. Th. W. Adorno: »Der Essay als Form«. In: Noten zur Literatur I. In: Gesammelte Schriften, XI. Frankfurt a.M. 1974, S. 9-34. H.
Küntzel: Essay und Aufklärung. Zum Ursprung einer originellen deutschen Prosa im 18. Jahrhundert. München 1969. A. Auer: Die kritischen Wälder. Ein Essay über den Essay. Halle 1974. H. Weber: Einleitung zu Der englische Essay. Analysen. Hrsg. von H. Weber. Darmstadt 1975. Essays on the Essay. Redefining the Genre. Hrsg. von A. J. Butrym. Athen, London 1989. ® Vgl. M.L. Hall: »The Emergence of the Essay and the Idea of Discovery«. In: Essays on the Essay, a.a.O, S. 73-91. ? Francis Bacon: The Essayes or Counsels, Civill and Morall (1597-1625). In: The Works VI, S. 365-604.
9 Weber: Einleitung zu Der englische Essay ..., a.a.O., S. 4.
Von der Systematik der menschlichen Natur zur Essayistik
125
dern findet in ihr darüber hinaus eine Möglichkeit, die im Novum Organon theoretisch entwickelte experimentelle Methode gleichsam praktisch vorzuführen. Denn der Essay bildet gewissermaßen den Erkenntnisvorgang selbst ab, nımmt er doch seinen Ausgang von einer Entdeckung eines Gegenstandes oder einem Einfall, dem in einer ersten Näherung nachgegangen, der befragt und von allen Seiten überprüft wird, bıs induktiv ein vorläufiges Ergebnis erreicht ist, das nur ein Beitrag zu einer umfangreicheren Diskussion sein will.” Gegenüber den bei aller Offenheit doch methodisch konstruierten Essays Bacons stellen diejenigen Montaignes” einen sehr viel subjektiveren, >assoziativen< Typus vor, der eine eigene Tradition begründen wird.” Hier fungiert das Genre als Medium der Selbsterkenntnis.”” Der Beobachtende ist selber Gegenstand seiner »ExperimenteGenauigkeit kommt immer der Schönheit zugute, und richtiges Denken dem zarten Gefühl.< Das war selber pragmatistisch, und doch enthält es implizit und negativ die ganze Wahrheit über den Geist der Praxis.« Minima Moralia I, 20. In: Gesammelte Schriften, IV. Frankfurt a.M. 1980, 5.44,
17T], 3, 8, SB, S. 103.
18 ,[,..] Hume exhibits no small share of the craving after mere notoriety and vulgar success, as distinct from the pardonable, ıf not honourable, ambition for solid and en-
during fame, which would have harmonized better with his philosophy. Indeed, it appears to be by no means improbable that this peculiarity of Hume’s moral constitution was the cause of his gradually forsaking philosophical studies, after the publication of the third part [...] of the Treatise.« T. H. Huxley: Hume.
London
1879, $. 10 f. Steht diese Ein-
130
Erster Teil - Kunstkritik und Wissenschaft
tergrund als haltlos. Vielmehr erscheint in der Essayistik der Humesche Gedanke erst in seiner angemessenen Gestalt.!'?
schätzung auch für die ältere Forschung, geprägt und wohl dazu beigetragen, daß ren, wie auch die Enquiries ım Vergleich auch ın der zeitgenössischen Forschung
so hat sie doch über längere Zeit das Hume-Bild die Essays nach wie vor wenig Beachtung erfahzum Treatise eher geringgeschätzt werden. Denn hält sich hartnäckig die Auffassung, daß Humes
Bemühen um eine »schöne< Darstellungsweise nicht ganz ernstzunehmen ist, seien doch
die Essays lediglich eine »geistig anspruchsvolle, aber trotzdem angenehme und durchaus empfehlenswerte Bettlektüre für schläfrige Anglısten«. E. Craig: David Hume. Eine Einführung ın seine Philosophie. Frankfurt a.M. 1979, S. 11. 19 Insofern erweisen sich die Essays tatsächlich als »the logical next step in Hume’s master plan«, wie meines Wissens einzig J. Immerwahr sieht. J. Immerwahr: »The Anatomist and the Painter: The Continuity of Hume’s Treatise and Essays. In: Hume-Studies
17 (1991), 5.7.
ZWEITER lEIL KUNSTKRITIK UND GESELLSCHAFT
I. Kultur der Urteilskraft: Die Essays, Moral, Political, and Literary
Die Wende von der systematischen »Anatomie« des Geistes zur konversationalen >Spiegelung< der Natur des Menschen in ihrer gesellschaftlichen Erscheinung bedeutet eine Zäsur in Humes Werkbiographie, die sein (Euvre geradezu ın ein wissenschaftliches Davor und ein essayistisches Danach spaltet. Hume unterstreicht diese Zäsur, wenn er 1748 mit der Veröffentlichung der Enquiry concerning Human Understanding beginnt, die drei Bücher des Treatise einzeln umzuarbeiten und nach und nach in eingängiger Gestalt zu präsentieren.! Wie wichtig ihm das neue Konzept seiner Philosophie ist, zeigt sich aber am deutlichsten daran, daß er in einer Anzeige zur posthum veröffentlichten autorisierten Ausgabe dieser Werke? seinen Treatise als übereiltes Unternehmen kritisiert und sich ausdrücklich von seinem Jugendwerk distanziert: »[...] the Author desires, that the following Pieces
may alone be regarded as containing his philosophical sentiments and principles.«’ Durch diese späte Äußerung Humes erscheint der Übergang zur Essayiıstik geradezu als ein radikaler Schnitt, mit dem der Gedanke, eine
Wissenschaft vom Menschen nach dem Vorbild Newtons zu begründen, vollends aufgegeben wird; damit freilich auch der Plan, der Kunstkritik ein (natur)wissenschaftlich abgesichertes Fundament zu geben, indem sie im Zusammenhang mit den übrigen Disziplinen der »science of human nature« eine systematische Darstellung erfährt. Er wird jedoch geschichtlich eingelöst von Henry Home, Lord Kames’ Hauptwerk Elements of Criticism (1762), das, wie die Einleitung ankündigt, die fundamentalen Prinzipien der schönen Künste in der menschlichen Natur aufzuzeigen sucht, um auf dieser Basis »criticism as a regular science«® zu etablieren, aufgrund deren es möglich sei, »to form a standard of taste by unfolding those principles that
11752 erscheint als Neukonzipierung des dritten Buchs des Treatise die Enquiry concerning the Principles of Morals und 1757 entsprechend für das zweite Buch die Dissertation of the Passions. ? Essays and Treatises on Several Subjects (1777). ° HU; SB, S. 2.
* Henry Home, Lord Kames: Elements of Criticism. Edinburgh 1762. Nachdruck Hildesheim 1970, Introd.; I, S. 8.
132
Zweiter Teil - Kunstkritik und Gesellschaft
ought to govern the taste of every individual«.” In Auseinandersetzung mit Hume® analysiert Home den ästhetischen Eindruck, den er auf bestimmte innere Qualitäten der Objekte zurückführt.” Die systematischen Beobachtungen konstanter Beziehungen zwischen Gegenständen und ästhetischen Eindrücken ergeben für ıhn zusammen die Regeln, nach denen das Kunstwerk angemessen beurteilt werden könne. Die zahlreichen Beispiele und Zitate, an denen Home seine Ausführungen veranschaulicht, machen die Elements zu einem rechten Kompendium des zeitgenössischen Geschmacks und zur »reifste[n] und vollständigste[n] analytische[n] Untersuchung des 18. Jahrhunderts über das Schöne«.°
Eine ähnlich systematische Darstellung mag Hume vorgehabt haben, als er in der Anzeige des Treatise den Plan einer ästhetischen Kritik ankündigte. Er muß sie in dem Moment aufgeben, als ihm die experimentelle Methode überhaupt zweifelhaft erscheint. Hinsichtlich der Ästhetik liegen die Schwierigkeiten einer exakten Untersuchung der Bedingungen des ästhetischen Wohlgefallens schon darin, daß Hume, anders als Home, nicht von
einer »intrinsic beauty«’ als einer »objektiven« Eigenschaft eines Gegenstandes ausgeht, sondern Schönheit für ihn immer bezogen bleibt auf das wahrnehmende und empfindende Subjekt. Da Hume die menschliche Natur in sich differenziert und die Empfindung der Schönheit entweder auf deren primäre Konstitution, auf Gewohnheit oder Laune zurückgeführt werden kann, läßt sich schon deswegen eine konstante Relation zwischen schönem Gegenstand und Empfindung, die eine Regel des Geschmacks abgeben könnte, schwer ausmachen. Das Experiment, auf das die empirische Methode zurückgreifen muß, um eine solche gesetzmäßige Beziehung ermitteln zu können,
ıst kaum
durchführbar,
ohne
die ästhetische Reaktion
durch die Künstlichkeit der Situation zu verfälschen. Darüber hinaus würde es die Reaktion nur unter idealen Bedingungen, also ohne Einfluß irgend-
welcher Stimmungen, und nur zu einem bestimmten Zeitpunkt und an einem bestimmten Ort zeigen: »When we would make an experiment of this nature, and would try the force of any beauty and deformity, we must ° Home: Elements, Dedication; I, S. [IV]. e Vgl. R. Voitle: Einleitung zu Henry Home, Lord Kames, Elements of Criticism; I, S. VIIT£. 7 „It has already been observed, that things are the causes of emotions, by means of
their properties and attrıbutes. [...] I begin with beauty, the most noted of all the qualities that belong to single objects.« Home: Elements, 3; I, S. 241 f. 8 W. Dilthey: »Die drei Epochen der modernen Asthetik und ihre heutige Aufgabe«. In: Gesammelte Schriften, VI. Hrsg. von G. Misch. Leipzig 1924, S. 258. %° Home: Elements, 3; I, S. 244.
Kultur der Urteilskraft
133
choose with care a proper time and place, and bring the fancy to a suitable situation and disposition. A perfect serenity of mind, a recollection of thought, a due attention to the object; if any of these circumstances be
wanting, our experiment will be fallacious, and we shall be unable to judge of the catholic and universal beauty. The relation, which nature has placed between the form and the sentiment, will at least be more obscure [...].«'°
Gerade solche isolierten Beobachtungen gehen jedoch an den Tatsachen des »common lıife« völlig vorbei: Schon die Affektenlehre des Treatise faßte Schönheit nach ihrer sozialen Bedeutung, also in ihrer Beziehung auf die gesellschaftliche Natur des Menschen auf, denn sie bestimmte sich wesentlich als die zweckmäßige Form für das sympathetisch empfindende Subjekt. Die Sympathie ist jedoch das gesellige Prinzip der menschlichen Natur, das dazu disponiert, Empfindungen nicht nur mitzuteilen, sondern stets auch die Empfindungen anderer zu berücksichtigen und die eigenen Reaktionen auf diese Empfindungen hin zu reflektieren. Die Schönheit eines Kunst-
werks wird folglich nicht als ein Konglomerat von schönen »Elementen« vereinzelt erfahren, sondern im Zusammenhang eines Austauschs von Empfindungen innerhalb einer bestehenden Gesellschaft. Sie ist somit faktisch nicht als Eigenschaft des Objekts zu analysieren, sondern nur gegeben im Urteil der Gesellschaft:!' »Beauty, whether moral or natural, is felt, more
properly than perceived. Or ıf we reason concerning it, and endeavour to fix ıts standard, we regard a new fact, to wit, the general taste of mankind [...].«'? Für die ästhetische Kritik Humes bedeutet dies aber, bei der Ana-
lyse des Geschmacks auch die jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen, also die zeitlichen und lokalen Gegebenheiten, oder genauer: die Einflüsse der Gewohnheit (d.h. der Tradition) sowie der Laune (d.h. der Mode) zu
berücksichtigen. Sie fragt demnach nicht nach der unmittelbaren Relation von schönem Gegenstand und Empfindung als einem kausalen Verhältnis und also auch nıcht nach dem aktuellen Eindruck des Schönen, der immer partikulär bleiben muß, sondern nach der »durable admiration, which attends those works, that have survived all the caprices of mode and fashion,
all the mistakes of ignorance and envy«.!” Damit nimmt sie das Ge-
SOT;
GG
II, S. 270 f.
1 Ebenso wird Tugend oder aufgefaßt, ist also als eine zu Gemeinschaft gegeben, besteht lobt werden und die jeder sich 2 HU 12; SB, S. 165. BSOT; GG III, $. 271.
»Personal Merit« von Hume als gesellschaftliches Ansehen analysierende Tatsache ebenfalls nur in den Urteilen der sie doch aus denjenigen Eigenschaften, die gemeinhin gebeigelegt wissen will. Vgl. PM 1; SB, S. 173 f.
134
Zweiter Teil - Kunstkritik und Gesellschaft
schmacksvermögen in seiner historischen Dimension auf, nämlich als ein Resultat des permanenten gesellschaftlichen Austausches, und zwar im umfassenden Sinn, da dieser Austausch sıch nicht nur auf die Auseinanderset-
zung mit den gegenwärtigen Meinungen beschränkt. Denn erst die historische Beobachtung,'* die nach dem »Scheitern«< des Treatise an die Stelle der defizitären experimentellen Methode getreten ist, und der Vergleich einer Vielzahl von Urteilen über das Schöne belegen eine gewisse Gleichförmigkeit des ästhetischen Verhaltens der Menschen, die Rückschlüsse auf die
»constant and universal principles of human nature«!? und so auch des Geschmacks zu ziehen erlaubt.'° Das heißt jedoch nicht, daß die Ergebnisse des Treatise damit hinfällig wären. Wie Hume wiederholt betont, rückt er von seinem Erstlingswerk
nicht hinsichtlich der Sache, sondern nur aufgrund der Präsentationsweise ab. Nach der Umarbeitung des ersten Buchs in der Enguiry concerning Human Understanding hält er erneut fest, daß »[t]he philosophical Principles are the same in both«.' In gleicher Weise gilt dies für die Prinzipien der Moral - und somit analog für die der ästhetischen Kritik -, wenn sie auch durch die veränderte Darstellung eine gewisse Abwandlung erfahren.'? Die im Treatise schon in ihren Prinzipien erkennbar gewordene Ästhetik bleibt deshalb auch nach der Wende zur Essayıstik gültig. Doch wie wird die ästhetische Kritik entwickelt, nachdem Hume
den
Vorsatz einer systematischen Darstellung aufgegeben hat? Bemerkenswert Dilthey sieht in der historischen Methode die Ergänzung zur rationalen Ästhetik des 17. und der experimentellen Methode der Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Seien auch ıhre Anfänge zeitlich parallel zur »Analysis des ästhetischen Eindrucks« bereits bei Montesquieu, Dubos und Winckelmann zu finden, so nehme doch erst das 19. Jahrhundert den Stil des Kunstwerks, also Kunst in ihrer Geschichtlichkeit methodisch auf. Dilthey: »Die drei Epochen ...«, a.a.O., S. 266 ff. 5 HU 8; SB, S. 83.
16 Das mit der historischen Forschung verbundene Problem des Konstanzprinzips, also der vorauszusetzenden prinzipiellen Gleichförmigkeit der menschlichen Natur, erläutert ausführlich und überaus erhellend Lüthe: David Hume,
a.a.O., S.115 ff. Danach
kann
Hume die ontologische Konstanz menschlichen Verhaltens zwar nicht theoretisch beweisen, zieht aber die Berechtigung einer solchen Annahme aus ıhrer praktischen Bewährung bei der Anwendung solcher Forschungen (vgl. Lüthe, a.a.O., S. 123). 7L1,S.158.
# Da die Enquiry concerning the Principles of Morals sich nicht Affektenlehre und die Moralphilosophie des Treatise als »Anatomie« sequenterweise auch nicht die »sympathy« als das abstrakte Prinzip Vordergrund, sondern das »sentiment of morals and [...] of humanıty« das gleichsam als das Resultat der Wirksamkeit der Sympathie im erfahren wird.
mehr wie noch die versteht, tritt konder Moral in den (PM 6; SB, S. 235), geselligen Umgang
Kultur der Urteilskraft
135
terweise verfaßt er kein in sich abgeschlossenes Werk von Essays, das dem ursprünglich geplanten Buch »Of Criticism« innerhalb des Treatise analog wäre, wie er es doch für das ebenfalls nicht erschienene Buch »Of Politics«
in Gestalt der Political Discourses (1752) immerhin teilweise vorlegt.'” Vielmehr greift Hume in den zweibändig erscheinenden Essays, Moral and PoIitical (1741/42) zunächst nur vereinzelt ästhetische Themen auf, die von
den Zeitgenossen diskutiert wurden: So berühren die Essays »Of the Delicacy of Taste and Passion«, »Of Eloquence«, »Of the Rise and Progress of the Arts and Sciences« und die vier philosophischen Charakterskizzen »The Epicurean«, »The Stoic«, »The Platonist« und »The Sceptic« ästhetische
Fragen, doch einzig der Essay »Of the Simplicity and Refinement in Writing« kann eindeutig ein kunstkritischer Beitrag genannt werden. Die ästhetische Kritik gewinnt aber an Bedeutung, wie sich an der 1758 erscheinenden Ausgabe der nunmehr in einem Band zusammengefaßten Essays zeigt, die Hume von da an Moral, Political, and Literary nennt: Denn hier fügt er der bestehenden bzw. durch Zurücknahme jener >gehaltlosen« Essays addisonscher Prägung reduzierten Sammlung mit »Of Tragedy« und »Of the Standard of Taste« zwei ästhetische Aufsätze hinzu, die bei den
Zeitgenossen eine nicht unerhebliche Resonanz erfahren sollten. Diese beiden Essays stammen aus den 1757 publizierten Four Dissertations, die außerdem noch den Aufsatz »The Natural History of Religion« und die Umarbeitung des zweiten Buchs des Treatise, »A Dissertation of the Passions«, umfassen und aufgrund ihrer Zusammenstellung allerdings als ein dem geplanten Buch »Of Criticism« zumindest teilweise entsprechendes Werk angesehen werden könnten. Denn sieht man von der naturgeschichtlichen Betrachtung der Religion ab, dann liefert Hume mit den drei übrigen Essays »A Dissertation of the Passions«, »Of Tragedy« und »Of the Standard of Taste« eine zusammenhängende Darstellung ästhetischer Fragen, in der die Affektenlehre das notwendige abstrakte Fundament für die darauffolgende exemplarische Untersuchung eines ästhetischen Affekts, nämlich der Lust an tragischen Gegenständen, abgibt, und die durch die Analyse des Geschmacksempfindens abgeschlossen wird. Für den deut-
lich ästhetischen Akzent der Four Dissertations spräche auch die Wıdmung an seinen Freund, den Dichter John Home, » Author of »Douglas«, a Trage-
dy«2°, ın der Hume seine Bewunderung für das Stück offen bekundet 19 Einen ersten grundlegenden Teil hatte Hume ja bereits innerhalb der Essays, Moral and Political ausgearbeitet, in denen er grundsätzliche Fragen bezüglich der Gesellschaftsordnung und Politik behandelt. 2° Dedication of the »Four Dissertations< (1757). GG IV, S. 439.
136
Zweiter Teil - Kunstkritik und Gesellschaft
»one of the most interesting and pathetic pieces, that was ever exhibited on any theatre«?' — und damit erstmals selbst dezidiert als Literaturkritiker auftritt. Gleichwohl zeigt die Publikationsgeschichte der Four Dissertations,” daß sie nicht als eine Sammlung ästhetischer Stücke konzipiert war. Anstelle der Geschmacksuntersuchung hatte Hume ursprünglich einen Essay »On the metaphisical Principles of Geometry«?* vorgesehen, der jedoch, wie ihm der Mathematiker Philip Stanhope kurz vor der Veröffentlichung klar machte, »some Defect in the Argument or in its perspicuity«” aufwies, woraufhin er ihn zurückzog. Als Ersatz bot Hume seinem Verleger Andrew Millar die Essays »On Suicide« und »Of the Immortality of the Soul« an, doch beide entschlossen sich, die so zusammengestellten Five Dissertations wegen der Brisanz der beiden neu hinzugekommenen Arbeiten nicht zu veröffentlichen.?® Stattdessen verfaßte Hume den Essay »Of the Standard of Taste«, so daß die Four Dissertations im Februar 1757 in der oben genannten Reihenfolge endlich erscheinen konnten. Auch die Widmung an Home erweist sich bei näherer Hinsicht mehr als ein Angriff auf die Intoleranz und Bigotterie der Kirche denn als eine Kunstkritik. Im »Douglas«”” nämlich, einer empfindsam-romantischen Clan-Tragödie, in der die Mutter in einem Fremden ihren verschollenen Sohn wiedererkennt, der von ihrem eifersüchtigen Gatten getötet wird, woraufhin sie Selbstmord begeht, glaubte der schottische Klerus freigeisti2! Dedication, a.a.O., S. 440. 22 Hume scheut sich nicht, Home »the true theatric genius of Shakespear and Otway, refined from the unhappy barbarısm of the one, and licentiousness of the other« zuzusprechen. Dedication, a.a.O., S. 440. Dieses uneingeschränkte Lob ließ bei den Zeitgenossen — nicht ganz zu Unrecht — den Verdacht seiner Voreingenommenheit einem schottischen Landsmann gegenüber aufkommen. Ein Rezensent der Critical Review beurteilte denn auch Homes »Douglas« weitaus kritischer: »We should not indeed have dwelt so long on the little obvious faults to be found in this tragedy, had not Mr. David Hume, whose name ıs certainly respectable in the republic of letters, made it absolutely necessary. — Every addition of praise to any work beyond its real and intrinsic merit, will always be found in the end prejudicial to it [...].« Critical Review 3 (1757), S. 267. 3 Vgl. hierzu ausführlich E. C. Mossner: »Hume’s »Four Dissertations« An Essay ın Biography and Bibliography«. In: Modern Philology 48 (1950), S. 37-57, und L. Kreimendahl: Einleitung zu David Hume, Die Naturgeschichte der Religion u.a. Hrsg. von L. Kreimendahl. Hamburg 1984. #111, 5.253.
3 Ebd. 26 Sie wurden posthum 1777 publiziert. 2 Vgl. H. J. Tunney (Hrsg.): Home’s Douglas. Bulletin of the University of Kansas 25, no. 17. Humanistic Studies III, no. 3. Lawrence 1924.
Kultur der Urteilskraft
137
ges Gedankengut zu finden. Empört darüber, daß Home, der selber Geist-
licher war, ein solches Stück auf die Bühne bringen wollte und überdies mit dem als Atheisten verschrienen Hume befreundet war, verhinderte er die
Aufführung.?® Hin und her gerissen zwischen der Furcht, Home durch seine Verteidigung möglicherweise zu schaden,” und dem Wunsch, seinem Werk durch das Lob zu nützen, ordnete Hume zunächst die Zurückzie-
hung der Widmung an, um sie während der Drucklegung doch noch wieder aufzuheben, so daß nur ein Teil der Four Dissertations die »Dedication« enthält.”
Auch wenn also die »Dissertation of the Passions« und die beiden Essays »Of Tragedy« und »Of the Standard of Taste« als eine Einheit angesehen werden
können,
bleibt doch festzuhalten, daß Hume
ein geschlossenes
Werk zur ästhetischen Kritik nicht geplant hat. Und selbst dieser Verband wird unmittelbar nach der Veröffentlichung wieder aufgelöst,”!' denn schon im Aprıl 1757 steht fest,”? daß die Untersuchungen zur Tragödie und zum Geschmack in die Neuauflage der Essays” eingegliedert werden sollen, während der Aufsatz über die Affekte sowie die Naturgeschichte der Religion als gesonderte Abhandlungen einen neuen Platz in den philosophischen Werken einnehmen. Die ästhetische Kritik Humes erhält also — an-
ders als alle übrigen vormalıgen Disziplinen der Wissenschaft vom Menschen - ihren spezifischen Ort innerhalb der Essays, Moral, Political, and
Literary und ist somit nur als Bestandteil jenes Humeschen verstehen, die Reflexion der (subjektiven) Empfindungen Konversation und d.h. im eigentlichen Sinn die Welt scheinenden Menschen zur Anschauung zu bringen. Die
»Programms« zu in der geselligen des konkret er»literary essays«
28 Sie wurde dann allerdings 1756 doch mit großem Erfolg aufgeführt. - Die Kontroverse um Homes »Douglas« wird ausführlich von E. C. Mossner: The forgotten Hume: Le bon David. New York 1943, $. 50-64, geschildert. ? Denn mit dieser Widmung eignete er dem geistlichen Dramatiker nicht nur den Essay »Of Tragedy«, sondern auch eine Naturgeschichte der Religion zu. 3° Hume berichtet diese Ereignisse ausführlich an William Mure of Caldwell. L I, S. 241 f.
31 Während die Political Discourses immerhin zwei Auflagen erfahren haben, bevor sie ebenfalls 1758 als zweiter Teil der Essays, Moral, Political, and Literary erscheinen. 32 Wie einer Anweisung Humes an den Drucker William Strahan zu entnehmen ist: »Observe also that the two Dissertations (sc. »Of Tragedy« und »Of the Standard of Taste«), which are to be inserted among the Essays, are to be entitled Essays. The other two (sc. »A Dissertation of the Passions« und »The Natural History of Religion«) are to be inserted in the Places as directed.« L I, S. 247.
3? Nunmehr eine Abteilung innerhalb seiner philosophischen Werke, der Essays and Treatises on Several Subjects (1758).
138
Zweiter Teil - Kunstkritik und Gesellschaft
können dann aber nicht isoliert betrachtet werden, sondern stehen ın Beziehung zu den anderen Themenkreisen des »common life«, also zu den
Essays moralischen und politischen Inhalts:”* Ihre Analyse kommt demnach nicht ohne eine Berücksichtigung der übrigen Essays und vor allem des Verhältnisses der Essays untereinander aus. Dieses Verhältnis kann nun freilich nicht mehr ein systematisches sein, wie es noch im Treatise zwischen den Disziplinen Moral, Kritik und Politik (zumindest dem Plan nach) be-
stand. Allerdings betont Hume in der Anzeige zur Erstausgabe der Essays (1741/42): »Ihe READER must not look for any Connexion among these Essays, but must consider each of them as a Work apart«°, doch ist diese
Bemerkung eindeutig als eine Beruhigung des Essayisten seinem geneigten Leser gegenüber zu verstehen, daß dieser keine breit angelegten Ausführungen zu befürchten habe.’ Schon die sorgfältigen Überarbeitungen der Texte, die Umstrukturierungen und Ergänzungen der verschiedenen Auflagen der Essays, die Hume bis zum Ende seines Lebens vornimmt, lassen vermuten, daß ihm gerade ıhre Anordnung sehr wichtig gewesen sein muß. Die folgende Untersuchung der Essays beruht deshalb in erster Linie auf der Ausgabe letzter Hand von 1777, berücksichtigt aber gegebenenfalls Humes Kürzungen oder Veränderungen. Sie beschränkt sich außerdem auf den ersten Teil, der auf den Zusammenschluß und die sukzessive Überar-
beitung jener ursprünglich zweibändig erschienenen Essays, Moral and Political von 1741/42 zurückgeht, mit denen Humes essayistische Philosophie einsetzt und die ım eigentlichen Sinne den späteren Titel Essays, Moral, Political, AnD LITERARY verdient, weil nur hier kunstkritische Essays auf-
genommen sind. Der später hinzugetretene zweite Teil hat insofern einen anderen Charakter, als Hume darin nicht mehr die facettenreiche Konver-
sation des »common life« nachbildet, sondern überwiegend seine politische Ökonomie entwickelt.’ Sie lassen sich im Unterschied zum ersten Teil als
%* Deshalb sind Einschätzungen wie diejenige Lechartiers, der der Meinung ist, Humes verstreute Bemerkungen zu ästhetischen Fragen überhaupt ergeben »un v£ritable traıte d’esthetique« (G. Lechartier: David Hume, Moraliste et Sociologue. Parıs 1900, S. 186), irreführend, weil sie nicht einfach in dieser systematischen Weise zusammenstimmen, sondern nur im Zusammenhang mit den übrigen Essays eine eigentümliche »Systematik« ergeben. ” Green/Grose: History of the Editions; GG III, S. 42. ° „This ıs an Indulgence that is given to all Essay-WRITERs, and is an equal Ease both to WRITER and Reader, by freeing them from any tiresome stretch of Attention or Application.« Ebd. 7 Der zweite Teil ist eine Zusammenstellung der Political Discourses und zwei der 1748 erschienenen Three Essays, Moral and Political. - Vier Essays — »Of the Balance of
Kultur der Urteilskraft
139
fachkundige »Unterhaltung« bezeichnen, mit der der Autor über das hinauszugehen beabsichtigt, »what we can learn from every coffee-house conversation«.”® 1. Die Aufgabe der Essays: Bildung des Geschmacks durch Konversation Der erste Essay »Of the Delicacy of Taste and Passion« hat nicht nur seiner Position, sondern auch seinem Inhalt nach die Funktion einer Einleitung, in der die Intention der Essaysammlung insgesamt vorgestellt wird. Gerade an ihm zeigt sich richtungsweisend, daß die theoretische Perspektive auf die Prinzipien der menschlichen Natur aufgegeben und die Humesche Philosophie deutlich in die Nähe der Moralistik gerückt ist, handelt er doch im wesentlichen von der rechten Lebensführung (conduct of life”) und nimmt damit den Menschen seiner praktischen Erscheinung nach in den Blick.” Dennoch bleibt dabei die im Treatise entworfene Anatomie insofern präsent,‘ als Hume implizit auf die dort herausgestellte empfindsame Natur des Menschen rekurriert: Denn er setzt hier gewissermaßen den Gedanken voraus, daß das Handeln und so auch die Lebensführung abhängig sind von den Gefühlen, die, wie dıe Affektenlehre nachwies, allein Motive des Wil-
lens abgeben können. Die gute Lebensführung ist somit nicht durch Vernunft bewirkt, sondern Ergebnis einer Unterscheidung der Gefühlskräfte des Menschen. Eine solche Unterscheidung nımmt Hume vor, wenn er zu Beginn des Essays die Empfindlichkeit der Affekte (delicacy of passions) von der Empfindlichkeit des Geschmacksvermögens (delicacy of taste) trennt, die jeweils eine unterschiedliche Lebensführung begründen. Die Affektempfindlichkeit ist die Disposition, auf die Wechselfälle des Lebens unmittelbar zu reagieren; extreme Spannung heftiger Gefühle, überhaupt Labilität des seelischen Power«, »Of Some Remarkable Customs«, »Of the Protestant Succession« und »Of the
Idea of a Perfect Commonwealth« — gehören allerdings der politischen Philosophie an, ein weiterer, »Of the Populousness of: Ancient Nations«, ist eher demographischen In-
halıs. 38 „Of Commerce«; GG ? DTP; GG II, $. 91.
III, S. 287.
# Durch dieses Thema wird das Interesse des geselligen Lesers geweckt. Vgl. M. A. Box: The Suasıve Art ..., a.a.O., S. 138.
#1 Nicht nur hier, sondern auch in allen anderen Essays, die gleichsam unterfüttert sind von den Ergebnissen des Treatise.
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Zweiter Teil - Kunstkritik und Gesellschaft
Gleichgewichts sind dem menschlichen Glück abträglich, wie sie ohnehin
die rechte Lebensführung erschweren. Schnell erregte Affekte haben also eine negative Auswirkung für das genießende wie für das handelnde Subjekt. Dieser Affektempfindlichkeit stellt Hume
diejenige des Geschmacks
gegenüber, die eine Empfindlichkeit für Schönheit und Häßlichkeit jeglıcher Art ist, sich also nıcht etwa nur auf die schöne Kunst, sondern ebenso
auf die gebildete Unterhaltung und den geselligen Umgang bezieht. Auch empfindlicher Geschmack ruft also ein breites Spektrum angenehmer und unangenehmer Gefühle hervor, so daß »delicacy« in beiden Fällen eine ähnliche Wirkung auf das empfindende Gemüt hat: »It enlarges the sphere both of our happiness and misery, and makes us sensible to pains as well as pleasures, which escape the rest of mankind.«* Bei aller Ähnlichkeit ist jedoch der unmittelbare Affekt mit keinerlei Freiheit des empfindenden Gemüts verbunden, weil es den Glücks- oder Unglücksfällen des Lebens, die nicht beeinflußt werden können, bloß passıv ausgesetzt ist; der affizierte Mensch ist nicht »master of his own disposition«®, so daß die bloß natürliche »passıon« letztlich eher Leiden als Vergnügen bewirkt. Dagegen bezieht sich die Geschmacksempfindlichkeit auf Gegenstände, die wir suchen oder meiden, auf die wir demnach aktıv Einfluß nehmen können, so daß sich der Geschmack als wirkliches Gut erweist, mit dem sıch das wahre
Glück des Menschen verbindet.”* Gerade weil Affekte und Geschmack jedoch einander ähneln, insofern beide Gefühlskräfte sind,*” und letzterer in der Macht des Menschen steht, kann dieser zum »Heilmittel« der schwan-
kenden Leidenschaften werden: »[...] nothing is so proper to cure us of this delicacy of passion, as the cultivating of that higher and more refined taste [...].«* Während ım zweiten Buch des Treatise wie auch in der Dissertation
of the Passions die Affekte in ihrem abstrakten Mechanismus beschrieben worden waren, werden sie in den Essays innerhalb der Sphäre des gesell-
schaftlichen Lebens gewissermaßen in ihrem Wert dargestellt. Mit der Unterscheidung der »delicacy of taste and passion« greift Hume die schon bekannte Unterteilung der Affekte in »calm« und »violent« auf,*” um sie 2 DTP; GG ® DTP; GG
III, $. 9. II, S. 91.
* „The good or ill accidents of life are very little at our disposal; but we are pretty much masters what books we shall read, what diversions we shall partake of, and what
company we shall keep.« DTP; GG III, S. 32. #5 Hume sieht in der »delicacy of passions« bzw. »sensibility« auch eine gewisse Voraussetzung des empfindlichen Geschmacks. Vgl. DTP; GG II, 5.92 Anm. * DTP; GG
II, $. 92.
7 Wobei die »delicacy of passion« natürlich nicht, wie Brunius meint, den »calm passions« entspricht. Vgl. Brunius: David Hume on Criticism, a.a.O., S. 37.
Kultur der Urteilskraft
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nun jedoch in ihrer Auswirkung auf die eigene Lebensführung zu beurteilen und daraufhin ihr Verhältnis zueinander zu bestimmen: Die unmittelbar affektive Natur des Menschen gilt es zu verfeinern, um eine gute Lebensweise zu ermöglichen. Das Streben nach dieser Verfeinerung ist die Kultur. Noch eine weitere Veränderung läßt sich gegenüber dem Treatise feststellen: Waren die »tastes and sentiments« dort auf die Schönheit des Charakters bzw. äußerer Gegenstände bezogen und damit Thema der Moralphilosophie und Kritik, so erweitert sich jetzt ihre Kompetenz auf die »sciences and liberal arts«.** Denn die Geschmacksunterscheidung ist anders als das logische Urteil eine Form des Urteilens, die auf natürlichem »Instinkt« beruht, durch Erfahrung und Meinungsaustausch verbessert werden kann und deshalb in der Welt des »common life« von umfassender Nützlichkeit ist: »In order to judge arıght of a composition of genius, there are so many views to be taken ın, so many circumstances to be compared, and such a knowledge of human nature requisite, that no man, who is not possessed of the soundest judgment, will ever make a tolerable critic in such performances. And this is a new reason for cultivating a relish in the liberal arts. Our judgment will strengthen by this exercise: We shall form juster notions of life [...].«®” An die Stelle des in sich haltlosen, weil subversiven Verstan-
des tritt also ein anderes Erkenntnisvermögen, mit dem die Dinge der Welt insgesamt angemessener beurteilt werden können: der Geschmack, der freilich seine Beschränkung auf Moral und Ästhetik überwunden und sich zur allgemeinen Urteilskraft (judgment) fortbestimmt hat.” Die rechte Lebensführung oder Aufgabe des Menschen besteht somit ın der Kultur seiner Urteilskraft überhaupt. Den Prozeß dieser Kultivierung hat Hume ebenfalls, wenn hier auch nur abstrakt, entfaltet:”' Die »delicacy of taste« ist die gebildete »sensibility«, die durch »exercise«, durch praktische Übung erreicht wird; diese Übung besteht näher darın, den Gegenstand von verschiedenen Seiten zu betrachten und die ihn begleitenden Umstände zu vergleichen; darüber hinaus bedarf es einer gehörigen »knowledge of human nature«, um die Erfahrungen #DTP; GG
® Ebd.
III, S. 93.
°° Schümmer konstatiert parallel zum Höhepunkt der Entwicklung der Ästhetik ım 18. Jahrhundert den Übergang zu einem »neuen theoretischen Verhalten« in der Philosophie und in den Wissenschaften, zu einer »populären Logique sans &pines« (F. Schümmer: »Die Entwicklung des Geschmacksbegriffs in der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts«. In: Archiv für Begriffsgeschichte 1 [1955], $. 137), in dem also auch Hume seinen Platz hätte. 5! DTP; GG
II, S. 93.
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zu deuten; am Ende dieses Prozesses der fortschreitenden Reflexion der
»sensibility« hat sich ein »strong sense« herausgebildet, ein treffendes Urteilsvermögen, das, so Hume, mit der Präzision einer Uhr unterscheide.
»Delicacy of taste« und »strong sense« (oder auch »sound judgment«) sind also als einander entsprechende Begriffe anzusehen:” Ersterer faßt das Urteilen von der Seite der Empfindung und somit in ihrer Natürlichkeit auf, während letzterer die Seite ihrer Reflektiertheit hervorhebt und so gegen die Unmittelbarkeit der »passion« abgrenzt. Im Geschmack, dem reflektierten Gefühl, sind die beiden Grundvermögen des Geistes, Affekt und Verstand,
aufgehoben und zur Urteilskraft zusammengeschlossen.”* Hier zeigt sich noch einmal deutlich, wie Hume in den Horizont der Empfindsamkeit gehört: Der »strong sense« ist seine Verwandlung des »internal sense« bei Shaftesbury und Hutcheson. Anders als dessen unmittelbar lustvolle Reaktion auf die harmonische Ordnung der Natur oder der Seele ist jener das Resultat von Erfahrung und Gewohnheit und entspricht, um mit Kant zu
sprechen, der »gereiften Urtheilskraft des Zeitalters«”°, die alle Gegenstände des gewöhnlichen Lebens ihrer gründlichen Kritik unterwirft. Mit der Kultur der Urteilskraft ıst überdies die Bildung des geselligen Charakters verbunden,” führt sie doch durch die Reflexion der Affekte
> Mit dieser Anspielung auf Fontenelles Entretiens sur la Pluralit€ des Mondes (1686), in denen wissenschaftliche Erkenntnisse in Form eines Dialogs des Autors mit einer Dame auf leichtverständliche Weise dargestellt werden, erinnert Hume an die neue, in seinen Essays erstmals praktizierte Philosophieauffassung, die keine systematische Theorıe entwickelt, sondern unterhaltsam instruieren will. ° »[...] a fine taste is, in some measure, the same with strong sense, or at least depends so much upon it, that they are inseparable.« DTP; GG II, S. 93.
”* Da die Urteilskraft der eigentümliche Gegenstand der Essays ist, wird klar, warum die »Dissertation of the Passions« nicht etwa auch unter die Essays eingereiht wurde. Die Affekte sind als solche in der gebildeten Welt ebensowenig relevant wie der Verstand als solcher. > Kant: Kritik der reinen Vernunft, Vorrede; AA IV, S.9.
5° In Rousseau wird Hume die Verkörperung jener »extreme Sensibility of Temper« (L II, S. 30) begegnen, die den Menschen für das gesellige Leben untauglich macht und gegen die er die Kultur des Geschmacks als das adäquate Heilmittel empfiehlt. Die hellsichtige Charakterstudie, die er von dem äußerst ungeselligen Rousseau ın einem Brief an Hugh Blair entwirft und die gleichermaßen Faszination wıe Abgestoßensein dokumentiert, ist ein Bild der Rousseauschen Philosophie selbst: »He has reflected, properly speaking, and study’d very little [...]: He has only felt, during the whole Course of hıs Life; and ın thıs Respect, his Sensibility rises to a Pitch beyond what I have seen any Example of: But it still gives him a more acute Feeling of Pain than of Pleasure. He ıs like a man who were stript not only of his Cloaths but of his Skin [...].« (L II, S. 29). Rousseau, der die Kultur
gerade als den Grund der Entstellung der Empfindung entlarven und die ursprüngliche
Kultur der Urteilskraft
143
zum einen dazu, daß das Gemüt überhaupt »incapable of the rougher and more boisterous emotions«” wird, was seinen Ausdruck ım schicklichen
Benehmen findet. Zum anderen disponiert sie zu jener umgänglichen Ruhe und Ausgeglichenheit, in der auch die Urteile der Mitmenschen berücksich-
tigt werden und korrigierend auf das eigene Urteilen einwirken können. Sie wird damit — über die Gesetze hinaus — zum entscheidenden verbindenden Element zwischen den Gliedern einer Gesellschaft: Denn während die unmittelbare, bloß natürliche Affıziertheit nur schwankende,
oberflächliche
Beziehungen ermöglicht,” gründet sich auf die kultivierte Urteilskraft eine »solid friendship« innerhalb einer »company of a few select companions«.”” Bleibt sie auch auf einen erlesenen Kreis von Gleichgesinnten beschränkt, so sind es doch gerade diese Zirkel und Clubs, die gewissermaßen die »Keimzelle< der kultivierten Gesellschaft bilden und ihren Zusammenhalt fördern.‘ Ist mit der Herausbildung der »elegant passion«®! als der Geselligkeit die Aufgabe des Menschen überhaupt umrissen, so wird sie in »Of Essay Writing«, dem Einleitungsessay des zweiten Bandes der Essays von 1741/42, zu deren spezifischer Aufgabe erklärt: Hier wird der »elegant part of mankind« noch einmal ın sich unterschieden in den gelehrten und geselligen Teil und eine Allianz beider Bereiche gegen den gemeinsamen »Feind;, die Unkultiviertheit, angestrebt — »the Enemies of Reason and Beauty, People of dull Heads and cold Hearts«.°” Am Beispiel der Frauen wird deutlich, daß deren Neigung zu falschem Geschmack nur auf ihre Isolation zurück-
zuführen ist und behoben wird, sobald sie an der geselligen Welt teilhaben dürfen, wie sich an der französischen Gesellschaft zeige, in der die Frauen zu den »Sovereigns of the learned World, als well as of the conversible«°° Natur des Menschen als absolut autark bestimmen wird, kann als Humes empfindsamer Antipode angesehen werden. — Zum Verhältnis Rousseaus zu Hume vgl. J. H. Füsslı: Remarks on the Writings and Conduct of J.-J. Rousseau. Hrsg. von E. Colecestra Mason. Zürich 1962. 57 DTP; GG II, $S. 93. - In den Essays, nicht jedoch ım wissenschaftlich analysierenden Treatise, ıst in der Tat Humes pessimistische Auffassung der Affekte zu bemerken, die Lüthe hervorhebt. Vgl. Lüthe: David Hume, a.a.O., S. 21.
® „Favours and good offices easily engage their friendship; while the smallest injury provokes their resentment.« DTP; GG III, S. 91. ” DTP; GG III, S. 94. 6% Sje lassen sich somit als ein Analogon zur Familie deuten, die Hume als die »Keim-
zelle« der allmählichen Vergesellschaftung des Menschen überhaupt ansieht. 61 DTP; GG II, S. 94. 62 EW; GG IV, S. 369. 6 EW; GG IV, S. 369 f.
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avanciert seien. Die Übung des Geschmacks erfolgt somit ausschließlich »in common Life and Conversation«°® — und durch die Lektüre derjenigen philosophischen Essays, die sich als Beitrag zur Kultivierung der Urteilskraft und als Spiegel des gewöhnlichen Lebens zugleich verstehen.”
2. Die gesellschaftlichen Bedingungen der Konversation: Die politischen Essays Die Absicht der Essays, die Urteilskraft in der Konversation zu üben und auf diese Weise zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beizutragen, wird zunächst bei der Behandlung politischer Themen umgesetzt, mit denen sich Hume zum Teil in die tagespolitischen Diskussionen einschaltet, wie sie im Craftsman“® geführt wurden, für den er einige Essays ursprünglich vorgesehen hatte.°’ Im Verhältnis zum Treatise hat der Humesche Gedanke damit den äußersten Punkt seiner Konkretisierung erreicht, denn in diesen Essays nimmt
er nicht nur den Menschen
innerhalb der Wirklichkeit der zeit-
genössischen englischen Gesellschaft, sondern auch das dort erfahrbare Urteilen auf: Ging es bei der anatomischen Analyse des Treatise darum, die allgemeinen Prinzipien des Verstandes und der Empfindung als die beiden Urteilsvermögen des menschlichen Geistes ans Licht zu bringen und in der Moralphilosophie die Möglichkeit ihrer Synthese zu denken, so stellen die politischen Essays das konkrete Urteilen als die aktuelle Kontroverse der politischen Auffassungen (opinions) selber vor.°® Kontrovers sind diese Ur* EW; GG IV, S. 368.
6 Der Zusammenschluß beider Essaybände bei ihrer Neuauflage 1748 machte den zweiten Einleitungsessay überflüssig, zumal er die in »Of the Delicacy of Taste and Passion« formulierte Aufgabe nicht wesentlich ergänzt und durch die betont galante Adresse an die weibliche Leserschaft jenen »frivolen< Charakter erhält, der ihn Hume für seine Intentionen ungeeignet erscheinen ließ. 6 The Craftsman, 1726 begonnen, war neben dem Spectator Englands maßgebliches Forum für gesellschaftlichen und mehr noch politischen Journalismus. Die dort geführten Debatten über die Grundlagen der Politik, die nach der Glorreichen Revolution (1688) als eine Folge der politischen Neuorientierung einsetzten, führten allmählich gewissermaßen durch »Selbstaufklärung« zur Herausbildung eines in Europa einzigartigen breiten politischen Bewußtseins. Vgl. K. T. Winkler: »Aufklärung und Politisierung in England«. In: Europäische Aufklärung(en). Einheit und nationale Vielfalt. Hirsg. von S. Jüttner und ]. Schlobach. Hamburg 1992. 67 Vgl. die Anzeige der Essays (1741/42). GG III, S. 41. 68 Hier wird deutlich, warum Hume im Treatise die Politik neben die Logik, Moral und Kritik in die Reihe der wissenschaftlichen Disziplinen einordnet: Obwohl dort kein eıi-
Kultur der Urteilskraft
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teile, weil sie zunächst als der unmittelbar affektive Ausdruck parteipolitischer Interessen erscheinen: Humes Eingreifen in die heftigen Auseinandersetzungen der Whigs und Tories, der Court- und Country-Partei dient aber nicht nur dazu, diese verschiedenen Auffassungen kritisch zu untersuchen und dabei den eigenen politischen Gedanken zu entwickeln; er führt zugleich auch jene geforderte Kultivierung der Urteilskraft selbst vor, indem der jeweilige Gegenstand von den unterschiedlichen politischen Standpunkten aus beleuchtet wird, um diese schließlich in einem allgemeinen Standpunkt der Gesellschaft zu vereinen und zu befrieden. Die Konversation erscheint insofern als das eigentümliche Medium der Kultivierung, als in ihr das leidenschaftliche Gegeneinander der Urteile gemäßigt und auf das gemeinsame Ziel — den Frieden und das Glück der Gesellschaft — orientiert wird.°” Diesen versöhnlichen Zweck seiner Essays stellt Hume nicht nur ım Motto,’® sondern auch in der Anzeige zur Erstausgabe der Essays heraus: »Public Spirit, methinks, shou’d engage us to love the Public, and to bear an equal Affection to all our Country-Men; not to hate Half of them, under Pretext of loving the Whole. This Party-RAGeE I have endeavour’d to repress, as far as possible; and I hope this Design will be acceptable to the moderate of both Parties [...].«”! Die Befriedung der Kontroversen
des
»common life« in der unparteilichen, moderaten Konversation ist somit an die Stelle der beabsichtigten Entscheidung jener philosophischen Kontroversen getreten, die im Treatise durch die naturwissenschaftlich-exakte Analyse der menschlichen Natur herbeigeführt werden sollte. Über diese Praxis der Gesprächskultur hinaus machen die politischen Essays aber auch die allgemeinen und die besonderen gesellschaftlichen Bedingungen der Kultivierung der Urteilskraft selbst thematisch. Auf diese Bedingungen, nicht auf eine vollständige Entwicklung der politischen Theorie Humes oder auf die genaue Darstellung der historischen Hintergründe,”? soll es im folgenden ankommen, sind sie doch, wie noch zu sehen genes Prinzip des Urteilens behandelt wird, kommt doch das Urteilen seiner Erscheinung nach zur Sprache. 6° Damit hat der Begriff »conversation« die Bedeutung von galanter, witziger und exklusiver Unterhaltung verloren, die ihm noch im 17. Jahrhundert anhaftete, und hat sich
zum öffentlich kultivierten Meinungsaustausch modifiziert, der sich ebenso vom niedrigen Niveau des »chat« wie von der scharf geführten »debate« oder gelehrten »discussion« unterscheidet. Vgl. D. A. Berger: Die Konversationskunst in England 1660-1740. Ein Sprechphänomen und seine literarische Gestaltung. München 1978, S. 10 f. und 185. ”° „Tros Rutulusne fuat, nullo discrimine habebo.« Vergil: Aeneis X, 108. 7! Green/Grose: History of the Editions; GG III, S. 41 f. 72 Sie finden sich bei J. B. Stewart: The Moral and Political Philosophy of David Hume.
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ist, ebenfalls die Bedingungen des ästhetischen Urteilens. So gelesen zeigt sich auch an der Reihenfolge dieser Essays, daß sie aufeinander aufbauend den Prozeß der Kultivierung der Urteilskraft innerhalb der politischen Gesellschaft selber abbilden. Dieser Aspekt, daß Hume auch mit der Anordnung der politischen Essays eine bestimmte Intention verfolgt, wird über dem Bemühen, seine dort unsystematisch entwickelte Lehre von den politischen Institutionen herauszuarbeiten, meines Wissens nirgendwo berücksichtigt. Der Essay »Of the Liberty of the Press« nennt mit der in England gewährten Pressefreiheit zunächst die Grundlage des freien Meinungsaustausches der Bürger schlechthin: »Nothing is more apt to surprize a foreigner, than the extreme liberty, which we enjoy in this country, of communicating whatever we please to the public [...].«”” Den Grund für dieses Vorrecht, das in der englischen Gesellschaft wie in keiner anderen in so hohem Maße gegeben sei, sieht Hume in der dort herrschenden gemischten Regierungsform, die die in der absoluten Monarchie und der reinen Republik ebenfalls mögliche Freiheit noch überträfe, weil sich ın ıhr die Monarchie mit republikanischen Elementen zu einem spannungsvollen Kräftespiel verbinde: Um eine solche konstitutionelle Monarchie überhaupt erhalten zu können, sei extreme Wachsamkeit von Seiten des republikanischen Teils der Regierung erforderlich, der die Freiheit beständig gegen den Ehrgeiz des Hofes durchzusetzen habe und sie deswegen auf alle Weise fördere: »Nothing so effectual to this purpose as the liberty of the press, by which all the learning, wit, and genius of the nation may be employed on the side of freedom [...]«”*, denn die Pressefreiheit ermöglicht, alle politischen Bestrebungen ım Lande kritisch zu kommentieren und die Bevölkerung darüber aufzuklären.”?” Die so herausgeforderten und geübten Geisteskräfte der englischen Nation sind deshalb auch ein wirksames Gegengewicht gegen einen möglichen Mißbrauch der Pressefreiheit, etwa durch Verbreitung von aufrüh-
New York, London 1963. W. Jäger: Politische Parteı und parlamentarische Opposition: Eine Studie zum politischen Denken von Lord Bolingbroke und David Hume. Berlin 1971. J. Rohbeck: Egoismus und Sympathie. David Humes Gesellschafts- und Erkenntnistheorie. Frankfurt, New York 1978. D. Miller: Philosophy and Ideology in Hume’s Political Thought. Oxford 1981. F. Linares: Das politische Denken von David Hume. Hildesheim 1984. 3 LP; GG
III, S. 94.
74 LP. GG II, 5. 97.
75 Damit greift Hume ein Argument der Opposition auf, die die Pressefreiheit auf diese Weise erst als ein neues Rechtsgut konstituierte. Vgl. Winkler: »Aufklärung und Polıtisierung ...«, a.a.O., S. 179 ff.
Kultur der Urteilskraft
147
rerischem Schrifttum, ın der ihre Gegner eine ernste Bedrohung des Staates sehen: Doch Aufstände und Tumulte werden nicht, so Hume, durch Flug-
blätter, sondern durch demagogische Redekunst und durch Ansteckung von Emotionen in der Menge verursacht. Und eine aufmerksame, die eigene Freiheit sorgsam verteidigende kritische Öffentlichkeit ist unempfänglicher für solche Leidenschaften. Die Pressefreiheit erweist sich somit als die entscheidende gesellschaftliche Institution, die eine Reflexion der Leidenschaften und so die Kultur der Urteilskraft überhaupt gewährleistet: »[...] ıt is to be hoped, that men, being every day more accustomed to the free discussion of public affairs, will improve in the judgment of them [...].«”® Ist mit der Pressefreiheit die Voraussetzung einer öffentlichen Diskussion gegeben, so führt Hume am folgenden Essay »That Politics may be reduced to a Science« exemplarisch vor, wie das daraus erwachsende Spannungsverhältnis kontroverser Standpunkte gemäßigt werden kann: Der entscheidende Schritt zur Klärung politischer Streitfragen wie derjenigen, welche Regierungsform die bessere sei, besteht zunächst darin, überhaupt festzuhalten, daß ihr Vorzug oder Mangel nicht abhängig vom Charakter und Verhalten der Regierenden und damit zufällig ist, sondern die regelmäßige Wirkung bestimmter Ursachen, nämlich der jeweiligen Verwaltung, die integraler Bestandteil jeder Regierungsform ist. Daraus folgt jedoch, daß »politics admit of general truths«”’, die aus vergleichenden historischen Studien und gegenwärtigen Beobachtungen abgeleitet werden können. Die Polıtik erhält damit den Rang einer Erfahrungswissenschaft,”” die in jedem Fall heranzuziehen ist, um den Disput zu klären: »So great is the force of laws, and of particular forms of government, and so little dependence have they on the humours and tempers of men, that consequences almost as general and certain may sometimes be deduced from them, as any which the mathematical sciences afford us.«” Auch wenn Hume - ganz der unterhaltenden Intention der Essays gemäß — diese politische Wissenschaft hier nicht systematisch entwickelt, belegt er
doch zumindest ın Ansätzen, daß sie möglich und deshalb auch als letzte Instanz zu befragen ist, indem er dem Leser hier wie auch in den folgenden
Essays einige universale »principles of this science«°° vorstellt. Die Frage ”® LP; GG III, S. 97 Anm. 7 PS; GG
III, S. 101.
78 Zur politischen Wissenschaft Humes, besonders zur Frage ihrer Modernität, vgl. D. Forbes: »Hume’s Science of Politics«. In: David Hume. Bicentenary Papers. Hrsg. von G. P. Morice. Edinburgh 1977, S. 39-50. ? PS, GG III, S. 99. ® PS; GG III, S. 101.
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nach der Vorzüglichkeit der Regierungsformen impliziert also diejenige, welche Verwaltung die stabilste Einheit hervorbringt, einer Zersplitterung in Faktionen entgegenwirkt und Amtsmißbrauch verhindert: »A constitution is only so far good, as it provides a remedy against mal-administration [...].«' Ein historischer und systematischer Vergleich der Regierungsformen führt zu dem allgemeinen Grundsatz, daß das erbliche Königtum die beste Form der Monarchie, der Adel ohne Vasallen die beste Arıstokratie
und das Volk, das durch seine Repräsentanten abstimmt, die beste Demokratie bilde.” Dieses Axiom modifiziert sich unter Berücksichtigung besonderer Umstände zu einem neuen Erfahrungssatz: Die freie Regierung ist zwar die beste für diejenigen, die an ihr teilhaben, aber verheerend für diejenigen Länder, die durch Eroberung zu Provinzen dieser Regierung geworden sind, treten doch deren Gouverneure als alleinige Gesetzgeber auf, die sich aufgrund ihres Status’ private Vorteile verschaffen, willkürlich Gewalt ausüben, diese Ländereien also schlecht verwalten.®° Auf der an-
deren Seite können die eroberten Gebiete aber auch durch eine uneingeschränkte Monarchie nicht sicher regiert werden, die dort nämlich zu Tyrannei und Ungerechtigkeit tendiert.°* Die größtmögliche politische Stabilität in einem Staat samt seiner eroberten Gebiete ist — so lautet ein dritter Erfahrungsgrundsatz, der aus den beiden zuvor genannten folgt -— nur durch eine milde Regierung gewährleistet, getragen von einem »system of laws to regulate the administration of public affairs«.?° Sie ermöglicht zugleich die freie Gesellschaft, weil in ihr durch die Teilung und das sorgfältige Ausbalancieren der Macht sowie durch die gesetzlichen Kontrollen der Ehrgeiz einzelner zum Wohle aller Glieder beschränkt wird. Weil die freie Gesellschaft in hohem Maße das Gemeinwohl (public good®°) zu bewahren vermag, steht sie im Mittelpunkt des Humeschen Interesses.”
1 PS; GG III, S. 108. #2 Vgl. PS; GG III, S. 101. 8 Vgl. PS; GG III, S. 101 f.
Vgl. PS; GG II, S. 104. 85 PS; GG
III, S. 105.
% PS, GG III, S. 107.
#7 Allerdings geht es Hume nicht darum, wie Miller deutlich hervorhebt, »to produce a general ranking of forms of government according to some moral criterion« (Miller: Philosophy and Ideology ..., a.a.O., S. 145). Die politische Wissenschaft bemüht sich vielmehr um einen Vergleich der verschiedenen Regierungsformen unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände in einem Land, um daraus Rückschlüsse auf die relative Güte einer Regierungsform zu ziehen.
Kultur der Urteilskraft
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Ist auch das Gemeinwohl dasjenige Kriterium, das bei der Entscheidung politischer Kontroversen ausschlaggebend ist, so zeigt Hume dennoch am
konkreten Fall des damals umstrittenen Premierministers Sir Robert Walpole, daß die Berufung auf dieses Prinzip nicht notwendig Einigkeit stiftet: Denn hier ruft es politische Eiferer erst recht auf den Plan, die »under pretence of public good, pursue the interests and ends of their particular faction«®® und Walpole vehement unterstützen bzw. dessen Absetzung fordern. Die Auseinandersetzungen um den erfolgreichen, aber durchaus bestechlichen Premierminister führten in der Tat zur Herausbildung parteipolitischer Formationen im englischen Parlament und unter anderem zu jener »Parteien-Raserei«, gegen die Hume in den Essays anzugehen sich vornahm. Auf wissenschaftlich-fundierte Kenntnisse zurückzugreifen und die jeweıligen Umstände eines Sachverhalts und seine Auswirkung auf das Gemeinwohl in Betracht zu ziehen, ist somit für das politische Urteilen einerseits unerläßlich, andererseits noch nicht der entscheidende Schritt, um die
Kontroversen zu beenden: Die Genauigkeit der Reflexion muß immer die skeptisch-kritische Überprüfung, aber auch Berücksichtigung aller Standpunkte innerhalb der Gesellschaft einschließen. Und so erteilt Hume am Ende des Essays »a lesson of moderation with regard to the parties, into which our country is at present divided«”°, in der er unter dem zuvor ermittelten allgemeinen Grundsatz, daß die Güte einer Regierung sich nach der Güte ihrer Administration bemißt, den besonderen Fall Walpoles gleichsam »subsumiert< und auf diese Weise die Tätigkeit der Urteilskraft 8 PS; GG
III, S. 107.
® Fine anschauliche Beschreibung des »Streit-Verhaltens< der Court- und der CountryPartei gibt Hume am Anfang des Essays »On the Independency of Parliament« (der allerdings in den Ausgaben von 1764 an fehlt). Seine Beobachtungen führen ihn dort zu dem generellen Schluß, »that those who defend the established and popular opinions, are always the most dogmatical and imperious in their stile«, wohingegen »their adversaries affect almost extraordinary gentleness and moderation, in order to soften, as much as possible, any prejudices that may lye against them« (IP; GG III, S. 118), wie Hume am Beispiel der Freidenker, aber auch der Querelle um den Vorrang antıker oder moderner Autoren belegt. Diese Abschweifung in die Kultur der Kontroverse sei erwähnt, um noch eınmal deutlich zu machen, wie sehr es Hume neben der Entwicklung seiner politischen Philosophie auch um eine empirische Darstellung des Urteilens selbst geht, aus der sich
Richtlinien für eine Übung der Urteilskraft überhaupt ableiten lassen. Die Erinnerung an analoge Auseinandersetzungen im Bereich der Religion und der ästhetischen Kritik zeigen, daß die Politik dabei gewissermaßen als Beispiel dient, an dem Hume die Kennzeichen der fruchtbaren Konversation paradigmatisch vorführt. ®» PS; GG
II, S. 107.
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exemplarisch vorführt: Wäre die englische Verfassung so schlecht, daß sie kein Mittel gegen Amtsmißbrauch bereithielte, so machte doch das Verhalten des Premierministers diesen Mangel wenigstens offenbar und böte die Möglichkeit, eine neue einzuführen; wäre sie andererseits so ausgezeichnet, wie die Gefolgsleute des Ministers meinen, die ıhn als den vorzüglichen Bewahrer der Verfassung in Schutz nehmen, so könnte seine Entlassung keinen wirklichen Schaden verursachen.” Nicht der unmittelbare Eifer für die (abstrakte) Idee des Gemeinwohls, sondern die praktische Mäßigung des je eigenen Standpunkts nach dem Maßstab allgemeiner Prinzipien oder die Vorurteilsfreiheit bringt also das Gemeinwohl konkret hervor und gehört somit ebenfalls zur Bedingung einer kultivierten Urteilskraft. In den Ausgaben der Essays von 1748 bis 1768 schloß sich an »That Politics may be reduced to a Science« die Anmerkung »A Character of Sir Robert Walpole« an.” Dieser kurze Versuch einer Charakterstudie »drawn with such judgment and impartiality, as to have credit with posterity, and to shew, that our liberty has, once at least, been employed to good purpose«” - ist deswegen bemerkenswert, weil Hume damit ein konkretes Beispiel jenes feinen, unparteiischen Urteils zu geben sucht, das die Frucht des gemäßigt-höflichen Austauschs in einer freien Gesellschaft sein soll: Die Kritik Walpoles bemüht sich um eine ausgewogene Beurteilung seiner politischen und menschlichen Eigenschaften, ist bar jeglichen Vorwurfs der Verfassungsfeindlichkeit, der sich nach Humes Auffassung sachlich nicht halten läßt, und plädiert für seinen würdigen Rückzug ins Privatleben. Nicht zufällig wird sie deshalb in der Erstausgabe als eigenständiger Essay zunächst am Schluß des zweiten Bandes plaziert worden sein, um auf diese Weise mit dem »Programm« des Einleitungsessays »Of the Delicacy of Taste and Passion« zu korrespondieren und den Prozeß der Kultivierung der Urteilskraft abzuschließen.” Über die Sachkenntnis hinaus, die die Politik als Wissenschaft vermittelt,
bedarf es aber auch der Kenntnis der menschlichen Natur, um politische Fragen zu beurteilen. Auf diesen Zusammenhang verweisen »Of the First Principles of Government« und der erst in der Ausgabe letzter Hand eingefügte Essay »Of the Origin of Governments, denn in beiden Essays geht es darum zu zeigen, wie die staatliche Verfassung auf den Prinzipien der PS;
GG
III, S. 108 f.
92 Vgl. hierzu Jäger: Politische Parteien ..., a.a.O., S. 190 ff. „A
Character of Sir Robert Walpole«; GG IV, S. 395.
* Wegen seiner mangelnden Aktualität - Walpole tritt 1742 zurück - verliert der Essay diese exponierte Stellung und wird 1770 schließlich ganz entfernt.
Kultur der Urteilskraft
151
menschlichen Natur beruht. Der erste stellt zunächst als einen weiteren Grundsatz der politischen Wissenschaft auf, daß sich die Anerkennung der Regierungen auf drei Einsichten oder Überzeugungen der Regierten gründet, nämlich auf die »opinions [...] of public interest«, die Überzeugung vom Nutzen staatlicher Ordnung, »of right to power«, die Überzeugung von der Legitimität des Herrschers, und »of right to property«,” die Überzeugung von der Rechtmäßigkeit der Eigentumsverhältnisse. Wie jede Überzeugung sind auch diese »opinions« letztlich auf das natürliche Prinzip der Gewohnheit zurückzuführen. Werden sie zwar durch ursprüngliche Instinkte, »such as self-interest, fear, and affection«”, verstärkt, so sind diese
doch nur sekundäre Prinzipien: Denn wie schon die Rechtslehre des Treatise deutlich machte, entspringt die Rechtsordnung ursprünglich weder der Selbst- noch der Nächstenliebe, sondern der Reflexion als einer aus Erfah-
rung gewonnenen Einsicht in den allgemeinen Nutzen gesellschaftlicher Verfaßtheit. Aber auch die sich daran anschließende Überzeugung von der Rechtmäßigkeit der Regierung, sei sie nun die der Macht oder des Eigentums, ist bloß tradiert” und somit das Resultat von Gewohnheit.
Der folgende Essay »Of the Origin of Government« knüpft insofern an diese Überlegungen an, als er - ähnlich wie der Treatise - an die Schwäche der menschlichen Natur und die sich daraus ergebende Notwendigkeit einer Rechtsordnung erinnert, die dann allerdings durch die natürliche Neigung des Menschen zur Geselligkeit und durch die Gewöhnung des Umgangs etabliert wird. Die Regierung allein vermag, diese gesellschaftliche Ordnung zu erhalten; ihre stete Anerkennung ist jedoch nicht bloß durch den moralischen Rechtssinn, sondern durch Gehorsam gewährleistet, der
sıch wiederum als ein Produkt der Gewohnheit erweist: »Habit soon consolidates what other principles of human nature had imperfectly founded; and men, once accustomed to obedience, never think of departing from that path, in which they and their ancestors have constantly trod [...].«”° Insofern sich also die Autorität der freien Regierung nicht auf Unterwerfung, sondern auf Gehorsam und dieser wiederum auf das Prinzip
der Gewohnheit gründet, kann sie selbst nur das Resultat eines fortschreitenden Prozesses sein: Die Regierung beginnt zufällig und unvollkommen,
wird zunächst nur von denen unterstützt, die ıhren Nutzen schätzen, setzt
sich dann aber auch gegen die Ungehorsamen mit Macht durch und ge9% PGov; GG III, S. 111.
* Ebd. ” PGov; GG III, S. 110. 9. 0G; GG III, $. 115.
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winnt schließlich dort an Freiheit und Stabilität, wo sıe ihre Macht aufteilt
und selbst ihren eigenen Gesetzen gehorcht: »[...] liberty is the perfection of civil society; but still authority must be acknowledged essential to its very existence [...].«” Zeigte sich gerade ım letzten Essay, daß der Ursprung der Regierung zuletzt der »frailty or perverseness of our nature«!” entspringt, gegen deren partikulares Interesse die Regierung die Rechtsordnung beständig durchzusetzen hat, so erörtern die folgenden Essays — ausgehend von der in »On
the Independency of Parliament« aufgestellten »just political maxim, that every man must be supposed a knave«!”! -, wie das Regierungssystem beschaffen sein muß, um die »schurkischen« Partikularinteressen zu kontrol-
lieren und auf das Allgemeininteresse auszurichten. Hume betont, daß diese Maxime ein politischer, kein moralischer Standpunkt seı. Schurkisch verhält sich der Mensch weniger, wo es ihm um seine privaten Ziele geht, die er selbst durch sein moralisches Empfinden beurteilt und korrigiert, sondern dort, wo er seine Interessen innerhalb einer Partei politisch verfolgt: »Honour is a great check upon mankind: But where a considerable body of men act together, this check is, in great measure, removed; since a man is sure to
be approved of by his own party, for what promotes the common interest [...].«!% Diese Einsicht entspringt ebenfalls der im Treatise vorgenommenen Analyse der menschlichen Natur: Denn aufgrund des Prinzips der Sympathie wird innerhalb einer Menge die eigene Leidenschaft für die gemeinsame Sache gleich einem Echo mehrfach zurückgeworfen und noch verstärkt. Da sich Hume mit seinen politischen Untersuchungen, wie schon zuvor in der Moralphilosophie, ın der Sphäre der Wirklichkeit bewegt, werden nicht nur die Affekte, sondern auch das ıhnen zugrundeliegende Prinzip der Sympathie in ihrer konkreten Auswirkung beschrieben: Dabei zeigt sich nun auch das negative Moment der Sympathie, die eine bloße Anstek-
kung von blinden Leidenschaften herbeiführen kann.!” Dies gilt innerhalb ” 0G; GG IH, 10 0G; GG III, MP; GG II, S. 182 IP, GG III, S.
S. 116 f. S. 114. 118. 119.
108 Das erinnert an Shaftesburys negative Bestimmung der »sympathy« als Ursache des Fanatismus: »We may with good reason call every Passion Pannick which ıs rais’d in a Multitude, and convey’d by Aspect, or as ıt were by Contact or Sympathy. [...] Such force has Society in ıll, as well as ın good Passions: and so much stronger any Affection is for being social and communicative.« (Shaftesbury: A Letter concerning Enthusiasm, 2; SE 1.1, S. 324). Für Shaftesbury, der am Beginn der Empfindsamkeit steht und zeigt, wie sich die Seele für die natürliche Güte ihres Prinzips wahrhaft begeistert, ist die Sympathie noch
Kultur der Urteilskraft
153
einer Partei um so mehr, als hier ein gemeinsamer Standpunkt vertreten wird, die eigene Leidenschaft von den anderen nur affırmativ gespiegelt, also nicht mehr kritisch reflektiert und dadurch gemäßigt wird, weil der entscheidende korrigierende Meinungsaustausch entfällt. Von dieser Auffassung der menschlichen Natur her erklärt sich Humes tiefes Mißtrauen gegen die Parteienbildung innerhalb der Gesellschaft. Eine Kontrolle der sich in Parteien organisierenden Partikularinteressen wird für Hume am ehesten ın einer konstitutionellen Monarchie möglich, ın der das Parlament einerseits als die legislative Gewalt die Interessen des Volkes wahrt, andererseits aber durch die Krone, die die exekutive Gewalt
und die Prärogative der Ministerernennung besitzt, entscheidend beeinflußbar bleibt. Gegen den radikalen Standpunkt der Country-Partei vertritt Hume daher die Haltung, daß eine völlige Unabhängigkeit des Parlaments der Stabilität der Verfassung letztlich schade, leiste sie doch der Aufsplitterung und Unmäßigkeit der Einzelinteressen eher Vorschub. Diese Gefahr wird für ıhn erneut am Argumentationsverhalten der Country-Partei selbst manifest, die ein Beispiel dafür gibt, wie ein Interessenverband einseitig auf der eigenen Position insistiert, statt eine sachliche Untersuchung der Tatsachen zu fördern, im Austausch der Meinungen den allgemeinen Standpunkt der Gesellschaft aufzusuchen und auf diese Weise dem Gemeinwohl zu dienen: »Instead then of asserting absolutely, that the dependence of parliament, in every degree, is an infringement of BrırısH liberty, the country-party should have made some concessions to their adversaries, and have only examined what was the proper degree of this dependence, beyond which it became dangerous to liberty. But such moderation is not to be expected in party-men of any kind.«!*
suspekt: Denn um den »moral sense« in seiner ursprünglichen Güte zu erweisen, muß es ihm ganz darauf ankommen festzuhalten, daß sich die Seele in diese Begeisterung aus sich selbst heraus und auf der Grundlage der kritischen »good humour« steigert. Der Enthusiasmusbrief bringt folglich zuerst (theoretisch) die epochemachende terminologische Differenzierung des Enthusiasmus in den unnatürlichen, durch Ansteckung in der Menge verursachten Fanatismus und dem »real feeling of the Divine Presence« (A Letter ..., 7; SE 1.1, S. 372), mit der Shaftesbury eine Rehabilıtierung des bis dahin einseitig negativ konnotierten Begriffs gelingt, die zugleich eine bahnbrechend neue Beurteilung des Gefühls einleitet (vgl. H. H. Schulte: »Zur Geschichte des Enthusiasmus«. In: Publications of the English Goethe Society, New Series 39 [1969]). Die Moralists machen dann (poe-
tisch) anschaulich, wie sich die Seele, um ihres ästhetisch-moralischen Prinzips in aller Reinheit inne zu werden, aus der Gesellschaft in die Einsamkeit der Natur zurückziehen muß. 4 1P; GG
III, S. 121.
154
Zweiter Teil - Kunstkritik und Gesellschaft
Daß es Hume deutlich um den Erhalt der monarchischen Komponente in der englischen Verfassung geht, belegt auch der folgende Essay »Whether the British Government inclines more to Absolute Monarchy, or to a Republic«. Wie schon der Titel ankündigt, führt er hier — gleichsam als Kontrast zu der im voraufgegangenen Essay monierten Parteilichkeit — eine sorgfältige Prüfung der beiden möglichen Standpunkte vor: Für die allmähliche Entwicklung der englischen Verfassung zu einer absoluten Monarchie spräche die Akkumulation von Eigentum in einer Hand, die ein größeres Macht- und Einflußpotential darstellt als ein vielleicht umfangreicheres Eigentum auf der Gegenseite, das aber unter viele aufgeteilt ist. Andererseits sei der Einfluß der königlichen Macht, der sich aus dem Eigentum herleitet, nicht so groß, als daß er sich nicht durch die Gesetze des Parlaments beschränken ließe. Überdies habe sich die Ehrfurcht vor dem Königtum »by the progress of learning and of liberty«'® deutlich verringert. Das Abwägen beider Argumente, die nüchterne Prognose der Auswirkungen beider Möglichkeiten läßt Hume schließlich nicht nur zu dem sachlichen Schluß kommen, daß Englands konstitutionelle Monarchie ın einer absoluten aufgehen wird, sondern daß dies auch wünschenswerter wäre. Denn in einer reinen
Demokratie drohte bei der Auflösung des House of Commons und jeder Neuwahl die Gefahr eines Bürgerkrieges; und selbst wenn das Unterhaus fortbestünde, hätte dies nur die Tyranneı der Faktionen zur Folge:!% »Thus, if we have reason to be more jealous of monarchy, because the danger is more imminent from that quarter; we have also reason to be more jealous
of popular government, because teach us a lesson of moderation lautet die Konsequenz, die Hume ßigung hat er in dem Essay selbst
that danger is more terrible. This may in all our political controversies.«!” So aus seinem Urteil zieht. Für diese Mäerstmals ein ausführliches Beispiel!” ge-
geben: Historische und politische Sachkenntnis, Kenntnis der Natur, das Abwägen entgegengesetzter Argumente verbinden einem unpartelischen Urteil, das dennoch, wie der fulminante lich macht, nicht leidenschaftslos bleibt, weil es mit Blick auf 15 AMR; GG
menschlichen sich dort zu Schluß deutdas Gemein-
II, S. 125.
1% „[...] we shall suffer all the tyranny of a faction, subdivided into new factions.« AMR; GG
II, S. 126.
107 Ebd. 108 Die anderen Beispiele, wie etwa die Mäßigung der Auseinandersetzung um Walpole im Essay »That Politics may be reduced to a Science«, bezogen sich negativ, weil korrigierend auf die einseitigen Kontroversen. Hier stellt Hume dagegen ein reines Beispiel gemäßigten Urteilens vor, das das Ergebnis der nun schon mehrfach geübten »moderaLON«
I1St.
Kultur der Urteilskraft
155
wohl gefällt worden ist. »Moderation« erweist sich somit als Inbegriff der Kultur der Urteilskraft.!® Das so erprobte Urteilsvermögen wird nun angewandt auf die in der Gesellschaft auftretenden Kontroversen selbst, genauer auf deren Ursache: die Parteienbildung. Damit greift Hume nicht nur ein zentrales Phänomen der neuzeitlichen Gesellschaft überhaupt auf, sondern vor allem ein Problem, das das zeitgenössische englische Gemeinwesen entscheidend geprägt hat und das demzufolge zu den Themen gehörte, die für die Menschen des »common life« von eminentem Interesse waren. An diesem Gegenstand soll sich das moderate politische Urteil nun bewähren. Die Beurteilung der Parteienbildung!!” erfolgt in zwei Schritten: Zunächst entwickelt Hume ım Essay »Of Parties in General« eine allgemeine Parteientypologie, abstrahiert aus der »>Sammlung von Erfahrungen;, die die englische Geschichte bereithält. Diese Typologie läßt sich aber, wie seine historischen und aktuellen Vergleiche nachweisen, auch auf andere Gesellschaften anwenden, macht also universale Prinzipien politischen Verhaltens deutlich. Anschließend wird in »Of the Parties in Great Britain« anhand des so gewonnenen Maßstabs die besondere englische Parteienlandschaft be-
urteilt. Bemerkenswerterweise beginnt Humes Parteienlehre nicht sogleich, wie zu erwarten wäre, mit einer sachlichen Unterscheidung der Merkmale von Parteienbildung, sondern mit einer geradezu polemisch anmutenden Bewertung: »As much as legislators and founders of states ought to be honoured and respected among men, as much ought the founders of sects and factions to be detested and hated [...].«'!! Bei aller Emotionalität entspringt dieses Urteil jedoch keinem besonderen Interesse, sondern der Sorge um das Gemeinwohl, denn Hume begründet die Schärfe seiner Position folgendermaßen: »[...] the influence of faction ıs directly contrary to that of laws. Factions subvert government, render laws impotent, and beget the fiercest anımosities among men of the same nation, who ought to give mutual assistance and protection to each other.«!!? Damit knüpft er direkt an den Schluß des vorangegangenen Essays an, in dem die Entscheidung der Streit-
19 Die zentrale Bedeutung der »moderation« besonders für die politische Philosophie und die Ethik Humes stellt Jones heraus. Vgl. P. Jones: »Art< and »Moderation«< ın Hume’s Essays«. In: McGill Hume Studies. Hrsg. von D. F. Norton, N. Capaldi, W.L. Robinson. San Diego 1979. 11 Vgl. hierzu ausführlich Jäger: Politische Partei ..., a.a.O., S. 204 ff. MPG;
12 Ebd.
GG III, S. 127.
156
Zweiter Teil - Kunstkritik und Gesellschaft
frage von ihrer Bewertung hinsichtlich des Gemeinwohls begleitet war. Wenn Hume nun im neuen Essay, gleichsam die gewonnene Höhe haltend, den Gedanken an das Gemeinwohl an den Anfang stellt, dann erinnert er daran, daß politische Urteile - wie die moralischen und ästhetischen - letztlich Wertunterscheidungen auf der Basis der Empfindung darstellen, die gleichwohl nicht bloß privat sind, weil ihr Kriterium der Friede und das Glück der Gesellschaft ist. Ob dieses negative Urteil über die Parteien nun auch wirklich ein Urteil von »delicacy«, d.h. treffend und differenziert ist, muß der folgende Gang seiner Begründung belegen. Hume unterteilt die Parteien idealtypisch!"” in personale Faktionen, die auf persönliche Freundschaft und Feindschaft zurückzuführen sind, und reale Faktionen, die sich auf »some real difference of sentiment or inter-
est«!!* gründen. Während die personale Partei stärker als die reale in der menschlichen »propensity to divide into personal factions«!!” wurzelt und überwiegend in kleinen Republiken zu finden ist, wie er an den Streitereien griechischer und römischer Stämme sowie an den Kämpfen der Guelfen und
Ghibellinen veranschaulichen
kann, stehen bei den realen Parteien
sachliche Unterschiede im Vordergrund. Hume differenziert hier noch einmal zwischen Faktionen »from interest, from principle, and from affection«!!®. Erstere entspringen den gesellschaftlichen Standesunterschieden, wie etwa Adel und Volk, und den damit verbundenen verschiedenen Interessen. Sie sind »the most reasonable, and the most excusable«!", entspre-
chen sie doch dem natürlichen Prinzip der »selfishness« und erscheinen auf dieser Basıs als bloße Zweckgemeinschaften. Ihre Gegensätzlichkeit läßt sich durch eine ausgewogene Verfassung ausbalancieren. Dagegen stellen die Prinzipienparteien, unter denen Hume zwar auch politische Faktionen, aber in erster Linie religiöse Sekten versteht, ein »modernes«, und zwar ein »most extraordinary and unaccountable phaenomenon«!"? dar: Hier besteht
der Grund der Parteibildung in abstrakten spekulativen Prinzipien, die von ihren jeweiligen Anhängern dogmatisch verabsolutiert werden. Obwohl der Unterschied
der Prinzipien eigentlich keinerlei gegensätzliches, einander
störendes Verhalten
113 Hume
nach sich zieht, leben ihre Anhänger
nicht
gesteht ein, daß die von ihm aufgestellten Parteientypen selten »pure and
unmixed« erscheinen. PG; GG III, S. 128. IM PG; GG III, S. 128.
15 Ebd. — Diese »propensity« ıst die Familienbindung. 16 PG; GG III, S. 130.
17 Ebd. 18 Ebd.
dennoch
Kultur der Urteilskraft
157
friedlich nach ihren eigenen Vorstellungen, sondern schließen sich mit anderen zusammen, um in einer Art Wahnsinnstaumel den Gegner zum eigenen Glauben zu bekehren. Religionskriege und religiöse Spaltungen sind die Folge. Diese Parteien sind auf ein anderes Prinzip der menschlichen Natur zurückzuführen: »[...] such ıs the nature of the human mind, that it
always lays hold on every mind that approaches it; and as it is wonderfully fortified by an unanımity of sentiments, so is it shocked and disturbed by any contrariety. Hence the eagerness, which most people discover in a dispute [...].«!!? Hier zeigt sich noch einmal die Schattenseite der Sympathie, die als das Prinzip der Affektenverursachung nicht nur die eigenen Leidenschaften übermäßig steigert, sondern auch die entgegengesetzten ins Bedrohliche potenziert und auf diese Weise den Weg bereitet für Intoleranz und Fanatismus. Diese Verkehrung der Sympathie, auf die sich doch gerade die gesellige Natur und die Moralität gründet, ist ihr aber, wie Hume eilig versichert, nicht ursprünglich eigen, sondern nur durch das Zusammentreffen bestimmter geschichtlicher Umstände möglich geworden und deswegen ein modernes Phänomen: zum einen durch die Etablierung der christlichen
Religion als Staatsreligion, deren Priesterschaft sich zu einer eigenständigen Autorität innerhalb des Staates herausgebildet hatte und andere Sekten unerbittlich verfolgen konnte; zum anderen durch die Verwissenschaftlichung des Christentums, das, in einer Zeit der Hochblüte der Philosophie entstanden, seine Lehre durch eine systematisch-theologische Begründung gegen deren Angriffe zu verteidigen wußte. Hier liegt für Hume der Ursprung jener »keenness in dispute«!?° überhaupt, der seither die wissenschaftliche Welt in ebenso heftige wıe endlose Kontroversen verwickelt und nicht zuletzt zum Anlaß seines eigenen Philosophierens wurde. Der dritte reale Parteientypus, die Parteiung aus Gewogenheit, beruht auf der Bindung der Menschen an eine bestimmte Familie oder Person, von der sie regiert zu werden wünschen. Obwohl die Anhänger einer solchen Partei das königliche Herrscherhaus oder auch den Herrscher in der Regel weder persönlich kennen noch einen direkten Nutzen aus dieser Herrschaft zu erwarten haben oder ein bestimmtes ideelles Prinzip in ihm verkörpert finden, besteht doch an ıhr ein gewisses »imaginary interest«'?!, das jene Überzeugung von der Legitimität königlicher Macht ist, die Hume bereits als eine der Ursachen der Regierung vorgestellt hat.!?? Doch schon bei der
19 PG, GG III, S. 131. 18 PG; GG
III, S. 133.
121 Ebd. 122 Vgl. »Of the First Principles of Government«.
158
Zweiter Teil - Kunstkritik und Gesellschaft
Untersuchung der Frage, ob die englische Regierung zukünftig zu einer absoluten Monarchie oder Republik tendiere, hatte Hume auf die geschichtliche Veränderung gerade dieser Überzeugung hingewiesen, die aufgrund der fortschreitenden Aufklärung mehr und mehr an Bedeutung verloren habe. Folglich ist diese Partei für ihn auch nur von untergeordnetem Interesse,'?? genauso wie der personale Parteientypus, der in der britischen Politik nur eine geringe Rolle spielt.'** Im Zentrum seiner Untersuchungen stehen also die beiden extremen Parteientypen — die »vernünftige< Parteı aus Interesse und die >irrationale« Partei aus Prinzipien -, denen er das britische Parteiensystem zuordnen kann. Aber an der vollständigen Klassifizierung der Parteien, die Hume auf die natürlichen Prinzipien »natural affection«, »selfishness«, »sympathy« und »imagination« zurückführt, scheint der Grund seines Verdikts auf: Die Parteienbildung verstärkt einseitig die unmittelbaren Leidenschaften im Gemüt, führt letzten Endes zu einer »delicacy of passion« und steht damit der angestrebten »delicacy of taste« diametral entgegen. Dies ist um so fataler, als die einzelnen Parteien ihre Partikularinteressen unter dem Deckmantel des vorgeblichen Interesses am Allgemeinwohl verfolgen und damit das wahre Wohl des Gemeinwesens unterminieren, das nur ın einer Mäßigung
der Sonderstandpunkte, in der Anerkennung anderer Positionen und in dem daraus resultierenden Frieden bestehen kann. Diese Bewertung verführt Hume freilich nicht zu der extremen Forderung, daß die Parteien überhaupt abzuschaffen seien.'”” Auch wenn er später ın dem Essay »Idea of a Perfect Commonwealth« die Utopie eines parteienfreien Gemeinwesens entwickeln wird, besteht doch die einzig realıstische Lösung des Problems für ıhn in einer Koalition der Parteien, die »the most agreeable prospect of future happiness«!?° bietet und deshalb von allen wahrhaftig auf das Gemeinwohl bedachten Parteigängern angestrebt
werden sollte. Diese gemäßigte Position seines Urteils entspringt der Einsicht, daß die britische Verfassung ihrer Anlage nach bereits die »source of division and party«!” in sich trägt und eine Parteienbildung deshalb gar nicht zu vermeiden ist, wie er in »Of the Parties in Great Britain« klar erkennt:
Die
konstitutionelle
Monarchie,
innerhalb
deren
die monarchı-
13 Vgl. Jäger, Politische Partei ..., a.a.O., S. 213. I# Vgl. Jäger, a.a.O., S. 230. 13 „To abolısh all distinctions of party may not be practicable, perhaps not desirable, ın a free government.« »Of the Coalition of the Parties«; GG III, S. 464. 126 Ebd. 17 PGB; GG
IH, S. 133.
Kultur der Urteilskraft
159
schen und die republikanischen Elemente ım Gleichgewicht gehalten werden müssen, führt unweigerlich zu Auseinandersetzungen darüber, worin diese Balance besteht, ob sıe zu sehr zur absoluten Monarchie oder schon
übermäßig zur Freiheit neigt. Die Spaltung in die Court-Partei, die die Macht der Krone unterstützt, und die Country-Partei, die die Rechte des Parlaments verteidigt, ist also eine notwendige Folge der gemischten Regierung und kann nur durch die Verfassung selbst gemildert werden. Doch die genaue Einschätzung dieser Parteien gemäß der zuvor erstellten Typologie,'?® die Berücksichtigung der Geschichte ihres Entstehens aus den »Roundheads« und »Cavaliers« bzw. den Whigs und Tories'”” und ihrer sich daraus ergebenden Komplexität, der Versuch einer Bestimmung ihrer Natur, Ansprüche und Prinzipien!” und nicht zuletzt die Bewertung der Bedeutung der Kirche für dieses Parteiensystem'?! schärfen zumindest den Blick für mögliche Gefahren der aktuellen Situation: »[...] some biass still
hangs upon our constitution, some intrinsic weight, which turns it from its natural course, and causes a confusion in our parties.«!”? Erneut zeigt sich
daran die Nützlichkeit einer geübten Urteilskraft für die Stabilität des Gemeinwesens.
Die beiden folgenden Essays, »Of Superstition and Enthusiasm« und »Of the Dignity or Meanness of Human Nature«, scheinen auf den ersten Blick aus der Reihe der politischen Essays herauszufallen. Ersterer ist die
früheste Arbeit Humes zur Religion!” und behandelt ihre zwei möglichen Entartungen, Aberglaube und Schwärmerei, die er auf ihre jeweiligen Quellen in der menschlichen Natur zurückführt: Während Aberglaube auf einem mit Unwissenheit gepaarten Kleinmut der Seele beruht,'”* entspringt enthusiastische Schwärmerei einer ebenfalls mit Unwissenheit gepaarten »hochmütigen« Gemütsstimmung.'” Dennoch gehört diese Abhandlung insofern in den Horizont der politischen Essays, als Hume hier auf diejenigen menschlichen Verhaltensweisen zu sprechen kommt, die die absolute
138 Vgl, PGB; GG 19 Vgl. PGB; GG
IH, S. 134 f. IH, S. 136 ff.
30 Vgl. PGB; GG II, 5. 138.
BI Vel. PGB; GG IH, $. 135 f. B2 PGB; GG III, S. 140 f.
13 Vgl. L. Kreimendahl: Einleitung zu David Hume, Die Naturgeschichte der Religion a.2.0., S. XXXVIl 13 „Weakness, fear, melancholy, together with ignorance, are, therefore, the true sources of SuUPERSTITION.« SEnth.; GG II], S. 145.
135 „Hope, pride, presumption, a warm imagination, together with ignorance, are, therefore, the true sources of ENTHUSIASM.« Ebd.
160
Zweiter Teil - Kunstkritik und Gesellschaft
Entgegensetzung zum sozialen Verhalten darstellen, entspringen doch beide einer extremen Steigerung der selbstbezogenen Affekte. In der Enguiry concerning the Principles of Morals wird Hume Aberglaube und Schwärmerei als bloß nutzlose Leidenschaften abtun, die »neither advance a man’s for-
tune in the world, nor render him a more valuable member of society «.!”* Doch in den Essays, die die Faktoren der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen thematisch machen, weil sie darum bemüht sind, sie auf das Gemeinwohl hın zu befrieden, muß es ihm darauf ankommen, beide Ausar-
tungen hinsichtlich ihres »different influence on government and society«!?” eigens zu beurteilen. Der Essay knüpft also insofern an die vorangegangenen Parteien-Essays an, als er noch einmal die besondere Bedrohung durch die religiösen Parteien in den Blick nimmt. Drei »Überlegungen« lassen dabei den Aberglauben gefährlicher erscheinen als den Enthusiasmus:!?? Zum einen beruht auf dem unterwürfigen Aberglauben die destabilisierende
Autorität der Priesterschaft, während es den hochmütigen Schwärmern gerade auf die Unabhängigkeit von der priesterlichen Bindung ankommt;!” zum anderen erweist sıch religiöse Schwärmerei zwar am Anfang als überaus heftig und sogar gewalttätig, mäßigt sich aber bald von selbst, weil das Gemüt den Schwung nicht lange halten kann, während der Aberglaube schleichend anwächst, aber um so dauerhafter das Gemüt beherrscht und so
die Macht der Priester festigt.'* Diese Unterscheidungsmerkmale bestätigen implizit bereits Humes dritte Bemerkung, nämlich daß Aberglaube der Feind, Enthusiasmus dagegen eher ein Freund bürgerlicher Freiheit sei, da die Parteiengeschichte Englands zeige, daß die Schwärmer sich politisch auf die Seite der Republikaner stellten, wohingegen der römisch-katholische und hochkirchliche Aberglaube sich traditionell mit der Partei der Königstreuen verbinde.'*! Be PM 9; SB, S. 270. 17 SEnth.; GG III, S. 145.
138 Es versteht sich fast von selbst, daß dieser Enthusiasmus nichts mehr mit jener Begeisterung zu tun hat, mit der bei Shaftesbury die empfindsame Seele zu sich kommt, weil ihr die Wirksamkeit des natürlichen »moral sense« als eines Göttlichen im Menschen aufgeht. Da sich bei Hume die ursprüngliche Innerlichkeit dieser Empfindung ganz in den moderaten Meinungsaustausch innerhalb der Gesellschaft veräußerlicht hat, wird der Enthusiasmus aufgrund seiner Unmittelbarkeit, Heftigkeit und vor allem Ungebildetheit (ignorance) erneut verdächtig, zumal er Reflexion und Kultur der Urteilskraft verhindert. Immerhin wird er von Hume im Gegensatz zum Aberglauben noch als »Freund« der bürgerlichen Freiheit gewürdigt. 19 SEnth.; GG III, S. 145 ff. 14 SEnth.; GG III, S. 148 f. #1 SEnth.; GG III, S. 149 £.
Kultur der Urteilskraft
161
Die Untersuchung der beiden religiösen Entartungen bezieht sich aber auch noch auf andere Weise auf die vorangegangenen Abhandlungen zurück, insofern Hume hier gewissermaßen seine »politische Affektenlehre« vervollständigt, die von Anfang an allen Essays zugrunde lag. Weil die Polıtik die konkrete Erscheinung des Menschen berücksichtigt, unterscheidet sich diese Affektenlehre deutlich von der Anatomie der Affekte innerhalb des Treatise: Stellte diese die prinzipielle Geselligkeit der menschlichen Natur heraus, so kommt in der politischen Wirklichkeit des »common life« gerade die »natural depravity of mankind«!* zur Erscheinung, die ihren Ausdruck in Egoismus, Machtstreben, blindem Parteieneifer und nun zu-
letzt im unwissenden Fanatismus findet. Selbstliebe und Sympathie, die sich in der abstrakten Analyse als Mechanismen erweisen, sind in der Realität gleichwohl durch äußere Faktoren pervertierbar. Wegen der historischen wie politischen Bedingtheit dieser Prinzipien wird die gesellschaftliche Reflexion der unmittelbaren Affekte, d.h. die Mäßigung der kontroversen Standpunkte sowie eine dieser Mäßıgung entsprechende Ausbalancierung der Machtverhältnisse in der Verfassung notwendig. Diese Reflexion bestimmte sich näher als die sich allmählich herausbildende Urteilskraft oder —- von der Seite ihrer Erscheinung her betrachtet - als der geschichtliche Prozeß der Kultur. Aus dieser deutlich pessimistischeren Affektenlehre, die der Politik zugrunde liegt, erhebt sich nun aber für die Moralphilosophie in einem weıteren Essay die Frage nach der »Dignity or Meanness of Human Nature«. Die ım Treatise entwickelte Wissenschaft vom Menschen hatte zwar dessen natürliche Bezogenheit auf den Mitmenschen nachgewiesen, doch blieb diese noch abstrakt; die konkrete Erfahrung der Schwäche und Depraviertheit der menschlichen Natur fordert nun dazu auf, dieser Widersprüchlichkeit
nachzugehen; aber aus der wissenschaftlichen Beschreibung ist in den Essays eine Frage nach Güte oder Wert der menschlichen Natur geworden, die nur durch die — in den vorangegangenen Abhandlungen bereits hinreichend geschärfte — Urteilskraft angemessen beantwortet werden kann. Das
wird
schon
daran
deutlich,
daß
diese Frage
in der philosophisch
gelehrten Welt umstritten ist, die Urteilskraft also auch hier mäßigend auf
zwei >Parteien< einzuwirken hat. Während die eine die menschliche Natur geradezu als gottähnlich bestimmt, entdeckt die andere in ihr außer Eitelkeit nichts, das sie über die Tiere erheben könnte: »If an author possess the talent of rhetoric and declamation, he commonly takes part with the for-
12 PS, GG
III, S. 105.
162
Zweiter Teil - Kunstkritik und Gesellschaft
mer: If his turn lie towards irony and ridicule, he naturally throws himself into the other extreme.«!” An dieser Charakterisierung der Standpunkte ihrem Inhalt und ihrer Präsentation nach wırd offenbar, daß Hume
sich
hier in die Kontroverse zwischen Shaftesbury (bzw. Hutcheson) einerseits, die die natürliche Tugend verteidigen, und Mandeville andererseits einschaltet, der an der ursprünglichen Lasterhaftigkeit festhält. Humes kritische Erörterung und Abwägung beider Positionen zeigt zugleich eine weitere Bedingung der moderaten Konversation und kultivierten Urteilskraft
auf: Mußte die vergleichbare politische Debatte um die Frage nach der Vorzüglichkeit der Regierung zunächst präzisiert und auf einen Maßstab zurückgeführt werden, so drängt Hume auch hier auf eine Verdeutlichung des Begriffs der Würde bzw. Unwürdigkeit bezüglich der menschlichen Natur. Dies ist um so wichtiger, als gerade wertenden Prädikaten eine gewisse Mehrdeutigkeit anhaftet: »We find few disputes, that are not founded on some ambiguity in the expression; and I am persuaded, that the present dispute, concerning the dignity or meanness of human nature, is not more exempt from it than any other. It may, therefore, be worth while to consider, what is real, and what is only verbal, in this controversy.«'** Wertende
Unterscheidungen chen. Folglich sind terable standard in definieren, sondern
beruhen auf subjektiver auch ihre sprachlichen the nature of things«!* werden in Ermangelung
Empfindung, nicht auf TatsaBegriffe nicht an einem »unalmeßbar, lassen sich also nicht dessen einem Gegenstand nur
vergleichsweise beigelegt: »[...] in affıxing the term, which denotes either
our approbation or blame, we are commonly more influenced by comparison [...].«Alten«, die die Antike als die Vollendungsgestalt aller Künste und somit als verbindliches Vorbild für die Moderne ansahen. Perraults Poeme sur le Siecle de Louis le Grand (1687) und Fontenelles Digression des anciens et des modernes (1688) wurden zu »Programmschriften« eines »neuen geschichtlichen, genauer gesagt: entwicklungsgeschichtlichen Denkens«.'”! Von der Ausein-
andersetzung mit den Positionen der Querelle sind die ästhetischen Essays alle mehr oder weniger bewegt. In »Of Eloquence« nımmt Hume hinsichtlich der Redekunst eine für die
Querelle typische »parallele« der Antike mit der Moderne vor, die ıhn, so
1 Eloqu.; GG III, S. 172.
168 Eloqu.; GG III, S. 164. 19 Eloqu.; GG
IH, $. 173.
170 Vgl. Mossner: »Hume and the Ancient-Modern Controversy«, a.a.O., S. 144. IH.R. Jauß: »Ursprung und Bedeutung der Fortschrittsidee in der »Querelle des Anciens et des Modernes«. In: Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt. Hrsg. von H. Kuhn, F. Wiedmann. München 1964, S. 55.
Kultur der Urteilskraft
169
scheint es zunächst, als einen leidenschaftlichen Anhänger der anciens ausweist: »[...] the stile or species of their eloquence was infinitely more sublime than that which modern orators aspire to. [...] what noble art and
sublime talents are requisite to arrıve, by just degrees, at a sentiment so bold and excessive: To enflame the audience, so as to make them accompany the speaker ın such violent passıons, and such elevated conceptions: And to conceal, under a torrent of eloquence, the artifice, by which all thıs is effectuated!«!7”? Dieser Eindruck wird noch bestätigt, wenn er, mögliche >mo-
derne< Begründungen für den Niedergang der Redekunst prüfend, die Vorbildlichkeit der griechischen Rhetorik hervorhebt: Zwar scheine die Komplexität des modernen Rechts den in der Antike üblichen »naiven< Appell an den Gerechtigkeits- oder Gemeinsinn unmöglich zu machen und eine sachliche Argumentation zu fordern, doch seien im englischen Parlament auch die ıdeellen Werte Freiheit und Glück des Staates Gegenstand vehementer Debatten, aufgrund derer sich eine ebenso hohe Redekultur hätte herausbilden können. Für das tiefe Mißtrauen gegenüber der angeblich bloß überredenden Eloquenz, das mit der Entwicklung des »modernen« Verstandes einhergehe, bestehe kein Anlaß. Denn die Überzeugungskraft der Redekunst beruht, so Hume, in Wahrheit nicht auf Täuschung, sondern auf der Kunst, eine Ansteckung von Affekten zu bewirken, also auf dem na-
türlichen Prinzip der Sympathie: »The orator, by force of his own genius and eloquence, first inflamed himself with anger, indignation, pity, sorrow; and then communicated those impetuous movements to his audience.«'”? Die Widerlegung der beiden Argumente!”* erhellt, worin Hume den Grund der Vorbildlichkeit antiker Rhetorik sieht: An ihr zeigt sich, daß der Appell an das Gemüt, an die empfindsame Seele des Zuhörers eindrücklicher und wirksamer ist als das rationale Argument, weil jede Überzeugung letztlich über die Empfindung erfolgt; eine Einsicht, die Hume selber aus dem Mißerfolg seines Treatise gewonnen hatte. Eine pathetische Redekunst ist also für das Gemeinwohl, für die Erinnerung aller gesellschaftlichen Glieder an die gemeinsame Sache, durchaus förderlich. Dennoch ist schon vor dem Hintergrund der Mäßigung der heftigen Af-
fekte, die Hume gerade ın der politischen Auseinandersetzung gefordert hatte, gar nicht zu erwarten, daß er eine Nachahmung dieses »exzessiven« 72 Eloqu.; GG
III, S. 166.
17 Eloqu.; GG III, S. 169. 174 Ein drittes, daß nur die skandalösen Verbrechen der Antike entsprechenden Stoff für eloquente Reden abgegeben hätten, weist Hume kurz als unzutreffend und irrelevant zurück. Vgl. Eloqu.; GG III, S. 170.
170
Zweiter Teil - Kunstkritik und Gesellschaft
antiken Vorbildes uneingeschränkt empfehlen wird. Und so zeugt denn auch der Essay insgesamt von einer eher vorsichtig-affinen Haltung gegen-
über der Rhetorik,” an der noch jenes Mißtrauen erkennbar wird, das er in der Einleitung des Treatise gegenüber der Beredsamkeit innerhalb philosophischer Kontroversen ın aller Schärfe zum Ausdruck gebracht hatte: »Amidst all this bustle ’tis not reason, which carries the prize, but eloquen-
ce; and no man needs ever despair of gaining proselytes to the most extravagant hypothesis, who has art enough to represent ıt ın any favourable colours.«!’® Dieses Mißtrauen wurde ja erst durch die Auseinandersetzung mit seinen Vorgängern Shaftesbury und Hutcheson und die ironisch provozierte Krise seiner Wissenschaft vom Menschen gemildert, die ihn zur Einsicht in den empfindsamen Grund seines Philosophierens führten, aus der die neue essayistische Darstellungsweise als eine Art Vermittlung zwischen der rationalistischen Anatomie und der moralistischen »declamation« entsprang: Denn die Essays wollen weder bloß theoretisch argumentieren noch antikisierend »rhapsodieren«,'”” sondern über das Prinzip der Sympathie und der Reflexion der Meinungen empfindsam instruieren. Eine solche Mitte erscheint Hume auch der modernen Redekunst angemessen. Der Grund für seinen Vorbehalt gegenüber einer Wiederbelebung antiker Redekunst in der Moderne resultiert aus der veränderten politischen Situation: Das antike Pathos der Rede war nur aufgrund des intakten Gemeinsinns möglich. Er erlaubte den Rednern, heftige Affekte zu erwecken, ohne die Gefahr eines Zerfalls in Parteien heraufzubeschwören. Ein solcher Gemeinsinn ist in der englischen Gesellschaft unmittelbar nicht gegeben, wie die politischen Essays deutlich machten. Vielmehr muß er durch eine Mäßigung der Standpunkte und ausgewogene Argumentation erst errungen werden. Deshalb wäre der hohe, affektıve Stil eines Demosthenes oder Cicero für eine zeitgenössische Parlamentsrede nicht passend, der vielmehr der attische Stil entspricht, »that is, calm, elegant, and subtile, which instructed the reason more than affected the passions, and never raised its
tone above argument or common discourse.«'’* Mit dieser den Modernen 175 Beı Potkay ist diese ambivalente Einstellung signifikant für Humes Gegenwart: »Of Eloquence< bespeaks at once a fascination with, and a distance from, the power of figurative eloquence it evokes. Nor is this quandary peculiar to Hume: an ambivalence towards eloquence characterizes mid-century Britain.« A. Potkay: »Classıcal Eloquence and Polite Style in the Age of Hume«. In: Eighteenth-Century Studies 25 (1991), S. 35. 176'T Introd.; SB, S. XIV.
177 Zur zeitgenössischen Kritik an Shaftesburys Stil vgl. Potkay: »Classıcal Eloquence ...%, 2.4.0., S. 51 ff. 18 Eloqu.; GG II, S. 173.
Kultur der Urteilskraft
171
angemessenen mittleren Stilhöhe — »good sense, delivered in proper expression«!”” —, die sie bereits erreicht hat, ist die Redekunst denn auch zufrieden.'3° Sie braucht sich daher nicht an der Antike zu orientieren, son-
dern lediglich immanent Verbesserungen vorzunehmen: »[...] even though our modern orators should not elevate their stile or aspire to a rıvalship with the ancient; yet is there, in most of their speeches, a material defect,
which they might correct, without departing from that composed air of argument and reasoning, to which they limit their ambition.«!®! An dieser erstmals geübten Kunstkritik wird offenbar, daß Hume nicht als radikaler Vertreter der anciens anzusehen ist. Als gebildeter Kritiker anerkennt er freilich uneingeschränkt den Vorrang der antiken Redekunst. Die Rücksicht auf den geschichtlichen Unterschied der gesellschaftlichen Gegebenheiten führt ihn aber nicht dazu, diesen Vorrang als vorbildlich für die Modernen zu behaupten, sondern vielmehr, die Leistung der modernen
Rhetorik nach ihrer Angemessenheit zu würdigen: Die »Mittelmäßigkeit« der modernen Redekunst ist also kein Zeichen wirklicher Fruchtlosigkeit, sondern gerade der Stil, den sie zur Perfektion zu bringen hat. Mit diesem geschichtlichen Verständnis der Kunst rückt er in die Nähe der modernes,'? ohne jedoch klar ihre Partei zu ergreifen. Humes Position reflektiert somit die konträren Standpunkte, um sie — seinem Ideal der Urteilskraft entsprechend -— in einem moderaten Urteil zusammenzuschließen. Zugleich zeigt sich, wie dieses treffende ästhetische Urteil gemäß dem Wesen der Schönheit gefällt worden ıst, das Hume ım Treatise bisher nur abstrakt bestimmt hatte: Das Schöne - hier der Beredsamkeit — steht ganz im Dienst der jeweiligen gesellschaftlichen Zwecke. Humes Vergleich der antiken und modernen Redekunst führt aber überdies zu einer ersten Beobachtung hinsichtlich der Geschmacksentwicklung überhaupt: Seine Widerlegungen der »modernen< Argumente für die Unangemessenheit des antiken Pathos bezeugen, daß offenbar keine äußeren Ursachen ım Sinne politischer Institutionen auszumachen sind, die jene Diskrepanz zwischen beiden Epochen erklären könnten; ein innerer Grund 17 Ejoqu.; GG
III, S. 169.
180 „We are satisfied with our mediocrity [...].« Eloqu.; GG II, $. 173. 181 Eloqu.; GG III, S. 174. 182 Der Fortschrittsgedanke der Modernen, so Jauß’ These, wird zum »Ursprung eines neuen geschichtlichen Verstehens, das erst allmählich als unerwartetes Ergebnis der wechselseitigen Kritik (sc. der »anciens< und »modernes«) hervortritt, am sich wandelnden Bild der Antike im 18. Jahrhundert mehr und mehr greifbar wird und schließlich in das geschichtliche Weltverständnis der Romantik übergeht.« Jauß: »Ursprung und Bedeutung ...%, 4.2.0., S. 55.
172
Zweiter Teil - Kunstkritik und Gesellschaft
ist allerdings der harmonischere Gemeinsinn der antiken Demokratien. Die Hochblüte der alten Rhetorik ist anscheinend wie der »Mangel< der modernen letztlich nur auf einen Zufall zurückzuführen,” so daß lediglich die Tatsache zu konstatieren bleibt, daß in der Moderne ın dieser Hinsicht ein
»want of genius, or of judgment in our speakers«!®* zu während die Antike einen »much juster taste«!” bewiesen Redekunst die Zuhörer in höherem Maße mitzureißen und verstand. Dennoch kristallisiert sich für Hume im Vergleich
beobachten ist, habe, weil ihre zu überzeugen beider Epochen
ein Faktor heraus, der zumindest Einfluß auf diesen Sachverhalt haben
könnte: Das antike Griechenland und Rom brachten ın dichter Folge eine Reihe ausgezeichneter Redner hervor, von denen schließlich Demosthenes und Cicero unübertroffen blieben.'?® Beide stehen für die Vollendung einer langen Tradition, d.h. sie hatten eine Fülle von Vorbildern, an denen sie ihr Talent bilden konnten, und lebten somit ın einer Zeit, in der der rhetorische
Geschmack der Nation ganz ausgebildet war. Die zeitgenössischen Redner hingegen bieten keinerlei Vorbild, an dem sich ein Talent schulen könnte,
und so bleibt auch der Geschmack des Publikums nur am Mittelmaß orientiert, weil er nıchts anderes kennt. Daraus zieht Hume eine erste Regel (rule!) seiner ästhetischen Kritik:
»It is seldom or never found, when a false taste in poetry or eloquence prevails among any people, that it has been preferred to a true, upon comparison and reflection.«!?® Es bedarf daher der Vergleiche und einer Reflexion der Eindrücke, d.h. einer Kultivierung des Geschmacksvermögens, um eine Kunst zur Blüte zu bringen. Dazu ist allerdings Erfahrung, und zwar auch des vorbildlichen Geschmacks, notwendig, um überhaupt den Unterschied zwischen wahrem und falschem Geschmack zu bemerken: »It [sc.
false taste] commonly prevails merely from ignorance of the true, and from the want
of perfect models,
to lead men
into a juster apprehension,
and
more refined relish of those productions of genius.«'?” Die Gewißheit dieses Urteils über wahren Geschmack oder wahres Genie wird erfahrbar an der allgemeinen Anerkennung, wie das Beispiel Ciceros und Demosthenes’ veranschaulicht, die von allen - nicht nur von Zeitgenossen, sondern auch von 182 „There ıs certainly something accidental in the first rise and the progress of the arts ın any nation.« Eloqu.; GG III, S. 170.
19 Ebd. 15 Eloqu.; GG III, S. 172. 186 Eloqu.; GG III, S. 164 f. 187 Eloqu.; GG III, S. 172.
188 Ebd. 9 Ebd.
Kultur der Urteilskraft
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den Späteren — als die größten Redner gewürdigt werden: »When these appear, they soon unite all suffrages ın their favour, and, by their natural and powerful charms, gain over, even the most prejudiced, to the love and admıration of them. The principles of every passion, and of every sentiment, is in every man; and when touched properly, they rise to lıfe, and
warm the heart, and convey that satisfaction, by which a work of genius is distinguished from the adulterate beauties of a capricious wit and fancy.«!” Dieser »ästhetische Gemeinsinn